Gestrandet in Frankfurt am Main - kontext - Gesellschaft zur ...
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<strong>Gestrandet</strong> <strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong><br />
<strong>am</strong> Ma<strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>e Reportage von Ronny Arnold mit Fotos von Bernd Cr<strong>am</strong>er<br />
Sie s<strong>in</strong>d jung, fast noch K<strong>in</strong>der, die meisten nicht älter als 15<br />
Jahre. Sie kommen aus Afghanistan, Sri Lanka oder Somalia<br />
und haben bereits D<strong>in</strong>ge gesehen und erlebt, die wir nur aus<br />
den Abendnachrichten oder verstörenden Dokumentarfilmen<br />
kennen. Bürgerkriege, moderne Sklaverei, Hunger und<br />
Vertreibung s<strong>in</strong>d die lebendigen Bilder und Erlebnisse ihrer<br />
K<strong>in</strong>dheit. Sie haben Glück gehabt, ihnen ist die Flucht aus dem<br />
Elend gelungen – vorerst. Nun sitzen sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>Frankfurt</strong>er<br />
Jugendheim, versuchen ihren Alltag <strong>in</strong> dieser für sie fremden<br />
Welt zu organisieren, die Vergangenheit zu verarbeiten und<br />
ihre Zukunft zu planen. Das ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Land, <strong>in</strong> dem m<strong>in</strong>derjährige<br />
Flüchtl<strong>in</strong>ge mit wenig Bildung und ohne Deutschkenntnisse<br />
ke<strong>in</strong>e große Lobby haben, gar nicht so e<strong>in</strong>fach.<br />
Viele schaffen es trotzdem, weil sie e<strong>in</strong>e erstaunliche Energie<br />
mitbr<strong>in</strong>gen, Kraft und Träume haben – und von engagierten<br />
Helfern auf ihrem Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong> neues Leben unterstützt werden.
Es ist kurz vor 19 Uhr an diesem 24. Februar 2009, als bei Hasan B.<br />
<strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> Ma<strong>in</strong> das Telefon kl<strong>in</strong>gelt. Es dauert e<strong>in</strong> paar Sekunden<br />
bis er realisiert, wer da <strong>am</strong> anderen Ende der Leitung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Muttersprache auf ihn e<strong>in</strong>redet. Der Anrufer kl<strong>in</strong>gt jung und verwirrt,<br />
erzählt von e<strong>in</strong>er Tankstelle mit e<strong>in</strong>em großen, gelben Schild, an der<br />
er seit e<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten stehe, von e<strong>in</strong>er Autobahn, von Lkw – und<br />
dass ihm schrecklich kalt sei. Es ist Hasans kle<strong>in</strong>er Bruder, der<br />
15-jährige Adnan aus Afghanistan. Als das Wort Offenbach fällt, ist<br />
für Hasan plötzlich alles klar. Se<strong>in</strong> Bruder ist <strong>in</strong> Deutschland, nur<br />
wenige Kilometer von ihm entfernt. Er setzt sich sofort <strong>in</strong>s Auto und<br />
fährt <strong>zur</strong> Raststätte an der A 661. Zwei Runden dreht Hasan auf dem<br />
Parkplatz, dann sieht er ihn. Ängstlich beobachtet Adnan die vorbeifahrenden<br />
Autos. Als se<strong>in</strong> großer Bruder neben ihm hält, erkennt er<br />
ihn im ersten Moment nicht. Fünf lange Jahre haben sich die beiden<br />
nicht gesehen. Sie fallen sich <strong>in</strong> die Arme, Hasan packt se<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en,<br />
schmächtigen Bruder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dicke Daunenjacke. Auf der Fahrt<br />
zu se<strong>in</strong>er Wohnung reden sie kaum.<br />
Im selben Moment sitzt nur 15 Kilometer entfernt der 16-jährige<br />
Fahim S. <strong>am</strong> <strong>Frankfurt</strong>er Flughafen. Se<strong>in</strong>e Arrestzelle hat die Nummer<br />
568. Sie ist groß, der Somalier teilt sie mit Flüchtl<strong>in</strong>gen aus dem Irak,<br />
aus Nigeria und Afghanistan. Fahim ist der Jüngste von ihnen. Mehr-
E<strong>in</strong> Hausbewohner bei den Hausaufgaben<br />
mals muss er den Behörden schildern, wie<br />
er nach Deutschland gekommen ist. Se<strong>in</strong>e<br />
Odyssee beg<strong>in</strong>nt <strong>in</strong> Mogadischu, se<strong>in</strong>er<br />
somalischen Heimatstadt. Dort besteigt er<br />
<strong>am</strong> 16. Februar mit e<strong>in</strong>em Schleuser und<br />
gefälschten Papieren e<strong>in</strong>e Passagiermasch<strong>in</strong>e<br />
nach Dubai. In den Emiraten wird<br />
er an den nächsten Helfer übergeben und<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Flugzeug nach Deutschland gesetzt.<br />
Am <strong>Frankfurt</strong>er Flughafen trennen sich ihre<br />
Wege. Der Schleuser fliegt weiter, Fahim<br />
wird vom Bundesgrenzschutz festgesetzt<br />
und landet <strong>in</strong> Zelle 568. Er spricht ke<strong>in</strong><br />
Wort Deutsch und nur lückenhaft Englisch.<br />
Er fühlt sich alle<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong>e größte<br />
Angst <strong>in</strong> diesem Moment: direkt wieder<br />
nach Somalia abgeschoben zu werden. Das<br />
wäre die Höchststrafe für ihn. Dennoch war<br />
er für die Polizei e<strong>in</strong> Zeuge, der um „Mithilfe“<br />
gebeten wurde. Die Ermittler wollten<br />
genaue Angaben, was er <strong>in</strong> der Nacht<br />
gemacht hatte. Der Zeuge fühlte „Angst<br />
und Ärger“: „Das ist so ähnlich wie bei<br />
Massengentests. Ich muss reagieren. Wenn<br />
ich nicht reagiere, was passiert dann? Wirklich,<br />
man wird dann zu den Verdächtigen<br />
gedrängt.“<br />
Während Fahim den Behörden se<strong>in</strong>e<br />
Lebensgeschichte erzählt und von den<br />
Zuständen <strong>in</strong> Somalia berichtet, verkauft<br />
nur e<strong>in</strong> paar Hundert Meter weiter Emilio<br />
T. belegte Baguettes und Orangensaft an<br />
die Geschäftsreisenden von Term<strong>in</strong>al 1.<br />
Den 21-jährigen Angolaner fragt niemand<br />
nach se<strong>in</strong>er Geschichte. Ke<strong>in</strong>er erfährt,<br />
dass Emilio vor sechs Jahren <strong>in</strong> der selben<br />
Arrestzelle saß, die sich Fahim nun mit den<br />
anderen Flüchtl<strong>in</strong>gen teilen muss. Emilio<br />
war 15 Jahre alt, als ihm mit Hilfe der Caritas<br />
und der katholischen Kirche die Flucht<br />
aus Angola gelang und er nach <strong>Frankfurt</strong><br />
fliegen konnte. Er war K<strong>in</strong>dersoldat, wurde<br />
mit 13 rekrutiert und kämpfte zwei Jahre im<br />
angolanischen Bürgerkrieg. Bis heute kann<br />
er die schrecklichen Bilder nur verdrängen,<br />
vergessen kann er sie nicht.<br />
Adnans erste Nacht im Haus des Bruders<br />
ist für beide e<strong>in</strong>e Qual. Adnan versucht e<strong>in</strong><br />
paar Stunden zu schlafen, vergeblich. Mehrere<br />
Tage saß der 15-jährige <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Lkw,<br />
e<strong>in</strong>geklemmt zwischen anderen Flüchtl<strong>in</strong>gen,<br />
vollgepumpt mit Schlaftabletten.<br />
Er weiß nicht, wie lange er genau unterwegs<br />
war, durch welche Länder die Reise<br />
g<strong>in</strong>g. Essen und Wasser hat er nur wenig<br />
bekommen, soviel weiß er, und dass er<br />
se<strong>in</strong>en l<strong>in</strong>ken Arm kaum bewegen kann.<br />
Vermutlich wurde er von se<strong>in</strong>en Schleusern<br />
mehrfach geschlagen. Se<strong>in</strong>e erste Nacht<br />
<strong>in</strong> Deutschland ist für Adnan e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger<br />
Albtraum. Er hat Angst vor der Dunkelheit,<br />
will nicht alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>. Auch Hasan<br />
macht <strong>in</strong> dieser Nacht kaum e<strong>in</strong> Auge zu,<br />
immer wieder schaut er nach se<strong>in</strong>em klei-
Bis heute kann er die<br />
schrecklichen Bilder<br />
nur verdrängen, vergessen kann er sie nicht.<br />
nen Bruder. Was dieser gerade durchmacht, diese Angst und die<br />
schrecklichen Bilder, kennt der 29-jährige nur zu genau – von se<strong>in</strong>er<br />
eigenen Flucht. Vierzehn Jahre ist das jetzt her, doch mit Adnans<br />
Ankunft kehren auch bei Hasan die Er<strong>in</strong>nerungen <strong>zur</strong>ück. Am Morgen<br />
ist er völlig fertig. „Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen. Wenn ich<br />
me<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Bruder sehe, denke ich, dass ich es selbst b<strong>in</strong>.“<br />
Hasan ist ratlos, wie es weitergehen soll. Am liebsten würde er<br />
Adnan bei sich behalten, doch er weiß nicht, ob das geht. Er ruft<br />
e<strong>in</strong>en Freund an, der sich seit Jahren um Flüchtl<strong>in</strong>ge kümmert. Der<br />
erklärt ihm, dass das strafbar wäre und dass er professionelle Hilfe<br />
braucht. Er empfiehlt ihm e<strong>in</strong> Jugendhaus für m<strong>in</strong>derjährige Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />
<strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong>. Schweren Herzens fährt Hasan mit se<strong>in</strong>em Bruder<br />
<strong>in</strong> den Westen der Stadt und br<strong>in</strong>gt ihn <strong>in</strong>s Flüchtl<strong>in</strong>gsheim. Erst als<br />
er die Leiter<strong>in</strong> Doris Gießen und e<strong>in</strong>ige andere Mitarbeiter sieht und<br />
mit ihnen über Adnan spricht, dämmert es ihm. Vor vierzehn Jahren,<br />
kurz nach se<strong>in</strong>er Flucht, war er selbst <strong>in</strong> ihrer Obhut. Die Jugendhifee<strong>in</strong>richtung<br />
hatte d<strong>am</strong>als nur e<strong>in</strong> anderes Domizil, deshalb ist es<br />
ihm nicht gleich aufgefallen. Etwas beruhigter lässt er se<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en<br />
Bruder <strong>zur</strong>ück und verspricht, ihn nun täglich zu besuchen. Adnan<br />
redet mit niemandem, wortlos br<strong>in</strong>gt er se<strong>in</strong>e wenigen Habseligkeiten<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong> neues Zimmer im ersten Stock.<br />
Zwei Tage später hält e<strong>in</strong> Taxi vor dem Jugendhaus, es kommt direkt<br />
vom <strong>Frankfurt</strong>er Flughafen. Neben dem Fahrer sitzt Fahim S.<br />
Der junge, drahtige Somalier darf vorerst <strong>in</strong> Deutschland bleiben.<br />
Zehn Tage hat er <strong>in</strong> Zelle 568 gesessen, nun wurde se<strong>in</strong> Asylantrag<br />
<strong>in</strong> erster Instanz genehmigt. Doris Gießen empfängt ihren neuen<br />
Schützl<strong>in</strong>g persönlich. In der Regel wird sie angerufen, bevor jemand<br />
vorfährt. Manchmal bleibt der Anruf auch aus, sie nimmt trotzdem<br />
auf. Fahim bekommt ebenfalls e<strong>in</strong> Zimmer im ersten Stock, welches<br />
er sich nun mit vier anderen Flüchtl<strong>in</strong>gsk<strong>in</strong>dern teilen muss. Die<br />
kommen aus Sri Lanka, dem Irak, aus Moldawien und Afghanistan.<br />
scripten 13 <strong>Gestrandet</strong> <strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong><br />
<strong>am</strong> Ma<strong>in</strong>
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Alle arbeiten geme<strong>in</strong>s<strong>am</strong> an ihren Schulaufgaben<br />
E<strong>in</strong>er der Jungs stellt sich ihm als Adnan vor. Nachdem er e<strong>in</strong> paar<br />
Sachen aus se<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Reisetasche im Schrank verstaut und die<br />
Doppelstockbetten <strong>in</strong>spiziert hat, geht er auf Entdeckungstour. Das<br />
Haus ist geräumig und hell, mit dem großen Erdgeschoss s<strong>in</strong>d es drei<br />
Etagen. Oben wohnen die Mädchen, Fahim wagt nur e<strong>in</strong>en kurzen,<br />
schüchternen Blick. Im Keller f<strong>in</strong>det er e<strong>in</strong>en Billard- und e<strong>in</strong>en Kikkertisch,<br />
im Garten e<strong>in</strong> Kletterlabyr<strong>in</strong>th und e<strong>in</strong>e Tischtennisplatte.<br />
An die große Spielwiese h<strong>in</strong>ter dem Haus grenzt e<strong>in</strong> Bolzplatz. Se<strong>in</strong><br />
neues Zuhause gefällt ihm, weil es so „ruhig und friedlich wirkt“.<br />
Wenig später ist es mit der Ruhe vorbei. Fahim sitzt mit zwei Hausbewohnern<br />
auf dem WG-Sofa im ersten Stock. Aus dem Augenw<strong>in</strong>kel<br />
beobachtet er zwei afghanische Jungen und se<strong>in</strong>en neuen Zimmergenossen<br />
aus Sri Lanka bei ihrem lautstarken Ritual: Die Drei versuchen<br />
mit eher mäßigem Erfolg, die afrikanischen Mädchen aus der zweiten<br />
Etage anzuflirten. Der ruhige Somalier lächelt höflich, doch es<br />
sche<strong>in</strong>t ihn zu langweilen. Aus dem Zimmer nebenan schallt HipHop,<br />
e<strong>in</strong>er der Jungs auf dem Sofa testet gerade die Kl<strong>in</strong>geltöne se<strong>in</strong>es<br />
neuen Handys. Es herrscht e<strong>in</strong> fröhliches Durche<strong>in</strong>ander, es kl<strong>in</strong>gt<br />
nach jugendlichem Alltag. Se<strong>in</strong>e neue Bleibe teilt sich Fahim nun<br />
mit 25 Mädchen und Jungen, alle s<strong>in</strong>d zwischen 13 und 16 Jahre alt.<br />
Die 13 Zimmer der E<strong>in</strong>richtung s<strong>in</strong>d jetzt voll belegt, die Kapazitäten<br />
erschöpft. Fahim ist Bewohner Nummer 6.534. So viele unbegleitete<br />
m<strong>in</strong>derjährige Flüchtl<strong>in</strong>ge, wie sie <strong>in</strong> korrektem Amtsdeutsch heißen,<br />
haben Heimleiter<strong>in</strong> Doris Gießen und ihre zehn Mitarbeiter <strong>in</strong> den vergangenen<br />
zwanzig Jahren betreut. Rund um die Uhr s<strong>in</strong>d sie für die<br />
K<strong>in</strong>der da, 24 Stunden <strong>am</strong> Tag und auch <strong>in</strong> der Nacht, sieben Tage die<br />
Woche.<br />
Am nächsten Morgen lädt die Leiter<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihr kle<strong>in</strong>es Büro im ersten<br />
Stock. Das Jugendhaus gehört <strong>zur</strong> Arbeiterwohlfahrt Hessen-Süd<br />
und wird vom <strong>Frankfurt</strong>er Jugend<strong>am</strong>t f<strong>in</strong>anziert, erzählt die 53-jährige.<br />
Angefangen hat alles im März 1988. E<strong>in</strong>e Gruppe iranischer<br />
Flüchtl<strong>in</strong>gsk<strong>in</strong>der strandete d<strong>am</strong>als <strong>am</strong> <strong>Frankfurt</strong>er Flughafen. Ke<strong>in</strong>er
wusste so recht, woh<strong>in</strong> mit ihnen. Dann<br />
nahm sich die Arbeiterwohlfahrt ihrer an,<br />
gründete e<strong>in</strong>e Wohngeme<strong>in</strong>schaft mit 15<br />
Plätzen. Das war der Startschuss, Doris<br />
Gießen übernahm die Organisation. Nur<br />
e<strong>in</strong>e Woche später war die WG bereits<br />
überbelegt, ständig mussten K<strong>in</strong>der auf<br />
andere Heime verteilt werden. Nach e<strong>in</strong>em<br />
dreiviertel Jahr waren es bereits 850 K<strong>in</strong>der<br />
und Jugendliche aus sieben Ländern, überwiegend<br />
Iraner und überwiegend Jungen<br />
im Alter zwischen acht und 16 Jahren. „Die<br />
sollten vor e<strong>in</strong>em Kriegse<strong>in</strong>satz geschützt<br />
werden“, er<strong>in</strong>nert sie sich. E<strong>in</strong> Großteil der<br />
Jugendlichen k<strong>am</strong> d<strong>am</strong>als direkt über den<br />
<strong>Frankfurt</strong>er Flughafen. Heute seien es noch<br />
etwa e<strong>in</strong> Drittel. Die anderen kommen über<br />
den Landweg. „Bei uns <strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong> s<strong>in</strong>d<br />
es viele Ostafrikaner, <strong>in</strong> München viele<br />
Iraker, <strong>in</strong> H<strong>am</strong>burg s<strong>in</strong>d es eher Kurden<br />
und Westafrikaner. Ich gehe mal davon<br />
aus, dass das d<strong>am</strong>it zus<strong>am</strong>menhängt, wo<br />
Verwandte oder Landsleute wohnen.“ 1989<br />
waren es bereits 1.300 K<strong>in</strong>der, die ohne<br />
Eltern ank<strong>am</strong>en und <strong>in</strong> die Obhut von Doris<br />
Gießen übergeben wurden. Ihr Haus war<br />
das erste Aufnahmeheim für jugendliche<br />
Flüchtl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Deutschland. Heute gibt es<br />
viele dieser Art, sie s<strong>in</strong>d über die ges<strong>am</strong>te<br />
Republik verteilt.<br />
Vor dem Büro der Heimleiter<strong>in</strong> wird es<br />
unruhig, K<strong>in</strong>derstimmen s<strong>in</strong>d zu hören.<br />
scripten 13 <strong>Gestrandet</strong> <strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong><br />
<strong>am</strong> Ma<strong>in</strong><br />
„Akkusativ und Dativ, das ist furchtbar,<br />
aber es wird schon besser werden.“<br />
Doris Gießen schaut kurz auf die Uhr,<br />
lächelt und sagt knapp: „Neun Uhr, jetzt ist<br />
Deutschunterricht.“ Da der Platz im Haus<br />
knapp bemessen sei, müsse der Besprechungsraum<br />
nebenan gleichzeitig als<br />
Klassenzimmer herhalten. Und das jeden<br />
Vormittag bis zwölf Uhr. „K<strong>in</strong>der gehören<br />
<strong>in</strong> die Schule, egal aus welchem Kulturkreis<br />
sie kommen“, bemerkt Gießen und verschw<strong>in</strong>det<br />
durch die Bürotür. Das sei die<br />
erste und wichtigste Regel überhaupt im<br />
Haus. Um den Konferenztisch im Nebenzimmer<br />
drängen sich 13 Schüler, vor ihnen<br />
liegen Schreibhefte und Deutschbücher.<br />
Erst auf den zweiten Blick erkennt man<br />
Nayer Nazemi, die kle<strong>in</strong>e Lehrer<strong>in</strong>. Auch<br />
Adnan und Fahim sitzen <strong>in</strong> der Lerngruppe,<br />
müssen nun schwierige deutsche Gr<strong>am</strong>matik<br />
pauken. Nach und nach kommt<br />
jeder aus der Runde an die Reihe, soll auf<br />
Deutsch erzählen, woher er kommt und<br />
wie er heißt. Bei denen, die bereits länger<br />
da s<strong>in</strong>d, klappt das ganz gut. Andere verhaspeln<br />
sich immer wieder, verdrehen<br />
die Wörter, kommen nicht weiter. Fahim<br />
stöhnt: „Akkusativ und Dativ, das ist furchtbar.“<br />
Lächelnd schiebt er e<strong>in</strong> „sehr problematisch“<br />
h<strong>in</strong>terher, „aber es wird schon<br />
besser werden“.<br />
Nayer Nazemi kennt die Probleme mit der<br />
deutschen Sprache, sie macht diesen Job<br />
seit über 20 Jahren. Sie hat Germanistik<br />
11
<strong>Gestrandet</strong> <strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong><br />
<strong>am</strong> Ma<strong>in</strong><br />
12<br />
scripten 13<br />
„Wenn du nach Deutschland gehst,<br />
hast du e<strong>in</strong>e Zukunft.“<br />
und Pädagogik studiert und vorher als Dolmetscher<strong>in</strong> <strong>am</strong> Gericht<br />
gearbeitet. Sie k<strong>am</strong> aus dem Iran, 38 Jahre ist das jetzt her. Vor allem<br />
das unterschiedliche Lernniveau und die hohe Fluktuation unter den<br />
K<strong>in</strong>dern sei schwierig, erklärt sie. „Es kommen immer wieder neue<br />
K<strong>in</strong>der h<strong>in</strong>zu, andere gehen weg. Irgendwie komb<strong>in</strong>iert man das,<br />
setzt die Schlechteren und die Besseren zus<strong>am</strong>men. Durch Erfahrung<br />
und Übung geht das, irgendwie.“ Sie versucht es über den klassischen<br />
Weg: viel schreiben und immer wieder vorlesen lassen, dazu<br />
e<strong>in</strong>fache Konversation. Das größte Problem sei die Erfahrung mit<br />
Schule überhaupt. In ihrer Zeit hier hat Nayer Nazemi K<strong>in</strong>der aus 74<br />
Ländern unterrichtet, manche haben noch nie e<strong>in</strong> Klassenzimmer<br />
von <strong>in</strong>nen gesehen, s<strong>in</strong>d Analphabeten <strong>in</strong> ihrer Muttersprache. „Die<br />
afghanischen K<strong>in</strong>der zum Beispiel s<strong>in</strong>d zwar motiviert, aber die haben<br />
kaum e<strong>in</strong>e Schule besucht und können sich deshalb nur schwer konzentrieren.<br />
Die K<strong>in</strong>der aus K<strong>am</strong>erun und Nigeria dagegen können vier<br />
Stunden stillsitzen, die kennen das.“<br />
Auch Fahim kann sich noch an se<strong>in</strong>e Schulzeit er<strong>in</strong>nern, allerd<strong>in</strong>gs<br />
nur vage. In der Pause erzählt er, dass das schon e<strong>in</strong>e paar Jahre her<br />
sei. D<strong>am</strong>it gehört er immerh<strong>in</strong> zu den etwa 15 Prozent der K<strong>in</strong>der <strong>in</strong><br />
Somalia, die überhaupt e<strong>in</strong>e Schule besuchen dürfen. Bis <strong>zur</strong> vierten<br />
Klasse habe er die Schulbank gedrückt, dann war Schluss. Se<strong>in</strong> Vater<br />
besaß d<strong>am</strong>als e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Laden im Zentrum von Mogadischu, dort<br />
wurde se<strong>in</strong>e Arbeitskraft dr<strong>in</strong>gender gebraucht. Vier Jahre hat er im<br />
Geschäft geholfen, dann k<strong>am</strong> der schrecklichste Tag <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em noch<br />
jungen Leben. Se<strong>in</strong> Vater wurde ermordet. „Me<strong>in</strong>e F<strong>am</strong>ilie gehört zu<br />
e<strong>in</strong>em sehr kle<strong>in</strong>en Clan. Und wenn du <strong>in</strong> Somalia zu e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en<br />
Clan gehörst, hast du niemanden, der dich beschützt. Dieses Land<br />
ist schrecklich, du kannst jeden Tag ausgeraubt werden oder es passiert<br />
dir noch viel Schlimmeres.“ Kurz nach dem Mord beschloss die<br />
Mutter, ihren Sohn nach Europa zu schicken. Fast zwei Jahre haben<br />
die Vorbereitungen gedauert. E<strong>in</strong> Somalier, der <strong>in</strong> Dubai lebt, hat die<br />
Flucht organisiert. Wie viel Geld se<strong>in</strong>e Mutter ihm dafür bezahlt hat,
Deutschunterricht<br />
weiß Fahim nicht. „Ich habe sie mehrmals<br />
gefragt, aber sie wollte es mir nicht verraten.“<br />
Er hat noch e<strong>in</strong>en Bruder und e<strong>in</strong>e<br />
Schwester, die beide jünger s<strong>in</strong>d. Ihn wegzuschicken<br />
ist se<strong>in</strong>er Mutter nicht leicht<br />
gefallen, sagt er. Doch nach dem Tod des<br />
Vaters trage er als ältester Sohn nun die<br />
Verantwortung. Mit se<strong>in</strong>en 16 Jahren sei er<br />
nun die Hoffnung der ganzen F<strong>am</strong>ilie, gab<br />
ihm die Mutter mit auf den Weg. „Wenn<br />
du nach Deutschland gehst, hast du e<strong>in</strong>e<br />
Zukunft. Und wenn du e<strong>in</strong>e hast, haben wir<br />
vielleicht auch e<strong>in</strong>e.“<br />
Nach drei Stunden ist der Unterricht von<br />
Nayer Nazemi vorbei, die K<strong>in</strong>der gehen zum<br />
Mittagessen. Sie hat <strong>in</strong> der Pause die letzten<br />
Sätze von Fahims Erzählung mitbekommen.<br />
„Das ist e<strong>in</strong>e typische Geschichte für<br />
viele K<strong>in</strong>der hier“, sagt sie. „Wer kommt<br />
und wann, daran kann man die Weltpolitik<br />
und die Kriege exakt nachzeichnen.<br />
Im Moment s<strong>in</strong>d es viele Flüchtl<strong>in</strong>ge aus<br />
Afghanistan, Somalia, Äthiopien und dem<br />
Irak.“ Zu Mittag gibt es Gemüsebratl<strong>in</strong>ge<br />
mit Kartoffelsalat. Gekocht wird im eigenen<br />
Haus von eigenen Köchen, den Tischdienst<br />
übernehmen die Jugendlichen selbst. Mittlerweile<br />
s<strong>in</strong>d auch die anderen 13 Heimbewohner<br />
vom Unterricht <strong>zur</strong>ück, der aus<br />
Platzmangel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em angemieteten Raum<br />
<strong>in</strong> der Nachbarschaft stattf<strong>in</strong>den muss. Es<br />
gibt feste Essenszeiten im Haus, morgens,<br />
mittags und abends. Für 26 Jugendliche<br />
an zwei großen Tischen läuft das Prozedere<br />
ziemlich geordnet ab. Am Ende bleibt<br />
nur der Kartoffelsalat übrig, Deutschlands<br />
beliebteste Beilage mögen sie hier offenbar<br />
nicht.<br />
Am Nachmittag kann jeder Heimbewohner<br />
machen, was er will. Wer über 14 Jahre alt<br />
ist, darf raus. Doch viele haben Angst, weil<br />
ihnen die Umgebung noch fremd ist. Den<br />
größten Teil der Zeit verbr<strong>in</strong>gen sie deshalb<br />
im Haus, im Garten oder auf dem Bolzplatz.<br />
Doch an diesem Nachmittag regnet es <strong>in</strong><br />
Strömen. Deshalb haben sich e<strong>in</strong>ige zum<br />
Billard verabredet, andere gehen <strong>in</strong> Begleitung<br />
e<strong>in</strong>es Mitarbeiters schwimmen, der<br />
Rest pendelt zwischen den Stockwerken.<br />
Manche liegen auf ihren Betten, machen<br />
Hausaufgaben oder lümmeln auf dem WG-<br />
Sofa herum. Adnan hat Besuch von se<strong>in</strong>em<br />
Bruder. Hasan kommt direkt von der Arbeit,<br />
seit sechs Jahren ist er Pfleger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
jüdischen Altenheim. Sie wechseln e<strong>in</strong><br />
paar Worte, sprechen aber weder über<br />
die Flucht noch über die F<strong>am</strong>ilie zu Hause.<br />
Hasan will se<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Bruder nicht<br />
überfordern. „Ich kenne das von me<strong>in</strong>er<br />
eigenen Flucht. Man muss vorsichtig se<strong>in</strong>,<br />
sonst kommt alles sofort hoch.“ Er vermutet,<br />
dass Adnan schwere Zeiten durchgemacht<br />
hat. Neben ihm hat Hasan noch<br />
sechs weitere Geschwister, se<strong>in</strong>e Mutter<br />
13
14<br />
Die Jugendlichen verbr<strong>in</strong>gen den Nachmittag zus<strong>am</strong>men<br />
lebt seit Jahren im iranischen Exil. Vom Vater hat er das letzte Mal<br />
vor 15 Jahren gehört, kurz vor se<strong>in</strong>er eigenen Flucht. Der war Journalist,<br />
wurde von den Taliban verschleppt und mit ziemlicher Sicherheit<br />
getötet. „Wir haben <strong>in</strong> Kandahar gelebt, me<strong>in</strong>e F<strong>am</strong>ilie hatte Geld,<br />
sogar mehrere Geschäfte. Uns g<strong>in</strong>g es gut, doch diese furchtbaren<br />
Kriege und die Taliban haben alles kaputt gemacht.“ Deshalb g<strong>in</strong>g die<br />
F<strong>am</strong>ilie <strong>in</strong> den Iran, von dort flüchtete Hasan nach Deutschland.<br />
Die ersten Jahre wohnte er <strong>in</strong> verschiedenen Jugendheimen, erst<br />
<strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong>, später <strong>in</strong> Kassel. Es g<strong>in</strong>g ihm schlecht d<strong>am</strong>als, erzählt<br />
er. „Ich lebte <strong>zur</strong>ückgezogen, war depressiv und hatte ständig<br />
Angst.“ Dann riss er sich zus<strong>am</strong>men, machte se<strong>in</strong>en Realschulabschluss,<br />
wollte danach studieren und Arzt werden. Doch ihm fehlte<br />
das nötige Geld. Und für die Aufenthaltsgenehmigung war es besser<br />
zu arbeiten. Also lernte er Alten- und Krankenpfleger und machte<br />
neben der Berufsschule se<strong>in</strong> Fachabitur – drei Tage arbeiten, zwei<br />
Tage Schule, drei Jahre lang. Er habe nie aufgegeben, immer versucht,<br />
etwas aus se<strong>in</strong>em jungen Leben zu machen. Er hat sich selbst<br />
belohnt, schaffte die Ausbildung und bek<strong>am</strong> danach den Job bei der<br />
jüdischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong>. „Ich b<strong>in</strong> zufrieden mit der Arbeit<br />
und mit me<strong>in</strong>em Leben. Aber das Leben me<strong>in</strong>er F<strong>am</strong>ilie ist traurig<br />
und schrecklich.“ Er me<strong>in</strong>t das Schicksal se<strong>in</strong>es Vaters, das der<br />
Mutter und der anderen Geschwister. Se<strong>in</strong>er eigenen kle<strong>in</strong>en F<strong>am</strong>ilie<br />
gehe es gut. Seit fünf Jahren ist er verheiratet und seit kurzem<br />
stolzer Vater e<strong>in</strong>es Sohnes. Die neue F<strong>am</strong>ilie helfe ihm, nicht ständig<br />
an die Anderen im Iran und <strong>in</strong> Afghanistan zu denken. „Me<strong>in</strong>e Frau<br />
ist auch Afghan<strong>in</strong>, wir teilen e<strong>in</strong> ähnliches Schicksal, das hilft uns<br />
beiden.“ Seit zwei Jahren ist Hasan deutscher Staatsbürger. Er hat es<br />
geschafft, er könnte zufrieden se<strong>in</strong>. Doch das Schicksal se<strong>in</strong>er F<strong>am</strong>ilie<br />
lässt ihn nicht los. Schweigend schaut er zu se<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Bruder<br />
h<strong>in</strong>über, der verloren auf dem Sofa sitzt, als wäre er gar nicht hier.<br />
Doris Gießen kennt solche Geschichten, obwohl sie nie direkt danach<br />
fragt. Die Jugendlichen müssen mehrmals während des Asylver-
„Was mir hier jeden Tag neue Energie gibt, ist diese<br />
Lebenskraft, diese Lebensfreude,<br />
die diese K<strong>in</strong>der haben.“<br />
fahrens über ihre Vergangenheit reden, mit Behörden, dem Jugend<strong>am</strong>t<br />
und ihrem Rechtsbeistand. Es wäre für viele e<strong>in</strong>e zusätzliche<br />
Belastung, me<strong>in</strong>t die Heimleiter<strong>in</strong>. „Wir fragen natürlich nach, wenn<br />
jemand von sich aus erzählt. Das passiert allerd<strong>in</strong>gs selten. Wir<br />
lassen die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Ruhe.“ Für Gießen ist das der richtige Weg,<br />
obwohl es im ersten Moment komisch kl<strong>in</strong>gen mag. Seit e<strong>in</strong> paar<br />
Jahren tendiert ihre Neugierde gegen Null. „Die habe ich nicht mehr.“<br />
Anfangs sei das anders gewesen, heute ist es nebensächlich. „Man<br />
nimmt die K<strong>in</strong>der so, wie sie vor e<strong>in</strong>em stehen, ohne Vergangenheit,<br />
ohne Zukunft.“ Es geht um die Erstversorgung, um Essen, e<strong>in</strong>e<br />
warme Jacke, e<strong>in</strong> Bett und e<strong>in</strong> Dach über dem Kopf. Erst wenn e<strong>in</strong><br />
K<strong>in</strong>d auffällig reagiert wird nachgeforscht, wenn nötig, e<strong>in</strong> Arzt konsultiert.<br />
Die meisten der Flüchtl<strong>in</strong>gsk<strong>in</strong>der kommen aus Kriegs- oder Krisengebieten.<br />
Es ist wahrsche<strong>in</strong>lich, dass viele traumatisiert s<strong>in</strong>d.<br />
Ihr körperlicher und seelischer Zustand, <strong>in</strong> dem sie hier ankommen,<br />
ist unterschiedlich. „Da ist alles dabei, von quietschvergnügt und<br />
bestens <strong>in</strong>formiert bis zum anderen Extrem – geschlagen, vergewaltigt,<br />
unterernährt, dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen.“<br />
Vor e<strong>in</strong> paar Jahren etwa k<strong>am</strong> e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Inder zu ihr, direkt aus<br />
der Kl<strong>in</strong>ik. Er wurde vorher auf der Straße gefunden, war fast verhungert<br />
und verdurstet. „Wir hatten e<strong>in</strong> Mädchen hier, die ist auf der<br />
Straße zus<strong>am</strong>mengebrochen mit e<strong>in</strong>em fünf Kilo schweren Lebertumor.“<br />
Doris Gießen hätte ihren Job wahrsche<strong>in</strong>lich längst aufgegeben,<br />
wenn sie täglich an diese traurigen Geschichten denken würde. Sie<br />
tue es bewusst nicht, weil bei ihrer Arbeit nicht das Elend im Vordergrund<br />
stehe, nicht die fehlenden Perspektiven oder das erlebte Leid,<br />
sondern die Kraft, die diese jungen Menschen mitbr<strong>in</strong>gen. „Was mir<br />
hier jeden Tag neue Energie gibt, ist diese Lebenskraft, diese Lebensfreude,<br />
die diese K<strong>in</strong>der haben. Das fasz<strong>in</strong>iert mich immer wieder<br />
aufs Neue. Dieser Optimismus, diese Stärke, das ist grandios. Das ist<br />
me<strong>in</strong>e persönliche Triebfeder.“<br />
scripten 13 <strong>Gestrandet</strong> <strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong><br />
<strong>am</strong> Ma<strong>in</strong><br />
Alle helfen sich gegenseitig<br />
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<strong>Gestrandet</strong> <strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong><br />
<strong>am</strong> Ma<strong>in</strong><br />
scripten 13<br />
„Da s<strong>in</strong>d dann schon mal Bürgerkriegsgegner<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Doppelstockbett.“<br />
Auch im Haus spürt man von diesem Elend<br />
wenig. Es geht unaufgeregt und ruhig zu,<br />
die meisten K<strong>in</strong>der s<strong>in</strong>d höflich, wirken<br />
fröhlich. Jeder hält sich an die wenigen<br />
Regeln, die es gibt. Dazu gehört der tägliche<br />
Deutschunterricht, ebenso muss jeder<br />
zu den Essenszeiten da se<strong>in</strong>, es sei denn, er<br />
hat e<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong> bei der Ausländerbehörde,<br />
dem Jugend<strong>am</strong>t oder beim Arzt. Zu jedem<br />
dieser Treffen werden die Jugendlichen von<br />
e<strong>in</strong>em Mitarbeiter begleitet. Haussprache<br />
ist eher Englisch als Deutsch, unter den<br />
vielen Westafrikanern ist es meist Französisch.<br />
Schwierig wird es, wenn die K<strong>in</strong>der<br />
nur ihre Heimatsprache kennen und ke<strong>in</strong>e<br />
Drittsprache. Dann hilft nur noch e<strong>in</strong> Dolmetscher<br />
– und die jahrelange Erfahrung<br />
der Mitarbeiter. „Wir können mittlerweile<br />
fast jeden Wunsch von den Augen ablesen“,<br />
so Gießen. „Also im Alltag, aus dem<br />
Zus<strong>am</strong>menhang heraus verstehen wir die<br />
Kids, auch wenn es ke<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>s<strong>am</strong>e<br />
Sprache gibt.“<br />
Die Heimleiter<strong>in</strong> sieht die D<strong>in</strong>ge pragmatisch.<br />
Die Zimmer werden nur nach<br />
Geschlecht aufgeteilt, das ist das e<strong>in</strong>zige<br />
Muss. „Wenn wir Platz haben, schauen wir<br />
natürlich, dass diejenigen, die die gleiche<br />
Sprache sprechen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zimmer s<strong>in</strong>d.<br />
Das kann auch e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>s<strong>am</strong>e Drittsprache<br />
se<strong>in</strong>. „Aber wir s<strong>in</strong>d jetzt an der<br />
Obergrenze und voll belegt. Da s<strong>in</strong>d dann<br />
schon mal Bürgerkriegsgegner <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Doppelstockbett.“ Ause<strong>in</strong>andersetzungen<br />
gab es deswegen noch nie. Überhaupt sei<br />
Gewalt hier im Haus weit weniger verbreitet,<br />
als man bei so vielen Kriegsflüchtl<strong>in</strong>gen<br />
unter e<strong>in</strong>em Dach vermuten mag,<br />
sagt Gießen. Dass es sie gibt, verschweigt<br />
die Leiter<strong>in</strong> nicht. Viele hier haben <strong>in</strong> ihrer<br />
Heimat Gewalt erleben müssen. Das prägt.<br />
Trotzdem gehe es vergleichsweise ruhig<br />
zu. „Obwohl wir überwiegend K<strong>in</strong>der hier<br />
haben, die Gewalt sehr gut kennen, die<br />
Bilder leibhaftig im Kopf haben, die wir nur<br />
aus dem Fernsehen kennen, ist doch auffällig,<br />
wie gern diese Jugendlichen der Gewalt<br />
abschwören.“ Wenn doch Konflikte entstehen,<br />
gibt es bei ihr nur e<strong>in</strong>e Lösung: Ke<strong>in</strong><br />
Streit darf über Nacht bestehen bleiben.<br />
Die Parteien werden an e<strong>in</strong>en Tisch gesetzt,<br />
bis e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>barung getroffen ist. Gießen<br />
nennt das Zwangsversöhnungen, <strong>in</strong> 99 Prozent<br />
der Fälle klappe das.<br />
Im Schnitt s<strong>in</strong>d die Jugendlichen nur drei,<br />
vier Monate hier im Haus, dann werden<br />
sie auf andere Jugendheime verteilt. Von<br />
den meisten hören Doris Gießen und ihre<br />
Mitarbeiter danach nie wieder etwas. Es<br />
sei denn, sie kommen irgendwann unangemeldet<br />
vorbei. Vor e<strong>in</strong> paar Monaten etwa<br />
stand ihr erster vietn<strong>am</strong>esischer Flüchtl<strong>in</strong>g<br />
wieder <strong>in</strong> der Tür und erzählte stolz von<br />
se<strong>in</strong>em Mathematikstudium an der Frank-
furter Uni. Mitten im Gespräch wurden sie dezent von e<strong>in</strong>er Mitarbeiter<strong>in</strong><br />
des Jugend<strong>am</strong>tes mit dem Satz unterbrochen: „Nun halten sie<br />
doch bitte me<strong>in</strong>en Übersetzer nicht von der Arbeit ab.“ Von e<strong>in</strong>em<br />
Anderen hat sie gehört, der ist jetzt Fußballprofi <strong>in</strong> der Bundesliga.<br />
„Und erst letztens war e<strong>in</strong>er da, völlig akzentfrei, Kölner Dialekt.<br />
Der war vor zwölf Jahren hier und ist heute Betriebswirt.“ Immer<br />
wieder stehen junge Leute vor ihr und fragen, ob sie sie noch kenne.<br />
Dann muss sie länger überlegen, N<strong>am</strong>en wälzen, sich Gesichter <strong>in</strong>s<br />
Gedächtnis rufen. Bei über 6.500 K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen verliert<br />
man den Überblick. „Es s<strong>in</strong>d eher die Erfolgsgeschichten, die man<br />
mitkriegt.“<br />
Nur nach Geschlecht werden die Zimmer aufgeteilt<br />
Zum 20. Geburtstag des Jugendhauses im letzten Jahr k<strong>am</strong>en e<strong>in</strong>ige<br />
Ehemalige vorbei. Auch Emilio T., der jetzt <strong>am</strong> <strong>Frankfurt</strong>er Flughafen<br />
arbeitet, war da. Neun Monate hat er hier gewohnt. Frau Doris, wie<br />
er sie nennt, war se<strong>in</strong>e wichtigste Bezugsperson. „Ich b<strong>in</strong> oft bis spät<br />
<strong>in</strong> ihrem Büro geblieben, bis sie dann gesagt hat: Jetzt musst du aber<br />
schlafen gehen. Und wenn sie mal Nachtdienst hatte, war es wirklich<br />
ruhig <strong>in</strong> den Zimmern.“ Anfangs sprach Emilio weder Deutsch<br />
noch Englisch, nur Portugiesisch. Niemand verstand ihn. „Es war<br />
schlimm, so als würdest du zwischen Tausenden Leuten stehen, die<br />
alle e<strong>in</strong>e andere Sprache sprechen. Du fragst dich, wie soll ich das<br />
jemals h<strong>in</strong>bekommen.“ Sechs Jahre später berichtet er stolz mit leicht<br />
hessischem Akzent, dass es ihm gut gehe, dass er e<strong>in</strong>e Bäckerlehre<br />
abgeschlossen und e<strong>in</strong>en festen Job habe. Gerade mache er an der<br />
Abendschule das Abitur. „Ich stehe um drei Uhr morgens auf, fahre<br />
<strong>zur</strong> Arbeit <strong>am</strong> Flughafen. Nachmittag um zwei ist Feierabend. Jeden<br />
Montag ist Schule, von 17 bis 22 Uhr. Danach falle ich zu Hause <strong>in</strong>s<br />
Bett.“ Der Angolaner war <strong>in</strong> zwei Jugendheimen, seit knapp zwei<br />
Jahren wohnt er alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen Wohnung <strong>in</strong> der Nähe von<br />
Wiesbaden. Er ist froh, nun se<strong>in</strong> eigenes Leben zu haben. „Ich hatte<br />
immer die Betreuer, die sich für mich e<strong>in</strong>gesetzt haben, Freunde<br />
und Freund<strong>in</strong>nen. Das war gut so. Aber immer dieser Tischdienst,<br />
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Jeder hat se<strong>in</strong>e eigene Geschichte<br />
die ganzen Aufgaben und so viele Leute,<br />
das war auch anstrengend. Jetzt habe ich<br />
endlich me<strong>in</strong>e Freiheit.“ Allerd<strong>in</strong>gs müsse<br />
er nun aufpassen, dass das Geld bis zum<br />
Ende des Monats reiche, dass er etwas im<br />
Kühlschrank habe und dass er es regelmäßig<br />
<strong>zur</strong> Schule und <strong>zur</strong> Arbeit schaffe. „Das<br />
ist manchmal nicht ganz e<strong>in</strong>fach für e<strong>in</strong>en<br />
Jugendlichen“, gibt er zu. „Aber ich b<strong>in</strong><br />
sehr ehrgeizig. Wenn ich etwas möchte,<br />
dann schaffe ich das auch.“ Während<br />
se<strong>in</strong>er Bäckerlehre musste er jeden Tag<br />
acht Kilometer mit dem Fahrrad <strong>zur</strong> Arbeit<br />
fahren, Sommer wie W<strong>in</strong>ter. E<strong>in</strong>e Qual für<br />
e<strong>in</strong>en Afrikaner, me<strong>in</strong>t er schmunzelnd. „Es<br />
war saukalt, Schnee ohne Ende, aber ich<br />
musste das irgendwie durchziehen. Jetzt<br />
sehe ich, dass ich e<strong>in</strong> festes Gehalt habe<br />
und die Belohnung dafür bekomme.“ Die<br />
größte Belohnung für ihn wäre es allerd<strong>in</strong>gs,<br />
wenn se<strong>in</strong> Asylverfahren endlich<br />
e<strong>in</strong> Ende f<strong>in</strong>den würde und er wüsste, wie<br />
se<strong>in</strong>e Zukunft aussieht. Seit Jahren wartet<br />
Emilio darauf, bisher vergeblich.<br />
Der Angolaner wird von Rechtsanwält<strong>in</strong><br />
Roswitha Maul vertreten. Die 47-jährige ist<br />
seit über neun Jahren als Rechtsbeistand<br />
für unbegleitete m<strong>in</strong>derjährige Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />
tätig. Sie ist Emilios sogenannte<br />
Ergänzungspfleger<strong>in</strong>, weil das Jugend<strong>am</strong>t,<br />
welches erster Vertreter ist, rechtliche<br />
Beihilfe braucht. Bezahlt wird sie<br />
aus der Staatskasse. Die Anwält<strong>in</strong> erklärt<br />
den jungen Flüchtl<strong>in</strong>gen ihre Rechte und<br />
Pflichten, prüft die Fluchtgründe, beantragt<br />
Aufenthaltsgenehmigungen und begleitet<br />
das Asylverfahren bis <strong>zur</strong> letzten Instanz,<br />
Abschiebung oder Anerkennung. Für die<br />
Jugendlichen ist sie die wichtigste Vertrauensperson<br />
auf ihrem langen Weg durch<br />
die deutsche Bürokratie. „Ziel des Bundes<strong>am</strong>tes<br />
ist es, die Jugendlichen <strong>zur</strong>ück zu<br />
schicken. Deshalb bespreche ich, mittels<br />
Dolmetscher, die Asylgründe sehr ausführlich<br />
mit dem Jugendlichen. D<strong>am</strong>it er e<strong>in</strong>erseits<br />
ganz genau verstanden hat, worum es<br />
geht und andererseits, d<strong>am</strong>it er Vertrauen<br />
fasst und ihm klar wird, dass ich nicht diejenige<br />
b<strong>in</strong>, die ihn abschieben will, sondern<br />
die ihm dabei behilflich ist, hier e<strong>in</strong> Bleiberecht<br />
zu erlangen.“ Über 300 m<strong>in</strong>derjährige<br />
Flüchtl<strong>in</strong>ge hat Roswitha Maul im Laufe<br />
der Zeit vertreten. Ihre Fluchtgründe seien<br />
häufig andere als die der Erwachsenen,<br />
erklärt sie. Viele haben ihre Eltern verloren,<br />
sei es <strong>in</strong> Bürgerkriegen oder durch andere<br />
Katastrophen, etwa ethnische Säuberungen<br />
wie <strong>in</strong> Äthiopien oder Eritrea. Die Jungs<br />
seien nicht selten als K<strong>in</strong>dersoldaten missbraucht<br />
worden. Speziell bei den Mädchen<br />
gehe es oft um Zwangsheiraten, Genitalbeschneidungen,<br />
moderne Sklaverei als<br />
Hausmädchen, sexuellen Missbrauch oder<br />
Misshandlungen <strong>in</strong> der F<strong>am</strong>ilie oder durch<br />
Sicherheitsbehörden.
Auch Emilios Fluchtgründe wiegen schwer. Eltern hat der Angolaner<br />
ke<strong>in</strong>e mehr, nach eigener Aussage s<strong>in</strong>d beide tot. Als K<strong>in</strong>dersoldat<br />
werde er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Heimat bis heute gesucht, er hat ke<strong>in</strong>e Ahnung,<br />
was dort mit ihm passieren würde. „Ich kann nicht und ich möchte<br />
auch nicht <strong>zur</strong>ück. Me<strong>in</strong>e Wunden s<strong>in</strong>d noch nicht verheilt. Vielleicht<br />
denke ich <strong>in</strong> 20 Jahren anders darüber, aber jetzt nicht.“ Die Kriegsbilder<br />
haben ihm monatelang den Schlaf geraubt, um das Schlimmste<br />
zu verarbeiten, hat er vor drei Jahren e<strong>in</strong>e Therapie begonnen. „Die<br />
Bilder hätten mich sonst aufgefressen.“ 27 Jahre dauerte der Bürgerkrieg<br />
<strong>in</strong> Angola, zwei Jahre hat Emilio mitgekämpft, Menschen<br />
getötet, K<strong>am</strong>eraden begraben, brennende Dörfer h<strong>in</strong>ter sich gelassen.<br />
Darüber reden will er an diesem Nachmittag nicht. Vor Gericht<br />
musste er se<strong>in</strong>e Geschichte mehrmals erzählen, die Anhörungen<br />
empfand er als Tortur. „Es war schlimm, ich hatte Angst. Ich wusste<br />
nicht, was mit mir passiert. Ich habe mich jedes Mal gefragt: Passt<br />
es diesen Leuten da, dass ich hier b<strong>in</strong>?“ Trotzdem wurde se<strong>in</strong> erster<br />
Asylantrag abgelehnt, weil der Krieg <strong>in</strong> Angola vorbei sei und er deshalb<br />
<strong>zur</strong>ück gehen könne. Diese Zeit war die schwierigste, er<strong>in</strong>nert<br />
er sich. „Jeden e<strong>in</strong>zelnen Tag hast du diese Angst, dass irgendetwas<br />
passieren kann. Solange du nicht dieses Dokument <strong>in</strong> den Händen<br />
hältst, diese Aufenthaltsgenehmigung, ist dieses Gefühl immer da.“<br />
Sie g<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Widerspruch, erreichten e<strong>in</strong>en Abschiebestopp. „Für<br />
alle unter 18 Jahren muss gewährleistet se<strong>in</strong>, dass sie von irgendjemandem<br />
versorgt werden“, so die Anwält<strong>in</strong>. Für afrikanische K<strong>in</strong>der<br />
sei es <strong>in</strong> den meisten Fällen e<strong>in</strong>facher, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>stweiliges Bleiberecht<br />
zu bekommen, im Gegensatz zu Osteuropäern. Das hänge mit der allgeme<strong>in</strong>en<br />
Versorgungslage und der sozialen Lage zus<strong>am</strong>men. „Auch<br />
wenn diese nicht unseren Standards entsprechen, gibt es im Osten<br />
Europas zum<strong>in</strong>dest K<strong>in</strong>derheime, die die Jugendlichen im Zweifelsfall<br />
aufnehmen können. Unsere Gerichte gehen davon aus, dass sich<br />
dort schon irgende<strong>in</strong>e Hilfsorganisation kümmern wird. In Afrika ist<br />
das schwieriger.“ Emilio hatte Glück, darf vorerst bleiben. Seit drei<br />
Jahren hat er e<strong>in</strong>e Aufenthaltsgenehmigung, er geht davon aus, dass<br />
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Auch <strong>in</strong> der Küche wird geme<strong>in</strong>s<strong>am</strong> gearbeitet<br />
die Behörden diese <strong>in</strong> zwei Wochen um weitere drei Jahre verlängern.<br />
Er hofft, dass auch die Befristung bald aufgehoben wird, es wäre<br />
der nächste Schritt auf se<strong>in</strong>em langen Weg, vielleicht irgendwann<br />
die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen. Die Chancen dafür<br />
s<strong>in</strong>ken allerd<strong>in</strong>gs seit Jahren, die Zahl der E<strong>in</strong>bürgerungen hat gerade<br />
den niedrigsten Stand seit der Wiedervere<strong>in</strong>igung erreicht. Emilio gibt<br />
sich trotzdem zuversichtlich und selbstbewusst. „Ich habe e<strong>in</strong>en Job,<br />
ich zahle me<strong>in</strong>e Steuern, ich habe e<strong>in</strong>e Wohnung und ich tue etwas<br />
für me<strong>in</strong>e Bildung. Ich muss ke<strong>in</strong>e Angst haben. Deutschland ist jetzt<br />
me<strong>in</strong>e zweite Heimat.“ Se<strong>in</strong>e Anwält<strong>in</strong> muss allerd<strong>in</strong>gs länger überlegen,<br />
bis ihr Fälle e<strong>in</strong>fallen, <strong>in</strong> denen das geklappt hat. „Das gibt es,<br />
aber es ist sehr selten. Die Beantragung der deutschen Staatsangehörigkeit<br />
setzt voraus, dass die Identität zweifelsfrei feststeht. Doch<br />
die wenigsten Jugendlichen reisen mit gültigen Identitätspapieren an.<br />
Und wer sagt denn, dass derjenige der ist, für den er sich ausgibt?“<br />
Sie schätzt, dass mehr als 80 Prozent der Jugendlichen, die sie über<br />
die Jahre betreut hat, heute noch <strong>in</strong> Deutschland s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> Erfolg ihrer<br />
Arbeit, denn e<strong>in</strong>en sensibleren Umgang mit m<strong>in</strong>derjährigen Flüchtl<strong>in</strong>gen<br />
seitens der Behörden kann sie kaum feststellen. „Es gibt zwar<br />
heute gesetzliche Vorgaben, dass auch Jugendliche ohne eigene<br />
Identitätsdokumente zw<strong>in</strong>gend Anspruch auf e<strong>in</strong>e Aufenthaltsgenehmigung<br />
und e<strong>in</strong> Ausweisersatzpapier haben. Das ist e<strong>in</strong> großer Fortschritt.<br />
Ansonsten aber hat sich die Situation für die Jugendlichen<br />
eher verschlechtert. Vor allem bei denen, wo es ke<strong>in</strong>e Abschiebungsh<strong>in</strong>dernisse<br />
im Herkunftsland gibt. Die haben kaum e<strong>in</strong>e Chance, sich<br />
hier beruflich zu <strong>in</strong>tegrieren, weil sie nur geduldet werden, bis sie<br />
18 s<strong>in</strong>d.“ Die Betroffenen müssen nach ihrem 18. Geburtstag meist<br />
<strong>in</strong> Asylunterkünfte für Erwachsene umziehen, ihnen wird die Sozialhilfe<br />
gekürzt und sie dürfen nicht arbeiten. „Deren Chance auf e<strong>in</strong>e<br />
Perspektive hier ist gleich null“, so die Anwält<strong>in</strong>. Das erzeuge e<strong>in</strong>en<br />
massiven Druck. „Die müssen Papiere aus ihrer Heimat besorgen<br />
und dafür Kontakt mit Behörden aus ihren Ländern aufnehmen. Das
„Die haben kaum e<strong>in</strong>e Chance, sich hier beruflich<br />
zu <strong>in</strong>tegrieren, weil sie nur geduldet werden, bis<br />
sie 18 s<strong>in</strong>d.“<br />
ist für viele problematisch.“ Folgen dieser<br />
rigiden Ausländerpolitik: Die Flüchtl<strong>in</strong>ge<br />
werden psychisch krank, begehen Straftaten.<br />
Emilio hat diese Probleme nicht. Wenn<br />
er se<strong>in</strong> Abi und die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung<br />
<strong>in</strong> der Tasche hat, will er<br />
Betriebswirtschaft studieren. Er hofft, dass<br />
es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jahr so weit ist. „Der Beruf des<br />
Bäckers stirbt leider langs<strong>am</strong> aus. Ich muss<br />
etwas tun, und Bildung kann man immer<br />
gebrauchen.“<br />
Doris Gießen ist froh, wenn die Geschichten<br />
so verlaufen. Das s<strong>in</strong>d die Erfolgsgeschichten.<br />
Wer <strong>am</strong> Ende abgeschoben<br />
wurde, wer es nicht geschafft hat, erfährt<br />
sie relativ selten. Ab und an erzählen ihr<br />
Kollegen anderer Heime, was passiert ist.<br />
Etwa von dem türkischen Kurden, der mit<br />
acht Jahren zu ihr k<strong>am</strong> und danach <strong>in</strong> verschiedenen<br />
hessischen Heimen lebte. Zwei<br />
Ausbildungen hat er <strong>in</strong> dieser Zeit gemacht.<br />
Mit 19, gerade aus der Jugendhilfe raus<br />
und <strong>in</strong>s Berufsleben gestartet, wurde er<br />
auf dem Weg <strong>zur</strong> Arbeit verhaftet und<br />
abgeschoben. „Abends <strong>in</strong> den Nachrichten<br />
hörst du die Diskussionen über e<strong>in</strong>en<br />
möglichen EU-Beitritt der Türkei und die<br />
Probleme, die dabei gesehen werden. Und<br />
dann erfährt man von dieser Praxis, dass<br />
e<strong>in</strong> motivierter Steuerzahler, der se<strong>in</strong>e<br />
Muttersprache nicht mehr spricht, e<strong>in</strong>fach<br />
abgeschoben wird. Das ist e<strong>in</strong>fach nur<br />
scripten 13 <strong>Gestrandet</strong> <strong>in</strong> <strong>Frankfurt</strong><br />
<strong>am</strong> Ma<strong>in</strong><br />
bitter und menschenverachtend.“ Gießen<br />
will davon <strong>am</strong> liebsten gar nichts wissen.<br />
Nicht, weil ihr das Schicksal ihrer Schützl<strong>in</strong>ge<br />
gleichgültig wäre, sondern weil sie<br />
es nicht ertragen kann. „Wie oft, wo und<br />
wann das passiert, weiß ich nicht. Und will<br />
das auch nicht, weil ich das nicht aushalten<br />
würde. Wenn man die jungen Leute<br />
kennt, ist das e<strong>in</strong>fach die Hölle.“<br />
Es sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> vielen Fällen vom Wohlwollen<br />
der Ausländerbehörden oder gar e<strong>in</strong>zelner<br />
Mitarbeiter der Ämter abzuhängen, wer<br />
wann abgeschoben wird oder eben nicht.<br />
„Es gibt Ausländerbehörden, die wollen<br />
plötzlich ihre Schreibtische frei kriegen<br />
und dann schieben sie mal alle schnell ab.<br />
Das ist politisch auch so gewollt“, sagt<br />
Gießen und vermutet Willkür. Sie kennt<br />
Beispiele, negative wie positive. Die Akte<br />
e<strong>in</strong>es Eritreers etwa, der vor fast 20 Jahren<br />
<strong>in</strong> ihrer Obhut war, wurde „immer wieder<br />
von oben nach unten sortiert“. So blieb er<br />
jahrelang unbehelligt, konnte se<strong>in</strong>e Ausbildung<br />
beenden und fand danach e<strong>in</strong>en Job.<br />
Er gründete e<strong>in</strong>e F<strong>am</strong>ilie, wurde Vater, und<br />
lebt bis heute <strong>in</strong> der Nähe von <strong>Frankfurt</strong>.<br />
E<strong>in</strong>erseits könne er der Behörde dankbar<br />
se<strong>in</strong>, so Gießen, weil sie ihn <strong>in</strong> Ruhe lassen.<br />
Andererseits läuft se<strong>in</strong> Asylverfahren bis<br />
heute, ist rechtlich nicht abgeschlossen.<br />
Wird der Antrag doch irgendwann bearbeitet<br />
und plötzlich abgelehnt, weil etwa die<br />
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22<br />
Geme<strong>in</strong>s<strong>am</strong>es Frühstück<br />
Abschiebungsh<strong>in</strong>dernisse für Eritrea nicht mehr gegeben s<strong>in</strong>d, könnte<br />
alles sehr schnell gehen. In der Praxis passiere das jeden Tag, so die<br />
Heimleiter<strong>in</strong>. „Theoretisch könnte man ihn dann nach deutschem<br />
Recht e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> Handschellen legen und abschieben, egal wie lange<br />
er schon hier ist. Faktisch haben aber die bei den zuständigen Behörden<br />
beschlossen, dass das Wahns<strong>in</strong>n wäre.“ Trotzdem bezeichnet sie<br />
diesen Zustand als fatal, weil jegliche Sicherheit fehle. „Das ist das<br />
Schlimmste überhaupt. Die jungen Leute s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Alter, <strong>in</strong> dem<br />
sie ihr Leben planen wollen, F<strong>am</strong>ilie, Arbeit, Wohnort, Zukunft. Und<br />
das mit dieser Unsicherheit im Genick, bei der man zum<strong>in</strong>dest theoretisch<br />
jeden Tag ausgewiesen werden kann. Das ist unmöglich.“<br />
Adnan, Fahim und die anderen 24 Heimbewohner wissen noch nichts<br />
von dieser eigenwilligen Praxis deutscher Ausländerbehörden. Bislang<br />
können sie das Wort Willkür noch nicht e<strong>in</strong>mal schreiben. Im<br />
Moment s<strong>in</strong>d sie froh, dass sie es überhaupt bis nach Deutschland<br />
geschafft haben. Adnan ist noch dabei, se<strong>in</strong>e eigene Geschichte<br />
und die Flucht zu verarbeiten. Auch Tage nach se<strong>in</strong>er Ankunft wirkt<br />
er abwesend, zieht sich oft <strong>zur</strong>ück, ist lieber alle<strong>in</strong>. Er hat zum<strong>in</strong>dest<br />
se<strong>in</strong>en großen Bruder Hasan, der ihn „mit aller Kraft unterstützen“<br />
will und ihm zeigen kann, wie man es durch den Behördendschungel<br />
schafft. Fahim hat niemanden, doch er hat e<strong>in</strong>en Traum. Er möchte <strong>in</strong><br />
Deutschland Mediz<strong>in</strong> studieren. Wenn er dann Arzt ist, will er se<strong>in</strong>er<br />
F<strong>am</strong>ilie <strong>in</strong> Somalia jeden Monat Geld schicken. Er hofft, dass se<strong>in</strong>e<br />
Hilfe nicht zu spät kommt.<br />
© Text: Ronny Arnold; Fotos: Bernd Cr<strong>am</strong>er
Das Mite<strong>in</strong>ander ist friedlich und freundschaftlich<br />
Die jungen Leute s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Alter, <strong>in</strong> dem<br />
sie ihr Leben planen wollen, F<strong>am</strong>ilie,<br />
Arbeit, Wohnort, Zukunft.<br />
Ronny Arnold, geboren 1975, lebt und<br />
arbeitet <strong>in</strong> Leipzig. Er ist freier Journalist<br />
und produziert Beiträge für die Hörfunkprogr<strong>am</strong>me<br />
der ARD, hauptsächlich den<br />
Deutschlandfunk, den SWR und die Deutsche<br />
Welle. Er studierte Soziologie, Journalistik<br />
und Politik an der Universität Leipzig<br />
und <strong>in</strong> Middlesbrough (UK). Seit 2003 ist<br />
er Mitglied im Leipziger Journa-listenbüro<br />
Mediendienst Ost und berichtet überwiegend<br />
aus Sachsen, Sachsen-Anhalt<br />
und Thür<strong>in</strong>gen, Schwerpunkte Kultur und<br />
<strong>Gesellschaft</strong>. Er hat bisher an zwei Reportagebüchern<br />
mitgeschrieben.<br />
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