Wolfgang Wildgen - Fachbereich 10 - Universität Bremen
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zentralen Wert; die nicht nationalen Kulturen (fremde und eigene<br />
Minderheitskulturen) wurden entwertet. Dies war eine erste, primär<br />
politisch (sekundär ökonomisch) verursachte Profilbildung. Sie hat ihre<br />
Kraft zwar eingebüßt, wirkt aber über die Verhältnisse, die sie geschaffen<br />
hat, weiter.<br />
Die zweite große Bewegung ging mit der Industrialisierung, Modernisierung<br />
und Urbanisierung einher. Insbesondere die zentral kontrollierte<br />
allgemeine Schulbildung hatte dramatische Wirkungen sowohl auf das<br />
Bewusstsein allgemein als auch auf die Sprachwahl (vgl. <strong>Wildgen</strong>, 1989<br />
und Mattheier, 1980). Dieser Prozess hat nur wenige ländliche, nicht<br />
industrialisierte Restgebiete übrig gelassen, allerdings gab es mit der<br />
Verlegung des Wohnsitzes aus den Stadtzentren in die Peripherie und der<br />
Möglichkeit der Trennung von Arbeits- und Wohnort auch eine Gegenbewegung;<br />
die Deindustrialisierung des Ruhrgebietes und der<br />
Hafenstädte bewirkte eine weitere Dämpfung dieser Bewegung.<br />
Die letzte, erst in Schwung kommende Bewegung ist die Europäisierung<br />
und weltwirtschaftlich die Globalisierung. Die Europäisierung hat<br />
zur Folge, dass zumindest in der Intention und im Ansatz neue grenzübergreifende<br />
Interregionen entstehen. So könnte im Grenzgebiet Niederlande—Deutschland<br />
eine Interregion mit zwei Standardsprachen<br />
Niederländisch, Hochdeutsch und einer Gruppe regionaler Dialekte als<br />
Kommunikationsmitteln entstehen, im Dreieck Deutschland, Frankreich,<br />
Schweiz (mit Freiburg, Mulhouse, Basel als Zentren) könnte eine<br />
Interregion mit den Hochsprachen Deutsch, Französisch und einer<br />
alemannischen Dialektgruppe entstehen; eine ähnliche Mittlerfunktion<br />
könnten süd-jütländische, friesische und nordniederdeutsche Dialekte in<br />
der Grenzregion zu Dänemark spielen. Da die Europäisierung aber vorrangig<br />
ein wirtschaftlicher Prozess ist, werden wohl noch Jahrzehnte<br />
vergehen, bis daraus kulturell fassbare Interregionen entstehen oder gar<br />
eine kulturelle Identität der Interregion.<br />
Das kollektive Bewusstsein, selbst eine schwer fassbare Größe, ist aber<br />
mehr als das Ergebnis aktueller Ereignisse, Kräfte oder symbolischer<br />
Medien, es hat eine (begrenzte) historische Dimension. Unmittelbar reicht<br />
diese so weit wie die Biographie des Sprechers, seiner Eltern, seiner<br />
Großeltern, also etwa drei Generationen. Dies kann bei einem Siebzigjährigen<br />
mehr als ein Jahrhundert umfassen. Außerdem sind in groben<br />
Zügen anhand der historischen Denkmale, der tradierten Erzählungen und<br />
des Geschichtsunterrichts auch die letzten Jahrhunderte mit einbezogen.<br />
In <strong>Bremen</strong> etwa der Kampf Karl des Großen gegen die Sachsen, die<br />
Stadtgründung (um 800), die Zeit des Roland, die Hanse, die<br />
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