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Wolfgang Wildgen - Fachbereich 10 - Universität Bremen

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aber auch der sprach- und kulturideologische Druck auf die in Veränderung<br />

begriffenen Dorfkulturen (oder Stadtteilkulturen) und eine neue<br />

Selbstbesinnung und soziale Selbstorganisation erscheint möglich. Ansätze<br />

dazu sind erkennbar. Es ist aber typisch für solche Selbstorganisationsprozesse,<br />

dass Verlauf und Endergebnis kaum vorhersehbar sind. Aus<br />

demselben Grund sind sie auch nicht steuerbar, und politische Maßnahmen<br />

erscheinen auf den ersten Blick sinnlos und überflüssig. Dennoch<br />

sollte folgender Sachverhalt auch den Politikern klar sein: Soziale und<br />

kulturelle Selbstorganisationsprozesse sind die eigentliche Seele einer<br />

Gesellschaft. Sie müssen per se geschützt werden, da nur so eine flexible<br />

Anpassung an veränderte Lebensbedingungen möglich ist. Was heißt es<br />

aber konkret, solche sozialen Selbstorganisationsprozesse zu schützen? In<br />

erster Linie heißt es, Barrieren in der Entwicklung, Vorurteilsschranken,<br />

Reste von dysfunktionalen Verdrängungsstrategien zu beseitigen. In der<br />

Summe, es gilt den kulturellen (besonders den kulturideologischen) Müll<br />

zu beseitigen. In der geklärten Landschaft sollen dann die Beteiligten -<br />

Familien und ihre Kinder, Gemeinden und ihre Mitglieder - selbst entscheiden,<br />

welchen Weg sie einschlagen wollen. Ich will einige Beispiele<br />

für eine kulturelle und sprachpolitische Entrümpelung geben:<br />

a) Abschied vom Primat der künstlich normierten, überbewerteten<br />

Schriftsprache. Sie soll nur in den genuinen Bereichen (Schriftverkehr,<br />

Wissensvermittlung, Literatur) gepflegt werden. Die mündliche,<br />

lautsprachliche Kommunikation, die per se über einen großen<br />

Toleranz- (und Redundanz-)bereich verfügt, soll von pedantischer<br />

Reglementierung verschont bleiben.<br />

b) Die Tendenz der neuen Medien geht sowieso auf mehr Spontaneität<br />

und eine eher informelle, kreative Kommunikation. Diese Tendenz<br />

soll nicht mit Werten der Literatenkultur des 19. Jahrhunderts bekämpft<br />

werden, sondern als Erweiterung und Entspannung der vorhandenen<br />

Kommunikationsmuster systematisch bejaht werden. Originalität,<br />

Spontaneität und individueller Sprachgebrauch sind<br />

Elemente einer modernen (wem es gefällt, postmodernen) Sprachkultur.<br />

Die Regionalsprachen können deshalb die formalisierten<br />

Schriftsprachen in vielen Funktionen ablösen.<br />

c) Bei der Diskussion um Plattdeutsch-Hochdeutsch ist die romantische<br />

Nostalgie, welche nach dem Ur-Niederdeutschen sucht, überflüssig.<br />

Sie ist selbst eine pervertierte Suche nach einer alternativen (pedantisch-herrischen)<br />

Norm. Die Alternative kann nicht sein: Verschwinden<br />

des Niederdeutschen versus Wiederherstellung von Tausenden<br />

„echter“ Lokalsprachen. Dort, wo kleinflächige Dorf- und Stadtteil-<br />

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