Wolfgang Wildgen - Fachbereich 10 - Universität Bremen
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Die Trennung von Diachronie und Synchronie, die de Saussure Anfang<br />
dieses Jahrhunderts als Fazit seiner Erfahrungen mit der historischvergleichenden<br />
Sprachwissenschaft gefordert hat, ist also zu respektieren.<br />
Allerdings bedeutet die Trennung keine Abwertung der historischvergleichenden<br />
Forschung. Diese ist stärker auf Laut- und<br />
Wortvergleiche ausgerichtet und vernachlässigt häufig den funktionalen<br />
und kommunikativen Zusammenhang einer Sprache als Ganzes, außerdem<br />
werden pan-historische Konstrukte eingeführt, die funktional und<br />
kommunikativ fast bedeutungslos sind (sie sind lediglich für den<br />
Historiker bedeutungsvoll). Die beschriebenen Entwicklungstendenzen<br />
und besonders die Hypothesen zu den Kräften, die diese steuern (letzteres<br />
wird meist vernachlässigt oder bewusst ausgeklammert), sind auch für die<br />
synchrone Analyse relevant, besonders wenn ein System im Übergang ist<br />
und gleichzeitig verschiedene, alternative Interpretationen zulässt, die als<br />
Spuren oder Ansätze einer historischen Entwicklung zu deuten sind. Dies<br />
besagt, dass die Daten und Beschreibungsergebnisse der historischvergleichenden<br />
Analyse einen explanativen Hintergrund für die<br />
synchrone Analyse bereitstellen, der allerdings meistens durch<br />
soziolinguistische Untersuchungen und Ergebnisse zu ergänzen ist, damit<br />
die Integration in eine explanative Systembeschreibung vorgenommen<br />
werden kann. Ansätze zu einer solchen Integration enthalten sowohl<br />
Labovs Arbeiten zu Stadt-Soziolekten und zum Sprachwandel (vgl.<br />
Labov, 1994) als auch die Arbeiten im Rahmen der natürlichen<br />
Phonologie (besonders am Wiener Dialekt und der Wiener<br />
Umgangssprache; vgl. Foltin und Dressler, 1997).<br />
Im Falle einer Ortsgrammatik ergeben sich besondere methodische<br />
Probleme (vgl. Auer, 1990), da die Sprachvariation in den heutigen deutschen<br />
Städten weder geographisch (z.B. nach Vierteln und Straßen) noch<br />
schichtenspezifisch genau geortet werden kann; die Sprache, besonders<br />
die Substandard-Sprache ist „im Fluss“ (Konvergenz oder Divergenz),<br />
die Sprecher sind in Netzwerke eingebunden, die sich nur selten<br />
geographisch oder sozial definieren lassen. In <strong>Bremen</strong> ist der<br />
Verdrängungsprozess soweit fortgeschritten, dass nur noch Teilkompetenzen<br />
im Niederdeutschen (mit Verlust distinktiver Ortsmerkmale)<br />
vorliegen, teilweise wird die niederdeutsche Sprachkultur in der Stadt<br />
(etwa im Plattdeutschen Kring) von Personen aus der Stadtperipherie und<br />
dem Umland geprägt. Diese Situation motiviert ein zweiteiliges<br />
Vorgehen:<br />
1. Das „Bremer Platt“ als historische „langue“ zu Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
wird anhand der Romane und Erzählungen Georg Drostes