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Männer · Frauen · Medizin - Universitätsmedizin Göttingen

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Zeitschrift des <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüros<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

Georg-August-Universität<br />

Georgia<br />

Schwerpunkt:<br />

<strong>Männer</strong> <strong>·</strong> <strong>Frauen</strong> <strong>·</strong> <strong>Medizin</strong><br />

Georgia Nr. 9<br />

Sommer 2008


Inhalt<br />

Grußwort 0-3<br />

Inken Köhler<br />

Grußworte –<br />

15 Jahre <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> 4-6<br />

Prof. Dr. Cornelius Frömmel<br />

PD Dr. Günther Bergmann<br />

Dipl.-Kffr. Barbara Schulte<br />

Da waren’s nur noch zwei…<br />

Abschied von Ulla Heilmeier 0-7<br />

Inken Köhler und Silke Groß<br />

Schmerzen – gibt es ein „starkes“ und<br />

ein „schwaches“ Geschlecht? 8-9<br />

Anne Willweber-Strumpf<br />

Michael Strumpf<br />

Martin der Millimetermann 10-13<br />

Carmen Franz<br />

Artenschutz für bedrohte <strong>Männer</strong> 14-15<br />

Erich Kasten<br />

Wunder (-Mittel), Märkte und<br />

moralische Risiken 16-18<br />

Carmel Shalev<br />

Impressum<br />

Die Zeitschrift Georgia wird vom <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> herausgegeben.<br />

Redaktion: Inken Köhler <strong>·</strong> Carmen Franz<br />

Redaktionsassistenz: Silke Groß <strong>·</strong> Ulla Heilmeier<br />

Layout: KAT <strong>·</strong> Aufl age: 2.200 <strong>·</strong> Erscheinungstermin: Sommer 2008<br />

Die eingereichten Beiträge geben nicht in jeder Hinsicht die Meinung der Redaktion wieder.<br />

Die Redaktion behält sich vor, gelieferte Beiträge redaktionell zu bearbeiten.<br />

Sie erreichen uns unter der Telefonnummer: 0551 / 39-9785 oder<br />

per E-Mail: frauenbuero@med.uni-goettingen.de.<br />

Meine Leidenschaft für Gender Studies<br />

und Biomedizin. Wie alles begann 19-21<br />

Ineke Klinge<br />

Intersexualität bei Kindern und<br />

Jugendlichen. Ethische Aspekte eines<br />

medizinischen Dilemmas 22-25<br />

Claudia Wiesemann<br />

Susanne Ude-Koeller<br />

Anna-Karina Jakovljevic<br />

Eindrücke vom Karrieretraining des<br />

<strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüros 26-27<br />

Sabine Wöhlke<br />

Nachrichten 28-31<br />

Einerseits – Andrerseits<br />

Echte Kerle:<br />

Ein bisschen von Schiller –<br />

aber auch von Alice 32-33<br />

Carmen Franz


Foto: Birke Kleinschmidt<br />

3<br />

Liebe Leserinnen<br />

und Leser!<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Ich freue mich sehr, Ihnen<br />

hiermit die neue Ausgabe der<br />

Georgia, der Zeitschrift des<br />

<strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüros<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong>, präsentieren<br />

zu dürfen.<br />

Das <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro wird 2008<br />

15 Jahre alt. Und pünktlich zu unserem Geburtstag erhielt<br />

die <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> auch eine große<br />

Auszeichnung in Sachen Gleichstellung: Das Total E-<br />

Quality Prädikat, das Unternehmen und Hochschulen für<br />

ihre Erfolge in der Förderung der Chancengleichheit erhalten.<br />

Darauf sind wir sehr stolz! Die Auszeichnung mit<br />

dem Total E-Quality Prädikat bedeutet, dass das Thema<br />

Chancengleichheit bei uns immer präsent ist. Eine Auseinandersetzung<br />

mit diesem Thema – auch in Form von<br />

engagierten und kontroversen Diskussionen – bedeutet<br />

häufi g auch eine Wegbereitung für neue Ideen und ihre<br />

schrittweise Umsetzung. So hat die <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> z.B. beschlossen, ihre gesamten hausinternen<br />

Forschungsförderungsmittel zu gleichen Teilen an <strong>Männer</strong><br />

und <strong>Frauen</strong> auszuschütten. Diese Regelung ist ein Novum<br />

in der deutschen universitären Kliniklandschaft und<br />

wurde von der Jury als besonders innovativ bewertet. In<br />

Ergänzung zum bereits etablierten Heidenreich von Siebold-Programm<br />

wurde ein Anreizsystem zur Förderung<br />

der Habilitation von Wissenschaftlerinnen initiiert. Jenes<br />

belohnt Abteilungen, in denen sich eine Frau habilitiert<br />

hat, für ihre erfolgreiche akademische Personalentwicklung<br />

mit einer Stelle für eine weitere Nachwuchswissenschaftlerin.<br />

Diese und andere Gleichstellung fördernde<br />

Maßnahmen sind im Gleichstellungsplan der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> verankert, der im April dieses Jahres<br />

im Fakultätsrat verabschiedet wurde.<br />

Die Arbeit der Gleichstellungsbeauftragten setzt in 2008<br />

und 2009 einen Fokus auf die Gender <strong>Medizin</strong>, die sich<br />

mit geschlechtsspezifi schen Aspekten in Prävention,<br />

Diagnose, Therapie und Rehabilitation beschäftigt und<br />

die Bedeutung des Geschlechts für Gesundheit und<br />

Krankheit in den Blickwinkel rückt. Dementsprechend<br />

haben wir auch den Schwerpunkt der diesjährigen Ausgabe<br />

der Georgia „<strong>Männer</strong> <strong>·</strong> <strong>Frauen</strong> <strong>·</strong> <strong>Medizin</strong>“ gewählt.<br />

Auftakt<br />

Sie fi nden in der Georgia gleich zwei Vorstellungen<br />

von Gastprofessorinnen der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

– Carmel Shalev und Ineke Klinge –, die über das<br />

Maria-Goeppert-Mayer-Programm für internationale<br />

<strong>Frauen</strong>- und Genderforschung vom Niedersächsischen<br />

Ministerium für Wissenschaft und Kultur fi nanziert werden.<br />

Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Artikeln,<br />

die die <strong>Medizin</strong> aus einem geschlechtssensiblen<br />

Blickwinkel beleuchten.<br />

Haben Sie sich schon mal mit der Frage beschäftigt, ob<br />

<strong>Männer</strong> und <strong>Frauen</strong> Schmerzen gleichermaßen empfi nden<br />

und ob es, wie so oft behauptet, ein „starkes“ und ein<br />

„schwaches“ Geschlecht gibt? Anne Willweber-Strumpf<br />

und Michael Strumpf geben Ihnen interessante Antworten<br />

auf diese Frage. Und auch Carmen Franz präsentiert<br />

Ihnen mit „Martin dem Millimetermann“ eine fesselnde<br />

Geschichte dazu.<br />

Haben Sie schon mal davon gehört, dass das Geschlecht<br />

eines Menschen bei der Geburt nicht immer eindeutig<br />

ist? Wie gehen Ärztinnen und Ärzte, wie gehen Angehörige<br />

damit um? Claudia Wiesemann, Susanne Ude-<br />

Koeller und Anna-Karina Jakovljevic weihen Sie in ethische<br />

Überlegungen rund um das Thema Intersexualität<br />

ein.<br />

Haben Sie – als Leser – manchmal das Gefühl, dass die<br />

<strong>Männer</strong> bei der Gleichstellung zu kurz kommen? Hier<br />

wird Ihnen geholfen, denn Erich Kasten fordert in seinem<br />

Beitrag augenzwinkernd einen „Artenschutz für bedrohte<br />

<strong>Männer</strong>“.<br />

Viele neue Erkenntnisse und viel Spaß beim Lesen<br />

wünscht Ihnen<br />

Inken Köhler<br />

Gleichstellungsbeauftragte<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong>


Foto: Pö<br />

Grusswort<br />

15 Jahre <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

Die <strong>Medizin</strong> wird weiblich,<br />

las man vor wenigen Tagen<br />

in einer Zeitschrift.<br />

Was könnte damit gemeint<br />

sein?<br />

Das Wort „<strong>Medizin</strong>“?<br />

Das ist schon immer weiblich.<br />

Die vielen Studentinnen und<br />

jungen Ärztinnen?<br />

Es sind mehr als die Hälfte<br />

geworden, aller Studierenden<br />

bzw. Absolvierenden.<br />

(Noch stärker beobachtet man einen solchen Sachverhalt<br />

in der Zahnmedizin.)<br />

Aber in der weiteren Karriere: Oberärztinnen, Habilitandinnen,<br />

Professorinnen, da wird der Anteil der <strong>Frauen</strong><br />

deutlich kleiner als 50 %, trotz aller Anstrengungen über<br />

die letzten Jahre. Auch wenn die <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> beim Vergleich mit anderen medizinischen<br />

Fakultäten in punkto Gleichstellung sehr gut abschneidet,<br />

diesen Verlust auf der Karriereleiter hat sie nicht vermindern<br />

können.<br />

Fehlen uns die rechten Ideen?<br />

Haben wir des Übels Wurzel noch nicht erkannt?<br />

Sind die <strong>Männer</strong> schuld? Sind die <strong>Frauen</strong> schuld?<br />

Ist die Biologie schuldig zu sprechen?<br />

Hat die Evaluation etwas falsch gemacht oder gilt der<br />

Brecht’sche Spruch „Der Mensch wäre lieber gut, als<br />

roh, doch die Verhältnisse sind nicht so?“<br />

Das heißt, wir sollten die gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

anklagen und dann feststellen, dass wir das nicht ändern<br />

können?<br />

Allen ist bewusst, dass es eine Patentlösung nicht gibt.<br />

Deswegen aber den Kopf in den Sand zu stecken und<br />

nichts verändern zu wollen, ist mit Sicherheit falsch. Eine<br />

ähnliche Einschätzung ergäbe sich bei einem Ansatz, der<br />

alles nur auf ein <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro abwälzen<br />

möchte. Löst sich das Problem, wenn wir die Gleichstellungsbeauftragte<br />

in Gleichstellungsmanagerin oder<br />

Gender- Mainstreaming-Verantwortliche umbenennen?<br />

– Wohl kaum.<br />

4<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Prof. Dr. Cornelius Frömmel<br />

Vorstandsressort 1: Forschung und Lehre<br />

Was es braucht, ist die Politik der kleinen Schritte, gleichzeitig<br />

eine große Vision. Es beginnt bei der verstärkten<br />

Implementierung von Themen: Geschlechterverhältnisse<br />

und Rollen in den Lehrinhalten sowie die Vermeidung<br />

eines hidden curriculums, mit nur männlichen Vertretern<br />

bei bestimmten Lehrveranstaltungen und Diskussionen.<br />

Und es bedarf des scharfsinnigen Nachdenkens, welche<br />

gesellschaftlichen Verhältnisse es sind, die <strong>Frauen</strong> davon<br />

abhalten, entsprechende Positionen in Wissenschaft<br />

und <strong>Medizin</strong> einzunehmen, wie es die männlichen Kollegen<br />

mit Selbstverständlichkeit tun (können). Sind es<br />

nicht schon die oft unglücklich gewählten Anfangszeiten<br />

von Sitzungen oder Dauer von Sitzungen, die verantwortungsbewusst<br />

handelnde <strong>Frauen</strong> davon abhalten<br />

teilzunehmen? (Ich gebe zu, dass solche Einladungen zu<br />

später Stunde auch vom Vorstand kommen. Die Gründe<br />

mögen vielfältig sein, aber refl ektieren sie nicht auch alte<br />

Denkweisen, die es abzulösen gilt?)<br />

Die Aufgabe bleibt die gleiche. Lokale Ursachen für das<br />

Abbrechen oder Verlangsamen der Karriere von <strong>Frauen</strong><br />

– seien sie lokal oder gesellschaftlich bedingt – müssen<br />

erkannt und geändert werden. Und dies bleibt eine<br />

Gesamtaufgabe, wo jedem seine spezielle Funktion zukommt<br />

und das <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro ideenreich,<br />

konsequent und nachhaltig mitwirken soll.<br />

Viel Erfolg!


Foto: Pö<br />

Der 15. Geburtstag des <strong>Frauen</strong>-<br />

und Gleichstellungsbüros<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> ist ein willkommener<br />

Anlass, um auf eine hervorragende<br />

Entwicklung und<br />

nachhaltige Verankerung ihrer<br />

Gleichstellungsziele hinzuweisen.<br />

Hierfür stehen unter anderem<br />

der Erfolg der nunmehr<br />

dritten Auszeichnung mit<br />

dem Total E-Quality Prädikat in 2008 und die speziellen<br />

Förderungsmaßnahmen für <strong>Frauen</strong> am Beispiel des<br />

Mentoring-Programms und des Engagements des <strong>Frauen</strong>netzwerks<br />

für Führung und Forschung in der <strong>Medizin</strong><br />

e.V. (medf3).<br />

Bei dem qualitativen und quantitativen Vergleich der<br />

<strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsaufgaben an den verschiedenen<br />

Universitätsstandorten zeigen sich noch erhebliche<br />

Unterschiede, welche auch die gesellschaftliche<br />

Entwicklung repräsentieren: Vieles hat sich hervorragend<br />

entwickelt – einiges scheint noch um Jahrzehnte zurück<br />

zu sein. Die Anforderungen und Einstellungen im Hinblick<br />

auf die Gleichstellungspolitik haben sich in den<br />

letzten Jahren entscheidend gewandelt: Sie sind in vielen<br />

Teilbereichen zur Selbstverständlichkeit geworden – in<br />

anderen noch nicht. So ist die Entwicklung für <strong>Frauen</strong><br />

hin zu Führungspositionen und zu gleichen Chancen auf<br />

dem wissenschaftlichen Qualifi kationsweg immer noch<br />

nicht ausreichend. Hier besteht ein Entwicklungspotential,<br />

welches sowohl durch fi nanzielle und strukturelle<br />

Förderungen, aber auch durch eine kulturelle „Umstellung<br />

der Einstellung“ gespeist werden muss. Nur wenn<br />

diese kulturelle Umstellung, orientiert an gesellschaftlich<br />

akzeptierten Zielen, erfolgt und von den Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern sowie insbesondere den Führungskräften<br />

mit getragen wird, wird es eine lang anhaltende<br />

Veränderung geben.<br />

Grusswort<br />

15 Jahre <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

PD Dr. Günther Bergmann<br />

Vorstandsressort 2: Krankenversorgung<br />

Es sind Ziele, die den individuellen Respekt vor dem Anderen<br />

– sei es wegen Geschlecht, Rasse, Herkunft o.a.<br />

Gründen – einfordern. Für diese Ziele sagen wir unsere<br />

Unterstützung für die Tätigkeit des <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüros<br />

auch in der Zukunft nachhaltig zu. Auf<br />

dem Weg von der Besonderheit zur Selbstverständlichkeit<br />

sind wir ein gutes Stück vorangekommen. Das noch<br />

nicht Erreichte weiter zu fördern und das Selbstverständliche<br />

immer wieder refl ektierend zu erhalten, sollte das<br />

gemeinsame Ziel sein.<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 5


Foto: Pö<br />

Grusswort<br />

15 Jahre <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

Das <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> feiert seinen<br />

15. „Geburtstag“. Herzlichen<br />

Glückwunsch dazu! Im normalen<br />

Leben steckt man in der<br />

Pubertät, ist auf dem Weg von<br />

der Kindheit zum Erwachsensein.<br />

Eine schwierige Phase in<br />

der Entwicklung. Das <strong>Frauen</strong>-<br />

und Gleichstellungsbüro hat<br />

seine ‚Pubertät’ längst hinter<br />

sich, ist eine selbstverständliche<br />

Einrichtung in der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

geworden. Selbstverständliches birgt die Gefahr in sich,<br />

zur Gewohnheit zu werden.<br />

Vier <strong>Frauen</strong> haben in den zurückliegenden 15 Jahren das<br />

Kind „<strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro“ an die Hand<br />

genommen und groß gezogen – mit all den Schwierigkeiten,<br />

den Alltagskämpfen und den Erfolgen. <strong>Frauen</strong><br />

machen etwa 70 Prozent Anteil an der Zahl der Beschäftigten<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> aus. Allein deshalb<br />

ist die Sache der Gleichstellungspolitik in allen Bereichen<br />

– in Forschung, in Lehre, in Krankenversorgung<br />

und im administrativen Bereich – ein notwendiger und<br />

unersetzlicher Bestandteil der Unternehmenskultur. Sie<br />

zeigt damit auch gleichzeitig, dass der Einsatz für das<br />

Thema „Chancengleichheit“ weiterhin notwendig ist. Es<br />

scheint eher so, dass auf dem Weg zur Chancengleichheit<br />

die Gesamtorganisation noch erwachsen werden<br />

muss: <strong>Frauen</strong> in Führungspositionen, die Akzeptanz in<br />

einem immer noch mehrheitlich männlich besetzten<br />

Umfeld, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in zunehmend<br />

an Leistung orientierten Betriebsabläufen. Hier<br />

liegen meines Erachtens Aufgabenfelder, die mit fl exiblen<br />

Arbeitszeitmodellen und gezielter Förderung in der<br />

Personalentwicklung zu unterstützen sind.<br />

Dass „die“ <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> jetzt bereits<br />

zum dritten Mal hintereinander das Total E-Quality Prädikat<br />

erworben hat, ist eine bemerkenswerte Leistung der<br />

Gesamtkultur der UMG, die alles andere als selbstverständlich<br />

ist. Das Total E-Quality Prädikat zu erhalten,<br />

6<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Dipl.-Kffr. Barbara Schulte<br />

Vorstandsressort 3: Wirtschaftsführung und Administration<br />

ist keine „Eintagsfl iege“, ist kein Tageserfolg, sondern<br />

würdigt auch die bislang erfolgte nachhaltige und langfristige<br />

Arbeit sowie die strukturelle Leistung der UMG<br />

auf vielfältigen Ebenen. Das Prädikat spiegelt gleichzeitig<br />

das hartnäckige, dauerhafte und aufmerksame Ringen<br />

der <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbeauftragten in den<br />

letzten 15 Jahren um Chancengleichheit in der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> wider. Sie haben Maßnahmen angemahnt,<br />

erfolgreich auf den Weg gebracht oder Organisationsentscheidungen<br />

kritisch begleitet und gefördert.<br />

Dazu zählen insbesondere das erfolgreiche Mentoring-<br />

Projekt mit seiner gezielten Förderung von wissenschaftlichen<br />

Nachwuchsforscherinnen, die Einführung von<br />

<strong>Frauen</strong>förderprogrammen im Wissenschaftsbereich, die<br />

Einrichtung der Kinderbetreuung und die Zusammenarbeit<br />

mit der Tagespfl egebörse. Für diese Leistung ist ihnen<br />

ausdrücklich Dank zu sagen.<br />

Das <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro in der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> muss sich dabei – wie alle anderen<br />

Einrichtungen der UMG auch – den aktuellen wirtschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen stellen. Das <strong>Frauen</strong>- und<br />

Gleichstellungsbüro hat es damit nicht einfacher. Es genießt<br />

keine privilegierte Stellung. Es muss sich begründen,<br />

muss seine Handlungsfelder verteidigen oder neu<br />

erobern. Es muss kreativ sein und darf sich nicht ausruhen<br />

auf Erreichtem.<br />

Vielleicht hat das <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro aber<br />

hier den klaren Vorteil, von Anfang an – seit eben 15 Jahren<br />

– auf dieser Klaviatur erfolgreich und geübt spielen<br />

zu können. Es hat immer wieder mit schwierigen Strukturen<br />

ringen müssen und aktiv neue Regeln entwickeln<br />

können.<br />

Wie bei dem Übergang von der Pubertät zum Erwachsenwerden<br />

auch wird der Weg ja nicht einfacher. Man<br />

kann ihn aber gefestigter, erfahrener und verantwortungsbewusster<br />

gehen.<br />

Auf diesem Weg sichere ich dem <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

gerne ein faires, offenes, partnerschaftliches<br />

und lösungsorientiertes Miteinander und Gegenüber bei<br />

der Diskussion gleichstellungspolitischer Fragen zu.


Fotos: Birke Kleinschmidt<br />

Das Team vom <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro (ab Frühjahr 2008)<br />

v.l.n.r. Inken Köhler und Silke Groß<br />

Wir sind traurig. Traurig, weil wir eine super Mitarbeiterin<br />

und eine prima Kollegin verlieren. Mitte April 2008<br />

musste uns Ulla Heilmeier als Koordinatorin unseres<br />

Mentoring-Programms nach langjähriger und erfolgreicher<br />

Arbeit verlassen. Seit August 2002 ist Ulla Heilmeier<br />

im <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro tätig gewesen – die<br />

letzten rund zweieinhalb Jahre hat sie mit uns verbracht,<br />

die wir erst später hinzu gekommen sind. Aus uns dreien<br />

ist in dieser Zeit ein tolles Team geworden – wir haben<br />

gemeinsam Ideen ausgebrütet, Strategien entwickelt<br />

und Hindernisse genommen. Für ein gemeinsames Ziel<br />

– eine erfolgreiche Gleichstellungspolitik an der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> – brachten wir unsere unterschiedlichen<br />

Kompetenzen, Stärken und Charaktere ein.<br />

Das hat hervorragend funktioniert und wir fühlten uns<br />

wohl dabei. Wir wünschten uns, es ginge weiter. Aber<br />

es fehlen die Gelder zur weiteren Finanzierung von Ulla<br />

Heilmeiers Stelle – von den benötigten Sachmitteln ganz<br />

zu schweigen.<br />

Ulla Heilmeier hat das Mentoring-Programm der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> konzipiert, aufgebaut und durchgeführt.<br />

Vier Jahre lang wurde ihre Arbeit aus Mitteln des<br />

Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und<br />

Kultur gefördert und gleichzeitig mit hausinternen Mitteln<br />

unterstützt. Nach Auslaufen der externen Förderung<br />

übernahmen die <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> und der<br />

Internationale Studiengang Molecular Biology die Finanzierung.<br />

Es war eine Übergangsphase, in der das Programm<br />

nicht mit Sachmitteln ausgestattet war und in der<br />

es den Mentorinnen, Mentoren und Mentees nicht das<br />

bewährte Rahmenprogramm bieten konnte. Die Übergangsphase<br />

diente in erster Linie der Suche nach alternativen<br />

Finanzierungsmöglichkeiten, dem Aufbau weiterer<br />

Kooperationen und dem Anstoßen neuer Mentoring-Tandems,<br />

die gewissermaßen auf Abruf in der Warteschleife<br />

hingen. Genau genommen hing das ganze Projekt gefühlsmäßig<br />

über Monate in einer Warteschleife, weil<br />

nicht sicher war, ob, wie und in welchem Umfang es<br />

weiter gehen wird. Um eine lange Geschichte kurz zu<br />

erzählen: Wir haben keine Finanzierungsmöglichkeiten<br />

gefunden – und das ist äußerst bedauerlich, denn das<br />

Mentoring-Programm ist ein regionales und überregionales<br />

Aushängeschild für uns. Im Rahmen des Wettbewerbs<br />

um den Titel einer „exzellenten Universität“ hat man uns<br />

mehrfach zitiert und als gutes Beispiel angeführt, andere<br />

Die Mitarbeiterinnen<br />

Da waren´s nur noch zwei...<br />

Abschied von Ulla Heilmeier<br />

Inken Köhler <strong>·</strong> Silke Groß<br />

<strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüros fragen unsere Kompetenz<br />

für Mentoring ab und schlussendlich wurden wir in<br />

2007 zur erfolgreichsten aller deutschen Universitätskliniken<br />

und <strong>Medizin</strong>ischen Fakultäten in Sachen Gleichstellung<br />

gekürt – und das nicht zuletzt aufgrund unseres<br />

Mentoring-Programms.<br />

Mit dem Wegfall des Mentoring-Programms, das haben<br />

viele Unterstützerinnen und Unterstützer im Haus erkannt,<br />

verlöre die <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong>, was sie<br />

lange Jahre stärkte: Ein Karriereinstrument für exzellente<br />

Wissenschaftlerinnen mit Zukunftspotential. Wir fi nden<br />

nicht, dass darauf verzichtet werden kann. Wir sind der<br />

Meinung, dass eine exzellente Universität nicht ohne gezielte<br />

Förderung ihrer hochkarätigen Wissenschaftlerinnen<br />

auskommt. Aber Geld dafür herbei zaubern können<br />

wir auch nicht. Und das Budget des <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüros<br />

reicht bei weitem nicht aus, um daraus<br />

eine Stelle zur Aufrechterhaltung des Mentoring-Programms<br />

zu fi nanzieren. In letzter Minute jedoch keimte<br />

Hoffnung auf: Es wird ein Konzept zur Integration des<br />

Mentoring-Programms in die Personalentwicklung erarbeitet<br />

– das Angebot kann somit erhalten bleiben, aber<br />

Ulla Heilmeier als Koordinatorin ist trotzdem nicht mehr<br />

da. Wir werden Ulla Heilmeier sehr vermissen – ihren<br />

Humor, ihre Kollegialität, ihre Ideen, ihre Tatkraft, ihre<br />

Schlagfertigkeit, ihre Kompetenz, ihre Erfahrung und ihren<br />

Einsatz. Jetzt sind wir nur noch zwei – das haben<br />

wir lange befürchtet, aber die Hoffnung, es doch noch<br />

abwenden zu können, starb zuletzt.<br />

Das Team vom <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

(bis Frühjahr 2008) - noch mit Ulla Heilmeier!<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 7


Schwerpunkt<br />

Schmerzen – gibt es ein „starkes“ und<br />

ein „schwaches“ Geschlecht?<br />

Beim kleinsten Wehwehchen liegt er schon wehleidig<br />

in der Ecke! <strong>Männer</strong> würden nie eine Entbindung aushalten!<br />

Ein Indianer kennt keinen Schmerz! <strong>Frauen</strong> sind<br />

Heulsusen! Stimmen diese zum Teil widersprüchlichen<br />

Klischees? Wer hält bei Schmerzen mehr aus: <strong>Männer</strong><br />

oder <strong>Frauen</strong>?<br />

Die Schmerzforschung hat in den letzten Jahren Erkenntnisse<br />

gewonnen, die eindeutig zeigen: In der Häufi gkeit,<br />

Wahrnehmung und Verarbeitung von Schmerzen<br />

gibt es Geschlechtsunterschiede. <strong>Männer</strong> leiden seltener<br />

unter chronischen Schmerzerkrankungen wie z.B.<br />

Kopfschmerzen, Fibromyalgie, Rheumaschmerzen, Gesichtsschmerzen.<br />

Gleichzeitig werden bei <strong>Frauen</strong> die<br />

Schmerzäußerungen weniger ernst genommen und<br />

<strong>Frauen</strong> nach internationalen epidemiologischen Daten<br />

schmerztherapeutisch schlechter versorgt als <strong>Männer</strong>.<br />

<strong>Männer</strong> haben in experimentellen Untersuchungen<br />

eine höhere Schmerz- und Toleranzschwelle als <strong>Frauen</strong>,<br />

d.h. <strong>Männer</strong> empfi nden einen Reiz später als schmerzhaft<br />

und halten einen Schmerzreiz länger aus als <strong>Frauen</strong>.<br />

An dieser unterschiedlichen Schmerzwahrnehmung sind<br />

Sexualhormone – Östrogene bei <strong>Frauen</strong>, Testosteron bei<br />

<strong>Männer</strong>n – beteiligt. Östrogen steigert die Aufmerksamkeit<br />

und die Aktivität des Nervensystems und verstärkt<br />

die Weiterleitung schmerzhafter Impulse aus der Peripherie<br />

ins Zentralnervensystem. Testosteron wirkt hingegen<br />

dämpfend. Aus Tierexperimenten gibt es Hinweise auf<br />

genetische Unterschiede: es wurden Proteine gefunden,<br />

die in das Schmerzgeschehen bei <strong>Männer</strong>n und <strong>Frauen</strong><br />

möglicherweise unterschiedlich eingreifen und <strong>Frauen</strong><br />

schmerzempfi ndlicher machen als <strong>Männer</strong>. Und man<br />

weiß auch: <strong>Frauen</strong> reagieren schlechter auf bestimmte<br />

schmerzstillende Medikamente als <strong>Männer</strong> und es zeigen<br />

sich zum Teil unterschiedliche Nebenwirkungsprofi<br />

le.<br />

Neben biologischen Faktoren spielen aber auch psychologische,<br />

soziale und kulturelle Faktoren eine wichtige<br />

Rolle bei der Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung.<br />

Das Zusammenspiel all dieser Faktoren führt<br />

zur Schmerzempfi ndung, die nicht in der Peripherie, also<br />

dort, wo der Schmerz gespürt wird, sondern im Gehirn<br />

8<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Anne Willweber-Strumpf <strong>·</strong> Michael Strumpf<br />

entsteht. Auch hier zeigen sich Unterschiede zwischen<br />

den Geschlechtern: Schmerzreize führen bei <strong>Frauen</strong><br />

zu einer stärkeren Aktivierung der emotionsbezogenen<br />

Hirnareale und bei <strong>Männer</strong>n zu einer stärkeren Aktivierung<br />

der kognitionsbezogenen Hirnareale. Das Interessante<br />

ist: die Aktivierungsmuster sind nicht durchgängig<br />

geschlechtsabhängig und damit biologisch zu erklären,<br />

sondern hängen auch von anderen Faktoren ab, wie dem<br />

derzeitigen Gefühlszustand, den Bewältigungsstrategien<br />

und der Reaktion wichtiger Bezugspersonen.<br />

In unserer Gesellschaft, wie auch in den meisten anderen<br />

Kulturen, dürfen Mädchen und <strong>Frauen</strong> Schmerzen und<br />

Emotionen zeigen, Jungen und <strong>Männer</strong> aber eher nicht.<br />

Wichtig für den Umgang mit Schmerzen sind kindliche Erfahrung<br />

mit Schmerz und der Bewältigung von Schmerz,<br />

die sich bis ins Erwachsenenalter auswirken und Spuren<br />

hinterlassen können. Hier spielen Faktoren wie Kontrollierbarkeit<br />

und Vorhersagbarkeit von Schmerzen und<br />

insbesondere die elterliche Reaktion auf Schmerzen bei<br />

Kindern eine große Rolle. Mädchen und Jungen werden<br />

im Umgang mit Schmerz anders behandelt. Diese Unterschiede<br />

in der Sozialisierung spiegeln sich in unserer<br />

langjährigen klinischen Erfahrung mit Schmerzpatienten<br />

und Schmerzpatientinnen wider. <strong>Männer</strong> und <strong>Frauen</strong><br />

kommunizieren verschieden über Schmerz. <strong>Frauen</strong> fokussieren<br />

stärker auf ihr soziales Umfeld und schildern<br />

ihr Verhalten. Sie beschreiben ihre Schmerzen detaillierter<br />

und sprechen mehr darüber, auch mit Freundinnen<br />

und Freunden, mit anderen Patientinnen und Patienten<br />

oder in Selbsthilfegruppen. Sie haben oft bessere Bewältigungsstrategien,<br />

lenken sich ab und suchen konkrete<br />

Hilfe. <strong>Frauen</strong> reagieren zudem aufmerksamer und zuwendender<br />

auf Schmerzen bei ihren Partnern und anderen<br />

Menschen. <strong>Männer</strong> hingegen beschreiben Symptome,<br />

forschen nach deren körperlichen Ursachen und<br />

haben oft bereits ihre eigene somatische Diagnose. Sie<br />

versuchen, Schmerzen eher zu ignorieren, wenden daher<br />

auch später sinnvolle Bewältigungsstrategien an und erkennen<br />

schlechter die psychosozialen Komponenten der<br />

Schmerzerkrankung. Und gerade <strong>Männer</strong> scheinen sich<br />

einem Schmerztherapeuten gegenüber anders zu verhalten<br />

als gegenüber einer Schmerztherapeutin – zumin-


dest am Anfang der Patient-Therapeut-Beziehung. Von<br />

„Mann zu Mann“ sind sie offener, sprechen auch eher<br />

über die psychosozialen Auswirkungen von Schmerzen<br />

und zeigen ihr Leiden. Von „Mann zu Frau“ scheint es<br />

so, dass <strong>Männer</strong> durch „Härte“ und „Haltung“ beeindrucken<br />

wollen. <strong>Frauen</strong> sind durch das Geschlecht anderer<br />

weniger zu beeindrucken.<br />

Diese beobachteten Unterschiede zwischen Schmerzpatientinnen<br />

und Schmerzpatienten scheinen sich aber<br />

in der Selbstwahrnehmung der Patientinnen und Patienten<br />

mit chronischen Schmerzen nicht zu bestätigen.<br />

Dies zeigt eine vergleichende Untersuchung an Patienten<br />

mit chronischen Schmerzen und schmerzfreien<br />

Kontrollpersonen. Schmerzpatienten zeigen eine stärker<br />

ausgeprägte feminine Geschlechtsrollenorientierung.<br />

Sie stimmen in starkem Maße femininen Rollennormen<br />

zu und beschreiben sich eher mit femininen Eigenschaften<br />

(z. B. passiv, klagend). Die Kontrollpersonen hingegen<br />

stimmen in stärkerem Maße traditionell maskulinen<br />

Rollennormen zu und beschreiben sich eher mit<br />

maskulinen Eigenschaften (z. B. überheblich, aggressiv).<br />

Die Unterschiede zwischen Schmerzpatienten und Kon-<br />

Foto: privat<br />

Dipl.-Psych. Anne Willweber-Strumpf<br />

ist psychologische Psychotherapeutin mit der<br />

Zusatzqualifi kation „Spezielle Schmerzpsychotherapie“.<br />

Sie ist seit mehr als 20 Jahren in der<br />

Schmerztherapie tätig und Vizepräsidentin des<br />

Berufsverbandes der Schmerztherapeuten in<br />

Deutschland (BVSD).<br />

Schwerpunkt<br />

trollgruppe waren weitgehend unabhängig vom biologischen<br />

Geschlecht. Ob eine feminine Rollenorientierung<br />

zu chronischen Schmerzen prädestiniert oder ob chronische<br />

Schmerzen die maskuline zu einer eher femininen<br />

Rollenorientierung verändern, ist aus den Daten nicht<br />

abzuleiten.<br />

Es gibt in Bezug auf Schmerzen nicht das „starke“ oder<br />

das „schwache“ Geschlecht, es gibt Unterschiede, die<br />

manchmal Vorteile und manchmal Nachteile haben.<br />

Möglicherweise müssen diese Unterschiede in der therapeutischen<br />

Herangehensweise deutlich stärker berücksichtigt<br />

werden. Hier ist weitere Forschung erforderlich.<br />

Nicht umsonst hat die Internationale Schmerzgesellschaft<br />

(International Association for the Study of Pain,<br />

IASP) das „Global Year against Pain 2008“ unter das<br />

Thema „real women, real pain“ gestellt. Ziel ist es, weltweit<br />

sowohl die Öffentlichkeit, die Versorgungseinrichtungen<br />

als auch die Wissenschaft darauf aufmerksam zu<br />

machen, dass Schmerz bei <strong>Frauen</strong> ein häufi geres und<br />

manchmal eben auch ein anderes Problem ist als bei<br />

<strong>Männer</strong>n und besonderer Beachtung bedarf.<br />

Foto: privat<br />

Prof. Dr. med. Michael Strumpf<br />

ist Arzt für Anästhesiologie mit der Zusatzbezeichnung<br />

„Spezielle Schmerztherapie“. Er war Chefarzt<br />

der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin<br />

und Schmerztherapie, Rotes Kreuz Krankenhaus<br />

Bremen und ist seit mehr als 20 Jahren in der<br />

Schmerztherapie tätig. Neben verschiedenen Positionen<br />

ist er designierter Präsident der Deutschen<br />

Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS).<br />

Seit dem 1. Juli 2008 ist er Professor für klinische<br />

und experimentelle Schmerztherapie an der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong>.<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 9


Foto: Inken Köhler<br />

Schwerpunkt<br />

Martin der Millimetermann<br />

Es gibt Menschen, in denen<br />

ein langer Winter höchstes<br />

Entzücken auslöst. Ich gehöre<br />

nicht dazu, mir wird bei<br />

30° auch ohne Schatten so<br />

richtig wohl. Beim wärmenden<br />

Frühlingssonnenstrahl<br />

erhebt sich mein Herz. Dieses<br />

Jahr allerdings fand das<br />

Frühlingserwachen ein jähes<br />

und schmerzhaftes Ende. Ich<br />

bückte mich, um den ersten<br />

Balkonkasten mit den Fuchsien<br />

auf die Halterung im Balkon zu heben, als mir ein<br />

schneidend scharfer Schmerz in den Rücken schoss. Er<br />

nahm mir den Atem, ich kam weder vor noch zurück,<br />

bei jeder Bewegung dolchte er wieder zu. Ich schrie,<br />

stöhnte, jammerte, fauchte meinen mir zu Hilfe geeilten<br />

Mann an, als er mir aus der immer noch gebückten Haltung<br />

herauszukommen behilfl ich sein wollte. Ich wusste<br />

genau was los war, was da so mächtig weh tat – erst<br />

einschießend, spitz und scharf, dann dumpf, ziehend<br />

– das war der berühmte Hexenschuss. Ein Hexenschuss,<br />

aus dem heitersten Himmel kommend, ist so gemein, so<br />

scheußlich, dass ich dieses Erlebnis nur meinem ärgsten<br />

Feind wünsche. Dank meiner Sonnenscheinnatur,<br />

meines Hausarztes und der pharmazeutischen Industrie<br />

hielt dieser grauenhafte, hilfl ose Zustand nicht lange an.<br />

Ich kenne von Berufs wegen viele Schmerzgeschichten.<br />

Zum Beispiel die Geschichte von Martin, dem Millimetermann.<br />

Mir scheint, nichts ist so sehr mit Männlichkeit verbunden,<br />

wie der Kampf gegen den Schmerz. Schon früh<br />

lernen kleine <strong>Männer</strong>, dass ein Junge nicht weint. Martin<br />

war so ein Junge. Er hatte, seit er denken konnte,<br />

immer wieder Kopfschmerzen, oder besser gesagt, die<br />

Schmerzen hatten ihn. Der Versuch, seine Eltern von der<br />

Ernsthaftigkeit seiner Beschwerden zu überzeugen, war<br />

gescheitert. Wahrscheinlich brachten sie, bei einem ansonsten<br />

gesunden Jungen, die Kopfschmerzen eher mit<br />

Faulheit und Schule schwänzen in Verbindung. Lapidar<br />

hieß es immer „Stell dich nicht so an, reiß dich zusammen,<br />

du bist doch kein Mädchen!“ Das war offenbar das<br />

Schlimmste, was sich sein Vater vorstellen konnte, aber<br />

auch seine Mutter protestierte nicht. Beide vertraten nur<br />

das allgemeine Erziehungsprinzip, dass „Jammern“ zu<br />

ignorieren ist. Erst als Martin in der Ausbildung war und<br />

10<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Carmen Franz<br />

über eigenes Geld verfügte, kaufte er sich heimlich und<br />

mit sehr schlechtem Gewissen Schmerzmittel, nahm sie<br />

aber nur, „wenn ich es gar nicht mehr ausgehalten hab“,<br />

wie er schnell beteuerte.<br />

Für Martin waren die Beschwerden nicht nur ein Problem<br />

seines Körpers. Er war auch zutiefst beschämt.<br />

Nicht nur in seinen Augen waren Kopfschmerzen eigentlich<br />

doch ein „<strong>Frauen</strong>leiden“. Nur „hysterische Weiber“<br />

hatten nach allgemeiner Auffassung bei jeder Gelegenheit<br />

„ihre Migräne“ und er wollte auf gar keinen Fall mit<br />

ihnen in einen Topf geschmissen werden. So quälte er<br />

sich durch die Jahre.<br />

Aber nicht nur Kopfschmerzen, sondern auch die Mittel<br />

dagegen waren in seinen Augen, streng genommen, doch<br />

nur etwas für Memmen ... Weicheier ... etc. – oder?<br />

„Lerne leiden, ohne zu klagen” war nicht nur das Credo<br />

seiner Eltern, sondern ganzer Nationen. Für überbordende<br />

Tapferkeit, den Dienst am Vaterland und den<br />

Heldentod bekam man Orden vom Kaiser, König oder<br />

Präsidenten.<br />

Als Martin und ich uns kennenlernten, kannte er viele<br />

Apotheken in der Stadt und im Umland, er wechselte<br />

von einer zur anderen, damit niemand seinen sich steigernden<br />

Tablettenkonsum bemerkte. Aus Angst, nicht<br />

mehr mit voller Kraft arbeiten zu können, nahm er in<br />

den letzten Monaten sogar Tabletten, wenn sich der<br />

Schmerz nur von ferne zeigte. Aber seine Hoffnung, mit<br />

ihrer Hilfe den Schmerz loszuwerden, zerschlug sich<br />

mit jedem geleerten Tablettenröhrchen. Eigentlich wurde<br />

alles nur schlimmer. Er hatte manchmal das Gefühl,<br />

als befände sich sein Kopf in einem Schraubstock. Die<br />

Kopfschmerzhäufi gkeit stieg langsam aber stetig, bis ein<br />

dumpfer Schmerz sein Leben täglich beherrschte. Seine<br />

Konzentrationsfähigkeit war dahin, er war gereizt, eigentlich<br />

ständig übermüdet, ohne Schlaf zu fi nden. Er<br />

bangte um seine Arbeitsfähigkeit. Aber „krank machen“<br />

war für ihn unvorstellbar! Zu Hause wurde er immer<br />

schweigsamer. Seine Frau wusste von seinen Beschwerden<br />

und weil sie ihn sehr liebte, meldete sie ihn in der<br />

Schmerzambulanz an. Und weil er sie nicht verlieren<br />

wollte, ging er auch hin.<br />

Nach einer gründlichen Untersuchung vermuteten wir,<br />

dass Martin unter einem chronischen Spannungskopfschmerz<br />

gelitten hatte. „Hatte“ insofern, als erst nach<br />

einem Entzug genaueres zu sagen war. Bei Martin be-


stand aber noch ein anderes Problem. Seine geschilderten<br />

Beschwerden waren wahrscheinlich auf einen „medikamenteninduzierten“<br />

Kopfschmerz zurückzuführen.<br />

Martin wollte zunächst einmal überhaupt nicht glauben,<br />

was er hörte. Man sah ihm sein Entsetzen förmlich<br />

an: Sahen wir in ihm einen Junkie, der dringend einen<br />

Entzug brauchte!? Fassungslos fragte er noch mal nach.<br />

„Entzug? Medikamenteninduziert?“ Wir übersetzten das<br />

Wortungetüm. Es bedeutet, dass seine Medikamente,<br />

die er gegen die Kopfschmerzen konsumiert hatte, selbst<br />

wieder Auslöser für Kopfschmerzen waren. Was beim<br />

Apotheker den Umsatz hob, steigerte bei Martin den<br />

Schmerz.<br />

Er hatte, ohne es zu ahnen, den Teufel mit dem Belzebub<br />

austreiben wollen.<br />

Wir konnten seine Empörung, seine Abwehr aber auch<br />

seine Beschämung verstehen. Wir wussten auch, dass<br />

er die Tabletten doch nicht zum Spaß geschluckt hatte.<br />

Fast die Hälfte aller Menschen mit Kopfschmerzen ist<br />

von Medikamenten abhängig, insofern war Martin nur<br />

einer von vielen. Natürlich hatte ihn niemand auf die<br />

Gefahren aufmerksam gemacht, er hatte allerdings auch<br />

niemanden gefragt. Sein Widerwille, Hilfe zu suchen,<br />

hatte auch dazu beigetragen, dass Tabletten sein Leben<br />

kontrollierten.<br />

Nach einer Bedenkzeit willigte Martin in unseren Behandlungsplan<br />

ein.<br />

Ich hatte den Eindruck, dass Martin sich weniger vor<br />

langen Nadeln und Skalpellen gefürchtet hätte, als vor<br />

den Gesprächen mit mir, dabei halte ich mich für einen<br />

ausgesprochen netten Menschen. Aber natürlich ging es<br />

nicht um meine Nettigkeit. Über sich selbst zu reden,<br />

etwas vom Gemüte preiszugeben, ist für einige <strong>Männer</strong><br />

schlimmer als die Begegnung mit dem Teufel. Und manche<br />

Menschen glauben ja, Psychologen hätten einen<br />

Röntgenblick und es gäbe nichts zu verheimlichen!!<br />

Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass, vor allen anderen<br />

Faktoren, eine unzureichende Stressverarbeitung an<br />

„Spannungskopfschmerzen“ beteiligt ist.<br />

Unter der Voraussetzung, dass sich meine Stressvermutung<br />

auch bei Martin als richtig erweisen sollte, musste<br />

er ganz allgemein einen Weg fi nden, sich in belastenden<br />

Situationen nicht noch mehr aufzuschaukeln. Das sagt<br />

sich so einfach dahin, aber lassen Sie mal locker, wenn<br />

Sie locker lassen sollen. Ich wollte versuchen, Martin<br />

durch ein Entspannungstraining zu unterstützen. Aber<br />

welches? So wie ich Martin einschätzte, war meditative<br />

Einkehr, die Hände im Schoß und beruhigend „Om“<br />

murmeln, für ihn nicht geeignet. Er war als Ingenieur<br />

sicher eher für eine Entspannungstechnik zu erwärmen,<br />

an der er herumwerkeln konnte.<br />

Bald war klar, dass er ein Verspannungskünstler war.<br />

Hinzu kam, dass er es offensichtlich mir und sich recht<br />

machen wollte, wie ein braver Junge. Wir mussten sehr<br />

lachen, als ich ihm seine Anstrengungen vormachte.<br />

Schwerpunkt<br />

Schnell bekamen wir so einen Einstieg in seine bevorzugte<br />

Art, mit vielen Situationen im Leben umzugehen.<br />

Wir sprachen über Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz, ausgeprägtes<br />

Verantwortungsbewusstsein, sein Bemühen,<br />

es anderen recht zu machen. Seine penibel-perfekte Art<br />

brachte ihm bei seinen Kollegen den Spitznamen „Millimetermann“<br />

ein. Nachdem wir vertrauter geworden waren,<br />

platzte er beim Gespräch über seine ausbleibenden<br />

Erfolge bei den Entspannungsübungen plötzlich heraus:<br />

„Ich kann mich nicht entspannen, weil ich nicht weiß,<br />

was ich dann tue!“ „Was vermuten Sie denn?“ Ich bekam<br />

keine Antwort. Zum besseren Verständnis wollte ich etwas<br />

über seine Lebens-Lerngeschichte erfahren.<br />

Der familiäre Umgang mit Schmerz prägt, wie wir von<br />

Martin lernen konnten, unser Verhalten als Erwachsene.<br />

Aus der persönlichen Lerngeschichte lassen sich aber<br />

auch andere Verhaltenweisen ableiten oder erklären.<br />

Sicher ist jedes Leben einzigartig, aber es ist nicht unerheblich,<br />

wo und in welchen Umständen jemand aufwächst.<br />

Und ob er ein Mann oder eine Frau ist. Martin<br />

war 55 Jahre alt, seit 36 Jahren verheiratet. Sie kannten<br />

sich seit der Schule, und als sie 18 Jahre alt wurde, heirateten<br />

sie. Beide waren in der Ausbildung und konnten<br />

sich eine eigene Wohnung nicht leisten. Sie wohnten die<br />

ersten neun Jahre ihrer Ehe bei seinen Schwiegereltern.<br />

Nicht selten herrschte Kampfstimmung. Wenn er abends<br />

nach Hause kam, musste er schlichten. Er hasste Streit.<br />

„Ich geh auch heute jedem aus dem Weg.“ Sein Vater<br />

stritt nicht, er befahl, seine Mutter hatte sich in die innere<br />

Emigration gerettet, war auch für ihn nicht erreichbar.<br />

Sie konnte ihn so auch nicht gegen den häufi g brutalen<br />

Mann in Schutz nehmen. Zuweilen hatte er Mordphantasien.<br />

Er schluckte seine Wut hinunter, passte sich an, weil<br />

er glaubte, sie schützen zu müssen. Wir fanden heraus,<br />

dass er schon damals mit dem Kopf reagierte. Er konnte<br />

sich nicht emotional äußern, sondern dachte sich seinen<br />

Teil und bekam Kopfschmerzen. Wie ich fand, keine<br />

gute Kombination. Geschwister hatte er nicht. In seiner<br />

Ehe fanden sich beide in ihrem Harmoniebedürfnis. Es<br />

wurde deutlich, dass sie sehr aufeinander bezogen waren,<br />

eine Jugendliebe, die auch das Altern aushielt. Sie<br />

hatten keine Kinder. „Neun Jahre Schwiegereltern haben<br />

uns gereicht, wir wollten auch mal alleine sein. Dann<br />

kam für uns beide auch noch der Beruf dazwischen.“<br />

In letzter Zeit hatte es zwischen beiden vermehrt gekracht.<br />

„Ordnung ist das halbe Leben“. Das war für Martin<br />

nicht irgendein Spruch aus frühen Tagen, er hatte ihn<br />

so verinnerlicht, dass er beim Gang durch die Wohnung<br />

im Vorbeigehen mit dem Finger imaginären Staub von<br />

den Möbeln wischte, ohne es zu bemerken. Mit seiner<br />

Frau gab es deswegen Auseinandersetzungen, Sie konnte<br />

nicht glauben, dass darin kein Vorwurf lag. In einem<br />

Gespräch zu dritt bestätigte sie, dass sein „Ordnungsfi mmel“<br />

sie aus der Fassung brachte. Als sie kürzlich in die<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 11


Foto: Inken Köhler<br />

Schwerpunkt<br />

Küche kam, habe er auf einem Stuhl gestanden und sei<br />

über die Oberkante des Küchenschranks gefahren. Dabei<br />

hätte sie erst Tage zuvor gründlich sauber gemacht.<br />

Am liebsten hätte sie dem Stuhl einen Schubs gegeben.<br />

Er habe aber bei ihrer Schimpfkanonade so bekümmert<br />

drein geschaut, dass sie seinen Unschuldsbeteuerungen<br />

geglaubt hätte.<br />

Für seinen Arbeitgeber war seine Leistungsbereitschaft<br />

– gepaart mit Zuverlässigkeit – sicher ein Segen. Er war<br />

Leiter einer großen Betriebswerkstatt, die vom Auswechseln<br />

der Glühbirnen bis hin zur Notfallreparatur von<br />

kostbaren Maschinen verantwortlich war. Sein täglicher<br />

Kontrollgang durch den Betrieb war so regelmäßig wie<br />

eine Präzisionsuhr und damit beruhigend. Der Millimetermann<br />

sah alles. Sein Hang zu Perfektion sei schon in<br />

der Teenagerzeit ausgeprägt gewesen. „Lieber einmal zu<br />

viel als zu wenig überprüfen, dann konnte ich relativ sicher<br />

sein, keinen Ärger mit dem Vater zu bekommen.“<br />

Leider ist eine Verhaltensweise nicht einfach nur gut<br />

oder schlecht. Auf Sauberkeit im Betrieb zu achten ist<br />

eine Sache, der Ehefrau hinterher zu wischen eine andere.<br />

Es muss notwendigerweise zu Konfl ikten kommen,<br />

12<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

wenn das Verhalten nicht mehr den Situationen angepasst<br />

werden kann.<br />

Ich hatte das Gefühl, dass Martin Konfl ikte zwar sehen<br />

konnte, aber kaum die Möglichkeit hatte, eine für sich<br />

zufriedenstellende Lösung zu fi nden.<br />

Das war offenbar nicht nur zu Hause so. Schon vor unserem<br />

ersten Kontakt war in seinem Betrieb eine nicht<br />

mehr zu ignorierende Konfl iktlawine auf ihn zu gerollt.<br />

Im Gespräch über seine Arbeit berichtete er, dass die<br />

Geschäftsleitung gewechselt hatte. Mit ihr kamen neue<br />

Ideen. Eine davon war, einen Teil der Aufgaben der<br />

Werkstatt „outzusourcen“, was auf Deutsch heißt, zu<br />

verlagern. Martin vermutete, dass für den verbleibenden<br />

Rest an Arbeitsaufkommen ein relativ hoch bezahlter<br />

Mitarbeiter wie er eine ökonomische Fehlinvestition sein<br />

könnte. Noch gab es nur indirekte Zeichen, es war häufi -<br />

ger vorgekommen, dass die Arbeit der Werkstatt kritisiert<br />

wurde und damit stand er in der Schusslinie. Ein Organisationsentwickler<br />

hatte sich an seine Fersen geheftet. „Ich<br />

soll wohl ausgemustert werden.“ Ich hörte das Grollen in<br />

seiner Stimme, obwohl er die Worte durch die Lippen<br />

presste. Kein weiterer Kommentar. Er stand auf und lief<br />

in meinem Zimmer umher, ein für ihn völlig „ungezogenes“<br />

Verhalten. Ich hatte irgendwie das Gefühl, es würde<br />

gleich knallen. „Wieso träume ich ständig von meiner<br />

Mutter? Wir hatten gar kein enges Verhältnis, trotzdem<br />

vermisse ich sie plötzlich. Warum erinnere ich mich jetzt<br />

nach 40 Jahren an ihre Hüte?“ Mir blieb die Spucke weg!<br />

Auf die Mutter wäre ich nun auch nicht gekommen, obwohl<br />

Psychologen so gern mit Geschichten von Vater,<br />

Mutter, Kind in Verbindung gebracht werden. „Suchen<br />

Sie nach dem Bindeglied!“ Lange Pause. „Wir sind uns<br />

ähnlich.“ „Wenn Sie jetzt mit ihr sprechen könnten, was<br />

würde sie sagen?“<br />

„Wehr dich mal!“ Genau das war‘s. Es lag auf der Hand,<br />

dass er in dieser berufl ichen Situation nicht wie üblich<br />

stillhalten konnte, er musste in die Offensive. Aber wusste<br />

– wollte er das auch? „Was wollen Sie tun?“ „Man<br />

ist auf seine Richtung gepolt, ich möchte auf niemanden<br />

böse sein, ihn hassen.“ Wie bitte? So eine Gefühlsverbindung<br />

ließ mich staunen. Riten und Regeln hielten Martin<br />

fest im Griff. Das war der springende Punkt. Im Berufsleben<br />

war er offenbar ein Meister der Improvisation. Flexibel<br />

konnte er auf ungewöhnliche Anforderungen einer<br />

Situation reagieren. Bei Gefühlsreaktionen folgte er einer<br />

eigenen DIN-Norm. Diese konnte zum Beispiel nicht<br />

unterscheiden zwischen dem doch relativ harmlosen<br />

„auf jemanden böse sein“ und seiner furiosen Steigerung<br />

„jemanden hassen“. In Konfl iktsituationen verharrte er<br />

durch diese Undifferenziertheit wie das Kaninchen vor<br />

der Schlange und überließ so die Entscheidungen dem<br />

jeweiligen Konfl iktpartner.


Da er selber nicht klipp und klar eine Entscheidung herbeiführen<br />

konnte, machte ihn in der augenblicklichen<br />

Situation die „In-der-Schwebe-halten-Taktik“ der Geschäftsleitung<br />

im wahrsten Sinne des Wortes krank. Die<br />

Rate der Kopfschmerzenattacken stieg.<br />

Es gelang Martin, den Versuchungen aus den Tablettenröhrchen<br />

zu widerstehen. Es war aber auch klar, dass er<br />

auch weiter in Stresssituationen stereotyp mit Anspannung<br />

der Nackenmuskulatur reagieren würde, wenn er<br />

nichts veränderte. Sein eingeschränktes Verhaltensrepertoire<br />

hinderte ihn, angemessen zu reagieren. Er war ein<br />

notorischer Bedenkenträger, „ja aber“ war seine Lieblingswortkombination.<br />

Unabhängig von der notwendigen ärztlichen Betreuung<br />

nach dem Entzug konnte ich Martin für ein Stressbewältigungstraining<br />

gewinnen. Zu diesem Training ist Mut erforderlich.<br />

Nur genaues schonungsloses Hinsehen kann<br />

eine Veränderung bringen. Schwerstarbeit ist zu leisten,<br />

wenn Ist- und Soll-Zustand zu weit auseinander liegen.<br />

Scheitern ist möglich. Zuweilen muss auch akzeptiert<br />

werden, dass Situationen nicht zu verändern sind, dann<br />

muss aber auch hierzu eine Einstellung gefunden werden,<br />

die in Frieden leben lässt.<br />

Auf Martin bezogen konnte das unter anderem heißen:<br />

– Analyse der Arbeitsplatzsituation,<br />

– alte Verhaltensmuster hinterfragen,<br />

– auf Gefühle zu achten, sie zu differenzieren<br />

und nicht zuletzt, sie auch klar zu äußern,<br />

– streiten lernen.<br />

Aber das wäre nur mein gedanklicher Fahrplan, Martin<br />

könnte das natürlich ganz anders sehen. Er war der Boss,<br />

er gab Inhalt und Tempo vor, ich bot nur das Analyseverfahren.<br />

Schmerz ist nicht Schicksal, und das, glaube ich, liegt am<br />

Vergessen. Kaum einer hätte Kriegsfolgen, Hungersnöte<br />

und Naturkatastrophen bewältigt, hätte unser Gedächtnis<br />

nicht den Hang zum Positiven. Mutlosigkeit und Verzweifl<br />

ung hätten uns sonst wie die Lemminge ins Meer<br />

getrieben. Auch die Schmerzempfi ndung hat in dieser<br />

Schwerpunkt<br />

Hinsicht ihre Besonderheiten. Keine vernünftige Frau<br />

würde je ein zweites Kind bekommen, wenn sie den<br />

Geburtsschmerz vom ersten Kind nicht vergessen hätte.<br />

Martins Eltern versuchten den Schmerz in den Vergessensspeicher<br />

zu transportieren, indem sie ihn mit Heldentum<br />

und Männlichkeit in Verbindung brachten und<br />

ihm so einen positiven Touch verpassten. Für die meisten<br />

Menschen war Schmerz ohnehin nichts Besonderes,<br />

ein täglicher Begleiter, der vor allem durch schwere körperliche<br />

Arbeit eng in ihr Leben eingebunden war. Vom<br />

schmerzenden Rücken durch die Arbeit auf dem Feld,<br />

in der Fabrik oder von aufgequollenen gichtigen Fingern<br />

der Waschfrauen wurde kein Aufhebens gemacht. „Im<br />

Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.“<br />

Diese Drohung war tägliche Realität. Schmerz war ein<br />

zentrales Thema der christlichen Religion. Er war Strafe<br />

oder Prüfung Gottes.“„Wer seine Kinder liebt, der<br />

züchtigt sie“, lautete die Handanweisung für prügelnde<br />

Ehemänner oder Väter. Bezahlten <strong>Frauen</strong> nicht zu Recht<br />

mit dem Geburtsschmerz den Preis für das paradiesische<br />

Apfelessen? Märtyrer ertrugen freudig Schmerzen in der<br />

Nachfolge Jesu und bis heute werden sie deswegen verehrt.<br />

Griechische Feuerläufer, Fakire und indonesische<br />

Trancetänzer halten diese Tradition lebendig.<br />

Im normalen Lebensalltag geht unsere Schmerztoleranz<br />

gegen Null. Wir bestehen darauf, ein schmerzfreies Leben<br />

zu haben. Sofort! Leider ist dagegen nicht immer ein<br />

Kraut gewachsen und der Schmerz ist chronisch taub gegenüber<br />

Verwünschungen, er hat seinen hilfl osen Wirt<br />

fest im Griff. Auch wenn Sie jetzt denken, die Psychologen<br />

haben häufi g nicht alle Tassen im Schrank, ich sag<br />

es trotzdem: Das ist die Stunde der Psychologie, ohne<br />

deren Unterstützung wird er sich nämlich nicht vertreiben<br />

lassen. Diese bittere Pille mögen viele <strong>Männer</strong> nicht<br />

schlucken. <strong>Frauen</strong> sind viel eher bereit, Psychologisches<br />

zu denken. Martin musste als „typischer Mann“ Zweifel<br />

und Widerstände überwinden; aber als wir uns nach harter<br />

Arbeit und heftigen sokratisch angehauchten Disputen<br />

verabschiedeten, wusste er: ohne Psychologie hätte<br />

er seinen Arbeitsplatz und vielleicht auch seine Frau verloren.<br />

Er sollte nicht er letzte ungläubige Thomas sein,<br />

der eines Besseren belehrt wurde.<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 13


Schwerpunkt<br />

Artenschutz für bedrohte <strong>Männer</strong><br />

Die vorklinischen <strong>Medizin</strong>studierenden, die ich unterrichte,<br />

verstehen per defi nitionem unglaublich viel von<br />

Biochemie, dafür aber extrem wenig von menschlichem<br />

Geschlechtsverhalten. Bei zwischenmenschlicher<br />

Kontaktaufnahme, die über das übliche „Hallo, bist du<br />

auch durch die Klausur gefallen?“ hinausgeht, beginnen<br />

sie refl ektorisch den Zitronensäurezyklus aufzusagen.<br />

In meiner Vorlesung über Sexualität beginne ich daher<br />

weit unter der Basis der Kenntnisse, die in unserer Kultur<br />

ansonsten schon pseudozivilisierte Fünfjährige besitzen.<br />

Ich beginne bei den Blümchen und den Bienchen. Streng<br />

genommen lasse ich die Insekten erstmal weg, um niemanden<br />

zu verwirren. Besagte Blümchen haben einen<br />

ernstzunehmenden Vorteil: Sie sind zweigeschlechtlich.<br />

Jede Pfl anze besitzt sowohl männliche als auch weibliche<br />

Fortpfl anzungsorgane. Und zwar gleichzeitig!<br />

Warum Gott, die Natur oder das Schicksal bei allen beweglichen<br />

Wesen den Irrweg gegangen ist, sie nur mit<br />

jeweils einem Geschlecht auszustatten, lässt sich vermutlich<br />

nur mit Geiz erklären. Oder, was wahrscheinlicher<br />

ist, vermutlich waren gerade die Fördergelder<br />

ausgegangen. Überlegen Sie sich doch einmal, welche<br />

unermesslichen Vorteile es hätte, zweigeschlechtlich zu<br />

sein. Diesen ganzen Unsinn mit typisch männlichem<br />

und typisch weiblichem Verhalten könnte man sich ersparen.<br />

Es gäbe ein Zweigeschlecht und damit basta. Mit<br />

etwas Geschick könnte man sich sogar selbst befruchten<br />

und damit auf all die Verirrungen der Liebe verzichten.<br />

Was hätte ich in meinem Leben schaffen können, wenn<br />

ich nicht ständig durch amouröse Emotionen und die<br />

konsequent daraus folgenden Enttäuschungen abgelenkt<br />

gewesen wäre. Schlimmer noch, im Gegensatz zu den<br />

meisten anderen Säugetieren, die das ganze Melodrama<br />

der Balz nur einmal im Jahr durchmachen müssen und<br />

dann elf Monate ihre Ruhe haben, ist der Mensch ständig<br />

„rollig“, „brunftig“ oder „heiß“ und auf der Suche nach<br />

Geschlechtspartnerinnen oder -partnern. Zweifellos eine<br />

endlose Verschwendung von Zeit und Energie.<br />

1977 erschien das Buch „Die Töchter Egalias“ von G.<br />

Brantenberg. Es handelt sich um die vergleichsweise<br />

langweilige Beschreibung eines pubertierenden Jungen<br />

mit dem wohlklingenden Namen Petronius Bram und<br />

beschreibt eigentlich nur all die Probleme, die Heranwachsende<br />

in diesem Alter nun mal haben. Die Erzählung<br />

wäre eigentlich niemals gedruckt worden, das<br />

Besondere an dem Band aber ist, dass die Geschlechter-<br />

14<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Erich Kasten<br />

rollen vertauscht sind. <strong>Männer</strong> tragen Lockenwickler im<br />

Bart und gehen nach dem Essen in die Küche, um den<br />

Abwasch zu machen, während die <strong>Frauen</strong> im Wohnzimmer<br />

bleiben, um zu rauchen und über wichtige Dinge zu<br />

reden. Die Welt ist voll von dominanten, einfl ussreichen<br />

Direktorinnen und Bürgermeisterinnen, <strong>Männer</strong>n traut<br />

man solche wichtigen Ämter nicht wirklich zu. Es gibt<br />

den Begriff „Herrlein“, aber kein „Fräulein“, aus „beherrschen“<br />

wird „befrauschen“ und aus der Redewendung<br />

„man tut dies oder das“ wird „frau tut dies oder das“. Den<br />

Beruf der Seefrau zu ergreifen ist für Jungen unschicklich,<br />

ihnen könnte auf den schwankenden Schiffen leicht<br />

schlecht werden. Die Mädchen tragen keinen BH und<br />

lesen Abenteuerromane von todesmutigen Piratinnen;<br />

Jungen müssen sich einen engen und ständig drückenden<br />

„PH“ anpassen lassen, damit da unten zwischen den<br />

Beinen nichts unschicklich herumbaumelt. Beim Lesen<br />

dieses Buches wurden mir die sozialen Unterschiede<br />

klar, die in dieser Gesellschaft zwischen <strong>Männer</strong>n und<br />

<strong>Frauen</strong> existieren. Und immer wieder, wenn der jugendliche<br />

Held des Romans bei One Night Stands von <strong>Frauen</strong><br />

sexuell ausgenutzt, unterdrückt oder sogar vergewaltigt<br />

wurde, fragte ich mich, warum er das eigentlich erträgt<br />

und sich nicht endlich mal wehrt?<br />

Das Buch kam – wie gesagt – Ende der 1970er auf den<br />

Markt. Irgendetwas hat sich seitdem auf eine unheimliche<br />

Art hinterrücks verändert. Und zwar gravierend verändert.<br />

In meiner Vorlesung über Entwicklungspsychologie<br />

stelle ich, neben vielen anderen Theorien, auch die<br />

Phasen der psychosexuellen Entwicklung von Sigmund<br />

Freud vor. Die Kastrationsangst in der ödipalen Phase, so<br />

schrieb der Großmeister der Psychoanalyse, wird durch<br />

Identifi kation mit dem Oberhaupt der Familie beendet.<br />

Jahrzehntelang war klar, wer das Oberhaupt der Familie<br />

ist; dies bedurfte niemals der näheren Erörterung. Aber<br />

seit Mitte der 1990er Jahre bemerkte ich bei dieser Aussage<br />

zunehmend mehr fragende Stirnfalten in den Gesichtern<br />

meiner Studentinnen und Studenten und ertappte<br />

mich dabei, wie ich begann stotternd anzufügen: „… äh<br />

... ja ... das war damals wohl noch der Vater.“<br />

In den letzten fünfzig Jahren hat sich die Stellung der beiden<br />

Geschlechter umgedreht. Eine Frau als Sprecherin<br />

der Tagesschau wäre noch Anfang der 1960er Jahre völlig<br />

undenkbar gewesen und niemand von uns hat damals<br />

geahnt, dass auch eine weibliche Form des Wortes „Bun-


deskanzler“ existiert. Der Beruf der Polizistin war völlig<br />

unbekannt und kein Mensch hätte ernsthaft geglaubt,<br />

dass eine Kommissarin Verbrecher fangen kann. Dinge,<br />

die heute nicht nur Normalität sind – im Gegenteil, wir<br />

<strong>Männer</strong> geraten zunehmend ins Hintertreffen. Aufgrund<br />

hirnorganischer Funktionen, die uns angeboren sind und<br />

an denen wir damit weitgehend schuldlos sind, machen<br />

sich <strong>Frauen</strong> mehr und mehr über die ulkigen Ausrutscher<br />

ihrer maskulinen Artgenossen lustig. Das kleinste Übel<br />

hierbei ist, dass die menschlichen Männchen aufgrund<br />

ihres hohen Testosteronspiegels gedanklich ständig mit<br />

Sex beschäftigt sind, was ihren Arbeitsoutput drastisch<br />

mindert. Ich erinnere mich schwach, irgendwo gelesen<br />

zu haben, dass <strong>Männer</strong> im Durchschnitt alle vier<br />

Minuten von sexuell getönten Gedanken oder Phantasien<br />

belästigt werden, die sich ihnen unaufgefordert aufzwängen.<br />

Viel katastrophaler ist aber wohl die geringere<br />

sprachliche Begabung. Millionen Jahre lang war es ein<br />

selektiver biologischer Vorteil, dass <strong>Männer</strong>, wenn sie in<br />

kleinen Jagdgruppen durch den Urwald pirschten, völlig<br />

still sein konnten, um Beutetiere nicht zu verscheuchen<br />

und Raubtiere nicht auf sich aufmerksam zu machen.<br />

Jeder Wortwechsel stellte ein Risiko dar. <strong>Frauen</strong> in geschützten<br />

Höhlen hingegen konnten munter miteinander<br />

schwätzen; die Kinder waren ohnehin laut. In einer<br />

modernen Gesellschaft, in der schneller Informationsaustausch<br />

extrem wichtig geworden ist, haben <strong>Männer</strong><br />

durch die Selektion zum Schweigen hierdurch einen eklatanten<br />

Nachteil.<br />

Damit nicht genug. Die Herren der Schöpfung sollen<br />

aufgrund ihres kleineren Corpus callosum auch weniger<br />

fähig zu Multitasking sein. Die Medien machen<br />

sich schon über uns lustig. In der TV-Sendung „Typisch<br />

Mann, typisch Frau“ sollten Versuchspersonen beider<br />

Geschlechter eine Abfolge von Büroarbeiten in einem<br />

befristeten Zeitraum ableisten. Hierzu gehörten Kaffee<br />

kochen, kopieren, die kopierten Blätter falten und kuvertieren,<br />

einen Telefonanruf annehmen und weitere<br />

Aufgaben. Die <strong>Frauen</strong> setzten den Kaffee auf, während<br />

dieser durchlief, kopierten sie, während der Kopierer lief,<br />

falteten und kuvertierten sie bereits die fertigen Blätter<br />

und nahmen dabei gleichzeitig noch den Telefonanruf<br />

an, indem sie den Hörer zwischen Ohr und Schulter einklemmten.<br />

Der typische Mann legte das Papierblatt in<br />

den Kopierer, stellte sich breitbeinig davor und wartete<br />

mit verschränkten Armen, bis die Kopien fertig waren.<br />

Erst nachdem die letzte Kopie fertig war, widmete er sich<br />

der Kaffeemaschine usw.<br />

Logische Konsequenzen möchte ich aus diesen Beispielen<br />

besser nicht ziehen, zu sehr fühle ich mich meinem<br />

Geschlecht verbunden. Vielleicht reicht es, wenn ich (als<br />

Mann!) die <strong>Frauen</strong> einfach um ein bisschen Verständnis<br />

Schwerpunkt<br />

„<strong>Männer</strong> unter Artenschutz stellen“ fordert Professor Kasten.<br />

Foto: privat<br />

bitte. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass <strong>Männer</strong><br />

eine aussterbende Spezies sind, die unter Artenschutz<br />

gestellt werden sollte. Als ich anfi ng, angehende <strong>Medizin</strong>erinnen<br />

und <strong>Medizin</strong>er zu unterrichten, waren 70%<br />

männlich und 30% weiblich. Inzwischen sind nur noch<br />

20% männlich, aber 80% weiblich. Als ich selbst Psychologie<br />

studierte, war der Geschlechterverhältnis mit<br />

50:50 ziemlich ausgewogen. Während meiner Gastprofessur<br />

an der Humboldt-Uni in Berlin stellte ich mit Erstaunen<br />

fest, dass inzwischen 95% (!) der Studierenden<br />

weiblich waren. Was machen die Herren, die ja offenbar<br />

nicht mehr studieren und damit auch weniger Chancen<br />

haben, Direktorin oder Bundeskanzlerin zu werden? Ich<br />

weiß es nicht, möglicherweise arbeiten die meisten von<br />

ihnen nun in der rauchfreien Eckkneipe als männliches<br />

Barmädchen.<br />

Kontakt<br />

Prof. Dr. Erich Kasten<br />

Institut für <strong>Medizin</strong>ische Psychologie<br />

Universität zu Lübeck<br />

Ratzeburger Allee 160<br />

23538 Lübeck<br />

E-Mail: EriKasten@aol.com<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 15


Foto: privat<br />

Schwerpunkt<br />

Dr. Carmel Shalev<br />

Gastprofessorin in der Abteilung Ehtik und Geschichte der <strong>Medizin</strong><br />

Die <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> hat eine Gastprofessorin.<br />

Dr. Carmel Shalev aus Israel ist im Sommersemester<br />

2008 in der Abteilung Ethik und Geschichte<br />

der <strong>Medizin</strong> tätig und engagiert sich in Forschung und<br />

Lehre. Ihr Aufenthalt wird aus Mitteln des Maria-Goeppert-Mayer-Programms<br />

für internationale <strong>Frauen</strong>- und<br />

Genderforschung des Niedersächsischen Ministeriums<br />

für Wissenschaft und Kultur fi nanziert.<br />

Dr. Carmel Shalev studierte Rechtwissenschaften an<br />

der hebräischen Universität in Jerusalem und an der<br />

Universität Yale. Ihre Studien schloss sie mit dem Master<br />

of Law (LL.M) und der Promotion ab. Sie arbeitet<br />

in der Abteilung für <strong>Medizin</strong>recht und Ethik am Sheba<br />

Klinikum in Israel und ist Mitglied in verschiedenen<br />

Gremien, z.B. der Ethikkommission des nationalen<br />

Stellen Sie sich die Welt einmal<br />

ohne die Anti-Baby Pille,<br />

ohne Ultraschall, Retortenbabys,<br />

Organtransplantationen,<br />

Kernspintomographie, chirurgische<br />

Eingriffe am offenen<br />

Herzen und Intensivstationen<br />

vor. Diese großartigen medizinischen<br />

und technischen<br />

Errungenschaften haben einen<br />

vertrauten Anteil an unserem<br />

Leben und auch daran,<br />

wie wir sterben. Dies nehmen<br />

wir als selbstverständlich an; doch vor rund 50 Jahren<br />

waren sie praktisch nicht existent. Und schon wieder erklärt<br />

uns die Wissenschaft, dass ein neuer Durchbruch<br />

in der <strong>Medizin</strong> bevorsteht: die genetischen Revolution.<br />

Einige sagen voraus, dass dadurch das Zeitalter der personalisierten<br />

<strong>Medizin</strong> anbrechen wird: Ein Zeitalter der<br />

maßgeschneiderten Verabreichung von Medikamenten<br />

16<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Transplantationszentrums in Israel. Sie hat zahlreiche<br />

Veröffentlichungen zu den Themen Pränataldiagnose,<br />

Leihmutterschaft und Sterbehilfe vorzuweisen.<br />

Dr. Carmel Shalev bietet verschiedene Lehrveranstaltungen<br />

an, unter anderem zur Entwicklung der modernen<br />

Bioethik, zur Ethik der Reproduktionstechnologien<br />

(gemeinsam mit Prof. Dr. Sike Schicktanz) und zu<br />

<strong>Frauen</strong>rechten und Gerechtigkeit im Internationalen<br />

Kontext (u.a. in Kooperation mit Prof. Dr. Gunnar Duttge<br />

von der Juristischen Fakultät).<br />

In der Zeitschrift GEORGIA stellt sie sich mit einem<br />

Artikel zum Thema „Wunder (-Mittel), Märkte und<br />

moralische Risiken“ vor.<br />

Wunder (-Mittel), Märkte und moralische Risiken<br />

Carmel Shalev<br />

und Ersatzteil-Organen, abgestimmt auf unser einzigartiges<br />

genetisches Make-Up. So könnten Alter und schwere<br />

Krankheiten auf eine wirksame Art und Weise überwunden<br />

werden. Andere befürchten eher, dass der Wert des<br />

Genetischen überhöht werden könnte und sehen den<br />

Anbruch der post-menschlichen Zukunft, die zugleich<br />

das Ende der Menschheit, wie wir sie heute kennen, sein<br />

wird.<br />

Aber die Tatsache, dass wir etwas tun können, bedeutet<br />

nicht, dass wir dies auch tun sollten. Die moderne <strong>Medizin</strong><br />

lässt Wunder geschehen, aber diese haben auch<br />

ihren Preis – einen Preis, der ständig steigt und unbezahlbar<br />

sein kann. Einige Kosten sind mit Geld zu begleichen,<br />

andere stellen moralische Risiken dar. Biomedizinische<br />

Technologien werden von einer profi torientierten Industrie<br />

angetrieben, die sich von der Konsumorientierung<br />

eines freien Marktes leiten lässt, und diese mit dem Wert<br />

der individuellen Freiheit rechtfertigt. Dies kann aber<br />

gleichzeitig zu Lasten anderer wesentlicher Werte – wie


der Würde des Menschen und der sozialen Gerechtigkeit<br />

– führen. Über diese und vergleichbare Themen geht es<br />

in der Bioethik.<br />

Das in den Diskurs über Bioethik eingebrachte Wertesystem<br />

kann jedoch von Kultur zu Kultur unterschiedlich<br />

sein und daher durch unsere persönlichen Weltanschauungen<br />

variieren. Viele der behandelten Themen werfen<br />

Dilemmata auf, für die es offensichtlich keine objektiv<br />

richtige Lösung gibt. Alles was wir tun können, ist uns gegenseitig<br />

aufgeschlossen zuzuhören und die Argumente<br />

der bzw. des anderen zu refl ektieren. Aber auch danach<br />

wissen wir vielleicht noch immer nicht, was wir tun sollen.<br />

Anlässlich des Entstehens einer neuen Technologie<br />

wollen Politik und Gesetzgebung beraten werden. Aber<br />

auch dort, wo Politik und Rechtsprechung den Einsatz<br />

einer bestimmten Technologie ermöglichen, sollten wir<br />

auf der Ebene unserer persönlichen Entscheidungen diskutieren.<br />

Auch wenn der Einsatz einer bestimmten Technologie<br />

erlaubt ist, bedeutet das nicht notwendigerweise,<br />

dass wir ihren Einsatz aus moralisch verantwortlicher<br />

Sicht auch empfehlen können.<br />

In einer multikulturellen Welt liegt dem Bioethik-Diskurs<br />

ein System mannigfaltiger Werte zugrunde. Das ist so in<br />

Israel der Fall, wo die Debatten durch unterschiedliche<br />

und sich zum Teil widersprechender Werte geprägt sind.<br />

Zunächst ist die Kultur Israels in einem hohen Maße allen<br />

Arten neuer Technologien gegenüber positiv aufgeschlossen<br />

und hat allgemein ein großes Vertrauen in den<br />

wissenschaftlichen Fortschritt. Insbesondere genießen<br />

<strong>Medizin</strong> und Gesundheitsfürsorge hohen Respekt. Israel<br />

ist ein Land, das sich an besonderes hoch entwickelter<br />

<strong>Medizin</strong>, medizinischer Technik und wissenschaftlicher<br />

Forschung erfreut. Es gibt dort eine öffentliche Infrastruktur<br />

der Gesundheitsfürsorge und eine staatliche Krankenkasse,<br />

die das Recht auf eine breite Palette grundlegender<br />

Leistungen garantiert. Am Ende des Lebens sind<br />

gründliche Pfl ege und Intensivmedizin die Norm. Wenn<br />

wir den Umgang mit dem Anfang des Lebens betrachten,<br />

hält Israel alle Rekorde im Bereich der Reproduktionsmedizin,<br />

gemessen an der Anzahl der Klinken für In-vitro-Befruchtung<br />

pro Kopf und der Anzahl an Behandlungen<br />

– und israelische Ärzte waren die Pioniere sowohl<br />

in der Erforschung von Unfruchtbarkeit als auch bei der<br />

Produktion von Stammzellen.<br />

Die Offenheit der israelischen Kultur gegenüber medizinischen<br />

Innovationen und den damit zusammenhängenden<br />

Technologien ist eng gekoppelt an traditionelle jüdische<br />

Werte, die in der Halakhah (orthodoxes jüdisches<br />

Recht) ihren Ausdruck fi nden. Ein wesentliches Element<br />

im halakhischen Ansatz ist, dass es die Bestimmung des<br />

Menschen in der Welt ist, die Schöpfung Gottes zu verbessern.<br />

Die stellt einen Unterschied zu der christlich-<br />

Schwerpunkt<br />

katholischen Lehre dar, die eher davon ausgeht, dass wir<br />

nicht in die Schöpfung Gottes eingreifen sollten. Ferner<br />

gibt es die Gebote zum Heilen, zur Rettung und Schonung<br />

von Leben sowie das Gebot der Fortpfl anzung<br />

(„Seid fruchtbar und mehret euch“), so dass sogar die<br />

Therapie von Unfruchtbarkeit als lebensrettende Maßnahme<br />

gedeutet werden kann. Hinzu kommt, dass der<br />

Anfang des Lebens als ein sukzessives Kontinuum gesehen<br />

wird. So wird dem Embryo in einem frühen Stadium<br />

der Schwangerschaft nur die Bewertung von „Wasser“<br />

zuteil. Bis zum Ende der Schwangerschaft wird dem<br />

Leben des Fötus weniger Wert als dem der Mutter beigemessen.<br />

Konsequenterweise kommen die dominanten<br />

Stimmen der israelischen Bioethik-Debatte zu dem<br />

Schluss, dass die Forschung am menschlichen Embryo<br />

– auch das therapeutische Klonen – im Hinblick auf den<br />

möglichen Nutzen dieser medizinischen Forschung auf<br />

jeden Fall gerechtfertigt ist.<br />

Gleichzeitig beruht aber das israelische Grundgesetz auf<br />

der Anerkennung fundamentaler Menschenrechte und<br />

den zugrunde liegenden Prinzipien, wie der Würde des<br />

Menschen, der Freiheit und der Gerechtigkeit. So können<br />

Spannungen zwischen diesen grundlegenden demokratischen<br />

Werten und der jüdischen Tradition auftreten.<br />

Bei Entscheidungen, die am Ende eines Lebens zu treffen<br />

sind, setzt sich zum Beispiel der Wert der Heiligkeit des<br />

Lebens dem demokratischen Wert der individuellen Autonomie<br />

gegenüber durch. Das bedeutet, dass – wenn<br />

einmal begonnen – die künstliche Beatmung eines Menschen<br />

nicht wieder abgebrochen werden darf, auch<br />

wenn dieser verfügt hat, nicht von einer Maschine abhängig<br />

sein zu wollen. Auf der anderen Seite gibt es viele<br />

Bereiche, in denen das jüdische Recht liberaler ist als der<br />

säkulare Humanismus. So gibt es zum Beispiel viele gute<br />

humanistische Gründe, Kauf und Verkauf von Organen<br />

zu untersagen. Das orthodoxe jüdische Recht hat aber<br />

keine prinzipiellen Einwände gegen solche Praktiken.<br />

Ich selbst kam als Studentin in den späten Siebzigern<br />

zum Thema Bioethik, die Legalisierung der Abtreibung<br />

war ein wichtiges Thema für die Gleichberechtigung der<br />

<strong>Frauen</strong>. Individuelle Freiheit, Wahlfreiheit, Privatsphäre<br />

und Autonomie waren die grundlegenden Prinzipien der<br />

liberalen Rechtswissenschaft, wie sie mir im Studium<br />

gelehrt wurden. Dies sind Werte, die ich sehr für mich<br />

selbst wertschätze, die meinen Blick auf bioethische<br />

Themen beeinfl ussten und dies auch weiterhin grundlegend<br />

tun werden.<br />

Aber in den letzten Jahren hat der Diskurs über Menschenrechte<br />

begonnen, neben den individuellen Freiheitsrechten<br />

auch andere Rechte zu betonen. Aktuelles<br />

Thema im Diskurs über Menschenrechte ist die soziale<br />

Gerechtigkeit. Soziale Rechte, die durch den Fortschritt<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 17


Schwerpunkt<br />

in der Biomedizin beeinfl usst sind, beinhalten das Recht<br />

auf Gesundheit und das Recht am Nutzen des wissenschaftlichen<br />

Fortschritts teilzuhaben. Beide Rechte werden<br />

durch die allgemeine Erklärung der Menschenrechte<br />

1948 garantiert. Menschenrechte sind universell, das<br />

bedeutet, dass sie das Recht jedes einzelnen Menschen<br />

sind und nicht nur das Privileg einer Gruppe, die sie sich<br />

leisten kann. Das Prinzip der Gerechtigkeit fordert nicht<br />

nur, dass begrenzte Ressourcen fair verteilt werden. Die<br />

einer Verteilung zugrunde liegenden Prinzipien sind<br />

eine Frage der gesetzten Prioritäten. Dies gilt nicht nur<br />

bezüglich des Angebots der Gesundheitsfürsorge, sondern<br />

auch in Forschung und Entwicklung.<br />

Die Berücksichtigung des Themas Gerechtigkeit veränderte<br />

meinen Blick auf die Welt. Meine Freiheit ist mir<br />

wichtig geblieben, aber die Frage nach der Gerechtigkeit<br />

bringt mich dazu, auch über die Grenzen meiner Eigeninteressen<br />

hinaus zu blicken, die Bedürfnisse meiner<br />

Mitmenschen zu bedenken und für die zu sorgen, die<br />

weniger privilegiert sind. Ein Medikamentenhersteller<br />

hat ein neues Mittel gegen eine seltene, erblich bedingte<br />

Krankheit bei Kindern auf den Markt gebracht. Dieses<br />

Mittel wird zu einem Preis vermarktet, der so hoch ist,<br />

dass eine Behandlung mehrere hunderttausend Euro im<br />

Jahr kosten würde. Wie gehen wir mit etwas so Absurden<br />

um?<br />

Vorankündigung:<br />

Vortragsreihe „Gender <strong>Medizin</strong>“ im WS 2008/2009<br />

an der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

18<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Einige sind der Meinung, dass wir daran nichts ändern<br />

könnten, als wäre der Markt ein Golem oder Frankensteins<br />

Monster, das außer Kontrolle geraten ist. Ich benenne<br />

diese Position „Markt-Fatalismus“ oder „Markt-<br />

Defätismus“. Ich glaube, wir sind mehr als Roboter, die<br />

auf die Manipulationen einer glanzvollen Werbeindustrie<br />

reagieren, die uns verkaufen will, dass Alter, Krankheiten<br />

und der Tod besiegt werden könnten. Meiner Meinung<br />

nach macht ‚mehr’ medizinische High-Technology die<br />

Welt nicht zwangsläufi g zu einem lebenswerteren Ort.<br />

Ich würde eher sagen, dass eine faire Verteilung der bereits<br />

existierenden medizinischen Mittel zur Prävention<br />

von Malaria bei Kindern viel wichtiger ist als das Versprechen<br />

einer extravaganten Zukunft.<br />

Ich möchte nicht durch eine Überzahl von Angeboten<br />

kontrolliert werden, auch nicht durch medizinische Errungenschaften.<br />

Ich möchte lernen, verantwortliche<br />

Entscheidungen zu treffen. Ich glaube, dass wir an der<br />

Technik wachsen können und uns als moralische Wesen<br />

weiterentwickeln können. Wir können auch lernen,<br />

unsere Freiheit mit Selbstbeherrschung auszuüben. Ich<br />

möchte weise genug sein, zu einer Technologie „nein“<br />

zu sagen, die unter Umständen absurde Folgen hat. Für<br />

mich liegt die Herausforderung der Bioethik darin sicherzustellen,<br />

dass die Technik macht, was wir wollen, und<br />

dass die Technik genau das unterlässt, was wir nicht wollen,<br />

für den Nutzen der Menschheit.<br />

Aus dem Englischen von Martin Gloger<br />

Im Wintersemester 2008/2009 laden wir Sie herzlich zu einer spannenden Vortragsreihe<br />

zum Thema „Gender <strong>Medizin</strong>“ ein. Die Gender <strong>Medizin</strong> beleuchtet geschlechtsspezifi<br />

sche Aspekte in Prävention, Diagnose, Therapie und Rehabilitation. Sie schärft<br />

das Bewusstsein für die Bedeutung des Geschlechts bei Gesundheit und Krankheit. Neben<br />

biologischen Unterschieden haben auch soziale Unterschiede zwischen <strong>Männer</strong>n<br />

und <strong>Frauen</strong> eine Auswirkung auf die Entstehung und Ausprägung von Erkrankungen.<br />

Genauere Informationen zur Vortragsreihe erhalten Sie über Aushänge und Flyer zu<br />

Beginn des Wintersemesters.


Foto: privat<br />

In den 70er Jahren studierte ich Biologie mit einem medizinischen<br />

Schwerpunkt und spezialisierte mich auf Immunologie.<br />

Meine Doktorarbeit schrieb ich in den 90ern<br />

ebenfalls über ein biomedizinisches Thema – <strong>Frauen</strong><br />

und Osteoporose. Bereits in den Jahren zuvor hatte ich<br />

mir neue Fähigkeiten angeeignet und Erkenntnisse gewonnen.<br />

Ich interessierte mich für die Gender-Perspektive<br />

auf Wissenschaft und Technik. Dies resultierte auch<br />

in einem anderen Blick auf die Konstruktion biomedizinischen<br />

Wissens und die aus diesem Wissen folgenden<br />

Konsequenzen. Der Kontext meiner Forschungen<br />

war die damalige Debatte über die Medikalisierung des<br />

weiblichen Körpers. Meine Dissertation war eine gendersensible<br />

Analyse von vier Ansätzen im Umgang mit<br />

Osteoporose: Forschung, Behandlung, Informationspolitik<br />

und diesbezügliche Positionierungen im Internet.<br />

Auf Basis dieser Vorarbeiten engagierte ich mich ab 2000<br />

auch auf europäischer Ebene in der Kommission für Gender<br />

Impact Assessment Studies. Hier kam ich mit der EU-<br />

Gleichstellungspolitik im Hinblick auf Forschungsfragen<br />

in Berührung. Die Kommission nahm das Verhältnis zwischen<br />

Geschlecht und Wissenschaft als dreigeteilt wahr:<br />

Forschung von <strong>Frauen</strong>, für <strong>Frauen</strong> und über <strong>Frauen</strong>. Mit<br />

Schwerpunkt<br />

Meine Leidenschaft für Gender Studies und<br />

Biomedizin. Wie alles begann.<br />

Ineke Klinge<br />

dem sechsten Rahmenprogramm ließ es sich auf die<br />

Formel GG=GD+FP bringen. Geschlechtergerechtigkeit<br />

(GG) zu fördern, bedeutet die Gender-Dimension (GD)<br />

des Forschungsgegenstandes zu berücksichtigen und die<br />

<strong>Frauen</strong>-Partizipation (FP) auf allen Ebenen des Wissenschaftsbetriebes<br />

zu fördern.<br />

In der Studie über Gender Impact Assessment (GIA) in<br />

den Lebenswissenschaften, die ich zusammen mit Mineke<br />

Bosch, einer Kollegin vom Centre for Gender and<br />

Diversity geleitet habe, setzte ich meine Priorität auf die<br />

Frage, was die Gender-Dimension für die biowissenschaftliche<br />

und medizinische Forschung ausmacht. Ich<br />

unternahm große Anstrengungen um zu vermitteln, dass<br />

eine konzeptionelle Unterscheidung zwischen dem biologischen<br />

Geschlecht (sex) und dem sozialen Geschlecht<br />

(gender) unerlässlich in diesem Forschungsfeld war. Die<br />

GIA-Studie hatte einen großen Einfl uss; ein Resultat waren<br />

neue Richtlinien für die biomedizinische Forschung<br />

im sechsten Rahmenprogramm, z.B. obligatorische Fragen<br />

an die Antragstellerinnen und Antragsteller bezüglich<br />

der Sex- und Gender- Aspekte in ihrer biomedizinischen<br />

Forschung und konkrete Pläne zur Umsetzung von<br />

Gender-Fragen.<br />

Nach der GIA-Studie erschien mir ein weiteres EU-Projekt<br />

als logische Konsequenz. Die Richtlinien aus dem<br />

sechsten Rahmenprogramm waren ein von oben nach<br />

unten gerichteter Prozess, offen blieb jedoch die Frage,<br />

was die Bedürfnisse der Wissenschafts-Community waren.<br />

Es schien nötig, der Relevanz von Sex- und Gender-<br />

Aspekten noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen und<br />

Instrumente zu entwickeln, wie diese Fragestellungen in<br />

den Forschungsprozess integriert werden könnten. Einer<br />

der bedeutendsten Erfolge dieses Projektes, das wir GenderBasic<br />

nannten, war eine Sonderausgabe der Zeitschrift<br />

Gender Medicine mit mir als Gast-Herausgeberin, die<br />

vier Artikel zu konzeptionellen und methodologischen<br />

Fragen der allgemeinen, translationalen, klinischen und<br />

Public Health-Forschung beinhaltete und weitere sechs<br />

Artikel zu ausgewählten medizinischen Disziplinen oder<br />

Krankheitsbildern, nämlich Angsterkrankungen, Asthma,<br />

metabolisches Syndrom, Nutrigenomik, Osteoporose<br />

und Arbeitsmedizin.<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 19


Schwerpunkt<br />

Mein wissenschaftliches Hauptinteresse ist es, die Gender-Kompetenz,<br />

die ich bereits in anderen Bereichen<br />

gesammelt habe, in die biomedizinische Forschung zu<br />

integrieren. Der Körper war immer mein Lieblingsthema<br />

und wird es auch immer bleiben, schon im Fach Immunologie.<br />

In den anderen Aktionsfeldern meiner wissenschaftlichen<br />

Laufbahn lernte ich, dass der Körper zwar<br />

oft als ein interessantes Forschungsfeld wahrgenommen<br />

wird, selten jedoch als Materie, d.h. das Material des<br />

Körpers, kurz gesagt: Fleisch und Blut. Wir führten eine<br />

ganze Reihe von Debatten über die Unterscheidung<br />

zwischen Sex und Gender (ja/nein, nützlich/überholt),<br />

über konstruktivistische Perspektiven auf den Körper und<br />

über relativistische Ansätze. Trotz vieler schöner Analysen<br />

und Erzählungen vermisste ich weiterhin ernsthafte<br />

Bestrebungen, einen Einblick in den Körper zu bekommen,<br />

etwas über die biologischen Prozesse innerhalb<br />

des <strong>Frauen</strong>körpers und des <strong>Männer</strong>körpers und über die<br />

Unterschiede zu lernen. Ich habe versucht, diesen Themenkomplex<br />

in meiner Dissertation zu berühren, doch<br />

fehlte mir zu jener Zeit noch das richtige Handwerkszeug<br />

dazu. Viele Autorinnen teilen jedoch mein Unbehagen<br />

über die Vernachlässigung des Körperinneren in<br />

der Geschlechterforschung: Ellen Kuhlmann und Birgit<br />

Babitsch, Lynda Birke und Anne Fausto Sterling. Lynda<br />

Birke traute sich dies provokant auszudrücken: „Feministische<br />

Theorie geht nur so tief wie die Haut.“<br />

Das GenderBasic-Projekt lieferte neue Modelle, warf<br />

neue Forschungsfragen auf und entwickelte Instrumente<br />

für eine Umgestaltung herkömmlicher Forschungsmethoden.<br />

Beachtenswert war, dass in einigen Bereichen<br />

bereits eine Arbeitsweise „von unten nach oben“ anzutreffen<br />

war, obwohl auf Geschlechterdifferenzen begrenzt<br />

und ohne einen Bezug zur EU-Forschungspolitik.<br />

Die Erforschung körperlicher Geschlechterdifferenzen<br />

(sex) war ein relativ junges Terrain, die daraus entstandenen<br />

Publikationen Pionierleistungen. GenderBasic plädiert<br />

dafür, ebenso im Bereich von Gender-Differenzen<br />

zu verfahren.<br />

Zusammenfassend würde ich sagen, in GenderBasic lagen<br />

die Schwerpunkte auf den Unterschieden zwischen<br />

den Geschlechtern, auf Gender-Effekten (in der individuellen<br />

Gesundheitsvorsorge, in der klinischen Praxis und<br />

in der Diagnose) sowie in den Wechselwirkungen zwischen<br />

Sex und Gender und anderen Dimensionen von<br />

Differenz. Die große Herausforderung, die vor uns liegt,<br />

ist der Versuch einer umfassenden Übertragung dieser<br />

Erkenntnisse auf die Biomedizin.<br />

20<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Erinnern wir uns an die EU-Gleichstellungspolitik und<br />

die Formel GG=GD+FP. Wird eine größere Beteiligung<br />

von <strong>Frauen</strong> in der Wissenschaft propagiert, wirft das oft<br />

die Frage auf, ob <strong>Frauen</strong> Wissenschaft auf eine andere<br />

Art und Weise betreiben. Londa Schiebinger hat über<br />

diese Frage gearbeitet und eine fruchtbare Perspektive<br />

vorgeschlagen: Wesentlich sind demnach nicht die wissenschaftstheoretischen<br />

Fragen, sondern die erreichten<br />

Wissensbestände, die Ergebnisse. Wessen Bedürfnisse<br />

werden befriedigt. Wem nützt es? Was gilt als gesicherte<br />

Erkenntnis? Das ist ihr Konzept einer nachhaltigen Wissenschaft.<br />

Wenn <strong>Frauen</strong> und <strong>Männer</strong> gleichberechtigt in der Wissenschaft<br />

zusammen arbeiten, wird das Ergebnis eine<br />

größere Bandbreite, ein vielfältigeres Wissen sein. Divergierende<br />

und neue Schwerpunkte können so in der<br />

Wissenschaft gesetzt, unterschiedliche Erfahrungswelten<br />

berücksichtigt und Forschungslücken gefüllt werden.<br />

Wie genau diese Mechanismen funktionieren, ist noch<br />

unbekannt. Wir können aber davon ausgehen, dass Wissenschaft,<br />

die die Bedürfnisse von <strong>Männer</strong>n und <strong>Frauen</strong><br />

adäquat berücksichtigt (und zwar auch durch die Berücksichtigung<br />

von Sex und Gender), von hoher Qualität<br />

sein wird. Eingebaut werden nicht nur die Bedürfnisse<br />

von <strong>Frauen</strong>, sondern auch die bislang vernachlässigten<br />

Aspekte männlicher Gesundheit.<br />

Dieses Wechselspiel zwischen Gender Mainstreaming,<br />

einer verstärkten Teilhabe von <strong>Frauen</strong> am Wissenschaftsprozess<br />

und wissenschaftlicher Exzellenz ist verblüffend!<br />

Ich glaube an eine gegenseitige Verstärkung von biomedizinischen<br />

Sex- und Gender-Fragen auf der einen Seite<br />

und von Karriereförderung für <strong>Frauen</strong> und vermehrte<br />

Übernahme von Führungspositionen durch <strong>Frauen</strong> auf<br />

der anderen Seite. Eine gute Wissenschaftspolitik fordert<br />

folglich zeitgleich die Integration von Sex- und Gender-<br />

Aspekten in die Forschung und die verstärkte Positionierung<br />

von <strong>Frauen</strong> in der Wissenschaft.<br />

Aus dem Englischen von Martin Gloger


Dr. Ineke Klinge<br />

Gastprofessorin an der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

Dr. Ineke Klinge ist Gastprofessorin an der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> im Wintersemester 2008/2009.<br />

Ihre Professur wird aus Mitteln des Maria-Goeppert-<br />

Mayer-Programms für internationale <strong>Frauen</strong>- und<br />

Genderforschung vom Niedersächsischen Ministerium<br />

für Wissenschaft und Kultur fi nanziert.<br />

Dr. Ineke Klinge studierte Biologie und ist auf Immunologie<br />

spezialisiert. Sie war Forschungsstipendiatin des<br />

Koningin Wilhelmina Fonds (KWF) auf dem Gebiet der<br />

Tumor-Immunologie am Dutch Cancer Institute. Ihr<br />

zweiter Forschungsschwerpunkt sind Gender Studies.<br />

Während Ihrer Lehrtätigkeit an der Universität Utrecht<br />

(1988-1997) entwickelte und leitete sie das interdisziplinäre<br />

Forschungsprogramm Health and Gender: The medicalization<br />

of the female body with a focus on aging.<br />

Ihre Doktorarbeit Gender and Bones: The Production<br />

of Osteoporosis 1941-1996 wurde 1998 veröffentlicht.<br />

Derzeit arbeitet sie an der Universität Maastricht als<br />

Professorin für Gender Studies im Gesundheitswesen.<br />

Seit 2004 ist sie auch Mitglied des Centre for Gender<br />

& Diversity. Ineke Klinge engagiert sich am European<br />

Institute of Women’s Health (EIWH) und ist Mitglied<br />

der Dutch Foundation for Women and Health Research<br />

(DFWHR). Ferner ist sie Mitglied im Ethik Review Panel<br />

des siebenten EU-Forschungsrahmenprogramms.<br />

Schwerpunkt<br />

Dr. Ineke Klinge hat langjährige Erfahrungen in der Leitung<br />

von EU-Projekten. Bereits 1992 leitete Sie ein EU-<br />

Projekt über den weiblichen Blick auf das Humangenomprojekt<br />

und nahm 1993 an dem ersten Workshop<br />

der Europäischen Kommission zum Thema Women in<br />

Science and Technology Research teil. 2001 führte sie<br />

eine der sieben Gender Impact Assessment Studies des<br />

fünften EU-Forschungsrahmenprogramms durch (Klinge<br />

& Bosch, 2001). Der Fokus ihres Interesses liegt auf<br />

der Integration der Gender-Dimension in Forschungsprojekte<br />

in den Lebenswissenschaften. Sie leitet das<br />

Programm für Gender and Diversity in Health and<br />

Health Care Research an der School for Public Health<br />

and Primary Care (Caphri).<br />

Von 2005-2007 koordinierte sie das erfolgreiche GenderBasic<br />

Programm im sechsten Forschungsrahmenprogramm<br />

der EU. Das Projekt stellte Handwerkszeug<br />

zur Integration von Geschlechteraspekten in die biomedizinische<br />

Forschung bereit. Ineke Klinge war<br />

Gastherausgeberin der Zeitschrift Gender Medicine<br />

(Vol. 4, Supplement B, December 2007) unter dem<br />

Titel Bringing Gender Expertise to Biomedical and<br />

Health Related Research. Ihre Publikationen beleuchten<br />

die Themen Osteoporose, den weiblichen Körper,<br />

Medikalisierung, die Menopause und die Erforschung<br />

des Einfl usses von Gender-Aspekten auf die Lebenswissenschaften<br />

und die Gesundheitsforschung.<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 21


Schwerpunkt<br />

Intersexualität bei Kindern und Jugendlichen<br />

Ethische Aspekte eines medizinischen Dilemmas<br />

22<br />

Claudia Wiesemann <strong>·</strong> Susanne Ude-Koeller <strong>·</strong> Anna-Karina Jakovljevic<br />

Abt. Ethik und Geschichte der <strong>Medizin</strong>, <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 1000 Kinder<br />

geboren, deren Geschlecht nicht auf Anhieb eindeutig<br />

zu bestimmen ist. Äußere Geschlechtsmerkmale, Geschlechtsorgane<br />

oder Geschlechtschromosen sind in<br />

diesen Fällen nicht kongruent. Man bezeichnet diesen<br />

Sachverhalt mit dem Begriff Intersexualität bzw. – im<br />

Englischen – „Differences of Sex Development (DSD)“.<br />

Zu Grunde liegen vielfältige, oft noch nicht in jeder<br />

Hinsicht geklärte Ursachen. Wenn keine Begleiterkrankungen<br />

vorliegen, ist es strittig, welcher Krankheitswert<br />

einem uneindeutigen Geschlecht beigemessen werden<br />

soll.<br />

Im therapeutischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen<br />

mit einer besonderen Geschlechtsentwicklung ergeben<br />

sich für alle Beteiligten komplexe Fragestellungen.<br />

Eine ethisch bedeutsame Schwierigkeit liegt in der Tatsache<br />

begründet, dass es sich bei den oft vorgenommenen<br />

chirurgischen Eingriffen zur Vereinheitlichung des<br />

Geschlechts um Verfahren handelt, die zur Gesundheitserhaltung<br />

des Kindes nicht immer zwingend notwendig<br />

sind. Diese korrektive, geschlechtsanpassende Behandlung<br />

geschieht vielmehr im (vermeintlichen) Interesse<br />

des Kindes und künftigen Erwachsenen. Dieses Vorgehen<br />

ist in letzter Zeit kritisiert worden.<br />

Intersexualität und „DSD“<br />

Bei Neugeborenen, bei denen zunächst keine eindeutige<br />

Geschlechtszuordnung möglich ist, wird dem Säugling<br />

– idealerweise nach umfangreicher Diagnostik und Abwägen<br />

unterschiedlichster Optionen – ein Geschlecht<br />

zugewiesen („sex assignment“) und ggf. auch die Geschlechtsorgane<br />

chirurgisch vereindeutigt. Die Unsicherheit<br />

über das Geschlecht des Kindes, aber auch das<br />

Gewicht der damit verbundenen, meist irreversiblen<br />

Entscheidungen wird von den betroffenen Eltern in der<br />

Regel als ausgesprochen problematisch erlebt.<br />

Die medizinische Behandlung von Kindern mit DSD ist<br />

in den letzten Jahren sowohl von Selbsthilfegruppen als<br />

auch von Kliniker/innen und Ethiker/innen kontrovers<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

diskutiert worden. Ehemalige Behandelte fordern eine<br />

systematische Evaluation von durchgeführten chirurgischen<br />

Genitalkorrekturen und ihren gesundheitlichen<br />

und psychosozialen Konsequenzen für die Betroffenen.<br />

In der Vergangenheit erfolgten die bei Neugeborenen<br />

durchgeführten Korrekturen oftmals ohne ausreichende<br />

Aufklärung der Eltern über die Komplexität des Sachverhalts<br />

und ohne eine stellvertretende Einwilligung der<br />

Eltern. Auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen<br />

wurden in der Regel nicht oder nur unzureichend über<br />

Ursache und Zweck der medizinischen Verfahren und<br />

die daraus resultierenden Folgebehandlungen aufgeklärt.<br />

Die wissenschaftliche Evidenz für die gewählten Verfahren<br />

war nicht selten unzureichend.<br />

Eine solche Vorgehensweise ist zu Recht aus mehreren<br />

Gründen kritisiert worden. Sie basiert auf einer inzwischen<br />

überkommenen Vorstellung von der Notwendigkeit<br />

einer in jeder – also auch körperlicher – Hinsicht<br />

eindeutigen Geschlechtsrolle. 1 In der Nutzen-Risiko-Abwägung<br />

wurde den gesellschaftlichen Erwartungen vor<br />

den individuellen psychischen und körperlichen Bedürfnissen<br />

Vorrang gegeben; die möglichen Folgen der chirurgischen<br />

Interventionen auf die Beziehung zum eigenen<br />

Körper wurden dabei oftmals ignoriert. Die körperliche<br />

Integrität blieb dabei als eigener Wert unberücksichtigt,<br />

Aspekte einer möglichen Traumatisierung der betroffenen<br />

Kinder wurden vernachlässigt.<br />

In vielen westlichen Gesellschaften werden mittlerweile<br />

Ambivalenzen in der Geschlechterrolle eher toleriert.<br />

Eine Reihe von Wissenschaftler/innen und Kliniker/innen<br />

hat sich deshalb des Themas in empirischen Forschungsprojekten<br />

angenommen. Durch ihre empirischen Forschungen<br />

zu Geschlechtsentwicklung und Lebensqualität<br />

von Personen mit Intersexualität sowie durch Berichte<br />

und Veröffentlichungen von Betroffenen ist inzwischen<br />

mehr über die Situation von Menschen mit DSD bekannt.<br />

Dennoch steht die <strong>Medizin</strong> ohne Zweifel noch am Anfang<br />

einer kritischen Evaluierung ihres Umgangs mit unterschiedlichen<br />

Formen der Geschlechtsentwicklung.<br />

1 In der Diskussion über die Ausbildung der Geschlechtsidentität lassen sich im Wesentlichen zwei unterschiedliche Konzepte ausmachen. Die<br />

erste setzt voraus, dass die Entwicklung von Geschlechtsidentität einen Entwicklungsprozess darstellt, der durch psychosoziale Faktoren geprägt<br />

wird. Demgegenüber setzt die zweite Konzeption voraus, dass primär genetische und hormonelle Einfl üsse die Geschlechtsidentität entscheidend<br />

mitbestimmen.


Einige amerikanische Bioethiker/innen plädieren deshalb<br />

für eine kritische Überprüfung und Evaluierung der<br />

Behandlungsergebnisse sowie für ein Unterlassen geschlechtskorrigierender<br />

Maßnahmen ohne medizinische<br />

Indikation, bis die betroffenen Kinder einwilligungsfähig<br />

sind und ausreichende evidenzbasierte Daten über den<br />

Erfolg der Therapien vorliegen. 2 Diese Vorgehensweise<br />

soll die Autonomie des bzw. der zukünftigen Erwachsenen<br />

respektieren und den Betroffenen eine Medikalisierung<br />

der Kindheit mit den entsprechenden psychosozialen<br />

Folgen ersparen.<br />

Aktuelle Therapieempfehlungen<br />

Ein völliger Aufschub medizinischer Interventionen<br />

bis zur Pubertät konnte sich bislang jedoch noch nicht<br />

durchsetzen. Heute raten Expert/innen zwar von übereilten<br />

Entscheidungen ab und fordern eine umfassende<br />

Beratung der Eltern. Dennoch fi rmiert das unklare Geschlecht<br />

auch ohne aktuelle Gesundheitsgefährdung in<br />

der Regel noch als medizinischer und psychosozialer<br />

Notfall. In Fachkreisen gilt die Empfehlung, auf jegliche<br />

Therapie zu verzichten und die Entscheidung über die<br />

Geschlechterrolle den älteren Kindern und Jugendlichen<br />

selbst zu überlassen, als unrealistisch. In jedem Fall<br />

wird dem Kind ein ggf. vorläufi ges soziales Geschlecht<br />

zugewiesen. Aber auch weitergehende medizinische Interventionen<br />

werden gefordert, damit verhindert werde,<br />

dass das Kind durch die Reaktionen der Umwelt und die<br />

ambivalenten Gefühle der Eltern Schaden nehme. Demgegenüber<br />

ist anzumerken, dass solche sozialen Faktoren<br />

unter Umständen einem gesellschaftlichen Wandel<br />

unterliegen können und es letztlich vor Behandlungsbeginn<br />

unklar ist, welche Auswirkungen eine Therapieentscheidung<br />

für das Kind haben kann.<br />

Als weiterer Grund für eine möglichst frühzeitige Intervention<br />

im Säuglingsalter werden medizinische Gesichtspunkte<br />

angeführt. Da gute evidenzbasierte Standards<br />

noch nicht vorliegen, scheint diese Rechtfertigung<br />

chirurgischer Maßnahmen problematisch. Follow-up-<br />

Studien, die die psychosozialen Folgen der Geschlechtskorrekturen<br />

untersuchen, wurden gerade erst begonnen.<br />

Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung<br />

und Forschung fi nanzierten „Netzwerkes Intersexualität“<br />

wurde 2005 eine groß angelegte klinische Evaluationsstudie<br />

gestartet, die sich neben dem medizinischen Outcome<br />

vor allem auch mit Aspekten der gesundheitsbezo-<br />

Schwerpunkt<br />

genen Lebensqualität beschäftigt. 3 Des Weiteren ist eine<br />

unter der Leitung von Hertha Richter-Appelt stehende<br />

Hamburger Studie damit befasst, die Lebensgeschichten<br />

von Personen mit unterschiedlichen Formen von Intersexualität<br />

zu rekonstruieren.<br />

Informed consent und Aspekte der kindlichen<br />

Autonomie<br />

Grundsätzlich spielen familiäre Interessen in der klinischen<br />

Entscheidungsfi ndung eine wesentliche Rolle. Dies<br />

gilt in besonderem Maße für die Kinder- und Jugendmedizin.<br />

Ärztliches Handeln muss sich – soll es langfristig<br />

zum Wohle des Patientinnen und Patienten gereichen<br />

– auch an diesen und ihren besonderen Lebensbezügen<br />

orientieren. Dazu gehört auch, Patient/innen als Menschen<br />

in Beziehungen wahrzunehmen und zu respektieren.<br />

Für die Kinder- und Jugendmedizin heißt das, das<br />

Kind und seine Familie in den Mittelpunkt zu stellen und<br />

die Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern zu<br />

berücksichtigen. Expert/innen gehen hinsichtlich der Diagnosestellung<br />

Intersexualität von einer starken Verunsicherung<br />

und partiellen Überforderung der Eltern aus, die<br />

professionelle Hilfe benötigen, um über das zukünftige<br />

Geschlecht ihres Kindes und eventuell notwendige Genitalkorrekturen<br />

zu entscheiden. Wie kann in solchen<br />

Situationen eine echte Partizipation von Eltern und Kind<br />

an therapeutischen Entscheidungen erreicht werden?<br />

Wie soll eine individuelle Entscheidung aussehen, wenn<br />

gleichzeitig die Indikationsstellung, die Therapieverfahren<br />

und der Zeitpunkt der medizinischen Intervention<br />

kontrovers debattiert werden? Welche Interessen und<br />

welche Gründe sind zu präferieren? 4<br />

Aus medizinethischer Sicht sprechen gute Gründe für<br />

eine familienorientierte Entscheidungsfi ndung. Diese<br />

würde der Tatsache Rechnung tragen, dass das Kind als<br />

eigenständige Person gegenwärtige und zukünftige Bedürfnisse<br />

hat, zu deren Durchsetzung es in hohem Maße<br />

auf die Liebe und den Respekt seiner Familie angewiesen<br />

ist. Der Einbezug des komplexen und fragilen Beziehungsgefüges<br />

Familie scheint gerade bei Kindern mit<br />

Intersexualität von großer Bedeutung zu sein. Entscheidungsfi<br />

ndungen von so hoher Tragweite, wie sie bei der<br />

Geschlechtszuweisung intersexueller Kinder anstehen,<br />

sind ohne Einbezug familiärer Denkstile, Wertmaßstäbe<br />

und Lebensmuster schwer denkbar.<br />

2 Kipnis, K., Diamond, M. (1998): Pediatric Ethics and the Surgical Assignment of Sex. In: J Clin Ethics 9: 398-410.<br />

3 Richter Appelt, H. (2004): Intersexualität und <strong>Medizin</strong>: Erste Ergebnisse eines Forschungsprojekts. In: Z Sex Forsch 17: 239-257.<br />

4 Ude-Koeller, S., Müller, L., Wiesemann, C. (2006): Junge oder Mädchen? Elternwunsch, Geschlechtswahl und geschlechtskorrigierende<br />

Operationen bei Kindern mit Störungen der Geschlechtsentwicklung. In: Ethik Med. 18, 63-70.<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 23


Schwerpunkt<br />

Kindern und Jugendlichen wird heute in vielen Bereichen<br />

der Gesellschaft mehr Selbständigkeit und Entscheidungsfreiheit<br />

zugebilligt als früher. Das Prinzip des<br />

„Informed Consent“, nach dem jede ärztliche diagnostische<br />

und therapeutische Maßnahme der Zustimmung<br />

des einwilligungsfähigen und aufgeklärten Patient/innen<br />

bedarf, gilt im Grundsatz auch innerhalb der Kinder- und<br />

Jugendmedizin. Üblicherweise nehmen die Eltern dieses<br />

Recht stellvertretend für ihre Kinder wahr. In den letzten<br />

Jahren hat sich aber ein wachsendes Bewusstsein<br />

für die Mitbestimmungs- und Partizipationsrechte von<br />

Kindern entwickelt. 5 In der <strong>Medizin</strong> setzt sich seit einiger<br />

Zeit die Auffassung durch, dass auch jüngere Kinder<br />

an medizinischen Entscheidungsprozessen beteiligt sein<br />

sollen. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass auch kleinere<br />

Kinder in der Lage sein können, eine altersentsprechende<br />

Aufklärung zu verstehen. Die <strong>Medizin</strong>rechtlerin<br />

Sonja Rothärmel, die sich mit der Geltung der Patientinnen-<br />

und Patientenrechte für Minderjährige beschäftigt,<br />

weist auf die Benachteiligung minderjähriger Kinder im<br />

Bereich des Informed-Consent-Konzeptes hin und plädiert<br />

für den Ausbau eigenständiger, vom Kriterium der<br />

Einwilligungsfähigkeit unabhängiger Informations- und<br />

Partizipationsrechte für jüngere Kinder. 6 Allerdings lässt<br />

die Einwilligungsfähigkeit der Minderjährigen das Sorgerecht<br />

der Eltern unberührt. In der klinischen Praxis kann<br />

es im Falle von Therapieverweigerung oder widersprechender<br />

Einwilligungserklärungen der Eltern und Kinder<br />

zu Interessens- und Entscheidungskollisionen kommen.<br />

Ethische Aspekte bei Therapieentscheidungen<br />

im Umgang mit DSD<br />

Angesichts der noch ungeklärten Frage nach den handlungsleitenden<br />

Wertvorstellungen der medizinischen<br />

Intervention bei intersexuellen Kindern zum einen und<br />

des sich wandelnden gesellschaftlichen Wertgefüges<br />

hinsichtlich Geschlechterambivalenzen zum anderen<br />

ist aus medizinethischer Sicht dafür zu plädieren, Kinder<br />

und Jugendliche verstärkt über die Diagnose und Behandlungsoptionen<br />

aufzuklären und in die anstehenden<br />

Entscheidungsprozesse möglichst umfassend mit einzubeziehen.<br />

24<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Im Jahre 2004 wurde im Rahmen des Netzwerkes Intersexualität<br />

die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „<strong>Medizin</strong>ethik<br />

und Intersexualität“ etabliert, die mittlerweile<br />

ethische Empfehlungen zum therapeutischen Umgang<br />

mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung (DSD)/<br />

Intersexualität bei Kindern und Jugendlichen verabschiedet<br />

hat. 7 Die Arbeitsgruppe wurde von der Göttinger<br />

<strong>Medizin</strong>ethikerin Claudia Wiesemann geleitet und<br />

setzte sich aus Mitgliedern von Selbsthilfegruppen von<br />

Personen mit DSD/ Intersexualität bzw. deren Eltern, aus<br />

Expert/innen der Kinderheilkunde und Jugendmedizin,<br />

Chirurgie, Urologie, Gynäkologie und Geburtshilfe sowie<br />

Endokrinologie, aus weiteren <strong>Medizin</strong>ethikerinnen,<br />

einem Psychologen und Psychotherapeuten, einer <strong>Medizin</strong>juristin<br />

sowie einer <strong>Medizin</strong>soziologin zusammen.<br />

Die Berücksichtigung des Kindeswohls umfasst die körperliche<br />

Integrität und Lebensqualität, insbesondere im<br />

Bereich der Fortpfl anzungsfähigkeit und des sexuellen<br />

Erlebens, sowie die freie Entwicklung der Persönlichkeit.<br />

Das Partizipations- und Selbstbestimmungsrecht umfasst<br />

das Recht des Kindes auf eine angemessene Beteiligung<br />

an medizinischen Entscheidungen und das Recht des/<br />

der zukünftigen Erwachsenen auf umfassende Information<br />

über alle durchgeführten Eingriffe sowie eine entsprechende<br />

Informations- und Dokumentationspfl icht<br />

auf Seiten des therapeutischen Teams.<br />

5 Die von Deutschland 1992 unterzeichnete UN-Kinderrechtskonvention kodifi ziert in §12 das Recht von Kindern aller Altersstufen auf Berücksichtigung<br />

ihres Willens und auf freie Meinungsäußerung in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten. Dies gilt auch für medizinische Maßnahmen.<br />

Übereinkommen über die Rechte des Kindes, von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet am 6. März 1992 (Bekanntmachung<br />

vom 10. Juli 1992 - BGBl. II S. 990).<br />

6 Rothärmel, S. (2004): Einwilligung, Veto, Mitbestimmung. Die Geltung der Patientenrechte für Minderjährige. Nomos, Baden-Baden; Rothärmel,<br />

S., Wolfslast, G., Fegert, J. (1999): Informed Consent, ein kinderfeindliches Konzept? Von der Benachteiligung minderjähriger Patienten<br />

durch das Informed Consent- Konzept am Beispiel der Kinder- und Jugendpsychiatrie. In: <strong>Medizin</strong>recht 17: 293-298. Vgl. auch Rothärmel, S.<br />

(2006): Rechtsfragen der medizinischen Intervention bei Intersexualität. In: <strong>Medizin</strong>recht 24, 274-284.<br />

7 http://www.netzwerk-is.uk-sh.de/forumIS/index.php<br />

Für den Umgang mit Kindern mit Besonderheiten<br />

der Geschlechtsentwicklung hat<br />

die Arbeitsgruppe die folgenden ethischen<br />

Prinzipien identifi ziert:<br />

1. Die Berücksichtigung des Wohls des<br />

Kindes und des/ der zukünftigen Erwachsenen.<br />

2. Das Recht von Menschen mit DSD auf<br />

Selbstbestimmung bzw. auf Partizipation.<br />

3. Die Achtung der Familie und<br />

der Eltern-Kind-Beziehung.


Foto: privat<br />

Die Achtung der Familie und der Eltern-Kind-Beziehung<br />

impliziert das Recht und die Pfl icht der Eltern, stellvertretend<br />

für ihr Kind Entscheidungen zu treffen sowie<br />

fachkundige Unterstützung durch das therapeutische<br />

Team in allen Konfl iktsituationen in Anspruch nehmen<br />

zu können. Die Familie und ihr besonderes Ethos muss<br />

in die ethische Analyse des Umgangs mit DSD einbezogen<br />

werden. Dies leitet sich zum einen aus der hohen<br />

kulturellen Wertschätzung her, die die Familie in unserer<br />

Gesellschaft genießt, dies entspricht aber auch dem<br />

besten Interesse des Kindes und damit einem wichtigen<br />

Aspekt des Kindeswohls. Angesichts der Tragweite der<br />

Behandlungsentscheidungen ist bei nicht einwilligungsfähigen<br />

Kindern die stellvertretende Entscheidung der<br />

Schwerpunkt<br />

Eltern besonders sorgfältig zu prüfen. Zugleich muss bedacht<br />

werden, dass die Interessen des/ der zukünftigen<br />

Erwachsenen – obgleich wichtiger Maßstab klinischer<br />

Entscheidungen – nicht zwangsläufi g deckungsgleich<br />

mit den Interessen des Kindes sind. Für das Kind, zumal<br />

für das Kleinkind, ist die liebe- und vertrauensvolle<br />

Beziehung zu seinen Eltern von besonderer Bedeutung.<br />

Auch die Sorge für die Eltern und für eine gute Eltern-<br />

Kind-Beziehung gehört damit zum Handlungsauftrag aller<br />

Mitglieder des therapeutischen Teams. Sie sollte zum<br />

Ziel haben, die Eltern zu einem verantwortungsvollen,<br />

liebevollen und gelassenen Umgang mit ihrem Kind zu<br />

befähigen.<br />

Weiterführende Internet-Links:<br />

<strong>·</strong> Netzwerk Intersexualität: http://www.netzwerk-is.uk-sh.de<br />

<strong>·</strong> Netzwerk Intersexuelle Menschen: http://www.intersexuelle-menschen.net<br />

<strong>·</strong> Selbsthilfegruppe XY-<strong>Frauen</strong>: http://www.xy-frauen.de<br />

<strong>·</strong> Intersex Society of North America: http://www.isna.org<br />

Prof. Dr. Claudia Wiesemann<br />

Dr. Susanne Ude-Koeller<br />

Anna Jakovljevic M. A.<br />

(v.r.n.l.)<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 25


Nachrichten<br />

Eindrücke vom Karrieretraining<br />

des <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüros<br />

Vom 29.02. bis 01.03.2008 bot das <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro in Kooperation mit der Freiburger Ärzte<br />

Consulting ein Karrieretraining für <strong>Frauen</strong> mit Führungsaufgaben an. Das ursprünglich für Ärztinnen konzipierte<br />

Angebot wurde erweitert, um auch nicht im ärztlichen Bereich tätigen weiblichen Führungskräften – und solchen,<br />

die es werden wollen – die Teilnahme zu ermöglichen. Denn generell sind im Gesundheitswesen deutlich<br />

weniger Führungspositionen mit <strong>Frauen</strong> als mit <strong>Männer</strong>n besetzt. Um möglichen Kritiken entgegenzuwirken:<br />

„Für Ärztinnen“, so der Geschäftsführer der Freiburger Ärzte Consulting Thomas Dannecker, „muss nicht automatisch<br />

gegen Ärzte sein. Wohl nicht wenigen, meist jüngeren Ärzten ist eine kompetent und ausgeglichen<br />

führende Chefärztin sehr willkommen.“<br />

Ich hatte die Gelegenheit, am Karrieretraining für <strong>Frauen</strong><br />

mit Führungsaufgaben, das vom <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> organisiert<br />

wurde, teilzunehmen. Ziel der Veranstaltung war die<br />

Weiterentwicklung des individuellen Führungspotenzials<br />

der Teilnehmerinnen. Inhaltliche Schwerpunkte waren<br />

Führen und Leiten, Teambildung, Konfl iktmanagement,<br />

Selbstmanagement und Karriereplanung.<br />

Die beiden Kursleiterinnen, Prof. Dr. Gabriele Kaczmarczyk<br />

und Dr. Ulrike Ley, habe ich als sehr kompetente<br />

Dozentinnen kennen gelernt. Das Seminar hat davon<br />

profi tiert, dass sie über große Erfahrung in unterschiedlichen<br />

Führungspositionen verfügen. Dadurch wurden die<br />

Themen nicht nur theoretisch besprochen, sondern auch<br />

durch praktische, lebensnahe und somit gut nachvollziehbare<br />

Beispiele ergänzt.<br />

Wie sind Karrieren planbar und was sind die individuellen<br />

Karriereziele? Wir gelangten zu der Erkenntnis, dass<br />

für eine von Erfolg gekrönte Karriereplanung die Entwicklung<br />

von Visionen und eine intensive Beschäftigung mit<br />

möglichen Strategien zu ihrer Erreichung essentiell sind.<br />

Ergänzt wurde die Beschäftigung mit eigenen Visionen<br />

und Karrierewegen durch Rollenspiele zu Bewerbungssituationen<br />

und zur Selbstpräsentation, die uns anhand<br />

von Videoaufzeichnungen eine Analyse von Körpersprache,<br />

Stimme und Kleidung ermöglichten.<br />

26<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Sabine Wöhlke<br />

Auch war der Workshop für mich eine gute Gelegenheit,<br />

mich mit anderen <strong>Frauen</strong> zu vernetzen. Die Erfahrung,<br />

dass andere <strong>Frauen</strong> bei der Auseinandersetzung mit diesen<br />

Strategien vor ähnlichen Hürden stehen – etwa der<br />

Vereinbarkeit von Beruf und Familie –, hat dazu geführt,<br />

die eigene Situation aus einem anderen Blickwinkel und<br />

vor einem größeren gleichstellungspolitischen Hintergrund<br />

zu betrachten. Durch die zunehmenden Anforderungen<br />

und die Ausdehnung von Arbeitszeiten in die<br />

Abendstunden und Wochenenden ist es immer schwieriger,<br />

ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen<br />

Lebensbereichen, den unterschiedlichen Rollen und den<br />

damit verbundenen Wünschen zu fi nden. Ist eine Karriere<br />

überhaupt mit Familie und sozialem Netzwerk vereinbar?<br />

Ausgehend von der persönlichen Situation haben<br />

wir die Spannungsfelder des jeweiligen Arbeits- und<br />

Lebensalltags betrachtet, Stressfaktoren beleuchtet und<br />

mögliche Lösungsstrategien dafür entwickelt. Wichtig<br />

hierbei scheint eine höhere Flexibilität im Privatleben.<br />

Es ist allerdings auch notwenig, für den privaten Bereich<br />

genügend Zeit einzuplanen und diesen nicht immer der<br />

Karriere unterzuordnen. Die Balance zwischen diesen<br />

beiden Bereichen jedoch muss jede Frau für sich selbst<br />

herausfi nden und individuell umsetzen.<br />

Für mich hat das Seminar eine Bereichung darstellt. Ich<br />

habe für mich sehr gut meine Stärken erkennen können,<br />

aber auch meine Schwächen, an denen ich jetzt gezielt<br />

arbeiten kann.


Die Referentinnen<br />

Foto: privat<br />

Prof. Dr. med. Gabriele Kaczmarczyk<br />

Habilitation 1979 am Lehrstuhl für Anästhesiologie<br />

der Charité und Leitung der Arbeitsgruppe für „Experimentelle<br />

Anästhesiologie“ von 1996 bis 2004.<br />

Sie war langjährige <strong>Frauen</strong>beauftragte der Charité<br />

und Mitglied des Fakultätsrats.<br />

Prof. Kaczmarczyk leitet den Studiengang „Health<br />

and Society: International Gender Studies Berlin“<br />

und ist Mitglied im Deutschen Ärztinnenbund.<br />

Das von ihr mit herausgegebene Buch „Karriereplanung<br />

für Ärztinnen“ ist im Springer Verlag<br />

erschienen.<br />

Foto: privat<br />

Dr. phil. Ulrike Ley<br />

Nachrichten<br />

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für<br />

Politikwissenschaft und Lehrbeauftragte an der<br />

Universität Marburg (1988-1994); Promotion über<br />

Biografi en von <strong>Frauen</strong> in Führungspositionen<br />

(1997); Abteilungsleiterin im Sozialwesen und in<br />

der Personalentwicklung (1995-2002); <strong>Frauen</strong>beauftragte<br />

(1998-2000) im Betrieb für Beschäftigungsförderung,<br />

Leipzig.<br />

Ihr Buch „Karrierestrategien für freche <strong>Frauen</strong>“ ist<br />

im Wirtschaftverlag Redline erschienen.<br />

Sie war Führungskraft in der Wirtschaft und arbeitet<br />

als Coach und systemische Beraterin in eigener<br />

Praxis.<br />

Haben auch Sie Interesse an einem Karrieretraining teilzunehmen?<br />

Dann melden Sie sich im <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

bei Frau Groß unter der Telefonnummer: 0551 / 39-9785<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 27


Foto: S. Muigg-Lange<br />

Nachrichten<br />

Das Leben ist kein Arztroman –<br />

wir in der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> wissen das, obwohl<br />

wir Arztromane in unserem Kiosk verkaufen und<br />

die Leserinnen und Leser damit in eine rosarote Klinik-<br />

Kitschwelt entführen. Das wirklich wahre Leben in einem<br />

Krankenhaus sieht ganz anders aus. Es kann ganz<br />

schön stressig sein. Viele von uns befi nden sich in einem<br />

regelrechten Dauerlauf. Aber die Arbeit ist spannend und<br />

abwechslungsreich, obwohl sie hektisch ist und auch belastend<br />

sein kann. Wie es ist, in einem großen Krankenhaus<br />

zu arbeiten, das vermittelte der vom <strong>Frauen</strong>- und<br />

Gleichstellungsbüro organisierte Girls’ Day in der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> am 26.04.2007. Unser Dank<br />

gilt den zahlreichen Abteilungen, die bereit waren, den<br />

Schülerinnen und Schülern einen Einblick in das wirklich<br />

wahre Leben zu ermöglichen – jenseits von einem<br />

rosaroten Arztroman.<br />

28<br />

Girls’ Day 2007 an der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

Silke Groß (Assistentin) und Inken Köhler (Gleichstellungsbeauftragte)<br />

mit einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern.<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Foto rechts:S. Muigg-Lange<br />

„In voller Montur“<br />

Foto links: S. Muigg-Lange<br />

Im GMP-Labor<br />

(Abt. Transfusionsmedizin)<br />

Foto: S. Muigg-Lange<br />

Im GMP-Labor beim Ausschleussen (Abt. Transfusionsmedizin)<br />

Jahrestagung der Kommission Klinika 2007<br />

Vom 21. bis 23. Juni 2007 tagte die Kommission Klinika der Bundeskonferenz der <strong>Frauen</strong>-<br />

und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (BuKoF). Treffpunkt war in diesem Jahr die<br />

<strong>Medizin</strong>ische Hochschule Hannover (MHH). Zentrale Themen der Tagung waren die Familienfreundlichkeit<br />

an Universitätskliniken, die Gender-<strong>Medizin</strong>, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz<br />

(AGG) und die Präsentation erster Ergebnisse aus einer bundesweiten<br />

Umfrage zu Chancengleichheit an <strong>Medizin</strong>ischen Fakultäten und Universitätsklinika, bei<br />

der die <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> den ersten Platz belegt hat.


Vom 17. bis 18. September 2007 fand in Bad Boll die<br />

Jahrestagung der Bundeskonferenz der <strong>Frauen</strong>beauftragten<br />

und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen<br />

(BuKoF) statt. Die Tagung stand unter dem Thema „Geschlechtergleichstellung,<br />

Anti-Diskriminierung, Diversity“.<br />

Es wurden die vielfältigen Berührungspunkte der<br />

Gleichstellungspolitik zu Antidiskriminierungs- und Management-Diversity-Ansätzen<br />

beleuchtet. Durch ein besseres<br />

Verständnis der unterschiedlichen Konzepte und<br />

durch mehr Klarheit über die praktischen Erfahrungen in<br />

ihrer Umsetzung ergab sich auch die Frage ihrer mög-<br />

Jahrestagung der BuKoF 2007<br />

Nachrichten<br />

lichen Übertragung an die Hochschulen. Ein wichtiger<br />

Bezugspunkt in der Diskussion waren die Auseinandersetzung<br />

mit dem Thema sexualisierte Diskriminierung<br />

und Gewalt an Hochschulen und das Zusammenwirken<br />

mehrerer Diskriminierungsformen. Auf der Jahresversammlung<br />

der BuKoF fanden Wahlen zum Vorstand statt<br />

– dieser besteht aus: Dr. Edit Kirsch-Auwärter (Georg-August-Universität<br />

<strong>Göttingen</strong>), Dr. Marianne Kriszio (Humboldt-Universität<br />

zu Berlin), Katrin Molge (FH Lübeck),<br />

Heidemarie Wüst (Technische FH Berlin) und Dr. Ute<br />

Zimmermann (Universität Dortmund).<br />

„Ohne Glanz und Glamour“<br />

Ausstellung zu Prostitution und <strong>Frauen</strong>handel<br />

„Ohne Glanz und Glamour –<br />

Prostitution und <strong>Frauen</strong>handel im Zeitalter der Globalisierung“<br />

lautet der Titel einer Ausstellung von<br />

Terre des Femmes, die in der Zeit vom 19. November<br />

bis 3. Dezember 2007 im Foyer des Universitätsklinikums<br />

zu sehen war. Die Ausstellung „Ohne Glanz<br />

und Glamour“ ist die zweite in der von der Gleichstellungsbeauftragten<br />

angestoßenen Reihe zum Thema<br />

„Gewalt gegen <strong>Frauen</strong>“. Die Gleichstellungsbeauftragte<br />

und der Vorstand der <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> setzen damit ein Zeichen gegen Gewalt an<br />

<strong>Frauen</strong>. Gerade in einer Klinik werden wir tagtäglich<br />

mit dem Thema Gewalt konfrontiert. Gewalt ist die<br />

häufi gste Ursache für Verletzungen bei <strong>Frauen</strong>. Rund<br />

ein Viertel aller <strong>Frauen</strong> in Deutschland hat bereits<br />

körperliche oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft<br />

erlebt. Dies belegen Statistiken der Menschenrechtsorganisation<br />

Terre des Femmes e.V.<br />

Poster der Ausstellung:<br />

„Ohne Glanz und Glamour“<br />

Ausstellung im Klinikum (Westhalle)<br />

Vom 19.11. bis 03.12.2007 ist<br />

in der Westhalle des Klinikums die Ausstellung<br />

„Ohne Glanz und Glamour –<br />

Prostitution und <strong>Frauen</strong>handel im Zeitalter der Globalisierung“<br />

zu besichtigen.<br />

Wir freuen uns auf Ihren Besuch!<br />

------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------<br />

Die Ausstellung wird Ihnen präsentiert vom<br />

<strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro der<br />

<strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong>.<br />

Ausstellung im Klinikum (Westhalle)<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 29


Nachrichten<br />

Internationaler Gedenktag „Nein zu Gewalt an <strong>Frauen</strong>“<br />

Die diesjährige Jahrestagung der Landeskonferenz<br />

Niedersächsischer Hochschulfrauenbeauftragter (LNHF)<br />

fand am 5. und 6. März an der Technischen Universität<br />

Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig statt. Unter<br />

der Überschrift „Möglichkeiten und Grenzen von<br />

Steuerungsinstrumenten für die Gleichstellungspolitik“<br />

wurden das Gender-Controlling, Lust und Frust bei der<br />

Erstellung und Umsetzung von Gleichstellungsplänen<br />

sowie die Bedeutung von Gender-Sensibilisierung und<br />

Gender-Trainings diskutiert. Besonderen Raum nahm<br />

Karrieretraining<br />

30<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Ebenfalls im November 2007 beteiligte sich die <strong>Universitätsmedizin</strong><br />

<strong>Göttingen</strong> auf Initiative der Gleichstellungsbeauftragten<br />

erneut am Internationalen Gedenktag „Nein<br />

zu Gewalt am <strong>Frauen</strong>“. Dieser Tag wird jährlich am 25.<br />

November begangen. Die Menschenrechtsorganisation<br />

Terre des Femmes hat anlässlich des Gedenktags die Fahnenaktion<br />

„Nein zu Gewalt an <strong>Frauen</strong>“ ins Leben gerufen,<br />

an der sich die <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> regelmäßig<br />

beteiligt. Achten Sie auf die Fahne, die im November an der<br />

Auffahrt zum Westeingang weht.<br />

Foto: Pö<br />

Beim Hissen der Fahne<br />

Girls’ Day 2008 an der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

Auch in 2008 hat das <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

wieder die Federführung bei der Organisation des Girls’<br />

Day übernommen und zahlreiche Mädchen und Jungen<br />

zu einem Schnuppertag in die unterschiedlichsten<br />

Arbeitsbereiche unserer Klinik vermittelt. Zusätzlich zu<br />

dieser Aufgabe hat das <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

in 2008 auch selbst die Betreuung einer Gruppe von<br />

Jahrestagung der LNHF 2008<br />

die landesweite Dialoginitiative „Gleichstellung und<br />

Qualitätsmanagement“ der LNHF in Zusammenarbeit mit<br />

der Landeshochschulkonferenz und dem Ministerium für<br />

Wissenschaft und Kultur Niedersachsen ein. Darüber<br />

hinaus fanden Vorstandswahlen statt – der neue<br />

Vorstand, der für eine Periode von zwei Jahren amtiert,<br />

besteht aus Brigitte Doetsch (Technische Universität<br />

Braunschweig), Brigitte Just (Fachhochschule<br />

Hannover) und Dr. Edit Kirsch-Auwärter (Universität<br />

<strong>Göttingen</strong>).<br />

Für <strong>Frauen</strong> mit Führungsaufgaben und für <strong>Frauen</strong>, die Führungsaufgaben<br />

übernehmen wollen, bot das <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro am 29.02. und<br />

01.03.2008 ein Karrieretraining an. Ursprünglich von der Freiburger Ärzte<br />

Consulting speziell für Ärztinnen entwickelt, wurde das Seminar von den<br />

Referentinnen Prof. Dr. Gabriele Kaczmarczyk und Dr. Ulrike Ley auch für nicht im ärztlichen Bereich tätige <strong>Frauen</strong><br />

geöffnet. Lesen Sie dazu auch den Bericht von Sabine Wöhlke (auf Seite 26-27) in dieser Ausgabe.<br />

Neugierigen übernommen, die nicht nur eine bestimmte<br />

Abteilung, sondern gleich das ganze Haus kennen lernen<br />

wollten. So wurde eine große Führung organisiert, die<br />

durch das UBFT-Gebäude (inklusive Hubschrauber-Landeplatz<br />

und Hubschrauber-Besichtigung), die Wäscherei<br />

und die Wissenschaftlichen Werkstätten führte.


Augezeichnet<br />

Internationaler <strong>Frauen</strong>tag 2008<br />

Nachrichten<br />

Anlässlich des Internationalen <strong>Frauen</strong>tages am 8. März präsentierte das <strong>Frauen</strong>- und<br />

Gleichstellungsbüro seine Arbeit in diesem Jahr in Kooperation mit dem Personalrat.<br />

Dazu hatten wir in der Westhalle mehrere Tische und Stellwände mit Informationsmaterialien<br />

aufgebaut. Die dargestellten und diskutierten Themen reichten<br />

von Karrieretipps für <strong>Frauen</strong> über Kinderbetreuungsmöglichkeiten und die Frage<br />

der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bis zu Konfl ikten am Arbeitsplatz. Ein besonderes<br />

Bonbon in diesem Jahr: Das <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro spendierte<br />

<strong>Frauen</strong> eine kostenlose Nackenmassage. Der Internationale <strong>Frauen</strong>tag machte damit<br />

aber auch darauf aufmerksam, dass Zeitdruck, Personalabbau und Konfl ikte<br />

am Arbeitsplatz eine enorme Stressbelastung bedeuten, die zu Verspannungen,<br />

Kopfschmerzen und Schlafstörungen führen können.<br />

Foto: Silke Groß<br />

Zum Internationlem <strong>Frauen</strong>tag eine kostenlose Massage<br />

Die <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> belegt unter allen deutschen <strong>Medizin</strong>ischen Fakultäten und Universitätsklinika<br />

den ersten Platz bei der Verwirklichung von Chancengleichheit. Dies ergab eine Befragung im<br />

Auftrag der Kommission Klinika der Bundeskonferenz der <strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen,<br />

an der sich 29 <strong>Medizin</strong>ische Fakultäten und Universitätsklinika beteiligten. Besonders gut schneidet<br />

die <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> bei der Förderung von Wissenschaftlerinnen, dem Anteil von <strong>Frauen</strong> in<br />

der Forschung und bei der Kinderbetreuung ab. Solche Auszeichnungen sind immer ein Grund zur Freude.<br />

Aber sie bedeuten natürlich nicht, dass alles perfekt ist und wir die Hände in den Schoß legen können. Denn<br />

mit unseren 163 von 242 Punkten haben wir als beste Einrichtung trotzdem erst 67 Prozent der Gesamtpunktzahl<br />

erreicht. Wir werden also weiter an der Umsetzung des Gleichstellungsauftrags arbeiten und sind auch<br />

weiterhin dankbar für Hinweise darauf, wo der Schuh drückt. Der Weg nach oben ist offen.<br />

Total E-Quality Prädikat<br />

Foto: Total E-Quality<br />

Deutschland e.V.<br />

„Bei der Preisverleihung<br />

am 28.05.2008 in Berlin.“<br />

Die <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> wurde am 28. Mai 2008 in Berlin erneut mit dem Total E-Quality<br />

Prädikat ausgezeichnet. Sie ist damit zum dritten Mal Prädikatsträgerin. Die Auszeichnung gilt<br />

immer für drei Jahre. Die Jury konnte sich davon überzeugen, dass signifi kante Verbesserungen<br />

in den Aktionsfeldern erreicht und gleichstellungspolitische Maßnahmen erweitert und verstetigt<br />

werden konnten. Besonders herausragende Leistungen wurden in den Bereichen Karriere- und<br />

Personalentwicklung und Planungs- und Steuerungsinstrumente in der Organisationsentwicklung<br />

erreicht. Besonders hervorgehoben werden in der Beurteilung das Mentoring-Programm,<br />

das Heidenreich von Siebold-Programm zur gezielten Förderung von Habilitandinnen sowie die<br />

Integration von Gleichstellungsaspekten in monetäre und strukturelle Steuerungsinstrumente, Zielvereinbarungen<br />

und Entwicklungspläne. Als besonders innovativ wird das Konzept der fakultätsinternen Forschungsförderung bewertet,<br />

das vorsieht, dass der zur Verfügung stehende Etat zu mindestens 50 Prozent an <strong>Frauen</strong> ausgeschüttet wird.<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 31


Foto: Inken Köhler<br />

Zur guter Letzt<br />

Einerseits – Andrerseits<br />

Echte Kerle: Ein bisschen von Schiller –<br />

aber auch von Alice<br />

32<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Mal ehrlich, liebe Mitfrau,<br />

möchten Sie ein Mann sein?<br />

Und Sie, lieber Mitmann, sind<br />

Sie froh, ein Mann zu sein?<br />

Also ehrlich, ich wollte bislang<br />

niemals ein Mann sein.<br />

Warum sollte ich das so einfach<br />

strukturierte Leben einer<br />

Frau gegen ein Getriebensein<br />

von Konkurrenz, Kampf und<br />

Testosteron eintauschen?<br />

Ich lernte das Gruseln vor<br />

diesem Lebensentwurf im<br />

Deutschunterricht bei Schiller:<br />

Den schlechten Mann muss man verachten,<br />

Der nie bedacht, was er vollbringt.<br />

Das ist’s ja, was den Menschen zieret,<br />

Und dazu ward ihm der Verstand,<br />

Dass er im innern Herzen spüret,<br />

Was er erschafft mit seiner Hand.<br />

…<br />

Er stürmt ins Leben wild hinaus,<br />

Durchmisst die Welt am Wanderstabe …<br />

(wahlweise C-Klasse oder Porsche)<br />

Für mich war klar: Frühe Heirat – keine alte Jungfer werden.<br />

Gezielte Blicke auf Erfolg versprechenden Partner, Libido<br />

ankurbeln und siehe da:<br />

Wie ein Gebild aus Himmelshöhn,<br />

Mit züchtigen, verschämten Wangen<br />

Sieht er die Jungfrau vor sich stehn.<br />

Da fasst ein namenloses Sehnen<br />

Des Jünglings Herz, er irrt allein …<br />

Errötend folgt er ihren Spuren …<br />

Am Ende: „Häusle baue und net nach de Mädle schaue“<br />

hieß es für ihn. Für mich war der Auftrag unmissverständlich:<br />

Den Haushalt in Ordnung halten, Hab und<br />

Gut mehren, Kinder gut erziehen, keine Experimente.<br />

Bei Schiller klingt das so:<br />

Und drinnen waltet<br />

Die züchtige Hausfrau,<br />

Die Mutter der Kinder,<br />

Und herrschet weise<br />

Im häuslichen Kreise,<br />

Und lehret die Mädchen<br />

Und wehret den Knaben,<br />

Und reget ohn Ende<br />

Die fl eißigen Hände,<br />

Und mehrt den Gewinn<br />

Mit ordnendem Sinn.<br />

Carmen Franz<br />

Aber auch Dichter sind zuweilen Realisten und<br />

warnten:<br />

Drum prüfe, wer sich ewig bindet,<br />

Ob sich das Herz zum Herzen fi ndet!<br />

Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang.<br />

…<br />

Mit dem Gürtel, mit dem Schleier<br />

Reißt der schöne Wahn entzwei.<br />

Die Leidenschaft fl ieht! …<br />

Affären kommen, das dürfen wir heute aussprechen.<br />

Chefs richten dazu Sonderkonten ein. Bis<br />

zum Genuss dieser Gratifi kation, mussten meine<br />

gleichaltrigen Kameraden schon im Kindergarten<br />

fürs Leben lernen:<br />

Der Mann muss hinaus<br />

Ins feindliche Leben,<br />

Muss wirken und streben<br />

Und pfl anzen und schaffen,<br />

Erlisten, erraffen,<br />

Muss wetten und wagen<br />

Das Glück zu erjagen…<br />

Ein Junge weint nicht, ein Indianer kennt keinen<br />

Schmerz, wehr dich, beiß die Zähne zusammen.<br />

Nicht nur Sprüche, bittere Realität. Mach Mami<br />

keine Schande. Dem Papi nacheifern, besser noch<br />

ihn übertrumpfen und ihm die Trophäen zu Füßen<br />

legen. Im Western, dem <strong>Männer</strong>epos schlechthin,<br />

haucht der sterbende Held in der Regel einen letzten<br />

Satz: „Sag Daddy, ich habe es geschafft.“<br />

Arme kleine Jungs.


Doch mit des Geschickes Mächten<br />

Ist kein ewger Bund zu fl echten,<br />

Und das Unglück schreitet schnell …<br />

Ihr Leidensweg ist nicht zu Ende. Ein ganzer Kerl reicht<br />

nicht mehr, die Melange ist gefragt. Ein bisschen Softimix<br />

zum Macho. Kaffeelatte zum Schmusen mit Empathie.<br />

Bocuse am heimischen Herd kocht Breichen fürs Baby,<br />

der andere Molekulares für erfolgreiche Freunde der Gattin.<br />

Die hat sich in der Zwischenzeit vom trautem Heim<br />

entfernt und sich in ein anderes Zeitalter begeben. Sicher<br />

hat sie auch hier noch mit mumifi zierten <strong>Männer</strong>hirnen<br />

zu tun, aber selbst in der <strong>Männer</strong>bastion <strong>Medizin</strong> werden<br />

schon <strong>Frauen</strong> toleriert, die wissen wo’s lang geht.<br />

Mädchen haben eben schon lange die besseren Zensuren.<br />

Und sollte Intelligenz statt Muskelstärke gefragt sein,<br />

dann kann Mann sie nicht mehr übergehen. Schiller sah<br />

das mit Schrecken:<br />

Freiheit und Gleichheit! hört man schallen,<br />

Der ruhige Bürger greift zur Wehr,<br />

Die Straßen füllen sich, die Hallen,<br />

Und Würgerbanden ziehn umher,<br />

Da werden Weiber zu Hyänen<br />

Und treiben mit Entsetzen Scherz,<br />

Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen,<br />

Zerreißen sie des Feindes Herz …<br />

Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />

Zur guter Letzt<br />

Ja, so kann es kommen. Auch mich ergriff der Achtundsechzigersturm,<br />

zerfl eischen war mir zu ekelig,<br />

an die Gurgel wäre ich allerdings so manchem gerne<br />

gegangen. Aber nicht alle <strong>Frauen</strong> fl etschen die Zähne<br />

und neben den aufgeplusterten Heldensöhnen gibt<br />

es auch zu Herzen gehende Verlierergeschichten.<br />

Kennen Sie die Ballade von ALICE? Da wohnt einer<br />

24 Jahre lang neben einer Frau, traut sich nicht, sie<br />

anzusprechen und als sie endlich auszieht, stellt er<br />

nur bedauernd fest:<br />

I don’t know why she’s leaving,<br />

or where she’s gonna go,<br />

I guess she’s got her reasons<br />

but I just don’t wanna know,<br />

‘Cause for twenty-four years I’ve been living<br />

next door to Alice.<br />

Twenty-four years, just waitin’ for a chance,<br />

To tell her how I’m feeling,<br />

maybe get a second glance,<br />

Now I’ve gotta get used to not living<br />

next door to Alice.<br />

Einerseits denke ich, Alice kann froh sein, dass nichts<br />

aus ihnen geworden ist, der hätte wahrscheinlich<br />

auch anderes nicht zu Potte gebracht. Andrerseits<br />

denke ich, jeder kleine Junge verdient eine zweite<br />

Chance!<br />

Textauszüge aus:<br />

„Das Lied von der Glocke“ von Friedrich Schiller<br />

„Living next door to Alice” von Smokie<br />

wir freuen uns weiterhin über Rückmeldungen, Anregungen, Wünsche<br />

und Kritik und natürlich auch LeserInnen-Briefe!<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008 33


34<br />

Aktionen der Gleichstellungsbeauftragten<br />

Wer sucht,<br />

soll auch<br />

finden.<br />

Einsatz<br />

für Kinderbetreuung<br />

Girls‘<br />

Day<br />

Mit freundlicher Unterstützung vieler Abteilungen<br />

organisiert das Gleichstellungsbüro jedes Jahr den<br />

Girls‘ Day. Hierzu sind auch Jungen willkommen.<br />

Die Gleichstellungsbeauftragte<br />

gibt seit 1999 eine eigene<br />

Zeitschrift heraus – Georgia.<br />

Sie erscheint einmal pro Jahr.<br />

Vernetzung<br />

Kinderbetreuung<br />

Die Gleichstellungsbeauftragte setzt sich für<br />

eine umfassende Kinderbetreuung ein (auch<br />

für die ganz Kleinen) – unabhängig davon, ob<br />

die Eltern z.B. in der Wissenschaft, der Pflege<br />

oder in der Verwaltung tätig sind. Sowohl<br />

Mütter als auch Väter sollen in der Lage sein,<br />

Beruf/ Ausbildung und Familienverantwortung<br />

unter einen Hut zu bringen.<br />

Vernetzung mit anderen Gleichstellungsbeauftragten<br />

an Universitätskliniken findet in der Kommission<br />

Klinika der Bundeskonferenz der <strong>Frauen</strong>- und<br />

Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen statt.<br />

Georgia Nr. 9 – Sommer 2008<br />

Chancengleichheit<br />

Georgia<br />

Ziel der Gleichstellungspolitik ist<br />

es unter anderem, <strong>Frauen</strong> die<br />

gleichen Karrierechancen zu<br />

ermöglichen wie <strong>Männer</strong>n und<br />

ihren Anteil an den Habilitationen<br />

und Professuren zu erhöhen. Hier<br />

setzt das Mentoring-Programm<br />

des Gleichstellungsbüros an. Es<br />

vermittelt eine individuelle Betreuung<br />

und bietet ein attraktives<br />

Schulungsprogramm.<br />

? !!<br />

Beratung<br />

… z.B. bei Problemen am Arbeitsplatz,<br />

bei Karrierefragen, in Fällen sexueller<br />

Belästigung, …<br />

Inken Köhler – Gleichstellungsbeauftragte<br />

<strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong> – Georg-August-Universität<br />

Tel.: 0551/ 39-9785 Email: frauenbuero@med.uni-goettingen.de<br />

Nein zu<br />

Gewalt<br />

Jede vierte Frau in Deutschland wird in<br />

ihrem Leben Opfer von körperlicher<br />

oder sexueller Gewalt im häuslichen<br />

Kontext. Laut Aussage der Menschenrechtsorganisation<br />

Terre des Femmes<br />

e.V. ist häusliche Gewalt „die häufigste<br />

Ursache für Verletzungen bei <strong>Frauen</strong>,<br />

häufiger als Verkehrsunfälle, Überfälle<br />

und Vergewaltigungen zusammen<br />

genommen.“ Mit Ausstellungen zum<br />

Thema „Gewalt gegen <strong>Frauen</strong>“ und mit der jährlichen<br />

Beteiligung an der bundesweiten Fahnenaktion „Nein<br />

zu Gewalt an <strong>Frauen</strong>“ machen wir darauf aufmerksam.<br />

Ein Blick zurück auf 2007<br />

Posteraktion der Gleichstellungsbeauftagten


Ja, ich möchte mein persönliches Exemplar der jeweils<br />

neuesten Ausgabe der Georgia zugeschickt bekommen!<br />

Meine Adresse lautet:<br />

Vorname/Name: __________________________________________________________<br />

Abteilung: _________________________________________________________________<br />

Straße: _________________________________________________________________<br />

PLZ/Ort: _______________________________________________________________<br />

Senden Sie uns diese Seite ausgefüllt zu, und wir nehmen Sie in unseren<br />

Verteiler auf.<br />

Unsere Adresse lautet:<br />

An das<br />

<strong>Frauen</strong>- und Gleichstellungsbüro<br />

der <strong>Universitätsmedizin</strong> <strong>Göttingen</strong><br />

Georg-August-Universität<br />

TL 183<br />

Robert-Koch-Straße 40<br />

37075 <strong>Göttingen</strong><br />

Inhalt


<strong>Frauen</strong>- und<br />

Gleichstellungsbüro

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