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<strong>Inhalt</strong> <strong>dieses</strong> <strong>Heftes</strong><br />
Aufsätze<br />
Rohe, Mathias, Muslimische Identität und Recht in Kanada . . . . 459–512<br />
Summary: Muslim Identity and the Law in Canada . . . . . . 512<br />
Grechenig, Kristoffel, und Martin Gelter, Divergente Evolution<br />
des Rechtsdenkens – Von amerikanischer Rechtsökonomie<br />
und deutscher Dogmatik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513–561<br />
Summary: The Divergent Evolution of Legal Thought – Law<br />
and Economics in the USA and German Legal Theory . . . . . 560<br />
Meyer, Olaf, Die privatautonome Abbedingung der vorvertraglichen<br />
Abreden – Integrationsklauseln im internationalen Wirtschaftsverkehr<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562–600<br />
Summary: Private Autonomy and the Exclusion of Pre-Contractual<br />
Negotiations – Integration Clauses in International<br />
Commerce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600<br />
Oyarzábal, Mario J. A., Das Internationale Privatrecht von Werner<br />
Goldschmidt: In Memoriam . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601–619<br />
Summary: Werner Goldschmidt’s Private International Law: In<br />
Memoriam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618<br />
Literatur<br />
I. Buchbesprechungen<br />
Mestmäcker, Ernst-Joachim: Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen<br />
Union. 2. Aufl . Baden-Baden 2006 (Karl Riesenhuber)<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620–621<br />
Francq, Stéphanie: L’applicabilité du droit communautaire dérivé au<br />
regard des méthodes du droit international privé. Bruxelles 2005<br />
(Giesela Rühl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621–626<br />
Pontier, Jannet A./Edwige Burg: EU Principles on Jurisdiction and Recognition<br />
and Enforcement of Judgments in Civil and Commercial<br />
Matters According to the Case Law of the European Court<br />
of Justice (Paul Oberhammer) . . . . . . . . . . . . . . . . 627–630
II inhalt <strong>dieses</strong> heftes RabelsZ<br />
Reithmann, Christoph/Dieter Martiny (Hrsg.), Internationales Vertragsrecht.<br />
Bearb. von Carsten Dageförde u. a. 6. Aufl . Köln 2004<br />
(Ansgar Staudinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630–637<br />
Schärtl, Christoph: Das Spiegelbildprinzip im Rechtsverkehr mit ausländischen<br />
Staatenverbindungen. Tübingen 2005 (Anatol<br />
Dutta) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637–643<br />
Bösch, Harald: Liechtensteinisches Stiftungsrecht. Bern usw. 2005<br />
(Thomas v. Hippel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643–651<br />
Choosing Genes for Future Children. Dunedin, N. Z. 2006 (Erwin<br />
Deutsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651–652<br />
Watson, Alan: The Shame of American Legal Education. Belgrad<br />
2005 (Viktor Winkler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652–656<br />
Sunstein, Cass R.: Laws of Fear. Cambridge 2005 (Indra Spiecker<br />
genannt Döhmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656–659<br />
II. Eingegangene Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . 659–660<br />
Mitarbeiter <strong>dieses</strong> <strong>Heftes</strong> . . . . . . . . . . . . . . . 660–661
Muslimische Identität und Recht in Kanada<br />
Von Mathias Rohe, Erlangen *<br />
<strong>Inhalt</strong>sübersicht<br />
A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
B. Der rechtliche Rahmen für Anwendung islamrechtlicher Normen<br />
459<br />
in Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467<br />
I. Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467<br />
II. Bereiche der Anwendung islamischer Normen . . . . . . . . . . . . 469<br />
1. Kollisionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469<br />
2. Dispositives Sachrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470<br />
3. Religiöses Schiedswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474<br />
a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
b) Islamische Schiedsgerichtsbarkeit (»Islamic Sharia Courts«,<br />
474<br />
Islamic arbitration) in Ontario . . . . . . . . . . . . . . . 475<br />
c) Die Debatte in Québec . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499<br />
III. Zwischenergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
C. Muslimische Identität und säkularer Rechtsstaat:<br />
499<br />
Gegensatz oder Synthese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507<br />
Summary: Muslim Identity and the Law in Canada . . . . . . . . . . . . 512<br />
A. Einführung<br />
Kanada ist ein klassisches Einwanderungsland. Unter seinen ca. 33 Millionen<br />
Staatsangehörigen fi nden sich ca. 600.000 Muslime 1 , meist mit Migra-<br />
* Abgekürzt werden zitiert: Natasha Bakht, Were Muslim Barbarians Really Knocking On<br />
the Gates of Ontario?, The Religious Arbitration Controversy, Another Perspective: Ottawa<br />
L.Rev. (voraussichtlich: 39 [2007/08]); Marion Boyd, Dispute Resolution in Family Law: Protecting<br />
Choice, Promoting Inclusion, (December 2004), ; Raja G. Khouri, Arabs in Canada – Post 9/11 (Toronto 2003); Mubarak Ali,<br />
The Muslim Handbook (Toronto 2001); Syed Mumtaz Ali in: Interview, A review of the Muslim<br />
Personal Family Law Campaign, (Rabia Mills), fi rst published August 1995, . Die angegebenen Internetadressen wurden – wo nichts anderes<br />
vermerkt ist – im Jahre 2006 abgerufen. Die zitierten Werke muslimischer Autoren<br />
wurden alle in Kanada in Moscheen und islamischen Buchhandlungen erworben.<br />
1 Laut Volkszählung von 2001 lebten 579.640 Muslime in Kanada (mehr als doppelt so<br />
RabelsZ Bd. 72 (2008) S. 459–512<br />
© 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0033-7250
460 mathias rohe RabelsZ<br />
tionshintergrund vom indischen Subkontinent und Ostafrika, in geringerer<br />
Zahl auch aus dem Nahen Osten, der früheren Sowjetunion und dem<br />
früheren Jugoslawien. 2 Neben der Mehrzahl sunnitischer Muslime unterschiedlicher<br />
Richtungen fi ndet sich ein starker, auf 1/3 geschätzter Anteil<br />
von Schiiten unterschiedlicher Denominationen. 3<br />
Die kanadische Gesellschaft versteht sich explizit als multikulturell. 4 Dies<br />
ist sogar in der kanadischen Verfassung festgeschrieben: s. 27 der Charter of<br />
Rights and Freedoms verlangt eine Interpretation der Verfassungsbestimmungen<br />
»in a manner consistent with the preservation and enhancement of<br />
the multicultural heritage of Canadians«. Im einstimmig verabschiedeten<br />
Multiculturalism Act vom 21. 7. 1988 heißt es in s. 3 (1): »It is hereby declared<br />
to be the policy of the Government of Canada to (a) recognize and<br />
promote the understanding that multiculturalism refl ects the cultural and<br />
racial diversity of Canadian society and acknowledges the freedom of all<br />
members of Canadian society to preserve, enhance and share their cultural<br />
heritage; (b) recognize and promote the understanding that multiculturalism<br />
is a fundamental characteristic of the Canadian heritage and identity and<br />
that it provides an invaluable resource in the shaping of Canada’s future.« In<br />
einem Urteil aus jüngerer Zeit 5 beschrieb der Supreme Court Kanada als »a<br />
multiethnic and multicultural country [. . .], which accentuates and advertises<br />
its modern record of respecting cultural diversity and human rights and<br />
of promoting tolerance of religious and ethnic minorities – and is in many<br />
ways an example thereof for other societies [. . .]«.<br />
Auch Rechtspluralismus zählt zu den Eigenheiten Kanadas: Englisches<br />
und französisches Rechtserbe stehen seit dem 18. Jahrhundert nebeneinander,<br />
hinzu treten Rechtsordnungen und gruppenspezifi sche Rechte der Ureinwohner<br />
( fi rst nations). 6 Chief Justice Beverley McLachlin sprach im Jahre<br />
viele wie 1991), darunter 352.500 in Ontario; vgl. die Daten unter , (Zahl für Ontario unter<br />
derselben Adresse, aber »code=35&Table«).<br />
2 Vgl. den Überblick bei Amir Hussain, Muslims in Canada, Opportunities and Challenges:<br />
Studies in Religion 33/3–4 (2004) 359 (361).<br />
3 Vgl. die Angaben bei Amir Hussain (vorige Note) 362, 364.<br />
4 Vgl. die Übersicht bei Philip Resnick, The European Roots of Canadian Identity (Peterborough<br />
u. a. 2005) 57 ff. mit weiteren Nachweisen; grundlegend Will Kymlicka, Multicultural<br />
Citizenship, A Liberal Theory of Minority Rights (Oxford 1995); ders., Finding Our Way,<br />
Rethinking Ethnocultural Relations in Canada (Oxford 1998; Reprint 2004).<br />
5 Syndicat Northcrest v. Amselem, [2004] 2 S. C. R. 551, 595 f.<br />
6 Vgl. hierzu nur das Sammelwerk: Canada’s Legal Inheritances, hrsg. von DeLloyd J.<br />
Guth/W. Wesley Pue (Winnipeg 2001); Serge Rouselle, La diversité culturelle et le droit des<br />
minorités, Une histoire de développement durable (Québec 2006).
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
461<br />
2003 vom Stolz auf das kanadische »encouraging and nourishing the identity<br />
of the other, and celebrating the gifts of difference«. 7<br />
Bis vor wenigen Jahren war die Präsenz von Muslimen in der kanadischen<br />
Gesellschaft weitgehend eine Selbstverständlichkeit, die keine breiteren öffentlichen<br />
Diskussionen ausgelöst hat. Die zahlenmäßig breitere Immigration<br />
von Muslimen ist noch recht jungen Datums (nach der Volkszählung<br />
1981 lebten 89.165 Muslime in Kanada, nach der Volkszählung 1970 nur<br />
33.370 8 ). Seit dem 11. 9. 2001 hat auch in Kanada der islamistische Extremismus<br />
breite Debatten entfacht. 9 Ein kanadisches Spezifi kum waren die<br />
Diskussionen über die Etablierung islamischer Schiedsinstanzen in Ontario<br />
und Québec in Angelegenheiten des Familien- und Erbrechts seit dem Jahr<br />
2003. Die zum Teil äußerst scharf geführte, international beachtete Debatte<br />
hatte letztlich zum Ergebnis, dass die Schaffung spezieller rechtlicher<br />
Grundlagen für solche Schiedsinstanzen im Parlament von Québec einhellig<br />
abgelehnt (dazu unten B.II.3.c), und dass die hierfür bestehende rechtliche<br />
Grundlage in Ontario substantiell geändert wurde (dazu unten B.<br />
II.3.b). Laut einer Meinungsumfrage im Oktober 2005 sprachen sich fast<br />
2/3 der Kanadier gegen religiöses Schiedswesen in Familiensachen generell<br />
und ebenso viele speziell gegen ein derartiges muslimisches Schiedswesen<br />
aus. 10 Bemerkenswert war und ist, dass andere Religionsgemeinschaften,<br />
darunter auch die jüdische 11 und die isma’ilitisch-islamische 12 , ein solches<br />
7 Zitat bei Resnick (oben N. 4) 59 f. mit N. 76.<br />
8 Belege bei Amir Hussain (oben N. 2) 361.<br />
9 Vgl. nur den Überblick bei Steven Frank, Islam and Canada: Time Canada vom 28. 5.<br />
2005, , und den Bericht<br />
von Isabel Teotonio/Jessica Leeder, Jihadist generation: Toronto Star vom 10. 6. 2006,<br />
, und aus muslimischer Sicht Ahmad<br />
F. Yousif, The impact of 9/11 on Muslim identity in the Canadian national Capital Region,<br />
Institutional response and future prospects: Studies in Religion 34 (2005) 49 ff. sowie den<br />
faktenreichen Überblick bei Amir Hussain (oben N. 2).<br />
10 Norma Greenaway, 63 per cent oppose faith based arbitration: The Ottawa Citizen vom<br />
31. 10. 2005, ; in Ontario war die Ablehnung mit 68% am<br />
größten; vgl. auch Kymlicka, Finding Our Way (oben N. 4) 60 f. zur Ablehnung des talaq (einseitiges<br />
Scheidungsrecht des muslimischen Ehemannes) und anderen religiös-kulturellen Institutionen.<br />
11 Vgl. die Schilderung und die Stellungnahme jüdischer Repräsentanten im Bericht von<br />
Boyd 55 f. Bemerkenswert ist die Aussage des orthodoxen Rabbi Reuven Tradburks, wonach<br />
es selten Druck aus der Gemeinde gebe, die als religiöse Verpfl ichtung angesehene Anrufung<br />
der jüdischen Gerichtsbarkeit (Beis Din) zu erfüllen. Es komme aber doch gelegentlich vor,<br />
dass die Weigerung von Gemeindemitgliedern, den Entscheidungen des Beis Din zu folgen,<br />
publik gemacht werde.<br />
12 Sie wendet allerdings kanadisches Recht an; besondere Anziehungspunkte sind in der<br />
vergleichsweise intimen und für kulturelle Zusammenhänge verständnisvollen Atmosphäre,
462 mathias rohe RabelsZ<br />
Schiedswesen schon länger etabliert hatten, ohne dass dies in der Öffentlichkeit<br />
zur Kenntnis genommen worden wäre.<br />
Seit der Festnahme von 17 mutmaßlichen islamistischen Extremisten in<br />
Ontario – fast alle gebürtige oder eingebürgerte Kanadier –, die der Planung<br />
von Terroranschlägen in Kanada verdächtigt werden, haben sich die Spannungen<br />
in der Öffentlichkeit verschärft; so wurden bei der größten Moschee<br />
in Toronto drei Dutzend Tür- und Fensterscheiben eingeworfen. 13<br />
Allerdings gibt es verbreitete Aufrufe zu Besonnenheit und Mäßigung. 14<br />
Weitere Spannungen haben sich über die öffentliche Diskussion um die<br />
Kriegsführung in Israel/Palästina und dem Libanon im Sommer 2006 entwickelt,<br />
nachdem der kanadische Ministerpräsident Harper eine uneingeschränkte<br />
Unterstützung der israelischen Maßnahmen kundgetan hat. 15<br />
Über die Religiosität unter Muslimen in Kanada und eventuell damit<br />
verbundene Identitätsbildung durch Anwendung islamischer Normen liegen<br />
keine Untersuchungen vor. Die Zahl der Aktivisten, die sich deutlich<br />
für eine Anwendung islamischer Rechtsnormen im kanadischen Kontext<br />
aussprechen, scheint insgesamt eher gering zu sein, während die Gegner<br />
eine Fülle von Organisationen mobilisiert haben. Immerhin hat aber eine<br />
breiter angelegte Befragung unter Kanadiern arabischer Herkunft in den<br />
Jahren 2001/2002 ergeben, dass sich fast 40% der befragten Muslime (aber<br />
nur ca. 15% der befragten Christen und ca. 25% der befragten Drusen) stärker<br />
über die Religion als über Arabertum, kanadische Staatsangehörigkeit<br />
oder anderes defi nieren. 16 Mehr als 1/3 der befragten Muslime beten 5-mal<br />
täglich 17 , immerhin über 20% geben an – gegen starken Widerspruch der<br />
Mehrheit der Befragten –, es sei schwer, in Kanada seine Religion auszu-<br />
adäquaten sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten sowie dem kostenlosen Zugang zu suchen;<br />
Informationen von Professor Natasha Bakht bei einem Gespräch in Ottawa am 14. 9.<br />
2006; vgl. auch den Bericht von Boyd 58 ff.<br />
13 Vgl. »Mosque vandalized« ( Jim Wilkes), Toronto Star vom 5. 6. 2006, .<br />
14 Vgl. nur die Berichte in: »Terror suspects’ treatment questioned by citizen group« (Harold<br />
Levy), Toronto Star vom 8. 6. 2006, .<br />
15 Vgl. »Lebanon terror hits home«, Toronto Star vom 17. 7. 2006, S. A 6; »Good politics<br />
now exposed as bad public policy, Harper has some big learning to do«, Toronto Star vom<br />
17. 7. 2006, S. A 7; »Harper refuses to budge« und »PM’s steadfastness a political gamble, The<br />
Globe and Mail vom 18. 7. 2006, S. A 1.<br />
16 Vgl. Khouri Appendix C, Table C1, S. 98: Auf die Feststellung »My religion defi nes who<br />
I am more than being Arab, Canadian or otherwise« antworteten 20,1% mit »strongly agree«<br />
und 19,5% mit »somewhat agree« (Christen 2,2% bzw. 13,3%, Drusen 16,7% bzw. 11,1%).<br />
17 Khouri Table C2, S. 98 (35,7%); nur 26,8% geben an, nie das Gebet auszuführen.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
463<br />
üben 18 . Über 40% aller Befragten 19 war der Überzeugung, dass Kanadier<br />
keine Muslime mögen 20 , und fast 85% bejahten die Aussage, dass die Kanadier<br />
Muslime für gewalttätig halten 21 . Zwischen 1/5 und fast 1/3 aller befragten<br />
Eltern gaben an, dass ihre Kinder sich »wie Kanadier« verhalten<br />
würden und sie sie nicht erreichen könnten. Sie hätten Töchter, die dieselben<br />
Freiheiten für sich in Anspruch nehmen wollten wie andere Kanadierinnen<br />
(z. B. Dating, auswärts Übernachten), sie ließen dies aber nicht zu.<br />
Ihre Kinder verstünden zumindest gelegentlich nicht, dass ihre Familie und<br />
die gesellschaftlichen Wertvorstellungen ihrer Eltern anders seien als die<br />
anderer Kanadier. Sie hätten ihre Kinder an die ihnen fremde kanadische<br />
Gesellschaft verloren. 22 Die Zahlenangaben aus der Befragung Jugendlicher<br />
(bis 30 Jahre), die mit ihren Eltern leben, liegen jeweils noch deutlich höher<br />
23 . Bei einem gut besuchten Workshop der International Muslims Organization<br />
of Toronto zu Fragen der Eheschließung von Muslimen 24 hat sich<br />
diese mögliche Konfl iktlage bestätigt. Hierbei hat sich auch gezeigt, dass<br />
viele Muslime, auch junge Menschen, sehr stark in einem Großfamilienkontext<br />
verwurzelt sind wie er den Lebensverhältnissen aus Herkunftsregionen<br />
wie dem indischen Subkontinent oder arabischen Staaten entspricht. Auch<br />
ist keineswegs ein einheitliches Bild der Verminderung religiösen Bewusstseins<br />
in der jüngeren Generation erkennbar. So berichten junge Musliminnen,<br />
die sich zum Tragen des Kopftuchs entschlossen haben, von Auseinandersetzungen<br />
mit ihren Eltern, die dies wegen vermuteter schlechterer Berufschancen<br />
ablehnen. 25 Nur am Rande sei erwähnt, dass die obengenannten<br />
mutmaßlichen islamistischen Extremisten offenbar aus meist nicht religiös<br />
orientierten Familien stammen. 26 Eine prominente Vertreterin einer musli-<br />
18 Khouri Table C 3, S. 98 (2,6% »strongly agree«, 18,1% »somewhat agree«; dagegen 51,6%<br />
»strongly disagree«).<br />
19 Ohne Aufschlüsselung nach Religionszugehörigkeit.<br />
20 Khouri Table 7, S. 24 (8,9% »strongly agree«, 32,4% »somewhat agree«, nur 11,7%<br />
»strongly disagree«).<br />
21 Khouri Table 7, S. 24 (43,5% »strongly agree«, 41,1% »somewhat agree«, nur 1,2%<br />
»strongly disagree«).<br />
22 Khouri S. 48, Angaben unter »Values clash« ohne Aufschlüsselung nach Religionszuge-<br />
hörigkeit.<br />
23 Khouri Table 43, S. 49 f., z. B. bei der Aussage: »I have a problem with my parents who<br />
cannot understand that their family and social values are out of place in this country«, die fast<br />
50% zumindest gelegentlich für zutreffend halten (9,3% »happens all the time«, 3,7% »happens<br />
frequently«, 35,2% »happens occasionally«).<br />
24 Abgehalten am 23. 7. 2006 in Toronto zu den Themen »Engagement in Islam, Maher,<br />
Wedding Arrangements, Cultural Marriages & Islamic Marriages, The Generation Gap«.<br />
Auch die Gesprächsatmosphäre zeigte bei aller Höfl ichkeit erhebliche Distanz zur Mehrheitsgesellschaft,<br />
wie sie sich in der lobend gemeinten Aussage eines Imams niederschlägt: »[. . .]<br />
frankly, there is not everything bad in the West.«<br />
25 Informationen bei einem Workshop am 23. 7. 2006 in Toronto (vorige Note).<br />
26 Vgl. »Behind the Toronto Terror Case, A clear guide led spies to suspects«, The Globe
464 mathias rohe RabelsZ<br />
mischen Frauenorganisation 27 hat berichtet, dass eine seit langem zunehmende,<br />
von »Petrodollars« unterstützte Tendenz zu beobachten sei, sich<br />
»identity markers« wie Kopftücher, lange Bärte, Vermeidung des Händedrucks<br />
als Begrüßung, möglichste Geschlechtersegregation etc. zuzulegen.<br />
Aus alledem ist nicht bei der Mehrheit, wohl aber bei einem signifi kanten<br />
Teil der Muslime zumindest ein deutliches Maß an Distanz gegenüber der<br />
kanadischen Gesellschaft und ihren Familien- und Gesellschaftswerten abzuleiten,<br />
das eine Hinwendung zu »eigenen« traditionellen Normen begünstigen<br />
kann. Paradigmatisch für solche Haltungen seien die (sicherlich allzu<br />
verallgemeinernden) Aussagen des früher an der McGill University in<br />
Montréal lehrenden Professors Syed Serajul Islam 28 zitiert. In ihnen scheinen<br />
die seit Jahrhunderten wiederholt formulierten 29 Urängste von Muslimen in<br />
nicht-islamischen Gesellschaften auf: »Muslims in the West in general, and<br />
in North America in particular, are now unanimous in their self-defi nition<br />
as Muslims vs non-Muslims. They all agree that they share a common be lief<br />
in the Qur’an and Sunnah. Muslims, upon arrival to Canada, encounter<br />
adjustment problems in language, culture and religion since they lose the<br />
identity of their country of origin. Islam provides an opportunity of macroidentity.<br />
[. . .] The identity crisis of the Muslims is enhanced by the hostility<br />
of the host culture. Faced with rejection Muslim immigrants seek an alternative<br />
integrating system for their lives. Under the situation, Islam is perceived<br />
to be the only integrating system. The Islamic identity guarantees the<br />
preservation of the family and protects the children from total integration<br />
into the Canadian culture. [. . .]« Im Folgenden warnt der Autor nachdrücklich<br />
vor den von ihm beklagten interreligiösen Ehen, die der Islam rechtlich<br />
und traditionell verbiete. 30 Er weist zudem auf die – erfolglose – Kampagne<br />
der Canadian Society of Muslims, Toronto, im Jahre 1991 hin, die kanadische<br />
Regierung zur Anerkennung des muslimischen Familienrechts als<br />
(optionale) Partikularrechtsordnung zu bewegen. 31 In diesem Zusammenhang<br />
soll der Auslöser solcher Initiativen nicht unerwähnt bleiben. Sie stehen<br />
offenbar im Zusammenhang mit einer im August 1991 in Washington<br />
and Mail vom 19. 8. 2006, S. 1 (4 f.). Einer der Verdächtigen sandte an ein mittlerweile geschlossenes<br />
Internet-Forum folgende Nachricht: »Parents’ anti-jihad/anti-religiousness’ talks<br />
are starting to effect«; »come on bros, I need some jihad talks, anything! Its like [. . .] so [. . .]<br />
dead [. . .] my sources for viedeos is no more either«; »I know that u guys can hook me up«.<br />
27 Alia Hogben, executive director des Canadian Council of Muslim Women (CCMW)<br />
bei einem Gespräch am 14. 9. 2006 in Kingston.<br />
28 Syed Serajul Islam, Awareness and Consciousness of Muslims in Canada, in: Muslims and<br />
Islamization in North America, Problems and Prospects, hrsg. von Amber Haque (Beltsville,<br />
Md. 1999) 131 (135).<br />
29 Vgl. die Nachweise bei Mathias Rohe, Application of Sharı - ’a Rules in Europe, Scope and<br />
Limits: Die Welt des Islams 44 (2004) 323 (346) (zitiert: Sharı - ’a Rules).<br />
30 Syed Serajul Islam (oben N. 28) 138 f.<br />
31 Syed Serajul Islam (oben N. 28) 138 mit weiteren Nachweisen.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
465<br />
abgehaltenen Konferenz mit nordamerikanischen Imamen zum Thema<br />
»Einführung der Scharia in den USA und in Kanada«, die von der in Saudi-<br />
Arabien ansässigen, islamistisches Gedankengut propagierenden al-Rabita<br />
al-Islamiya (Islamische Weltliga) fi nanziert wurde 32 .<br />
Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass diese Kampagne – vergleichbar<br />
der späteren Kampagne zur Bekanntmachung der Islamic arbitration, aber<br />
ohne deren öffentliches Aufsehen – nur sehr wenig (positive) Resonanz unter<br />
Muslimen gefunden hat. 33 Abgesehen von inhaltlichen Problemen würde<br />
die Anwendung islamischen Rechts durch staatliche Gerichte im Westen<br />
und damit durch Nicht-Muslime von traditionalistisch gesonnenen Muslimen<br />
wohl ohnehin nicht als hinreichend »authentisch« akzeptiert. 34<br />
Aus einer Vielzahl von Gesprächen mit Muslimen und einschlägig befassten<br />
Wissenschaftlern in Kanada im Jahr 2006 35 hat sich ergeben, dass offenbar<br />
ein großer Teil der Muslime keine Vorbehalte gegen die Anwendung<br />
kanadischen Rechts hegt. Auch Muslime, die sich in islamischen Organisationen<br />
engagieren, sprechen häufi g davon, dass sie mit weitaus anderen Problemen<br />
zu kämpfen hätten als mit derlei Fragen der Rechtsanwendung. Insbesondere<br />
wird auf soziale Fragen und breit angelegte sicherheitsrechtliche<br />
Maßnahmen als Problempotential verwiesen. Erkennbar ist aber auch eine<br />
verbreitete Unsicherheit über das Verhältnis zwischen staatlichem Recht<br />
und islamischen Normen. Manche Muslime äußern, dass »eigentlich« islamische<br />
Normen Anwendung fi nden sollten, dass dies in Kanada aber nicht<br />
möglich sei, was auch akzeptiert werde. Wiederholt wurde jedoch bemerkt,<br />
dass es eine signifi kante Gruppe, vor allem unter Einwanderern, gebe, die<br />
einigen Regelungen des kanadischen Familien- und Erbrechts reserviert gegenüberstehe.<br />
Hier ist ein potentieller rechtskultureller Konfl ikt im Hinblick<br />
auf die Gleichberechtigung der Geschlechter und Religionen erkennbar.<br />
36<br />
32 Vgl. den entsprechenden, nach Kenntnisstand des Verfassers unwidersprochenen Hinweis<br />
der Abgeordneten Fatima Houda-Pepin im Parlament von Québec (Assemblée, Journal<br />
du débats, No. 156, 26 mai 2005, S. 8716–8720, ).<br />
33 Sie ging anscheinend auf einen Initiator zurück, der gewisse rechtliche Schwierigkeiten<br />
sah, weil er in polygamer Ehe lebte. Vgl. auch die einschlägige Publikation von Syed Mumtaz<br />
Ali/Anab Whitehouse, Oh! Canada!, Whose Land, Whose Dream? (Toronto: The Canadian<br />
Society of Muslims 1991) insbes. 41 ff. Ablehnend z. B. Shahnaz Khan, Canadian Muslim Women<br />
and Shari’a Law, A Feminist Response to »Oh! Canada!«: Canadian Journal of Women<br />
and the Law 6 (1993) 52 (55 ff.).<br />
34 So die übereinstimmenden Aussagen mehrerer Vertreter muslimischer Organisationen<br />
und muslimischer Rechtswissenschaftler.<br />
35 Repräsentativität konnte angesichts der begrenzten Anlage des Projekts nicht angestrebt<br />
werden; die Aussagen lassen aber, in Verbindung mit einer Fülle im Internet publizierten<br />
Materials, doch belastbare Tendenzaussagen zu.<br />
36 Vgl. hierzu etwa Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law<br />
(Oxford 2003) 133 ff.; Mathias Rohe, Islam und Menschenrechte, Eine Problemskizze, in:
466 mathias rohe RabelsZ<br />
So wird die Aufteilung des Vermögens im Scheidungsfall unter den Ehegatten<br />
abgelehnt. Daneben werden genereller von manchen staatliche gerichtliche<br />
Entscheidungen nicht als ausreichend akzeptiert, insbesondere im<br />
Zusammenhang mit Ehescheidungen. Vor allem Frauen wünschen im<br />
Scheidungsfall den islam-rechtlichen Ausspruch der Scheidung per »talaq«,<br />
weil sie andernfalls mangelnde soziale Anerkennung der Scheidung fürchten<br />
oder sich selbst noch als verheiratet fühlen. Manche Männer lehnen das im<br />
Vergleich zu den islam-rechtlichen Vorschriften strukturell wesentlich weiter<br />
reichende nacheheliche Unterhaltsrecht ab. Hier prallen offenbar unterschiedliche<br />
Familienbilder aufeinander: Sowohl das islamische Recht als<br />
auch westliche Familienrechtsordnungen gehen zwar von der prinzipiellen<br />
Eigenverantwortung Erwachsener aus und gewähren Unterhaltsansprüche<br />
nur unter bestimmten Umständen. In der Praxis kommen indes erhebliche<br />
Unterschiede dadurch zustande, dass das islamische Unterhaltsrecht auf<br />
Großfamilienstrukturen abgestimmt ist und dass Frauen nach einer Scheidung<br />
in aller Regel in ihren Familienverband zurückkehren und im Bedarfsfalle<br />
häufi g auch von dieser Seite Unterhalt erlangen. Westliches Familienrecht<br />
ist hingegen von Kleinfamilienstrukturen geprägt. Deshalb erhalten<br />
geschiedene Ehegatten z. B. im Falle von Krankheit oder unverschuldeter<br />
Arbeitslosigkeit u. U. lebenslang Unterhalt vom geschiedenen leistungsfähigen<br />
Ehegatten. Viele Muslime wissen allerdings nicht, dass gemäß westlichem<br />
Unterhaltsrecht geschiedene Ehegatten (auch Frauen) grundsätzlich<br />
eigenverantwortlich für ihren Unterhalt sorgen müssen und fortbestehender<br />
Unterhalt daher die konzeptionelle Ausnahme darstellt. 37 Ein weiteres Konfl<br />
iktpotential liegt in Sorgerechtsentscheidungen: Die weitgehende Zuweisung<br />
des Sorgerechts an die geschiedene Ehefrau und Mutter entspricht<br />
nicht dem rechtskulturellen Vorverständnis von Vätern, deren Herkunftsrechtsordnungen<br />
ihnen hier weitreichende Befugnisse einräumen. 38<br />
Zudem bestehen religiös-kulturell geprägte Vorbehalte unter manchen<br />
Muslimen, die mit Scheidungsverfahren verbundenen persönlichen Angelegenheiten<br />
gerichtsöffentlich zu verhandeln; innerfamiliärer Ausgleich und<br />
Schiedsverfahren werden bevorzugt. 39 Hinzu treten Aspekte wie unzurei-<br />
Menschen- und Bürgerrechte, Perspektiven der Regionen, hrsg. von Petra Bendel/Thomas Fischer<br />
(2004) 439 (442 ff.).<br />
37 Vgl. für Kanada nur die Aussage von Lamer J. in Messier v. Delage, [1983] 2 S. C. R. 401:<br />
»As maintenance is only granted for as long as it takes to acquire suffi cient independence, once<br />
that independence has been acquired it follows that maintenance ceases to be necessary« sowie<br />
die weiteren Nachweise bei James C. MacDonald/Lee K. Ferrier, Canadian Divorce Law and<br />
Practice 2 (Loseblattslg.; Stand 08/2006) (Toronto 1986 ff.) S. 15 § 1 ff.<br />
38 Vgl. Anne Saris/Jean-Mathieu Potvin/Naïma Bendriss/Wendy Ayotte/Samia Amor, Étude de<br />
cas auprès de Canadiennes musulmanes et d’intervenants civils et religieux en résolution de<br />
confl its familiaux (Montréal März 2007) 72.<br />
39 Vgl. nur Furqan Ahmad, Triple Talaq, An Analytical Study with Emphasis on Socio-<br />
Legal Aspects (New Delhi 1994) 132.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
467<br />
chender Zugang zu Prozesskostenhilfe für staatliche Gerichtsverfahren, Unverständnis<br />
vieler Richter für spezifi sche kulturelle Hintergründe der Beteiligten<br />
und mangelhafte Möglichkeiten adäquater sprachlicher Artikulation<br />
(Übersetzungen) 40 . Solange hier keine Verbesserungen im staatlichen Sektor<br />
erfolgen, dürfte die Nachfrage nach außergerichtlichen Schlichtungsmechanismen<br />
anhalten.<br />
Manche Muslime betrachten die Regelungen des islamischen Familien-,<br />
Personenstands- und Erbrechts aber auch als universell bindend und lehnen<br />
die Anwendung westlicher Normen in diesen Bereichen generell ab (hierzu<br />
noch ausführlicher unten B.II.3.b] [3]). Auch wenn staatliche Gerichte im<br />
Einzelfall (unter Anwendung staatlichen Rechts) islamische Normen anwenden,<br />
wird dies als unzureichend angesehen, weil nur muslimische Richter<br />
hierfür geeignet seien. In anderen, recht weltlich ausgerichteten Fällen<br />
wird schlicht pragmatisch das Anwendungsergebnis kanadischen Rechts<br />
bzw. islamischen Rechts gegeneinander abgewogen und dann nach Günstigkeit<br />
die eine oder andere Rechtsordnung präferiert. 41<br />
Praktische Probleme für diesen Personenkreis ergeben sich insbesondere,<br />
wenn der Ehemann die Scheidung verweigert 42 und die Ehefrau in ihrem<br />
sozialen Umfeld, vielleicht aber auch nach den Regeln der Herkunftsrechtsordnung,<br />
zu der noch Beziehungen bestehen, auch nach einem staatlichen<br />
Scheidungsurteil weiterhin als verheiratet angesehen wird. 43<br />
B. Der rechtliche Rahmen für Anwendung<br />
islamrechtlicher Normen in Kanada<br />
I. Allgemeines<br />
Die kanadische Charter of Rights and Freedoms (Constitution Act, 1982)<br />
garantiert unter den »fundamental freedoms« in s. 2(a) für jedermann das<br />
Grundrecht auf Gewissens- und Religionsfreiheit ( freedom of conscience and<br />
40 So die Aussagen vieler Gesprächspartner unter Befürwortern wie Gegnern der Islamic<br />
arbitration; vgl. auch die Aussagen von Janet Ritch von der No Religious Arbitration Coalition<br />
in der Parlamentsanhörung in Ontario am 16. 1. 2006, abrufbar unter .<br />
41 Hiervon haben mehrere in Streitschlichtung involvierte Imame bzw. Juristen berichtet.<br />
42 Ein Ausnahmefall dürfte einem Bericht der in British Columbia vertriebenen Zeitschrift<br />
»al-Ameen« (»CSIS has Spies in Many Mosques«, al-Ameen Vol. 5, issue 5 vom 11. 8.<br />
2006, S. 1 f.) zugrunde liegen: Ein muslimischer Ehemann hat danach versucht, seine scheidungswillige<br />
Ehefrau von ihrem Vorhaben abzubringen, indem er offenbar grundlos ihren<br />
Bruder bei der Polizei als in terroristische Aktivitäten verwickelt anzeigte.<br />
43 Zu vergleichbaren Problemen bei Muslimen im Vereinigten Königreich vgl. Rohe,<br />
Sharı - ’a Rules (oben N. 29) 339 ff.
468 mathias rohe RabelsZ<br />
religion). Section 15(1) gewährt Schutz vor Diskriminierung u. a. aufgrund<br />
der Religion und des Geschlechts. Die hierdurch wie auch durch Verfassungen<br />
der Provinzen 44 gewährleistete Religionsfreiheit reicht weit. Sie umfasst<br />
nicht nur die religiöse Überzeugung und deren Äußerung, sondern<br />
auch die religiöse Erziehung (nicht aber in öffentlichen Schulen 45 ) sowie<br />
Propagierung und Praktizierung der Religion im öffentlichen Raum. 46<br />
Die religionsrechtliche Multikulturalität Kanadas wird in der Leitentscheidung<br />
R. v. Big M Drug Mart Ltd. 47 deutlich: Der bundesstaatliche Lord<br />
Day’s Act, der kommerzielle Aktivitäten mit Einschränkungen an Sonntagen<br />
verbot, wurde von der Mehrheit der befassten Richter des Supreme<br />
Court für verfassungswidrig erklärt, weil er die Religionsfreiheit von Nicht-<br />
Christen unzulässig einschränkte; »[G]overnment may not coerce individuals<br />
to affi rm a specifi c religious belief or to manifest a specifi c religious<br />
practice for a sectarian purpose.« 48 Ein Gesetz Ontarios (Retail Business Holidays<br />
Act), das anders als der Lord’s Day Act nicht den christlichen Sonntag<br />
schützen sollte, sondern den Sonntag als Tag gemeinsamer Arbeitsruhe 49 ,<br />
wurde ebenfalls als Beeinträchtigung der Religionsfreiheit nicht-christ -<br />
licher Unternehmer qualifi ziert, allerdings wegen des gesetzgeberischen<br />
Schutzanliegens für die Arbeitnehmer nach s. 1 der Charter gebilligt. 50<br />
Mittlerweile wurde eine als verfassungsgemäß gebilligte 51 Ergänzung des<br />
Act vorgenommen, die es allen Geschäften, die aus Gründen der Religionszugehörigkeit<br />
des Eigners an einem anderen Tag als Sonntag schließen, ermöglicht,<br />
sonntags zu öffnen.<br />
Aus der Minderheitssituation resultierende Grenzen zeigen sich z. B. bei<br />
der Festlegung der Schulferien: Die auf christliche Traditionen zurückgehenden<br />
Ferienzeiten werden nun als säkulare Zeiten gemeinsamer freier Tage<br />
verstanden. Deshalb werden Muslime nicht unzulässig beeinträchtigt, wenn<br />
44 Vgl. z. B. s. 3 der Charter of Human Rights and Freedoms von Québec: »Every person<br />
is the possessor of the fundamental freedoms, including freedom of conscience, freedom of<br />
religion, freedom of opinion, freedom of expression, freedom of peaceful assembly and freedom<br />
of association.«<br />
45 Vgl. für Ontario: Ontario Court of Appeal in Canadian Civil Liberties Association v. Ontario<br />
(Minister of Education), [1990] 65 D. L. R. (4th) 1; kritisch Henri Brun, Droit constitutionnel<br />
4 (Québec 2002) 1028 ff. (1032).<br />
46 Vgl. nur Brun (vorige Note) 1028 ff. mit weiteren Nachweisen; Peter W. Hogg, Constitutional<br />
Law of Canada (Scarborough 2006) 964 ff.<br />
47 R. v. Big M Drug Mart Ltd., [1985] 1 S. C. R. 295; vgl. hierzu Hogg (vorige Note) 964 f.<br />
unter 39.4.<br />
48 R. v. Big M Drug Mart Ltd. (vorige Note) 347.<br />
49 Eine Ausnahmeregelung wurde für kleinere Geschäfte geschaffen, die den Samstag als<br />
Ruhetag (Sabbat) eingerichtet hatten.<br />
50 R. v. Edwards Books and Art, [1986] 2 S. C. R. 713; hierzu Hogg (oben N. 46) 965 f. unter<br />
39.5.<br />
51 Ontario Court of Appeal in Peel v. Great Atlantic and Pacifi c Co., [1991] 2 O. R. (3d) 65<br />
(C. A.) = 78 D. L. R. (4th) 333.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
469<br />
islamische Schulen nicht generell an muslimischen Feiertagen geschlossen<br />
werden dürfen, sondern Schüler auf individuelle Unterrichtsbefreiung verwiesen<br />
werden. 52 Schließlich wird auch eine Trennlinie zwischen allgemein<br />
geltenden Rechtsvorschriften des Privatrechts und religiösen Überzeugungen<br />
gezogen: Niemand könne sich dem Geltungsanspruch solcher Vorschriften<br />
(im hierzu entschiedenen Fall 53 ging es um die Möglichkeit der<br />
Ehescheidung entgegen christlichen Glaubensüberzeugungen) entziehen,<br />
um seine Religion besser ausüben zu können. Solche Vorschriften zielten<br />
nicht auf religiöse Diskriminierung ab; der verfassungsrechtliche Religionsschutz<br />
gehe nicht so weit, dem Individuum hier Ansprüche auf bestimmte<br />
staatliche Regelungen einzuräumen. Andererseits kann die verfassungsrechtliche<br />
Religionsfreiheit auch privatrechtliche Beziehungen beeinfl ussen, wie<br />
es der in jüngerer Zeit vom Supreme Court entschiedene Fall Syndicat Northcrest<br />
v. Amselem 54 zur Einrichtung von Sukkah-Hütten auf Balkonen in einer<br />
Wohnanlage entgegen einem Beschluss aller Miteigentümer zeigt.<br />
II. Bereiche der Anwendung islamischer Normen 55<br />
1. Kollisionsrecht<br />
Kanadisches Kollisionsrecht 56 knüpft Familiensachen anders als viele kontinentaleuropäische<br />
Kollisionsrechtsordnungen nicht an die Staatsangehö-<br />
52 Islamic Schools Federation of Ontario v. Ottawa Board of Education, [1997] 145 D. L. R. (4th)<br />
659, 661 f., 679, 681 ff., 691 f. (D. C. Ontario).<br />
53 Ontario High Court in Baxter v. Baxter, [1983] 6 D. L. R. (4th) 557, 560.<br />
54 Syndicat Northcrest v. Amselem (oben N. 5) 551 zur Religionsfreiheit nach s. 3 der Québec<br />
Charter of Human Rights and Freedoms (R. S. Q. C-12). Danach wurde eine Bestimmung in<br />
der Gemeinschaftsordnung von Immobilienmiteigentum über die Balkongestaltung insoweit<br />
für unwirksam erklärt, als sie es den (jüdischen) Miteigentümern verbot, Sukkah-Hütten für<br />
die Zeit des neuntägigen Sukkot-Festes auf ihren Balkonen zu errichten (das Angebot der<br />
Errichtung einer Gemeinschaftshütte im Garten wurde als unzureichend abgelehnt). Verfassungsrechtliche<br />
Erwägungen beeinfl ussten die Auslegung des Art. 1056, der wie folgt lautet:<br />
»No declaration of co-ownership may impose any restriction on the rights of the co-owners<br />
except restrictions justifi ed by the destination, characteristics or location of the immovable.«<br />
Die Entscheidung erging mit einer knappen 5:4-Mehrheit. Vgl. auch Richard Moon, Religious<br />
Commitment and Identity, Syndicat Northcrest v. Amselem: Supreme Court L.Rev. (2d) 29<br />
(2005) 201 ff.; Bruce Ryder, State Neutrality and Freedom of Conscience and Religion: ebd.<br />
169 ff.; David M. Brown, Neutrality or Privilege?, A Comment on Religious Freedom: ebd.<br />
221 ff.<br />
55 Zur Situation in verschiedenen Staaten Europas vgl. European Commission, Directorate-General<br />
Justice and Home Affairs (Authors: Jocelyne Césari/Alexandre Caeiro/Dilwar Hussain),<br />
Islam and Fundamental Rights in Europe, Final Report (October 2004) insbes. 17 ff.,<br />
; Rohe, Sharı - ’a Rules (oben N. 29).<br />
56 Je nach Gesetzgebungskompetenz durch Recht der Provinzen (praktisch ganz überwie-
470 mathias rohe RabelsZ<br />
rigkeit der Beteiligten, sondern an die (common) habitual residence bzw. die lex<br />
fori (s. 15[1] Family Law Act Ontario 1990/2006 für property rights) bzw. an<br />
das matrimonial domicile für Eheverträge (domestic contracts) an. Hierbei gelten<br />
auch für auswärts geschlossene domestic contracts die zwingenden Regelungen<br />
in ss. 33(4), 56(1) des Act. 57 Dieses Anknüpfungssystem führt in der Regel<br />
ungeachtet der Staatsangehörigkeit der Beteiligten zur Anwendung (jeweiligen)<br />
kanadischen Sachrechts in »heimischen« Fällen. Bei »ausländischen«<br />
Fällen dürfte es dagegen regelmäßig an der internationalen Zuständigkeit<br />
(jurisdiction) kanadischer Gerichte fehlen. 58 Zudem wird nach kanadischem<br />
Kollisionsrecht (anders als z. B. gemäß § 293 ZPO) ausländisches Recht<br />
grundsätzlich nicht als von Amts wegen anzuwendendes Recht qualifi ziert,<br />
sondern als Tatsache, die von der Partei, die sich darauf beruft, vorgetragen<br />
und bewiesen werden muss. Andernfalls kommt kanadisches Sachrecht als<br />
lex fori zur Anwendung. 59 Nach alledem ist die Anwendung ausländischen<br />
Sachrechts stark eingeschränkt und daher vergleichsweise wenig konfl iktträchtig.<br />
Gemäß s. 1(2) Family Law Act 1990 werden polygame Ehen als Ehen<br />
anerkannt, soweit sie im Geltungsbereich einer Rechtsordnung geschlossen<br />
wurden, die solche Ehen zulässt. 60<br />
2. Dispositives Sachrecht<br />
Das Familienrecht Kanadas ist teils durch Gesetze der Provinzen, teils<br />
durch gesamtstaatliches Recht geregelt. 61 Section 91(26) des Constitution<br />
Act, 1867, weist dem Gesamtstaat »Marriage and Divorce« zur Gesetzge-<br />
gend) bzw. des Gesamtstaates geregelt; weitgehend gemeinsamer Nenner ist die bevorzugte<br />
Anknüpfung an Formen des domicile bzw. der residence; vgl. nur Janet Walker, Castel & Walker,<br />
Canadian Confl ict of Laws 6 (Loseblattslg.; Stand: 03/2006) (Markham 2005 ff.) § 4.1 und ff.,<br />
§ 18.1., § 25.1.b; James G. McLeod, The Confl ict of Laws (Calgary 1983) 235 und ff., 270 ff.,<br />
279 ff., 291 ff. Québec verfügt seit 1994 über ein im Zehnten Buch des Code civil normiertes,<br />
teils kontinentaleuropäischen Regelungen verwandtes Kollisionsrecht.<br />
57 Vgl. James MacDonald/Ann Wilton, The 2005 Annotated Ontario Family Law Act (Toronto<br />
2004) S. 58 (58§ 1), S. 537 f. mit weiteren Nachweisen. Zu einer konkreten einschlägigen<br />
Entscheidung: Khan v. Khan, [2005] ONCJ 155 (CanLII) Tz. 31 ff.<br />
58 Vgl. hierzu Walker (oben N. 56) §§ 11.1.2.c, 17.1.b; für Québec gilt als Grundregel<br />
Art. 3134 Code civil du Québec (C.c.Q.), der die internationale Zuständigkeit ebenfalls an<br />
das domicile des Beklagten knüpft; ebenso Art. 3148(1) C.c.Q. (domicile oder residence in patrimonial<br />
matters).<br />
59 Vgl. Walker (oben N. 56) § 7.1 und ff. mit zahlreichen Nachweisen.<br />
60 Vgl. zu einschlägigen Fällen die Nachweise in: The Canadian Abridgement 3 XXXVI:<br />
Family Law (2004) S. 136–141; Marvin Baer et al., Private International Law in Common Law<br />
Canada (Toronto 1997) 752 ff.; McLeod (oben N. 56) 239 ff.<br />
61 Vgl. zu religiösen Aspekten des Familienrechts in Kanada Margaret H. Ogilvie, Religious<br />
Institutions and the Law in Canada 2 (2003) 365 ff.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
471<br />
bung zu. Auf die Provinzen entfallen nach s. 92(12) die »Solemnization of<br />
Marriage in the Province« sowie nach ss. 13 und 14 weitere Bereiche des<br />
Zivilrechts und die Justiz in den Provinzen. Im Rahmen dieser Gesetze<br />
(z. B. nach dem Ontario Marriage Act, R. S. O. 1990, 62 und nach dem Code<br />
civil du Québec 63 ; vergleichbare Regelungen bestehen in allen Provinzen 64 )<br />
kann die Eheschließung auch an anerkannte religiöse Vertreter delegiert<br />
werden. So soll das Islamic Center of Québec allein im Jahr 1998 3.000<br />
Ehen geschlossen haben. 65<br />
Eheverträge (»Domestic contracts«, vgl. ss. 51 ff. Family Law Act Ontario,<br />
1990/2006) einschließlich vermögensrechtlicher Regelungen und Trennungsvereinbarungen<br />
(vgl. s. 54[3] des Act) mit Wirkungen auf das Erziehungs-<br />
und Sorgerecht (s. 54[3][c] und [d] des Act, eingeschränkt durch s.<br />
56[1] des Act 66 ) sowie Unterhaltsvereinbarungen sind zulässig. Sie unterliegen<br />
aber z. B. gemäß ss. 33(4), 35(3)-(5) Family Law Act, R. S. O. 1990/2006,<br />
von Ontario einer Ergebniskontrolle. Insofern ist die Parole in der öffentlichen<br />
Debatte um religiös motivierte Rechtsgestaltung, es gebe nur ein<br />
einheitliches Recht für alle (Kanadier), stark verkürzt. Sie trifft im Hinblick<br />
auf die Grenzziehung für privatrechtliche Gestaltungsfreiheit zu, ignoriert<br />
aber die breiten Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb <strong>dieses</strong> Rahmens. 67<br />
Ehescheidungen in Kanada liegen in der ausschließlichen Zuständigkeit<br />
staatlicher Gerichte (vgl. ss. 8 ff. Canadian Divorce Act, 1985). Staatliche<br />
Gerichte sind auch für rechtliche Auseinandersetzungen über nachehelichen<br />
Unterhalt zuständig (vgl. s. 15[2] Divorce Act, 1985).<br />
Im Bereich des Familienrechts hatten kanadische Gerichte über Streitigkeiten<br />
betreffend die Zahlung der Brautgabe nach islamischem Recht (mahr)<br />
zu befi nden und kamen dabei zu unterschiedlichen Ansätzen. Der British<br />
Columbia Supreme Court 68 hielt die Regelung über die Zahlung einer<br />
Brautgabe im Ehevertrag für vereinbar mit der einschlägigen Regelung British<br />
Columbias (sect. 61[2][b] Family Relations Act, R. S. B. C. 1996) und<br />
erklärte sie im Zusammenhang mit einer Scheidung für durchsetzbar. Hin-<br />
62 Vgl. den Hinweis in Kaddoura v. Hammoud (1998), 168 D. L. R. (4th) 503, 509 (Ont.<br />
Gen. Div.).<br />
63 Dort Art. 366; hierzu Mireille D.-Castelli/Dominique Goubeau, Le droit de la famille au<br />
Québec 5 (Québec 2005) 58.<br />
64 Vgl. Hogg (oben N. 46) 974 unter 39.9.<br />
65 Information anläßlich einer Informationsveranstaltung des »Islamic Information Center<br />
Vancouver« am 19. 8. 2006 in Vancouver.<br />
66 Vgl. hierzu MacDonald/Wilton (oben N. 57) S. 54 (54§ 5), S. 494, S. 56 (56§ 1A),<br />
S. 507 ff.<br />
67 So auch Bakht.<br />
68 Amlani v. Hirani (2000), 194 D. L. R. (4th) 543, 546 ff. (B. C. S. C.). Zu Recht störte sich<br />
das Gericht nicht daran, dass der Vertrag nach der zivilrechtlichen Eheschließung im Verlauf<br />
einer ismailitisch-islamischen Zeremonie geschlossen wurde.
472 mathias rohe RabelsZ<br />
gegen hielt ein Gericht in Ontario 69 eine solche Verpfl ichtung für nur religiös<br />
und daher vor staatlichen Gerichten für nicht durchsetzbar. 70 Verfehlte<br />
Entscheidungen wie die letztgenannte liefern in der Tat einen Grund für die<br />
Forderung nach religiöser Rechtsdurchsetzung. Das Gericht zitiert selbst<br />
einen im Verfahren befragten Mufti, der sich dafür ausgesprochen hatte,<br />
derlei Dinge ausschließlich vor einer islamischen religiösen Autorität zu verhandeln,<br />
und schließt sich dieser Sicht offenbar an. Damit wird in einer<br />
höchst weltlichen Angelegenheit – der adäquaten Absicherung geschiedener<br />
Ehefrauen nach der Ehescheidung und deren rechtliche Grenzen – den Beteiligten<br />
ohne Not der Schutz der staatlichen Gerichtsbarkeit versagt. Die<br />
Illusion, dass das Gericht hierdurch vor einem Schritt ins »religiöse Dickicht«<br />
(»religious thicket« 71 ) bewahrt werde, dürfte spätestens dann enden, wenn in<br />
einem möglichen Unterhaltsprozess die Frage des mahr und seines Einfl usses<br />
auf Unterhaltsansprüche zu stellen ist. Der Ontario Court of Justice hat sich<br />
in einer jüngeren Entscheidung denn auch beherzt in <strong>dieses</strong> »religious<br />
thicket« begeben 72 und einen in Pakistan zwischen einer dort lebenden Braut<br />
und einem in Kanada lebenden Bräutigam geschlossenen Ehevertrag als<br />
»domestic contract« im Sinne von s. 51 Family Law Act, 1990 (in Verb. mit<br />
s. 58) qualifi ziert, dann allerdings die streitige Regelung über nachehelichen<br />
Unterhaltsverzicht entsprechend hanafi tisch-islamischem Recht überzeugend<br />
wegen Verstoßes gegen s. 56(4)(b) sowie gegen ss. 33(4)(a) und (b)<br />
Family Law Act, 1990, für unwirksam erklärt.<br />
Dieses Urteil kann Maßstäbe für die Zukunft setzen. Leitlinie ist die Aussage<br />
in Khan v. Khan 73 : »The court [. . .] notes that defence should be given to<br />
the religious and cultural laws and traditions of all groups living in Canada.<br />
If, however, cultural groups are given complete freedom to defi ne family<br />
matters, they may tread on the rights of individuals within the group and<br />
discriminate in ways that are unacceptable to Canadian society.« Der Schutz<br />
69 Kaddoura v. Hammoud (oben N. 62) 507 ff. Offenbar ging das Gericht – wenig kompetent<br />
beraten von Imamen – davon aus, dass der Ehevertrag nach islamischem Recht ohne<br />
Vereinbarung eines mahr ungültig sei, während in diesen Fällen tatsächlich der sog. »mahr almithl«<br />
also der übliche mahr, geschuldet wird, ohne dass die Gültigkeit des Ehevertrags betroffen<br />
wäre. Der Fall bietet Anhaltspunkte dafür, dass die Vereinbarung aus anderen, zivilrechtlichen<br />
Gründen unwirksam oder anfechtbar gewesen sein könnte. Anders nun der Ontario<br />
Court of Justice in Khan v. Khan (oben N. 57) Tz. 31 ff.<br />
70 Vergleichbar verfehlt die mittlerweile vom BGH (6. 10. 2004, IPRax 2005, 346 mit<br />
Anm. Rauscher, ebd. 313 ff.) aufgehobene Entscheidung des KG (27. 11. 1998, IPRax 2000,<br />
125 mit Anm. Herfarth, ebd. 101 ff.) zum iranischen Scheidungsrecht.<br />
71 Kaddoura v. Hammoud (oben N. 62) 512.<br />
72 Ontario Court of Justice in Khan v. Khan (oben N. 56) Tz. 32. Ein weiterer, hier nicht<br />
bedeutsamer Aspekt betraf die Frage, ob die gegenüber den kanadischen Behörden abgegebene<br />
Verpfl ichtung zur Unterhaltszahlung für 10 Jahre im Zusammenhang mit der Einreise<br />
der Braut auch Wirkungen zugunsten der Ehefrau auslöst; vgl. hierzu auch die Entscheidung<br />
des British Columbia Supreme Court in Achari v. Samy, (2000) 80 B. C. L. R. (3d) 378.<br />
73 Khan v. Khan (oben N. 57) Tz. 52.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
473<br />
schwächerer Individuen gegen repressive Gruppenvorstellungen wird dann<br />
konkretisiert mit den Feststellungen, dass der Unterhaltsverzicht nicht völlig<br />
klar formuliert worden sei. Die Braut habe bei Eingehung der arrangierten<br />
Ehe wegen der kulturellen und sozialen Begleitumstände keine wirklich<br />
freie Entscheidung hinsichtlich der streitigen Regelung treffen können. Zudem<br />
habe sie keinen unabhängigen Rechtsrat erhalten. 74 Weiterhin sei bei<br />
Eingehung der Ehe in Pakistan nicht absehbar gewesen, dass die Braut später<br />
in Kanada in völliger (von ihrem Mann geschaffener) Isolation und ohne<br />
eigene Erwerbsmöglichkeit leben würde. Schließlich müsse sie andernfalls<br />
von der Unterstützung von Freunden oder Sozialhilfe leben, während er in<br />
der Lage sei Unterhalt zu leisten. 75 Damit werden die wichtigsten Fallgruppen<br />
erfasst, die gegen eine Anerkennung einschlägiger Regelungen sprechen<br />
können. Bemerkenswert ist hierbei, dass der Ehemann von seinem<br />
Jahreseinkommen von 43.000 kanadischen Dollar netto seinen Vater, seinen<br />
Bruder und andere Familienangehörige fi nanziell unterstützte. Das Gericht<br />
führt aus, dass er dann doch auch seine (ehemalige) Ehefrau unterstützen<br />
könne. 76 An dieser Stelle scheint ein rechtskultureller Konfl ikt auf: Westliches<br />
modernes Familienrecht statuiert geschlechtsneutrale Unterhaltspfl<br />
ichten in der Kleinfamilie, insbesondere gegenüber bedürftigen Ehepartnern<br />
und Kindern. Dagegen basiert traditionelles islamisches Unterhaltsrecht<br />
auf Großfamilienstrukturen und klaren Geschlechterrollenverteilungen<br />
77 mit alleiniger Unterhaltsverantwortung von Männern, die zumindest<br />
nach sozialen Normen auch in der Seitenlinie bestehen können, gegenüber<br />
Ehefrauen jedoch nur während der Ehe und für eine sehr kurze Übergangszeit<br />
nach einer Scheidung. Es herrscht die Vorstellung vor, dass die unterhaltsbedürftige<br />
geschiedene Ehefrau dann von ihrer Herkunftsfamilie zu<br />
versorgen sei. In grenzüberschreitenden Fällen wie dem vorliegenden treffen<br />
sich dann die Rollenerwartungen westlicher, geschlechtsneutraler<br />
Rechtskultur und patriarchaler Großfamilienstrukturen.<br />
Offenbar ohne erkennbare Resonanz in der öffentlichen Diskussion hat<br />
sich in Kanada ein System islamischen Wirtschaftens für Interessierte etabliert.<br />
So werden Möglichkeiten zur Immobilenfi nanzierung unter Vermeidung<br />
von Zinszahlungen in Form der islam-rechtlichen musharaka 78 angeboten.<br />
Die Royal Bank of Canada offeriert Sharia Compliant Equity-Linked<br />
74 Khan v. Khan (oben N. 57) Tz. 48 ff.<br />
75 Khan v. Khan (oben N. 57) Tz. 58 ff.; 74.<br />
76 Khan v. Khan (oben N. 57) Tz. 74.<br />
77 Das islamische Recht steht damit nicht allein; vgl. zum strukturell vergleichbaren Hindu-Recht<br />
etwa Nidhi Gupta, Woman’s Human Rights and the Practice of Dowry in India:<br />
Journal of Legal Pluralism and Unoffi cial Law 48 (2003) 85 (88 ff.).<br />
78 Vgl. hierzu Mathias Rohe, Islamisches Wirtschaften aus rechtlicher Sicht, in: Globalisierung<br />
und Ethik, hrsg. von Harald Herrmann/Kai-Ingo Voigt (2005) 103 (118 ff.) mit weiteren<br />
Nachweisen.
474 mathias rohe RabelsZ<br />
Notes zur Finanzanlage, gestützt auf billigende Gutachten dreier islamischer<br />
Gelehrter. 79 Daneben existiert eine Fülle von Betrieben, die – unter Geltung<br />
kanadischen Vertragsrechts – z. B. halal-geschlachtetes Fleisch oder islamische<br />
Bestattungen anbieten. Desgleichen werden Kurse von Organisationen<br />
bis hin zu zahlreichen (kostenpfl ichtigen) Privatschulen vorgehalten.<br />
a) Einführung<br />
3. Religiöses Schiedswesen<br />
Die Anrufung von Schiedsinstanzen in Familienrechtsangelegenheiten ist<br />
in Kanada dort, wo sie zulässig ist, anscheinend weit verbreitet. 80 Neben den<br />
allgemein für Mechanismen der ADR (alternative dispute resolution außerhalb<br />
staatlicher Gerichte) sprechenden Gründen sind Urteile staatlicher Gerichte<br />
oft nur mit erheblicher Zeitverzögerung zu erlangen und können vergleichsweise<br />
kostspielig sein. Zudem liegen die Hürden zur Prozesskostenhilfe<br />
nach vielfältigen Informationen vergleichsweise hoch. Für Immigranten<br />
kommen oft noch Sprachprobleme, eine generelle Scheu vor dem Kontakt<br />
mit staatlichen Behörden und Barrieren aufgrund unterschiedlicher Kommunikationskulturen<br />
81 sowie Unkenntnis vieler Richter hinsichtlich kultureller<br />
Hintergründe hinzu 82 . So haben viele Muslime über Diskriminierung<br />
vor staatlichen Gerichten geklagt. 83 Nach einer Studie des kanadischen Justizministeriums<br />
auf dem Jahre 2005 nehmen Angehörige »sichtbarer Minderheiten«<br />
(»visible minorities«) vor solchem Hintergrund Gerichtsentscheidungen<br />
mit 1,4-fach höherer Wahrscheinlichkeit gegenüber dem Durchschnitt<br />
der Bevölkerung als ungerecht wahr. 84 Auf in den Herkunftsregionen<br />
übliche innerfamiliäre Schlichtungsmechanismen kann oft nicht zurückgegriffen<br />
werden, wenn die hierfür in Betracht kommenden Familienmitglieder<br />
nicht vor Ort sind. Auch können familiäre Interventionen negativ<br />
wirken, wenn etwa Söhne zur Scheidung oder Ehefrauen zum Verzicht auf<br />
79 Vgl. »Muslim Mortgages« (Andre Mayer), Friday Magazine vom 30. 7. 2004, ; »A Grow ing<br />
Interest in No Interest: Muslims and Ethical Finance« (Ron Csillag), Friday Magazine<br />
vom 1. 4. 2005, .<br />
80 Vgl. Bakht; Boyd 9 ff., 35 ff.<br />
81 Vgl. hierzu Mathias Rohe, Executive Summary, in: Persepektiven und Herausforderungen<br />
in der Integration muslimischer MitbürgerInnen in Österreich, hrsg. vom Bundesministerium<br />
des Inneren/Sicherheitsakademie, Österreich (Wien Mai 2006) 51.<br />
82 Vgl. Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor (oben N. 38) 44 ff.<br />
83 Vgl. den Bericht von Boyd 66.<br />
84 Av Currie, Problèmes juridiques et groupes vulnérables au Canada, 2002, 13 Juste recherché,<br />
abgerufen am 8. 5. 2007 .
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
475<br />
das Sorgerecht für Kinder gedrängt werden. 85 Zudem stellen sich gelegentlich<br />
Probleme der Nichtanerkennung staatlicher kanadischer Urteile im<br />
Herkunftsstaat, wenn dessen Familien- und Erbrechtsordnung von religiösrechtlichen<br />
Vorschriften geprägt ist. 86 All dies kann eine Nachfrage nach<br />
nichtstaatlicher, institutionalisierter Streitschlichtung innerhalb der jeweiligen<br />
Community unterstützen.<br />
b) Islamische Schiedsgerichtsbarkeit (»Islamic Sharia Courts« 87 ,<br />
Islamic arbitration) in Ontario<br />
(1) Einführung. – Die Befürworter der Islamic arbitration haben sich stets auf<br />
die kanadischen Verfassungsgarantien der Religions- und Gewissensfreiheit<br />
berufen. 88 Allerdings ist es rechtlich völlig ungeklärt, ob diese Freiheiten<br />
auch die Etablierung eines staatlich approbierten Schiedswesens umfassen.<br />
Das Verbot der religiösen Erziehung in öffentlichen Schulen (vgl. oben B.I.),<br />
die Trennung zwischen Staat und Religion sprechen eher, die oben (B.I.)<br />
genannte Entscheidung in Baxter v. Baxter spricht deutlich dagegen, dass es<br />
nach kanadischem Verfassungsrecht keinen Anspruch auf Einrichtung eines<br />
solchen Systems gibt. Dies wäre in der westlichen Welt wohl auch ein singuläres<br />
Verfassungsverständnis. Ein Richter des Supreme Court weist denn<br />
auch darauf hin, dass nach dem System der kanadischen Charter of Rights<br />
and Freedoms Gruppenrechte die Ausnahme darstellten. Im Mittelpunkt<br />
stünden Individualrechte, auch wenn sie Minderheitengruppen schützten:<br />
»La protection du groupe passe donc par l’individu.« 89 Vergleichbar formuliert<br />
Marion Boyd 90 : »Commitment to individual right lies at the core of the<br />
legal and political organization of any liberal democracy and underpins freedom<br />
of religion and expression, and the rights of minorities to legitimately<br />
enter into dialogue with the broader society with any kind of legitimacy. It<br />
85 Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor (oben N. 38) 77 ff.<br />
86 Vgl. Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor (oben N. 38) 33, 94 ff. Hierin dürfte ein bedeutender<br />
Grund für muslimische, aber auch für jüdische religiöse Schiedsverfahren liegen.<br />
87 Die Verwendung des »Court«-Begriffs in der Debatte war symptomatisch. Die Gegner<br />
bezogen sich oft nicht auf die konkrete, auf Schiedsinstanzen beschränkte gesetzliche Regelung,<br />
aber auch Befürworter benutzten den Begriff wohl auch bewusst, um einen möglichst<br />
weitreichenden Herrschaftsanspruch zu formulieren.<br />
88 Vgl. »McGuinty Does Not Have the Last Word on Faith Based Arbitration«, Friday<br />
Magazine vom 16. 9. 2005, ; »Ontario Court Should be Welcome, Not Feared«, Friday Magazine<br />
vom 3. 9. 2004, . Ebenso die Argumentation von B’nai Brith Canada, wiedergegeben<br />
im Bericht von Boyd 64.<br />
89 Michel Bastarache, [Vorwort, in:] Rouselle (oben N. 6) S. XII.<br />
90 Boyd 92. Vgl. auch Jean-François Gaudreault-DesBiens, The Limits of Private Justice?, The<br />
Problems of the State Recognition of Arbitral Awards in Family and Personal Status Disputes<br />
in Ontario, in: World Arbitration and Mediation Report 16/1 (2005) 18 (21 ff.).
476 mathias rohe RabelsZ<br />
is illogical and untenable to claim minority rights in order then to entrench<br />
religious or cultural orthodoxies that seek to trample the individual rights of<br />
select others.« So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch die Gegner der<br />
Islamic arbitration auf ebendieselben Verfassungsbestimmungen zum Schutz<br />
vor Diskriminierung berufen haben 91 , nicht wie die Befürworter aus einer<br />
gruppenbezogenen Sicht, sondern im Hinblick auf gefährdete individuelle<br />
Freiheiten. Die Debatte entzündete sich denn auch vor allem dort, wo die<br />
einfache Gesetzeslage religiöse Schiedsgerichtsbarkeit zulässt.<br />
Nach längeren Vorarbeiten (vgl. zur Vorgeschichte bereits oben A.) wurde<br />
in Ontario im Jahre 2004 eine islamische Schiedsgerichtsbarkeit (arbitration<br />
tribunals) durch das Islamic Institute of Civil Justice 92 auf der Grundlage<br />
des Arbitration Act, R. S.O 1991, eingeführt 93 , nachdem zuvor bereits Katholiken,<br />
Mennoniten, Zeugen Jehovas, und ismailitische Muslime ein solches<br />
religiöses Schiedswesen etabliert hatten. Nach dem Arbitration Act<br />
1991 erstreckte sich die Zuständigkeit solcher Schiedsgerichte auf sämtliche<br />
Schiedsvereinbarungen, soweit die Anwendung des Act nicht gesetzlich ausgeschlossen<br />
oder der International Commercial Arbitration Act 1988 anwendbar<br />
war. Familien- und Erbrechtsfragen waren danach der Schiedsvereinbarung<br />
zugänglich. Anwaltlicher Beistand war nicht obligatorisch. 94<br />
Dieses islamische Schiedswesen hat äußerst heftige Debatten über die<br />
Grenzen der Multikulturalität in Kanada ausgelöst. 95 Soll Multikulturalität<br />
zu strukturellem, ethnischem oder religiös begründetem Rechtspluralismus<br />
(über die Möglichkeiten bestehenden dispositiven Rechts hinaus) führen,<br />
oder bedarf es eines einigenden rechtlichen Bandes für alle Staatsangehörigen?<br />
Diese Debatte wird auf einer eher abstrakten sozialpolitischen und sozialwissenschaftlichen<br />
Ebene geführt, wobei Vor- und Nachteile eines rechtlichen<br />
Pluralismus gegeneinander abgewogen werden. Seltener hat man sich<br />
mit den konkreten Auswirkungen befasst, also vor allem mit der Frage, welche<br />
Unterschiede zwischen dem kanadischen säkularen Recht und den in der<br />
91 Vgl: nur die Äußerungen der seinerzeitigen Frauenministerin von Ontario Sandra Pupatello<br />
in der Parlamentsdebatte: (2. Lesung am 23. 11. 2005 abrufbar unter .<br />
92 Im Oktober 2003 wurde das Institut mit 30 Mitgliedern gegründet, vgl. »Canada<br />
Moves Toward Accepting Islamic Sharia Settlements«, Friday Magazine vom 12. 12. 2003,<br />
.<br />
93 Zur Vorgeschichte vgl. die Darstellung des Hauptpropagandisten Syed Mumtaz Ali »A<br />
Word from the President . . .«, .<br />
94 Vgl. zur damaligen Lage Hans-Patrick Schneider, Die Anwendung der Sharia als materielles<br />
Recht im kanadischen Schiedsverfahrensrecht: IPRax 2006, 77 ff.<br />
95 Exemplarisch der Artikel von Rosie DiManno, It’s absurd and repugnant to label critics<br />
af sharia as Islamophobic: Toronto Star vom 16. 9. 2005, . Vgl. auch die Übersicht im Bericht von Boyd 4 ff.; Bakht.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
477<br />
islamischen Schiedsgerichtsbarkeit angewandten Normen im Einzelnen bestehen<br />
und welche Folgen daraus für die Beteiligten und die Gesamtgesellschaft<br />
resultieren. Shahnaz Khan hat die hiermit verbundene Problematik<br />
bereits 1993 anlässlich des ersten Vorstoßes in Richtung auf Einführung islam-rechtlicher<br />
Normen zugespitzt: Die Befürworter wendeten sich gegen<br />
den Muslime treffenden Rassismus, aber nicht gegen den Sexismus in den eigenen<br />
Reihen (bei Anwendung entsprechender Rechtsvorschriften). 96 Letztlich<br />
führten die Diskussionen im Jahre 2006 zur einschränkenden Neuregelung<br />
der bislang in Ontario möglichen Anwendung religiös-rechtlicher Normen<br />
in familienrechtlichen Schiedsverfahren generell (vgl. unten B.III.).<br />
Die breitere Debatte 97 wurde mit einiger Härte und insgesamt bemerkenswert<br />
faktenarm geführt. Das Islamic Institute of Civil Justice als betreibende<br />
Instanz hat in seinen Ankündigungen (vielleicht auch zu Werbezwecken)<br />
selbst den unzutreffenden Eindruck erweckt, die Regierung von Ontario<br />
habe ihm eine spezielle Erlaubnis zur Einrichtung eines Scharia-Gerichts<br />
(Court) erteilt. 98 Der Präsident des Canadian Islamic Congress (CIC) Elmasry<br />
warf den Kritikern vor, »Shariah will only become relevant when Muslims<br />
in Canada can depend on secular members of their communities not to<br />
make a cause of publicly deriding their religion, badmouthing their Prophet,<br />
ridiculing the Qur’an – and mounting uninformed crusades to smear their<br />
Islamic Law, the Islamic Shariah.« 99 In den Medien stark präsente Propagandisten<br />
wie Syed Mumtaz Ali 100 und Aly Hindy 101 vertraten sehr aggressiv die<br />
96 Shahnaz Khan (oben N. 33) 59 ff.<br />
97 Sehr differenzierte Äußerungen fi nden sich im Bericht von Boyd sowie teilweise in der<br />
parlamentarischen Debatte in Ontario, einschließlich der Anhörungen interessierter Organisationen<br />
durch das Standing Commitee on General Government vom 16. und 17. 1. 2006<br />
(Nachweis N. 40).<br />
98 Dies kritisiert z. B. Faisal Kutty, Ignorance and Islamophobia forces Ontario government<br />
to ban faith-based arbitrations in Ontario (12. 3. 2006): Media Monitors Network vom<br />
5. 7. 2006, .<br />
99 Elmasry, Why Was Shariah Not Treated Like Halachah?: Friday Magazine vom 30. 9.<br />
2005, .<br />
Der Muslim Canadian Congress hat von Elmasry eine Entschuldigung für diese Vorwürfe<br />
verlangt und darauf hingewiesen, dass mit ihnen der Vorwurf der Blasphemie verbunden sei,<br />
der in manchen islamischen Ländern zu strafrechtlichen Konsequenzen für die Mitglieder führen<br />
könnte; vgl. »Sharia opponents demand apology for Elmasry’s critical remarks«, Globeand<br />
mail.com vom 26. 10. 2005, .<br />
Die Ausrichtung des CIC wird etwa deutlich an einer Buchempfehlung auf der website , wo als einer von sieben Titeln das Werk von Abid Ullah<br />
Jan, The End of Democracy (2003) empfohlen wird, dessen <strong>Inhalt</strong> hält, was der Titel verspricht.<br />
100 Rechtsanwalt im Ruhestand, Präsident des Islamic Institute of Civil Justice und der<br />
Canadian Society of Muslims; zu seiner vita vgl. »Our President«, .<br />
101 Imam der Salaheddin-Moschee in Scarborough bei Toronto, in deren Umfeld sich<br />
auch einige der 17 Terrorverdächtigen jungen kanadischen Muslime (vgl. hierzu nur Michelle
478 mathias rohe RabelsZ<br />
Ansicht, dass Muslime nur noch den Weg in muslimische Schlichtungsinstanzen<br />
gehen dürften und deuteten erkennbar an, dass sie durchaus eine<br />
weiterreichende Einführung der Scharia anstrebten, auch wenn sie später<br />
unter dem Druck der Debatte einige Relativierungen vornahmen. Kritiker<br />
wurden pauschal als anti-islamische Propagandisten und Verräter an der<br />
muslimischen Gemeinschaft gebrandmarkt.<br />
Die Gegner haben selten zwischen einzelnen Aspekten der Scharia und<br />
diversen Auslegungsmöglichkeiten differenziert. 102 Die Nachrichtenmeldung<br />
von Ende November 2003, welche die Diskussion breitfl ächig ausgelöst<br />
hat 103 , begann unter der Überschrift »Canada prepares to enforce Islamic<br />
law« mit dem Satz: »Canadian judges will soon be enforcing Islamic law, or<br />
Sharia, in disputes between Muslims, possibly paving the way to one day<br />
administering criminal sentences, such as stoning women caught in adultery.«<br />
Damit wurden alle denkbaren Ablehnungskräfte mobilisiert, auch<br />
wenn es konkret »nur« um einen Aspekt des bürgerlichen Rechts ging.<br />
Manche der Gegner, z. B. die prominente Frauenrechtlerin Homa Arjomand<br />
104 von Women Living Under Muslim Law (WLUML), assoziierten<br />
die Entwicklung in Kanada mit der schreckenerregenden Anwendung von<br />
Scharia-Regeln in einigen Teilen der islamischen Welt wie Saudi-Arabien,<br />
Iran, Nigeria und andernorts, durchaus verständlich vor dem Hintergrund<br />
ihrer eigenen Erfahrungen 105 , aber weniger zielgerichtet im Hinblick auf die<br />
Shephard/Harold Levy, Accusations vary, lawyer says: Toronto Star vom 17. 6. 2006) bewegt<br />
haben. Hindy hat sich denn auch verpfl ichtet gefühlt, den Betreffenden beizustehen. Bekannt<br />
wurde er im Sommer 2005 durch ein Interview im »Globe and Mail«, als er die kanadische<br />
Regierung aufforderte, das »Terrorisieren« kanadischer Muslime einzustellen. »If you try to<br />
cross the line, I can’t guarantee what is going to happen. Our young people, we can’t control«;<br />
vgl. den Bericht »Imam no stranger to controversy, Aly Hindy a vocal critic of spy service<br />
knows several suspects in latest raid« (Michelle Shephard), Toronto Star vom 7. 6. 2006, . In <strong>dieses</strong> Bild passen Zitate<br />
Hindys aus seiner Tätigkeit in der Moschee (wiedergegeben im Bericht von Boyd 98), wonach<br />
er es im Konfl iktfall für religiös gerechtfertigt hält, dass Ehemänner ihre Frauen schlagen,<br />
wenn sie nicht gehorsam sind, und dass sie auch im Falle schwerer Schläge nicht die Polizei<br />
informieren sollten.<br />
102 Kritisch zur Debatte unter diesem Aspekt z. B. Richard Fidler, Ontario’s »Sharia Law«<br />
Controversy, How Muslims Were Hung Out to Dry: Monthly ReviewZine vom 26. 5. 2006,<br />
.<br />
103 WorldNetDaily vom 28. 11. 2003, .<br />
104 Homa Arjomand – Iranische Menschenrechtsaktivistin, 1989 aus dem Iran nach Kanada<br />
gefl ohen; in der Parlamentsanhörung in Ontario am 16. 1. 2006 (N. 40) Vertreterin der<br />
»International Campaign Against Sharia Court in Canada«.<br />
105 Vgl. »UPDATE: Canada: McGuinty rejects Ontario’s use of Shariah law«, ; vgl. auch<br />
die im Bericht von Boyd 46 f. wiedergegebene Stellungnahme Homa Arjomands »[. . .] the<br />
mere suggestion of the Shariah tribunals causes an atmosphere of fear among women who
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
479<br />
konkrete Rechtslage in Ontario. Andere äußerten die Befürchtung, dass<br />
repressive islamische Rechtssysteme durch das kanadische »Beispiel« gestärkt<br />
und liberale Musliminnen und Muslime in der islamischen Welt in ihrem<br />
Kampf gegen menschenrechtswidrige Rechtsanwendung geschwächt würden.<br />
106 Eine regelrechte Kampagne wurde gegen die Ernennung zweier<br />
Wissenschaftler und Spezialisten für islamisches Recht an der Juristischen<br />
Fakultät der Universität von Toronto entfacht – die wissenschaftliche Befassung<br />
mit einem weltweit bedeutsamen Rechtsgebiet scheint nicht mehr<br />
selbstverständlich möglich zu sein. 107 Einige Befürworter des familienrechtlichen<br />
Schiedswesens wie Vertreter des CAIR-CAN 108 äußerten deshalb,<br />
man solle den Begriff der Scharia in der Gesetzgebung und Bezeichnung<br />
vermeiden, weil damit falsche Assoziationen geweckt würden. Schlecht<br />
informiert waren auch die vielen, die sich gegen die »Einführung« (islamisch-)religiöser<br />
Schiedsgerichtsbarkeit wandten, die auf der Grundlage des<br />
Gesetzes von 1991 längst möglich war. 109<br />
Insgesamt wurde die breitere Debatte oft auf denkbar emotionalem Niveau,<br />
wenig informiert und oft mit erheblicher Selbstgerechtigkeit geführt,<br />
durchaus typisch für derartige Debatten in der westlichen Welt in jüngerer<br />
Zeit. Letztlich wurde sie bei vielen Gegnern auf das Paradigma der unterdrückten<br />
muslimischen Frau (bzw. der vom Islam unterdrückten Frau) und<br />
dem rückständigen und grausamen islamischen Recht reduziert, bei den<br />
meisten Befürwortern auf die »Verteidigung des reinen Glaubens« bzw. die<br />
Abwehr islamophober Angriffe, ohne sich zu den in der Tat problematischen<br />
<strong>Inhalt</strong>en zu äußern. Mögliche Vorzüge und Nachteile religiöser (nicht nur:<br />
came from ›Islamic‹ countries. If this Institute gains validity, it will increase intimidation and<br />
threats against innumerable women. [. . .] the reality is that millions of women are suffering<br />
and being oppressed under Shariah law in many parts of the world. Some of us managed to fl ee<br />
to a safe country, a country like Canada with no secular backlash.«<br />
106 Vgl. die Äußerungen vom früheren Kommunikationsdirektor und Gründungsmitglied<br />
des Muslim Canadian Congress, Tarek Fatah, Keep sharia law out of Canadian judicial system,<br />
vom 12. 8. 2005 unter ; deutlich auch die Parlamentarierin<br />
Fatima Houda-Pepin in der einschlägigen Parlamentsdebatte in Québec am 26. 5.<br />
2005 (Assemblée nationale, Journal des débats, 26 mai 2005, Cahier no. 156, S. 8716–8720<br />
[8716]), .<br />
107 Der Verfasser, selbst nicht Muslim, hat entsprechende Erfahrungen mit einem deutschen<br />
Blatt namens »Emma« gemacht, dessen journalistischer Stil in solchen Fragen offenbar<br />
an den Maßstäben der früheren DDR Gefallen fi ndet.<br />
108 Canadian Council on American-Islamic Relations; zitiert u. a. der Direktor Riad Saloojee<br />
in »Islamic group against Ontario use of Sharia law«, Canadian Press vom 22. 8. 2004,<br />
.<br />
109 Exemplarisch der Bericht von Paul Carlucci, Arbitration Confrontation: Eye Weekly<br />
vom 15. 9. 2005, .<br />
Vgl. hierzu Bakht.
480 mathias rohe RabelsZ<br />
islamischer) Schiedsgerichtsbarkeit bzw. konkrete Probleme aus solchen<br />
Verfahren, insbesondere der Haltung der Schiedsrichter und ihrer Auswahl<br />
und Interpretation bestimmter Normen, wurden hingegen weniger erörtert.<br />
Im Folgenden soll auf diese substantiellen Aspekte näher eingegangen<br />
werden. 110<br />
(2) Allgemeine Diskussion über Vorzüge und Nachteile außergerichtlicher religiöser<br />
Streitschlichtung. – In der öffentlichen Debatte stützten sich die Befürworter<br />
zum einen im Wesentlichen auf Argumente, welche für Lösungen im Wege<br />
der ADR allgemein sprechen, zum anderen auf spezifi sche glaubensbezogene<br />
Gründe, wie sie etwa in der FAQ-Liste des Darul Qada (hierzu unten<br />
[3]) genannt werden. Mohamed Elmasry, Präsident des Canadian Islamic<br />
Congress und nach eigenen Angaben (2005) seit 35 Jahren als Mediator und<br />
Schiedsrichter tätig, hebt folgende Gründe hervor 111 :<br />
Das (westliche) kanadische Gerichtswesen sei auf streitige Verfahren mit<br />
Gewinner und Verlierer ausgerichtet. Dort werde oft dem Mann die volle<br />
Verantwortung (für den Konfl ikt) zugeschoben; die alternative Wahl von<br />
Mediation/Schiedsverfahren werde aus solcher Sicht als typische Beeinträchtigung<br />
von Frauenrechten verstanden. 112 Das westliche streitige Verfahren<br />
bringe vielleicht mehr Geld oder die Genugtuung für den Sieger, im<br />
Recht zu sein. Es eigne sich aber nicht für sensible Familienrechtsfragen, in<br />
denen es zuallererst um Herstellung des Familienfriedens gehe. 113 Dort seien<br />
auch in besonderer Weise Emotionen und menschliche Anliegen betroffen,<br />
die ein Verfahren in vertrauensvoller Atmosphäre und mit – auch religiösem<br />
– Beistand nötig machten. Die Beteiligten könnten entsprechend der Tradition<br />
des islamischen Rechts jeweils Personen ihres Vertrauens als Schiedspersonen<br />
benennen. Das Verfahren sei zudem kostengünstiger und wegen<br />
vergleichsweiser Schnelligkeit auch in emotionaler Hinsicht weniger belas-<br />
110 Neben den hier verwendeten Quellen – Informationen aus persönlichen Gesprächen<br />
mit Vertretern interessierter Organisationen und befassten Wissenschaftlern (Oktober 2005<br />
und Juli-September 2006), Publikationen und Stellungnahmen auf Websites von Organisationen<br />
im Internet und den Protokollen der Parlamentsdebatten in Ontario und Québec – sei<br />
auf die im Bericht der früheren Attorney General und Frauenministerin von Ontario Marion<br />
Boyd im Auftrag ihrer Amtsnachfolger (Dispute Resolution in Family Law) wiedergegebenen<br />
umfangreichen Stellungnahmen (Stand Ende 2004) hingewiesen. Der Verfasser hatte Gelegenheit<br />
zum Gedankenaustausch mit Marion Boyd bei einer gemeinsamen öffentlichen Diskussion<br />
im Montréal im Oktober 2005 (dem Goethe-Institut und seiner Leiterin in Montréal<br />
Mechthild Manus sowie der McGill University sei hierfür gedankt).<br />
111 Vgl. oben N. 88.<br />
112 Offenbar soll also den Männern mehr Gerechtigkeit widerfahren.<br />
113 Dieses Argument fi ndet sich auch in allgemeiner Literatur zur ADR, vgl. McLaren/<br />
Sanderson, Innovative Dispute Resolution, The Alternative (Loseblattslg.; Stand 01/06) (Toronto)<br />
4.6C: »Family law disputes are particularly ill-suited to the court process. The adversarial<br />
system and its numerous delays tend to increase the acrimony between the parties [. . .]«.<br />
Allerdings verlangt s. 10 Divorce Act, 1985 auch von staatlichen Gerichten, stets Möglichkeiten<br />
einer Versöhnung zu beachten.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
481<br />
tend. Selbst manche Richter würden Mediation oder Schiedsverfahren<br />
empfehlen. Approbierte (professionally licensed) religiöse ADR könne einen<br />
wertvollen Beitrag für die Gesellschaft leisten, auch für »Gefallene« oder<br />
nicht praktizierende Gläubige. Der Umstand, dass kein kodifi ziertes islamisches<br />
Recht zur Anwendung kommen könne, spreche nicht gegen islamische<br />
ADR, wenn auch andere religiöse Gruppen wie Juden oder Christen<br />
solche ADR ohne kodifi ziertes Recht betreiben könnten. Gelegentlich wird<br />
auch noch darauf hingewiesen, dass ADR die Ressourcen der staatlichen<br />
Justiz und damit Steuergelder schone 114 .<br />
Staatliche Mitwirkung könne zudem Einfl uss auf den Standard und die<br />
Zusammensetzung von Schiedsinstanzen nehmen. Bisherige informelle<br />
Verfahren hätten häufi g zu ungerechten und merkwürdigen Ergebnissen<br />
geführt; Formalisierung führe zu größerer Transparenz und Verlässlichkeit.<br />
115 Nicht zuletzt wird oft hervorgehoben, dass ein offenes, staatlich<br />
kontrolliertes und kontrollierbares Schiedswesen besser sei als unkontrollierbare<br />
informelle Strukturen. 116<br />
Die Gegner haben sich zum einen entsprechend der Debatte in Québec<br />
(dazu unten c) wegen möglicher struktureller Ungleichgewichte generell<br />
gegen Schiedsgerichtsbarkeit in Angelegenheiten des Familienrechts ausgesprochen.<br />
117 Ein weiterer Argumentationsstrang richtete sich – neben spezifi<br />
sch rechtlichen Begründungen, die in der Tat vorhandene Probleme thematisieren<br />
(dazu sogleich unten [3]) – gegen die religiöse Komponente generell,<br />
oft in einem religionsskeptischen bis religionsfeindlichen Tonfall.<br />
Religiös motiviertes Handeln wurde insgesamt und insbesondere im Hinblick<br />
auf den Islam als rückständig und überholt und damit auch als ungeeignet<br />
für Schlichtung rechtlicher Konfl ikte angesehen. 118 Aus solcher Sicht<br />
wurde die sogenannte »Abschaffung« (hierzu unten III.) religiöser Schiedsgerichtsbarkeit<br />
in Ontario insgesamt als Sieg gefeiert.<br />
Differenzierte Argumente befassten sich mit dem Aspekt, dass die Zugehörigkeit<br />
zu einer Einwanderergemeinschaft – die meisten Muslime in Ka-<br />
114 Vgl. Ibrahim Hayani, Shariah Tribunals Would Help Canadian Judicial System: Friday<br />
Magazine vom 16. 9. 2005, .<br />
115 Dahingehend werden Ahmad und Faisal Kutty (Toronto) zitiert in: »Canada Okays<br />
Islamic Sharia Courts to settle non-Criminal Cases«, Friday Magazine vom 28. 5. 2004,<br />
.<br />
116 Die Vizepräsidentin des Canadian Islamic Congress Wahida Valiante wird mit der<br />
Aussage zitiert. »You can’t monitor something when it is being done quietly somewhere, can<br />
you?«, in: »Shariah Opponent makes Case to Province«, Friday Magazine vom 6. 8. 2004,<br />
.<br />
117 Vgl. die Nachweise bei Boyd 29 ff.<br />
118 Vgl. Bakht mit weiteren Nachweisen; Boyd 39 ff. Hier scheinen gelegentlich eigenartige<br />
Züge einer neuen extremen Säkularität als neuer Religion durch.
482 mathias rohe RabelsZ<br />
nada sind in jüngerer Zeit eingewandert – spezifi sche Probleme insbesondere<br />
für sozial »schwächere« Angehörige mit sich bringen kann. Insgesamt<br />
dürfte die Einrichtung kommunitaristischer Freiheitsräume die Freiheitssphäre<br />
»schwacher« Mitglieder der community 119 – in Wirklichkeit Menschen<br />
von unterschiedlicher religiöser, kultureller und individueller Ausrichtung<br />
– tendenziell einschränken, weil ihre Freiheit, gegen den kommunitären<br />
Schlichtungsmechanismus zu optieren, sich bei starkem sozialen Druck faktisch<br />
aufl öst. Hier ist bemerkenswert, dass die Propagandisten der islamischen<br />
Schiedsgerichtsbarkeit wiederholt betont haben, derjenige Muslim,<br />
der sich solcher Instanzen nicht bediene, sei kein (guter) Muslim. Diese Aussagen<br />
werden im Internet auch noch nach jahrelangen öffentlichen Auseinandersetzungen<br />
zu diesem Punkt aufrechterhalten. In der FAQ-Liste des<br />
Islamic Institute of Civil Justice 120 , das die islamische Schiedsgerichtsbarkeit<br />
in Ontario seit 2004 betrieben hat, wird unter Tz. 23. die Weigerung, sich<br />
an eine einmal freiwillig getroffene Schiedsvereinbarung zu halten und<br />
stattdessen staatliche Gerichte in Anspruch zu nehmen, als »blasphemyapostasy«<br />
121 gebrandmarkt. Es sei darauf hingewiesen, dass nach traditionell<br />
islam-rechtlicher Sicht Apostasie mit dem Tode bestraft wird. 122 Äußerst<br />
deutlich wird der in Kanada ansässige muslimische Aktivist Mubarak Ali in<br />
seinem »Muslim Handbook« 123 , das im Vorwort vom Direktor der Al-Azhar<br />
Academy of Canada Shaikh Hafi z Al-Saeed Muhammad Ghars El-Din gepriesen<br />
wird und das laut abgedrucktem Attest der Al-Azhar Universität<br />
Kairo in keinem Punkt dem islamischen Glauben widerspricht. In den Kapiteln<br />
über islamisches Familienrecht, das er offenbar selbstverständlich für<br />
119 Die Muslime insgesamt können angesichts ihrer religiösen, kulturellen und nicht zuletzt<br />
individuellen Vielfalt keinesfalls als einheitliche »Gemeinschaft« verstanden werden. Die<br />
Drucksituation kann sich aber innerhalb der jeweiligen homogeneren Einzelgruppe ergeben.<br />
Zudem können Musliminnen und Muslime angesichts der umfassend formulierten Ansprüche<br />
selbsternannter Führungsfi guren generell unter Druck geraten.<br />
120 Syed Mumtaz Ali in: Interview (oben N. *).<br />
121 Syed Mumtaz Ali unter 23: »Once the parties have agreed to be governd by Muslim<br />
PFL, then they will be committed to it by their prior consent. As a consequence, on religious<br />
grounds, a Muslim who would choose to opt out at this stage, for reasons of convenience<br />
would be guilty of a far greater crime than a mere breach of contract – and this could be tantamount<br />
to blasphemy-apostasy. [. . .]«<br />
122 Vgl. hierzu und zu modernen Ansätzen Rohe, Islam und Menschenrechte (oben N. 36)<br />
449 ff. Syed Mumtaz Ali scheint diese Ansicht zu teilen, wie es sich aus seinen Äußerungen<br />
(übernommenen Zitaten) zu Salman Rushdie ergibt (»According to Muslim Law, a male apostate<br />
[. . .] is liable to be put to death if he continue obstinate in his error [. . .])«; »The Salman<br />
Rushdie Issue: A Synthesis of the Islamic Law of Blasphemy/Apostasy in the Context of Canadian<br />
Multiculturalism«, The Canadian Society of Muslims (August 2004), abgerufen am<br />
21. 7. 2006 unter .<br />
123 Shaikh Hafi z Al-Saeed Muhammad Ghars El-Din, Vorwort, in: Mubarak Ali S. XIII. Der<br />
Autor ist laut eigener Beschreibung als Freitagsprediger, Referent und Imam des Weston Islamic<br />
Community Centre tätig.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
483<br />
auch in Kanada verbindlich und anwendbar hält, weist der Autor im Zusammenhang<br />
mit der Scheidung 124 darauf hin, dass der Islam nicht empfehle,<br />
jede Streitigkeit vor Gericht auszutragen. Dies gelte schon im Zuständigkeitsbereich<br />
von gänzlich islamischen Rechtssystemen. »In a non-Islamic<br />
system, it is a very serious matter to let disbelievers settle the affairs of Muslims<br />
using their own standards. In that case their decisions may run counter<br />
to Islamic Law and to be bound by laws that contravene the Shari’ah is unacceptable<br />
in Islam. Thus, if a matter can be settled mutually between the<br />
parties concerned, this is the preferred course for every believer.«<br />
Sehr differenzierte Ansätze fi nden sich im Bericht von Marion Boyd 125<br />
und in Ausführungen einiger Rechtswissenschaftler 126 . Hier wurde versucht,<br />
die möglichen Vorzüge einer freiwilligen, religiös orientierten Streitschlichtung<br />
mit Ausbildungs-, Hilfs- und Kontrollmechanismen zu verbinden,<br />
127 welche die möglichen Benachteiligungen Schwächerer ausschließen<br />
sollen. So wurde vorgeschlagen (und zum Teil in der grundlegenden Reform<br />
des Arbitration Act auch umgesetzt), dass die Schiedsrichter einer professionellen<br />
Organisation angehören und eine Ausbildung erhalten müssen,<br />
die es ermöglicht, Benachteiligungen von Verfahrensbeteiligten aufzudecken<br />
und zu verhindern. Konkrete Verfahrensregeln, das Verbot entsprechender<br />
Vereinbarungen vor Entstehen der Streitigkeit, Dokumentation<br />
und unabhängiger Rechtsrat zur Aufklärung der Beteiligten über <strong>Inhalt</strong><br />
und Bedeutung des Verfahrens sollen kontrollierbare Fairness und Gleichberechtigung<br />
gewährleisten, die Ergebnisse sollen einer staatlichen gerichtlichen<br />
Kontrolle sowie die gesamten Regelungen einer ministeriellen Evaluation<br />
unterliegen. Schließlich sollen allgemeine öffentliche Information<br />
und Bildung über das bestehende Rechtssystem und Möglichkeiten religiösen<br />
Schiedswesens erfolgen.<br />
Die wissenschaftlich gewiss interessante, aber doch eher abstrakte Diskussion<br />
über Vorzüge und Nachteile einer »joint governance« 128 ist offenbar<br />
zukunftsgerichtet. Sie setzt voraus, dass die vorgesehenen Schutzmechanismen<br />
bereits greifen, berücksichtigt meines Erachtens jedoch zu wenig die<br />
wohl praktisch wichtigste Frage nach den konkret schon vorhandenen Akteuren<br />
und ihrer inhaltlichen Ausrichtung. Eine Institutionalisierung verleiht<br />
zum einen den involvierten Akteuren gesellschaftliche, im bestehen-<br />
124 Mubarak Ali 301.<br />
125 Boyd 109 ff.; Zusammenfassung im summary unter 12. ff.<br />
126 Grundlegend Ayelet Shachar, Multicultural Jurisdictions, Cultural Differences and<br />
Women’s Rights (Cambridge 2001) insbes. 88 ff.<br />
127 Diese aufwendigen Mechanismen wurden ihrerseits als kontraproduktiv für schnelle,<br />
unaufwendige Schiedsverfahren kritisiert.<br />
128 So grundlegend Ayelet Shachar, Multicultural Jurisdictions (oben N. 126) insbes. 88 ff.;<br />
dies., Religion, State, and the Problem of Gender, New Modes of Citizenship and Governance<br />
in Diverse Societies: McGill L. J. 50 (2005) 49 (insbes. 71 ff.).
484 mathias rohe RabelsZ<br />
den Rahmen dann auch rechtliche Macht. Die Selbstrekrutierung der Institution<br />
durch diese Akteure kann nur noch teilweise durch entsprechende<br />
Kontrollmechanismen beeinfl usst werden. Über die Wirksamkeit von Kontrollmechanismen<br />
sollte man sich gerade im Kontext vergleichsweise starker<br />
Segregation der Beteiligten von der Gesamtgesellschaft keinen Illusionen<br />
hingeben. Dies gilt besonders dann, wenn auch noch sprachliche Barrieren<br />
zur Mehrheitsgesellschaft bestehen, und wenn Gerichte mit Eingriffen in<br />
privatautonome Rechtsgestaltung und außergerichtliche Streitbeilegung<br />
große Zurückhaltung üben (hierzu unten III.). Die erkennbare Ausrichtung<br />
der vorhandenen Akteure und ihr ideologisches Umfeld, etwa in islamischen<br />
Buchhandlungen, sprechen meines Erachtens insgesamt sehr deutlich dagegen,<br />
ihnen den Anschein staatlicher Billigung zu verleihen (hierzu ausführlich<br />
im Folgenden).<br />
(3) Spezifi sche rechtliche Fragestellungen. – Die Gegner der islamischen ADR<br />
heben vor allem hervor, dass das islamische Recht – jedenfalls in seiner jahrhundertealten<br />
Interpretation durch die Rechtsgelehrten – zu Lasten von<br />
Frauen von der Ungleichbehandlung der Geschlechter 129 durchdrungen<br />
sei. 130 Von Menschen (durch Interpretation) gemachten Vorschriften würde<br />
irrigerweise göttliche Autorität zugemessen; es sei gefährlich, solche Vorschriften<br />
als Ersatz für parlamentarische Gesetze anzuerkennen. 131 Dies gelte<br />
insbesondere für das äußerst fl exible, aber dementsprechend viele Interpretationen<br />
ermöglichende und deshalb wenig berechenbare System der<br />
Rechtsanwendung im islamischen Recht; werden familien- und erbrechtliche<br />
Vorschriften in traditioneller Auslegung angewandt, so folgten daraus<br />
deutliche Benachteiligungen insbesondere von Frauen und Nicht-Muslimen.<br />
132<br />
Prägnante Beispiele hierfür fi nden sich in dem bereits genannten, von<br />
traditionalistischen Rechtsvorstellungen (in vulgarisierter Form) durchdrungenen<br />
»Muslim Handbook« von Mubarak Ali 133 . Dort wird ausgeführt,<br />
dass die ehewillige Frau einen »guardian« benötigt, der ihre Interessen bei<br />
der Eheschließung vertritt, wenngleich sie selbst der Eheschließung eben-<br />
129 Parallel hierzu existiert bei traditionell orientierten Muslimen eine weitreichende, gelegentlich<br />
obsessiv anmutende Geschlechtertrennung; vgl. für Toronto die Hinweise von<br />
Amir Hussain (oben N. 2) 372.<br />
130 Prononciert etwa die verschiedenen Stellungnahmen von Homa Arjomand und des<br />
Canadian Council of Muslim Women; auch schon die Ausführungen von Shahnaz Khan<br />
(oben N. 33) gegen die Einführung eines Muslim Personal Law.<br />
131 Vgl. nur Tarek Fatah (oben N. 106) mit weiteren Nachweisen.<br />
132 Kritisch deshalb zur Einführung islamischer ADR in Kanada die iranische Juristin und<br />
Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi; vgl. »Nobel prize winner speaks out against Islamic<br />
tribunals in Canada«, University Pittsburgh School of Law, Jurist, Legal News & Research<br />
vom 14. 6. 2005, .<br />
133 Mubarak Ali.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
485<br />
falls zustimmen muss. Allerdings wird Schweigen einer Jungfrau gemäß der<br />
traditionellen Prophetenüberlieferung als Zustimmung gewertet, was bei<br />
der Problematik von Zwangsheiraten für einige Brisanz sorgen kann. 134 Zudem<br />
heißt es, dass eine Eheschließung ohne Kenntnis und Zustimmung von<br />
Eltern und guardians nicht möglich sei. 135 Bei Benennung der ehelichen<br />
Pfl ichten heißt es: »In marriage, all the duties of the wife are summed up in<br />
one word, ta’a, or obedience to her husband.« 136 Zuvor wird ihre Verpfl ichtung<br />
benannt, besonders rücksichtsvoll gegenüber seinen Bedürfnissen und<br />
Vorlieben bei Ernährung, Kleidung etc. zu sein. Dem Mann wird die ausschließliche<br />
Pfl icht zum Familienunterhalt zugemessen, auch soll er seine<br />
Frau gut und großzügig behandeln. 137 Das klassische Scheidungsrecht (hanafi<br />
tischer Prägung) mit Zumessung eines begründungslosen einseitigen<br />
Scheidungsrechts an den Ehemann (talaq und andere Formen des Scheidungsausspruchs)<br />
wird schlicht wiedergegeben. Beiträge zum Familienunterhalt<br />
seitens der Ehefrau erhalten keine religiös-rechtliche Relevanz, sollen<br />
aber geleistet werden, wenn die Frau schon einer Erwerbstätigkeit nachgehe:<br />
»This is because the wife can work only with the permission of her<br />
husband.« 138 Folgerichtig soll das Sorgerecht 139 für Kinder nach den ersten<br />
beiden Lebensjahren grundsätzlich allein beim Vater bzw. bestimmten<br />
männlichen Verwandten liegen, es sei denn diese erweisen sich als ungeeignet.<br />
140<br />
Die geäußerten Befürchtungen haben also durchaus reale Hintergründe,<br />
zumal hier schlicht traditionelle Rechtsansichten wiedergegeben werden.<br />
Zudem wird darauf hingewiesen, dass Muslime unterschiedliche rechtlichreligiöse<br />
Hintergründe aufwiesen und die Anwendung eines »einheitlichen«<br />
islamischen Rechts angesichts vielfältiger Schulunterschiede nicht möglich<br />
sei, erst recht angesichts noch weiterreichender kultureller Vielfalt. 141 Der<br />
lapidare Hinweis von Befürwortern, man wende dann eben jeweils die passende<br />
Rechtsschule an 142 , lässt unter anderem außer Acht, dass es auch innerhalb<br />
der Rechtsschulen unterschiedliche Auffassungen gibt, dass die Frage,<br />
welche Schule bei »Angehörigen« unterschiedlicher Schulen angewandt<br />
werden soll, und wer unter den oft kaum einschlägig ausgebildeten Involvierten<br />
diese schwierigen Probleme meistern soll.<br />
134 Vgl. Mathias Rohe, Wer schweigt, stimmt nicht zu: Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />
vom 12. 4. 2006, S. 41.<br />
135 Mubarak Ali 266 f.<br />
136 Mubarak Ali 273.<br />
137 Mubarak Ali 276, 308.<br />
138 Mubarak Ali 308.<br />
139 Anders als auch das traditionelle islamische Recht unterscheidet der Autor nicht zwischen<br />
Personensorge (hadāna) und sonstigem Sorgerecht/Vermögenssorge (wilāya, walyāa).<br />
140 Mubarak Ali 305 f.<br />
141 Vgl. nur Shahnaz Khan (oben N. 33) 55 ff.<br />
142 Vgl. Syed Mumtaz Ali unter 26.
486 mathias rohe RabelsZ<br />
Manche der Gegner haben sich nicht konkret zu derlei Fragstellungen<br />
geäußert, sondern vor dem Hintergrund solcher traditioneller Haltungen<br />
die Anwendung islamischen Rechts pauschal als freiheitswidrig abgelehnt.<br />
Andere Muslime sehen Entwicklungs- und Anpassungsmöglichkeiten innerhalb<br />
und mit Mitteln der Scharia 143 , lehnen indes eine traditionalistisch<br />
orientierte Schiedsgerichtsbarkeit bzw. Rechtsanwendung ebenso ab. So<br />
wurde die Initiative auf Einrichtung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit<br />
nur von sehr wenigen muslimischen Gruppen getragen. Einige sind<br />
Vorbereitungstreffen bewusst ferngeblieben, weil sie die inhaltliche Ausrichtung<br />
der Initiatoren ablehnen. Vertreter dieser Richtung sind etwa der<br />
Auffassung, dass es bei zutreffender Interpretation der islamischen Normen<br />
im kanadischen Kontext auch islam-rechtlich geboten sei, das während der<br />
Ehe erworbene Vermögen entsprechend kanadischem Recht zu verteilen<br />
und z. B. für den Erbfall testamentarisch nicht die Verteilung nach traditionellem<br />
Schema vorzunehmen: Wenn rechtlich und oft auch faktisch Frauen<br />
ebenso wie Männer zum Familienunterhalt beizutragen hätten, entfalle die<br />
Begründung für die pauschalisierte Besserstellung der Männer bei Bemessung<br />
der Erbquoten. 144 Vertreter dieser Richtung sehen inhaltlich keinerlei<br />
strukturelle Probleme oder gar Gegensätze bei der Anwendung kanadischen<br />
Rechts auch auf Muslime – auch kanadisches Recht sei darauf ausgerichtet,<br />
gerechte Lösungen zu fi nden und diese umzusetzen. Abweichende Forderungen<br />
würden oft von islam-rechtlich überhaupt nicht oder nur marginal<br />
ausgebildeten »Amateuren« aufgestellt. Diese fänden zum Teil auch deshalb<br />
in der community Anklang, weil mache die »strengsten« Vertreter der Zunft<br />
für die frommsten hielten. Ein gewisses Maß an Unterstützung seitens solcher<br />
Vertreter erhielten die Befürworter der islamischen Schiedsgerichtsbarkeit<br />
erst dann, als in der öffentlichen Diskussion praktisch ausschließlich die<br />
islamische Initiative angegriffen wurde, während andere Religionen, die<br />
eine solche Schiedsgerichtsbarkeit bereits betrieben und inhaltlich zum Teil<br />
ähnliche Rechtsprobleme bei der Gleichberechtigung der Geschlechter kennen,<br />
außerhalb der Betrachtungen blieben. Anstößig aus solcher Sicht war<br />
also nicht die inhaltliche Opposition gegen die islamische Schiedsgerichtsbarkeit,<br />
sondern allein der Aspekt der Ungleichbehandlung.<br />
Die Befürworter weisen den Vorwurf der Ungleichbehandlung der Geschlechter<br />
zurück. Sie gehen von einem Geschlechterverhältnis traditio-<br />
143 Vgl. hierzu Bülent Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft,<br />
Die türkische Debatte um die Scharia und die Rechtsschulen im 20. Jahrhundert (2005);<br />
Mathias Rohe, Der Islam, Alltagskonfl ikte und Lösungen, Rechtliche Perspektiven 2 (2001)<br />
21 ff.<br />
144 Informationen von Barrister Faisal Kutty (Member of Board Canadian Council on<br />
American Islamic Relations [CAIR-CAN] und der Islamic Social Services Association of<br />
North America, General Counsel der Canadian-Muslim Civil Liberties Association) bei<br />
einem Gespräch in Toronto am 28. 7. 2006.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
487<br />
neller Prägung aus, wie es dem islamischen Recht unterliegt 145 , und betonen,<br />
dass beide Geschlechter jeweils eine wichtige und mit eigenen Rechten<br />
versehene Position in der Gesellschaft einnähmen. Die Rolle des (Ehe-)<br />
Mannes als Familienoberhaupt bringe mehr Pfl ichten als Rechte mit sich. 146<br />
Dieses Vorverständnis erscheint in der Tat weit verbreitet, wie es sich sowohl<br />
aus der einschlägigen Literatur in islamischen Bildungszentren und<br />
Buchhandlungen 147 als auch aus Äußerungen von Imamen und anderen<br />
Muslimen in der Öffentlichkeit zeigt. Hier liegt der eigentliche Gegensatz<br />
zwischen islamischem Recht und zeitgenössischen westlichen Rechtsordnungen,<br />
die sich von einem solchen Rollenvorverständnis völlig gelöst haben<br />
und Sonderregelungen (z. B. betreffend Schwangere) nur noch vorsehen,<br />
wenn biologische Unterschiede 148 sie nötig machen.<br />
Zudem heben die Befürworter hervor, dass auch andere Rechte wie das<br />
jüdische solche Ungleichheiten kenne 149 , ohne dass dies zu erkennbaren öffentlichen<br />
Kontroversen geführt habe. Dieses wiederholt vorgebrachte<br />
Gleichbehandlungsargument hat in Ontario letztlich zur weitreichenden<br />
Änderung der religiösen ADR in Familienrechtssachen überhaupt geführt,<br />
auch unter Protest von jüdischer Seite 150 .<br />
145 In vertretbarer Vereinfachung beschreibt die Stellungnahme des Canadian Council of<br />
Muslim Women (Boyd 48) dies wie folgt: »The jurisprudence of fi qh [islamisches Recht, der<br />
Verfasser] does have some common understanding. It is based on a patriarchal model of community<br />
and the family. It is generally accepted that men are the head of the state, the mosque<br />
and the family.«<br />
146 Exemplarisch die Ausführungen bei Mustafa Yusuf McDermott/Muhammad Manazir Ahsan,<br />
The Muslim Guide, For teachers, employers, community workers and social administrators<br />
in Britain 2 (Leicester 1993) 81; vgl. auch Ahmad H. Sakr, Islam & Muslims, Myth or Reality<br />
(Milwaukee u. a. 1994) 38 f.: Frauen genössen mehr Privilegien als Männer (erwähnt<br />
werden die Befreiung vom Ritualgebet und Fasten während der Mensis und in Stillperioden,<br />
die Befreiung vom gemeinschaftlichen Freitagsgebet [nicht wenige Musliminnen möchten<br />
allerdings teilnehmen, ungern allerdings verbannt in Ecken], Befreiung von fi nanziellen Verpfl<br />
ichtungen und besondere Anerkennung als Mutter vor Gott und dem Propheten).<br />
147 Vgl. nur Mubarak Ali 273 ff., 296 ff., 305 ff. und öfter, wo das traditionelle Familienrecht<br />
wiedergegeben wird (Notwendigkeit eines Vormunds [wali] bei der Eheschließung auf<br />
Seiten der Frau, Letztentscheidungsrecht des Ehemannes in Familienangelegenheiten, seine<br />
ausschließliche Pfl icht zum Familienunterhalt, sein einseitiges Recht auf Ehescheidung, seine<br />
Dominanz im Sorgerecht für Kinder etc.), das in einigen islamischen Ländern mittlerweile<br />
zugunsten der Rechtspositionen von Frauen deutlich reformiert wurde, was sich hier allerdings<br />
nicht niederschlägt. Vgl. auch die Nachweise unten in N. 190.<br />
148 In einem Werk von Mahmood Ibraheem El-Geyoushi, Islamic Reader, Islamic Studies for<br />
Young People (New Delhi 2002), wird allerdings die Rollenverteilung beim außerhäuslichen<br />
Gelderwerb auch mit biologischen Gegebenheiten »begründet«, allerdings ohne nähere Ausführungen,<br />
worin sie denn exakt bestehen.<br />
149 Vgl. zu den deutlichen Parallelen Judith R. Wegner, The Status of Women in Jewish and<br />
Islamic Marriage and Divorce law: Harvard Women’s L. J. 5 (1982) 1 ff. (gelegentliche inhaltliche<br />
Fehler im Detail beeinträchtigen nicht die generelle Aussagekraft).<br />
150 Nach vielen Berichten soll es Überlegungen seitens B’nai Brith geben, gegen die<br />
Neuregelung vorzugehen. Auch in der Parlamentsdebatte in Ontario (z. B. Abgeordnete Ro-
488 mathias rohe RabelsZ<br />
In gewissem Kontrast zu diesen Argumenten wurde betont, dass es keineswegs<br />
um die Einrichtung eines konkurrierenden Rechtssystems gehen<br />
könne, weil die Rechtsanwendung kanadischem Recht (»the law of the<br />
land«) entsprechen müsse. 151 Der Hauptbetreiber der Initiative, Syed Mumtaz<br />
Ali, sprach in diesem Zusammenhang von einer »watered down version<br />
of Muslim personal law« 152 , die zur Anwendung kommen solle. Der rechtliche<br />
Ansatzpunkt für diese Aussagen fi ndet sich in s. 46(1) 6., wonach ein<br />
Schiedsspruch vom (staatlichen) Gericht aufgehoben werden kann, wenn:<br />
»[T]he applicant was not treated equally and fairly, was not given an opportunity<br />
to present a case or to respond to another party’s case, or was not given<br />
proper notice of the arbitration or of the appointment of an arbitrator.«<br />
Damit werden wesentliche Elemente eines verfahrensrechtlichen ordre public<br />
beschrieben. Eine <strong>Inhalt</strong>skontrolle müsste sich auf die sehr vagen Formulierungen<br />
von equity und fairness stützen und wird damit in sehr hohem Maße<br />
von der Einschätzung des jeweiligen Gerichts abhängig. Zudem ist zu bedenken,<br />
dass die in Kanada herrschende Common Law-Tradition bindende<br />
Schiedssprüche nur unter sehr engen Voraussetzungen einer gerichtlichen<br />
Überprüfung öffnet 153 und Zurückhaltung der Gerichte bei der Anwendung<br />
von s. 46 Arbitration Act Ontario, R. S. O. 1991, nicht verwunderlich<br />
wäre. 154 Damit bleibt es höchst fraglich, ob etwa ein im Rahmen eines<br />
bert W. Runciman und John R. Baird in der 2. Lesung am 23. 11. 2005, ) wurde von mehreren Abgeordneten auf die Implikationen<br />
für andere Glaubensgemeinschaften hingewiesen, die unzureichend berücksichtigt würden;<br />
vgl. auch die Stellungnahmen des Canadian Jewish Congress, Region Ontario (Stephen<br />
Adler, Rachael Turkienicz, Mark Freiman) in der parlamentarischen Anhörung am 16. 1. 2006<br />
(Nachweis N. 40).<br />
151 So die Vizepräsidentin des Canadian Islamic Congress Wahida Valiante, vgl. die Wiedergabe<br />
ihrer Äußerungen in »Shariah Law Debate Badly Skewed, Says Boyd«, Friday Magazine<br />
vom 12. 8. 2005, .<br />
152 Syed Mumtaz Ali in einem Interview am 2. 2. 2005; vgl. »Sharia for Canada«, abgerufen<br />
am 15. 9. 2005 unter ; vgl. auch seine Ausführungen in »Is Shariah Incapable of Change?«, .<br />
153 Vgl. nur Robert M. Nelson, On ADR (Scarborough 2003) 198 mit weiteren Nachweisen.<br />
154 So jedenfalls die traditionelle Haltung; in jüngerer Zeit scheint es gewisse Anzeichen<br />
intensiverer Intervention in »domestic cases« zu geben, vgl. Andrea Himel, Mediation/Arbitration<br />
Agreements, The Binding Comes Undone: Canadian Family L. Q. 20 (2002/2003) 55<br />
(58 ff.); vgl. aber andererseits die Nachweise bei Natasha Bakht, Arbitration, Religion and<br />
Family Law: Private Justice on the Backs of Women (March 2005), ,<br />
welche gerade auch bei domestic contracts wenig Interventionsbereitschaft<br />
zeigen; vgl. hierzu die Entscheidung des Supreme Court in Hartshorne v.<br />
Hartshorne, [2004] 1 S. C. R. 550, die eine anerkanntermaßen unfaire Privatvereinbarung hinsichtlich<br />
der Vermögensaufteilung aufrechterhielt (ebd. 554, 585 f.; allerdings handelte es sich<br />
um eine Vereinbarung unter Juristen in voller Kenntnis der rechtlichen Würdigung, wobei
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
489<br />
Scheidungsverfahrens erklärter Unterhaltsverzicht und/oder die Rückgabe<br />
von Vermögenswerten, die eigentlich zur späteren Absicherung gedacht waren<br />
155 , noch rückgängig zu machen wären. Andererseits stehen die Fragen<br />
der Präsidentin des Canadian Council of Muslim Women Alia Hogben im<br />
Raum: »Muslim law is not monolithic or simple or applied consistently [. . .],<br />
so how will it be applied here in Canada? And why is it needed here, when<br />
the law of the land tries to be fair and just?« 156 Der vormalige Communications<br />
Director des Muslim Canadian Congress Tarek Fatah hat die Empfehlungen<br />
Marion Boyds 157 mit den drastischen Worten kommentiert: »[. . .] the<br />
racism of lower expectations where under the garb of diversity, Muslims are<br />
encouraged to ghettoize and withdraw from the mainstream.« 158<br />
Schiedssprüche wurden soweit ersichtlich bislang nicht veröffentlicht –<br />
dies widerspräche auch in gewisser Weise dem Grundsatz nicht-öffentlicher<br />
Abwicklung des Schiedsverfahrens. Jedoch lassen sich aus öffentlichen Äußerungen<br />
und Veröffentlichungen der Hauptvertreter des islamischen<br />
Schiedswesens hinreichend aussagekräftige Rückschlüsse ziehen.<br />
Das betreibende Islamic Institute of Civil Justice sieht sich offenbar in<br />
einer breiteren muslimischen Tradition, was sich bereits in der parallelen<br />
Namensgebung »Darul Qada« (»Gerichtshaus«) ausdrückt. Angesichts der<br />
Herkunft des Gründers Syed Mumtaz Ali vom indischen Subkontinent 159 ,<br />
wo bereits seit den 20er Jahren in Bihar und Orissa Schlichtungsinstanzen<br />
unter dieser Bezeichnung betrieben werden, scheint die Namensgebung<br />
kein bloßer Zufall zu sein.<br />
Die Begründung für die Notwendigkeit einer spezifi sch muslimischen<br />
Schiedsgerichtsbarkeit in Familienrechts- und Personenstandssachen aus<br />
der in Anspruch genommene Ehemann nach Erfahrungen aus erster Ehe weitere Verpfl ichtungen<br />
aus seinem Vermögen explizit vermeiden wollte).<br />
155 Dies wird nach islamischem Recht auch neuerer Ausformung z. B. beim Scheidungsverlangen<br />
der Ehefrau in Form des khul’ notwendig, vgl. hierzu Mathias Rohe, Das neue ägyptische<br />
Familienrecht: StAZ 2001, 193 (203 ff.); ders., The Application of Islamic Norms in<br />
Europe: Reasons, Scope and Limits: Canadian Diversity Vol. 4:3 (2005) 39 (43). Solche Fälle<br />
gibt es nach Auskunft einschlägig befasster Muslime auch in Nordamerika.<br />
156 Zitiert bei Ron Gray, Bringing Islamic law into Canada, Christian Heritage Party,<br />
CHP Archive vom 21. 1. 2004, .<br />
157 Boyd 109 ff.<br />
158 Wiedergegeben von Mona Eltahawy, Ontario must say ›no‹ to Islamic law: Christian<br />
Science Monitor vom 2. 2. 2005, . Vergleichbar auch die Presseerklärung des Muslim Canadian Congress vom 26. 8.<br />
2004 »Shariah based Arbitration Racist and Unconstitutional«, .<br />
159 Vgl. zu seiner Biographie die Ausführungen in »Our president«, . Es ist bemerkenswert, dass Syed Mumtaz Ali seine wissenschaftliche<br />
Ausbildung von Lehrern der äußerst traditionalistischen Deoband-Schule erhalten<br />
hat.
490 mathias rohe RabelsZ<br />
Sicht der Betreiber richtet sich in zunächst eher abstrakter Weise gegen das<br />
geltende kanadische Recht. Auf der FAQ-Liste, die auf einem Interview mit<br />
Syed Mumtaz Ali aus dem Jahr 1995 beruht, wird Folgendes ausgeführt 160 :<br />
»For Muslims, Personal/Family law (PFL) is a key ingredient which helps<br />
the individual and the community struggle towards harmonious equilibrium.<br />
Muslim PFL governs fundamental aspects of individual and community<br />
affairs [. . .]. Muslim PFL is rooted in and derived from the most basic<br />
sources of Islamic law – namely, the holy Qur’an and the Sunnah of the<br />
Prophet [. . .]. Again and again, Muslims are informed in the Qur’an that one<br />
cannot consider oneself a Muslim [. . .] unless one follows the guidelines,<br />
counsel, and principles related to us through the Qur’an and the Prophet<br />
Muhammad [. . .].«<br />
Damit wird die Bedeutung des muslimischen Personenstandsrechts als<br />
zentrales identitätsstiftendes Element für Individuen wie auch die muslimische<br />
Gemeinschaft herausgestellt. Es wird durch geschickte Wortwahl<br />
eine untrennbare Verbindung zwischen den allgemein anerkannten Quellen<br />
Koran und Prophetenüberlieferung einerseits und der über die Jahrhunderte<br />
entwickelten, höchst vielgestaltigen Ausformung von Personenstands- und<br />
Familienrechtsregeln andererseits hergestellt. Zugleich wird erkennbar, dass<br />
die Verfasser denjenigen, der diesem Recht nicht folgen will, nicht als (guten)<br />
Muslim anerkennen. 161<br />
In den folgenden Ausführungen wird der Gegensatz 162 zum kanadischen<br />
Recht herausgearbeitet, zunächst recht allgemein unter 3.:<br />
»In accordance with the holy Qur’an and the Sunnah of the Prophet Muhammad<br />
[. . .], we have mounted a campaign which would meet the needs of<br />
all Canadian Muslims, because right now we cannot meet those needs<br />
through Canadian secular law as it presently stands.«<br />
Später (unter 8., kursorisch auch unter 11., 12. und 13.) wird angesprochen,<br />
in welchen Bereichen Gegensätze gesehen werden. So wird empfohlen,<br />
das kanadische Recht dahingehend zu ändern, dass marriage offi cers auch<br />
für Scheidungen zuständig werden und dass die einjährige Trennungsfrist<br />
160 Syed Mumtaz Ali unter 1.<br />
161 In diese Richtung gehen auch die Ausführungen von Syed Mumtaz Ali unter 5.: »As<br />
Canadian Muslims, you have a clear choice. Do you want to govern yourself by the personal<br />
law of your own religion, or do you prefer governance by secular Canadian family law? If you<br />
choose the latter, then you cannot claim that you believe in Islam as a religion and a complete<br />
code of life actualized by a Prophet who you believe to be a mercy to all. [. . .] You cannot shirk<br />
from your religious and moral duty to try for what can be achieved lawfully within the parameters<br />
of the Canadian democratic system and constitutional legal rights.«<br />
162 Syed Mumtaz Ali unter 3. Der Abgeordnete Milloy hat in der Parlamentsdebatte in Ontario<br />
(2. Lesung vom 28. 11. 2005, abrufbar unter denn auch beklagt, dass einer der<br />
Befürworter in einer Fernsehdiskussion mit ihm kanadisches und islamisches Recht in einen<br />
strukturellen Gegensatz (»juxtaposition«) gebracht habe.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
491<br />
bei Konsensualscheidungen 163 aufgehoben wird und dass Fälle der Intestaterbfolge<br />
bei Muslimen muslimischen Schiedsgerichten zugewiesen werden.<br />
Eine inhaltliche Begründung, weswegen gerade in diesen Bereichen Sonderregelungen<br />
getroffen werden sollen, erfolgt nicht. Sie ergibt sich aber aus<br />
einem Vergleich zwischen traditionellen islam-rechtlichen Regelungen,<br />
welchen Syed Mumtaz Ali und das Darul Qada offenbar folgen, und dem<br />
kanadischen Recht. So kennt das islamische Recht ein einseitiges begründungsloses<br />
Scheidungsrecht des Ehemannes (talaq), in seiner traditionellen<br />
Form nach den sunnitischen Rechtsschulen ohne Formalitäten, während<br />
Ehefrauen nur unter sehr erschwerten Bedingungen eine Scheidung herbeiführen<br />
können. Gerade in Indien sorgt <strong>dieses</strong> Scheidungsrecht für ständige<br />
Auseinandersetzungen: Nach der herrschenden hanafi tischen Rechtsschule<br />
ist sogar eine entgegen den koranischen Regeln sofort hintereinander dreimalig<br />
ausgesprochene Scheidung wirksam 164 , dies selbst dann, wenn der<br />
Ehemann z. B. betrunken war. In mehreren Fällen haben Ortskleriker das<br />
betreffende Ehepaar daran gehindert, die Ehe fortzusetzen, obgleich beide<br />
Beteiligten dies wünschten, was für große Empörung in der Öffentlichkeit<br />
gesorgt hat. 165 Dass ein solches Scheidungsrecht – schon wegen seiner Einseitigkeit<br />
– weder mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter<br />
noch mit dem Schutz von Ehe und Familie vereinbar ist, bedarf<br />
keiner weiteren Begründung. 166<br />
Die geforderte Regelung der Intestaterbfolge richtet sich offenbar gegen<br />
den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter bei Bemessung der<br />
Erbanteile. Das islamische Recht kennt hier äußerst komplexe Regelungen,<br />
die freilich weiblichen Hinterbliebenen (z. B. Ehefrauen und Töchtern) nur<br />
die Hälfte dessen zumessen, was vergleichbare männliche Hinterbliebene<br />
erben würden. Auch bestehen gesetzliche Erbberechtigungen bestimmter<br />
Angehöriger. Zudem wird die Testierfreiheit auf 1/3 des Nachlasses beschränkt,<br />
wobei mehrheitlich die Meinung vertreten wird, dass zugunsten<br />
gesetzlicher Erben nicht testiert werden darf. 167 Desweiteren kennt das isla-<br />
163 Vgl. s. 8(2)(a) Divorce Act, R. S. C., 1985, c. 3 (2nd Supp.).<br />
164 Diese Ansicht fi ndet sich auch im »Muslim Handbook« des in Kanada lebenden muslimischen<br />
Aktivisten Mubarak Ali 297. Er bezeichnet das als Konsequenz der Dummheit des<br />
Ehemannes. Die Perspektive der dann vielleicht gegen ihren Willen geschiedenen Ehefrau<br />
scheint nicht zu interessieren.<br />
165 Bericht in der Sunday Hindustan Times vom 23. 4. 2006, S. 6.<br />
166 Vgl. hierzu Mathias Rohe, Muslim Minorities and the Law in Europe, Chances and<br />
Challenges (New Delhi 2007) 121 ff.<br />
167 In Kanada ist einschlägige englischsprachige Literatur erhältlich, die bereits entsprechende<br />
Formulierungsvorschläge enthält und sich ausdrücklich an Muslime in nicht-islamischen<br />
Ländern wendet; vgl. Muhammad al-Jibaly, Inheritance, Regulations and Exhortations<br />
2 (Arlington u. a. 2005) Preface S. XXIV und S. 99; Kareem M. Irfan/M. Nasrul Huq, Islamic<br />
Estate Planning Using Wills and Living Trusts, in: Muslims and Islamization in North<br />
America: Problems & Prospects, hrsg. von Amber Haque (Beltsville, Md. 1999) 331 ff.
492 mathias rohe RabelsZ<br />
mische Recht Erbverbote zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, zweifellos<br />
ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit, nach schiitischem Recht sogar<br />
in der einseitigen Form eines Erbverbots nur zu Lasten von Nicht-Muslimen.<br />
168 Unter 13. wendet man sich gegen die Möglichkeit staatlicher Betreuungsmaßnahmen<br />
für Betreuungsbedürftige, die nach dem Rechtsverständnis<br />
der Verfasser offenbar ausschließlich in den Händen der nach islamischem<br />
Recht zuständigen Familienmitglieder (bzw. in der Kompetenz<br />
der islamischen Schiedsgerichtsbarkeit, vgl. 22. 169 ) liegen sollen.<br />
Schließlich wird deutlich, dass Syed Mumtaz Ali und das Darul Qada das<br />
geltende kanadische Recht zwar als »Gast« im Lande gemäß der traditionellen<br />
islam-rechtlichen Doktrin 170 einhalten, es aber insgesamt ablehnen,<br />
soweit es im Gegensatz zum (traditionellen) islamischen Recht steht. So<br />
heißt es etwa: »If we prefer to disregard our religious duty to strive for inclusion<br />
of our rights within the Canadian system, then Canadian secular law<br />
will take precedence over the Law of Allah and His Messenger.« 171 Zum<br />
Thema der in Kanada grundsätzlich verbotenen Polygamie 172 wird unmissverständlich<br />
ausgeführt: »I stand on the Shariah which states that a Muslim<br />
living in a non-Muslim country must obey to Muslim Law to every extent<br />
possible, and that we must also adhere to the laws of the host country. Therefore,<br />
we accede to the Canadian Law on this point without accepting its<br />
superiority or supremacy over Muslim Law.«<br />
All dies legt den Schluss nahe, dass aus Sicht von Syed Mumtaz Ali die<br />
Einrichtung eines islamischen Schiedswesens im Bereich des Familien- und<br />
Personenstandsrechts nicht etwa ein abschließendes Projekt darstellt, sondern<br />
nur einen ersten Schritt in Richtung auf die weitestmögliche Einrichtung<br />
einer Parallelrechtsordnung, während andere Muslime wie z. B. Ahmad<br />
168 Vgl. Heiko Thoms, Nichtmuslimische Minderheiten im iranischen Erbrecht, in: Beiträge<br />
zum Islamischen Recht, hrsg. von Silvia Tellenbach/Thoralf Hanstein IV (2004) 77 (81 ff.).<br />
169 Syed Mumtaz Ali unter 22.: »(d) If a Muslim were to become incapable of conducting<br />
his affairs, either fi nancially or physically, then substitute decisions could be provided by arbitration<br />
boards in accordance with the provisions of the Muslim law.«<br />
170 Vgl. Rohe, Sharı - ’a Rules (oben N. 29) 346 ff.<br />
171 Syed Mumtaz Ali unter 15. Noch schärfer formuliert der Vizekanzler der Universität<br />
von Medina, Abdul Muhsin bin Hamd al-Abbad in seinem Traktat »The Islamic Shari’ah and the<br />
Muslims« (übersetzt aus dem Arabischen von Muhammad Saeed Siddiqi) (Lahore 1979) 32: »[. . .]<br />
the Muslims by adhering to the Islamic Shari’ah can dominate other nations and [. . .] their<br />
indifferent attitude to Islam is bound to drag them into the mire of ignominy and disgrace<br />
[. . .]. When the Muslims whom Allah had given prestige and honour due to their acting upon<br />
the decrees of Allah ignored the Commandments of Allah and depended upon the man-made<br />
laws and resolved their issues in the light thereof, dishonour and disgrace fell to their lot. What<br />
more dishonour and disgrace could be than that which the Arabs are suffering at the hands of<br />
the Jews today.«<br />
172 Syed Mumtaz Ali unter 28. Vgl. D.-Castelli/Goubeau (oben N. 63) 45 ff.; ausführlich zur<br />
Thematik der Sammelband: Polygamy in Canada: Legal and Social Implications of Policy<br />
Research Reports (Ottawa 2005).
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
493<br />
Kutty aus Toronto mit den Worten zitiert werden: »No one in his right<br />
mind would propose implementing this system of laws [sc.: the Sharia] in<br />
Canada« 173 . So wird in der FAQ-Liste unter 4. ausgeführt »We live in a non-<br />
Muslim country which subjects us to laws which, for the most part, do not<br />
allow us to live our faith to the best of our ability. Confi ning our campaign<br />
to those areas where the Canadian judicial system could accommodate Muslim<br />
minority concerns is far more feasible, realistic and practical than other<br />
areas of the Shariah. Family relationship is just such an area, in that while it<br />
does not make it necessary for Canadians to sacrifi ce the fundamental principles<br />
upon which the country was founded, it does enable the Canadian<br />
Muslims to have recourse to legal problem-solving based upon the Shariah.«<br />
Die Betreiber sehen also einen – nicht näher ausgeführten – fundamentalen<br />
Gegensatz zwischen einigen Teilen der Scharia und kanadischem Recht und<br />
beschränken sich (nur) aus Praktikabilitätsgründen auf vermeintlich wenig<br />
sensible Bereiche.<br />
Bemerkenswert ist, dass Familien- und Personenstandsrecht aus muslimischer<br />
Sicht als eine Materie gesehen wird, die sowohl Individualinteressen<br />
als auch diejenigen der Religionsgemeinschaft berührt. Andererseits<br />
wird aber die größere Rechtsgemeinschaft Kanadas mit ihren Verfassungswerten<br />
von Gleichberechtigung der Geschlechter und Religionen als »interessiert«<br />
ausgeblendet, dies entgegen der einschlägigen kanadischen Gesetzgebung<br />
174 und Rechtsprechung 175 . Vielmehr wird die multikulturelle Verfassung<br />
in Verbindung mit dem Vorbild der mehrheitlich muslimischen<br />
Staaten oder auch Indiens, welche in diesen Rechtsbereichen religiös-rechtliche<br />
Autonomie kennen, als Grundlage für die Forderung nach weitreichender<br />
Autonomie benutzt. Bei manchen mag aufgrund von Erfahrungen<br />
aus dem Herkunftsland staatliche Intervention in diesen Rechtsbereichen in<br />
der Tat ungewohnt erscheinen. So kann etwa in Indien der bloße Wunsch<br />
nach – zulässiger, aber wenig üblicher – staatlicher Registrierung einer Ehe<br />
die Frage auslösen, ob denn die ansonsten »zuständige« Familie mit dieser<br />
Eheschließung nicht einverstanden ist. 176<br />
Der – meines Erachtens zu hohe – Preis solcher Autonomie wäre aber die<br />
Außerkraftsetzung der Grundsätze der Gleichberechtigung der Geschlechter<br />
und Religionen in einem sehr sensiblen und, anders als viele Materien des<br />
173 »Islamic group against Ontario use of Sharia law« (oben N. 108).<br />
174 In Art. 2639 Code civil du Québec über Schiedsgerichtsbarkeit fi ndet sich die Formulierung<br />
»family matters or other matters of public order«.<br />
175 Der Ontario High Court hat in Baxter v. Baxter (1983), 6 D. L. R. (4th) 557 (559 f.)<br />
entschieden, dass das einen Ehegatten betreffende religiöse Scheidungsverbot nicht zu einem<br />
Ausschluss der Anwendbarkeit des staatlichen Divorce Act führen kann, weil die Ehe nicht<br />
nur die Beteiligten selbst betreffe, sondern auch grundlegende Interessen der Gesellschaft.<br />
176 Bericht von Professor Shalini Raneria bei einer Tagung in Brüssel zum Thema »The<br />
Response of State Law to the Expression of Cultural Diversity« am 29. 9. 2006.
494 mathias rohe RabelsZ<br />
Rechts, jedermann betreffenden Rechtsbereich. 177 Hierzu ist zu bemerken,<br />
dass in vielen – wenngleich durchaus nicht allen – Teilen der islamischen<br />
Welt seit langem Reformen durchgeführt werden, die insbesondere die<br />
Rechtsposition von Frauen im Familien- und Personenstandsrecht verbessern<br />
sollen. Solche Reformen werden von den meisten Gesetzgebern mit<br />
(von Traditionalisten oft angefeindeten) Scharia-rechtlichen Begründungen<br />
durchgesetzt. Wer also den religiösen Standpunkt vertritt, dass Gleichberechtigung<br />
der Geschlechter und Religionen auch die Botschaft des Islam<br />
sei 178 , kann das geltende Recht getrost als im Geiste »islamisch« akzeptieren,<br />
und es bedarf keiner Änderungen. Wer hingegen dem traditionellen islamischen<br />
Familien- und Personenstandsrecht mit seiner strengen Geschlechterrollenzuweisung<br />
und seinem Superioritätsanspruch über andere Religionen<br />
folgt, kann darin kaum die Unterstützung von Rechtsordnungen suchen,<br />
welche dieser Haltung diametral gegenüberstehen. Zwar können<br />
Individuen grundsätzlich auf ihnen zustehende Rechte verzichten, und die<br />
Schiedsgerichtsbarkeit kann nur dann aktiv werden, wenn alle Beteiligten<br />
sich ihr freiwillig unterwerfen. Anders als bei völlig informellen Schlichtungsmechanismen,<br />
auf die der Staat keinen Einfl uss hat, geht es hier aber<br />
um ein System der gesetzlich geregelten Kooperation und Aufgabenverteilung.<br />
Damit begibt sich der Staat und seine Rechtsordnung in die Nähe<br />
solcher Instanzen, die als eine Form der staatlichen Approbation auch der<br />
<strong>Inhalt</strong>e verstanden werden kann. Es geht auch nicht nur um Fälle grenzüberschreitender<br />
Rechtsanwendung, in denen aus Praktikabilitäts- und Vertrauensschutzgründen<br />
die Anwendung von fremden Rechtsnormen in gewissem<br />
Umfang hingenommen wird, auch wenn sie grundsätzlich nicht<br />
dem im Lande geltenden Standard entsprechen (vgl. dazu oben II.1.), sondern<br />
um »Inlandsfälle«, welche die Rechtsgemeinschaft unmittelbar berüh-<br />
177 Vgl. zur Parallelproblematik des »get« im jüdischen Ehescheidungsrecht Michael Freeman,<br />
Is the Jewish ›Get‹ any Business of the State?, in: Law and Religions, hrsg. von Richard<br />
O’Dair/Andrew Lewis (Oxford 2001) 365 (377 ff.) (Current legal issues, 4) mit weiteren Nachweisen.<br />
Ein gewisser Unterschied liegt allerdings darin, dass ein get nur höchstpersönlich<br />
ausgesprochen werden kann, während der talaq durch richterliche Entscheidung ersetzungsfähig<br />
ist; vgl. zum Problem der Erzwingung des get Rachel Biale, Women and Jewish Law (New<br />
York 1984) 97 ff. Zudem scheint es soziale Druckmechanismen zu geben – z. B. Demonstrationen<br />
von Frauen vor dem Büro des unwilligen Ehemannes –, um den get herbeizuführen; vgl.<br />
Gabrielle Atlan, Les juifs et le divorce (Bern u. a. 2002) 236. Immerhin ist bemerkenswert, dass<br />
im Vereinigten Königreich auch von jüdischer Seite die Einführung religiösen Scheidungsrechts<br />
gefordert wurde; vgl. Bernard Berkovits, Get an Talaq in English Law, Refl ections on<br />
Law and Policy, in: Islamic Family Law, hrsg. von Chibli Mallat/Jane Connors (London usw.<br />
Nachdruck 1993) 119 ff. (141 ff.).<br />
178 Vgl. nur Riffat Hasan, Rights of Women within Islamic Communities, in: Religious<br />
Human Rights in Global Persepective, hrsg. von John Witte Jr./Johan D. van der Vyver (The<br />
Hague u. a. 1996) 361 ff. sowie die Nachweise bei Rohe, Der Islam (oben N. 143) 53 ff. Ebenso<br />
die Aussage von Alia Hogben, Excecutive Director des Canadian Council of Muslim Women,<br />
bei einem Gespräch mit dem Verfasser am 14. 9. 2006 in Kingston.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
495<br />
ren. Sie unterliegen folgerichtig dem notwendigerweise engeren inländischen<br />
ordre public: Die friedenserhaltende Hauptfunktion der Rechtsordnung<br />
kann nur dann gewährleistet werden, wenn in sozial sensiblen<br />
Rechtsbereichen ein Minimum an einheitlichen Regeln festgelegt und<br />
durch gesetzt wird. Zudem wird der Druck auf Mitglieder der community<br />
mittelbar erhöht: So hat Syed Mumtaz Ali mehrfach geäußert, angesichts der<br />
nunmehr bestehenden Möglichkeiten einer am islamischen Recht orientierten<br />
Streitbeilegung gebe es keine Scharia-rechtliche Entschuldigung<br />
mehr, dies zu unterlassen. 179<br />
Eine gewisse Brisanz liegt im Übrigen in dem selbstformulierten Auftrag<br />
der FAQ-Liste (unter 16.), unter anderem durch Bildungsmaßnahmen Muslime,<br />
insbesondere die Jugend, an die islamischen Familien- und Personenstandsregelungen<br />
heranzuführen und ihre Bedeutung klarzumachen.<br />
Auch ist die in Kanada vertriebene Literatur zu erheblichen Teilen<br />
geeignet – und zum Teil auch erkennbar darauf gemünzt –, Muslime in<br />
Gegensatz zu westlichen Rechtsvorstellungen zu bringen. So ist es bemerkenswert,<br />
dass ein erheblicher Teil der in kanadischen Bildungszentren,<br />
Moscheen und islamischen Buchhandlungen erhältlichen Literatur nicht in<br />
englischer Sprache verfasst ist, sondern in Urdu, Arabisch etc. 180 Die englischsprachige<br />
Literatur besteht zu ganz erheblichen Teilen aus Übersetzungen<br />
von Werken islamistischer Vordenker wie Maududi 181 und Sayyid<br />
Qutb 182 oder aber aus Werken, in denen die angeblich rein materialistische,<br />
179 Wiedergegeben in: »Canada Moves Toward Accepting Islamic Sharia Settlements«,<br />
Friday Magazine vom 12. 12. 2003, , sowie beim Gründungskongress des Islamic Institute<br />
for Civil Justice am 21. 10. 2003 in Etobicoke, Ont.; vgl. »First Steps taken for Islamic arbitration<br />
board (Canada)«, Law Times News vom 25. 11. 2003 ( Jady van Rhijn), .<br />
180 Beobachtungen des Autors beim Besuch einer Vielzahl solcher Einrichtungen im<br />
Herbst 2005 sowie während eines Forschungsaufenthalts von Juli bis September 2006 in<br />
Montréal, Ottawa, Groß-Toronto, Vancouver, Calgary und Québec.<br />
181 Bei Maududis, Towards Understanding Islam (Ausgabe Scarborough 2003) 137, kann<br />
man etwa nachlesen: »And in Jihad, he [sc.: der gläubige Muslim] sacrifi ces money, material<br />
and all he has – even his own life. [. . .] In Jihad a man takes away life and gives it away solely<br />
in the cause of Allah.« Die Bedeutung von Jihad wird (ebd. 124) als »[. . .] a war that is waged<br />
solely in the name of Allah against those who practice oppression as enemies of Islam« defi -<br />
niert, was jedenfalls nach klassischer Lesart, der Maududi offenbar folgt, nicht als nur defensive<br />
Verteidigung gegen Angriffe zu interpretieren ist; vgl. hierzu Rudolph Peters, Jihad in<br />
Classical and Modern Islam (Princeton 1996). Die Konvertitin Jamilah Kolocotronis, Lehrerin<br />
an einer islamischen Schule in Kansas City, führt in ihrem breit auf Maududi und andere<br />
Extremisten gestützten Werk »Islamic Jihad, An Historical Persepective« (Indianapolis 1990)<br />
124 f. aus, dass sich die Grundlagen des Jihad über die Geschichte nicht geändert hätten, dass<br />
der militärisch-expansive Jihad aber heutzutage gefährlich sei, und dass die technologischen<br />
Fortschritte in Information und Kommunikation andere Mittel des Jihad ermöglichten.<br />
182 In dem Einführungsbändchen von Mohamed Ibrahim Elmasry, 1,000 Questions On Islam<br />
(Reprint New Delhi 2005), werden z. B. die Korankommentare von Maududi und Qutb
496 mathias rohe RabelsZ<br />
individualistische, säkulare und moral- und wertungebunden-rationalistische<br />
westliche Kultur scharf von der angeblich rein religiös-wertorientierten<br />
islamischen Weltsicht abgegrenzt wird183 , während Werke liberaler Autoren<br />
sehr selten auftauchen. 184<br />
184 184Nicht zuletzt ansprechend aufgemachte und offenbar subventionierte Literatur<br />
aus saudi-arabischen Quellen185 ist hier zu nennen. So wird in Toron-<br />
besonders hervorgehoben (S. 15 f., questions 124–127). Dass die frühislamische Eroberung<br />
Zentralasiens und des Sudan sowie die Eroberung Konstantinopels 1453 als »liberation« bezeichnet<br />
wird (question 19, S. 93, question 69, S. 97), verwundert dann kaum. Die rechtlichen<br />
Fragen zum Geschlechterverhältnis werden entsprechend der traditionellen Rollenverteilung<br />
beantwortet, wobei die erleichterte Scheidung für Frauen im Wege des khul’ sinngemäß befürwortet<br />
wird (question 11 ff., S. 107 ff., question 73, S. 113). In question 105, S. 117 wird<br />
dann ausgeführt, dass der Islam die Todesstrafe für Mord, illegalen Geschlechtsverkehr Verheirateter<br />
und für Abfall vom Islam nach freiwilliger Annahme befürworte. Der Verfasser lebt<br />
seit 1968 in Kanada, ist Professor für Electrical and Computer Engineering an der University<br />
of Waterloo, Ontario, und laut Buchumschlag »active in Islamic teaching to English-speaking<br />
Muslims and Non-Muslims«. In dem Werk von Sayyid Qutb, Milestones (Indianapolis 1990)<br />
47 f., heißt es: »Preaching alone is not enough to establish the dominion of Allah on earth, to<br />
abolish the dominion of man, to take away sovereignty from the usurper and return it to Allah,<br />
and to bring about the enforcement of the Divine shari’ah and the abolition of man-made<br />
laws.«<br />
183 Exemplarisch Shujaat A. Khan (Professor of Economics, St. John’s University, New<br />
York!), A Critical Review of Islamization of Knowledge in the American Perspective, in:<br />
Muslims and Islamization in North America (oben N. 28) 49 (51 f.). Massiv geht es dann im<br />
Schlusskapitel von Saiyad Fareed Ahmad/Saiyad Nizamuddin Ahmad, American Muslims at the<br />
Millenium and Beyond unter der Überschrift »The Clash of Civilizations, – The Crash of<br />
Western Civilization, – and Civilizational Dialogue« weiter: »Under the euphemism of a<br />
›fundamentalist threat‹, the Western powers, in their sinister alliance with international hegemonist<br />
Zionism are trying to demonize Islam wherever they can«, ebd. 399, 416; in der<br />
Tendenz vergleichbar die folgenden Werke: Muhammad Samiullah, Muslims in Alien Society<br />
(Lahore 1982): »[. . .] in all those societies where non-Muslims dominate, Muslims are generally<br />
subjected to discrimination as a consequence of being Muslims [. . .]; Muslim minorities<br />
can survive best by developing and putting into action the Islamic way of life to the fullest<br />
extent [. . .] Muslims have been given the leadership of mankind and our duty as leaders, not<br />
imitators, is to establish the right and eradicate the wrong. [. . .] Among problems confronting<br />
Muslims living in non-Muslim countries especially in the West, the one most acute is how to<br />
raise the new generation [. . .] amidst a hostile, materialistic, atheistic culture« (Preface S. III,<br />
IV, V); Abul Hasan Ali Nadwi, Western Civilization, Islam and Muslims 5 (Lucknow 1982) (ins<br />
Englische übersetzt von Mohammad Asif Kidwai); Maryam Jameelah, Western Imperialism<br />
menaces Muslims (Lahore 1978/2000) (23: »[. . .] what is today being exported from Europe<br />
and America and Asia is merely the rubbish from the collapse of Western civilization along<br />
with the deadly poisons of atheism and materialism«); Bilal Philips, Clash of Civilizations, An<br />
Islamic View (Qatar 2004) (z. B. fi ndet sich neben grundlegender Demokratiekritik [S. 27 ff.]<br />
auf S. 29 der Satz »[. . .] the social consequence of secular democracy and its basic principles is<br />
the removal of any foundation for stable morals in society.«). Vgl. auch die Nachweise in<br />
N. 184.<br />
184 Vertreter liberaler Organisationen berichten davon, dass es ihnen regelmäßig untersagt<br />
wird, ihre Materialien und Ankündigungen in solchen Läden bzw. den angeschlossenen Moscheen<br />
auszulegen.<br />
185 Vgl. zur wahhabistischen Indoktrination in nordamerikanischen Moscheen und Zen-
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
497<br />
to ein Buch mit dem Titel »Man-Made Laws vs. Shari’ah« 186 in einer englischen<br />
Übersetzung vertrieben, in dem der vormalige Mufti von Saudi<br />
Arabien ausgiebig zitiert wird. Unter anderem fi nden sich dort Ausführungen,<br />
dass der Muslim zum Ungläubigen (kafi r) werde, wenn er glaube,<br />
dass weltliche Gesetzgebung besser sei als die islamische Scharia oder ihr<br />
gleichkomme, oder dass es zulässig sei, sich ihrem Urteil zu unterwerfen (»to<br />
refer to them for judgment«), oder dass das islamische System nur auf die<br />
Beziehung zwischen Gott und dem Menschen beschränkt sei, oder dass<br />
Gottes Gesetze hinsichtlich des Handabschneidens bei Dieben oder des Steinigens<br />
Verheirateter, die außerehelichen Geschlechtsverkehr betreiben,<br />
nicht in die gegenwärtige Zeit passten 187 . Auch auf der Website der Muslim<br />
Youth Canada, die auf reichhaltige islamistische Quellen verweist, fi ndet<br />
sich eine apologetische Schrift von Taha Ghayyur 188 zum islamischen Strafrecht,<br />
die dessen allmähliche Einführung in Nordamerika propagiert. 189 Die<br />
tren auch Nina Shea, Conclusion: American Responses to Extreme Shari’a, in: Radical Islam’s<br />
Rules, The Worldwide Spread of Extreme Shari’a Law, hrsg. von Paul Marshall (Lanham u. a.<br />
2005) 195 (205 f.).<br />
186 Abdur-Rahmaan ibn Salih al-Mahmood, Man-Made Laws vs. Shari’ah, Ruling by Laws<br />
other that what Allah Revealed, Conditions and Rulings, übersetzt von V. Nasiruddin al-Khattab<br />
(Riad 2003).<br />
187 Abdur-Rahmaan ibn Salih al-Mahmood (vorige Note) 169; Zitate von Ibn Baaz. Vgl. zu<br />
diesem radikalen, in Saudi-Arabien und andernorts hochangesehenen Imam Stephen Schwartz,<br />
Shari’a in Saudi Arabia, Today and Tomorrow, in: Radical Islam’s Rules (oben N. 185) 19<br />
(32 ff.); vgl. auch Mathias Rohe, Islamisten und Schari’a, in: Islamismus, Diskussion eines vielschichtigen<br />
Phänomens, hrsg. von der Senatsverwaltung für Inneres, Abteilung Verfassungsschutz,<br />
Berlin (2005) 98 (111 f.).<br />
188 Taha Ghayyur, »Understanding Punishment in Sharia«, im Schlusskapitel »Shariah Today«,<br />
. Derselbe Autor kommt<br />
in dem muslimischen Jugendmagazin »aver« (Vol. 1 Issue 0) 2006, 21 mit einem Artikel über<br />
»In pursuit of knowledge« zu Wort, der mit folgender Passage unter der Überschrift »Selective<br />
Islam« (23) endet: »Some so-called ›progressive Muslims‹ have a hard time digesting certain<br />
aspects of Islam or Islamic sources that do not seem ›rational‹ or ›compliant‹ with our modern<br />
age. They pick and choose whatever they like. Due to this cut and paste method of learning<br />
they fail to see the bigger picture and deny Islamic law any role in our society. This leads to<br />
privatization of Islam to the domain of personal worship only.«<br />
189 Vergleichbar ausgerichtet ist auch ein Sammelband eines Aufsatzwettbewerbs der Federation<br />
of Students Islamic Societies in the UK and Eire (FOSIS): Essays on Islam, Winning<br />
Entries 1995 (London, Leicester 1995), in dem zum Thema »Lashing, stoning, mutilating:<br />
Islamic law is barbaric and outdated. Defend the case of Islam« apologetische Aussagen zum<br />
Nutzen von Körperstrafen und zur Verderbtheit des Westens dominieren. So wird in einem<br />
Aufsatz (S. 37) Sayyid Qutb mit der Aussage zitiert, der wahre Grund für die Ablehnung der<br />
Körperstrafen in Europa sei darin zu fi nden, dass sie »criminal in nature« seien und »persist in<br />
committing crimes which lack all justifi cation«. An anderer Stelle (S. 58 f.) wird ausdrücklich<br />
hervorgehoben, die entsprechenden Regelungen seien göttlich und gültig für alle Menschen<br />
zu allen Zeiten. Vergleichbar auch die in Kanada gedruckte Schrift von Abdallah Ibn Jarrallah<br />
Al-Jarrallah, La Responsabilité de la Femme Musulmane (übersetzt von V. Abdelfattah Bourouba)<br />
(Scarborough 2002) S. 69 unter 1., wo lapidar die Strafen für außerehelichen Geschlechtsverkehr<br />
eingefordert werden.
498 mathias rohe RabelsZ<br />
vergleichsweise breite Literatur zur »Frau im Islam« pfl egt weitestgehend ein<br />
jedenfalls in Rechtsfragen unrefl ektiert patriarchalisch-traditionelles, auf<br />
strenge Geschlechtertrennung ausgerichtetes Bild, das mit dem als ausufernd<br />
libertären und sittenlosen Leben im Westen in Gegensatz gebracht wird. 190<br />
Ein in der Hauptmoschee von Ottawa vertriebenes Werk der Majlisul Ulama<br />
of South Africa zum Erbrecht fordert deutlich dazu auf, die Rechtsordnung<br />
der Ungläubigen (kuffar) nicht anzuerkennen bzw. zu übernehmen<br />
und dort, wo es nötig wird, ihr formell zu folgen, materiell aber abweichende<br />
»glaubensgemäße« Regelungen zu treffen. 191 Wie viele Leser diese<br />
äußerst traditionalistische, teils auch extremistische Literatur erreicht, ist<br />
nicht abzuschätzen – die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung wohl<br />
kaum. Für sie steht wohl eher die Aussage Shahnaz Khans, wonach die<br />
Konstruktion eines Gegensatzes zwischen »kanadisch« und »muslimisch« die<br />
Realität nicht treffe und im Grunde genau den rassistischen Vorurteilen<br />
entspreche, nach denen Muslime nicht Teil der kanadischen Gesellschaft<br />
sein können. 192<br />
190 Exemplarisch M. Mazheruddin Siddiqi, Women in Islam (Delhi 1993) z. B. 108 f., 117,<br />
118, Aboo Ibraheem ’Abdul-Majeed ’Alee Hasan, Islamic Family Guidelines (Hounslow 1998);<br />
’Abdur Rahman I. Doi, Woman in Shariah (London 1996; Nachdruck der Ausgabe von 1989)<br />
(hier werden z. B. auf S. 117 ff. die drakonischen Körperstrafen für illegalen Geschlechtsverkehr<br />
gepriesen) und die Broschüre von Sarah Sheriff, Women’s Rights in Islam (London 1989).<br />
Vgl. auch Abdallah Ibn Jarallah (vorige Note) 127 ff., wo ein grundsätzliches Verbot der außerhäuslichen<br />
Frauenarbeit postuliert wird, sowie 119 ff. mit Ausführungen zu den umfangreichen<br />
Gehorsamspfl ichten der Ehefrau gegenüber dem Ehemann. Bei Mahmood Ibraheem<br />
El-Geyoushi (oben N. 143) 162 wird die familienrechtliche Geschlechterrollenverteilung<br />
schlicht mit dem Hinweis gerechtfertigt, die Frau sei »on physical grounds« daran gehindert<br />
und nicht verpfl ichtet, zum Gelderwerb für den Familienunterhalt beizutragen. Im Folgenden<br />
(ebd. 163) werden dann Falschinformationen über angeblich mangelnde Unterstützungsverpfl<br />
ichtungen für junge Mädchen ab dem Alter von 16 Jahren nach europäischem Recht gegeben<br />
und dies in Kontrast zum islamischen Vorbild gesetzt (es sei darauf hingewiesen, dass in<br />
Kanada unter den 20–24jährigen mehr als die Hälfte der Frauen und ca. 2/3 der Männer bei<br />
ihren Eltern leben; vgl. D.-Castelli/Goubeau [oben N. 63] 4 mit weiteren Nachweisen). Das<br />
Werk von Saalih ibn Ghaanim al-Sadlaan, The Fiqh of Marriage in the Light of the Quran and<br />
Sunnah (übersetzt von Jamaal al-Din M. Zarbozo) (Boulder, Colo. 1999), enthält auf S. 122 ff.<br />
Ausführungen zu Pfl ichten der Ehefrau wie den Verbleib im Haus des Ehemanns und das<br />
Verbot, es ohne seine Erlaubnis zu verlassen, die Pfl icht, sich auf Anforderung in sein Bett zu<br />
begeben, niemanden ohne sein Einverständnis in »sein« Haus zu lassen, ihm zu dienen etc.<br />
191 Majlisul Ulama (of South Africa), Kitaabul Meerath, The Book of Inheritance (New<br />
Delhi 2000) 13, 17 f.<br />
192 Shahnaz Khan (oben N. 33) 62 f. Vgl. auch zu den vielfältigen Haltungen gegenüber<br />
Scharia und kanadischem Recht die Interviews bei Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor (oben<br />
N. 38) 74 f.
72 (2008)<br />
c) Die Debatte in Québec<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
499<br />
Anders als in Ontario lässt der Code civil du Québec Schiedssprüche in<br />
Personenstands- und Familiensachen nicht zu (Art. 2639 C.c.Q. 193 ). Im Jahr<br />
2005 fand eine parlamentarische Debatte statt 194 , ausgelöst durch die Vorgänge<br />
in Ontario. Eine Erweiterung des Schiedsverfahrensrechts spezifi sch<br />
im Hinblick auf islamisch-religiöse Einrichtungen wurde schließlich einstimmig<br />
abgelehnt (»Que l’Assemblée nationale du Québec s’oppose à<br />
l’implantation des tribunaux dits islamiques au Québec et au Canada.«). 195<br />
Prägnant war die Aussage der Initiatorin Fatima Houda-Pepin: »Les victimes<br />
de la charia [. . .] ont un visage humain, et ce sont les femmes musulmanes<br />
[. . .].« Die hoffnungsvolle Entwicklung einer Integration gerade in der jüngeren<br />
Generation von Muslimen dürfe nicht durch die Machenschaften einer<br />
islamistischen Minderheit zerstört werden. Insbesondere wurde darauf<br />
hingewiesen, dass die Einführung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit<br />
nur ein Teil eines breiter angelegten Plans von Islamisten sei, ihre Ideologie<br />
weltweit durchzusetzen. Die Argumente in der Debatte, welche gegen die<br />
Anwendung islamischer Normen vorgetragen wurden, entsprechen im Wesentlichen<br />
denen der Gegner in der Diskussion in Ontario, so dass hier eine<br />
Wiederholung unterbleiben kann.<br />
Über die konkrete Auseinandersetzung hinaus wird spekuliert, dass angesichts<br />
der besonderen Situation Québecs als Stimme der frankophonen<br />
Minderheit die Anerkennung anderer Minderheiten dort auf größere Widerstände<br />
stoße als in anderen Teilen Kanadas. Es ist aber nicht nachweisbar,<br />
dass diese Sondersituation bei der Debatte über islamische ADR eine spürbare<br />
Rolle gespielt hat. Andererseits wäre es einer Untersuchung wert, ob<br />
die anders als in Ontario strukturierte, meist arabisch-frankophone muslimische<br />
Bevölkerungsgruppe vielleicht ihrerseits weniger an solcher ADR<br />
interessiert ist als die englischsprachigen, in Ontario schwerpunktmäßig ansässigen<br />
Muslime vom indischen Subkontinent mit seiner besonders starken<br />
Verwurzelung im islamischen Familien- und Personenstandsrecht.<br />
III. Zwischenergebnis und Ausblick<br />
Die Diskussion in Kanada hat sich, soweit sie überhaupt mit Fachfragen<br />
beschäftigt war, wenig mit den möglichen positiven Wirkungen religiöser<br />
193 »Disputes over the status and capacity of persons, family matters or other matters of<br />
public order may not be submitted to arbitration.«<br />
194 Québec, Assemblée nationale, Journal des débats, 26 mai 2005 (oben N. 106).<br />
195 Vgl. hierzu die heftige Kritik von Mohamed Nekili, A Historic Mistake in Quebec:<br />
Friday Magazine (des Canadian Islamic Congress) vom 9. 9. 2005, Vol. 8, Issue 74, .
500 mathias rohe RabelsZ<br />
Konfl iktbeilegung beschäftigt, sondern vor allem auf deren mögliche negative<br />
Auswirkungen auf Schwache konzentriert. Der einleuchtende Grund<br />
hierfür ist, dass der Anlass für die Debatte nicht bloße informelle, »nur« sozial<br />
wirksame Konfl iktbeilegungsmechanismen waren, sondern die Schiedsgerichtsbarkeit<br />
mit unmittelbarer Verbindung zu staatlichen Rechtsdurchsetzungsmechanismen.<br />
Es gibt aus zwei Gründen einen strukturellen Unterschied zwischen informeller<br />
religiöser Beratung und Mediation einerseits und religiöser<br />
Schiedsgerichtsbarkeit andererseits. Informelle Konfl iktlösungsmechanismen<br />
stehen grundsätzlich jedermann offen und berühren die Interessen von<br />
Staat und Gesamtgesellschaft erst dort, wo Menschen unter Zwang in ihren<br />
Rechten eingeschränkt werden. Wegen der mangelnden Formalität solcher<br />
Mechanismen steht den Betroffenen jederzeit und ohne Einschränkungen<br />
der Weg zu staatlichem Rechtsschutz offen. Insofern ist der Staat nicht unmittelbar<br />
in die Schlichtungsmechanismen involviert, sondern übt nur eine<br />
latente, aber im Bedarfsfall jederzeit zu aktivierende Wächterrolle aus.<br />
Bei der Schiedsgerichtsbarkeit hingegen sollen zwischen den Beteiligten<br />
möglichst rechtsverbindliche Ergebnisse erzielt werden, auch wenn ihre Anrufung<br />
selbst auf freiwilliger Basis zu erfolgen hat. Zudem setzt der Staat<br />
letztlich die dort gewonnenen Ergebnisse mit seinen eigenen Sanktionsmechanismen<br />
durch, wenngleich nicht uneingeschränkt. Dennoch ist die Kontrolldichte<br />
gegenüber rein staatlichen Entscheidungen deutlich geringer;<br />
ansonsten würde die Schiedsgerichtsbarkeit ja auch weitgehend sinnlos.<br />
Durch den Mechanismus, Schiedssprüche grundsätzlich zu vollstrecken, erteilt<br />
der Staat diesen eine Form staatlicher Anerkennung. Dies dürfte jedenfalls<br />
psychologisch nicht nur den konkreten »approbierten« Schiedsspruch<br />
betreffen, sondern das Anerkennungssystem generell. Das (religiöse)<br />
Schiedsgericht erhält damit eine Form staatlicher Approbation, die über eine<br />
bloße Duldung weit hinausreicht. Damit stellt sich für den Staat zugleich das<br />
Problem einer »Scheinidentifi kation« mit angewandten religiösen Normen,<br />
die inhaltlich von der staatlichen Rechtsordnung abweichen. Eine solche<br />
Anwendung kann auch indirekt erfolgen, indem z. B. Regelungen über Unterhaltszahlungen<br />
oder Erbeinsetzung auf der Grundlage diskriminierender<br />
religiöser Normen getroffen werden, ohne hierbei diese Normen ausdrücklich<br />
zu benennen. Beispiele aus dem Vereinigten Königreich zeigen, dass<br />
religiöse Normen insbesondere von Ehemännern in erpresserischer Weise<br />
gegen Ehefrauen genutzt werden, um diese zum Verzicht auf bestehende<br />
Rechte oder zu Zahlungen zu bewegen. 196<br />
Die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung von Schiedssprüchen<br />
196 Vgl. zur islamischen Schiedsgerichtsbarkeit die Nachweise bei Rohe, Das neue ägyptische<br />
Familienrecht (oben N. 155) 42 f.; zur jüdischen Schiedsgerichtsbarkeit Freeman (oben<br />
N. 177) 368 f.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
501<br />
ändert nichts Grundsätzliches an den eben beschriebenen Mechanismen.<br />
Wenn religiöse Schiedsgerichtsbarkeit als »Regel« anerkannt wird, ist die<br />
Überprüfung des Schiedsspruchs durch staatliche Gerichte die (zumindest<br />
psychologische) Ausnahme. Gerade der sozial schwächere Beteiligte wird<br />
sich gegen religiös begründete Entscheidungen einer staatlich »approbierten«<br />
Instanz, in deren Anrufung er einmal eingewilligt hat, nur schwer zur<br />
Wehr setzen können. Dies gilt insbesondere für einen Personenkreis, der<br />
aufgrund religiös-kultureller Verhaltensnormen ohnehin tendenziell darauf<br />
ausgerichtet ist, Konfl ikte »intern« zu bereinigen und nach außen Einigkeit<br />
zu demonstrieren. Zudem löst die staatliche »Approbation« bereits einen gewissen<br />
Druck aus, diese Instanz auch anzurufen, wenn dies nicht nur innerhalb<br />
der community als angemessenes Verhalten gefordert wird, sondern der<br />
Staat eine Art genereller »Unbedenklichkeitsbescheinigung« ausstellt. Mit<br />
den Worten Freemans: »[T]here are distinctions to be drawn between noninterference<br />
and active support, and also between toleration and endorsement.«<br />
197 Solange also nicht sichergestellt ist, dass die Anwendung religiöser<br />
Normen nicht mit dem Grund- und Menschenrechtsschutz der staatlichen<br />
Rechtsordnung in Widerspruch gerät (z. B. durch die Ausformulierung entsprechender<br />
religiös-rechtlicher Regeln in einem Kompendium und Gewährleistung,<br />
dass die involvierten Personen auch dieser Linie folgen), ist<br />
staatliche Beteiligung an religiöser Schiedsgerichtsbarkeit zumindest problematisch<br />
und meines Erachtens abzulehnen. Dies gilt ungeachtet dessen, dass<br />
entgegen verbreiteten Vorurteilen muslimische Frauen keineswegs als<br />
grundsätzlich schwach, unterdrückt und deshalb schutzbedürftig anzusehen<br />
wären. 198 Es genügt jedoch im vorliegenden Zusammenhang, wenn eine<br />
nennenswerte Gruppe – übrigens können auch Söhne betroffen sein – unter<br />
solch starkem sozialen Druck steht, dass der »Ausweg« zu staatlichen Instanzen<br />
faktisch verschlossen bleibt. Darin, dass es derart Betroffene in nicht<br />
unerheblicher Zahl gibt, waren sich indes sämtliche Gesprächspartner des<br />
Verfassers einig, auch wenn einschlägige wissenschaftliche Erhebungen fehlen.<br />
Insbesondere neu eingewanderte, mit den Lebensverhältnissen und<br />
Rechten der neuen Umgebung unvertraute, oft auch isoliert lebende Frauen<br />
dürften hier in Betracht kommen. Die Hauptpropagandisten der Islamic arbitration<br />
haben durch ihre zum Teil geradezu bedrohlichen öffentlichen Äußerungen<br />
die Entscheidung gegen ein religiöses Schiedswesen sicherlich<br />
wesentlich beeinfl usst. Die von manchen Vertretern muslimischer Organisationen<br />
und Wissenschaftlern gehegte – angesichts der agierenden Personen<br />
eher unrealistische 199 – Hoffnung, ein »Versuchsfeld« für die partielle Exis-<br />
197 Freeman (oben N. 177) 378.<br />
198 Vgl. hierzu Rohe, Das neue ägyptische Familienrecht (oben N. 155) 40; Bahkt.<br />
199 Etwas schlicht erscheint in diesem Zusammenhang die auf ein Zitat gestützte Argumentation<br />
Boyds (93). Sie will aus dem Umstand, dass die Betreiber der Islamic arbitration vor-
502 mathias rohe RabelsZ<br />
tenz eines entwickelten Islamischen Rechts 200 im Rahmen einer liberalen<br />
Verfassung unter Respektierung aller Beteiligten und mit Schutz für<br />
Schwache zu eröffnen, wurde damit zunichte gemacht.<br />
Die Debatte in Ontario kam mit der Ankündigung des Provinzgouverneurs<br />
Dalton McGuinty am 11. September 2005 201 , die religiöse Schiedsge-<br />
handene gesetzliche Möglichkeiten (einschließlich staatlicher Kontrolle in gewissem Umfang)<br />
nutzen, ableiten, dass sie sich in einen institutionellen Dialog mit dem Staat begeben; »In<br />
multicultural societies such as our own, this type of engagement ultimately aims at creating a<br />
genuine sense of shared identity, [and] social integration.« Hier scheint es sich aber eher um<br />
die Nutzung vorhandener Möglichkeiten zu weitestmöglicher Desintegration zu handeln.<br />
Noch prononcierter, aber mit wenig Problembewusstsein der Torontoer Politikwissenschaftler<br />
H. D. Forbes (Liberal Values and Illiberal Cultures, The Question of Sharia Tribunals in<br />
Ontario, Paper prepared for delivery at the Conference Citizenship-Ethnos-Multiculturalism,<br />
Canadian Embassy, Berlin, 8 November 2005, S. 9): Die Entscheidung in Ontario sei »a<br />
step away from the view that the fullest possible recognition of cultural differences, within the<br />
broadest possible understanding of liberal principles, can overcome the feelings of alienation<br />
and resentment of those living in the margins of a liberal society in which they are aliens and<br />
which does not really welcome their presence. [. . .] Instead, a step was taken in the direction<br />
of forced assimilation as the only realistic way to deal with scary Others.«<br />
200 In der Debatte wurde die Scharia von den Gegnern meist als strukturelles Gegenbild<br />
zum westlich-liberalen Rechtssystem und der Gleichberechtigung der Geschlechter stilisiert.<br />
Deutlich wird dies im Debattenbeitrag der Parlamentarierin Jocelyne Caron im Parlament von<br />
Québec am 26. 5. 2005 (oben N. 194) (S. 8716). Sie nimmt dort Bezug auf die Anwesenheit<br />
von Vertreterinnen Marokkos und die jüngst in Marokko erfolgten Familienrechtsreformen<br />
zugunsten von Frauen und schließt, es sei doch seltsam, dass in Kanada über die Einführung<br />
der Scharia debattiert werde, wenn zugleich in einem islamischen Staat gegen die Scharia<br />
gekämpft werde. Hier wird völlig ausgeblendet, dass die Reformen in Marokko als Reform<br />
innerhalb der Scharia konzipiert und verstanden wurden; vgl. hierzu auch Hans-Georg Ebert,<br />
Das neue Personalstatut Marokkos: Normen, Methoden und Problemfelder: Orient 46 (2005)<br />
609 (620, 630) sowie den Hinweis des Abgeordneten Michael Prue in der Parlamentsdebatte in<br />
Ontario (2. Lesung vom 28. 11. 2005, ).<br />
201 McGuinty wird mit den Worten zitiert: »There will be no Sharia law in Ontario.<br />
There will be no religious arbitration in Ontario. There will be one law for all Ontarians.« Die<br />
religiösen Schiedsgerichtsbarkeiten »threaten our common ground«. »Ontarians will always<br />
have the right to seek advice from anyone in matters of family law, including religious advice.<br />
But no longer will religious arbitration be deciding matters of family law«, vgl.: McGuinty<br />
rejects Ontario’s use of Shariah law and all religious arbitrations (Keith Leslie), Canadian Press<br />
vom 11. 9. 2005, . Ähnlich der Attorney<br />
General Michael Bryant in der Parlamentsdebatte vom 15. 11. 2005 (vorige Note): »[. . .]<br />
when it comes to family law arbitrations in this province, there is only one law in Ontario, and<br />
that is Canadian law. [. . .] Resolutions based on any other laws or principles would have no<br />
legal effect and would not constitute family arbitration.« Zur parlamentarischen Kritik über<br />
die Art der Debattenführung vgl. die Äußerungen der Abgeordneten Runciman (ebd.): »Sadly,<br />
the Attorney General allowed this issue to fester for month after month, turning it into a<br />
them-against-us controversy« und Peter Kormos (ebd.) : »[. . .] the Attorney General and this<br />
government have made a bad situation worse«; im Folgenden wird die ungenügende Ausstattung<br />
der staatlichen Gerichte kritisiert, die andere Lösungen erzwingt; vgl. hierzu auch die<br />
Kritik des Abgeordneten Jim Flaherty (2. Lesung vom 28. 11. 2005, ebd.).
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
503<br />
richtsbarkeit in Familiensachen wesentlich zu beschneiden (anders als in der<br />
öffentlichen Ankündigung wurde die religiöse Schiedsgerichtsbarkeit nicht<br />
etwa abgeschafft 202 ), zu einem vorläufi gen Abschluss. Durch den Family<br />
Law Act 2006 wurde diese Ankündigung umgesetzt. Gemäß s. 2.1.(1) des<br />
Ontario Arbitration Act in der Fassung von 2006 (Parallelregelungen in s.<br />
59 Ontario Family Law Act, R. S. O. 1990/2006) gelten für die Schiedsgerichtsbarkeit<br />
in Familiensachen der Arbitration Act und der Family Law<br />
Act, wobei gemäß subsection (2) letzterer sich im Konfl iktfall durchsetzt.<br />
Gemäß s. 2.2(1) werden Schiedsverfahren in Familiensachen durch dritte<br />
Personen, die nicht in völliger Übereinstimmung mit dem Recht Ontarios<br />
oder einer anderen kanadischen Provinz durchgeführt werden, nicht als<br />
Familienschiedsverfahren anerkannt, und Entscheidungen in solchen Verfahren<br />
wird jede rechtliche Wirkung abgesprochen. Section 3(2) erklärt die<br />
wesentlichen Regelungen des kanadischen Rechts (ausschließliche Anwendbarkeit<br />
kanadischen Sachrechts mit beschränkter Wahlmöglichkeit gemäß<br />
s. 32[4] unter den Sachrechten der kanadischen Provinzen sowie uneingeschränkte<br />
Möglichkeit zur gerichtlichen Überprüfung) in familienrechtlichen<br />
Schiedsverfahren für zwingend. Section 50.1. regelt die ausschließliche<br />
Vollstreckbarkeit von Schiedssprüchen in Familiensachen nach<br />
dem Family Law Act 2006.<br />
Gemäß s. 59.4 Ontario Family Law Act, R. S. O. 1990/2006, sind Schiedsvereinbarungen<br />
in Familiensachen nur dann durchsetzbar, wenn sie nach<br />
Entstehen der Streitigkeit geschlossen wurden. Section 59(6)(1)(b) verlangt<br />
zudem vorherige unabhängige rechtliche Beratung aller Beteiligten; dabei<br />
stellt sich nun das Problem, dass für Schiedsverfahren keine Prozesskostenhilfe<br />
gewährt wird, was armen Beteiligten den Weg in solche Streitschlichtung<br />
verschließt. 203 Section 2.2.(2) stellt klar, dass niemand gehindert ist, in<br />
solchen Dingen Rat von Dritten einzuholen. Informelle Verfahren ohne<br />
Rechtswirkungen nach kanadischem Recht 204 bleiben also möglich.<br />
Fraglich bleibt, inwieweit religiöse Normen in Familienschiedsverfahren<br />
weiterhin Anwendung fi nden. 205 Sie dürften wohl im Rahmen des ohnehin<br />
geltenden dispositiven Rechts anwendbar sein 206 , aber keinesfalls darüber<br />
202 So auch die Einschätzung von Professor Natasha Bakht, University of Ottawa, bei<br />
einem Gespräch am 14. 9. 2006 in Ottawa.<br />
203 Vgl. hierzu Bakht. Vertreterinnen muslimischer Frauenorganisationen fordern deshalb<br />
entsprechende gesetzliche Ergänzungen, so Alia Hogben, Executive Director des Canadian<br />
Council of Muslim Women bei einem Gespräch mit dem Verfasser am 14. 9. 2006 in Kingston.<br />
204 Es ist möglich, dass andere, religiös ausgerichtete Rechtsordnungen die Ergebnisse<br />
solcher Verfahren anerkennen. Zu solchen Verfahren von sunnitisch-muslimischer Seite vgl.<br />
den Bericht von Boyd 60 f.<br />
205 Darauf weist als eine von wenigen Stimmen Fidler hin (oben N. 102).<br />
206 So auch die Einschätzung von Professor Natasha Bakht, University of Ottawa, bei<br />
einem Gespräch am 14. 9. 2006 in Ottawa.
504 mathias rohe RabelsZ<br />
hinausreichen. Nicht restlos geklärt ist angesichts der vom Ministerpräsidenten<br />
deutlich geäußerten Intention, religiöse Schiedsgerichtsbarkeit abzuschaffen,<br />
ob Vereinbarungen in diesem Rahmen, die sich nicht nur inhaltlich,<br />
sondern auch explizit auf religiöse Normen beziehen, einer gerichtlichen<br />
Überprüfung standhalten. 207 Der Gesetzestext und die bisherige<br />
kanadische Rechtspraxis sprechen allerdings deutlich dafür. So bestünde<br />
nach wie vor die Möglichkeit, ein Schiedswesen mit den gesetzlichen Anforderungen<br />
entsprechend (vgl. s. 58[b] und [d] 208 des reformierten Family<br />
Law Act) ausgebildeten Schiedsrichtern zu etablieren, das solchen Interpretationen<br />
des islamischen Rechts folgt, die inhaltlich mit den Grundlagen des<br />
kanadischen Familienrechts übereinstimmen.<br />
Zudem wurde die oben genannte Abschluss-, <strong>Inhalt</strong>s- und Ergebniskontrolle<br />
eingeführt, wie sie auch für sonstige »domestic contracts« im Sinne<br />
von s. 51 Ontario Family Law Act, R. S. O. 1990/2006, gilt (vgl. ss. 59[5],<br />
33[4] für Unterhaltsvereinbarungen, s. 56[1]-[7] für domestic contracts genereller).<br />
Die bisherigen Betreiber der Islamic arbitration haben die Neuregelung im<br />
Gesetzgebungsverfahren als Kapitulation vor anti-islamischen Kräften heftig<br />
kritisiert, scheinen also wenig Interesse daran zu haben, auf ihrer Basis<br />
die Arbeit fortzusetzen. Diejenigen Muslime, welche sich nur aus dem Aspekt<br />
medialer Ungleichbehandlung heraus mit der Initiative in gewissem<br />
Umfang solidarisiert haben, scheinen darauf zu setzen, dass sie sich angesichts<br />
dieser neuen Umstände totläuft.<br />
Allerdings ist zu erwarten, dass islamische Mediationsverfahren, wie sie<br />
bereits vor 2004 praktiziert wurden 209 , auch weiterhin (ohne jegliche Kontrolle)<br />
angewandt werden. 210 Der mit der soeben erörterten Änderung des<br />
207 Information von Professor Ayelet Shachar, University of Toronto, bei einem Gespräch<br />
in Toronto am 29. 7. 2006; nach Einschätzung von Professor Natasha Bakht wurde ein möglicherweise<br />
dahingehender politischer Wille tatsächlich nicht umgesetzt. Dies erscheint angesichts<br />
der vorhandenen Regelungen sehr plausibel. Ohne Berücksichtigung des Aspekts dispositiven<br />
Sachrechts würdigt Shelley McGill (Religious Tribunals and the Ontario Arbitration<br />
Act, 1991: The Catalyst for Change: Journal of Law and Social Policy 20 [2005] 53 ff. [66])<br />
die Aussage, es solle nur »one law for all Ontarians« gelten, dahingehend »then there will be<br />
no choice of law whatsoever«.<br />
208 Danach ist die Mitgliedschaft in einer bestimmten anerkannten ADR-Organisation<br />
erforderlich; zudem muss eine Ausbildung erfolgt sein, die Training in getrennter Befragung<br />
der Parteien hinsichtlich Machtungleichgewichten und häuslicher Gewalt beinhaltet.<br />
209 Deutlich z. B. Elmasry in »Ontario Islamic Court Should be Welcome, Not Feared«<br />
(oben N. 88); vgl. auch den Bericht von Carlucci (oben N. 109); dort wird ein Imam aus Toronto<br />
(Mubin Shaikh) mit der Aussage zitiert, er habe im Jahr (2005) 13–14 Schlichtungsfälle<br />
behandelt; pikanterweise wurde mittlerweile bekannt, dass dieser vehemente Vertreter des<br />
islamischen Schiedswesens Mitarbeiter des Canadian Security Intelligence Service war (vgl.<br />
»Mubin Shaikh, the bomb plot mole«, CBC news online vom 14. 7. 2006, ).<br />
210 Vgl. nur Faisal Kutty, Ignorance and Islamophobia forces Ontario government to ban
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
505<br />
Arbitration Act verfolgte Hauptzweck des Schutzes Schwächerer kann hier<br />
offensichtlich nicht greifen. Der Verfasser konnte sich in zahlreichen Gesprächen<br />
davon überzeugen, dass die religiös-kulturelle Vorprägung in vielen<br />
muslimischen Familien in Kanada Konfl ikte auslöst, die dem durchschnittlichen,<br />
in der westlichen Kultur aufgewachsenen Kanadier (wie Europäer)<br />
fremd sein dürften. Familiäre Erwartungen, denen man sich nicht<br />
ohne weiteres widersetzt, intensive Einfl ussnahme der Großfamilie bei der<br />
Wahl des Ehepartners – bis hin zu Details der Hochzeit und Ähnliches – sowie<br />
spezifi sche, auf indirekte Mechanismen ausgerichtete Konfl iktlösungskulturen<br />
erleichtern versierten »Insidern« den Zugang zu Ausgleich und<br />
Mediationsverfahren. Solange deren Ergebnis keine Rechtsverbindlichkeit<br />
beansprucht, könnten die positiven Potentiale überwiegen, sofern sie von<br />
geeigneten Personen betrieben werden. Vertreter einer Anpassung der einschlägigen<br />
Normen an den kanadischen Kontext sind teilweise skeptisch,<br />
solange ein nicht geringer Teil an Mediation in den Händen autodidaktisch<br />
ausgebildeter, besonders traditionalistisch gesonnener Personen liegt. Sie<br />
fordern dringlich ein modernes islamisches Bildungswesen ein, das die Brücke<br />
zwischen kanadischer Rechts- und Gesellschaftsordnung und islamischem<br />
Glauben schlägt. Sehr problematisch sei es z. B., dass manche islamischen<br />
Bildungseinrichtungen schwache Schüler oder Problemschüler aus<br />
staatlichen Schulen übernähmen und sie dann auf traditionalistischer Basis<br />
zum »Mufti« ausbildeten. 211 Sie mahnen denn auch eine konsequente Trennung<br />
zwischen zeitgemäßer Interpretation der islamischen Quellen und<br />
dem verbreiteten, oft sehr traditionalistisch-patriarchalischen kulturellen<br />
Kontext an.<br />
Letztlich offen bleibt der Konfl ikt, der sich aus einem Auseinanderfallen<br />
staatlicher Rechtsgrundsätze und sozial gelebten Rechtsvorstellungen ergibt.<br />
Das gilt – vergleichbar der Situation im Vereinigten Königreich 212 –<br />
insbesondere im Hinblick auf Scheidungsverfahren. Auch in Kanada gibt es<br />
Fälle, in denen Frauen in der community trotz staatlicher Ehescheidung als<br />
verheiratet gelten – entgegen der Beratung von gemäßigter Seite, wonach<br />
eine solche Scheidung auch die religiösen Voraussetzungen erfülle – oder<br />
fühlen sich selbst subjektiv in dieser Situation. In anderen Fällen herrscht<br />
faith-based arbitrations in Ontario (12. 3. 2006), Media Monitors Network vom 5. 7. 2006,<br />
.<br />
211 Information von Faisal Kutty (oben N. 144).<br />
212 Vgl. hierzu Sonia Shah-Kazemi, Untying the Knot, Muslim Women, Divorce and the<br />
Sharia (London 2001); Rohe, Das neue ägyptische Familienrecht (oben N. 155) 42 f. sowie die<br />
im September 2006 von Maha Sardar an der SOAS, University of London vorgelegte Magisterarbeit<br />
zum Thema »Ignorance, arrogance or simple complacency?, An analysis of Muslim<br />
views of nikah without registration.«
506 mathias rohe RabelsZ<br />
Unsicherheit, ob die Rechtsordnung des Herkunftslandes die staatliche<br />
Scheidung anerkennt.<br />
Hier stehen mehrere Wege offen. Zum einen könnten staatliche Gerichte,<br />
wenn sie denn angerufen werden, den Ehegatten zum Scheidungsausspruch<br />
mit Mitteln des Rechts zwingen, indem die nach geltendem staatlichem<br />
Recht unbegründete Unterlassung als Delikt gewertet wird. 213 Fraglich ist<br />
allerdings wiederum, ob eine solche unter mittelbarem »Zwang« ausgesprochene<br />
Scheidung auch akzeptiert wird.<br />
Zum anderen dürfte es ausreichen, wenn in informellen oder jedenfalls<br />
rechtlich nicht bindenden Mediationsverfahren der Ehemann zum Scheidungsausspruch<br />
veranlasst wird bzw. die Mediationsinstanz die Scheidung<br />
konstatiert. Wenn sie soziale Autorität in der community hat, die dem staatlichen<br />
Gericht bei manchen fehlen mag, so müsste eine Entscheidung sozial<br />
wirksam werden, auch wenn sie nicht mit staatlichen Mitteln durchsetzbar<br />
ist. Ohnehin ist ja ein gewisser Widerspruch erkennbar, wenn einerseits<br />
staatliche Gerichte aus religiös-rechtlichen Gründen abgelehnt werden, aber<br />
anderseits staatliche Rechtsdurchsetzungsmechanismen in Anspruch genommen<br />
werden sollen, womit das von Syed Mumtaz Ali betriebene Institut<br />
auch ausdrücklich geworben hat 214 . Allerdings ist festzuhalten, dass mit<br />
einer Abschaffung religiöser Schiedsgerichtsbarkeit denjenigen, die aus den<br />
genannten Gründen den Gang zu staatlichen Gerichten scheuen, noch nicht<br />
geholfen ist; rein interne informelle Mediationslösungen können – unkontrolliert<br />
– zu ihren Lasten ausfallen. 215 Das von Ayelet Shachar 216 herausgearbeitete<br />
Dilemma, sich für das eine (staatliche Rechtsdurchsetzung) oder<br />
das andere (informelle kommunitäre Konfl iktlösung) entscheiden zu müssen,<br />
bleibt insoweit ungelöst.<br />
Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Abwehr von Rechtsnormen,<br />
welche eine Geschlechterungleichheit fortschreiben, und die theoretische<br />
213 Vgl. zu Parallelüberlegungen bei Verweigerung des jüdisch-rechtlichen get Freeman<br />
(oben N. 177). Allerdings hat es die Cour d’Appel von Québec in Marcovitz v. Bruker ([2005]<br />
R. J. Q. 2482, 2495 ff.) abgelehnt, der scheidungswilligen Ehefrau Schadensersatz wegen Verweigerung<br />
des get zuzusprechen; eine solche »religiöse« (anlässlich der Scheidung durch das<br />
staatliche Gericht vereinbarte) Verpfl ichtung könne nicht zivilrechtlich durchgesetzt werden.<br />
Die Entscheidung (ebd. 2492) stützt sich auch auf die Fehlentscheidung in Kaddoura v. Hammoud<br />
(oben N. 62). Ähnlich für die Verpfl ichtung zur Mitwirkung am get unter Berufung auf<br />
die Religionsfreiheit (angenommener Verstoß gegen Art. 4 GG, Art. 9 EMRK, Art. 6<br />
EGBGB) OLG Oldenburg, StAZ 2006, 295 (297).<br />
214 In der Broschüre »A Essential Islamic Service in Canada: Muslim Marriage, Mediation<br />
& Arbitration Service« () wird mehrfach als<br />
einzigartiger Vorteil hervorgehoben, dass die Schiedssprüche bindend und durchsetzbar<br />
sind.<br />
215 Vgl. hier nur den Hinweis von Eileen Morrow (Ontario Association of Interval and<br />
Transition Houses) in der Parlamentsanhörung in Ontario am 16. 1. 2006 (oben N. 40).<br />
216 Grundlegend Shachar, Multicultural Jurisdictions (oben N. 126).
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
507<br />
Geltung solcher Normen, die auf dem Grundsatz der Geschlechtergleichheit<br />
beruhen, faktisch bestehende Ungleichheitsprobleme – weit über die islamische<br />
Gemeinschaft hinaus – keineswegs beseitigt.<br />
C. Muslimische Identität und säkularer Rechtsstaat:<br />
Gegensatz oder Synthese?<br />
Insgesamt hat sich in zahlreichen Gesprächen mit Vertreterinnen und<br />
Vertretern muslimischer Organisationen und mit Wissenschaftlerinnen und<br />
Wissenschaftlern gezeigt, dass wohl für die meisten Muslime in Kanada die<br />
Frage der Anwendung islam-rechtlicher Normen im Bereich des Privatrechts<br />
von allenfalls nachrangiger Bedeutung ist. »Säkulare« Vertreter lehnen<br />
die Anwendung derartiger Normen schlichtweg ab und sind mit der<br />
Anwendung des geltenden kanadischen Rechts zufrieden. Letzteres gilt aber<br />
auch für viele eher traditionell-fromme Muslime, denen die Einhaltung der<br />
orthopraktischen Religionsvorschriften (Gebet, Fasten, Speisevorschriften<br />
etc.) ein wichtiges Anliegen ist, die aber in Fragen der Rechtsanwendung<br />
die Geltung kanadischen Rechts schlicht als selbstverständliches Faktum<br />
voraussetzen. Der mögliche inhaltliche Konfl ikt zwischen islam-rechtlichen<br />
Normen und den kanadischen Pendants wird oft nicht gesehen bzw. thematisiert.<br />
Wird er allerdings zur Sprache gebracht, so deckt er oft ein erhebliches<br />
Maß an Verunsicherung über das Verhältnis zwischen dem geltenden<br />
staatlichen Recht und der Verbindlichkeit islam-rechtlicher Normen auf.<br />
Viele Muslime haben sich diese Frage offenbar nie gestellt. Soweit unter<br />
ihnen islam-rechtliche Normen des Herkunftslandes (informell) angewandt<br />
werden, dürfte es sich in vielen Fällen um ein unrefl ektiertes Festhalten an<br />
einer eher kulturell als religiös zu deutenden Praxis handeln. Nur eine sehr<br />
kleine Zahl von Aktivisten und Extremisten propagiert öffentlich die breitere<br />
Anwendung islam-rechtlicher Normen im Privatrecht über die bestehenden<br />
Möglichkeiten bei grenzüberschreitenden Sachverhalten und im<br />
Rahmen des dispositiven Sachrechts hinaus.<br />
Allerdings wird in der dem Publikum zugänglichen einschlägigen Literatur<br />
und in Internetpräsentationen muslimischer Organisationen weitgehend<br />
unkommentiert traditionelles Familienrecht zumeist sunnitisch-hanafi -<br />
tischer Prägung als »islamisch« vorgestellt. Offenbar herrscht hier die Auffassung<br />
vor, dass diese Normen »eigentlich« Anwendung fi nden sollten. Eine<br />
ähnliche Haltung hat sich auch in vielen Gesprächen mit Muslimen in Organisationen<br />
bzw. bei Veranstaltungen 217 gezeigt, wobei die große Mehrzahl<br />
217 Repräsentative Ergebnisse waren im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu erzielen.<br />
Die gezielte Befragung von Muslimen, die sich in Organisationen engagieren, die einschlägige<br />
Veranstaltungen besuchen oder die in islamischen Buchhandlungen beschäftigt sind oder
508 mathias rohe RabelsZ<br />
der Befragten darauf praktisch kaum Wert legt 218 bzw. über das Verhältnis<br />
geltenden kanadischen Rechts und ihrer religiösen Einstellung zu der Frage<br />
wie erwähnt verunsichert ist. Häufi g wurde in Gesprächen mit Vertretern<br />
von Organisationen oder Betreibern von Buchhandlungen auf Imame verwiesen,<br />
die »offi zielle« Stellungnahmen abgeben könnten 219 . Diese ihrerseits<br />
sind nach Aussagen einiger Vertreter muslimischer Organisationen ganz<br />
überwiegend traditionalistisch eingestellt. Hier kann sich ein »Einfallstor«<br />
für fundamentalistische Indoktrination öffnen, wie sie auch von Seiten<br />
mancher muslimischer Organisationen beobachtet wird, insbesondere unterstützt<br />
aus Saudi-Arabien und einigen anderen Staaten der Region. Hingegen<br />
ist von Seiten »liberaler« Muslime wenig Bereitschaft erkennbar, sich<br />
auf die inner-islamische Reformdebatte einzulassen. Die Mehrheit dieser<br />
Richtung wendet sich gegen die Anwendung religiöser Rechtsvorschriften<br />
generell, insbesondere vor dem – verständlichen – Hintergrund des traditionalistischen<br />
Mainstream, der seinerseits wenig Verständnis für Reformüberlegungen<br />
aufbringt. Die Debatte über die islamische Schiedsgerichtsbarkeit<br />
hat darüber hinaus gezeigt, dass eine erhebliche Zahl von Befürwortern<br />
nicht die Anwendung bestimmter Vorschriften ihres <strong>Inhalt</strong>s wegen im<br />
Sinn hatte, sondern das Anliegen der Gleichberechtigung mit anderen Religionsangehörigen.<br />
So lässt sich denn auch vermuten, dass wohl vor allem unter neueren Immigranten<br />
rechtliche Parallelstrukturen vorzufi nden sind, bei denen die soziale<br />
Realität insbesondere in Fragen der Ehescheidung von <strong>Inhalt</strong> und<br />
Durchsetzung des geltenden kanadischen Rechts abweicht. Wie in vielen<br />
europäischen Staaten stellt sich die Aufgabe, in allen Bevölkerungsschichten<br />
und Bildungsstufen ein Bewusstsein für die Grundlagen der bestehenden<br />
Rechtsordnung zu schaffen, über die verbreitete Unkenntnis herrscht,<br />
durchaus nicht nur unter Muslimen. Ein entscheidend wichtiger Aspekt<br />
hierbei ist die notwendige inner-muslimische Debatte über die Frage, inwieweit<br />
und in welchen Grenzen sich muslimische Glaubensüberzeugungen<br />
innerhalb der unveränderlichen Grundsätze westlicher Rechtsordnungen<br />
realisieren lassen. Im hier untersuchten Bereich des Privatrechts würden<br />
mögliche Konfl ikte dadurch entschärft, dass Reformentwicklungen innerhalb<br />
des islamischen Rechts rezipiert werden, die eine inhaltliche Übereinstimmung<br />
mit westlichen Rechts- und Gerechtigkeitskonzepten bewirken.<br />
Das Beispiel der Anpassung des Erbrechts an das Postulat der Gleichberech-<br />
einkaufen, rechtfertigt aber doch Tendenzaussagen für diejenigen, die sich überdurchschnittlich<br />
aktiv mit Fragen des Islam befassen.<br />
218 Häufi g wurde in Gesprächen geäußert, dass die Muslime in Kanada andere Probleme<br />
hätten als derartige Fragen. Bei der großen Mehrheit darf weitgehend Desinteresse vermutet<br />
werden.<br />
219 Zur besonderen Rolle von Imamen gerade in Diasporasituationen vgl. auch Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor<br />
(oben N. 38) 16.
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
509<br />
tigung der Geschlechter vor dem Hintergrund ebenso gleicher unterhaltsrechtlicher<br />
Verpfl ichtungen (vgl. oben B.II.3.[3]) ist ein Beispiel hierfür.<br />
Bislang befassen sich allerdings wie erwähnt nur sehr wenige Muslime mit<br />
derartigen – gewiß anspruchsvollen – Fragen; die kritiklose Übernahme<br />
traditioneller Vorstellungen dominiert noch bei Weitem. Andererseits besteht<br />
ein erkennbares Bildungsbedürfnis für Gerichte und Verwaltungen im<br />
Hinblick auf handlungsbestimmende sozio-kulturelle und religiöse Prägungen<br />
unter Immigranten, um Konfl ikte zutreffend analysieren und so<br />
weit wie möglich im Zusammenwirken mit den Beteiligten lösen zu können.<br />
220<br />
Im Übrigen können vor allem grenzüberschreitende Sachverhalte und die<br />
Lebenssituation neuer Immigranten im Rahmen des Internationalen Privatrechts<br />
und des dispositiven Sachrechts sowie durch angemessene informelle<br />
Mediationsverfahren adäquat geregelt werden.<br />
Zugleich fügt sich die Debatte über die Reichweite der Autonomie von<br />
Muslimen in Kanada in eine breitere Diskussion über Gründe und Grenzen<br />
der Multikulturalität. Bis vor wenigen Jahrzehnten betraf Multikulturalität<br />
in Kanada im Wesentlichen anglo- bzw. franko-kanadische Unterschiede<br />
und Gegensätze sowie die Position der Ureinwohner (»First Nations«). 221<br />
Durch die verstärkte und weiterhin zunehmende Zuwanderung aus Asien<br />
und Afrika erweitert sich das Spektrum kultureller Prägungen wesentlich;<br />
zugleich erhöht sich dadurch auch das Potential an Spannungen. So hat die<br />
Entscheidung des Quebec Court of Appeal 222 , welche das Verbot für einen<br />
Sikh-Schüler, in der Schule einen nicht als Waffe intendierten Ritual-Dolch<br />
(kirpan) zu tragen, unter Sicherheitsaufl agen aufgehoben hatte, viel Ablehnung<br />
erfahren. Nicht von ungefähr ist jüngst ein Werk erschienen, das an<br />
die europäischen Wurzeln der kanadischen Identität erinnert, und in dem<br />
sich der Satz fi ndet, nötig sei »[. . .] emphasizing what core Canadian values<br />
really are instead of making of diversity an end in itself« 223 . Schon früher<br />
hatte Will Kymlicka 224 , ein prominenter Vertreter kanadischer Multikulturalität,<br />
angemahnt: »Canadians want to know that being a Canadian citizen<br />
entails certain ›non-negotiable‹ requirements, including respect for human<br />
rights and democratic values [. . .]«. Solche Klarheit liegt auch im Inter-<br />
220 Vgl. Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor (oben N. 38) 88 f.<br />
221 Vgl. hierzu Gerald Kernerman, Multicultural Nationalism, Civilizing Difference, Constituing<br />
Community (Vancouver u. a. 2005).<br />
222 Multani v. Commission scolaire Marguerite-Bourgeoys, 241 D. L. R. (4th) 336 (Urteil vom<br />
4. 3. 2004); vgl. auch die einschlägige Kritik bei Brun (oben N. 45) 1035.<br />
223 Resnick (oben N. 4) 61. Der Autor verweist darauf (64, 85 ff. und öfter), dass diese Werte<br />
im wesentlichen europäischer (englischer und französischer) Herkunft seien. Vgl. auch die<br />
Kritik von Kymlicka (Finding Our Way [oben N. 4] 66 und öfter) an der mangelnden Präzisierung<br />
der Grenzen der Multikulturalität.<br />
224 Kymlicka, Finding Our Way (oben N. 4) 68 f.
510 mathias rohe RabelsZ<br />
esse von Immigranten, die wissen wollen und sollen, welches die unerlässlichen<br />
gemeinsamen Grundlagen des Zusammenlebens in der neuen<br />
Gesellschaft sind. Insgesamt scheint sich bei Abwägung konfl igierender 225<br />
kommunitärer und individueller Rechte 226 die Waagschale zugunsten Letzterer<br />
zu neigen, wenngleich dies von schrankenlosen Multikulturalisten immer<br />
wieder als zu sehr auf westlich-liberale Werte zentriert und zu wenig<br />
sensitiv für kulturelle Differenzen kritisiert wird. 227 Die Position Kymlickas<br />
dürfte auch den Leitfaden für die Handhabung von Rechtsfragen abgeben.<br />
Er unterscheidet im Hinblick auf gruppenspezifi sche Rechte zwischen »external<br />
protection« von »internal restrictions«. 228 Ersteres zielt auf die – auch<br />
rechtlich gebotene – Gleichbehandlung gleicher Gruppen, z. B. religiöser<br />
Vereinigungen, ab. Letzteres beschreibt das Phänomen, zugunsten der internen<br />
Stabilisierung einer Gruppe Druck auf Mitglieder auszuüben. Hierfür<br />
kann rechtlicher Schutz grundsätzlich nicht beansprucht werden. Ayelet<br />
Shachar hat für die hiermit verbundenen Probleme gerade für Frauen in<br />
patriarchalischen Ordnungen den prägnanten Begriff des »paradox of multicultural<br />
vulnerability« 229 geprägt. Gegen Überlegungen, ein gespaltenes<br />
personales Recht zu etablieren, hat denn auch Marion Boyd 230 klar formuliert:<br />
»Ontarians do not subscribe to the notion of ›separate but equal‹ when<br />
it comes to the laws that apply to us. [. . .] Equality before and under the law,<br />
and the existence of a single legal regime available to all Ontarians are the<br />
cornerstones of our liberal democratic society.« Nur innerhalb der vom geltenden<br />
Recht selbst gesetzten Räume und Grenzen kann staatlich verbindliche<br />
und durchsetzbare private Rechtsgestaltung erfolgen.<br />
Bei alledem ist nicht zu vergessen, dass wesentliche Teile des islamischen<br />
Familienrechts bis vor wenigen Jahrzehnten dem Rechtszustand in Québec<br />
entsprachen bzw. frauenfreundlicher waren als das Recht von Québec, etwa<br />
im Hinblick auf die vermögensrechtliche Handlungsfreiheit von Ehefrauen.<br />
231 Es wäre also gewiß verfehlt, bestimmte Rechts- und Kulturkreise<br />
in einen strukturellen Gegensatz zum »westlichen« Vorbild zu bringen. An-<br />
225 Sehr hilfreich ist Kymlickas (Finding Our Way [oben N. 4] 61 ff.) Unterscheidung zwischen<br />
– abzulehnenden – kommunitären Rechten zur Einschränkung internen Widerspruchs/<br />
interner Rechte der Mitglieder (betreffend intra-group relations) einerseits und in gewissen<br />
Grenzen zu befürwortenden Rechten von Gruppen gegenüber anderen Gruppen (inter-group<br />
relations) auf gleichberechtigte Partizipation.<br />
226 Vgl. hierzu Kymlicka, Finding Our Way (oben N. 4) 61 ff.<br />
227 Vgl. M. Malik, Communal Goods as Human Rights, in: Understanding Human<br />
Rights, hrsg. von C. Gearty/A. Tomkins (London 1996) 138.<br />
228 Kymlicka, Finding Our Way (oben N. 4) 62 und öfter.<br />
229 Ayelet Shachar, The Puzzle of Interlocking Power Hierarchies: Harvard Civil Rights-<br />
Civil Liberties L.Rev. 35 (2000) 385 (386); ausführlich dies., Multicultural Jurisdictions (oben<br />
N. 126) 62 und öfter.<br />
230 Boyd 88.<br />
231 Vgl. D.-Castelli/Goubeau (oben N. 63) 101: »Par les réformes de 1964, 1969, 1981, 1989
72 (2008)<br />
muslimische identität und recht in kanada<br />
511<br />
dererseits mag die noch junge rechtliche Gleichbehandlung im kanadischen<br />
(und europäischen) Familienrecht besonders heftige Abwehrreaktionen gegen<br />
Normen und Wertverständnisse auslösen, die man nun eben mit Mühe<br />
überwunden hat bzw. im Begriff ist zu überwinden.<br />
Auch in Kanada scheinen die Gründe, aber auch die notwendigen Grenzen<br />
der Multikulturalität neu ausgelotet zu werden. Schlagworte werden<br />
wenig helfen. Vielmehr wird je nach Lebenssituation zu bestimmen sein,<br />
wie viel an gemeinsamen Verhaltensweisen und Überzeugungen notwendig,<br />
und wie viel an Pluralität möglich, ja wünschenswert ist. Eine blinde<br />
Fortschreibung des Status quo oder die Durchsetzung vermeintlich allgemein<br />
gültiger, in Wirklichkeit aber nur partikulärer Vorstellungen, verbietet<br />
sich dabei ebenso wie die Infragestellung der wesentlichen Elemente einer<br />
»Hausordnung«, die ein friedvolles Zusammenleben erst ermöglicht. Im<br />
Hinblick auf Rechtsfragen ist meines Erachtens stets das Primärziel der<br />
Rechtsordnung – Herstellung und Gewährleistung eines friedvollen Zusammenlebens<br />
und der Gesellschaft unter der Herrschaft der Menschenrechte<br />
und des staatlichen Gewaltmonopols – bei aller Abstraktion nur im<br />
Blick auf die konkreten Verhältnisse zu erreichen. »Einheimische« Fälle sind<br />
von grenzüberschreitenden zu unterscheiden: Letztere haben oft nur vergleichsweise<br />
geringen Inlandsbezug, so dass der weltweit bestehende Rechtspluralismus<br />
insoweit an Bedeutung gewinnt, als die Beteiligten sich bei ihrer<br />
privaten Rechtsgestaltung auf die Geltung bestimmter Normen verlassen<br />
haben. Fälle mit starkem Inlandsbezug hingegen – und ein Inlandsaufenthalt<br />
von gewisser Dauer gehört regelmäßig dazu – müssen die gemeinsamen<br />
stabilisierenden Grundüberzeugungen der Rechtssubjekte wahren. Polarisierende<br />
Parallelrechtsordnungen sind auch aus dieser Sicht nicht hinzunehmen.<br />
Rechtsgestaltung in irgendeiner Form der Verbindung mit staatlicher<br />
Autorität ist im Hinblick auch auf islamische Normen nur dann möglich,<br />
wenn sich verlässliche Interpretationen und Interpreten fi nden, welche sich<br />
in den Rahmen einer rechtsstaatlichen, den Menschenrechten verpfl ichteten<br />
Ordnung halten. Auf dieser Basis muss Gleichberechtigung auch eine reale<br />
Lebenserfahrung sein. Ungelöst bleiben allerdings Konfl ikte, bei denen die<br />
Beteiligten die Inanspruchnahme staatlicher Instanzen scheuen. Hier stellen<br />
sich Bildungsaufgaben im Schulbereich und bei der Erwachsenenbildung:<br />
Immigranten bedürfen der Aufklärung über vorhandene Rechtsbehelfe und<br />
Schutzmechanismen – die auch real greifen müssen –, die ihnen den Weg zu<br />
einer freien Entscheidung über den Weg der Konfl iktlösung eröffnen.<br />
et 1992, on est passé d’un régime de complète subordination de la femme à un regime d’égalité<br />
entre époux.«
512 mathias rohe RabelsZ<br />
Summary<br />
Muslim Identity and the Law in Canada<br />
Immigration to Canada has shifted from Europeans to Asians and Africans,<br />
occurring to a large extent within the last decades. Muslims have become<br />
a fast growing group of Canadians. Large parts of the Muslim population<br />
obviously have no reservations whatsoever to the application of Canadian<br />
law inclusive of civil matters. Many representatives of Muslim<br />
organizations stress that Muslims in Canada must cope with more basic<br />
problems concerning labour or social issues as opposed to questions of what<br />
law should be applicable. On the other hand, a wide-spread uncertainty<br />
with regard to the relationship between the law of the land and Islamic<br />
norms is obvious. Some Muslims view the law of the land, especially relating<br />
to personal status and inheritance, with reservation given the fact that in<br />
many Islamic countries these matters are governed by more or less traditionally<br />
promoted rules relying on a strict segregation of gender roles and on the<br />
supremacy of Islam over other religions. Inasmuch, a potential confl ict of<br />
legal culture regarding the equality of sexes and religions is at stake.<br />
The reasons for this are manifold. Some Muslims claim group rights permitting<br />
them to apply their religion-based rules – which they consider to be<br />
binding in any location – in civil law matters. Others simply cannot afford<br />
access to the state’s judiciary, are lacking cultural sensitivity with regard to<br />
their special living conditions or simply hesitate to have their sensitive family<br />
affairs dealt with publicly. Thus, an Islamic arbitration board established<br />
in Ontario in 2003 under the law at the time caused heated debates on the<br />
“Islamization” of indispensable western values vs. the “disregard of religious<br />
needs and discrimination”. A major cause can be attributed to the personal<br />
convictions and attitudes of the leading fi gures running this arbitration<br />
board, which could indeed undermine core parts of the protection of Human<br />
Rights. This debate left little space for decisions on the basis of genuine<br />
and neutral research. Thus, in 2006 Ontario changed the relevant arbitration<br />
rules, confi ning religious arbitration run by Muslims, Jews or Christians to<br />
a relatively narrow fi eld. This article aims to clarify the argumentation used<br />
by different groups and individuals involved, to point out possible lines of<br />
confl icts between the different legal cultures and attitudes at stake and to<br />
consider possible solutions.
Divergente Evolution des Rechtsdenkens –<br />
Von amerikanischer Rechtsökonomie<br />
und deutscher Dogmatik<br />
Von Kristoffel Grechenig und Martin Gelter, Wien *<br />
<strong>Inhalt</strong>sverzeichnis<br />
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514<br />
II. Bisherige Rezeption der Rechtsökonomie im deutschsprachigen Raum. . .<br />
1. Stand der Rezeption der »amerikanischen« ökonomischen Analyse<br />
516<br />
des Rechts im deutschen Sprachraum. . . . . . . . . . . . . . . . 516<br />
2. Bisherige Erklärungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519<br />
III. Die Entwicklung in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522<br />
1. American legal realism als entwicklungsgeschichtlicher Hintergrund . . 522<br />
2. Die utilitaristische Basis der Rechtsökonomie . . . . . . . . . . . . 530<br />
3. Law and economics und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534<br />
IV. Die Entwicklung im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . 540<br />
1. Rechtsökonomische Vorstöße im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . 540<br />
2. Interne Betrachtung in Gesetzgebungslehre und Auslegung . . . . . . 543<br />
3. Rechtsrealismus als fehlende Voraussetzung für die Rechtsökonomie? . 549<br />
4. Reproduktionsdenken in Interessen- und Wertungsjurisprudenz. . . . 553<br />
5. Das Ende der Gesetzgebung als rechtswissenschaftliche Disziplin . . . 556<br />
V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />
Summary: The Divergent Evolution of Legal Thought – Law and Economics<br />
559<br />
in the USA and German Legal Theory . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560<br />
* Für hilfreiche Anmerkungen danken die Autoren Prof. Dr. Anne van Aaken, Prof. Dr.<br />
Marc Amstutz, Dr. Thomas Bachner Ph.D., Prof. Simon Deakin, Ph.D., Dr. Helge Dedek,<br />
Prof. Dr. Jens Drolshammer, Prof. Dr. Lukas Gschwend, Philipp Klages, Dr. Michael Litschka,<br />
Prof. Dr. Gerhard Luf, Dr. Jürgen Noll, Dr. Judith Schacherreiter, Prof. Dr. Erich Schanze,<br />
PD Dr. Mathias Siems, Prof. Dr. Alexander Somek, Holger Spamann, Dr. Tobias Tröger,<br />
a.o. Prof. Dr. Wolfgang Weigel, Viktor Winkler und PD Dr. Martin Winner sowie den Teilnehmern<br />
des START-Workshops »Law, Functionalism and Legal Evolution« an der Wirtschaftsuniversität<br />
Wien (Juli 2005), des Young Scholars’ Workshop des »Joseph von Sonnenfels<br />
Center for the Study of Public Law and Economics« an der Universität Wien (November<br />
2005) und des START-Workshop an der Wirtschaftsuniversität Wien (Mai 2006).<br />
Abgekürzt werden zitiert: Eugen von Böhm-Bawerk, Bespr. von Victor Mataja, Das Recht des<br />
Schadenersatzes vom Standpunkt der Nationalökonomie (1888): GrünhutsZ 17 (1890) 418–<br />
RabelsZ Bd. 72 (2008) S. 513–561<br />
© 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0033-7250
514 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
I. Einleitung<br />
Die Arbeiten von Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern haben zu allen<br />
Zeiten Verbindungslinien zueinander aufgewiesen. Seit den 1960er Jahren<br />
ist in den Vereinigten Staaten jedoch eine Law-and-economics-Bewegung entstanden,<br />
die breite Bedeutung an amerikanischen Rechtsfakultäten erlangt<br />
hat. Auf den nicht rechtsvergleichend arbeitenden deutschsprachigen Beobachter<br />
wirken Aufsätze in amerikanischen Rechtszeitschriften mitunter befremdend.<br />
Dies beruht nicht allein auf den unterschiedlichen klassischen<br />
Rechtstraditionen (common law bzw. civil law), sondern vor allem auf der interdisziplinären<br />
Ausrichtung der Beiträge. Während sich im deutschsprachigen<br />
Raum die Rechtsdogmatik in erster Linie mit der systemimmanenten<br />
Weiterentwicklung des Rechts befasst, gehen amerikanische Rechtslehrer<br />
fast immer von einem externen Blickwinkel aus. 1 Das betrifft vor<br />
423; Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff 2 (1991); Kenneth G. Dau-<br />
Schmidt/Carmen Brun, Lost in Translation, The Economic Analysis of Law in the United States<br />
and Europe: Colum. J. Transnat. L. 44 (2005/06) 602–621; John P. Dawson, The Ora cles of<br />
the Law (1968); Neil Duxbury, Patterns of American Jurisprudence (1995); Izhak Englard, Victor<br />
Mataja’s Liability for Damages from an Economic Viewpoint, A Centennial to an Ignored<br />
Economic Analysis of Tort: International Review of Law and Economics (Int. Rev. L. Econ.)<br />
10 (1990) 173–191; Dieter Grimm, Methode als Machtfaktor, in: Europäisches Rechtsdenken<br />
in Geschichte und Gegenwart, FS Coing I (1982) 469–492; Élie Halévy, The growth of philosophic<br />
radicalism (1928); Philipp Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz (1932) (zitiert:<br />
Begriffsbildung); ders., Das Problem der Rechtsgewinnung, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz,<br />
Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz 2 (1932) (zitiert: Rechtsgewinnung);<br />
James E. Herget, Contemporary German Legal Philosophy (1996); Morton J.<br />
Horwitz, The Transformation of American Law 1870–1960 (1992); Arthur Kaufmann, Problemgeschichte<br />
der Rechtsphilosophie, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in<br />
Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart 7 (2004) 26–147; Hans Kelsen, Was ist<br />
Gerechtigkeit? (1953; Nachdruck Reclam 2005); Peter J. King, Utilitarian Jurisprudence in<br />
America (1986); Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft 6 (1991); Nicholas Mercuro/Steven<br />
G. Medema, Economics and the Law, From Posner to Post-Mod ernism (1997); Knut<br />
Wolfgang Nörr, Zwischen den Mühlsteinen (1988); The Origins of Law and Economics, hrsg.<br />
von Parisi/Rowley (2005); Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen 2 (1991); Norbert<br />
Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas (1967);<br />
Charles K. Rowley, Wealth Maximization in Normative Law and Economics, A Social Choice<br />
Analysis: Geo. Mason L. Rev. 6 (1998) 971–996 (zitiert: Wealth Maximization); ders., An intellectual<br />
history of law and economics, 1739–2003, in: The Origins of Law and Economics<br />
(diese Note) 3–32 (zitiert: Intellectual History); Horst Schröder, Friedrich Karl von Savigny,<br />
Geschichte und Rechtsdenken beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in<br />
Deutschland (1984); Joseph William Singer, Legal Realism Now: Cal. L. Rev. 76 (1988) 465–<br />
544; Robert S. Summers, Pragmatic Instrumentalism in Twentieth Century American Legal<br />
Thought, A Synthesis and Critique of Our Dominant General Theory About Law and its Use:<br />
Cornell L. Rev. 66 (1980/81) 870–948; Jochen Taupitz, Ökonomische Analyse und Haftungsrecht,<br />
Eine Zwischenbilanz: AcP 196 (1996) 114–167; Gerald B. Wetlaufer, Systems of Belief in<br />
Modern American Law, A View from Century’s End: Am. U. L. Rev. 49 (1999) 1–80; Franz<br />
Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit 2 (1967).<br />
1 Herget 104 ff.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
515<br />
allem die Auswirkungen des Rechts auf die Gesellschaft, die stärker unter<br />
Einbeziehung anderer Disziplinen, wie der Soziologie, der Politikwissenschaft,<br />
der Philosophie und der Ökonomie, analysiert werden. Insbesondere<br />
wird das geltende Recht auch von Juristen an externen Maßstäben, etwa<br />
ökonomischen Effi zienzkriterien, gemessen. In bestimmten Bereichen, etwa<br />
im Gesellschaftsrecht, kann die ökonomische Betrachtung des Rechts mittlerweile<br />
als dominant bezeichnet werden, was leicht zu der provokanten<br />
Feststellung führen kann, amerikanische Gesellschaftsrechtler seien eigentlich<br />
Ökonomen, die sich mit dem Recht befassen. 2<br />
In dieser rein funktionalen Betrachtung unterscheidet sich die US-amerikanische<br />
Rechtslehre wesentlich von der europäischer Staaten einschließlich<br />
Großbritanniens. 3 Gerade im deutschsprachigen Raum begegnen ökonomisch<br />
orientierte Forschungsansätze unter Juristen oft pauschalierter Reserviertheit.<br />
4 Das Recht als solches gilt nicht als Betrachtungsfeld anderer<br />
Disziplinen, sondern vielmehr als eigenständige Disziplin mit eigenen wissenschaftlichen<br />
Methoden. Noch in den frühen 1990er Jahren wurde behauptet,<br />
die Rechtsökonomie in Europa läge bloß zeitlich, nämlich etwa 15<br />
Jahre, hinter der Entwicklung in den Vereinigten Staaten. 5 Das würde bedeuten,<br />
dass die heutige Diskussion mit jener in den Vereinigten Staaten<br />
Anfang der 1990er Jahre vergleichbar wäre. Davon kann freilich keine Rede<br />
sein. 6<br />
Diese Arbeit versucht eine Erklärung für diese unerwartete Divergenz im<br />
Rechtsdiskurs und betont zu diesem Zweck in der bisherigen rechtsvergleichenden<br />
Diskussion unberücksichtigte bzw. vernachlässigte Faktoren, wobei<br />
als die zwei zentralen Faktoren der amerikanische Rechtsrealismus sowie<br />
der Utilitarismus identifi ziert werden. In den USA wurde die vorherr-<br />
2 So z. B. Lombardo, Regulatory Competition in Company Law in the European Community<br />
(2002) 18.<br />
3 Zu Skandinavien siehe allerdings Pihlajamäki, Against Metaphysics in Law, The Historical<br />
Background of American and Scandinanvian Legal Realism Compared: Am. J. Comp. L.<br />
52 (2004) 469–487.<br />
4 Siehe z. B. zum Stand der frühen 1990er Jahre Kirchner, The diffi cult reception of law<br />
and economics in Germany: Int. Rev. L. Econ. 11 (1991) 277–292; Hertig, Switzerland: ebd.<br />
293–300. Neuere Darstellungen der Situation umfassen u. a. Dau-Schmidt/Brun; Weigel, Law<br />
and Economics in Austria, in: Encyclopedia of Law and Economics, hrsg. von Bouckaert/De<br />
Geest (2000) Nr. 0305; Taupitz 120 f.<br />
5 Mattei/Pardolesi, Law and Economics in Civil Law Countries, A comparative approach:<br />
Int. Rev. L. Econ. 11 (1991) 265–275 (insb. 272). Mattei und Pardolesi sprechen genau genommen<br />
von »at least fi fteen years«. Gleichzeitig meinen sie, dass sich – wegen der unterschiedlichen<br />
Richterbestellung – die Rechtsökonomie in Europa schneller entwickeln könnte<br />
(271). Daran hält Mattei auch 1997 fest; siehe Mattei, Comparative Law and Economics (1997)<br />
89 (91). Vgl. auch Hertig, The European Community: Int. Rev. L. Econ. 11 (1991) 331–342.<br />
6 Siehe die quantitative Auswertung des Einfl usses der Rechtsökonomie in den USA bei<br />
William Landes/Richard A. Posner, The Infl uence of Economics on Law, A Quantitative Study:<br />
J. Law Econ. 36 (1993) 385–424.
516 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
schende rechtsdogmatische Betrachtung, anders als im deutschsprachigen<br />
Raum, durch den Rechtsrealismus nachhaltig diskreditiert. Die parallel mit<br />
anderen konsequentialistischen Ansätzen in diese Lücke stoßende Rechtsökonomie<br />
erlangte aufgrund einer positiven Grundeinstellung gegenüber<br />
dem Utilitarismus großen Einfl uss. Dagegen wurde im deutschsprachigen<br />
Raum, aufgrund des nur vorübergehenden Erfolgs der Freirechtslehre, eine<br />
solche Lücke gar nicht erst aufgerissen. Zudem schlägt der Rechtsökonomie<br />
auch aufgrund verbreiteter Skepsis gegenüber utilitaristischem Gedankengut<br />
Widerstand entgegen.<br />
II. Bisherige Rezeption der Rechtsökonomie<br />
im deutschsprachigen Raum<br />
1. Stand der Rezeption der »amerikanischen« ökonomischen Analyse<br />
des Rechts im deutschen Sprachraum<br />
Die vergleichsweise schwache Stellung der ökonomischen Analyse des<br />
Rechts im deutschsprachigen Rechtsdiskurs lässt sich insbesondere bei der<br />
Interpretation des geltenden Rechts, darüber hinaus aber auch in der Rechtspolitik<br />
beobachten. 7 Die Kritiker argumentierten, dass die ökonomische<br />
Analyse den Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Effi zienz in den Vordergrund<br />
rücke, nämlich die optimale Ressourcenallokation und die Minimierung<br />
von Transaktionskosten. Diese Ziele seien aber nicht primär bedeutsam,<br />
weil die Rechtsordnung auch immaterielle Werte berücksichtige. 8 Effi<br />
zienzanalysen würden die Güterordnung und Einkommensverteilung<br />
außer Acht lassen, was dazu führe, dass »effi ziente« Rechtsnormen eine ungleiche<br />
Güterverteilung weiter verstärkten. 9 Darüber hinaus agiere die ökonomische<br />
Analyse mit utopischen Modellen, die nicht auf die Praxis über-<br />
7 Siehe nur die Standardwerke der Methodenlehre: Pawlowski Rz. 852, 855; Kramer, Juristische<br />
Methodenlehre 2 (2005) 236 f.; Bydlinski 331 f.; siehe auch Standardwerke des Zivilrechts:<br />
Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch 62 (2003) Einl. Rz. 32 f.; für Österreich: Koziol/Welser,<br />
Grundriss des bürgerliches Rechts I 12 (2002) 20 f.; überhaupt nicht diskutiert wird die ökonomische<br />
Analyse des Rechts bei Larenz und Zippelius, Juristische Methodenlehre 4 (1985); zurückhaltend<br />
Taupitz 135 f.; besonders kritisch Fezer, Aspekte einer Rechtskritik an der economic<br />
analysis of law und am property rights approach: JZ 1986, 817–864 (817 ff.); differenziert<br />
Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip (1995) 450 ff. (zitiert: Effi zienz), bzw. ders.,<br />
Rechtsanwendung, Gesetzgebung und ökonomische Analyse: AcP 197 (1997) 80–135.<br />
8 Z. B. Taupitz 133; Koziol/Welser (vorige Note) 20 f. Zu diesem Missverständnis z. B.<br />
Schwintowski, Ökonomische Theorie des Rechts: JZ 1998, 587 f. Ein gutes Beispiel ist auch<br />
Schilcher, Theorie der sozialen Schadensverteilung (1977), der das »marktwirtschaftliche Verteilungsprinzip«<br />
dem »Sozialprinzip« gegenüberstellt.<br />
9 Z. B. Fezer (oben N. 7) 823 f. Auch Taupitz 124 meint, »Aspekte der sozialen Verteilung<br />
von Ressourcen [. . .] bleiben per se außerhalb des Blickfeldes« der ökonomischen Analyse.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
517<br />
tragen werden können 10 , weshalb die behaupteten ökonomischen Auswirkungen<br />
bloße Spekulation seien. 11<br />
Nicht zu verkennen ist dennoch, dass die ökonomische Analyse des<br />
Rechts in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum einen Aufschwung<br />
erlebt hat. So sind im deutschen Sprachraum eine Reihe von Lehrbüchern<br />
über die ökonomische Analyse des Rechts 12 sowie Universitätslehrgänge<br />
13 und Forschungseinrichtungen 14 entstanden, die sich der ökonomischen<br />
Analyse des Rechts widmen. Ebenso werden vermehrt einschlägige<br />
rechtsökonomische Tagungen abgehalten. 15 Allerdings wird die Institutionalisierung<br />
der Rechtsökonomie in Deutschland, wie in Europa überhaupt,<br />
primär von Ökonomen getragen, wie etwa eine Erhebung der Autorenschaften<br />
von Aufsätzen in internationalen rechtsökonomischen Zeitschriften<br />
zeigt. 16<br />
Zwar fi nden sich in der deutschsprachigen juristischen Literatur zumindest<br />
im Wirtschaftsrecht mittlerweile immer wieder grundlegende Untersuchungen,<br />
vor allem Habilitationsschriften, die ausführliche Abschnitte über<br />
10 Fezer (oben N. 7) 822 f.; siehe auch Rüffl er, Gläubigerschutz durch Mindestkapital und<br />
Kapitalerhaltung in der GmbH – überholtes oder sinnvolles Konzept?: Zeitschrift für Gesellschafts-<br />
und Steuerrecht (GeS) 2005, 144 (mit einer pauschalen Ablehnung der ökonomischen<br />
Analyse); Rittner, Das Modell des homo oeconomicus und die Jurisprudenz: JZ 2005, 668–<br />
670.<br />
11 Vgl. hierzu z. B. die Kontroverse zwischen Eidenmüller und Rittner: Eidenmüller, Der<br />
homo oeconomicus und das Schuldrecht, Herausforderungen durch Behavorial Law and Economics:<br />
JZ 2005, 216 ff. (zitiert: Homo oeconomicus); daraufhin Rittner (vorige Note) sowie<br />
Eidenmüller, Schlusswort: JZ 2005, 670 f.; weiters Fezer (oben N. 7) 822 f. sowie Rüffl er (vorige<br />
Note). Das Argument mangelnder Exaktheit der Sozialwissenschaften taucht schon in der<br />
Diskussion des 19. Jahrhunderts auf (siehe Englard 185) und fi ndet sich unter anderem bei<br />
Kelsen 23 f. wieder.<br />
12 3 Z. B. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Rechts (2001); Weigel,<br />
Rechtsökonomik (2003); Adams, Ökonomische Theorie des Rechts (2004); Noll, Rechtsökonomie,<br />
Eine anwendungsorientierte Einführung (2005). Siehe auch Kötz/Wagner, Deliktsrecht<br />
(2006) mit einem rechtsökonomisch ausgerichteten Lehrbuch zum Deliktsrecht.<br />
13 Siehe z. B. das Programm »European Master in Law and Economics (EMLE)« sowie das<br />
Programm »Master of Law and Economics« in St. Gallen; siehe dazu etwa Nobel, The University<br />
of St.Gallen Study Program in Law and Economics (continued), in: New Frontiers of Law<br />
and Economics, hrsg. von Nobel/Gets (Zürich 2006) 127 ff.; Schanze, Die Bedeutung von Law<br />
and Economics für die Unternehmen, in: Rechtliche Rahmenbedingungen des Wirtschaftsstandortes<br />
Schweiz, FS 25 Jahre juristische Abschlüsse an der Universität St. Gallen (HSG)<br />
(2007) 103 ff.<br />
14 Z. B. zu Deutschland das »Institut für Recht und Ökonomik« in Hamburg und das<br />
»Center for the Study of Law and Economics« in Saarbrücken; zur Schweiz das »Institute for<br />
Law and Economics« in St. Gallen; zu Österreich siehe die Vortragsreihe des »Sonnenfels<br />
Center for Public Law and Economics« an der Universität Wien.<br />
15 Am bekanntesten sind die Jahreskonferenzen der EALE (European Association for Law<br />
and Economics); siehe ferner z. B. die »French-German Talks in Law and Economics«.<br />
16 Gazal-Ayal, Economic Analysis of Law and Economics, , insb. Tabellen 1–3.
518 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
einschlägige Bereiche der ökonomischen Theorie enthalten. 17 Überdies gibt<br />
es in diesem Bereich auch verschiedene Aufsätze, die die Bedeutung ökonomischer<br />
Erkenntnisse für bestimmte Rechtsgebiete untersuchen; 18 zum Teil<br />
fi nden auch Stellungnahmen von Autoren aus den Bereichen der Betriebs-<br />
oder Volkswirtschaftslehre in die juristische Literatur Eingang. 19 Von der<br />
Rolle der Rechtsökomonik im amerikanischen Rechtsdiskurs unterscheidet<br />
sich die (wenn auch gewachsene) Bedeutung im deutschsprachigen Raum<br />
jedoch fundamental. Zunächst fällt auf, dass die Bedeutung der Rechtsökonomie<br />
in allen Bereichen (Professuren, Institute, Publikationen, Juristenausbildung)<br />
in quantitativer Hinsicht mit der klassischen Rechtsdogmatik in<br />
keiner Weise mithalten kann. Im Verhältnis zu den Rechtsfakultäten der<br />
Vereinigten Staaten ist nur eine verschwindend geringe Zahl von Professuren<br />
mit ausgewiesenen Rechtsökonomen besetzt; eine verhältnismäßig<br />
kleine Zahl von juristischen Beiträgen nimmt Bezug zu ökonomischen Argumenten;<br />
und in der überwiegenden Mehrzahl von juristischen Grundstudiengängen<br />
wird Rechtsökonomie wenig bis überhaupt nicht unterrichtet.<br />
In den USA gibt es zudem eine Vielzahl von Lehrstuhlinhabern, die methodisch<br />
einen ausschließlich rechtsökonomischen Zugang pfl egen; 20 im deutschsprachigen<br />
Raum wäre dies unmöglich (zumindest am Beginn der akademischen<br />
Laufbahn) und kommt auch tatsächlich nicht vor. Wesentlich ist<br />
auch die unterschiedliche Nutzung des ökonomischen Zugangs zum Recht.<br />
Die amerikanische Rechtslehre abstrahiert von dogmatischen Einzelheiten<br />
17 Z. B. Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz (1999); Ruffner,<br />
Die ökonomischen Grundlagen eines Rechts der Publikumsgesellschaft (2000); Kulms,<br />
Schuldrechtliche Organisationenverträge in der Unternehmenskooperation (2000) 55 ff.;<br />
Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001) 82 ff.; Merkt, Unternehmenspublizität<br />
(2001) 191 ff.; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im europäischen Binnenmarkt<br />
(2002) 45 ff.; Haar, Die Personengesellschaft im Konzern (2006) 31 ff.<br />
18 Z. B. Hopt, Ökonomische Theorie und Insiderrecht: AG 1995, 353–362; Baums/v. Radow,<br />
Der Markt für Stimmrechtsvertreter: AG 1995, 145–163; Eidenmüller, Kapitalgesellschaftsrecht<br />
im Spiegel der ökonomischen Theorie: JZ 2001, 1041–1051; ders., Homo oeconomicus<br />
(oben N. 11); Kirchner, Grundstruktur eines neuen institutionellen Designs für Arbeitnehmermitbestimmung<br />
auf der Unternehmensebene: AG 2004, 190–196; Engert, Die<br />
ökonomische Begründung der Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensfi nanzierung:<br />
ZGR 2004, 813–841 (835 ff.); Wagner, Prävention und Verhaltenssteuerung durch Privatrecht,<br />
Anmaßung oder legitme Aufgabe?: AcP 206 (2006) 350–474. Die deutschsprachige<br />
Literatur befasste sich schon in den 1970er und frühen 1980er Jahren mit der ökonomischen<br />
Analyse des Rechts; siehe z. B. die Nachweise bei Behrens, Die ökonomischen Grundlagen des<br />
Rechts (1986) N. 10.<br />
19 Z. B. Kuhner, Unternehmensinteresse vs. Shareholder Value als Leitmaxime kapitalmarktorientierter<br />
Aktiengesellschaften: ZGR 2004, 244–279; Bak/Bigus, Kapitalmarkteffi zienz<br />
versus zwingender Anlegerschutz im Aktienrecht: Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft<br />
(ZBB) 2006, 430–443.<br />
20 Wenngleich einige der rennomiertesten US-amerikanischen Law Schools auch Ökonomen<br />
ohne formelle juristische Ausbildung beschäftigen, verfügt der Großteil der Rechtsökonomen<br />
nach wie vor über eine vorrangig juristische Ausbildung.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
519<br />
der Rechtsprechung sowie des gesetzten Rechts und nähert sich diesem von<br />
einer »externen« Warte, von der aus rechtspolitische Fragen beantwortet<br />
werden. 21 Die Lehre befasst sich gar nicht mit Zweifelsfragen der Auslegung<br />
des Rechts, sondern begnügt sich mit einer Feststellung der Rechtslage, die<br />
allenfalls als exogener Faktor in die Analyse Eingang fi ndet. Soweit im<br />
deutschsprachigen Rechtsdiskurs ein ökonomischer Ansatz verwendet wird,<br />
bemüht man sich weniger, eigenständige ökonomische Argumente mit Bezug<br />
zum Recht zu entwickeln, sondern vorhandene ökonomische Ansätze<br />
für die Rechtsdogmatik nutzbar zu machen. In diesem Lichte ist auch die<br />
Aussage zu verstehen, Kosten-Nutzen-Erwägungen seien schon immer Teil<br />
des Methodenkanons gewesen, die moderne Ökonomie biete nur besser<br />
entwickelte analytische Methoden an. 22 Eidenmüller stellt daher – in Einklang<br />
mit der herrschenden Methodenlehre – fest, dass ökonomische Effi zienz<br />
als Auslegungsprinzip nur insoweit in Frage kommt, als es durch gesetzgeberische<br />
Wertung zur Politik des Gesetzes gemacht wurde. 23 Auch sonst<br />
werden teilweise ökonomische Argumente im Rahmen der teleologischen<br />
Interpretation für zulässig erachtet, insbesondere in Hinblick auf das Kriterium<br />
der Zweckmäßigkeit von Rechtsnormen. 24 Ökonomische Erwägungen<br />
bleiben dabei zumeist den traditionellen Auslegungsmethoden streng untergeordnet,<br />
was bisweilen darauf hinausläuft, dass die ökonomische Analyse<br />
des Rechts nicht bestimmte Interpretationsmethoden für effi zient erklären<br />
soll, sondern umgekehrt (auf andere Art gefundene) Interpretationsmethoden<br />
die ökonomische Analyse rechtfertigen können. 25<br />
2. Bisherige Erklärungsversuche<br />
Wohl am häufi gsten werden in der Literatur institutionelle Faktoren als<br />
Grund für Unterschiede angeführt. So stellen etwa Mattei und Pardolesi die<br />
dezentralisierte Entscheidungsfi ndung im common law und die daraus resultierende<br />
starke Stellung der Richter in den Vereinigten Staaten dem Klischeebild<br />
des kontinentaleuropäischen Richters als »bloßem Interpreten«<br />
21 Cheffi ns, Using Theory to Study Law, A Company Law Perspective: Cambridge L. J. 58<br />
(1999) 197–221 (198 f.).<br />
22 Schwintowski, Juristische Methodenlehre (2005) 151 f.<br />
23 Eidenmüller, Effi zienz (oben N. 7) 450 ff.<br />
24 Siehe z. B. Bydlinski 331 f.; Kramer (oben N. 7) 236 f.; Krimphove, Rechtstheoretische<br />
Aspekte der »Neuen ökonomischen Theorie des Rechts«: Rechtstheorie 2001, 530 f.; Kohl,<br />
Über die Rechtsanwendung im Sinne der Ökonomischen Analyse des Rechts im Verhältnis<br />
zu den hergebrachten Kanons der Gesetzesauslegung, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler<br />
1992 (1993) 29–46; weitere Nachweise bei N. 7.<br />
25 Rechtsökonomen anerkennen typischerweise eine weitergehende Bedeutung (z. B.<br />
Schäfer/Ott [oben N. 12] 10 f.), nicht aber der überwiegende Teil der am juristischen Diskurs<br />
teilnehmenden Wissenschaftler.
520 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
gegenüber. 26 Damit unmittelbar zusammen hängt der von Kirchner vorgebrachte<br />
Verweis auf das Verständnis der Gewaltenteilung in Deutschland.<br />
Da der Richter das Recht nur anhand der kodifi zierten Gesetze auslegen<br />
darf, sei ihm die Einbeziehung nicht-juristischer Argumente verwehrt. 27 In<br />
diesem Sinn wird auch auf den Rechtspositivismus verwiesen, der die Bedeutung<br />
der Nachbardisziplinen in den Hintergrund treten lässt. 28 Demgegenüber<br />
hat Winkler zuletzt darauf hingewiesen, dass sich sowohl in<br />
Deutschland als auch in den USA Methoden durchsetzten, die dem Positivismus<br />
kritisch gegenüberstehen. Die deutsche Kritik des Positivismus sei<br />
allerdings in eine wertungsorientierte, transzendentale Rechtslehre gemündet,<br />
die rechtsökonomische Argumente nur in geringem Ausmaß zulasse. 29<br />
Zum Teil werden die Gründe der Divergenz auch in der Juristenausbildung<br />
gesucht, wobei etwa Weigel auf das geringe ökonomische Vorwissen<br />
hinweist. 30 Dagegen absolvieren amerikanische Studenten vor dem rechtswissenschaftlichen<br />
Studium eine vierjährige nicht-juristische College-Ausbildung<br />
(undergraduate studies), was tendenziell zu einer größeren Offenheit<br />
für interdisziplinäre Ansätze führe. 31 Cooter und Gordley führen darüber<br />
hinaus die unter Juristen oft vorzufi ndende Abneigung gegenüber der Mathematik<br />
als Methode der Ökonomie bzw. Rechtsökonomie an. 32<br />
Kritisiert wird auch die in Kontinentaleuropa vorherrschende konservative<br />
Einstellung bei der Bestellung von Professoren 33 und die Wahrung von<br />
Besitzständen durch traditionell ausgebildete Juristen angeführt; demnach<br />
würden sie sich als Interessengruppe gegen eine Konzeption wehren, die<br />
ihre Stellung untergraben könnte. 34 Im Bereich der Rechtswissenschaft lässt<br />
26 Mattei/Pardolesi 267; auch abgedruckt bei Mattei 81 f. (beide oben N. 5). Mit Bezug zu<br />
common law und civil law allgemein Posner, Law and Economics in Common-Law, Civil-Law,<br />
and Developing Nations: Ratio Juris 17 (2004) 66–79 (76 f.); siehe auch ders., The Future of<br />
the Law and Economics Movement in Europe: Int. Rev. L. Econ. 17 (1997) 3–14 (zitiert:<br />
Future of Law).<br />
27 Kirchner (oben N. 4) 277–292. Zum Gewaltenteilungsaspekt siehe auch Posner, Future of<br />
Law (vorige Note) 5; siehe auch Dau-Schmidt/Brun 607, 617; Taupitz 129 ff. Unabhängig von<br />
law and economics Herget 115 f.<br />
28 Z. B. zu Österreich Weigel, Prospects for Law and Economics in Civil Law Countries:<br />
Austria: Int. Rev. L. Econ. 11 (1991) 325–329 (326).<br />
29 Winkler, Review Essay, Some Realism about Rationalism: Economic Analysis of Law<br />
in Germany: German L. J. 6 (2005) 1033–1044 (1042).<br />
30 Weigel (oben N. 28) 326.<br />
31 Vgl. Dau-Schmidt/Brun 607 f.<br />
32 Cooter/Gordley, Economic Analysis in Civil Law Countries: Past, Present, Future: Int.<br />
Rev. L. Econ. 11 (1991) 261–263 (als zusammenfassender Bericht der Beiträge).<br />
33 Mattei (oben N. 5) 88. Siehe auch das Symposium »Selecting Minds«: Am. J. Comp. L.<br />
41 (1993) 351 ff.<br />
34 Siehe bereits Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Studienausgabe 1921 Tübingen;<br />
5. Aufl age 1976) VII § 8, 509 ff.; C. C. von Weizsäcker in einem Brief vom 24. 6. 1993 an Eidenmüller;<br />
zitiert bei Eidenmüller, Effi zienz (oben N. 7) 7; vgl. auch Rittner (oben N. 10) 669,<br />
der »behavioral law and economics« u. a. deshalb ablehnt, weil damit der »Verlust der Eigen-
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
521<br />
sich noch auf die Eingangskontrolle durch die Schriftleitung juristischer<br />
Zeitschriften verweisen, die in Europa typischerweise in der Hand etablierter<br />
Rechtslehrer liegt, während demgegenüber amerikanische law reviews<br />
von Studenten herausgegeben werden, die keine eigene Position zu verteidigen<br />
haben, sondern vom Autor eines eingereichten Aufsatzes davon überzeugt<br />
werden müssen, dass dieser neue und kontroversielle Thesen enthält.<br />
Dau-Schmidt und Brun meinen, dass dieser Faktor ein stärkeres Abweichen<br />
von bestehenden Auffassungen und Rechtskritik generell in weiterem Ausmaß<br />
zulasse. 35<br />
All diese Faktoren sind sicher nicht zu vernachlässigen. Zugleich lassen sie<br />
aber entscheidende Fragen offen. Ein Ansatz, der auf die Unterscheidung<br />
der Rechtskreise civil law und common law abstellt, kann beispielsweise nicht<br />
erklären, warum auch die englische Rechtswissenschaft überwiegend eher<br />
einer Innenbetrachtung des Rechts zuneigt. 36 Ebenso ist unklar, inwieweit<br />
der Besitzwahrungsschutz von Juristen der Rechtsökonomie hinderlich ist,<br />
wird doch in den Vereinigten Staaten die Rechtsökonomie von mehr Juristen<br />
als Ökonomen betrieben, was eine Ausweitung und keine Einschränkung<br />
ihres Arbeitsbereichs darstellt. Die Juristenausbildung spielt sicher eine<br />
Rolle. Allerdings hatten Juristen im deutschen Sprachraum über lange Zeit<br />
ökonomische Pfl ichtfächer zu absolvieren; 37 gleichzeitig fehlen auch amerikanischen<br />
Rechtsprofessoren oft mathematische Grundlagen 38 , was aber für<br />
diese keineswegs ein Hindernis bei der Entwicklung rechtsökonomischer<br />
Argumente darstellt. Man muss sich fragen, ob die Gestaltung der gegenwärtigen<br />
Studienpläne im deutschen Sprachraum nicht weniger die Ursache<br />
als vielmehr die Folge der im Vergleich geringen Bedeutung der Wirtschaftswissenschaften<br />
in Rechtsdogmatik und Rechtspolitik ist.<br />
Unserer Ansicht nach stellt auch der Rechtspositivismus, verstanden als<br />
strenge Bindung an die »positiven Gesetze« unter Ausschluss einer inhalt-<br />
ständigkeit des Rechts« drohe. Siehe auch Grimm 469 ff., allerdings ohne Bezug zur Rechtsökonomiebewegung.<br />
Zum politischen Gewicht des Konsenses für die Rechtswissenschaft als<br />
Machtfaktor siehe Luhmann, Öffentliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet (1965)<br />
189 ff. (192). Speziell im österreichischen Kontext macht etwa Weigel (oben N. 28) 326 auf die<br />
vorherrschende Stellung der Juristen in der Wirtschaft aufmerksam; ebenso Raiser, Das lebende<br />
Recht 3 (1999) 361 ff. zu Deutschland; vgl. auch Hertig (oben N. 4) 293 mit Bezug zur<br />
Schweiz.<br />
35 Dau-Schmidt/Brun 614 f.<br />
36 Cheffi ns (oben N. 21) 197, 200 f.; vgl. auch Duxbury, When Trying is Failing: Holmes’s<br />
›Englishness‹: Brook. L. J. 63 (1997) 145–164 (146); Herget 106.<br />
37 Gleichzeitig wies bereits Böhm-Bawerk (418) darauf hin, dass nur wenige Leute Experten<br />
sowohl in der Rechtswissenschaft als auch in der Volkswirtschaftslehre sein können.<br />
38 Im konkreten Zusammenhang auch Cooter/Gordley (oben N. 32) 262; vgl. aber die<br />
Zahlen zu Professoren an führenden Law Schools mit einem Ph.D. im Bereich der Ökonomie<br />
bei Ellickson, Bringing Culture and Human Frailty to Rational Actors, A Critique of Classical<br />
Law and Economics: Chi.-Kent. L. Rev. 65 (1989) 23–55 (26).
522 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
lichen Rechtfertigungsprüfung, einen nicht unbedeutenden Faktor für die<br />
Entwicklung im deutschen Sprachraum dar, kann aber allein keine ausreichende<br />
Erklärung bieten, da rechtsökonomisches Denken zumindest in der<br />
Rechtspolitik ihre Berechtigung haben könnte. Nicht zuletzt zählen Rechtspositivisten<br />
wie Bentham zu den philosophischen Vorläufern der modernen<br />
Law-and-economics-Bewegung. 39 Außerdem würde der Rechtspositivismus<br />
einer Einbeziehung ökonomischer Effi zienzkriterien als Auslegungsmaximen<br />
nicht entgegenstehen, sofern diese ausreichend gesetzlich verankert<br />
sind.<br />
III. Die Entwicklung in den USA<br />
1. American legal realism als entwicklungsgeschichtlicher Hintergrund<br />
Die moderne ökonomische Analyse des Rechts 40 entwickelte sich in den<br />
USA und wurde dort, zumindest in manchen Bereichen, zur dominanten<br />
Methode der Rechtswissenschaft. Dies erklärt sich unter anderem aus der<br />
Entwicklung der amerikanischen Rechtstheorie in der ersten Hälfte des 20.<br />
Jahrhunderts. Bis zu dieser Zeit war der methodische Zugang dem des<br />
deutschsprachigen Raums weitgehend ähnlich. Entscheidend für die Abkehr<br />
der amerikanischen Rechtswissenschaft von der Rechtsdogmatik waren<br />
die politischen Entwicklungen dieser Zeit.<br />
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert herrschte in der amerikanischen<br />
Rechtslehre die heute als »classical legal thought« bezeichnete Richtung 41<br />
vor, die starke Parallelen zur Begriffsjurisprudenz aufwies. 42 Diese wird vor<br />
allem mit dem Namen Christopher Columbus Langdell verbunden, der als<br />
Dekan in Harvard den Studienplan reformierte und wesentlichen Anteil an<br />
der Etablierung der über lange Zeit vorherrschenden fallorientierten »sokratischen«<br />
Lehrmethode hatte. Die Rechtslehre wurde als »legal science« verstanden.<br />
43 Nach Langdell sollten aus Gerichtsentscheidungen allgemeine,<br />
39 Siehe dazu unten Abschnitt III. 2.<br />
40 Zu frühen spieltheoretischen Überlegungen und zur »fi rst wave« von law and economics<br />
beginnend um 1830 siehe Mackaay, History of Law and Economics, in: Encyclopedia of Law<br />
and Economics (oben N. 4) Nr. 0200, 65–117 (68, 69 ff.).<br />
41 Vgl. etwa Horwitz 9; Kennedy, The Rise and Fall of Classical Legal Thought (1998). Mit<br />
einer anderen rechtsgeschichtlichen Einteilung Minda, One Hundred Years of Modern Legal<br />
Thought: From Langdell and Holmes to Posner and Schlag: Ind. L. Rev. 28 (1994/95) 353–<br />
389. 42 Rechtsvergleichend etwa Kennedy, Two Globalizations of Law & Legal Thought: 1850–<br />
1968: Suffolk U. L. Rev. 35 (2002/03) 631–679. Im Zusammenhang mit dem Rechtsrealismus<br />
Mensch, The History of Mainstream Legal Thought, in: The Politics of Law; hrsg. von<br />
Kairys/Pantheon (1998) 33.<br />
43 Siehe z. B. Schwartz, Main Currents in American Legal Thought (1993) 346 ff.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
523<br />
ein kohärentes System bildende Rechtsprinzipien gewonnen werden, aus<br />
denen in deduktiver Vorgehensweise Lösungen für konkrete zukünftige<br />
Fälle gefunden werden sollten. 44 Fälle, die nicht in <strong>dieses</strong> System passten,<br />
waren als Fehler auszuscheiden. 45 Dabei bestand auch ein erheblicher Einfl<br />
uss der deutschen Rechtswissenschaft – also im Wesentlichen der von Savigny<br />
begründeten historischen Rechtsschule –, der damals schlechthin eine<br />
weltweite Vorreiterrolle zugestanden wurde. 46 Von dort übernahm die klassische<br />
Langdellsche Rechtslehre insbesondere auch das Verständnis von<br />
Recht als Wissenschaft 47 und den Wunsch nach einer von den Einfl üssen<br />
anderer Disziplinen freien Rechtslehre. 48<br />
Die Gegenströmung des Rechtsrealismus kam zwar erst in den 1920er<br />
Jahren auf, als Wegbereiter gilt aber bereits Oliver Wendell Holmes, Jr. 49 Vor<br />
allem in seinem 1897 erschienen Aufsatz »The Path of the Law« 50 wandte er<br />
sich gegen das vorherrschende formale Rechtsdenken. 51 Auf ihn geht die<br />
44 Singer 496 f.; Reich 31 f.<br />
45 Leiter, Legal Realism, in: A Companion to Philosophy of Law and Legal Theory, hrsg.<br />
von Patterson (1999) 275 f.; kritisch dazu etwa Pound, Mechanical Jurisprudence: Colum. L.<br />
Rev. 8 (1908) 605–623. Historisch zum damaligen »Formalismus« Horwitz 16 f.; Singer 496 ff.;<br />
Mercuro/Medema 7 ff.; Wetlaufer 10 ff.; vgl. auch Duxbury (oben N. 36) 156, der die Aufsätze<br />
dieser Zeit als »dry, technical, doctrinal, and often narrowly focused« bezeichnet.<br />
46 Auszugsweise Wieacker 381 ff.; Dawson 451 ff.; Riesenfeld, The Infl uence of German Legal<br />
Theory on American Law, The Heritage of Savigny and His Disciples: Am. J. Comp. L.<br />
37 (1989) 1–8; Hoefl ich, Savigny and his Anglo-American Disciples: ebd. 17–38; Reimann, The<br />
Historical School Against Codifi cation: Savigny, Carter, and the Defeat of the New York<br />
Civil Code: ebd. 95–120; Reimann, Nineteenth Century German Legal Science: Boston Coll.<br />
L. Rev. 31 (1989/90) 837–897 (838 ff., 894 ff.); Kennedy (oben N. 42) 637 ff.; Appleman, The<br />
Rise of the Modern American Law School: How Professionalization, German Scholarship,<br />
and Legal Reform Shaped Our System of Legal Education: New England L. Rev. 39 (2005)<br />
251–306 (274 ff., 283 ff.); vgl. auch Posner, Frontiers of Legal Theory (2001) 193 ff. (zitiert:<br />
Frontiers). Siehe bereits Beale, The Development of Jurisprudence During the Past Century:<br />
Harv. L. Rev. 18 (1904/05) 271–283 (283); speziell zur Langdellschen Kurrikularreform<br />
Clark, Tracing the Roots of American Legal Education, A Nineteenth-Century German<br />
Connection: RabelsZ 51 (1987) 313–333 (insb. 328).<br />
47 Appleman (vorige Note) 280 ff.<br />
48 Appleman (oben N. 46) 289 ff.; Reich 32. Zum Zusammenhang der Langdellschen Tradition<br />
mit der deutschen Begriffsjurisprudenz siehe auch Herget 113.<br />
49 Andere frühe Autoren, die sich bereits früh von der Orthodoxie abwandten, wie etwa<br />
Roscoe Pound und Benjamin Cardozo, werden zum Teil mit dem American legal realism zu<br />
einer gemeinsamen Bewegung zusammengefasst. So insbesondere Summers 863 ff.; Horwitz<br />
170 ff., der sich kritisch zu Karl Llewellyns Versuch äußert, sich von der älteren Generation<br />
abzugrenzen. Siehe Llewellyn, Some Realism about Realism, Responding to Dean Pound:<br />
Harv. L. Rev. 44 (1930/31) 1222–1264 (insb. 1226 N. 18, wo eine Liste von Rechtsrealisten<br />
erstellt wird).<br />
50 Holmes, The Path of the Law: Harv. L. Rev. 10 (1897) 457–478 (457 ff.).<br />
51 Holmes (vorige Note) 457, 465 f. Siehe auch seine dissenting opinion in Lochner v. New<br />
York, 198 U. S. 45 (1905): »General propositions do not decide concrete cases. The decision<br />
will depend on a judgment or intuition more subtle than any articulate major premise« (a.a.O.<br />
76).
524 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
»Prädiktionslehre« zurück, nach der es die Aufgabe des Juristen, insbesondere<br />
des beratenden und den Klienten vertretenden Anwalts sei, vorherzusehen,<br />
wie das Gericht entscheiden würde. 52 Richtungweisend war an Holmes’<br />
Rechtsdenken vor allem die Kritik an der logisch-rechtshistorischen 53 Betrachtung<br />
des Rechts und der darauf basierenden rechtsdogmatischen Argumentation.<br />
Vorzuziehen sei eine Ausrichtung auf die Ziele, die mit einer<br />
Regelung erreicht werden sollen. 54 Ein Richter, welcher die den Rechtsnormen<br />
historisch zugrunde liegenden ebenso wie die gegenwärtigen sozialen<br />
Ziele verstehe, könne besser zu Verständnis und Fortentwicklung des<br />
Rechts beitragen. 55<br />
Zur Leitfi gur der späteren Rechtsrealisten wurde Holmes aber durch seine<br />
Tätigkeit als Richter des U. S. Supreme Court, in deren Rahmen er zahlreiche<br />
dissenting opinions verfasste. Am bekanntesten ist wohl jene im Fall<br />
Lochner v. New York 56 , in dem die Verfassungskonformität eines Arbeitszeitgesetzes<br />
des Staates New York verneint wurde. Begründung war die Vertragsfreiheit,<br />
die als Teilaspekt des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes<br />
gesehen wurde und demnach nach Auffassung der Mehrheit der Richter<br />
einer gesetzlichen Höchstarbeitszeit entgegenstand. 57 In Einklang mit der<br />
klassischen Orthodoxie lag dem Gericht das Bild eines vom öffentlichen<br />
Recht getrennten, politisch neutralen Privatrechts vor Augen, 58 welches mit<br />
einem Verständnis des Staates einherging, der sich in Interessenkonfl ikten<br />
zwischen verschiedenen Gruppen sowie verteilungspolitisch neutral verhalten<br />
sollte. 59 Holmes setzte dem entgegen, dass der Verfassung keine bestimmten<br />
ökonomischen Vorstellungen zugrunde lägen. Während der bis<br />
1937 andauernden »Lochner era« ergingen zahlreiche ähnliche Entscheidungen,<br />
in denen auf der Basis formal verstandener Rechts- und Verfas-<br />
52 Holmes (oben N. 50) 457 ff.; kritisch z. B. Bydlinski, Themenschwerpunkte der Rechtsphilosophie<br />
bzw. Rechtstheorie (insbesondere für die Juristenausbildung, Teil I): JBl. 1994,<br />
363. 53 Holmes (The Common Law [1881] Lecture 1) war die allgemeine historische Betrachtung<br />
durchaus wichtig. Horwitz (109 ff., speziell zur historischen Betrachtung 141) argumentiert<br />
freilich, dass sich Holmes’ Ansichten zwischen »The Common Law« und »The Path of the<br />
Law« (oben N. 50) in Richtung einer ausgeprägteren Skepsis entwickelt hatten. Dies stellt eine<br />
interessante Parallele zu Jhering dar, der sich von einem der wichtigsten Vertreter der Begriffsjurisprudenz<br />
zu ihrem Hauptkritiker wandelte; dazu etwa Wieacker 451 f.<br />
54 Holmes (oben N. 50) 474: »I look forward to a time when the part played by history in<br />
the explanation of dogma shall be very small, and instead of ingenious research we shall spend<br />
our energy on a study of the ends sought to be attained and the reasons for desiring them.« Vgl.<br />
dazu auch Summers 870 ff.<br />
55 Vgl. z. B. Kelley, Holmes, Langdell and Formalism: Ratio Juris 15 (2001) 26–51 (44 f.).<br />
56 Lochner v. New York (oben N. 51). Im Zusammenhang mit der Entwicklung des rechtsökonomischen<br />
Denkens siehe z. B. Rowley, Intellectual History 10.<br />
57 Dazu auch McCloskey/Levinson, The American Supreme Court 4 (2005) 102 ff.<br />
58 Vgl. Horwitz 10 f.<br />
59 Vgl. Horwitz 19 f.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
525<br />
sungsprinzipien Sozialgesetzgebung einzelner Bundesstaaten für verfassungswidrig<br />
erklärt wurde, 60 was von einer wachsenden Zahl von Juristen kritisiert<br />
wurde. 61<br />
Der American legal realism der 1920er und 1930er Jahre, der die amerikanische<br />
Rechtslehre nachhaltig prägte, ist in seiner Gegnerschaft zur als wirtschaftsliberal<br />
geltenden Rechtsprechung der »Lochner era« zu sehen, wobei<br />
auch ein Einfl uss von Jherings Kritik an der Begriffsjurisprudenz 62 und der<br />
deutschen Freirechtslehre 63 bestand. Recht wurde seitens der Realisten nicht<br />
mehr als ein System von Regeln, sondern als die Menge aller tatsächlichen<br />
Gerichtsentscheidungen verstanden. 64 Damit wandte sich der Rechtsrealismus<br />
gegen die Sichtweise des Rechts als eigenständiger, wertneutraler Wissenschaft,<br />
die es ermögliche, durch objektive Methoden innerhalb eines geschlossenen,<br />
logischen Systems alle erdenklichen Fälle einer an sich von<br />
vornherein feststehenden Lösung zuzuführen. 65<br />
Grundthese des Rechtsrealismus war die Unbestimmtheit richterlicher<br />
Entscheidungen; diese hängen weniger von den Vorgaben der Präjudizien<br />
oder des gesetzten Rechts als von den konkreten Fakten ab. 66 Gerichtliche<br />
Urteile sind nach Auffassung des legal realism nicht als objektive Anwendung<br />
im Vorhinein feststehender Normen, sondern vor allem als eigene Wertung<br />
des jeweiligen Richters zu verstehen, da abstrakte Regeln und Präzedenzfälle<br />
vom Richter »zurechtgebogen« werden können, 67 wobei allerdings die<br />
Notwendigkeit der Begründung in Form einer richterlichen opinion hier<br />
Grenzen setze. 68 Politisch waren die Realisten meist Gegner des auf Ver-<br />
60 Vgl. z. B. Coppage v. Kansas, 236 U. S. 1 (1915) (Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes,<br />
das eine Diskriminierung von Gewerkschaftsmitgliedern verbot); Morehead v. New York, 298<br />
U. S. 587 (1936) (Arbeitszeitgesetz für Schwangere). Für einen rechtsdogmatisch orientierten<br />
Überblick siehe Tribe, American Constitutional Law I 3 (2000) 1346 ff.; aus der deutschen Literatur<br />
Reich 23 f.; vgl. aber Posner, Overcoming Law (1995) 284.<br />
61 Antikritisch McCloskey/Levinson (oben N. 57) 92.<br />
62 Siehe vor allem F. Cohen, Transcendental Nonsense and the Functional Approach: Colum.<br />
L. Rev. 35 (1935) 809–849; vgl. zu Jherings Wandel auch Wieacker 451 f.<br />
63 Zu Llewellyn Horwitz 172 mit weiteren Nachweisen; generell zu Llewellyn und dem<br />
von ihm maßgeblich geprägten Uniform Commercial Code siehe Whitman, Commercial Law<br />
and the American Volk, A Note on Llewellyn’s German Sources for the Uniform Commercial<br />
Code: Yale L. J. 97 (1987/88) 156–175; allgemein Herget/Wallace, The German Free Law<br />
Movement as the Source of American Legal Realism: Va. L. Rev. 73 (1987) 399–455.<br />
64 Vgl. etwa Mercuro/Medema 10.<br />
65 Kritisch zur Logik in der Rechtsanwendung Dewey, Logical Method and Law: Cornell<br />
L. Q. 10 (1924/25) 17–27; vgl. etwa Horwitz 188.<br />
66 Leiter, American Legal Realism, in: The Blackwell Guide to the Philosophy of Law and<br />
Legal Theory, hrsg. von Golding/Edmundson (2005) 51 ff.<br />
67 Vgl. etwa Singer 465, 469 f.<br />
68 Singer 471 f. mit weiteren Nachweisen. Auch bei Llewellyn (oben N. 49) 1239 kommt<br />
klar zum Ausdruck, dass es darum geht, wie weit Rechtsregeln gerichtliche Entscheidungen<br />
vorhersagen können. Dass Richter nicht völlig unbeschränkt entscheiden, ist überwiegend<br />
anerkannt, siehe nur (als Vertreter der Critical-Legal-Studies-Bewegung) Kennedy, A Critique
526 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
tragsfreiheit aufbauenden Systems selbstregulierender Märkte, 69 das sich<br />
hinter den als formalistisch betrachteten Ableitungen der vor-realistischen<br />
Rechtswissenschaft zu verbergen schien und nach ihrer Auffassung dazu<br />
diente, den immanent politischen Charakter gerichtlicher Entscheidungen<br />
zu legitimieren. Als zentral für diese wirtschaftspolitische Position gilt insbesondere<br />
Robert Hale, ein sich mit dem Recht befassender Ökonom, der<br />
dem Rechtsrealismus zugeordnet wird. Er wies 1923 darauf hin, dass eine<br />
vermeintlich liberale Rechtslage faktisch durchaus zur Beschränkung individueller<br />
Freiheit führen kann: Da Markttransaktionen von vorhandenen<br />
geschützten Rechtspositionen abhängen, wäre der Markt an sich eine Form<br />
von Zwang der Armen durch die Reichen. 70 Im unmittelbar rechtlichen<br />
Bereich geht damit die Ablehnung der Unterscheidung zwischen öffentlichem<br />
Recht und »ideologiefreiem« Privatrecht einher. Nach der rechtsrealistischen<br />
Kritik ist Vertragsfreiheit nichts anderes als eine begrenzte Delegation<br />
der Rechtsetzungsautorität an den Einzelnen. 71<br />
Auch wenn die verschiedenen Zugänge, Methoden und Projekte der<br />
Rechtsrealisten keineswegs einheitlich waren und sich die extremsten Aussagen<br />
nicht durchsetzen konnten, 72 prägte der Rechtsrealismus die amerikanische<br />
Rechtslehre dauerhaft. 73 Auf politischer Ebene erfolgte der Durchbruch<br />
mit dem New Deal unter Präsident Roosevelt, der damit drohte, weitere<br />
Richter zum U. S. Supreme Court zu bestellen, um die konservative<br />
Mehrheit zu überstimmen. 74 Bevor es soweit kam, endete die »Lochner era«<br />
jedoch mit dem Meinungsumschwung eines Richters. 75<br />
Der geschichtliche Abriss zeigt die Besonderheit der amerikanischen Entwicklung,<br />
insbesondere auch im Vergleich zu England. Der englische Rechtspositivist<br />
H. L. A. Hart führte die amerikanische rechtskritische Haltung auf<br />
of Adjudication (1997) 182 ff. (zitiert: Critique), der den Richter als »constrained activist«<br />
sieht; vgl. aber Frank, What Courts Do in Fact: Ill. L. Rev. 27 (1931/32) 645–666, 761–784<br />
(766 ff.).<br />
69 Singer 477.<br />
70 Hale, Coercion and Distribution in a Supposedly Non-Coercive State: Pol. Sci. Q. 38<br />
(1923) 470–478; vgl. auch Hale, Bargaining, Duress, and Economic Liberty: Colum. L. Rev.<br />
43 (1943) 603–628.<br />
71 M. Cohen, The Basis of Contract: Harv. L. Rev. 46 (1932/33) 553–592; siehe auch Jaffe,<br />
Law Making by Private Groups: Harv. L. Rev. 51 (1937/38) 201–253; vgl. dazu auch Singer<br />
483 ff.; Mensch (oben N. 42) 33 ff.<br />
72 Jerome Frank führte Gerichtsentscheidungen vor allem auf die Persönlichkeit des<br />
Richters zurück. Siehe Frank, Law and the Modern Mind (1930); vgl. Summers 879; Singer<br />
470; Horwitz 176. Zu Frank aus der deutschsprachigen Literatur z. B. Reich 86 ff.<br />
73 Siehe z. B. Leiter (oben N. 66) 54 ff. der zwischen zwei Hauptströmungen unterscheidet.<br />
74 Vgl. McCloskey/Levinson (oben N. 57) 108 ff., 113.<br />
75 Dieser kam mit der Entscheidung West Coast Hotel Co. v. Parrish, 300 U. S. 379 (1937).<br />
Zu all dem Tribe (oben N. 60) 1360; McCloskey/Levinson (oben N. 57) 117 ff.; zum Einfl uss auf<br />
die spätere Rechtsprechung auch Reich 125 ff.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
527<br />
den judicial review zurück, also die gerichtliche Prüfung von Gesetzen auf<br />
ihre Verfassungskonformität und auf die Prüfung von Gesetzen auf ihre<br />
Konformität mit Grundrechten. 76 Diese habe in den Bereich der Politik hineingetragen,<br />
was andernorts dem Recht zugeordnet werde. 77 Die amerikanische<br />
Rechtslehre sei im Ergebnis daher hin- und hergerissen zwischen<br />
einerseits der rechtsrealistischen Extremvorstellung der freien richterlichen<br />
Entscheidung und dem unter anderem später bei Ronald Dworkin zum<br />
Ausdruck kommenden Wunsch, wonach es für jede Rechtsfrage eine richtige,<br />
wenn auch oft schwer zu ermittelnde Lösung gebe, die letztlich auf die<br />
grundlegenden Wertungen der Rechtsordnung zurückzuführen seien. 78<br />
Diese besondere Konstellation fehlte etwa in England, ebenso wie andere<br />
politische Faktoren wie etwa der Föderalismus und das daraus resultierende<br />
Konfl iktpotential. 79 Duncan Kennedy führt als weiteren Faktor die große<br />
soziale Heterogenität amerikanischer Juristen an, die zu starken ideologischen<br />
Gegensätzen geführt habe und daher das Interesse an einer Fundamentalkritik<br />
genährt hätte. 80 Die – wiederum im Gegensatz zu England –<br />
gut entwickelten law schools boten zudem genügend akademischen Freiraum.<br />
81<br />
Obwohl der Rechtsrealismus als Bewegung in der Folge seine Dynamik<br />
verlor 82 , kehrte die amerikanische Rechtslehre nicht mehr zur als diskreditiert<br />
geltenden »klassischen« Jurisprudenz zurück. 83 Eine der Hinterlassenschaften<br />
des Rechtsrealismus war die letztlich bereits auf Holmes zurückge-<br />
76 H. L. A. Hart, American Jurisprudence through English Eyes, The Nightmare and the<br />
Noble Dream: Ga. L. Rev. 11 (1976/77) 969–990 (971 f.).<br />
77 Hart (vorige Note) 972.<br />
78 Hart (oben N. 76) 972. Dworkin geht freilich davon aus, dass die »richtige« rechtliche<br />
Lösung oft nur von einem Richter mit übermenschlichen analytischen Fähigkeiten (»Hercules«)<br />
gefunden werden kann, der diese aus den Grundprinzipien der Rechtsordnung und<br />
einer diese erklärenden politischen Theorie extrahiert (grundlegend Dworkin, Hard Cases:<br />
Harv. L. Rev. 88 [1974/75] 1057–1109).<br />
79 Kennedy, Critique (oben N. 68) 78 f.<br />
80 Kennedy, Critique (oben N. 68) 79 f.<br />
81 Duxbury (English Jurisprudence between Austin and Hart: Va. L. Rev. 91 [2005] 1–91<br />
[70 f., 79]) berichtet demgegenüber, dass es im gesamten Vereinigten Königreich 1938/39 nur<br />
1515 Studenten der Rechtswissenschaft gab, wobei Anwälte nicht einmal über einen Universitätsabschluss<br />
verfügen mussten.<br />
82 Ab den 1950er Jahren herrschte die sog. legal process school vor, die den Schwerpunkt auf<br />
den Vorgang der Entscheidungsfi ndung (im Gegensatz zum <strong>Inhalt</strong> der Entscheidung) legte<br />
sowie auf die Frage, welche Institution (Gesetzgebung, Gerichte, Behörden) am besten zur<br />
Entscheidungsfi ndung geeignet sei (dazu Horwitz 253 ff.; Singer 505 f.; Wetlaufer 21 ff.; grundlegend<br />
H. M. Hart/Sacks, The Legal Process: Basic Problems in the Making and Application of<br />
Law [Unterrichtsmaterialien von 1958, posthume Veröffentlichung 1994]).<br />
83 Daran änderte auch Harts Kritik am Rechtsrealismus nichts (H. L. A. Hart, The Concept<br />
of the Law [1961] 137; dazu auch Leiter [oben N. 66] 63 f.), die für viele als überzeugend<br />
gilt; vgl. nur Michael Steven Green, Legal Realism as Theory of Law: William and Mary L.<br />
Rev. 46 (2004/05) 1915–2000 (1917) mit zahlreichen Nachweisen.
528 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
hende Forderung nach Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Methoden,<br />
deren sich alle policymakers – einschließlich der Richter – bedienen sollten, 84<br />
und hierzu zählt eben auch die Ökonomie.<br />
Die amerikanische Law-and-economics-Bewegung wird zuweilen als Erbin<br />
des legal realism und als Verwirklichung der Holmesschen Prophezeiung des<br />
Juristen als Sozialwissenschaftler gesehen. 85 Manche der Rechtsrealisten begannen,<br />
sich eklektisch mit Soziologie, Psychologie und Ökonomie auseinanderzusetzen.<br />
86 Als bekanntes Beispiel ist die 1932 erschienene Monographie<br />
von Adolf A. Berle (einem Juristen) und Gardiner Means (einem Ökonomen)<br />
über »The Modern Corporation and Private Property« zu nennen, 87<br />
die auch heute noch als eine der ersten wichtigen Untersuchungen zum Interessenkonfl<br />
ikt zwischen Aktionären und Management in börsennotierten<br />
Kapitalgesellschaften gilt. Teilweise hatten die vor dem Hintergrund des<br />
Rechtsrealismus entstandenen empirischen Studien Einfl uss auf die Gesetzgeber,<br />
etwa im Bereich des 1938 reformierten Insolvenzrechts. 88<br />
Die Charakterisierung von law and economics als Fortsetzung des legal realism<br />
ist keineswegs unumstritten. Wie andere Entwicklungen der amerikanischen<br />
Rechtstheorie des 20. Jahrhunderts 89 ist das rechtsökonomische Paradigma<br />
sowohl als Gegenbewegung als auch als Fortentwicklung des Realismus<br />
zu verstehen, wobei allen Schulen die realistische Ablehnung einer<br />
Rechtslogik oder -wissenschaft und die vorrangige Orientierung an Interessenkonfl<br />
ikten gemein ist. 90 Normative Theorien, im Sinne von rechtspo-<br />
84 Siehe z. B. Cook, The Logical and Legal Bases of the Confl ict of Laws: Yale L. J. 33<br />
(1923/24) 457–488 (457 ff.); Yntema, The Hornbook Method and the Confl ict of Laws: Yale<br />
L. J. 37 (1927/28) 468–483 (481); Llewellyn, A Realistic Jurisprudence, The Next Step: Colum.<br />
L. Rev. 30 (1930) 431–465 (431 ff.); Robinson, Law, An unscientifi c Science: Yale L. J. 44<br />
(1934/35) 235–267 (257); vgl. auch Summers 889 ff.; Minda, The Law and Economics and<br />
Critical Legal Studies Movements in American Law, in: Law and Economics, hrsg. von Mercuro<br />
(1989) 87–122 (96); Duxbury 79 ff.<br />
85 Vgl. etwa Posner, The Law and Economics Movement, From Bentham to Becker, in:<br />
The Origins of Law and Economics (oben N. *) 328–349 (344 f.); anders dagegen Posner,<br />
Overcoming Law (oben N. 60) 3; vgl. auch Wetlaufer 37; kritisch Duxbury 301 ff.; vgl. auch<br />
Kronman, Jurisprudential Reponses to Legal Realism: Cornell L. Rev. 73 (1987/88) 335–340<br />
(339).<br />
86 Zum »wissenschaftlichen Zweig« des Rechtsrealismus siehe etwa Kronman (vorige Note)<br />
336 ff. Zu damaligen Ansätzen einer ökonomischen Analyse des Vertragsrechts siehe Schwartz,<br />
Karl Llewellyn and the Early Law and Economics of Contract, in: The New Palgrave Dictionary<br />
of Law and Economics, hrsg. von Newman II (1998) 421 ff.<br />
87 Horwitz 166, ordnet die Arbeit dem Rechtsrealismus zu.<br />
88 Zur Gesetzgebungsgeschichte des Chandler Act von 1938 und des vorangehenden Berichts<br />
der Securities and Exchange Commission siehe Skeel, Debt’s Dominion (2001) 109 ff.<br />
89 Zu nennen sind etwa die legal process school, rights theory, law and society, critical legal studies.<br />
Siehe auch die Einteilung der Schulen in: A Companion to Philosophy of Law and Legal<br />
Theory, hrsg. von Patterson (1999) Kapitel II.<br />
90 Vgl. nur Singer 503 f., der zwischen »liberalen« und »kritischen« Bewegungen unterscheidet.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
529<br />
litischen Zugängen, hatten im Rechtsrealismus selbst noch eine untergeordnete<br />
Stellung. 91 Der Rechtsrealismus und sein instrumentelles Rechtsverständnis<br />
machten es allerdings aufgrund der Ablehnung reiner Dogmatik als<br />
Werkzeug des Juristen unausweichlich, ein normatives Programm zu entwickeln,<br />
um die Unbestimmtheit der Auslegung zu ergänzen bzw. ersetzen. 92<br />
Als sich mit dem Rechtsrealismus die Auffassung durchsetzte, dass eine rein<br />
dogmatische Methode zu keinen eindeutigen Ergebnissen führt, mussten<br />
andere Maßstäbe zur Entscheidungsfi ndung geschaffen werden. Diese Maßstäbe<br />
mussten sich nun an außerjuristischen Elementen orientieren. Dies<br />
führt in der Rechtswissenschaft notwendigerweise zu einer Betonung der<br />
Rechtspolitik. 93<br />
Auch wenn zwischen der Blütezeit des Rechtsrealismus und der allgemeinen<br />
Verbreitung der Rechtsökonomie mehrere Jahrzehnte lagen, ist eine<br />
klare Verbindungslinie zu erkennen. Der Rechtsökonomie liegt das methodische<br />
Instrumentarium der Wirtschaftswissenschaften zugrunde, das Prognoseaussagen<br />
über die Folgen von Rechtsnormen ermöglicht, die wiederum<br />
einer empirischen Überprüfung unterworfen werden können. Einerseits<br />
dadurch, andererseits durch die von der normativen Rechtsökonomie regelmäßig<br />
auch getätigten Aussagen über die aus ökonomischer Sicht wünschenswerten<br />
Ergebnisse, traf sie offenbar den Nerv der durch die Erfahrung<br />
des Rechtsrealismus geprägten amerikanischen Rechtswissenschaft. Obwohl<br />
es nach wie vor auch Kritik an der Rechtsökonomie gibt, gelang es<br />
dieser, zumindest für einen erheblichen Teil, in eine Lücke zu stoßen, die<br />
vom Rechtsrealismus geschaffen worden war, indem sie den als diskreditiert<br />
geltenden juristischen Formalismus in wesentlichen Teilgebieten der Rechtslehre<br />
durch einen ökonomischen Zugang ersetzte. 94<br />
91 Leiter (oben N. 45) 276 f. spricht in diesem Zusammenhang von »Quietism«; ähnlich<br />
Reich 116 ff., der allerdings auf F. Cohen hinweist (119 f.).<br />
92 Unter anderem riefen zu Beginn der 1940er Jahre Lasswell/McDougal (Legal Education<br />
and Public Policy, Professional Training in the Public Interest: Yale L. J. 52 [1942/43] 203–<br />
295 [205]) in Yale zur Einbeziehung von Rechtspolitik in die Lehre auf; dazu auch Mensch<br />
(oben N. 42) 36.<br />
93 Siehe bereits Reich 135.<br />
94 Zu dieser Verbindung siehe auch Leff, Economic Analysis of Law, Some Realism about<br />
Nominalism: Va. L. Rev. 60 (1974) 451–482 (459); Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts<br />
in den USA, Verbindungslinien zur realistischen Tradition, in: Ökonomische Analyse des<br />
Rechts 2 , hrsg. von Assmann/Kirchner/Schanze (1993) 1–16 (6 f.); Dau-Schmidt/Brun 615; vgl.<br />
auch Posner, The Problems of Jurisprudence (1990) 362, der die Möglichkeit empirischer<br />
Überprüfung ökonomischer Aussagen betont.
530 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
2. Die utilitaristische Basis der Rechtsökonomie<br />
Der Rechtsrealismus allein genügt freilich nicht, die heutige Bedeutung<br />
der Rechtsökonomie in den USA zu erklären, da parallel zu diesem auch<br />
andere normative Programme entstanden, die mit dem Rechtsrealismus die<br />
instrumentelle, konsequentialistische Sicht des Rechts gemeinsam haben,<br />
wie insbesondere das law and society movement sowie critical legal studies. Der<br />
zweite wesentliche Baustein für die Verbreitung der ökonomischen Analyse<br />
des Rechts war die hohe Akzeptanz einer utilitaristischen Grundeinstellung<br />
schlechthin in den USA.<br />
Ideengeschichtlich geht der Utilitarismus vor allem auf Jeremy Bentham<br />
zurück, der in seinen rechtspolitischen Arbeiten gegen Ende des 18. Jahrhunderts<br />
Kritik an Sir William Blackstone übte. 95 Während Blackstone das<br />
geltende Recht lehrte, 96 war Bentham ein Reformer. 97 Er wollte die überkommenen<br />
Dogmen und die Berufung auf nicht hinterfragbare Autoritäten<br />
diskreditieren und war nicht zuletzt für seine Aversion gegenüber theologischem<br />
und metaphysischem Gedankengut bekannt. 98 Bentham hatte sowohl<br />
ein Modell des menschlichen Verhaltens (»Nature has placed mankind<br />
under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure«) 99 als<br />
auch ein relativ klar defi niertes gesetzgeberisches Ziel (»[. . .] the happiness of<br />
the individuals, of whom a community is composed [. . .] is the end and the<br />
sole end which the legislator ought to have in view«) 100 . Er konnte unter<br />
anderem auf Cesare Beccaria aufbauen und fand in James Mill sowie dessen<br />
Sohn John Stuart Mill 101 weitere Verfechter seiner Lehren. 102<br />
Benthams Werke fanden weit über seine Heimat hinaus Anklang und<br />
erreichten über Spanien sogar Lateinamerika. Allerdings war ihm in Frankreich<br />
und Deutschland kein Erfolg beschieden. 103 In den Vereinigten Staaten<br />
stand er mit verschiedenen Politikern in Kontakt. 104 Vor dem Hintergrund<br />
95 Inwieweit er dabei nur seine eigenen Wertvorstellungen fördern wollte, soll hier nicht<br />
weiter behandelt werden; in diesem Sinn z. B. Posner, Blackstone and Bentham: J. L. Econ. 19<br />
(1976) 569–606 (593, 596).<br />
96 Blackstone, Commentaries on the Law of England I-IV (1765–1769) (London 1783).<br />
97 Halévy 35. Bentham selbst kritisiert Blackstone wegen seiner reformfeindlichen Einstellung;<br />
Bentham, A Fragment of Government, Preface. Zur Kritik Benthams an Blackstone<br />
siehe auch Posner, Blackstone and Bentham (oben N. 95) 569 mit einer etwas anderen Interpretation.<br />
98 Halévy 292 ff.; Lee, The legal-rational state (1990) 140 ff.<br />
99 Bentham, Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789) 1. Zum psychologischen<br />
Hedonismus im Zusammenhang mit Bentham siehe auch Kelly, Utilitarianism<br />
and Distributive Justice, Jeremy Bentham and the Civil Law (1990) 14 ff.<br />
100 Bentham (vorige Note) 27.<br />
101 Zur Bedeutung von Mill siehe z. B. Halévy 271; Kelly (oben N. 99) 5 f.<br />
102 Ausführlich Halévy.<br />
103 Halévy 296 f.<br />
104 Siehe etwa King 71.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
531<br />
des amerikanischen Strebens nach Unabhängigkeit war ihm als Person nur<br />
eingeschränkt Erfolg vergönnt. 105 Zumindest indirekt erlangten Benthams<br />
Lehren allerdings doch erheblichen Einfl uss. Das größtmögliche Glück<br />
wurde von namhaften Politikern wie Thomas Jefferson und Benjamin Franklin<br />
als rechtspolitische Zielsetzung proklamiert und auch von Philosophen<br />
aufgegriffen und weiterentwickelt. 106 Zugleich nahmen Zeitungen positiv<br />
auf Bentham Bezug. 107<br />
Benthams Bedeutung nahm bis zum amerikanischen Bürgerkrieg weiter<br />
zu, wobei diese im Norden größer als im Süden war. Auch das Fallrecht<br />
beeinfl usste er, was unter anderem einige Zitate durch Gerichte zeigen. 108<br />
Insbesondere erklärte das amerikanische höchste Gericht in einer Entscheidung<br />
von 1837 »the object and end of all government is to promote the<br />
happiness and prosperity of the community by which it is established«. 109 Zu<br />
dieser Zeit war es – ausgehend von Richtern wie Mansfi eld – anerkannt,<br />
vom common law abzuweichen, wenn die Utilität es erforderte, was unter<br />
anderem damit begründet wurde, dass das common law stets einen utilitaristischen<br />
Wandel erlaubte. 110 Ingesamt lässt sich aber bereits in der ersten<br />
Hälfte des 19. Jahrhunderts ein nicht unerheblicher Einfl uss Benthams auf<br />
die öffentliche Meinung in den USA feststellen.<br />
Teilweise wirkten seine Lehren auch im Rechtsrealismus fort, allerdings<br />
primär hinsichtlich der Auswirkungen von Rechtsnormen und nicht als<br />
rechtspolitisches Programm. 111 Viel stärker nahm die neoklassische Wohlfahrtsökonomie<br />
auf die Nutzenmaximierung als normativen Maßstab Bezug,<br />
die auf dem klassischen Utilitarismus aufbaute und diesen weiterentwickelte<br />
112 sowie selbst eine wesentliche Grundlage für die rechtsökonomische<br />
Analyse des Rechts darstellt. 113 Schon William Stanley Jevons, der als einer<br />
105 Vgl. David Hoffman, Hoffman’s Legal Outlines: Southern Rev. 4 (August 1829) 467–<br />
469 (zitiert bei King 177). Zu Benthams Kodifi kationsbestrebungen vor allem in den Vereinigten<br />
Staaten siehe auch Schofi eld/Harris, Editorial Introduction, in: The Collected Works of<br />
Jeremy Bentham: Legislator of the World, hrsg. von Schofi eld/Harris (1998) S. XI-LVIII.<br />
106 King 139 ff., 142. Auch Bentham sah <strong>dieses</strong> Prinzip als treibende Kraft der amerikanischen<br />
Gesetzgebung bereits als verwirklicht an (King 62).<br />
107 Z. B. »Bosten Morning Post« vom 16. 5. 1840; »New York Evening Post« vom 11. 6.<br />
1840; »Democratic Review«. Sogar die konservative »North American Review« bewertete es<br />
positiv, dass Bentham alte Vorurteile zerstörte; alle zitiert nach King 252 ff.<br />
108 Eine Suche nach Bentham-Zitaten in der US-amerikanischen Rechtsprechung mittels<br />
der Rechtsdatenbank LexisNexis ergab 624 Treffer, davon 46 in Entscheidungen des United<br />
States Supreme Court. Die Suche wurde zuletzt am 28. 11. 2005 wiederholt.<br />
109 Charles River Bridge v. Warren Bridge, 36 U. S. (11 Pet.) 420 (1837).<br />
110 Mensch (oben N. 42) 27.<br />
111 Vgl. nur die enthusiastische Bewertung Benthams durch Cohen (oben N. 62) 848.<br />
112 Bohmen, Die utilitaristische Ethik als Grundlage der modernen Wohlfahrtsökonomie<br />
(1964).<br />
113 Siehe z. B. Rowley, Wealth Maximization 981 ff.; vgl. auch Kornhauser, A Guide to the<br />
Perplexed Claims of Effi ciency in the Law: Hofstra L. Rev. 8 (1979/80) 591–639 (598). Unter
532 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
der Gründer der Grenznutzentheorie gilt und ein Anhänger Benthams war,<br />
meinte »utility must be considered as measured by [. . .] the addition to a<br />
person’s happiness. It is a convenient name for the aggregate of the favourable<br />
balance of feeling produced – the sum of the pleasure created and the pain<br />
prevented.« 114<br />
Bentham glaubte, dass Glück unabhängig von den Individuen homogen<br />
war und auf einer Kardinalskala gemessen und damit verglichen bzw. aggregiert<br />
werden konnte. 115 Der Gedanke einer kardinalen Nutzenmessung<br />
wirkte von Bentham bis auf die Arbeiten von Arthur Cecil Pigou fort 116 und<br />
prägte trotz der Fortschritte in der Wohlfahrtsökonomie – die sich letztlich<br />
auf eine ordinale Nutzenmessung beschränkte 117 – auch die Law-and-economics-Bewegung<br />
maßgeblich. Entscheidend war bzw. ist die vom Utilitarismus<br />
und der Rechtsökonomie geteilte Überzeugung, dass eine Schätzung<br />
des individuellen Nutzens zu einer besseren Lösung führe als alternative<br />
Ansätze. 118 Die praktische Umsetzung <strong>dieses</strong> Gedankens bedeutete vielfach<br />
die Umrechnung in Geld, zu der auch die moderne Rechtsökonomie teilweise<br />
neigt und deren Grundzüge schon bei Bentham angelegt sind. 119<br />
Bentham schuf die Grundlagen für einen normativen Gehalt der Ökonomie<br />
und machte sie damit zum Gegenstand rechtlicher Theorien. 120 Frühe<br />
Arbeiten der modernen Rechtsökonomie griffen mitunter direkt auf Bentham<br />
zurück. So bereitete etwa die »Introduction to the Principles of Morals<br />
and Legislation« die Grundlage für die rechtsökonomische Analyse des späteren<br />
Nobelpreisträgers und führenden Rechtsökonomen Gary Becker in<br />
anderem führte Francis Ysidro Edgeworth, der gemeinsam mit Henry Sidgwick Utilitarist<br />
und einer der bekanntesten frühen Wohlfahrtsökonomen war, mit seinem Kriterium der »just<br />
noticable differences« zur Messung des Nutzens die utilitaristische Tradition fort; Cooter/Rappoport,<br />
Were the Ordinalists Wrong About Welfare Economics?: J. Econ. Lit. 22 (1984) 507–<br />
530 (511).<br />
114 Jevons, The Theory of Political Economy (1871; Nachdruck Macmillan 1975) 53 f.<br />
115 Z. B. Rowley, Wealth Maximization 978 f. im Zusammenhang mit der Rechtsökonomie.<br />
116 Pigou, The Economics of Welfare (1920); vgl. Rowley, Wealth Maximization 978 f.,<br />
982. 117 Die Abkehr von der kardinalen Nutzenmessung und interpersonellen Nutzenvergleichen<br />
wird insbesondere auf Vilfredo Pareto zurückgeführt (vgl. Samuelson, Foundations of<br />
Economic Analysis [1947] 93 f.; siehe konkret Pareto, Manuale di Economia Politica [1906]<br />
insb. Kapitel III §§ 12, 16, 29; zum Utilitarismus II §§ 34 ff.). Zur Annahme individueller ordinaler<br />
Präferenzen in der neoklassischen Konsumtheorie siehe Samuelson (diese Note) 97 f.,<br />
173 ff., 226 ff. Im historischen Rückblick Cooter/Rappoport (oben N. 113) 507 ff.<br />
118 Siehe z. B. Rowley, Wealth Maximization 981 ff.<br />
119 Lee (oben N. 98) 119; Kelly (oben N. 99) 33 f.<br />
120 Posner, Bentham’s infl uence on the law and economics movement: Curr. Leg. Probl. 51<br />
(1998) 425–439 (437) (zitiert: Bentham’s infl uence). Siehe auch Rowley, Intellectual History<br />
8; vgl. ferner Harrison, Introduction to J. Bentham, in: Bentham, A Fragment on Government<br />
(1988) 228; Joseph Priestley, An Essay on the First Principles of Government (1768); dazu z. B.<br />
Halévy 127 f.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
533<br />
»Crime and Punishment«. 121 Richard Posner, einer der Pioniere der ökonomischen<br />
Analyse des Rechts, räumt ein, dass der Utilitarismus Benthams<br />
entscheidenden Einfl uss hatte, 122 obwohl er selbst versuchte, sich vom Utilitarismus<br />
abzugrenzen. 123 Posner geht wie Bentham davon aus, dass Individuen<br />
rationale Nutzenmaximierer sind und dass ökonomische Effi zienz ein<br />
wissenschaftliches Konzept ist. 124 In seinen Werken verwendet er Vermögen,<br />
um Nutzen kardinal zu messen, und geht vom rechtspolitischen Kriterium<br />
der Gesamtnutzenmaximierung aus, das den Kern des Utilitarismus<br />
darstellt. 125<br />
Generell liegen die Grundpfeiler des Utilitarismus auch gleichzeitig der<br />
Rechtsökonomie zugrunde. Das gilt sowohl für den Wertmonismus 126 (also<br />
die Umrechnung allen Nutzens auf eine Einheit 127 ) wie für den Konsequentionalismus,<br />
wonach Handlungen nach ihren (handlungsexternen) Auswirkungen<br />
beurteilt werden, und für das Prinzip der universellen Glücks- bzw.<br />
Nutzenmaximierung (also der Gedanke, die Bedürfnisbefriedigung entsprechend<br />
den individuellen Präferenzen sei etwas an sich Erstrebenswertes).<br />
128 Dementsprechend werden ganz ähnlich »welfarism«, »sum-ranking«<br />
und »consequentialism« als Charakteristika des Utilitarismus bezeichnet, die<br />
über die Vertreter der Grenznutzentheorie und der Wohlfahrtsökonomie<br />
die moderne Rechtsökonomie geprägt haben. 129<br />
Für die Entwicklung der Rechtsökonomie dürfte nicht unbedeutend gewesen<br />
sein, dass in ihren Anfangsjahren einfl ussreiche Kritiken am Utilita-<br />
121 Vgl. etwa Posner, Blackstone and Bentham (oben N. 95) 600 zum Einfl uss von Bentham<br />
auf Becker, Crime and Punishment, An Economic Approach: J. Pol. Econ. 76 (1968) 169–217;<br />
weiters Posner, Bentham’s infl uence (vorige Note) 430, 437.<br />
122 Siehe vorige Note.<br />
123 Siehe z. B. Posner, Utilitarianism, Economics, and Legal Theory: J. Leg. Stud. 8 (1979)<br />
103–140 (zitiert: Utilitarianism); Posner, Bentham’s infl uence (oben N. 120) 425. Siehe auch<br />
die Zusammenfassung bei Parisi, Methodological Debates in Law and Economics, The Changing<br />
Contours of a Discipline, in: The Origins of Law and Economics (oben N. *) 33–52 (46 f.),<br />
der von einem sehr engen Utilitarismusbegriff ausgeht. Gerade diese Distanzierung (insbesondere<br />
»wealth maximization« statt »Glücksmaximierung«) hat Posner Kritik eingebracht;<br />
siehe z. B. Calabresi, The New Economic Analysis of Law: Scholarship, Sophistry, or Self-<br />
Indulgence: Proc. Brit. Acad. 68 (1982) 85–108 (90) (zitiert: Analysis); vgl. auch Mathis, Effi -<br />
zienz statt Gerechtigkeit (2003) 187.<br />
124 Rowley, Wealth Maximization 990 mit Bezug zu Posner, The Economics of Justice<br />
(1981).<br />
125 Siehe auch Rowley, Wealth Maximization 992.<br />
126 Siehe z. B. Kornhauser (oben N. 113) 598.<br />
127 Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus (2003) 19.<br />
128 Eine übersichtliche Darstellung der Grundbausteine des Utilitarismus bietet Gesang<br />
(vorige Note) 17 ff.<br />
129 Rowley, Wealth Maximization 981 ff.; vgl. auch Kornhauser (oben N. 113) 591 ff., 598 f.<br />
zur Verknüpfung von Utilitarismus und dem rechtsökonomischen Maßstab der Gesamtnutzenmaximierung.
534 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
rismus noch nicht geschrieben waren 130 und in der akademischen Gemeinschaft<br />
eine gegenüber dem Utilitarismus weitgehend freundliche Grundeinstellung<br />
herrschte. 131 Selbst Kritiker des Utilitarismus entfernten sich nicht<br />
allzu weit von Grundaussagen seiner klassischen Lehren. 132<br />
Es können als Zwischenergebnis zwei wesentliche Gründe für die Aufnahme<br />
ökonomischer Erwägungen in die amerikanische Rechtslehre festgehalten<br />
werden: Die spezifi sche politische Situation in der ersten Hälfte des<br />
20. Jahrhunderts begünstigte die Entwicklung des Rechtsrealismus und die<br />
Diskreditierung der klassischen Dogmatik. Das dadurch entstandene Bedürfnis<br />
nach normativen Theorien führte zur Rechtsökonomie, die auf einer<br />
langen utilitaristischen Tradition aufbauen konnte (und dadurch gegenüber<br />
anderen aufkommenden Strömungen im Vorteil war). Heute hängen<br />
amerikanische Rechtsgelehrte überwiegend einem instrumentellen Rechtsverständnis<br />
an: Recht wird generell als Mittel zur Verwirklichung bestimmter<br />
Ziele und nicht als Wert an sich gesehen. 133<br />
3. Law and economics und Politik<br />
Neben der grundsätzlichen Offenheit gegenüber dem Utilitarismus ist als<br />
weiterer Faktor für die Verbreitung der Rechtsökonomie – ebenso wie zuvor<br />
beim Rechtsrealismus – wesentlich, dass sie in ihrer zu Beginn vorherrschenden<br />
Strömung mit einer gegen den Staatsinterventionismus des »New<br />
Deal« gerichteten wirtschaftspolitischen Ausrichtung in Verbindung stand,<br />
die sich zu dieser Zeit entwickelte. Als ein einem breiten Kreis (auch von<br />
Juristen) zugängliches Werkzeug entstand sie in den 1960er Jahren und wurde<br />
unter anderem von den Arbeiten von Ronald Coase und Guido Calabresi<br />
ausgelöst, die meist als Begründer der Law-and-economics-Bewegung genannt<br />
werden. 134 Der Boden dafür wurde schon in den 1940er und 1950er<br />
Jahren an der University of Chicago bereitet, wo vor allem Aaron Director<br />
130 Z. B. Sen, Collective Choice and Social Welfare (1970); Rawls, A Theory of Justice<br />
(1971); Nozick, Anarchy, State, and Utopia (1974); Dworkin, Taking Rights Seriously (1977).<br />
Freilich gab es bereits zuvor bekannte Angriffe auf den Utilitarismus, z. B. Robbins, An Essay<br />
on the Nature and Signifi cance of Economic Science (1932).<br />
131 So jedenfalls Calabresi (oben N. 123) 104; siehe auch Broome, Modern Utilitarianism,<br />
in: The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, hrsg. von Newman II (1998)<br />
651–656; ähnlich zu ökonomischen Effi zienzanalysen Roe, Backlash: Colum. L. Rev. 98<br />
(1998) 217–241 (239).<br />
132 So wurde die Rawlssche Konzeption der Gerechtigkeit als utilitaristisch interpretiert,<br />
wogegen sich Rawls (Justice as Fairness2 , A Restatement [2001]; deutsche Übersetzung: Gerechtigkeit<br />
als Fairness, Ein Neuentwurf [2003] 170 ff.) freilich wehrte.<br />
133 Summers 861 ff.; Kornhauser, The Great Image of Authority: Stan. L. Rev. 36 (1984)<br />
349–390 (361).<br />
134 Dazu und zum Folgenden auch Schanze (oben N. 94) 2 ff.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
535<br />
zu nennen ist, der als Ökonom eine Professur an der Law School erhielt. 135<br />
Unter seiner Ägide begann sich die dem Laissez-faire-Gedanken verpfl ichtete<br />
Chicago School, die von Frank Knight 136 und seinen Schülern geprägt<br />
wurde, auch in der Law School durchzusetzen, 137 wobei zunächst vor allem<br />
das Kartellrecht im Zentrum des Interesses stand. 138 In diesem Umfeld entstand<br />
1958 auch das »Journal of Law and Economics«, in dem Ronald Coase<br />
1960 seinen bahnbrechenden Aufsatz veröffentlichen konnte, 139 mit dem er<br />
die moderne Law-and-economics-Bewegung auslöste. Auch Gary Becker, dem<br />
vor allem das Verdienst zugeschrieben wird, ökonomische Methoden auf<br />
viele nicht von Märkten dominierte Lebensbereiche angewandt zu haben,<br />
wie etwa Kriminalität, Rassendiskriminierung oder Familienleben 140 , war<br />
überwiegend an der University of Chicago (allerdings nicht an der Law<br />
School) tätig. 141 Die Ökonomie konnte einerseits Aussagen in den für Juristen<br />
interessanten Kerngebieten des Vertrags- und Schadenersatzrechts auch<br />
außerhalb von Märkten machen, andererseits in schon zuvor von Ökonomen<br />
oft behandelten Bereichen wie der Industrieökonomie konkretere, für die<br />
Rechtsanwendung interessantere Ergebnisse entwickeln. 142<br />
Entscheidend für die Akzeptanz der ökonomischen Analyse des Rechts<br />
war aber wohl die Anwendung wirtschaftswissenschaftlichen Denkens auf<br />
juristische Fragen nicht in erster Linie durch Ökonomen, sondern vor allem<br />
durch Juristen selbst. Vorreiter war Guido Calabresi, der ab 1960 unabhängig<br />
von Coase in Yale begann, sich aus ökonomischer Sicht mit dem Schadenersatzrecht<br />
zu beschäftigen. 143 Als wichtiger früher Rechtsökonom aus<br />
dem Kreise der »Juristen« ist auch Henry Manne zu nennen, der unter Di-<br />
135 Umfassend Duxbury 331, 335 f., 342; Mercuro/Medema 52; Mackaay (oben N. 40) 72;<br />
Rowley, Law-and-economics from the perspective of economics, in: The New Palgrave Dictionary<br />
of Economics and the Law (oben N. 131) 478.<br />
136 Frank Knight gilt als Begründer der »Chicago School of Economics«, vgl. z. B. Hackney,<br />
Law and Neoclassical Economics: Science, Politics and the Reconfi guration of American<br />
Tort Law Theory: Law and History Review (L. Hist. Rev.) 15 (1997) 275–322 (295 mit weiteren<br />
Nachweisen); Mercuro/Medema 54.<br />
137 Vgl. Wetlaufer 37; weitere Nachweise bei Rowley, Intellectual History 13.<br />
138 Vgl. etwa Bok, Section 7 of the Clayton Act and the Merging of Law and Economics:<br />
Harv. L. Rev. 74 (1960) 226–355; historisch Duxbury 345, 350.<br />
139 Coase, The Problem of Social Cost: J. L. Econ. 3 (1960) 1–44.<br />
140 Becker, The Economics of Discrimination (1957); ders., Crime and Punishment (oben<br />
N. 121); ders., A Treatise on the Family (1981).<br />
141 Vgl. Mackaay (oben N. 40) 73.<br />
142 Vgl. Posner, The Decline of Law as an Autonomous Discipline, 1962–1987: Harv. L.<br />
Rev. 100 (1986/87) 761–780 (767).<br />
143 Z. B. Calabresi, Some Thoughts on Risk Distribution and the Law of Torts: Yale L. J.<br />
70 (1960/61) 499–553; ders., The Cost of Accidents (1970) (zitiert: Cost); Calabresi/Melamad,<br />
Property Rules, Liability Rules and Inalienability, One View of the Cathedral: Harv. L. Rev.<br />
85 (1971/72) 1089–1128; Calabresi/Hirschoff, Toward a Test for Strict Liability in Torts: Yale<br />
L. J. 81 (1971/72) 1055–1085.
536 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
rector in Chicago studiert hatte 144 und vor allem im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht<br />
einen anti-interventionistischen Ansatz 145 propagierte. 146<br />
Für zwei wesentliche Schritte zur Etablierung der Rechtsökonomie als anerkannter<br />
Disziplin war der Jurist Richard Posner verantwortlich, nämlich die<br />
Gründung des »Journal of Legal Studies« 1972 147 und die erste Aufl age seiner<br />
Monographie »Economic Analysis of Law« im Jahr 1973 148 , die erstmals eine<br />
ökonomische Aufarbeitung der Rechtsordnung beinahe in ihrer gesamten<br />
Breite versuchte.<br />
Die oft behauptete »konservative«, d. h. wirtschaftsliberale Ausrichtung 149<br />
stellt auch einen wichtigen Kritikpunkt dar, der freilich für die Verbreitung<br />
der Rechtsökonomie von wesentlicher Bedeutung war. In pauschaler Form<br />
ist die Kritik zwar nicht berechtigt, historisch aber verständlich. Rechtsökonomische<br />
Argumente wurden, vor allem seitens der Chicago School, oft zur<br />
Untermauerung wirtschaftsliberaler Politikziele eingesetzt. Gerade Richard<br />
Posner gilt nach weit verbreiteter Ansicht als »konservativ«; 150 seine These,<br />
das Richterrecht des common law tendiere zur Effi zienz (im Sinne von Vermögensmaximierung),<br />
151 richtet sich gegen Eingriffe des Gesetzgebers. Posners<br />
einfl ussreiches, für Nicht-Ökonomen gut zugängliches Lehrbuch und<br />
144 Siehe auch Manne, How law and economics was marketed in a hostile world, A very<br />
personal history, in: The Origins of Law and Economics (oben N. *) 309–327, der anschaulich<br />
Widerstände gegen den neuen Ansatz beschreibt.<br />
145 Manne, The Higher Criticism of the Modern Corporation: Colum. L. Rev. 62<br />
(1961/62) 399–432; ders., Mergers and the Market for Corporate Control: J. Pol. Econ. 73<br />
(1965) 110–120; ders., Our Two Corporate Systems, Law and Economics: Va. L. Rev. 53<br />
(1967) 259–284. Berühmt geworden sind vor allem seine Arbeiten zum Insider Trading. Siehe<br />
Manne, Insider Trading and the Stock Market (1966).<br />
146 Duxbury 359.<br />
147 Bereits seit 1958 gab es das von Aaron Director begründete und von Coase fortgeführte<br />
»Journal of Law and Economics«.<br />
148 1 6<br />
Posner, Economic Analysis of Law (1972); zuletzt ders., Economic Analysis of Law<br />
(2003).<br />
149 Z. B. Horwitz, Law and Economics, Science or Politics?: Hofstra L. Rev. 8 (1979/80)<br />
905–912; Kelman, A Guide to Critical Legal Studies (1987) 126; Downs, Law and Economics,<br />
Nexus of Science and Beliefs: Pac. L. J. 27 (1995/96) 1–36 (19). Siehe zur Kritik in der<br />
deutschsprachigen Literatur z. B. Taupitz 129 f., 133.<br />
150 Z. B. Malloy, Invisible Hand or Sleight of Hand?, Adam Smith, Richard Posner and the<br />
Philosophy of Law and Economics: U. Kan. L. Rev. 36 (1988) 209–259; Minda (oben N. 41)<br />
373; dagegen Posner, The New Institutional Economics Meets Law and Economics: Journal of<br />
Institutional and Theoretical Economics (JITE) 149 (1993) 73–87 (83).<br />
151 Posner (oben N. 148); siehe ferner Rubin, Why is the Common Law Effi cient?: J. Leg.<br />
Stud. 6 (1977) 51–63; Priest, The Common Law Process and the Selection of Effi cient Rules:<br />
ebd. 65–82; zum Schadenersatzrecht William Landes/Posner, The Economic Structure of Tort<br />
Law (1987); a. A. dagegen z. B. Kornhauser (oben N. 113) 591–639; Malloy (vorige Note 150);<br />
Hirsch, Comment: Evolutionary Theories of Common Law Effi ciency, Reasons for (Cognitive)<br />
Skepticism: Fla. St. U. L. Rev. 32 (2004/05) 425–441; Gennaioli/Shleifer, The Evolution<br />
of Precedent (April 2005) (NBER Working Paper No. W11265), mit Differenzierungen.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
537<br />
seine quantitativ besonders hervorstechende Publikationstätigkeit prägen bis<br />
heute die Außenwahrnehmung des rechtsökonomischen Forschungsansatzes.<br />
152 Nicht selten wird er als Leitfi gur angesehen, was zum Teil auf den<br />
geradezu imperialistischen Charakter seines Hauptwerks zurückgeführt<br />
wird. 153 Seine teilweise radikalen bzw. eigentümlich anmutenden Vorschläge<br />
154 machen ihn zum beliebten Ziel der Kritik. 155<br />
Der praktische Einfl uss dieser Form der Rechtsökonomie ist mit drei Faktoren<br />
verbunden. Erstens wurden ab dem Amtsantritt Präsident Reagans<br />
einige bekannte Rechtsökonomen zu Bundesrichtern bestellt, etwa bereits<br />
1981 Richard Posner. Dies hatte nicht nur Einfl uss auf die Rechtsentwicklung,<br />
sondern auch Rückwirkungen auf die Lehre. Eine 2002 erschienene<br />
Studie 156 stellt eine überproportionale Dominanz einiger weniger auch in<br />
der Lehre tätigen Richter in den sog. casebooks fest, namentlich Richard<br />
Posner, Frank Easterbrook und Ralph Winter, die alle als wirtschaftsliberal<br />
gelten. 157<br />
Zweitens ist das 1976 von Henry Manne etablierte Intensivtrainingsprogramm<br />
für Richter anzuführen, in dem diesen die Grundlagen der Mikroökonomie<br />
nähergebracht werden sollten. 158 Auch <strong>dieses</strong> wurde vielfach als<br />
einseitig der Chicago School verpfl ichtet und überdies als von der Großindustrie<br />
gesponsert kritisiert. 159 Bis 1983 hatten etwa ein Drittel der Bundesrichter<br />
160 , 1990 bereits 40% 161 daran teilgenommen. 162<br />
152 Vgl. etwa Hackney (oben N. 136) 316.<br />
153 Kelman (oben N. 149) 117.<br />
154 Besonderes Aufsehen erregte etwa sein Vorschlag einer partiellen Deregulierung des<br />
»Marktes der Adoptionen« (Elisabeth Landes/Posner, The Economics of the Baby Shortage: J.<br />
Leg. Stud. 7 [1978] 323–348; Posner, The Regulation of the Market in Adoptions: Boston<br />
U. L. Rev. 67 [1987] 59–72).<br />
155 Vgl. Kelman (oben N. 149) 117.<br />
156 Gulati/Sanchez, Giants in a World of Pygmies?, Testing the Superstar Hypothesis with<br />
Judicial Opinions in Casebooks: Iowa L. Rev. 87 (2001/02) 1141–1212 (1155).<br />
157 Vgl. auch Gulati/Sanchez (vorige Note) 1166. Zuletzt auch Choi/Gulati, Mr. Justice<br />
Posner?, Unpacking the Statistics: NYU Ann. Surv. Am. L. 61 (2005) 19–44, wonach Posner<br />
und Easterbrook die beiden Richter mit der größten Zahl an veröffentlichten Entscheidungen<br />
sind.<br />
158 Vgl. hierzu Butler, The Manne Program in Economics for Federal Judges: Case W. Res.<br />
L. Rev. 50 (1999/2000) 351–420.<br />
159 Vgl. nur die Nachweise bei Duxbury 359 f. Siehe auch Priest, The Emergence of Law &<br />
Economics as an Academic Discipline, Henry Manne and the Market Measure for Intellectual<br />
Infl uence: Case W. Res. L. Rev. 50 (1999/2000) 325–331 (330) zur Manneschen Stundenplangestaltung.<br />
160 Duxbury 360. Bundesrichter judizieren u. a. im Kartell-, Kapitalmarkt- und Insolvenz-<br />
recht.<br />
161 Butler (oben N. 158) 352.<br />
162 Zur Diskussion über die Teilnahme von Richtern an derartigen Konferenzen siehe<br />
Bruce A. Green, Judicial Independence, May Judges Attend Privately Funded Educational Pro-
538 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
Drittens ist die mit dem Aufstieg der Rechtsökonomie einhergehende<br />
»antitrust revolution« zu nennen. Mit dieser wurde die in der Nachkriegszeit<br />
vorherrschende Interpretation der generalklauselartig abgefassten Kartellgesetze<br />
163 aufgegeben und den Selbstreinigungskräften des Marktes breiterer<br />
Raum gegeben; die bis dahin in der Industrieökonomie vorherrschende,<br />
gegenüber Großunternehmen und Konglomeraten an sich skeptische Harvard<br />
School wich gegenüber dem auf neoklassischer Preistheorie beruhenden<br />
Ansatzes der Chicago School zurück, die die inhärente Instabilität von Monopolen<br />
betonte. 164 Die Gerichte machten sich in den 1980er Jahren zunehmend<br />
Auffassungen der Chicago School zu eigen wie etwa jene, dass das<br />
Kartellrecht allein allokativer Effi zienz dienen und nicht etwa auch andere<br />
Ziele, wie etwa den Schutz von Kleinbetrieben, vor Augen haben sollte. 165<br />
Auch in den merger guidelines des amerikanischen Justizministeriums schlug<br />
sich diese Sichtweise nieder. 166<br />
Es ist nicht zu verkennen, dass auch die Entwicklung der Rechtsökonomie<br />
zum Teil mit einer bestimmten politischen Entwicklung verbunden<br />
war. Der in der Außenwahrnehmung lange dominante Ansatz der Chicago<br />
School 167 ist Gegenstand eines Großteils der Kritik sowohl innerhalb als<br />
auch außerhalb der USA. Diese sollte keinesfalls dazu verleiten, den ökonomischen<br />
Zugang zum Recht an sich abzulehnen. In der Literatur wird der<br />
Chicago School oft eine »New Haven School« oder »reformist school« 168<br />
grams?, Should Judicial Education be Privatized?: Questions of Judicial Ethics and Policy:<br />
Fordham Urban L. J. 29 (2001/02) 941–1005 (941 f., 954).<br />
163 15 U. S. C. §§ 1–7 (Sherman Act), §§ 12–27 (Clayton Act), §§ 41 ff. (FTC Act).<br />
164 Vgl. Jacobs, An Essay on the Normative Foundations of Antitrust Economics: N. C. L.<br />
Rev. 74 (1995) 219–266 (226 ff.); vgl. etwa Easterbrook, The Limits of Antitrust: Tex. L. Rev.<br />
63 (1984) 1 (2).<br />
165 Vgl. Jacobs (vorige Note) 220 f.; siehe z. B. Matsushita Elec. Indus. Co. v. Zenith Radio<br />
Corp., 475 U. S. 574, 588–89 (1986); Northwest Wholesale Stationers v. Pacifi c Stationery & Printing<br />
Co., 472 U. S. 284, 296 (1985); National Collegiate Athletic Ass’n v. Board of Regents of Univ.<br />
of Okla., 468 U. S. 85, 104–07 (1984); insb. Continental T. V., Inc. v. GTE Sylvania, Inc., 433<br />
U. S. 36, 53 N. 21 (1977).<br />
166 Williamson, Delimiting Antitrust: Geo. L. J. 76 (1987) 271–304 (273 f.). Mittlerweile<br />
lässt sich freilich wiederum eine ökonomisch orientierte Gegenkritik (»post-Chicago«) ausmachen,<br />
die sich anscheinend bereits in der Rechtsprechung niederschlägt. Siehe insbesondere<br />
Image Technical Servs., Inc. v. Eastman Kodak Co., (1989–1 Trade Cas. [CCH] P 68,402, at<br />
60,210, 60,211–60,214 [N. D. Cal. Apr. 18, 1988], rev’d, 903 F.2d 612 [9th Cir. 1990], aff’d,<br />
504 U. S. 451 [1992]); vgl. dazu Lande, Chicago Takes it on the Chin, Imperfect Information<br />
Could Play a Role in the Post-Kodak World: Antitrust L. J. 62 (1993) 193–202; Jacobs (oben<br />
N. 164) 246 f.<br />
167 Vgl. etwa Rowley, Intellectual History 24; Rose-Ackerman, Law and Economics: Paradigm,<br />
Politics, or Philosophy, in: Law and Economics (oben N. 84) 233–258 (237).<br />
168 Vgl. zum Begriff etwa Minda (oben N. 84) 111 N. 3; Mercuro/Medema 79 ff.; Mackaay,<br />
Schools: General, in: Encyclopedia of Law and Economics (oben N. 4) Nr. 0500, 402–415<br />
(410); vgl. auch Parisi, Positive, Normative and Functional Schools in Law and Economics:<br />
Eur. J. L. Econ. 18 (2004) 259–272 (264 f.); Rose-Ackerman (vorige Note) 234.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
539<br />
gegenübergestellt, die gesetzlichen Eingriffen gegenüber offener sei. 169 Auch<br />
innerhalb der rechtsökonomischen Bewegung wurde der »Chicago-Ansatz«<br />
seit jeher kritisiert, etwa in einer bekannten Besprechung der ersten Aufl age<br />
des Posnerschen Lehrbuchs durch A. Mitchell Polinsky, der darauf hinweist,<br />
dass die unausgesprochene Annahme kompetitiver Märkte den (juristischen)<br />
Leser zu falschen Schlussfolgerungen verleiten könne. 170 In jüngerer Zeit hat<br />
überdies die Forschungsrichtung des »behavioral law and economics« Bedeutung<br />
erlangt, die aufgrund ihres Abgehens vom ökonomischen Rationalitätspostulat<br />
oft zu völlig konträren rechtspolitischen Empfehlungen gelangt.<br />
171<br />
Aus politischer Sicht war freilich von Anbeginn an der normative Aspekt<br />
der ökonomischen Analyse der kritischere Punkte, vor allem in Hinblick auf<br />
die Wahl des zugrundeliegenden Effi zienzziels. Der von Posner ursprünglich<br />
als Abgrenzungsversuch zum Utilitarismus eingebrachte Ansatz der<br />
Vermögensmaximierung (wealth maximization) als eigenständiges normatives<br />
Ziel 172 hat eine offensichtliche politische Dimension. Der Ansatz konnte sich<br />
in der Diskussion – gerade auch unter Rechtsökonomen – letztlich nicht<br />
durchsetzen. Die verteilungspolitisch blinde Vermögensmaximierung wird<br />
daher heute regelmäßig nur als Instrument einer Nutzenmaximierung gesehen.<br />
173 Insgesamt war jedoch der Ansatz der Chicago School – offenbar gerade<br />
aufgrund seiner politischen Konsequenzen, der Verbreitung der ökonomischen<br />
Analyse des Rechts ausgesprochen förderlich.<br />
169 Mercuro/Medema 80; Wetlaufer 37; Mackaay (vorige Note) 412; vgl. auch Ackerman, Law,<br />
Economics, and the Problem of Legal Culture: Duke L. J. 6 (1986) 929–947; Rose-Ackerman<br />
(oben N. 167) 235 f., 255 N. 19.<br />
170 Polinsky, Economic Analysis of Law as a Potentially Defective Product: A Buyer’s<br />
Guide to Posner’s Economic Analysis of Law: Harv. L. Rev. 87 (1973/74) 1655–1681 (1671 ff.,<br />
1680 f.).<br />
171 Grundlegend Jolls/Sunstein/Thaler, A Behavioral Approach to Law and Economics:<br />
Stan. L. Rev. 50 (1997/98) 1471–1550; Sunstein, Behavioral Law and Economics 2 (2004); Parisi/Smith,<br />
The Law and Economics of Irrational Behavior (2005); in Deutschland Eidenmüller,<br />
Homo oeconomicus (oben N. 11) 216 ff.; kritisch dazu Posner, Frontiers (oben N. 46) 252 ff.<br />
172 Posner, Utilitarianism (oben N. 123); ders., The Ethical and Political Basis of the Effi ciency<br />
Norm in Common Law Adjudication: Hofstra L. Rev. 8 (1979/80) 487–507. Auch unter<br />
Rechtsökonomen konnte sich der Vorschlag nicht durchsetzen. Siehe nur bereits 1970 Calabresi,<br />
Cost (oben N. 143) 24; ausführlicher ders., About Law and Economics, A Letter to Ronald<br />
Dworkin: Hofstra L. Rev. 8 (1979/80) 553–562; ders., Analysis (oben N. 123) 89; Rizzo,<br />
The Mirage of Effi ciency: ebd. 641–658; Bebchuk, The Pursuit of a Bigger Pie, Can Everyone<br />
Expect a Bigger Slice?: ebd. 671–709; Kaplow/Shavell, Fairness vs. Welfare (2002). Zusammenfassend<br />
Parisi (oben N. 123) 33 ff., 44 ff.<br />
173 Siehe vor allem Kaplow/Shavell (vorige Note) 37. Auch Posner dürfte von seiner ursprünglichen<br />
Position abgerückt sein; vgl. Posner, The Ethics of Wealth Maximization: Reply<br />
to Malloy: U. Kan. L. Rev. 36 (1987/88) 261–266 (265) (»[. . .] I never suggested that [wealth]<br />
is the only social value [. . .]«); ders., The Problematics of Moral and Legal Theory: Harv. L.<br />
Rev. 111 (1997/98) 1637–1717 (1670 N. 62); siehe auch Parisi (oben N. 123) 47. Siehe auch<br />
Rowley, Intellectual History 21 f.
540 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
IV. Die Entwicklung im deutschsprachigen Raum<br />
1. Rechtsökonomische Vorstöße im 19. Jahrhundert<br />
Früher als in den Vereinigten Staaten, nämlich schon gegen Ende des 19.<br />
Jahrhunderts, gab es im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Österreich,<br />
Ansätze zur ökonomischen Analyse des Rechts. 174 Hervorzuheben ist<br />
dabei die Arbeit von Victor Mataja, der sich – in dogmenkritischer Art – mit<br />
der ökonomischen Analyse des Schadenersatzrechts befasste und zentrale<br />
Erkenntnisse der ökonomischen Analyse des Rechts vorwegnahm. 175 Trotz<br />
der für die Rechtswissenschaft revolutionären Methodik erlangte seine Monographie<br />
wenig Bedeutung und hatte keine nachhaltige Auswirkung auf<br />
die rechtspolitische Diskussion. 176 Diese Entwicklung ist für unsere Fragestellung<br />
von Interesse, da sie zeigt, dass die theoretische Möglichkeit einer<br />
Hinwendung des deutschsprachigen Rechtsdenkens zur Ökonomik längst<br />
bestand, dieser jedoch kein nachhaltiger Erfolg beschieden war.<br />
Ganz im Sinn der modernen Law-and-economics-Diskussion war Mataja<br />
die Präventionswirkung des Haftungsrechts ein zentrales Anliegen, womit<br />
er unter anderem zu einer Kritik des Verschuldensprinzips gelangte. 177 In<br />
einem System der Verschuldenshaftung liegen nach Mataja die Anreize, den<br />
Schaden zu verhindern, unter dem sozialen Optimum, da der Schädiger nur<br />
soviel Sorgfalt aufwenden werde, wie vom Gesetz verlangt sei. Dagegen<br />
seien in einem System der Gefährdungs- bzw. Erfolgshaftung die Anreize<br />
optimal, da sich der Schädiger an seinen eigenen Kosten und denen des Geschädigten,<br />
somit also an den Gesamtkosten, orientiere. Ebenso gelte bei<br />
zufälligen Schäden, dass nicht der Eigentümer, sondern derjenige den Schaden<br />
tragen solle, der den Schaden am besten verhindern kann. In Anwendung<br />
der damals noch jungen Grenznutzentheorie führte Mataja aus, dass<br />
der Schaden grundsätzlich durch mehrere getragen werden sollte, da die<br />
volle Schadenstragung durch eine einzige Person diese härter treffe, als<br />
wenn der Schaden auf mehrere Personen aufgeteilt würde. 178 Matajas Arbeit<br />
174 Siehe vor allem Mataja, Das Recht des Schadensersatzes vom Standpunkte der Nationalökonomie<br />
(1888); Kleinwächter, Die Kartelle, Ein Betrag zur Frage der Organisation der<br />
Volkswirthschaft (1883); Anton Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Klassen<br />
(1890).<br />
175 Mataja (vorige Note); zur Bedeutung dieser Arbeit siehe Englard 173 ff.; Winkler, Ökonomische<br />
Analyse des Rechts im 19. Jahrhundert, Victor Matajas »Recht des Schadensersatzes«<br />
revisited: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 26 (2004) 262–281 (262 ff.). Seine<br />
Arbeiten gelten auch als richtungsweisend für die deutschsprachige Werbewissenschaft;<br />
grundlegend Mataja, Die Reklame 4 (1926).<br />
176 Englard 173 ff.; Winkler (vorige Note) 262.<br />
177 Mataja (oben N. 174) 23 f., 32 ff.; siehe dazu auch Böhm-Bawerk 420 f.; vgl. aus heutiger<br />
Sicht Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law (2004) 179 f.<br />
178 Mataja (oben N. 174) 27 ff. mit Bezug zu Böhm-Bawerk.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
541<br />
beschritt auch in anderen Bereichen Neuland. Warum löste Mataja dennoch<br />
keine kontinentaleuropäische Diskussion zur ökonomischen Analyse des<br />
Rechts aus?<br />
Als Professor für politische Ökonomie und zeitweiliger österreichischer<br />
Handelsminister hatte er eine nicht unbedeutende Stimme in Wissenschaft<br />
und Politik. Überdies konnte er auf die theoretischen Grundlagen der Wiener<br />
Schule der Nationalökonomie zurückgreifen. Das ökonomische Werkzeug<br />
(z. B. die Grenznutzentheorie 179 ) war damals schon weit entwickelt,<br />
und die Diskussion über die Grundsätze des Privatrechts hatte sich von der<br />
Rechtswissenschaft teilweise auf die Nationalökonomie verlegt 180 . Auch die<br />
universitären Strukturen wären für eine interdisziplinäre Arbeit durchaus<br />
geeignet gewesen, da Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität<br />
Wien in einer gemeinsamen Fakultät zusammengefasst waren und Juristen<br />
wie Carl Menger oder Eugen von Böhm-Bawerk auf Lehrstühle der Ökonomie<br />
berufen wurden. 181 Allfällige Berührungsängste 182 hätten überwunden<br />
werden können. Auch im juristischen Studienplan waren ökonomische<br />
Fächer (Nationalökonomie, Finanzpolitik) enthalten.<br />
Dass das Wiener wissenschaftliche Umfeld geradezu prädestiniert gewesen<br />
wäre, eine Schule der ökonomischen Analyse des Rechts zu entwickeln,<br />
war durchaus bekannt. 183 Matajas Werk strahlte auch auf andere Teile Europas<br />
aus und wurde unter anderem in Frankreich von Teisseire 184 in seiner<br />
Arbeit und in Ungarn von Marton aufgegriffen. 185 Die Diskussion um die<br />
Verschuldenshaftung hatte aufgrund der Entwurfsarbeiten zum BGB große<br />
rechtspolitische Bedeutung, weshalb er in einer weiteren Arbeit auf die<br />
deutschen Reformbestrebungen Bezug nahm. 186 Der ökonomische Zugang<br />
Matajas wurde aber letztlich in der juristischen Diskussion weitestgehend<br />
abgelehnt, wobei sich selbst im Ergebnis zustimmende Beiträge letztlich auf<br />
eine rein dogmatische Analyse beschränkten. 187 In zumindest einem Fall<br />
bezeichnete sogar ein methodisch »fortschrittlicher« Vertreter der aufkommenden<br />
Interessenjurisprudenz Matajas »ganzen Gedankengang als einen<br />
179 Siehe dazu im historischen Kontext z. B. Screpanti/Zamagni/Field, An Outline of the<br />
History of Economic Thought (1995) 145 ff.<br />
180 Hofer, Freiheit ohne Grenzen (2001) 98. Details wurden freilich nach wie vor hauptsächlich<br />
im rechtswissenschaftlichen Diskurs behandelt.<br />
181 Winkler (oben N. 175) 276.<br />
182 Siehe Böhm-Bawerk 418 ff.<br />
183 Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1906; Nachdruck Nomos Verlag<br />
2002) 38; Böhm-Bawerk 419.<br />
184 Tesseire, Essai d’une théorie générale sur le fondement de la responsabilité (1901).<br />
185 Nachweise bei Englard 183.<br />
186 Mataja, Das Schadenersatzrecht im Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das<br />
Deutsche Reich: ArchBürgR 1 (1889) 267–282.<br />
187 Englard 187.
542 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
krankhaften«. 188 Auch andere Arbeiten, die sich nach heutigem Verständnis<br />
der ökonomischen Analyse des Rechts zuordnen ließen, fanden wenig dauerhaften<br />
Widerhall. 189<br />
Der interdisziplinäre Ansatz fand unter Ökonomen durchaus Anklang,<br />
wie etwa Böhm-Bawerks Lob von Matajas Arbeit zeigt. 190 Carl Menger,<br />
einer der Begründer der österreichischen Schule der Nationalökonomie,<br />
kritisierte die konservative Einstellung der an der Savignyschen Jurisprudenz<br />
geschulten Juristen. 191 Auch manche Juristen waren durchaus aufgeschlossen,<br />
etwa Carl Mengers Bruder, der Zivilprozessrechtler Anton Menger,<br />
der die historische Rechtsschule angriff und argumentierte, dass das<br />
Recht die Interessen der herrschenden Volksklassen auf Kosten der besitzlosen<br />
Klassen schützte; eine Wiedergabe des geltenden Rechts sei daher als<br />
Theorie der Gesetzgebung ungeeignet. 192 Letztlich setzten sich aber Juristen<br />
wie Bernhard Windscheid und Paul Laband durch, die interdisziplinäre Untersuchungen<br />
ablehnten und meinten, dass ethische, politische und volkswirtschaftliche<br />
Erwägungen nicht Sache des Juristen wären. 193<br />
Der Misserfolg der rechtsökonomischen Bewegung im juristischen Diskurs<br />
wurde mit der zunehmenden Spezialisierung der Sozialwissenschaften<br />
und der ökonomischen Methodenvielfalt erklärt. Man meinte, die Ökonomie<br />
stecke in einem frühen Entwicklungsstadium und ihre Übertragung auf<br />
die Rechtswissenschaft würde zu unklaren Maßstäben führen, 194 was insofern<br />
verwundert, als Meinungsstreite sowohl in der Rechtsdogmatik als<br />
188 So ausdrücklich Max Rümelin, Die Gründe der Schadenszurechnung und die Stellung<br />
des deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs zur objektiven Schadenersatzpfl icht (1896) 7. Zum<br />
geringen Einfl uss der Volkswirtschaftslehre auf die rechtswissenschaftliche Diskussion siehe<br />
auch Nörr 38 ff.<br />
189 Zu nennen ist vor allem Steinitzer, Ökonomische Theorie der Aktiengesellschaft<br />
(1908), wo moderne Gedanken wie das Prinzipal-Agenten-Problem (55 ff.) oder die Sichtweise<br />
der Kapitalgesellschaft als Netzwerk von Verträgen (48 f.) vorweggenommen werden.<br />
Siehe nunmehr Jensen/Meckling, Theory of the Firm: Managerial Behavior, Agency Cost and<br />
Ownership Structure: J. Fin. Econ. 3 (1976) 305–360 (310).<br />
190 Böhm-Bawerk 418 ff. Lob kommt auch von Steinbach, Die Rechtsgrundlage, betreffend<br />
den Ersatz von Vermögensschäden: JBl. 1888, 243 N. 1.<br />
191 Vgl. Hutchison, Some Themes from Investigations into Method, in: Carl Menger and<br />
the Austrian School of Economics, hrsg. von Hicks/Weber (1973) 15 (26 f.).<br />
192 Menger (oben N. 174) 5 ff., 10 ff.; siehe in diesem Zusammenhang auch Hofer (oben<br />
N. 180) 134 ff.<br />
193 Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, in: Bernhard Windscheid, Gesammelte<br />
Reden und Abhandlungen, hrsg. von Oertmann (1904) 112, wobei sich Windscheid<br />
nicht primär auf die Gesetzgebung, sondern die Rechtswissenschaft bezieht; siehe auch Oertmann,<br />
Windscheid als Jurist: ebd. S. XXXIII; Wieacker 431. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen<br />
Reichs2 (1888).<br />
194 Pearson, The Origins of Law and Economics, The Economists’ New Science of Law<br />
(1997) 43, 131; Mackaay (oben N. 40) 70. Schon Böhm-Bawerk (418 f.) sah in der Tatsache, dass<br />
die Ökonomie zu dieser Zeit »keine ausgereifte Disziplin« war, ein Hindernis für die interdisziplinäre<br />
Arbeit.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
543<br />
auch in sonstigen Sozialwissenschaften stets vorhanden waren. Entscheidend<br />
war eher die Unfähigkeit der damaligen Dogmatik, die ökonomische Analyse<br />
in ihre Methodik zu integrieren. Das Systemdenken und der damit<br />
verbundene Kohärenzgedanke war externen Einfl üssen, wie z. B. einer Reform,<br />
die sich unabhängig vom geltenden Recht an der sozialen Wohlfahrt<br />
orientierte, insofern abgeneigt, als externe Impulse nicht in das System der<br />
Begriffsbildungen, 195 später der Interessenkonfl ikte bzw. gesetzgeberischen<br />
Wertungen eingegliedert werden konnten. Sie müssten erst durch aufwendige<br />
Re-Interpretationsarbeit in das System integriert werden, was dadurch<br />
bedingt war, dass sich die Legitimität der Rechtssätze auf deren Widerspruchsfreiheit<br />
gründete. 196 So wurde Matajas Werk unter anderem mit dem<br />
Argument abgelehnt, dass es, im Widerspruch zum bestehenden System,<br />
Schadenersatz und Strafe vermenge. 197<br />
Nicht unbedeutend war zuletzt wohl auch, dass sich die Rechtsökonomie<br />
im späten 19. Jahrhundert, anders als die moderne Bewegung in den Vereinigten<br />
Staaten, tendenziell gegen die Macht- und Entscheidungsträger richtete.<br />
So hatte beispielsweise Anton Menger den Entwurf eines Bürgerlichen<br />
Gesetzbuches für das deutsche Reich grundlegend kritisiert. 198 Generell<br />
hielten die Kritiker des Rechtspositivismus die geltende Rechtsordnung für<br />
defi zitär, während seine Befürworter die strenge Gesetzestreue mitunter<br />
verwendeten, um bestehende Verhältnisse zu rechtfertigen. 199 Dagegen war<br />
ein wichtiger Teil der späteren US-amerikanischen rechtsökonomischen<br />
Bewegung tendenziell auf die Legitimierung des bestehenden Rechts, insbesondere<br />
des Richterrechts gegenüber staatlichen Eingriffen, ausgerichtet.<br />
200<br />
2. Interne Betrachtung in Gesetzgebungslehre und Auslegung<br />
Die Erklärung des geringen Erfolgs der Rechtsökonomie zu dieser Zeit<br />
und in der Folge gründet sich teilweise in den Ursprüngen der juristischen<br />
195 Im Rahmen der Begriffsjurisprudenz konnte das Recht nur durch die Begriffsbildungen<br />
und den davon ausgehenden Deduktionen systeminmmanent ergänzt werden; Puchta,<br />
Cursus der Institutionen I: Einleitung in die Rechtswissenschaft und Geschichte des Rechts<br />
bey dem römischen Volk (1841) 36.<br />
196 Wieacker 401. Siehe auch das Ringen um Gesetzespositivismus und Kohärenz bei Canaris,<br />
Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1969) 121 ff.: Einerseits muss sich<br />
der gesetzespositivistische Richter an das Gesetz halten, andererseits kamen widersprüchliche<br />
Entscheidungen des Gesetzgebers vor.<br />
197 Rümelin (oben N. 188) 6.<br />
198 Menger (oben N. 174).<br />
199 Grimm 489; vgl. auch Wieacker 442.<br />
200 Vgl. die Theorie Richard Posners, nach der sich das Richterrecht des Common Law auf<br />
Dauer von selbst in Richtung ökonomischer Effi zienz entwickle. Siehe oben bei N. 151.
544 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
Methodik, die den »externen« Blick auf das Recht aus ihrer Betrachtung<br />
weitestgehend ausblendet und auf die daher kurz eingegangen werden soll.<br />
Es wurde bereits mehrmals auf die untergeordnete Stellung der wissenschaftlichen<br />
Gesetzgebungslehre bzw. Rechtspolitik in der deutschsprachigen<br />
Literatur hingewiesen. 201 Wesentlicher Ausgangspunkt dieser Tradition<br />
ist die Selbstreferenz des rechtlichen Diskurses. Sie bedeutet für die<br />
Gesetzgebung die Gewinnung rechtspolitischer Argumente aus dem bereits<br />
bestehenden Recht und für die Auslegung die Lückenfüllung anhand des<br />
bestehenden Rechts. Die Abgrenzung hat ihren Ursprung vor allem in der<br />
»Historischen Rechtsschule« von Friedrich Carl von Savigny, die auf die<br />
Gewohnheiten und Überlieferungen des römischen Rechts abstellte, und<br />
reicht bis zu Kelsens »Reiner Rechtslehre«, die in enger Beziehung zum logischen<br />
Positivismus des Wiener Kreises die Rechtspolitik überhaupt aus der<br />
rechtswissenschaftlichen Disziplin ausschloss. 202 In diesem Zusammenhang<br />
haben auch in der rechtssoziologischen Literatur Theorien über die Autopoiesis<br />
des Rechts wieder an Bedeutung gewonnen, die das Rechtssystem<br />
als weitgehend autonomes gesellschaftliches Teilsystem ansehen – ein Teilsystem,<br />
dessen Weiterentwicklung vor allem auf systeminterne (also rechtliche)<br />
Operationen zurückzuführen versucht wird. 203 Mit der zentralen Stellung<br />
des Systemgedankens, der im Übrigen auch das Naturrechtsdenken<br />
prägte, 204 hängt die besondere Betonung, vielleicht sogar Überbetonung der<br />
Widerspruchslosigkeit neuer Gesetze mit dem geltenden Recht und die<br />
Übereinstimmung von rechtspolitischen Vorschlägen mit den allgemeineren<br />
Rechtsnormen und Rechtsprinzipien zusammen. 205<br />
Die Entwicklung des 19. Jahrhunderts muss vor dem Hintergrund des mit<br />
Johann Gottfried Herder gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkommenden<br />
Historismus gesehen werden, der zu einer Abspaltung der Geisteswissenschaften<br />
von der Philosophie führte. 206 Phänomene wurden im Lichte ihres<br />
201 Auszugsweise: Luhmann (oben N. 34) 11, 193; Mayer-Maly, Rechtswissenschaft (1972)<br />
201; Weinberger, Zur Theorie der Gesetzgebung, in: Rechtsphilosophie und Gesetzgebung,<br />
hrsg. von Mokre/Weinberger (1976) 173 ff.; Peter Noll, Gesetzgebungslehre (1973) 9, 14; Schelsky,<br />
Die Soziologen und das Recht (1980) 59 ff.; Kubeš, Theorie der Gesetzgebung (1987) 1 ff.;<br />
Lammer, Grundfragen der Gesetzgebungslehre, in: Effi zienz der Gesetzesproduktion, hrsg.<br />
von Mantl (1995) 60 f.; Kaufmann 110 ff.; Büllesbach, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft,<br />
in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart 7 , hrsg. von<br />
Kaufmann/Hassemer/Neumann (2004) 401–427 (416). Kritisch bereits Fuchs, Gerechtigkeitswissenschaft:<br />
JW 1920, 6–10 (8) (Nachdruck in: Ernst Fuchs, Gesammelte Schriften über<br />
Freirecht und Rechtsreform, hrsg. von Foulkes II [1973] 247).<br />
202 Siehe Kaufmann 124 f.<br />
203 Siehe z. B. Teubner, Recht als autopoietisches System (1989).<br />
204 Kaufmann 82. Wieacker 372 ff. zu Ähnlichkeiten zwischen historischer Rechtssschule<br />
und Naturrecht.<br />
205 Zur überproportional großen Bedeutung von System, Struktur und Kohärenz im Vergleich<br />
zum amerikanischen Rechtsdenken siehe Herget 104 ff., 106, 110.<br />
206 Z. B. Skirbekk/Gilje, Geschichte der Philosophie II (1987) 552 ff.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
545<br />
ursprünglichen Kontextes begriffen und im Sinne von Veränderungen und<br />
Bewegungen dynamisch erklärt. Historisches Verstehen bedeutete, sich in<br />
den Zeit- und Volksgeist hineinzuversetzen und diesen von innen heraus zu<br />
verstehen. 207 Der Historismus geriet damit in Streit mit der naturrechtlichen<br />
Betonung einer allgemein gültigen, ewigen Vernunft. Savigny war der herausragende<br />
Vertreter der Rechtswissenschaft, die mit der historischen<br />
Rechtsschule ihre Selbstständigkeit als Disziplin nachhaltig konstituierte.<br />
Wie schon Herder war Savigny um die Einfühlung in den historischen Kontext<br />
bemüht, der in der Betonung des Volksgeistes zum Ausdruck kam. 208 In<br />
ihm kam das Recht als kulturelle Erscheinungsform zum Ausdruck, eine<br />
Ansicht, die von Puchta in seiner Abhandlung über das Gewohnheitsrecht 209<br />
weiterentwickelt wurde.<br />
Die historische Rechtsschule um Savigny ist Ausgangspunkt für die heutige<br />
rechtspolitische Haltung der Rechtswissenschaft. 210 In seinem einfl ussreichen<br />
Werk »Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft«<br />
von 1814 erklärte er, das Recht bilde sich aus dem Volksgeist<br />
heraus, und richtete sich damit unter anderem gegen Kodifi kationen. Mit<br />
der Kodifi kationsfrage eng verbunden und aus heutiger Sicht bedeutsamer<br />
ist die Absage an eine vernunftrechtliche Konstruktion des Rechts. Schon<br />
der noch stärker als Savigny philosophisch arbeitende Gustav von Hugo<br />
meinte, dass das Naturrecht keine zureichenden Maßstäbe bieten könne und<br />
die Rechtspolitik sich daher besser an den bestehenden und den vergangenen<br />
Gegebenheiten messen solle. 211<br />
Entgegen der historischen Rechtsschule war Anton Friedrich Justus Thibaut<br />
der Ansicht, dass die Gesetzgebung stets zweckmäßig sein und sich<br />
damit an externen Kriterien orientieren müsse. 212 In der Auseinandersetzung<br />
zwischen Savigny und Thibaut ging es um Ähnliches wie bei der Kritik<br />
Benthams an Blackstone. Auch Thibaut kritisierte die konservative Einstellung<br />
des vorherrschenden Rechtsdenkens, da sie eine Verbesserung der<br />
bestehenden Verhältnisse verhindere. 213 Anders als in England wurde aber<br />
die substantielle bzw. externe, rechtspolitische Zielsetzung nicht Gegenstand<br />
der Auseinandersetzung und wurde in der weiteren Entwicklung immer<br />
weiter in den Hintergrund gerückt.<br />
207 Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774; Ausg.<br />
Suhrkamp 1967) 37.<br />
208 Zum Einfl uss Herders auf Savigny siehe Wieacker 356 ff.<br />
209 Puchta, Das Gewohnheitsrecht I (1828), II (1837).<br />
210 So auch Büllesbach (oben N. 201) 416 zur Gesetzgebung als juristischer Disziplin.<br />
211 Wieacker 379 f. Zu Savignys Stellung zum Naturrecht ausführlich Schröder 257 ff.<br />
212 Thibaut, Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts in Deutschland<br />
(Nachdr. der Ausg. Heidelberg 1814: Goldbach 1997) 12 f.<br />
213 Thibaut (vorige Note) 58.
546 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
Für Savigny war das Recht aus Gewohnheit, Wissenschaft und Praxis –<br />
letztlich aus bestehendem Recht – zu gewinnen, wofür sich vor allem das<br />
römische Recht gut eignen sollte. Dabei wurde der »Volksgeist« als zentrales<br />
Konzept der Rechtsevolution mystifi ziert und war von gesellschaftspolitischen<br />
und sozialen Bewegungen weitgehend unabhängig. 214 Wenngleich<br />
die historische Rechtsschule eine Erneuerung der Rechtswissenschaft bewirkte,<br />
war Savignys Methode – jedenfalls aus heutiger Perspektive – streng<br />
konservativ, 215 da sie auf die Erhaltung bestehender Verhältnisse abzielte. 216<br />
Savigny, und ihm folgend Puchta, 217 machten den Juristen zum Träger des<br />
Volkswillens, der mit vorwiegend juristischen, d. h. technischen Methoden<br />
das Recht feststellte. 218 Um die Unparteilichkeit zu wahren, musste das Politische<br />
ausgeblendet werden. 219 Gleichzeitig war durch den in der systematischen<br />
Interpretation verankerten Kohärenzgedanken der autoritäre<br />
Ge setzgeber in seiner Willensbildung insofern beschränkt, als er sich nur<br />
innerhalb des vom Juristenstand gemachten Systems entfalten konnte. 220 Gesetzbücher,<br />
die unabhängig vom gelebten Recht geschrieben wurden, waren<br />
für Savigny Ausdruck autoritärer Macht und nicht des Volkswillens. 221 In<br />
einer solchen Tradition hätten auch rechtsökonomische Erkenntnisse, die zu<br />
einschneidenden Änderungen des Rechts geführt hätten, ausgeblendet werden<br />
müssen. Das zeigt sich auch daran, dass das Recht nach Savigny zwar<br />
keinen Selbstzweck hatte, 222 seine Methode aber den Glauben an einen solchen<br />
voraussetzte. Sie fi ngierte nämlich, dass das Recht nicht auf Basis seiner<br />
sozialen Funktion, sondern seiner geschichtlichen Entstehung legitimiert<br />
wurde. Eine Prüfung der sozialen Angemessenheit nach externen<br />
Kriterien war zwar für die Erarbeitung der juristischen Methode maßgeblich,<br />
für deren weitere Anwendung aber entbehrlich. 223 Wenngleich dieser An-<br />
214 Schröder 172 ff. erklärt das u. a. mit dem generellen Einfl uss der deutschen Philosophie<br />
auf die Einzelwissenschaften.<br />
215 Zur konservativen Grundeinstellung Savignys siehe Wieacker 383, 385.<br />
216 Siehe allgemein zur positiven Rechtswissenschaft als Mittel zur Aufrechterhaltung des<br />
Status quo z. B. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen<br />
Rechtsstaat (1977) 132 ff.<br />
217 Wieacker 399 f. Bei Puchta war das Monopol des Juristenstandes endgültig gefestigt;<br />
Grimm 478.<br />
218 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814;<br />
Neudruck der 3. Aufl age 1892) 7 f.; vgl. auch Wieacker 392; Dawson 456 f.<br />
219 Diese Entpolitisierung des Rechts wurde auch als Synthese der feudalen mit der kapitalistischen<br />
Gesellschaftsordnung interpretiert; siehe Schröder 221 f., 276.<br />
220 Grimm 475.<br />
221 Vgl. Savigny (oben N. 218) 10, 21.<br />
222 Darauf wies auch Savigny (oben N. 218) 18 hin.<br />
223 Grimm 476 f. Zur Ausblendung der Philosophie siehe Schröder 215 ff., 218 ff., passim.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
547<br />
satz vielfach kritisiert wurde, 224 verfestigte sich Savignys eigenständige juristische<br />
Methode im deutschen Rechtsdenken. 225<br />
Puchta 226 , Windscheid 227 , Gerber 228 und andere Vertreter der historischen<br />
Rechtsschule führten die interne Betrachtung des Rechts weiter und übertrugen<br />
den Ansatz auch auf das öffentliche Recht 229 . Auch ihre Methode war<br />
nicht zur Neugestaltung des Rechts, sondern als Mittel der Darstellung des<br />
geltenden Rechts konzipiert. 230 Gleichzeitig bewirkte die bereits bei Puchta<br />
anzutreffende zunehmende Betonung des Juristenrechts gegenüber dem<br />
Volksrecht die stärkere Betonung des Gedankens der Systematisierung und<br />
Kohärenz in der Methodenlehre. 231 Mit der »Genealogie der Begriffe« 232<br />
wurde das Recht zunehmend von der sozialen Wirklichkeit abgekoppelt. 233<br />
Sogar Vertreter der germanistischen Schule, der die Behebung der von der<br />
Industrialisierung aufgeworfenen sozialen Probleme ein wichtiges Anliegen<br />
war, befürworteten die Selbständigkeit des Rechts von der sozialen Realität.<br />
234 Dies mag zunächst als Widerspruch erscheinen, wird aber dann verständlich,<br />
wenn die geforderten externen Maßstäbe im Zuge der Gesetzgebung<br />
berücksichtigt werden und somit der unmittelbare Rückgriff auf sie<br />
im Rahmen der Auslegung entbehrlich wird. 235 Die naturrechtlich konzipierten<br />
Kodifi kationen des frühen 19. Jahrhunderts begünstigten daher den<br />
Rechtspositivismus, da sie gesetzliches Material schufen und das Naturrecht,<br />
224 Siehe etwa die Kritik von G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts<br />
(1821; Nachdruck Felix Meiner-Verlag 1995) § 211 (S. 182 f.); die Kritik von v. Kirchmann in<br />
seinem bekannten Vortrag von 1847; v. Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als<br />
Wissenschaft (1848) sowie die Kritik der Freirechtsschule, etwa Kantorowicz, Savigny and the<br />
Historical School of Law: L. Q. Rev. 53 (1937) 326–342. Vgl. ferner W. Kersting, Politik und<br />
Recht, Abhandlungen zur politischen Philosophie der Gegenwart und zur neuzeitlichen<br />
Rechtsphilosophie (2000) 342.<br />
225 So Müller-Erzbach, Wohin führt die Interessenjurisprudenz? (1932) 36. Zur Bedeutung<br />
Savignys siehe z. B. Wieacker 382 f.; siehe auch die Nachweise bei Kantorowicz (vorige Note)<br />
326. 226 Puchta, Lehrbuch der Pandekten (1838; 9. Aufl ., Leipzig 1863) S. 29 f. (§ 16).<br />
227 Windscheid, Die geschichtliche Schule in der Rechtswissenschaft, »Nord und Süd« IV<br />
(1878) 42–53, in: Bernhard Windscheid, Gesammelte Reden und Abhandlungen (oben N. 193)<br />
66 ff.; Eck, Gedächtnisrede, S. 17 zitiert bei Oertmann, Windscheid als Jurist: ebd. S. XXX.<br />
228 Gerber, System des deutschen Privatrechts (1848) (zitiert: System); ders., Gesammelte<br />
juristische Abhandlungen (1872).<br />
229 Dazu u. a. Gerber, Über öffentliche Rechte (1852). Andere Vertreter in diesem Zusammenhang<br />
waren Laband und Jellinek; siehe Somek, German Legal Philosophy and Theory in<br />
the Nineteenth and Twentieth Century, in: A Companion to Philosophy of Law and Legal<br />
Theory, hrsg. von Patterson (1999) 343–354 (347 f.).<br />
230 Grimm 479 mit Bezug auf Puchta.<br />
231 Grimm 478.<br />
232 Puchta (oben N. 195) 36 f.<br />
233 Das hatte bereits Savigny (oben N. 218) 18 vorhergesehen; vgl. auch Herget 110 f.<br />
234 Grimm 480 ff. mit Bezug auf Gerber.<br />
235 Gerber, System (oben N. 228) S. XI.
548 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
wie man meinte, selbst als Grundlage für die Gewinnung von Rechtssätzen<br />
nicht mehr gebraucht wurde. 236 Neue Rechtssätze wurden nur mehr innerhalb<br />
eines von der Wirklichkeit unabhängigen Systems entwickelt, womit<br />
man zu einem methodischen Formalismus zurückkehrte, den man einst<br />
dem Naturrecht vorgeworfen hatte. 237 Mit der zunehmenden Betonung des<br />
so defi nierten Konstruktivismus war schließlich eine Orientierung an externen<br />
Kriterien und damit auch eine ökonomische Gesetzgebungslehre nicht<br />
mehr denkbar. Die Rechtsökonomie lässt nämlich das Hinterfragen einer<br />
Rechtsnorm in Hinblick auf ihre Sinhaftigkeit sowie ihre Ersetzung durch<br />
eine andere zu, auch wenn dabei Kohärenz und Systematik verletzt werden.<br />
Hintergrund dieser Abkoppelung des Rechts von seinen Auswirkungen<br />
war eine antikonsequentionalistische Grundhaltung in der Philosophie, die<br />
vom deutschen Idealismus auf die juristische Methodik ausstrahlte. Wenngleich<br />
der deutsche Idealismus in einem Spannungsverhältnis zur historischen<br />
Rechtsschule stand, so wurden doch die handlungs- bzw. normexternen<br />
Auswirkungen in beiden Strömungen ausgeblendet. 238 Kant meinte<br />
bekanntlich, dass es Dinge gäbe, deren Wert nicht nach seinen Auswirkungen<br />
bestimmt werden könnte. 239 Sie hatten vielmehr einen Wert an sich,<br />
der nicht Gegenstand eines empirischen, sondern eines vor-empirischen<br />
Wissens sei. 240 Dieser vom deutschen Idealismus geprägte Zugang, der auch<br />
einfl ussreichen Schriften des 20. Jahrhunderts zugrunde lag, 241 stand im Gegensatz<br />
zum Konsequentionalismus der utilitaristischen Ethik und damit<br />
auch einer Rechtsökonomie. Er bildete sich bei Hegel bereits wieder zurück,<br />
doch nur so weit, als die Geschichte zur Erklärung der bestehenden<br />
Verhältnisse herangezogen werden sollte. 242 Die immer noch idealistische<br />
236 Grimm 472.<br />
237 Wieacker 372 ff., 401 f. weist auch auf die Ähnlichkeit der rechtspositivistischen zur<br />
naturrechtlichen Methodik hin.<br />
238 Zum Einfl uss der deutschen Philosophie auf Savigny ausführlich Schröder 215 ff., 224 f.,<br />
227; zur Bedeutung von Kants »Kritik der reinen Vernunft« für wissenschaftlichen Formalismus<br />
und Rechtspositivismus Wieacker 373 f.<br />
239 Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785): »Im Reiche der Zwecke hat alles<br />
entweder einen Preis, oder eine Würde. [. . .] Die Natur sowohl als Kunst enthalten nichts, was<br />
sie in Ermangelung derselben an ihre Stelle setzen könnten; denn ihr Werth besteht nicht in<br />
den Wirkungen, die daraus entspringen, im Vortheil und Nutzen, den sie schaffen, sondern in<br />
den Gesinnungen, d. i. den Maximen des Willens, die sich auf diese Art in Handlungen zu<br />
offenbaren bereit sind, obgleich auch der Erfolg sie nicht begünstigte.«<br />
240 Siehe z. B. Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik (1992) 43 f.<br />
241 Z. B. Hartmann, Ethik (1926); Stammler, Die Lehre vom richtigen Rechte (1902); Larenz,<br />
Richtiges Recht (1979). Kritisch zu Stammlers Verständnis von Kant z. B. Kersting (oben<br />
N. 224) 367; vgl. auch Nörr 33.<br />
242 Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie (1963) 161 bezeichnet Hegel sogar »als<br />
Anhänger der Historischen Rechtsschule«. Siehe allerdings die Kritik an Savigny (oben<br />
N. 224).
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
549<br />
Prägung des Historismus wurde erst vom dialektischen Materialismus eines<br />
Marx in einer Art und Weise in Frage gestellt, die, wenn auch nur indirekt,<br />
auf die rechtswissenschaftliche Diskussion einwirken konnte. Damit einher<br />
ging eine Betonung der Auswirkungen des Rechts auf die Lebensverhältnisse<br />
und eine generelle Entmystifi zierung des Rechts, die schließlich in die<br />
rechtsrealistische Freirechtsbewegung mündete. Auch von dieser Seite kam<br />
allerdings Kritik am Utilitarismus, da dieser die Menschen auf ein einziges<br />
Verhältnis der Brauchbarkeit reduziere. 243 Generell entwickelten bedeutende<br />
Kritiker des Rechtspositivimus wie Scheler und Hartmann eine naturrechtlich<br />
geprägte »materiale Wertethik« und wandten sich ausdrücklich gegen<br />
den Utilitarismus. 244 Auch bedeutende juristische Schriften bauten auf dem<br />
Idealismus auf und waren anti-utilitaristisch konzipiert. 245 Soweit Juristen,<br />
wie etwa Jhering, dem Utilitarismus positiv gegenüberstanden, wandten sie<br />
sich einer rechtssoziologischen, nicht rechtsökonomischen Sichtweise zu<br />
und betrachteten das Recht nur teilweise aus einem externen Blickwinkel.<br />
246 Insgesamt kann man von einer anti-utilitaristischen Grundeinstellung<br />
sprechen, die nicht nur vom deutschen Idealismus getragen war. 247 Sie ist<br />
einer der Gründe für die ablehnende Haltung gegenüber der Rechtsökonomie.<br />
3. Rechtsrealismus als fehlende Voraussetzung für die Rechtsökonomie?<br />
Die amerikanische legal-realism-Bewegung stellte eine entscheidende<br />
Grundlage für die Entwicklung und die erfolgreiche Aufnahme der ökonomischen<br />
Analyse des Rechts in das Rechtsdenken dar. Sie diskreditierte die<br />
herrschenden Dogmen der juristischen Methodik, die in das positive Recht<br />
übernommen wurden und sich in den Rechtsprinzipien widerspiegelten,<br />
und schuf Platz für Neues. Mit ihrer Kritik an der juristischen Methodik<br />
und rechtlichen Scheinbegründungen mussten gleichzeitig neue Entscheidungskriterien<br />
gefunden werden, die das Recht besser beschrieben als juristische<br />
Leerformeln und gleichzeitig den policymakers – einschließlich der<br />
243 Der Utilitarismus sei eine »Theorie der wechselseitigen Exploitation«, der die mannigfaltigen<br />
Verhältnisse der Menschen zueinander in das »Eine Verhältnis der Brauchbarkeit«<br />
aufl öse; Marx/Engels, Die deutsche Ideologie (1845–46; veröffentlicht 1932) 394 ff.<br />
244 Kritisch zum Utiltiarismus Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale<br />
Wertethik (1913–1916) 4 = Gesammelte Werke II (1954) 350; Hartmann, Ethik (1926) 79 f.<br />
Diese Ansätze wurden von Coing und anderen weiter getragen; z. B. Wieacker 591 f. Zu weiteren<br />
Vertretern der Wertphilosophie siehe Verdross (oben N. 242) 205 ff., der auf die anti-hedonistische<br />
Haltung hinweist.<br />
245 Siehe oben N. 241. Zum Einfl uss Kants siehe auch Kersting (oben N. 224) 334 ff.<br />
246 23 Jhering, Der Kampf ums Recht (1946) 20–46.<br />
247 Hügli/Han, Utilitarismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie XI (2001)<br />
506.
550 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
Richter – eine Anleitung für die Entscheidungsfi ndung boten. Im deutschsprachigen<br />
Raum gab es durchaus ähnliche Ansätze, die sich aber nicht<br />
durchsetzen konnten, was einen wesentlichen Grund für die untergeordnete<br />
Stellung der ökonomischen Analyse des Rechts im Rechtsdenken darstellt.<br />
Ein Faktor war der geringe Erfolg der Freirechtslehre. Zwar konnte sich die<br />
über weite Strecken des 19. Jahrhunderts dominierende Begriffsjurisprudenz<br />
248 auch im deutschsprachigen Raum auf Dauer nicht halten, die weitere<br />
Entwicklung verlief aber völlig anders als in den USA.<br />
Der Ablösung der Begriffsjurisprudenz ging die Betonung der sozialen<br />
Funktion des Rechts voraus. Marx, der späte Jhering und andere hatten das<br />
Recht als Mittel zur Steuerung gesellschaftlicher Verhältnisse erfasst und<br />
damit den Selbstzweck des Rechts verneint. 249 Die Freirechtsbewegung des<br />
deutschen Sprachraums hätte mit ihren dogmenkritischen Aussagen eine<br />
ausreichende Aufl ösung des traditionellen Rechtsdenkens bewirken können<br />
und hatte auch in der Tat Anteil an der Zurückdrängung der Begriffsjurisprudenz.<br />
250 Sie begann sich Ende des 19. Jahrhunderts als Kritik an der Lehre<br />
von der Lückenlosigkeit der Gesetze zu entwickeln 251 und erreichte noch<br />
vor Ende des Ersten Weltkrieges ihren Höhepunkt. 252 Auch seitens der sich<br />
parallel entwickelnden Rechtssoziologie, 253 zu der enge Verbindungen bestanden,<br />
254 wurde Kritik am herrschenden Rechtsverständnis geübt. Ähnlich<br />
der Kritik des amerikanischen Rechtsrealismus verstanden Vertreter der<br />
Freirechtsschule die richterliche Entscheidung als dezisionistischen Vorgang,<br />
dem im Wege der Dogmatik eine scheinlogische Begründung folgte. 255 Ju-<br />
248 Vgl. Larenz 19 ff.<br />
249 3 Ausdrücklich z. B. bei Jhering, Der Zweck im Recht I (1893) 250. Vgl. auch Winkler<br />
(oben N. 175) 276 f. Zu Marx siehe z. B. Wege (oben N. 216) 47 ff.<br />
250 Gegen sie richtete sich die Freirechtslehre primär (Kaufmann 121). Siehe z. B. Ehrlich,<br />
Über Lücken im Rechte: JBl. 1888, 447–630 (in fortgesetzten Teilen); ders., Freie Rechtsfi ndung<br />
und freie Rechtswissenschaft (1903); ders., Die richterliche Rechtsfi ndung auf Grund<br />
des Rechtssatzes: JherJb. 1917, 1–80 (alle drei Beiträge sind nachgedruckt in: Recht und Leben,<br />
Eugen Ehrlich, Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre,<br />
ausgewählt und hrsg. von Rehbinder [1967]). Vgl. auch Herget/Wallace (oben N. 63)<br />
399.<br />
251 Z. B. Ehrlich, Über Lücken im Rechte (vorige Note) 447–630. Siehe auch Bülow, Gesetz<br />
und Richteramt (1885). Zur freirechtlichen Kritik an der Lückenlosigkeit der Gesetze<br />
siehe auch Dawson 442 f.; Lombardi, Geschichte des Freirechts (1967) 54 ff.<br />
252 Nach Kriele sind die Hauptwerke der Freirechtsschule zwischen 1906 und 1915 entstanden:<br />
Kriele, Grundprobleme der Rechtsphilosophie (2004) 43 (siehe die Aufzählung in<br />
N. 4).<br />
253 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1921/22; 5. Aufl age 1976); Ehrlich, Grundlegung<br />
der Soziologie des Rechts (1913). Ausführlich zur Rechtssoziologie Raiser (oben N. 34)<br />
passim.<br />
254 Oft werden die beiden Strömungen als eine einzige Entwicklung dargestellt siehe z. B.<br />
Raiser (oben N. 34) 54, 104, 107.<br />
255 So z. B. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929) 61 f.; siehe auch Kriele (oben<br />
N. 252) 43.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
551<br />
ristische Analogien, extensive Interpretation und Ähnliches galten als pseudologische<br />
Argumente. 256 Maßgeblich für die Entscheidung war das Rechtsgefühl,<br />
das als Vorverständnis des Richters im Sinne der modernen Hermeneutik<br />
den Hauptfaktor darstellte. 257 Wie auch der Rechtsrealismus forderten<br />
die Vertreter der Freirechtsschule, dass Juristen sich auch mit anderen Disziplinen<br />
beschäftigen sollten. 258<br />
Die als Dogmenkritik zu verstehende Freirechtsschule 259 knüpfte häufi g<br />
an genuin national geführte Diskussionen an. In ihren deskriptiven Elementen<br />
ist sie aber jedenfalls mit dem amerikanischen Rechtsrealismus vergleichbar.<br />
Freirechtliches Denken war vor dem Zweiten Weltkrieg nicht nur<br />
in der Lehre, sondern auch in der Praxis durchaus verbreitet und wurde von<br />
Reichsgerichtsräten, Oberlandesgerichtsräten sowie einem Präsidenten des<br />
österreichischen Reichsgerichts geteilt. 260 Mitunter sah sich die richterliche<br />
Entscheidung dem Gesetz gleichgeordnet. 261 Auf die heutige Rechtswissenschaft<br />
haben die Kernaussagen der Freirechtsschule dagegen nur beschränkte<br />
Auswirkungen, wofür teilweise Missverständnisse ausschlaggebend waren.<br />
262 Teilweise hing die fehlende Anerkennung der Freirechtslehre damit<br />
zusammen, dass wichtige Vertreter, wie etwa Kantorowicz, berufl ich lange<br />
nicht Fuß fassen konnten. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten<br />
wurden sie abgesetzt, womit die Bewegung rasch endete. 263 Dies war nicht<br />
256 Siehe Muscheler, Einführung, in: Kantorowicz (oben N. 183) S. I-XXIII (XVII) über<br />
Kantorowicz. Kantorowicz (oben N. 183) 35 selbst sprach bildlich von »unehrlichen Schleichwegen«;<br />
siehe auch Herget 111; Somek (oben N. 229) 348.<br />
257 Vgl. Kaufmann 122.<br />
258 So z. B. Kantorowicz (oben N. 183) 38; Fuchs (oben N. 201) 7, von dem das Zitat des<br />
»Nur-Juristen« stammt; Wurzel, Das Juristische Denken (1904; Nachdruck 1991) 5 f., 70 ff.;<br />
ders., Die Sozialdynamik des Rechts (1924; Nachdruck 1991) 182 ff. Müller-Erzbach (oben<br />
N. 225) 107 meinte z. B., das deutsche Aktienrecht habe »den Grundsatz der rechtlichen Ökonomie<br />
verfehlt« und weist auf die rationale Apathie der Aktionäre in Gesellschaften mit breit<br />
gestreutem Aktienbesitz hin.<br />
259 Fuchs, Freirechtsschule und Wortstreitgeist: Monatsschrift für Handelsrecht und Bankwesen<br />
1918, 17 (nachgedruckt in: Gesammelte Schriften [oben N. 201] 359); ähnlich Kantorowicz<br />
(oben N. 183) Vorwort und Einleitung. Vgl. Kaufmann 121.<br />
260 Nachweise samt Zitate der einzelnen Juristen bei Isay (oben N. 255) 62 ff. Ebenso Nörr<br />
30 mit Nachweisen aus der Judikatur.<br />
261 Dazu und zum Einfl uss der Freirechtsbewegung auf die Rechtsprechung Nörr 30 ff. Vor<br />
allem in den 1920er Jahren kam es zu einer vermehrten Zitierung von Präzedenzfällen durch<br />
Gerichte; vgl. Dawson 432 ff., 463, der von einer »Case-Law Revolution« spricht.<br />
262 Rehbinder, Einleitung, in: Eugen Ehrlich, Recht und Leben (1967) 7–9; Muscheler (oben<br />
N. 256) S. XIII f.; Bydlinski 152.<br />
263 Die »Beurlaubung« von Kantorowicz erfolgte am 13. 4. 1933; siehe Eckert, Was war die<br />
Kieler Schule?, in: Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, hrsg. von Säcker (1992) 44;<br />
Muscheler (oben N. 256) S. XXII; Foulkes, Vorwort, in: Fuchs, Gesammelte Schriften (oben<br />
N. 201) 9. Anders anscheinend Behrends, Von der Freirechtsbewegung zum Ordnungs- und<br />
Gestaltungsdenken, in: Recht und Justiz im »Dritten Reich«, hrsg. von Dreier/Sellert (1989)<br />
34 ff., wonach die Freirechtsbewegung in die NS-Rechtstheorie gemündet habe.
552 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
zuletzt durch die jüdische Herkunft einiger Freirechtlicher bedingt, 264 die<br />
ihre Lehren in den dreißiger Jahren zum Gegenstand persönlicher Attacken<br />
werden ließ. 265<br />
An der Zurückdrängung der Begriffsjurisprudenz hatte die Freirechtsschule<br />
einen nicht unbedeutenden Anteil, doch konnte die sich von dieser<br />
zunehmend distanzierende Interessenjurisprudenz schließlich das Erbe der<br />
Begriffsjurisprudenz antreten. 266 Manche Freirechtler schwächten ihre Auffassungen<br />
im Zuge ihrer Laufbahn überdies ab, wodurch die Bewegung sich<br />
teilweise wieder an die Interessenjurisprudenz annäherte. 267 Die Tatsache,<br />
dass die juristische Methodenlehre vor und nach dem Nationalsozialismus<br />
eine bestechende Kontinuität aufwies, 268 bedeutete nicht, dass der Nationalsozialismus<br />
keine Auswirkungen hatte. Vielmehr verhinderte er eine Wende,<br />
wie sie sich in den USA vollzog. 269<br />
Einzelne Vertreter freirechtlichen Gedankenguts wie Radbruch, 270 Esser<br />
271 oder Fikentscher 272 erlangten zwar im theoretischen Diskurs der Nach-<br />
264 Siehe Lombardi (oben N. 251) 41 zur Abstammung verschiedener Freirechtler; siehe<br />
auch Nörr 31.<br />
265 Siehe z. B. Heck, Die Interessenjurisprudenz und ihre neuen Gegner: AcP 22 (1936)<br />
129–202 (151) (zitiert: Interessenjurisprudenz), der auf die »nichtarische« Abstammung verschiedener<br />
Vertreter der freirechtlichen und der soziologischen Schule hinweist. Zu Heck und<br />
Thieme siehe auch Foulkes, Vorwort (oben N. 263) 9.<br />
266 Herget 111 und unten N. 278. Siehe vor allem die Kritik von Heck an der Freirechtsschule:<br />
Heck, Begriffsbildung 104 ff.; ders., Rechtsgewinnung 23 ff.; ders., Interessenjurisprudenz<br />
(vorige Note) 129 ff.<br />
267 So z. B. Heck, Begriffsbildung 105 f. zu Eugen Ehrlich, und Heck, Rechtsgewinnung<br />
25 f. zu Kantorowicz, wobei er gleichzeitig dazu aufruft, den Begriff »Freirechtsmethode«<br />
fallenzulassen. Vgl. auch Muscheler (oben N. 256) S. XVII, bzw. ders., Ein Klassiker der Jurisprudenz:<br />
»Der Kampf um die Rechtswissenschaft« von Hermann Kantorowicz: NJW 2006,<br />
567. Vgl. auch die gemeinsame Darstellung von Interessenjurisprudenz und Freirechtsschule<br />
bei Lombardi (oben N. 251).<br />
268 Maus, Juristische Methodik und Justizfunktion im Nationalsozialismus, in: Recht,<br />
Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, hrsg. von Rottleuthner (1983) 167 ff. (193) (ARSP-<br />
Beiheft, 18); Maus, »Gesetzesbindung« der Justiz und Struktur der Nationalisozialistischen<br />
Rechtsnormen, in: Recht und Justiz im »Dritten Reich«, hrsg. von Dreier/Sellert (1989) 81 ff.<br />
269 Zur Diskussion, ob der Nationalsozialismus selbst positivistisch oder naturrechtlich<br />
geprägt war, vgl. etwa Kaufmann, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, in: Recht,<br />
Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus (vorige Note) 1 ff. (zitiert: Kaufmann, Rechtsphilosophie).<br />
270 9 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (1952) 161: »[. . .] das Auslegungsmittel<br />
wird erst gewählt, nachdem das Ergebnis schon feststeht, die sogenannten Auslegungsmittel<br />
dienen in Wahrheit nur dazu, nachträglich aus dem Text zu begründen, was in schöpferischer<br />
Ergänzung des Textes bereits gefunden war [. . .].«<br />
271 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfi ndung (1972) 7 f.: »Die Praxis<br />
[. . .] geht nicht von doktrinären ›Methoden‹ der Rechtsfi ndung aus, sondern benutzt sie nur,<br />
um die nach ihrem Rechts- und Sachverständnis angemessene Entscheidung lege artis zu begründen«;<br />
ferner a.a.O. 14 f., 23 f., 41 f.<br />
272 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung I-V (1975–1977), vor<br />
allem Band IV: Dogmatischer Teil (1977).
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
553<br />
kriegszeit große Anerkennung, 273 konnten aber die alltägliche Rechtspraxis<br />
nicht nachhaltig beeinfl ussen. 274 Außerdem sollten die Erkenntnisse der<br />
Hermeneutik in der Nachkriegszeit bereits wieder dazu dienen, die dogmatische<br />
Methodik weiter zu entwickeln und nicht dazu, diese durch einen<br />
anderen Ansatz zu ersetzen. 275 Insgesamt verwundert es nicht, dass die Freirechtsschule<br />
in anerkannten Darstellungen der Privatrechtsgeschichte bzw.<br />
historischen Diskursen der Rechtsphilosophie 276 und der Methodenlehre 277<br />
nicht oder nur kurz dargestellt ist.<br />
Mit dem Sieg der Interessenjurisprudenz waren interdisziplinäre Ausfl üge<br />
in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft beendet. Philipp Heck, einer<br />
ihrer bedeutendsten Vertreter, stellte wieder auf eine interne Betrachtung<br />
des Rechts ab. 278 Der fehlende nachhaltige Erfolg der Freirechtsbewegung<br />
kann im Ergebnis als einer der Gründe für die Aversion gegen rechtsökonomisches<br />
Denken vorgebracht werden. 279 Wäre die damalige Dogmatik als<br />
Entscheidungsfi ndungsprozess des Richters bzw. Interpreten diskreditiert<br />
worden, hätte sich die Frage nach (externen) normativen Theorien gestellt,<br />
wodurch auch Raum für die Rechtsökonomie entstanden wäre. Die Abkehr<br />
von externen Elementen wurde von der Interessen- und Wertungsjurisprudenz<br />
weitergetragen und spiegelte sich schließlich in der Ausblendung der<br />
Gesetzgebungslehre aus den Methoden der Rechtswissenschaft wider.<br />
4. Reproduktionsdenken in Interessen- und Wertungsjurisprudenz<br />
Die Interessenjurisprudenz und die daraus hervorgegangene Wertungsjurisprudenz<br />
stellen die rechtstheoretische Grundlage der heute herrschenden<br />
273 Z. B. Larenz, Richtiges Recht (oben N. 241) 24. Siehe auch die Darstellung bei Pawlowski<br />
757 ff. mit Bezug zu Esser, Harenburg und anderen. Siehe auch Raiser (oben N. 34) 107, der<br />
darauf hinweist, dass die Lehren von Esser und Fikentscher auf Ehrlich aufbauen.<br />
274 Kaufmann 82 f.; siehe auch unten Abschnitt IV. 4.<br />
275 Siehe jedenfalls bei Esser (oben N. 271) 116 ff.<br />
276 Wieacker; Verdross (oben N. 242); Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik,<br />
in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart (oben<br />
N. 201) 1–25.<br />
277 Vgl. Bydlinski mit einzelnen sporadischen Bezugnahmen; Pawlowski Rz. 137 mit einem<br />
kurzen Hinweis auf Isay; Larenz 59–62.<br />
278 Heck, Begriffsbildung 27: »Auf solche rein juristische, und wie man sagen kann, ganz<br />
elementare Gründe stützt sich unsere Lehre.« [Hervorhebung im Original.] Siehe auch Herget<br />
111 (»The scholastic tradition persisted, but in a new form«); Somek, From Kennedy to Balkin,<br />
Introducing Critical Legal Studies from a Continental Perspective: U. Kan. L. Rev. 42<br />
(1993/94) 759–783 (763) (»[. . .] every attack on legal formality seems to have been silenced«);<br />
Somek (oben N. 229) 348.<br />
279 Mit einer ähnlichen Erklärung für die geringe Bedeutung von Critical Legal Studies im<br />
deutschen Sprachraum Somek, From Kennedy to Balkin (vorige Note) 763 f.
554 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
Interpretationsmethodik dar. 280 Beide Strömungen befassen sich auch mit<br />
der Rechtsfortbildung und untersuchen die Stellung der Gesetzgebungslehre<br />
bzw. Rechtspolitik auf Ebene der richterlichen Entscheidung. Externe<br />
rechtspolitische Erwägungen allgemein spielen bei der Begründung richterlicher<br />
Entscheidungen bzw. Auslegung nur eine untergeordnete Stellung.<br />
Während die Freirechtsschule sich von den Gesetzen löste, stellte die Interessenjurisprudenz<br />
die »Gesetzestreue« in der Methodenlehre wieder her.<br />
Ähnlich wie im 19. Jahrhundert versuchte man durch die Ausgrenzung externer<br />
Kriterien den Schein der Unparteilichkeit zu erzeugen bzw. zu wahren.<br />
Heck erklärte, dass sich die Interessenjurisprudenz gerade in der Gesetzestreue<br />
von der Freirechtslehre unterscheide und insofern der Begriffsjurisprudenz<br />
nahestehe. 281 Jedenfalls seien Klarheit und Eindeutigkeit bei der<br />
Lösung einer Rechtsfrage meist wichtiger als die Angemessenheit. 282 Richterliche<br />
Eigenwertungen sind in der Interessenjurisprudenz bestenfalls als<br />
Notlösung in streng untergeordneter Form zugelassen. 283 Auch im rechtsfreien<br />
Raum gelte, dass sich der Richter bei der Ergänzung fehlender Normen<br />
nicht an seinen Eigenwertungen (bzw. ökonomischen Effi zienzkriterien)<br />
orientieren, sondern an die Absichten des Gesetzgebers gebunden<br />
sei. 284 Die Rechtswissenschaft soll die Entscheidung des Richters vorbereiten,<br />
indem sie die Normen des Gesetzes ebenso systemintern ergänzt und<br />
ordnet. 285 Bestimmungen, die nicht aus dem System selbst entwickelt wurden,<br />
sondern etwa im Zuge einer ökonomischen Analyse als wünschenswert<br />
erschienen, konnten in das System nur schlecht integriert werden. Bei Heck<br />
beruht die Auslegung selbst auf rein juristischer Grundlage und ist von externen<br />
Wertungsentscheidungen unabhängig. 286 Nachbarwissenschaften<br />
wie die Geschichte, Philosophie, Soziologie und Nationalökonomie mussten<br />
in der rechtswissenschaftlichen Methode auch nach der Überwindung<br />
der Begriffsjurisprudenz außer Betracht bleiben 287 – eine Ansicht, die bis<br />
heute vorherrscht. 288<br />
Auch für eine (externe) Gesetzgebungslehre konnte die Interessenjurisprudenz<br />
als reine Auslegungsmethodik keine Basis bilden. 289 Soweit eine<br />
280 Larenz 120; Bydlinski 116 f., 123.<br />
281 Heck, Begriffsbildung 111, 118; ders., Interessenjurisprudenz (oben N. 265) 144. Siehe<br />
auch Binder, Bemerkungen zum Methodenstreite in der Privatrechtswissenschaft: ZHR 100<br />
(1934) 1–83 (82).<br />
282 Heck, Begriffsbildung 105; ders., Rechtsgewinnung 5.<br />
283 Vgl. Bydlinski 115 ff.<br />
284 Heck, Rechtsgewinnung 8.<br />
285 Heck, Begriffsbildung 126.<br />
286 Heck, Begriffsbildung 28 f.<br />
287 Heck, Begriffsbildung 21.<br />
288 Dazu Somek/Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken, <strong>Inhalt</strong> und Form des positiven<br />
Rechts (1996).<br />
289 Müller-Erzbach (oben N. 225) 3.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
555<br />
rechtspolitische Komponente vorhanden ist, verschwimmen wie schon bei<br />
Savigny normative und positive Elemente. 290 Die Interssenjurisprudenz verfolgte<br />
insgesamt einen internen, konstruktivistischen Ansatz und ließ wie<br />
zuvor die Begriffjurisprudenz im 19. Jahrhundert für ökonomische und andere<br />
interdisziplinäre Folgestudien des frühen 20. Jahrhunderts keinen<br />
Raum.<br />
Die Wertungsjurisprudenz griff die Gedanken der Interessenjurisprudenz<br />
auf und entwickelte sie weiter, wobei eine Unterscheidung zwischen den<br />
beiden Strömungen nicht immer leicht fällt. 291 Im Zentrum soll nicht mehr<br />
der Interessenkonfl ikt als alleiniger Kausalfaktor der Rechtsnorm stehen,<br />
sondern die in die Norm einfl ießenden Wertungen. 292 Diese sollen aber<br />
nicht aus übergesetzlichen Maßstäben, sondern aus den Gesetzen selbst gewonnen<br />
werden. 293 Der im demokratischen Prozess gewonnene Kompromiss<br />
komme demnach im Gesetz selbst zum Ausdruck. 294 Soweit auf übergesetzliche<br />
Entscheidungskriterien abgestellt wird, scheinen diese Wertungen<br />
letzten Endes, im Sinne eines Neopositivismus 295 , doch wieder aus<br />
den Gesetzen zu stammen. Reinhold Zippelius bezieht sich in diesem Zusammenhang<br />
auf das »in der Gemeinschaft herrschende Rechtsethos« sowie<br />
auf die »herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen«, 296 die vor allem aus den<br />
Grundrechtsartikeln der Verfassung und den übrigen Rechtsnormen zu gewinnen<br />
seien. Nach Pawlowski kann die Autorität des Richterspruchs nur<br />
auf rechtlicher bzw. gesetzlicher Basis erfolgen, nicht aber auf außerrechtlichen<br />
Erwägungen. 297 Larenz meint zu wertorientiertem Denken, »der Jurist<br />
hat dabei vor dem Moralphilosophen, der Ähnliches versucht, voraus,<br />
daß ihm die für ihn verbindlichen Wertungsmaßstäbe in der Rechtsordnung,<br />
in der Verfassung und den von ihr akzeptierten Rechtsgrundsätzen<br />
290 Heck beschreibt die »Normgewinnung« rekursiv: Einerseits enthalte ihre Aufgabe die<br />
»Fragen nach dem, was sein soll« (Heck, Begriffsbildung 127 f.), anderseits sei sie nichts anderes<br />
als ein Unterfall der Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung (Heck ebd. 69). Zur Norm-<br />
bzw. Rechtsgewinnung siehe ausführlich Heck, Rechtsgewinnung.<br />
291 So auch Bydlinski 123, 126, der schlussendlich doch zu einer Unterscheidung gelangt.<br />
292 Bydlinski 123 f. Freilich hatte schon Heck, Begriffsbildung 96 von »kausalen gesetzlichen<br />
Werturteilen« gesprochen. Siehe ferner die Darstellung bei Somek, Rechtssystem und<br />
Republik (1992) 193 ff.<br />
293 Zur Entlastungsfunktion und zu den Möglichkeiten interner Begründungen siehe z. B.<br />
Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (1996) 329 f.<br />
294 So anscheinend Bydlinski 135; vgl. auch Canaris (oben N. 196) 121 ff.; Pawlowski<br />
Rz. 953 ff. Allgemein dürfte die Meinung vorherrschen, dass dieser Zugang Ungerechtigkeiten<br />
tendenziell vermeide; z. B. Bydlinski 106 f.<br />
295 Kaufmann 82 f.<br />
296 Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte (1962) 131 ff.; ders., Das Wesen<br />
des Rechts (1965) 123 ff.; ders. (oben N. 7) 12 ff., 21.<br />
297 Pawlowski Rz. 95.
556 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
vorgegeben sind.« 298 Sogar bei einer Rechtsfortbildung contra legem bedarf es<br />
besonderer »im Sinnganzen der Rechtsordnung gelegener Gründe«. 299 Noch<br />
deutlicher betont Bydlinski, dass Wertungsmaßstäbe aus dem Gesetz zu gewinnen<br />
seien, würden doch sonst die Grenzen des Rechts verschwimmen. 300<br />
Ähnlich meint auch Habermas im Zusammenhang mit dem Gegensatzpaar<br />
Rechtssicherheit und Richtigkeit, dass es im Rechtsrealismus keine klare<br />
Unterscheidung zwischen Recht und Politik mehr gebe. Die Rechtsprechung<br />
müsse letzten Endes darauf verzichten, die Funktion des Rechts, d. h.<br />
Verhaltenserwartungen zu stabilisieren, zu erfüllen. 301 In jedem Fall werden<br />
zur Objektivierung der Entscheidungsfi ndung außerrechtliche, also auch<br />
rechtsökonomische Maßstäbe ausgeschlossen. Eine Reihe anderer Vertreter<br />
der Wertungsjurisprudenz versuchten, externe Kriterien für die Lösung von<br />
Rechtsfragen zu entwickeln, konnten sich damit aber im alltäglichen Diskurs<br />
nicht durchsetzen. In der Praxis werden rechtspolitische Argumente<br />
innerhalb des juristischen Diskurses häufi g in Form von Begriffen wie<br />
»sachgerecht« bzw. »angemessen« vorgebracht, die schon von bedeutenden<br />
Vertretern der Interessen- und Wertungsjurisprudenz verwendet wurden. 302<br />
In Hinblick auf die Bedeutung externer Maßstäbe – und damit der Rechtsökonomie<br />
– sind Interessen- und Wertungsjurisprudenz nahezu identisch<br />
und stehen auch der Begriffsjurisprudenz sehr nahe. Die gemeinsame Tradition<br />
ist ein weiterer Grund für die schwache Rezeption rechtsökonomischer<br />
Argumente im deutschsprachigen Diskurs.<br />
5. Das Ende der Gesetzgebung als rechtswissenschaftliche Disziplin<br />
Die interne Betrachtung des Rechts spiegelt sich, ähnlich wie in der Interessen-<br />
und Wertungsjurisprudenz, schließlich auch in der Reinen Rechtslehre<br />
wider, die das Rechtsdenken des 20. Jahrhunderts stark prägte. Während<br />
Savigny und seine Schüler noch die Rechtspolitik an das geltende<br />
Recht anknüpften, war bei Kelsen die Rechtspolitik überhaupt keine Frage<br />
298 Larenz 291 (Hervorhebung im Original); vgl. auch dens., Richtiges Recht (oben<br />
N. 241) 25.<br />
299 Larenz 428.<br />
300 Bydlinski 128.<br />
301 Habermas, Faktizität und Geltung (1992) 238 ff., 246 f.<br />
302 6 Z. B. Larenz, Methodenlehre , Studienausgabe (1994) 6: Richterliche Entscheidungen<br />
sind darauf zu prüfen, ob sie sich mit anderen Entscheidungen und anerkannten Rechtsgrundsätzen<br />
vereinbaren lassen, und ob sie »sachgerecht« sind. Heck, Rechtsgewinnung 8: Durch die<br />
Bindung an die Absichten des Gesetzgebers könne eine »angemessene Behandlung der Lückenfüllung«<br />
erreicht werden. Zur Kritik an einer dogmatischen Behandlung von Rechtsbegriffen<br />
siehe auch Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Neue Theorien des<br />
Rechts, hrsg. von Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (2006) 263 (277). Zum »nachpositivistischen«<br />
Rechtsdenken ausführlicher Somek/Forgó (oben N. 288).
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
557<br />
der Rechtswissenschaft mehr. Der politische Kontext war ein völlig anderer.<br />
303 Für den im Vergleich nur geringen Erfolg der Rechtsökonomie entscheidend<br />
war jedenfalls, dass in beiden Fällen das geltende Recht selbst in<br />
der Rechtswissenschaft sakrosankt war 304 .<br />
Während Savigny sich mit dem Verweis auf einen Sozial- oder Volksnormpositivismus<br />
von naturrechtlichen Überlegungen abwandte, stellte<br />
Kelsens Lehre auf das Gesetz ab. Anders als bei Savigny stand bei Kelsen der<br />
Unterschied zwischen Sein und Sollen wieder im Vordergrund. Beeinfl usst<br />
vom logischen Positivismus des Wiener Kreises 305 lehnte Kelsen Werturteile<br />
als nichtwissenschaftlich ab. 306 Werturteile seien an keinen höheren Werten<br />
messbar und damit weder verifi zierbar noch falsifi zierbar. Die (Rechts-)<br />
Wissenschaft könne daher Normen nur systematisch ordnen und aus ihnen<br />
ein widerspruchsfreies System formen, sie aber nicht hinterfragen. 307 Wie<br />
der Empirismus allgemein wandte sich auch der logische Positivismus gegen<br />
den Rationalismus und damit gegen vorgegebene, nicht überprüfbare Sätze.<br />
Damit war keine gänzliche Abkehr von politischen bzw. ethischen Standpunkten<br />
verbunden. Zentral war allerdings die Einsicht, dass normative<br />
Aussagen nicht rational begründet und damit nicht wissenschaftlich hinterfragt<br />
werden konnten, was in der Rechtspolitik zu einer dezisionistischen<br />
Vorgangsweise führen würde. 308<br />
Die Reinheit von Kelsens Lehre lag nun darin, die Rechtswissenschaft<br />
von all ihren fremden Elementen zu befreien 309 und damit in der politischen<br />
Indifferenz der Rechtserkenntnis, nicht unbedingt in der politischen Indifferenz<br />
von Kelsen selbst. 310 Kelsen hatte durchaus persönliche Gerechtigkeitsvorstellungen,<br />
verneinte aber, ganz im Sinne des ethischen Relativismus,<br />
allgemeine Aussagen darüber. 311 Er untersuchte zu diesem Zweck eine<br />
ganze Reihe von Gerechtigkeitstheorien bedeutender Philosophen, gelangte<br />
aber am Ende stets zu einer Beurteilung ihrer normativen Aussagen als unbestimmt.<br />
312 Da über Werturteile keine wissenschaftlich gültigen Aussagen<br />
getroffen werden können, müsse auch die geltende Rechtsordnung in stren-<br />
303 Grimm 491 f.<br />
304 Siehe Noll (oben N. 201) 9, allerdings ohne Bezugnahme auf die Rechtsökonomie.<br />
305 Kaufmann 124.<br />
306 Z. B. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus<br />
(1928) 64, 70 (zitiert: Grundlagen).<br />
307 Kelsen, Grundlagen (vorige Note) 71.<br />
308 Skirbekk/Gilje (oben N. 206) 834 f.<br />
309 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960; Nachdruck 2000) 1. Kelsen nennt in diesem Zusammenhang<br />
Psychologie, Soziologie, Ethik und politische Theorie; siehe auch Kelsen 52.<br />
310 Kelsen 51 f. Mit einer Kritik am Relativismus siehe Brunner, Gerechtigkeit, Eine Lehre<br />
von den Grundgesetzen der Gesellschaftsordnung (1943), gegen den Kelsen vehement ankämpft;<br />
siehe Kelsen 54 N. 21.<br />
311 Z. B. Kelsen 52.<br />
312 Kelsen 52 behandelt Platon, Aristoteles, Kant, Bentham und andere.
558 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
ger Gesetzestreue als solche hingenommen werden, ohne die Sinnhaftigkeit<br />
der Gesetze bei der Auslegung zu werten. 313 Eine Gesetzgebungslehre konnte<br />
nicht Gegenstand der Rechtswissenschaft sein. 314<br />
Für die Rechtswissenschaft war eine rein interne Betrachtung des Rechts<br />
in den maßgeblichen Perioden des 19. und 20. Jahrhunderts auch politisch<br />
willkommen. Jedenfalls unter den autokratischen Regimes des 19. Jahrhunderts<br />
konnte sich nur eine als unpolitisch deklarierte Theorie auf Dauer<br />
behaupten. Erst im späten 19. Jahrhundert – und wesentlich stärker im 20.<br />
Jahrhundert – konnten kritische Strömungen aufkommen. Umgekehrt sollte<br />
durch die strenge Gesetzesbindung im Rechtspositivismus wohl auch<br />
progressive Gesetzgebung vor einer richterlichen Verwässerung geschützt<br />
werden.<br />
Eine besondere Rolle spielt dabei natürlich der Nationalsozialismus. Dieser<br />
hatte, wie bereits erwähnt, den unmittelbaren Effekt, dass viele kritische<br />
Geister, insbesondere die ohnehin nur am Rande bedeutsamen Freirechtler,<br />
von ihren Lehrstühlen entfernt wurden. Nach dem Krieg wurde zunächst<br />
der Positivismus für die Mitwirkung der Justiz an nationalsozialistischen<br />
Gräueltaten verantwortlich gemacht. 315 Die »Naturrechtsrenaissance« der<br />
Nachkriegszeit unterstützte damit eine externe Betrachtung des Rechts, 316<br />
konnte sich aber nicht nachhaltig durchsetzen. Die Verantwortlichkeit des<br />
Rechtspositivismus wurde schließlich als Mythos enttarnt, 317 zumal die<br />
Richterschaft bereits in der Weimarer Zeit von einer streng formalen Gesetzesauslegung<br />
zugunsten eines »kreativeren« Ansatzes abgegangen waren.<br />
318 Diesen stellten sie in der Folge auch in den Dienst des Nationalsozialismus,<br />
was später drastisch als »unbegrenzte Auslegung« bezeichnet wurde.<br />
319<br />
313 Kelsen, Grundlagen (oben N. 306) 67.<br />
314 Vgl. auch Weinberger (oben N. 201) 175.<br />
315 Vgl. etwa z. B. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht: Süddeutsche<br />
Juristen-Zeitung 1946, 105–107; Beyer, Rechtsphilosophische Besinnung (1947); Coing,<br />
Die obersten Grundsätze des Rechts (1947); Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit<br />
(1951); Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts 2 (1947); Weinkauff, Die deutsche<br />
Justiz und der Nationalsozialismus, Ein Überblick, in: Die Deutsche Justiz und der Nationalsozialismus,<br />
hrsg. von Weinkauff/Wagner (1968) 17 (28); Aus amerikanischer Sicht Fuller, Positivism<br />
and Fidelity to Law, A Reply to Professor Hart: Harv. L. Rev. 71 (1958) 630 (657–<br />
661); Posner, Overcoming Law (oben N. 60) 146.<br />
316 Z. B. Kaufmann 81 ff.; Herget 1 ff.<br />
317 Siehe z. B. Kaufmann, Rechtsphilosophie (oben N. 269) 1–19; Curran, Fear of Formalism,<br />
Indications from the Fascist Period in France and Germany of Judicial Methodology’s<br />
Impact on Substantive Law: Cornell Int. L. J. 35 (2001/02) 101–187 (151 N. 235), die den<br />
maßgeblichen Zeitpunkt um 1970 ansetzt.<br />
318 Z. B. Wieacker 514 ff. mit zahlreichen Nachweisen; Dawson 473 passim insbesondere zu<br />
den Auswirkungen der Geldentwertung auf Verträge; Nörr 30 f.<br />
319 Grundlegend Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (1968); vgl. auch Dawson 476 ff. Vor<br />
der von Generalklauseln ausgehenden Gefahr hatte bereits Hedemann, Flucht in die General-
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
559<br />
Angesichts der starken akademischen Kontinuität zwischen Drittem<br />
Reich und Nachkriegszeit 320 mag es im Interesse vieler Rechtslehrer und<br />
Richter gelegen haben, das Recht aus einer internen, »technischen« Perspektive<br />
zu betrachten und die eigene Tätigkeit als möglichst unpolitisch<br />
und wertfrei darzustellen. 321 Kritische, interdisziplinäre Ansätze hätten dagegen<br />
die Rolle der Rechtsprechung und Lehre unter der nationalsozialistischen<br />
Herrschaft stärker ins Bewusstsein gerückt. Ein »konstruktivistischer«<br />
Ansatz in der Rechtswissenschaft erschien wohl gerade in einer um Wiederaufbau<br />
und Versöhnung bemühten Gesellschaft sinnvoll. Damit behinderte<br />
die in den folgenden Jahrzehnten weiter verfestigte rein interne Betrachtung<br />
des Rechts allerdings die Entwicklung anderer, etwa rechtsökonomischer<br />
Ansätze im juristischen Diskurs.<br />
V. Zusammenfassung<br />
Wir haben versucht, die Divergenz zwischen dem Rechtsdenken in den<br />
USA auf der einen und im deutschen Sprachraum auf der anderen Seite mit<br />
der Entwicklung der klassischen Rechtstheorie, der Dogmatikkritik des<br />
Rechtsrealismus und der Stellung des Utilitarismus zu erklären. Das in den<br />
Vereinigten Staaten und in Europa des 19. Jahrhunderts weit verbreitete<br />
klassische Rechtsdenken hat aufgrund seines System- und Kohärenzanspruchs<br />
externe Kriterien aus seiner Analyse ausgeschlossen. Dieser Zugang<br />
setzte vorerst voraus, dass die Übernahme gewachsenen Rechts besser als die<br />
Alternativen, insbesondere überzeugender als verschiedene naturrechtliche<br />
Ansätze war. Als <strong>dieses</strong> Material aufgearbeitet und in Gesetze gegossen wurde,<br />
konnte sich die juristische Arbeit immer mehr auf die Interpretation einer<br />
bereits wie auch immer erfolgten Willensbildung konzentrieren. Voraussetzung<br />
war, dass die Interpretation anhand rechtlicher Kriterien erfolgen<br />
konnte, es also möglich war, streng zwischen Dogmatik und Politik zu<br />
klauseln (1933) gewarnt. Mit Nachweisen auch zum österreichischen Recht in jüngerer Zeit<br />
Knoll, Um den Nationalsozialismus bemühte Rechtsauslegung: Österreichische Richterzeitung<br />
77 (1999) 2 ff.<br />
320 Vgl. nur Reimann, National Socialist Jurisprudence and Academic Continuity, A Comment<br />
on Professor Kaufmann’s Article: Cardozo L. Rev. 9 (1987/88) 1651–1662; Rüthers,<br />
Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz: JZ 2006, 53–60 (55), der berichtet, dass in den<br />
50er Jahren 80% der Professoren auch zur Zeit des Nationalsozialismus tätig gewesen waren.<br />
Die nationalsozialistische Machtübernahme hatte dagegen dazu geführt, dass in etwa 40% der<br />
Lehrstuhlinhaber ihre Stellung verloren hatten. Dazu Rüthers, Recht als Waffe des Unrechts,<br />
Juristische Instrumente im Dienst des NS-Rassenwahns: NJW 1988, 2825–2836 (2826);<br />
Kohl/Stolleis, Im Bauch des Leviathan: NJW 1988, 2849–2856 (2849 f.). Ähnlich für Österreich<br />
Reiter, Juristenausbildung an der Wiener Universität, 4. 12. 2007,
560 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />
unterscheiden. Dieser Ansatz wurde in den Vereinigten Staaten vom Rechtsrealismus<br />
nachhaltig kritisiert. Insbesondere setzte sich die Ansicht durch,<br />
dass richterliche Entscheidungen nicht allein auf Grundlage des vorgegebenen<br />
Materials an Gesetzen und Präzedenzfällen erfolgen können. Vielmehr<br />
begann die Meinung vorzuherrschen, dass bei der Interpretation stets<br />
persönliche Vorstellungen einfl ießen, was zu einem Bedarf an normativen<br />
Theorien führte. Diese Lücke, in die insbesondere auch die Rechtsökonomie<br />
stoßen konnte, sah man in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft<br />
nicht, da die dem amerikanischen Rechtsrealismus entsprechende Bewegung,<br />
die Freirechtslehre, keinen vergleichbaren Erfolg hatte. Die Rechtswissenschaft<br />
diskreditierte die interne Betrachtung des Rechts nicht, sondern<br />
versuchte sie vielmehr weiterzuentwickeln. Für externe Maßstäbe bestand<br />
in diesem Rechtsverständnis somit wenig Raum. Nachdem sich die<br />
Rechtspolitik vorerst am geltenden Recht zu orientieren hatte, wurde sie<br />
schließlich überhaupt aus dem Gegenstand der Rechtswissenschaft ausgeblendet.<br />
Soweit externe Maßstäbe in die Auslegung einfl ossen, waren die Ansätze<br />
von einer utilitarismusfeindlichen Ethik geprägt. Diese Grundeinstellung ist<br />
für die Rechtsökonomie nachteilig, da diese wie der Utilitarismus die Gesamtnutzenmaximierung<br />
als erstrebenswert ansieht, Nutzen (soweit möglich)<br />
in eine Einheit umzurechnen versucht und Handlungen nach ihren<br />
Auswirkungen bewertet. All dies stieß in den Vereinigten Staaten auf weit<br />
weniger Widerstand als im deutschsprachigen Raum. Die Entstehung und<br />
Durchsetzung der Rechtsökonomie als rechtswissenschaftlicher Ansatz<br />
setzte somit eine Mehrzahl von Elementen voraus, die in den USA, nicht<br />
aber im deutschsprachigen Raum gegeben waren. Auch gegenüber der verbreiteten<br />
These einer kurz- oder mittelfristigen Konvergenz 322 des Rechtsdiskurses<br />
ist daher einstweilen noch Skepsis geboten.<br />
Summary<br />
The Divergent Evolution of Legal Thought –<br />
Law and Economics in the USA and German Legal Theory<br />
Law and Economics has become an integral part of U. S. scholarship,<br />
while its role remains comparatively limited in the German-speaking legal<br />
debate. We propose a two-pronged explanation for this divergence of legal<br />
thought which rests on the rise and fall of legal realism and the rejection of<br />
utilitarian ethics.<br />
322 Siehe insbesondere die Nachweise in N. 5. Vgl. auch Kennedy (oben N. 42) 674 ff., der<br />
schlechthin eine Globalisierung des juristischen Diskurses der Gegenwart feststellt.
72 (2008)<br />
divergente evolution des rechtsdenkens<br />
561<br />
Until the late 19th century, the interpretative methodology of the respective<br />
legal systems showed remarkable parallels. Both the Langdellian approach<br />
as well as German conceptual jurisprudence focused on an internal<br />
perspective of the law and excluded external elements from »legal science«.<br />
This approach was attacked by both the Free law school and its American<br />
counterpart, legal realism, during the early decades of the Twentieth Century.<br />
Scholars essentially argued that the law was indeterminate to some<br />
extent and that the use of traditional legal methods disguised the true reasons<br />
for a particular interpretation of the law, e.g. in the form of a judicial<br />
decision. Both schools emphasized that decisions were inevitably based on<br />
policy considerations at least to some extent. Legal realism transformed<br />
American legal thought into a discourse focusing on policy and the consequences<br />
of the law in which extra-legal considerations, including economic<br />
analysis, take a predominant position. By contrast, German legal theory focused<br />
on the development of interpretative methods and emphasized the<br />
internal coherence of the legal system. Policy remained largely excluded<br />
from scholarly analysis.<br />
Differences in the philosophical roots can explain why law and economics<br />
prevailed over other theories that intended to fi ll the void torn open by<br />
legal realism and why it today takes such a prominent position in U. S. legal<br />
academia. The widespread acceptance of utilitarianism in American academic<br />
circles provided a fertile groundwork for welfarist, consequentialist<br />
approaches such as law and economics. Insofar as external criteria are accepted<br />
in the German legal discourse, they are mostly non-utilitarian. We<br />
argue that both legal realism and utilitarianism were necessary for the development<br />
of a legal discipline strongly characterized by law and economics<br />
scholarship, as we see it in the U. S. today.
Die privatautonome Abbedingung<br />
der vorvertraglichen Abreden<br />
– Integrationsklauseln im internationalen Wirtschaftsverkehr –<br />
Von Olaf Meyer, Bremen *<br />
<strong>Inhalt</strong>sübersicht<br />
I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563<br />
II. Integrationsklauseln im US-amerikanischen Recht . . . . . . . . . . . 565<br />
1. Amerikanische Vertragskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566<br />
2. Die Parol Evidence Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567<br />
3. Funktion und Wirkung von Integrationsklauseln . . . . . . . . . . 570<br />
a) Ausfl uss der Parol Evidence Rule . . . . . . . . . . . . . . . 570<br />
b) Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571<br />
c) Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572<br />
d) Auslegung des Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575<br />
e) Feste Grenzziehung oder bloße Vermutungswirkung . . . . . . . 575<br />
III. Integrationsklauseln im englischen Recht. . . . . . . . . . . . . . . . 577<br />
1. And now for something completely different . . . . . . . . . . . . . 577<br />
2. Auswirkungen auf die Behandlung von Integrationsklauseln . . . . . 578<br />
a) Entfallende Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578<br />
b) Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579<br />
c) Widerleglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580<br />
d) Implied terms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581<br />
e) Haftung für misrepresentation . . . . . . . . . . . . . . . . . 582<br />
* 4<br />
Abgekürzt werden zitiert: John D. Calamari/Joseph M. Perillo, The Law of Contracts<br />
(1998); CISG-Advisory Council, Opinion No. 3: Parol Evidence Rule, Plain Meaning Rule,<br />
Contractual Merger Clause and the CISG: IHR 2005, 81 ff. (zitiert: CISG-AC Opinion No.<br />
3); E. Alan Farnsworth, The Interpretation of International Contracts and the Use of Preambles:<br />
Rev. dr. affaires int. 2002, 271 ff.; Marcel Fontaine/Filip de Ly, Droit des contrats internationaux2<br />
(2003); James L. Hartsfi eld jr., The »Merger Clause« and the Parol Evidence Rule:<br />
Texas L. Rev. 27 (1949) 361 ff.; Ewoud Hondius, De ›entire agreement‹ clausule: Amerikaanse<br />
contractsbedingen in het Nederlandse recht, in: Rechts als norm en als aspiratie; hrsg. von ten<br />
Berge/van Hoot/Jaspers/Swart (1986) 24 ff.; Sebastian Kaufmann, Parol Evidence Rule und Merger<br />
Clauses im internationalen Einheitsrecht (2004); Eid Rawach, La portée des clauses tendant<br />
à exclure le rôle des documents précontractuels dans l’interprétation du contrat: Dalloz 2001,<br />
223 ff.<br />
RabelsZ Bd. 72 (2008) S. 562–600<br />
© 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0033-7250
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
563<br />
3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583<br />
IV. Der Ansatz im Civil Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584<br />
1. Allgemeine Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584<br />
2. Einordnung im materiellen Recht oder im Prozessrecht . . . . . . . . 586<br />
3. Widerleglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587<br />
4. Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589<br />
5. Auslegung des Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591<br />
V. Integrationsklauseln im Internationalen Vertragsrecht . . . . . . . . . . 592<br />
1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592<br />
2. Auslegung des Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594<br />
3. Widerleglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596<br />
VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599<br />
Summary: Private Autonomy and the Exclusion of Pre-Contractual Negotiations –<br />
Integration Clauses in International Commerce . . . . . . . . . . . . . . . 600<br />
I. Einleitung<br />
Verträge haben regelmäßig eine Vorgeschichte. Der Unterzeichnung<br />
eines komplexen Vertragswerkes gehen oft mehrere Verhandlungsrunden<br />
voraus, in denen sich die Parteien Stück für Stück dem endgültigen Konsens<br />
annähern. 1 Auf dem Weg dahin werden mündliche Versprechen und Zusagen<br />
abgegeben sowie eine Vielzahl von Dokumenten ausgetauscht, anhand<br />
derer sich später der Verhandlungsablauf mehr oder weniger vollständig rekonstruieren<br />
lässt. Zu denken ist beispielsweise an die Leistungsbeschreibungen<br />
des Anbieters in Katalogen oder auf seinen Internetseiten, die vorvertragliche<br />
Korrespondenz zwischen den Parteien, eventuelle Vorfeldvereinbarungen<br />
2 sowie schließlich die Vorentwürfe zum Vertragstext. Welche<br />
Wirkung diesen Redaktionsarbeiten nach Vertragsschluss noch zukommt,<br />
lässt sich vorab nur schwer einschätzen. Das Konfl iktpotenzial liegt darin<br />
begründet, dass die eine Partei die im schriftlichen Vertrag niedergelegten<br />
Abreden für abschließend hält, während die andere Seite zusätzliche Punkte<br />
geltend macht, die zwar Gegenstand der Verhandlungen waren, in der Vertragsurkunde<br />
dann aber keinen Niederschlag gefunden haben. Es stellt sich<br />
1 Solche Verträge entsprechen nur noch bedingt dem überkommenen Schema von Angebot<br />
und Annahme. Man hat stattdessen von »sich verdichtenden Rechtsverhältnissen« gesprochen,<br />
vgl. Uwe Blaurock, Der Letter of Intent: ZHR 147 (1983) 334 (337). Die UNIDROIT<br />
Principles tragen dem Rechnung, indem sie in Art. 2.1.1 die Identifi zierbarkeit von Angebot<br />
und Annahme nicht mehr zwingend für einen wirksamen Vertragsschluss voraussetzen.<br />
2 Inzwischen sind Begriffe wie letter of intent, memorandum of understanding oder confi dentiality<br />
agreement auch in der deutschen Vertragspraxis bekannt. Einen Überblick über die gebräuchlichsten<br />
Vorfeldvereinbarungen gibt Kai Bischoff, Vorvertragliche Verhandlungsinstrumente<br />
und ihre Wirkungen im deutschen und US-amerikanischen Recht: ZvglRWiss. 103<br />
(2004) 190 ff.
564 olaf meyer RabelsZ<br />
daher die Frage, ob die Parteien mithilfe von Abwehrklauseln im Vertrag<br />
den Verhandlungen ihre rechtliche Bedeutung absprechen und so spätere<br />
Streitigkeiten über den genauen <strong>Inhalt</strong> ihrer Vereinbarung vermeiden können.<br />
Für den Ausschluss von vor und bei Vertragsschluss getroffenen Abreden<br />
haben sich in der Kautelarpraxis die so genannten Integrationsklauseln herausgebildet.<br />
3 Ihr amerikanischer Name »merger clauses« umschreibt ihre<br />
Funktion bildhaft: Sie »verschmelzen« alle vorangegangenen Erklärungen<br />
zu der einzig verbindlichen Vertragsurkunde. Damit bilden sie das zeitliche<br />
Gegenstück zu den Schriftformklauseln (»no-oral-modifi cation clauses«<br />
oder NOM-Klauseln), welche die Vertragsurkunde gegen die Behauptung<br />
nachvertraglicher mündlicher Nebenabreden abschirmen sollen. 4 Während<br />
Integrationsklauseln in Deutschland wenig verbreitet sind und bislang kaum<br />
wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, 5 gehören sie in<br />
den Vereinigten Staaten zu den »boilerplate«-Klauseln, 6 jenen Standardklauseln,<br />
die fest in der Kautelarpraxis verankert sind und die sich am Ende<br />
nahezu jeden Vertrages wiederfi nden. Auch in der internationalen Vertragsgestaltung,<br />
die ohnehin von amerikanischen Mustern beeinfl usst ist, haben<br />
sie ihren festen Platz und werden sogar schon in die Nähe internationaler<br />
Handelsbräuche gerückt. 7<br />
Ausgangspunkt der Auslegung einer Integrationsklausel muss natürlich<br />
die im Einzelfall gewählte Formulierung sein; hier lassen sich etliche Variationen<br />
beobachten. Die Vertragsparteien können sehr konkret und detailliert<br />
regeln, welche Absprachen außerhalb der Vertragsurkunde noch weiterhin<br />
Bedeutung behalten sollen und welche als ausgeschlossen anzusehen<br />
sind. Insgesamt aber dominieren Standardformulierungen ohne spezifi schen<br />
Bezug zum Vertrag, wie etwa:<br />
»This contract, including all the schedules attached hereto which represent<br />
an integral part hereof and have been signed by the parties, constitutes<br />
the entire agreement between the parties.« 8<br />
3 Zumeist wird die Klausel nach der angloamerikanischen Terminologie als merger clause<br />
oder entire agreement clause bezeichnet. Daneben fi nden sich Bezeichnungen als integration clause,<br />
four corner clause, Vollständigkeitsklausel, clause d’accord complet, clausula de restricción probatoria<br />
oder vierhoekenbeding.<br />
4 Fontaine/de Ly 180 ff.; Robert A. Hillmann, Article 29(2) of the United Nations Convention<br />
on Contracts for the International Sale of Goods, A New Effort at Clarifying the Legal<br />
Effect of »No Oral Modifi cation« Clauses: Cornell Int. L. J. 21 (1988) 449 ff. Die Wirksamkeit<br />
von Schriftformklauseln wird international allerdings unterschiedlich gehandhabt, vgl. die<br />
rechtsvergleichenden Anmerkungen zu Art. 2:106 PECL.<br />
5 Vgl. nun aber Kaufmann 197 ff.<br />
6 Der Ausdruck ist abgeleitet von gewalzten Kesselstahlblechen (boilerplate steel), die sich<br />
ebenso wie diese Klauseln selbst durch täglichen Gebrauch nicht abnutzen.<br />
7 Antonio Crivellaro, La rilevanza dei preamboli nell’interpretazione dei contratti internazionali:<br />
Diritto del commercio internazionale 15 (2001) 777 (783).<br />
8 Beispiel nach Fontaine/de Ly 147.
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
565<br />
Diese auf den ersten Blick unverdächtig erscheinende Formulierung birgt<br />
in sich eine überraschende Fülle von Problemen, sowohl was ihre Reichweite<br />
als auch was ihre Wirkungsweise angeht. Dies liegt darin begründet, dass<br />
die Klausel fundamentale Prinzipien der Vertragsauslegung betrifft, wobei<br />
sie mit den Auslegungsleitlinien des Vertragsstatuts interagiert und nur mit<br />
diesen zusammen verstanden werden kann. Dabei wird die Frage, inwieweit<br />
die Vertragsinterpretation überhaupt der Disposition der Parteien unterliegt,<br />
in den verschiedenen Rechtsordnungen durchaus unterschiedlich beantwortet.<br />
Die Wahrscheinlichkeit, mit der die Verhandlungspartner in den Schlussbestimmungen<br />
des Vertrages eine Integrationsklausel aufnehmen, wird<br />
hauptsächlich durch zwei Faktoren determiniert. Zum einen spielt die Komplexität<br />
des Vertrages eine Rolle. Mit Umfang und Detailreichtum der Regelungen<br />
steigt das Bedürfnis, den Vertrag wasserdicht zu machen und ihn<br />
gegen Einfl üsse von außen zu schützen, um das Verhandlungsergebnis nicht<br />
zu frustrieren. Zu solch typischerweise komplexen Verträgen gehören beispielsweise<br />
Dauerschuldverhältnisse wie Vertriebsverträge, technisch geprägte<br />
Rechtsverhältnisse wie Bauprojekte oder Softwareprogrammierung<br />
sowie generell Handelsverträge mit internationalen Elementen. Zum anderen<br />
gilt es aber auch, den Einfl uss des anwendbaren Vertragsstatuts zu berücksichtigen.<br />
Erst aus dem Zusammenspiel von Vertrags- und Gesetzesrecht<br />
ergibt sich der genaue <strong>Inhalt</strong> der Verpfl ichtungen. Nur so wird verständlich,<br />
warum Integrationsklauseln in den verschiedenen Rechtssystemen<br />
derart unterschiedliche Verbreitung gefunden haben.<br />
Im Folgenden soll zunächst die Wirkungsweise der Integrationsklauseln<br />
in ihrem Ursprungsland, den Vereinigten Staaten, untersucht werden (sogleich<br />
unter II.). Dem wird dann ihre Behandlung im englischen Recht<br />
gegenübergestellt (unter III.). In den folgenden Teilen sollen dann daraus<br />
Rückschlüsse auf ihre Wirkung in den kontinentaleuropäischen Rechtssystemen<br />
(unter IV.) und im Internationalen Einheitsrecht (unter V.) gezogen<br />
werden.<br />
II. Integrationsklauseln im US-amerikanischen Recht<br />
Die mit Abstand häufi gste Verwendung kommt Integrationsklauseln in<br />
den Vereinigten Staaten zu, also in einem Rechtssystem, das wegen seiner<br />
ausufernd langen Verträge berüchtigt ist. 9 Diese Vertragspraxis ist wiederum<br />
9 Zur amerikanischen Vertragspraxis Wulf Döser, Anglo-amerikanische Vertragsstrukturen<br />
in deutschen Vertriebs-, Lizenz- und sonstigen Vertikalverträgen: NJW 2000, 1451 ff.;<br />
Hein Kötz, Der Einfl uss des Common Law auf die internationale Vertragspraxis, in: FS Andreas<br />
Heldrich (2005) 771 ff.; John H. Langbein, Zivilprozeßrechtsvergleichung und der Stil<br />
komplexer Vertragswerke: ZvglRWiss. 86 (1987) 141 ff.; Hanno Merkt, Angloamerikanisie-
566 olaf meyer RabelsZ<br />
unmittelbar bedingt durch drei Charakteristika des US-amerikanischen<br />
Vertragsrechts, nämlich das Fehlen einer in sich geschlossenen gesetzlichen<br />
Reserveordnung, eine enge Vertragsauslegung sowie die Parol Evidence<br />
Rule. 10<br />
1. Amerikanische Vertragskultur<br />
US-amerikanisches Vertragsrecht ist, auch wenn einige Bundesstaaten<br />
Gesetzbücher kennen, seiner Natur nach in erster Linie ein Fallrecht, in<br />
dem gesetzliche Regelungen nur als Rechtsquelle zweiten Ranges angesehen<br />
werden. 11 Bei der Vertragsgestaltung kann daher anders als im kontinentaleuropäischen<br />
Bereich nicht auf die komplementäre Wirkung dispositiver<br />
gesetzlicher Normen vertraut werden. Die Parteien müssen vielmehr<br />
selbst für alle Eventualitäten Sorge tragen, und seien diese noch so fernliegend.<br />
12 Auch die beiden bekanntesten Regelwerke zum Vertragsrecht ändern<br />
an diesem Befund nichts: Der Uniform Commercial Code (UCC) ist<br />
als Modellgesetz von praktisch allen Bundesstaaten übernommen worden; 13<br />
er regelt aber nur bestimmte Vertragstypen und enthält nicht etwa ein allgemeines<br />
Vertragsrecht wie das BGB. Demgegenüber fi nden sich im Restatement<br />
(2d) Contracts 14 zwar allgemeine Regeln zum Vertragsrecht, allerdings<br />
sind diese nicht zu einem kohärenten, in sich geschlossenen System zusammengefasst<br />
worden. Das Restatement soll vielmehr von Fall zu Fall eine<br />
rung und Privatisierung der Vertragspraxis versus Europäisches Vertragsrecht: ZHR 171<br />
(2007) 490 ff.; Rolf Stürner, Die Rezeption U. S.-amerikanischen Rechts in der Bundesrepublik<br />
Deutschland, in: FS Kurt Rebmann (1989) 839 ff.; Volker Triebel, Anglo-amerikanischer<br />
Einfl uß auf Unternehmenskaufverträge in Deutschland, Eine Gefahr für die Rechtsklarheit?:<br />
RIW 1998, 1 ff.; Friedrich Graf v. Westphalen, Von den Vorzügen des deutschen Rechts gegenüber<br />
anglo-amerikanischen Vertragsmustern: ZvglRWiss. 102 (2003) 53 ff.<br />
10 Eine vierte Erklärung sieht Langbein (vorige Note) im amerikanischen Zivilprozess.<br />
11 Dieter Blumenwitz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht 6 (1998) 45.<br />
12 Döser 1452; Kötz 774 f. (beide oben N. 9).<br />
13 Zur Reform des UCC Mathias Reimann/Anne-Catherine Hahn, Die Revision des USamerikanischen<br />
Kaufrechts: IPRax 2004, 146 ff.<br />
14 American Law Institute, Restatement of the Law (2d) Contracts (1981). Der Restatement-Reihe<br />
kommt keine Gesetzesqualität zu, es handelt sich lediglich um eine private Zusammenstellung<br />
von Regeln, wie sie nach Ansicht seiner Verfasser am besten das Common<br />
Law wiedergeben. Gerichte ziehen sie als persuasive authority bei der Urteilsbegründung heran.<br />
Konrad Zweigert/Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung 3 (1996) 247 vergleichen<br />
ihre Funktionsweise mit der eines führenden Lehrbuches. Vgl. weiter Richard Hyland, The<br />
American Experience: Restatements, the UCC, Uniform Laws, and Transnational Coordination,<br />
in: Towards a European Civil Code 3 , hrsg. von Arthur Hartkamp et al. (2004) 59 ff.; Mathias<br />
Reimann, Amerikanisches Privatrecht und europäische Rechtseinheit, Können die USA<br />
als Vorbild dienen?, in: Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht, hrsg. von<br />
Reinhard Zimmermann (1995) 132 ff.; Thomas Schindler, Die Restatements und ihre Bedeutung<br />
für das amerikanische Privatrecht: ZEuP 1998, 277 ff.
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
567<br />
Auslegungsleitlinie für das einzelstaatliche Common Law bilden, so dass immer<br />
nur die einzelne Regel zur Anwendung gelangt und nicht etwa das<br />
Regelwerk in seiner Gesamtheit. 15 Es ist offenbar noch kein Fall bekannt<br />
geworden, in dem die Parteien das Restatement als Ganzes in ihren Vertrag<br />
inkorporiert hätten.<br />
Ein weiterer Grund für die Länge amerikanischer Verträge kann in der<br />
engen Vertragsauslegung gesehen werden. Allerdings sind amerikanische<br />
Gerichte nicht in jedem Fall abgeneigt, äußere Umstände in die Auslegung<br />
mit einzubeziehen. Dort wo der Vertrag offensichtlich unklar oder unvollständig<br />
ist, werden die Parteien vor dem Richter und der Jury den ganzen<br />
Verhandlungsablauf, egal ob mündlich oder schriftlich, aufrollen, um die<br />
Bedeutung des Vertragswortlauts zu erklären. 16 Die damit verbundenen<br />
Unsicherheiten und Kosten (vor allem für die discovery) sind bei komplexen<br />
Verträgen über hohe Werte eine geradezu Furcht einfl ößende Vorstellung<br />
für deren Gestalter. Das amerikanische Recht gibt den Vertragsschließenden<br />
daher in der Form der Plain Meaning Rule eine – oftmals trügerische – Möglichkeit,<br />
solchen Streitigkeiten um die richtige Auslegung vorzubeugen. Wo<br />
die Vertragssprache einen objektiv eindeutigen Sinn hat (»appears to be plain<br />
and unambiguous on its face«), darf zur Auslegung nicht auf externe Umstände<br />
zurückgegriffen werden. 17 Die Prüfung verläuft also zweistufi g: Bevor<br />
es zu einer Vertragsauslegung kommt, muss zuerst die Auslegungsfähigkeit<br />
der Vertragsklausel festgestellt werden. Die oftmals pedantisch anmutende<br />
Formulierungstechnik amerikanischer Rechtsanwälte dient demnach<br />
auch dazu, einer Interpretation des Vertrages durch den Richter und die<br />
Jury vorzubeugen.<br />
2. Die Parol Evidence Rule<br />
Von besonderer Bedeutung gerade im Hinblick auf die Umstände außerhalb<br />
der Vertragsurkunde ist die Parol Evidence Rule in der formalistischen<br />
Ausprägung, die sie im US-amerikanischen Recht erfahren hat. Vereinfacht<br />
ausgedrückt besagt sie, dass ein vollständig aussehender schriftlicher Vertrag<br />
abschließend ist. Dabei wird in den Vereinigten Staaten folgendermaßen<br />
differenziert: Ist der Vertragstext zwar endgültig verbindlich, allerdings<br />
nicht in allen Punkten vollständig (partially integrated), so kann die Vereinba-<br />
15 Withmore Gray, E pluribus unum?, A Bicentennial Report on Unifi cation of Law in the<br />
United States: RabelsZ 50 (1986) 111 (120).<br />
16 Vgl. Restatement (2d) § 202 (1); § 214 (c); E. Alan Farnsworth, Contracts 3 (1999) § 7.10.<br />
17 Zur Plain Meaning Rule vgl. Peter Linzer, The Comfort of Certainty: Plain Meaning<br />
and the Parol Evidence Rule: Fordham L. Rev. 71 (2002) 799 ff. Die Regel ist nicht unumstritten,<br />
UCC und Restatement haben sie abgeschafft, vgl. UCC § 2–202, cmt. 2; Restatement<br />
(2d) § 202 (4).
568 olaf meyer RabelsZ<br />
rung durch den Nachweis außervertraglicher Nebenabreden ergänzt werden,<br />
solange diese nicht im Widerspruch zum festgehaltenen Wortlaut stehen.<br />
Ist darüber hinaus der Vertrag sogar vollständig abschließend gemeint<br />
(completely integrated), so kann er durch außervertragliche Umstände in keiner<br />
Weise abgeändert werden, also nicht einmal um Punkte ergänzt werden,<br />
die im Vertragstext gar nicht angesprochen wurden. 18 Zunächst muss also<br />
festgestellt werden, ob dem Schriftstück überhaupt eine Integrationsfunktion<br />
zukommt, auf der zweiten Stufe sodann, ob diese abschließend ist oder<br />
Raum für Nebenabreden lässt.<br />
Anders als es der irreführende Name vermuten lässt, handelt es sich bei<br />
der Parol Evidence Rule nicht um eine prozessuale Beweisregel, sondern<br />
um materielles Vertragsrecht. 19 Sie basiert auf der Vermutung, dass die Parteien<br />
mit dem schriftlichen Vertrag alle vorherigen Abreden ersetzen wollen.<br />
20 Daher greift sie selbst dann, wenn die behauptete Absprache eindeutig<br />
bewiesen werden kann. Beweisrechtliche Wirkung entfaltet die Regel aber<br />
dadurch, dass der Richter die ausgeschlossenen Nebenabreden nicht als Beweis<br />
vor der Jury zulassen wird. Gesperrt wird ferner nicht nur die Berufung<br />
auf mündliche Abreden, wie die ungenaue Bezeichnung »parol« suggeriert,<br />
sondern es werden sämtliche außervertraglichen Umstände (extrinsic<br />
evidence) von der Regel erfasst. Ausgeschlossen sind allerdings nur Umstände<br />
vor und bei Vertragsschluss, für nachvertragliche Abreden gilt die Regel<br />
hingegen nicht. 21 Außerdem ist sie durch zahlreiche Ausnahmeregeln durchbrochen;<br />
parol evidence ist regelmäßig zulässig zum Beweis selbständiger Nebenabreden<br />
sowie der Unwirksamkeit des Vertrages. Trotz dieser in der Praxis<br />
oftmals kompliziert gehandhabten Ausnahmen ist die Regel im Grundsatz<br />
unbestrittener Bestandteil des US-amerikanischen Common Law. Für<br />
den amerikanischen Juristen ist eine ausformulierte Vertragsurkunde daher<br />
regelmäßig die ausschließliche Grundlage des Geschäfts: Was nicht in ihr<br />
steht, gilt auch nicht. 22<br />
Probleme bereitet insbesondere die Abgrenzung von teilweise und vollständig<br />
integrierten Verträgen. Hierzu existieren in den verschiedenen Jurisdiktionen<br />
zum Teil erheblich divergierende Ansichten, so dass sich die<br />
Parol Evidence Rule bei genauerem Hinsehen in mehrere »Parol Evidence<br />
Rules« aufspaltet. Nach der klassischen Sicht, die verbunden ist mit dem<br />
Namen Samuel Williston, einem der Väter des ersten Restatement, ist der<br />
Vertragstext als Ausgangspunkt zu nehmen, und zwar nur soweit er inner-<br />
18 Restatement (2d) § 216.<br />
19 Farnsworth, Contracts (oben N. 16) § 7.2.<br />
20 So schon das Restatement (1st) Contracts § 240 cmt. d).<br />
21 5 Farnsworth 272; James J. White/Robert S. Summers, Uniform Commercial Code (2000)<br />
92.<br />
22 Christian Borris, Common Law and Civil Law, Fundamental Differences and their Im-<br />
pact on Arbitration: Arbitration 60 (1994) 78 (84).
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
569<br />
halb der vier Ecken des Vertragsdokuments wiedergegeben ist. Erscheint<br />
dieser für einen objektiven Beobachter aus sich heraus abschließend und<br />
verständlich, so gilt er unwiderlegbar als vollständig integriert. Ausgenommen<br />
sind lediglich völlig selbständige Nebenabreden (collateral agreements),<br />
die von den Parteien naturgemäß separat behandelt würden (und die dann<br />
selbstverständlich von einer eigenen consideration gedeckt sein müssen). 23<br />
Nach Williston können die Vertragschließenden jeglichen Auslegungszweifel<br />
ausräumen, indem sie den Vertrag explizit als vollständig bezeichnen,<br />
also eine Integrationsklausel aufnehmen. 24<br />
Modernere Ansichten tendieren hingegen zu einem liberaleren Herangehen,<br />
auch wenn Willistons Regel immer noch sehr große Bedeutung in der<br />
Gerichtspraxis hat. So hat insbesondere Corbin vertreten, dass nicht objektive<br />
Überlegungen über die Integration bestimmen, sondern nur der wirkliche<br />
Parteiwille, und dieser solle unter Heranziehung aller beweiserheblichen<br />
Umstände inklusive der Verhandlungen ermittelt werden können. 25<br />
In diese Richtung weist auch das Restatement (2d) Contracts § 209(3). Der<br />
UCC enthält eine widerlegliche Vermutung für eine nur teilweise Integration,<br />
wobei sowohl objektive als auch subjektive Elemente in die Auslegung<br />
einfl ießen. 26<br />
Wird die Integration bejaht, verlieren die außervertraglichen Absprachen<br />
ihre rechtliche Bedeutung, soweit es um Abweichungen oder Ergänzungen<br />
zum Vertragstext geht. Das heißt aber noch nicht zwingend, dass sie bei der<br />
Ermittlung des Vertragsinhaltes gar keine Rolle mehr spielen. Nach verbreiteter<br />
Ansicht hindert die Parol Evidence Rule nämlich nicht die Heranziehung<br />
der Vertragsverhandlungen zur bloßen Auslegung des schriftlichen<br />
Textes. 27 Doch ist das Fallrecht hier betont zurückhaltend, wohl vor dem<br />
Hintergrund, dass die Parol Evidence Rule ihrer Funktion weitgehend beraubt<br />
würde, wenn man die vertragsexternen Abreden zuerst verbannt, nur<br />
um sie dann über die Hintertür der Vertragsauslegung wieder in den Vertrag<br />
hineinzuholen. 28 Aus diesem Grunde machen viele Gerichte eine Auslegung<br />
mithilfe von extrinsic evidence davon abhängig, dass der Vertrag objektiv<br />
Unklarheiten oder Mehrdeutigkeiten aufweist. Es soll oftmals noch nicht<br />
23 Restatement (1st) Contracts § 240.<br />
24 3 Samuel Williston, On Contracts (1961) § 633: »Since it is only the intention of the parties<br />
to adopt a writing as a memorial which makes that writing an integration of the contract, and<br />
makes the Parol Evidence Rule applicable, any expression of their intention in the writing in<br />
regard to the matter will be given effect. If they provide in terms that the writing shall con tain<br />
a complete integration of their agreement or that it shall be but a partial integration, or no<br />
integration at all, the expressed intention will be effectuated.«<br />
25 Arthur L. Corbin, On Contracts (1960) § 588.<br />
26 UCC § 2–202 (b); dazu Calamari/Perillo § 3.4 (e).<br />
27 Vgl. etwa Restatement (2d) § 214 (c); Corbin (oben N. 25) § 579; White/Summers (oben<br />
N. 21) 95.<br />
28 Calamari/Perillo § 3.16; Linzer (oben N. 17) 800 f.
570 olaf meyer RabelsZ<br />
einmal ausreichen, wenn erst die Berücksichtigung der Beweismittel Unklarheiten<br />
über die wirkliche Wortbedeutung entstehen lässt. 29 Das Verhältnis<br />
von zulässiger Auslegung zu ausgeschlossener Vertragsergänzung gehört<br />
damit zu den wohl schwierigsten Fragen der Parol Evidence Rule.<br />
3. Funktion und Wirkung von Integrationsklauseln<br />
a) Ausfl uss der Parol Evidence Rule<br />
Der vorangegangene Überblick verdeutlicht die Funktion amerikanischer<br />
merger clauses: Sie stellen eine direkte Antwort auf die Parol Evidence Rule<br />
dar und sind untrennbar mit ihr verbunden. 30 Wenn die Parteien ausdrücklich<br />
festlegen, dass außerhalb der Vertragsurkunde keine weiteren rechtsverbindlichen<br />
Abreden zwischen ihnen bestehen, so dient dies dazu, die<br />
Rechtsfolgen einer complete integration herbeizuführen, nämlich den Vertrag<br />
gegen behauptete Ergänzungen jeglicher Art abzuschotten. Angesichts der<br />
Verbreitung von Integrationsklauseln in den Vereinigten Staaten muss man<br />
davon ausgehen, dass dort die Ausschließlichkeit des Vertragstextes als etwas<br />
Positives und Erstrebenswertes angesehen wird, obwohl man sich sicherlich<br />
auch bewusst ist, dass kein noch so erfahrener Vertragsgestalter stets alle<br />
relevanten Aspekte eines Geschäftes vorab in eindeutige Formulierungen<br />
kleiden kann. Dennoch ist die amerikanische Kautelarpraxis bereit, eventuelle<br />
Härten in Kauf zu nehmen. Der Hauptgrund dürfte in der Furcht vor<br />
einer Vertragsauslegung durch die Jury liegen, deren Mitglieder in der Regel<br />
geschäftlich unerfahren sind und die sich möglicherweise bei ihrer Entscheidung<br />
von Sympathien für den »underdog« leiten lassen. 31 Daneben wird<br />
bei langfristigen Geschäftsbeziehungen befürchtet, dass wichtige Zeugen<br />
nach einigen Jahren nicht mehr zur Verfügung stehen, etwa weil sie verstorben<br />
sind oder das Unternehmen inzwischen verlassen haben. 32 Die enge<br />
Verbindung der Klausel mit der Parol Evidence Rule beherrscht auch ihre<br />
Auslegung durch die amerikanischen Gerichte.<br />
29 Boston Car Co., Inc. v. Acura Automobile Div., Am. Honda Motor Co., Inc., 971 F.2d 811,<br />
815 (1st Cir. 1992): »[. . .] parol evidence may not be admitted to contradict the clear terms of<br />
an agreement, or to create ambiguity where none otherwise exists.«<br />
30 Fontaine/de Ly 152; Hondius 25. Vgl. Smith v. Central Soya of Athens, Inc., 604 F. Supp. 518,<br />
526 (E. D. N. C. 1985): »Merger clauses were developed with the Parol Evidence Rule in mind<br />
in order to protect the parties to the contract.« Die Auswirkungen der Klausel auf vertretungsrechtliche<br />
Fragen sollen in diesem Beitrag außer Betracht bleiben.<br />
31 Langbein (oben N. 9) 149; vgl. auch Olympia Hotels Corp. v. Johnson Wax Development<br />
Corp., 908 F. 2d 1363, 1373 (7th Cir. 1990): »Not all parties to contracts want to entrust their<br />
fate to the vagaries of juries unversed in the usages of business [. . .]«; Armstrong Paint & Varnish<br />
Works v. Continental Can Co., 301 Ill. 102, 106, 133 N. E. 711 (1921).<br />
32 Farnsworth 272.
72 (2008)<br />
b) Wirksamkeit<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
571<br />
Integrationsklauseln werden allgemein als wirksam anerkannt. 33 Wenn<br />
schon die Parol Evidence Rule mit einem vermuteten Parteiwillen begründet<br />
wird, dann muss es den Parteien erst recht gestattet sein, den Vertrag<br />
mittels einer ausdrücklichen Regelung abschließend zu gestalten. Ihre<br />
Wirksamkeit steht und fällt aber mit der Wirksamkeit des gesamten Vertrages.<br />
Daher ist selbst bei Vorliegen einer Integrationsklausel jeglicher außervertragliche<br />
Beweis zulässig, der den Vertrag insgesamt zu Fall bringt,<br />
etwa aufgrund von Irrtum (mistake), Gesetzesverstoß (illegality) oder fehlender<br />
consideration. 34 Dies korrespondiert mit den Ausnahmeregelungen zur<br />
Parol Evidence Rule. Lediglich zwei Fallgestaltungen haben Anlass zu Diskussionen<br />
gegeben: In einigen Entscheidungen wurde der Kläger nicht mit<br />
der Behauptung gehört, er hätte sich bei der Unterzeichnung blind auf die<br />
Zusicherung seines Vertragspartners verlassen, dass eine bestimmte Abrede<br />
in den Vertragstext aufgenommen wurde. Die Gerichte argumentierten,<br />
dass die Parteien vor Unterzeichnung eine Pfl icht zum Lesen des Vertrages<br />
träfe und daher die durch die Integrationsklausel angestrebte Rechtssicherheit<br />
Vorrang vor dem Täuschungsvorwurf der nachlässigen Partei haben<br />
müsse. 35 Doch sind die meisten Gerichte diesem Ansatz nicht gefolgt und<br />
haben vollen Beweis auch für die Täuschung über den Vertragsinhalt zugelassen.<br />
36 Der zweite Problemfall betrifft die Behauptung mündlich vereinbarter<br />
aufschiebender Bedingungen. Diese stehen jedenfalls immer im Widerspruch<br />
zur Integrationsklausel und dürften daher unter der Parol Evidence<br />
Rule nicht ergänzend zum Vertrag herangezogen werden. Hier<br />
tendiert die ganz überwiegende Auffassung dazu, den Beweis der Bedingung<br />
mittels außervertraglicher Umstände dennoch zuzulassen, da die Parol<br />
Evidence Rule zu ihrer Anwendung die Endgültigkeit der schriftlichen<br />
Vereinbarung voraussetzt. 37 Allerdings wirkt die Integrationsklausel als<br />
starker Gegenbeweis, dass solch eine Bedingung gerade nicht vereinbart<br />
wurde. 38<br />
Von der Einwendung der Unwirksamkeit des gesamten Vertrages sind<br />
solche Argumente zu unterscheiden, die sich gegen die Wirksamkeit der<br />
33 Farnsworth 273; Hartsfi eld 362.<br />
34 Restatement (2d) § 214 (d), vgl. ebd. cmt. c); Calamari/Perillo 141.<br />
35 Mitchell v. Excelsior Sales & Imports, 243 Ga. 813, 256 S. E.2d 785 (1979); Knight & Bostvick<br />
v. Moore, 303 Wis. 540, 234 N. W. 902 (1931). Dies beruht auf der amerikanischen Unterscheidung<br />
von Täuschungen, die zum Vertragsschluss verleiten sollen ( fraud in the inducement),<br />
und Täuschungen über den <strong>Inhalt</strong> der Vertragsurkunde ( fraud in the execution).<br />
36 Belew v. Griffi s, 249 Ark. 589, 460 S. W.2d 80 (1970); Estes v. Republic Nat. Bank, 462<br />
S. W.2d 273 (Tex. 1970); Calamari/Perillo 144; Hartsfi eld 366 ff.<br />
37 Luther Williams Inc. v. Johnson, 229 A.2d 163 (D. C. Ct. App., 1967); Nord v. Herreid, 305<br />
N. W.2d 337 (Minn. 1981); Restatement (2d) § 217 cmt. b); White/Summers (oben N. 21) 95.<br />
38 Hartsfi eld 371 ff.
572 olaf meyer RabelsZ<br />
Integrationsklausel selbst richten. In diesem Punkt hält das amerikanische<br />
Recht kaum Instrumente bereit, mit denen die Klausel ernsthaft bedroht<br />
werden könnte. Insbesondere kennt das amerikanische Recht keine AGB-<br />
Kontrolle in der hierzulande vertrauten Gestalt. Vertragsregelungen werden<br />
in der Regel nur nach UCC § 2–303 auf Unbilligkeit (unconscionability) geprüft,<br />
doch sind die Voraussetzungen dafür so hoch, dass sie Integrationsklauseln<br />
zumeist keine Probleme bereiten. 39 Schutz vor überraschenden<br />
Klauseln bietet zu einem gewissen Umfang das Erfordernis, dass Regelungen<br />
mit haftungsausschließender Wirkung auffällig gestaltet (conspicuous,<br />
vgl. UCC § 1–201[10]) sein müssen. Da Integrationsklauseln vorvertraglichen<br />
Versprechungen ihre Verbindlichkeit nehmen und damit im Ergebnis<br />
einem Haftungsausschluss sehr nahekommen, können sie bei unauffälliger<br />
Gestaltung unwirksam sein. 40 Noch weiterreichende Folgen können sich aus<br />
Spezialgesetzen ergeben. So kann nach dem New Yorker General Business<br />
Law § 687 die Haftung für einem Franchisenehmer vorvertraglich gegebene<br />
Zusagen vertraglich nicht abbedungen werden – eine direkte Reaktion des<br />
Gesetzgebers auf missbräuchliche Vertragsgestaltung seitens der Franchisegeber.<br />
41<br />
c) Reichweite<br />
Bei strikter Befolgung kann eine Integrationsklausel zu unbilligen Härten<br />
führen. Dies folgt daraus, dass komplexe Geschäftsbeziehungen sich vorab<br />
nur bedingt in einem einzigen Schriftstück zusammenfassen lassen. So werden<br />
ungeachtet von Integrations- und Schriftformklauseln zahlreiche geschäftliche<br />
Abreden aus Effi zienzgründen nach wie vor mündlich getroffen.<br />
Dem kann sich auch das Vertragsrecht nicht verschließen und muss in bestimmten<br />
Situationen Ausnahmen von der Nichtbeachtung außervertraglicher<br />
Abreden zulassen.<br />
Hierzu gehören in erster Linie die collateral agreements, also diejenigen<br />
selbständigen Vereinbarungen, die vom integrierten Vertrag unabhängig<br />
39 Smith v. Central Soya of Athens, Inc., 604 F. Supp. 518, 526 f. (E. D. N. C. 1985); Kerry L.<br />
Macintosh, When Are Merger Clauses Unconscionable?: Denver U. L. Rev. 64 (1988) 529 ff.;<br />
White/Summers (oben N. 21) 107.<br />
40 Seibel v. Layne & Bowler, Inc., 641 P.2d 668, 671 (Or. App. 1982). Die Integrationsklausel<br />
war ebenso wie eine Haftungsfreizeichnungsklausel im buchstäblichen »Kleingedruckten«<br />
versteckt und nicht durch ein anderes Schriftbild vom übrigen Vertragstext abgehoben.<br />
41 AJ Temple Marble & Tile, Inc. v. Union Carbide Marble Care, Inc., 618 N. Y. S. 2d 155 (N. Y.<br />
Sup. Ct. 1994). Art. 687 General Business Law bestimmt:<br />
[. . .] »(4) Any condition, stipulation, or provision purporting to bind any person acquiring<br />
any franchise to waive compliance with any provision of this law, or rule promulgated<br />
hereunder, shall be void.<br />
(5) It is unlawful to require a franchisee to assent to a release, assignment, novation, waiver<br />
or estoppel which would relieve a person from any duty or liability imposed by this article.«
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
573<br />
sind und für die deshalb bereits die Parol Evidence Rule nicht gilt. Insbesondere<br />
bei regelmäßigen Geschäftskontakten muss zwischen den einzelnen<br />
Transaktionen unterschieden werden, da sonst die zeitlich letzte Vereinbarung<br />
alle vorangegangenen Verträge außer Kraft setzen würde. 42 Die Abgrenzung<br />
kann bisweilen schwierig sein. In einem Fall war einen Großhändler<br />
mündlich der Verkauf von Geschäftsanteilen an einen Lieferanten<br />
versprochen worden, woraufhin ersterer eine größere Menge an Papierprodukten<br />
bei letzterem bestellte. Obwohl der Kaufvertrag über das Papier eine<br />
Integrationsklausel enthielt, ließ der Court of Appeal den Beweis der mündlichen<br />
Zusage zu. Aus den Umständen sei klar ersichtlich, dass sich die Integration<br />
auf den eigentlichen Vertragsgegenstand beschränkt, also auf die<br />
Papierprodukte; es sei nicht zu erwarten gewesen, dass die Parteien den<br />
Kauf der Geschäftsanteile in einem Vertrag über Papierprodukte angesprochen<br />
hätten. 43 Insoweit scheinen also die gleichen Grundsätze wie bei der<br />
Parol Evidence Rule zu gelten; das Gericht wird fragen, ob die Parteien<br />
vernünftigerweise die Nebenabrede im selben Vertrag mitgeregelt hätten.<br />
Ebenfalls nicht ausgeschlossen sind die so genannten terms implied in law.<br />
Da diese ihre Grundlage im Gesetz haben, müssen sie auch nicht durch parol<br />
evidence nachgewiesen werden. Gesetzliche Garantien können somit nicht<br />
durch eine allgemeine Integrationsklausel abbedungen werden, sondern allenfalls<br />
durch eine ausdrückliche und eindeutige Verzichtserklärung. 44 Ähnliches<br />
gilt für Handelsbräuche (terms implied by usage), die nach Common<br />
Law-Verständnis ihre Geltungskraft aus dem vermuteten Parteiwillen schöpfen.<br />
45 Soweit diese mit der vertraglichen Regelung unvereinbar sind, gelten<br />
sie als abgewählt. Im Übrigen werden sie nur dann ausgeschlossen, wenn<br />
sich die merger clause ausdrücklich auch auf sie erstreckt. 46<br />
Eine besonders heikle Frage ist schließlich, ob eine Integrationsklausel die<br />
Haftung für misrepresentation ausschließen kann. Hierbei geht es um im Vorfeld<br />
des Vertragsschlusses getätigte unwahre Angaben, die zwar nicht selbst<br />
Vertragsbestandteil geworden sind, die getäuschte Partei aber zum Abschluss<br />
42 Corbin (oben N. 25) § 578; in dem Fall Harbor Village Home Center, Inc. v. Thomas, 882<br />
So. 2d 811 (Ala. 2003) lagen gar innerhalb derselben Transaktion zwei widersprüchliche Vereinbarungen<br />
vor, die jeweils laut Integrationsklausel alleinige Verbindlichkeit für sich beanspruchten.<br />
43 Gem Corrugated Box Corp. v. National Kraft Container Corp., 427 F.2d 499, 503 (2d Cir.<br />
1970). Vgl. ferner Kreiss v. McCown DeLeeuw & Co., 37 F. Supp. 2d 294, 300 (S. D. N. Y.<br />
1999).<br />
44 Chatlos Systems v. National Cash Register Corp., 479 F. Supp. 738, 742 f. (D. N. J. 1979);<br />
Farnsworth 274; Hartsfi eld 365 f.; White/Summers (oben N. 21) 104. Soweit die Integrationsklausel<br />
als Mittel zum Haftungsausschluss verwendet wird, gilt UCC § 2–316(2).<br />
45 Rechtsvergleichend zur Rolle der Handelsbräuche Michael Joachim Bonell, The Relevance<br />
of Course of Dealing, Usages and Customs in the Interpretation of International Commercial<br />
Contracts, in: New Directions in International Trade Law, hrsg. von UNIDROIT I<br />
(1977) 109 ff.<br />
46 Farnsworth 274.
574 olaf meyer RabelsZ<br />
bewogen haben. Auf der einen Seite ist es gerade der Sinn dieser Klauseln,<br />
außervertraglichen Zusagen ihre Verbindlichkeit zu nehmen und so für<br />
Rechtssicherheit zu sorgen. So können sie aber gegenüber unerfahrenen<br />
Verhandlungspartnern auch als Waffe missbraucht werden, indem etwa<br />
einem Franchisenehmer vorab bestimmte Umsatzzahlen oder Ausschließlichkeitsrechte<br />
in Aussicht gestellt werden, der standardisierte Franchisevertrag<br />
dann aber am Ende eine merger clause enthält. Im Fallrecht kommt<br />
dieser Konfl ikt zwischen Vertragsklarheit und Schutz vor Betrug klar zum<br />
Ausdruck. Im Grundsatz versuchen die Gerichte, der getäuschten Seite ihr<br />
Recht nicht gänzlich abzuschneiden. Oftmals wird deshalb danach differenziert,<br />
ob es sich um eine unspezifi sche merger clause handelt, wie es in der<br />
Praxis zumeist der Fall sein wird, oder die Klausel hinreichend detailliert<br />
aufl istet, welche Zusicherungen nicht als verbindlich gelten sollen. Lediglich<br />
im letzteren Falle soll die Partei nicht schutzwürdig sein. 47 Eine Rolle<br />
kann auch die Erfahrung der Vertragsschließenden spielen. Verhandlungserfahrene<br />
Parteien müssen sich eher an Ausschlussklauseln festhalten lassen<br />
als ungeübte Geschäftsteilnehmer. 48 Die merger clause wird dadurch aber<br />
nicht völlig bedeutungslos, sondern hat Beweiswert dafür, dass die behauptete<br />
Aussage gerade nicht verbindlich getroffen wurde.<br />
In der Kautelarpraxis wird angesichts dieser Durchbrechungen versucht,<br />
die Integrationsklausel mit einer »non-reliance clause« zu kombinieren und<br />
dadurch die Haftung für vorvertragliche Abreden mit absoluter Sicherheit<br />
auszuschließen. Dies beruht auf der rechtlichen Voraussetzung, nach der<br />
eine Haftung für misrepresentation nur dann eingreift, wenn der Getäuschte<br />
vernünftigerweise auf die Zusicherung vertraut hat. 49 Hier ist die Einstellung<br />
der Gerichte noch nicht abschließend feststellbar. In einigen Jurisdiktionen<br />
haben die Gerichte tatsächlich akzeptiert, dass niemand eine Vertrauenshaftung<br />
geltend machen könne, wenn er zuvor unterschrieben hat, dass<br />
er auf keinerlei außervertragliche Zusicherung vertraut hat. 50 Nach der in<br />
New York geltenden Regel gilt dies jedenfalls dann, wenn die merger clause<br />
spezifi sch auf den Vertrag zugeschnitten ist und nicht nur eine bloße Standardfl<br />
oskel enthält. 51 Diese Unterscheidung scheint aber wenig zur Klarheit<br />
beizutragen, da nun die Gerichte in jedem Einzelfall die gewählte Formu-<br />
47 Caiola v. Citibank, NA, 295 F.3d 312 (2d Cir. 2002).<br />
48 Caiola v. Citibank (vorige Note); Wells Fargo Bank Northwest v. Taca International Airlines,<br />
247 F. Supp. 2d 352, 369 (S. D. N. Y. 2002); White/Summers (oben N. 21) 105 f.<br />
49 Vgl. Restatement (2d) § 164.<br />
50 Rissman v. Rissman, 213 F.3d 381, 383–84 (7th Cir. 2000); Tirapelli v. Advanced Equities,<br />
Inc., 215. Supp. 2d 964 (N. D. Ill. 2002).<br />
51 First Nationwide Bank v. 965 Amsterdam, Inc., 212 A. D.2d 469 (1st Dept. 1995); Citibank,<br />
NA v. Plapinger, 66 N. Y.2d 90 (1985); Danann Realty Corp. v. Harris, 5 N. Y.2d 317, 320<br />
(1959).
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
575<br />
lierung unter die Lupe nehmen müssen. 52 Die Probleme liegen darin begründet,<br />
dass die non-reliance clause das zu erreichen versucht, was schon die<br />
merger clause nicht uneingeschränkt durchzusetzen vermochte; eine gänzliche<br />
Freistellung des Verkäufers von all seinen außervertraglich gegebenen<br />
Versprechen mithilfe einer Standardklausel würde eben zu einer ungerechten<br />
Risikoverteilung führen und dem Missbrauch alle Türen öffnen.<br />
Daher haben zahlreiche Gerichtsentscheidungen zumindest den Nachweis<br />
von betrügerisch gegebenen Zusagen zugelassen. 53<br />
d) Auslegung des Vertrages<br />
Der Zusammenhang mit der Parol Evidence Rule bildet schließlich auch<br />
den Hintergrund für die Frage, ob eine merger clause die Berücksichtigung<br />
von extrinsic evidence zur Vertragsauslegung verhindern kann. Wie gesehen<br />
gehen die Meinungen in der amerikanischen Rechtsprechung weit auseinander,<br />
ob ein vollständig integrierter Vertrag noch durch vorvertragliche<br />
Umstände interpretiert werden darf. Die Vertragsparteien könnten also mithilfe<br />
der Integrationsklausel nicht nur klarstellen, dass der Vertrag vollständig<br />
ist, sondern gleichzeitig auch eine restriktive Anordnung hinsichtlich<br />
der Rolle des Verhandlungsmaterials für die Vertragsauslegung treffen. Aber<br />
hier ist man vorsichtig, einer unspezifi schen Integrationsklausel ohne weiteres<br />
eine so weitreichende Wirkung zuzusprechen. 54 Etwas anderes mag<br />
dann gelten, wenn sich die Klausel ausdrücklich auch auf Fragen der Auslegung<br />
erstreckt.<br />
e) Feste Grenzziehung oder bloße Vermutungswirkung<br />
Wie gezeigt haben die Gerichte eine Reihe von Ausnahmen entwickelt,<br />
um in bestimmten Situationen auch entgegen einer Integrationsklausel außervertragliche<br />
Umstände in die Fallentscheidung einfl ießen zu lassen. Aber<br />
selbst dort, wo dem Vertragsschluss keine Täuschungen oder sonstige nicht<br />
zu billigenden Verhaltensweisen einer Partei vorangegangen sind, kann die<br />
Nichtberücksichtigung des Verhandlungsverlaufes unbefriedigend sein. Damit<br />
bleibt zu klären, ob die Vertragsparteien durch eine Integrationsklausel<br />
ein Gericht tatsächlich abschließend und unumstößlich zu binden vermö-<br />
52 Calamari/Perillo § 9.21: »The distinction is more subtle than practical and has produced<br />
the proverbial fl ood of litigation.«<br />
53 Associated Hardware Supply Co. v. Big Wheel Distrib. Co., 355 F.2d 114 (3d Cir. 1966).<br />
LaFazia v. Howe, 575 A.2d 182, 187 (RI 1990) (Ausschluss nur wirksam, wenn die außervertragliche<br />
Zusage in der non-reliance clause ausdrücklich angesprochen wird); Gibson v. Home<br />
Folks Mobile Home Plaza, Inc., 533 F. Supp. 1211 (S. D. Ga. 1982); Bates v. Southgate, 308 Mass.<br />
170, 182 (1941); Calamari/Perillo § 9.21.<br />
54 767 Third Avenue LLC v. Orix Capital Markets, LLC, 800 N. Y. S. 2d 357 (N. Y. Sup. Ct.<br />
2005); Restatement (2d) § 216 cmt. e); Corbin (oben N. 25) § 578; Hartsfi eld 373 f.
576 olaf meyer RabelsZ<br />
gen. Die traditionelle Sichtweise, die zumeist auch der strengeren Form der<br />
Parol Evidence Rule im Sinne Willistons anhängt, bejaht dies. 55 Danach<br />
müsste ein Vertrag, der eine merger clause enthält, vom Gericht immer als<br />
vollständig integriert behandelt werden.<br />
Doch befi ndet sich diese strenge Auslegung immer mehr auf dem Rückzug.<br />
56 Die moderne Argumentation setzt an bei der Forderung Corbins, dass<br />
über die Integration eines Vertragstextes der wirkliche Parteiwille entscheiden<br />
soll. Zu dessen Feststellung müssten aber alle verfügbaren Umstände<br />
herangezogen werden; keineswegs könne der Vertrag seine eigene Vollständigkeit<br />
beweisen. 57 So hatte etwa in der Entscheidung Sierra Diesel 58 der<br />
Kläger auf eine schriftliche Anpreisung hin einen Computer erworben, der<br />
sich anschließend als für seine Zwecke völlig ungeeignet erwies. Obwohl<br />
der Kaufvertrag eine merger clause enthielt, zog der neunte Circuit auch<br />
den vorvertraglichen Schriftwechsel zur Feststellung des Vertragsinhaltes<br />
heran; da der Käufer weder besondere Erfahrung mit Computern noch mit<br />
geschäftlichen Verträgen besaß, waren die Richter davon überzeugt, dass er<br />
keineswegs mit der Vertragsunterzeichnung eine vollständige Integration<br />
ohne Einschluss der zuvor gegebenen Zusagen erreichen wollte. Andere<br />
Gerichte stellen sich auf den Standpunkt, dass der routinemäßige Einschluss<br />
von boilerplate clauses nicht notwendig auf einen tatsächlichen Willen der<br />
Parteien schließen lässt. 59 Dies bedeutet nicht, dass diese Gerichte Integrationsklauseln<br />
ignorieren. Sie gestehen ihnen immer noch einen hohen Beweiswert<br />
zu im Rahmen der Feststellung, ob der Vertragstext vollständig<br />
integriert ist, doch kann sich im Einzelfall bei Heranziehung aller Faktoren<br />
auch ein anderer Parteiwille ergeben. 60 Integrationsklauseln erhöhen somit<br />
zwar die Wahrscheinlichkeit, dass das Gericht sich ausschließlich vom<br />
schriftlichen Vertragstext leiten lässt, geben aber keine absolute Sicherheit.<br />
Die entscheidende Neuerung in diesem Ansatz liegt darin, dass der Richter<br />
über die Vollständigkeit der Vertragsurkunde erst entscheiden kann, nach-<br />
55 Yates Development v. Old Kings Interchange, 256 F.3d 1285, 1291 (11th Cir. 2001); vgl.<br />
ferner die zahlreichen Rechtsprechungsnachweise bei Kaufmann 157 (dort bei N. 694); Macintosh<br />
(oben N. 39) 531; Restatement (1st) (1932) § 230 cmt. b); White/Summers (oben N. 21)<br />
108; Williston (oben N. 24) § 633.<br />
56 Calamari/Perillo § 3.6; Fontaine/de Ly 159.<br />
57 Restatement (2d) § 210 cmt. b): »But a writing cannot of itself prove its own completeness,<br />
and wide latitude must be allowed for inquiry into circumstances bearing on the<br />
intention of the parties.«<br />
58 Sierra Diesel Injection Service v. Burroughs Corp., 890 F.2d 108, 112 (9th Cir. 1989).<br />
59 Nanakuli Paving v. Shell Oil Co., 664 F.2d 772, 784 (9th Cir. 1981); Levien Leasing Co. v.<br />
Dickey Co., 380 N. W.2d 748, 752 (Iowa Ct. App. 1985).<br />
60 Bakery & Confectionery Union & Indus. Int’l Pension Fund v. Ralph’s Grocery Co., 118 F.3d<br />
1018, 1021 (4th Cir. 1997); Bowden v. United States, 106 F.3d 433, 440 (D. C. Cir. 1997); Smith<br />
v. Central Soya of Athens, Inc., 604 F. Supp. 518, 527 (E. D. N. C. 1985); ARB, Inc. v. E-Systems,<br />
Inc., 663 F.2d 189, 198 f. (D. C. Cir. 1980). Ebenso Restatement (2d) § 209 cmt. b); ebd.<br />
§ 216 cmt. e). Vgl. ferner die Nachweise bei Kaufmann 160 (dort bei N. 703).
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
577<br />
dem er den ganzen Vortrag der Partei über die außervertraglichen Abreden<br />
angehört hat. Dadurch wird wiederum der Gleichlauf der Integrationsklausel<br />
mit der moderneren Fassung der Parol Evidence Rule hergestellt: Die<br />
ausdrückliche Integration kann zwar in vielen Fällen verhindern, dass der<br />
Richter den Vertragstext ergänzt oder abändert, nicht aber, dass er die behaupteten<br />
Nebenabreden zunächst einmal zur Kenntnis nimmt.<br />
III. Integrationsklauseln im englischen Recht<br />
1. And now for something completely different<br />
Zieht man zum Vergleich die Rechtslage in England heran, so fällt zunächst<br />
die abweichende Terminologie ins Auge: Bereits der Ausdruck »merger<br />
clauses« ist hier ungebräuchlich, stattdessen spricht man von »entire<br />
agreement clauses«. Neben diesem rein sprachlichen Unterschied lassen sich<br />
aber schnell weitere substanzielle Besonderheiten ausmachen. Vor allem sind<br />
Integrationsklauseln in England nicht mit der gleichen Häufi gkeit und<br />
Selbstverständlichkeit wie in den Vereinigten Staaten anzutreffen. Ihre Verwendung<br />
ist hier viel später üblich geworden, 61 und erst etwa seit Beginn der<br />
neunziger Jahre müssen sich die englischen Gerichte verstärkt mit ihnen<br />
auseinandersetzen. Trotz der Verwandtschaft der beiden Rechte scheinen<br />
also Unterschiede zu bestehen, welche die Verwendung von Integrationsklauseln<br />
unter englischem Recht weniger dringlich erscheinen lassen.<br />
Der Grund für diese abweichende Vertragspraxis dürfte nicht in einer<br />
generellen Strukturverschiedenheit des englischen Rechts zu fi nden sein.<br />
Dieses ist wie die Zivilrechte der amerikanischen Bundesstaaten ein Fallrecht,<br />
in dem parlamentsgesetzlichen Regelungen nur eine untergeordnete<br />
Bedeutung zukommt. Die Vertragsauslegung ist ebenfalls streng objektiviert<br />
und vielleicht sogar noch buchstabengläubiger als nach den amerikanischen<br />
Maßstäben, bedingt durch das völlige Fehlen des Prinzips von good<br />
faith im englischen Recht. 62 Signifi kante Unterschiede bestehen aber im Bereich<br />
der Parol Evidence Rule. Ursprünglich in England entwickelt, hat<br />
diese dort inzwischen erheblich an Bedeutung eingebüßt. Dies dürfte wiederum<br />
darin begründet liegen, dass die Jury seit langem aus dem englischen<br />
61 Chitty, On Contracts 29 (2004) 12–104 (dort bei N. 441).<br />
62 Dazu Roy Goode, The Concept of »Good Faith« in English Law (1992) (Centro di studi<br />
e ricerche di diritto comparato e straniero, Saggi, conferenze e seminari, 2). Zur Aufweichung<br />
des englischen Dogmas unter europäischem Einfl uss vgl. Simon Whittaker, Assessing the<br />
Fairness of Contract Terms, The Parties’ »Essential Bargaining«, its Regulatory Context and<br />
the Signifi cance of the Requirement of Good Faith: ZEuP 2004, 75 ff.
578 olaf meyer RabelsZ<br />
Zivilprozess nahezu verschwunden ist. 63 Ohne eine derartige Laienbeteiligung<br />
fehlt es an einem Bedürfnis für starre Regeln über die Zuverlässigkeit<br />
von Beweismitteln. Hingegen hat die Parol Evidence Rule in den Vereinigten<br />
Staaten, wo die Jury-Beteiligung verfassungsrechtlich garantiert ist, ihre<br />
Bedeutung beibehalten. 64<br />
Die komplizierte amerikanische Trennung zwischen teilweise und ganz<br />
integrierten Verträgen ist dem englischen Recht fremd. Geprüft wird dort<br />
nur, ob die Vereinbarung der Parteien auf die schriftlichen Abmachungen<br />
reduziert ist (»whether the contract has been reduced to writing«). In diesem<br />
Falle sind außervertragliche Beweismittel nicht zulässig »to contradict, vary,<br />
add to or subtract from the terms of a written contract«. 65 Ob allerdings der<br />
schriftliche Vertrag tatsächlich abschließend ist, bestimmt sich nach dem<br />
Willen der Vertragsparteien, und diesen ermitteln die englischen Gerichte<br />
auf der Grundlage aller auslegungsrelevanten Umstände, also selbst soweit<br />
diese nicht im Vertragstext festgehalten sind. Damit verbleibt für die Parol<br />
Evidence Rule kaum noch eine prägende Funktion, auch angesichts der<br />
vielen Ausnahmen und Durchbrechungen, die in der Rechtsprechung anerkannt<br />
werden. Die Law Commission hat sich gar 1986 für eine Aufgabe der<br />
Regel ausgesprochen, da diese nichts mehr über die Bedeutung außervertraglicher<br />
Beweise aussage, sondern nur zirkulär feststelle, dass ein abschließender<br />
Vertrag abschließend sei. 66 Dazu ist es dann zwar nicht gekommen,<br />
doch ist die englische Parol Evidence Rule heute unstreitig nicht mehr als<br />
eine allgemeine Vollständigkeitsvermutung, die durch substantiierten Vortrag,<br />
auch mithilfe von extrinsic evidence, entkräftet werden kann.<br />
2. Auswirkungen auf die Behandlung von Integrationsklauseln<br />
a) Entfallende Probleme<br />
Die Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen führt in der Konsequenz<br />
dazu, dass sich bestimmte Fragen, die in der amerikanischen Kautelarpraxis<br />
mithilfe von merger clauses geregelt werden, für den englischen<br />
Juristen gar nicht erst stellen. Dazu gehört in erster Linie die Unterscheidung<br />
zwischen partiell und vollständig integrierten Verträgen, die in England<br />
nicht praktiziert wird. Die Behauptung bloßer Vertragsergänzungen<br />
63 Vgl. S. H. Bailey/J. P. L. Ching/M. J. Gunn/D. C. Ormerod, Smith, Bailey and Gunn On<br />
the Modern English Legal System 4 (2002) 15–007.<br />
64 CISG-AC Opinion No. 3, 1.2.2. Vgl. US Const. Amend. VII.<br />
65 So die Formel von Lord Morris in Bank of Australasia v. Palmer, [1897] A. C. 540, 545.<br />
Vgl. ferner Chitty (oben N. 61) 12–096; Guenter Treitel, The Law of Contract 11 (2003) 192 ff.<br />
66 Law Commission Report on the Parol Evidence Rule, Law Com. 154 (1986) Anm. 2.7;<br />
zustimmend Chitty (oben N. 61) 12–099; kritisch Treitel (vorige Note) 193 f.
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
579<br />
und echter Vertragsabweichungen wird dort gleichbehandelt. 67 Für eine Regelung<br />
mittels einer formalisierten Vertragsklausel, wie sie durch die Williston-Regel<br />
in den Vereinigten Staaten hervorgerufen wurde, besteht daher<br />
in England kein Bedürfnis. Zwar prüft auch ein englisches Gericht, ob sich<br />
die Vereinbarung zwischen den Parteien auf den schriftlichen Vertragstext<br />
beschränkt, doch kann es zu dieser Feststellung nach seiner Parol Evidence<br />
Rule immer auch alle außervertraglichen Beweismittel heranziehen.<br />
Ein weiterer Unterschied besteht hinsichtlich des Auslegungswertes der<br />
vorvertraglichen Absprachen bei der Vertragsinterpretation. In den Vereinigten<br />
Staaten ist es keineswegs sicher, inwieweit parol evidence zur Vertragsauslegung<br />
zugelassen wird, so dass eine Klarstellung im Vertrag selbst durch<br />
eine Integrationsklausel in Betracht kommt. Dagegen hat die englische Parol<br />
Evidence Rule mit Vertragsauslegung überhaupt nichts zu tun; sie regelt<br />
nur Abweichungen vom schriftlichen Vertragsinhalt, nicht aber dessen Feststellung.<br />
68 Allerdings gilt in England, anders als in den Vereinigten Staaten,<br />
das Dogma, wonach die Vertragsverhandlungen bei der Vertragsauslegung<br />
unberücksichtigt bleiben müssen. Zwar dürfen die äußeren Umstände (»factual<br />
matrix«), die beiden Parteien bei Vertragsschluss bekannt waren, zum<br />
Verständnis herangezogen werden, und dies sogar gegen einen eindeutigen<br />
Wortlaut. Die eigentlichen vorvertraglichen Absprachen und Vertragsentwürfe<br />
sind dabei jedoch tabu. 69 Damit entfällt auch die gesamte Auslegungsproblematik<br />
aus dem Anwendungsbereich englischer Integrationsklauseln.<br />
70<br />
b) Wirksamkeit<br />
Die englische Rechtsprechung hält Integrationsklauseln prinzipiell für<br />
zulässig und für ein probates Mittel zum Ausschluss außervertraglicher Nebenabreden.<br />
71 Sie stehen und fallen allerdings mit der Wirksamkeit des gesamten<br />
Vertrags, so dass dieser ebenso wie nach amerikanischem Recht stets<br />
mit allen Mitteln angegriffen werden kann. So können die Parteien trotz<br />
67 Vgl. oben bei N. 65.<br />
68 Chitty (oben N. 61) 12–117.<br />
69 Prenn v. Simmonds, [1971] 1 W. L. R. 1381, 1385; Youell v. Bland Welch & Co. Ltd., [1992]<br />
2 Lloyd’s Rep. 127.<br />
70 Die Wirkung von entire agreement clauses auf die Vertragsauslegung wird in der englischen<br />
Judikatur kaum behandelt. Allerdings hat der Court of Appeal in Phillips Petroleum Co.<br />
UK Ltd. v. Snamprogetti Ltd., [2001] 79 Con. L. R. 80, eine behauptete Auslegung auch unter<br />
Hinweis auf eine Integrationsklausel im Vertrag zurückgewiesen, sich dabei jedoch hauptsächlich<br />
darauf gestützt, dass die vorgetragene Interpretation in den tatsächlichen Umständen<br />
ohnehin keine Stütze fände. Vgl. auch ProForce Recruit Ltd. v. The Rugby Group Ltd., [2006]<br />
EWCA 69, wo eine Integrationsklausel restriktiv ausgelegt wurde, so dass sie nur die Vertragsergänzung,<br />
nicht aber die Auslegung eines unklaren Vertragswortlautes ausschließen sollte.<br />
71 Inntrepreneur Pub Co. Ltd. v. East Crown Ltd., [2000] 2 Lloyd’s Rep. 611.
580 olaf meyer RabelsZ<br />
einer entire agreement clause immer nachweisen, dass der Vertrag den wirklichen<br />
Parteiwillen nicht zutreffend wiedergibt und deshalb einer Berichtigung<br />
(rectifi cation) bedarf, 72 oder dass es sich bei der ganzen Transaktion lediglich<br />
um ein Scheingeschäft gehandelt hat. 73<br />
Soweit es die Wirksamkeit der Integrationsklausel selbst betrifft, kommt<br />
als Unwirksamkeitsgrund in Betracht, dass die Parteien nachträglich auf den<br />
Schutz der Integrationsklausel konkludent verzichten. 74 Keine Gültigkeitsprobleme<br />
ergeben sich hingegen aus dem Unfair Contract Terms Act<br />
(UCTA) von 1977, da entire agreement clauses die Haftung für misrepresentation<br />
unberührt lassen und folglich von s. 3 Misrepresentation Act 1967<br />
in der Fassung von ss. 8, 11(1) UCTA nicht erfasst werden. 75<br />
c) Widerleglichkeit<br />
Sind somit die Integrationsklauseln nach englischem Recht zumeist wirksam,<br />
bleibt als nächstes die Frage zu klären, ob englische Richter ihnen auch<br />
immer bedingungslos Folge leisten werden, mit anderen Worten also, ob<br />
eine eindeutig formulierte Integrationsklausel das Vorbringen vertraglicher<br />
Nebenabreden kategorisch ausschließt oder aber lediglich eine widerlegliche<br />
Vermutung für einen solchen Ausschluss begründet. In einer der frühesten<br />
Entscheidungen stellte sich Lord Denning auf den Standpunkt, dass<br />
eine Partei ihr Recht verwirken würde, sich auf eine Integrationsklausel zu<br />
berufen, wenn sie ein klares vorvertragliches Versprechen abgibt und die<br />
andere Seite auf dessen Wirksamkeit vertraut. 76 Ähnlich zurückhaltend gegenüber<br />
einer uneingeschränkten Geltung verhielt sich eine Entscheidung<br />
des Court of Appeal aus dem Jahre 1998, wonach die entire agreement clause<br />
zwar die Vermutung für die Vollständigkeit des Vertrages erhöhe, aber durch<br />
entsprechende Gegenbeweise überwunden werden könne. 77<br />
72 JJ Huber (Investments) Ltd. v. The Private DIY Co. Ltd. (16. 6. 1995; unveröffentlicht,<br />
LEXIS); Law Commission Report on the Parol Evidence Rule, Law Com. 154 (1986)<br />
Anm. 2.15.<br />
73 Oroleum Ltd. v. Sigmoil Resources NV (29. 1. 1991; unveröffentlicht, LEXIS).<br />
74 SAM Business Systems Ltd. v. Hedley & Co., [2003] 1 All E. R. (Comm.) 465.<br />
75 Dazu eingehend unter Punkt III. 2. e).<br />
76 Brikom Investments Ltd. v. Carr and Others, [1979] 2 All E. R. 753. Die konkurrierenden<br />
Lordrichter erreichten dasselbe Ergebnis, griffen in der rechtlichen Konstruktion allerdings<br />
auf den Rechtsverzicht (waiver) anstelle der Verwirkung (promissory estoppel) zurück.<br />
77 Henderson v. Commercial Union Investment Management Ltd. and another (22. 1. 1998; unveröffentlicht,<br />
LEXIS): »Of course, evidence may be adduced which would have the effect of<br />
negativing a clause like that, but we have been referred to no evidence in this case that would<br />
have that effect. That clause seems to me to strengthen the presumption that a written contract<br />
is intended to contain the terms of the bargain between the parties to that contract. What<br />
cannot remain alive is some previous agreement, arrangement or understanding« (per Gibson<br />
L. J.). Ebenso Law Commission Report on the Parol Evidence Rule, Law Com. 154 (1986)<br />
Anm. 2.15.
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
581<br />
Positivere Aufnahme fanden Integrationsklauseln bei Lightman J. in der<br />
viel zitierten Entscheidung Inntrepreneur v. East Crown. 78 Die Klägerin hatte<br />
1996 der Beklagten eine Gaststätte auf 30 Jahre verpachtet. Der Pachtvertrag<br />
war mit einer Bierbezugsverpfl ichtung verbunden, aber Inntrepreneur stellte<br />
bei den Verhandlungen mündlich in Aussicht, dass diese Pfl icht bereits<br />
1998 aufgehoben werden würde. Angesichts der im Vertrag enthaltenen entire<br />
agreement clause zeigte der Richter keine Bereitschaft, dieser behaupteten<br />
Abrede irgendeine rechtliche Beachtung zu schenken: »The purpose of<br />
an entire agreement clause is to preclude a party to a written agreement from<br />
threshing through the undergrowth and fi nding in the course of negotiations<br />
some (chance) remark or statement (often long forgotten or diffi cult<br />
to recall or explain) on which to found a claim such as the present to the<br />
existence of a collateral warranty.« Danach soll bereits eine einfache Integrationsklausel<br />
die Geltendmachung mündlicher Versprechen versperren. Dessen<br />
ungeachtet prüfte er aber anschließend dennoch den behaupteten Vortrag<br />
und kam zu dem Ergebnis, dass eine verbindliche Zusage der Aufhebung<br />
der Bezugspfl icht nicht bewiesen wurde.<br />
Allerdings dürfte die Inntrepreneur-Entscheidung nicht als bedingungslose<br />
Anerkennung von entire agreement clauses im englischen Recht zu werten<br />
sein. Nur ein Jahr später entschied ein anderer Richter am High Court bei<br />
fast identischem Sachverhalt (die Klägerin war die Rechtsnachfolgerin von<br />
Inntrepreneur) zugunsten der Pächter. 79 In diesem Fall lag es für den Richter<br />
aufgrund der Beweise auf der Hand, dass eine Befreiung von der Bezugspfl<br />
icht versprochen worden war, ohne dass es zu dieser Erkenntnis eines<br />
»threshing through the undergrowth« wie im Inntrepreneur-Fall bedurft hätte.<br />
Zudem beurteilte der Richter das Verhalten der Kläger, die bewusst eine<br />
Aufnahme der Zusage in den Vertrag als unnötig hingestellt hatten, als niederträchtig<br />
(»shabby«). Es scheint daher, als ob eine klar nachweisbare Absprache<br />
auch weiterhin ihre Gültigkeit behalten wird, die Integrationsklausel<br />
also nur die Vermutung für die Vollständigkeit des Vertrages verstärkt.<br />
d) Implied terms<br />
Hinsichtlich der ergänzenden Vertragsauslegung bestehen zwischen der<br />
englischen und amerikanischen Rechtslage offenbar keine größeren Unterschiede.<br />
Eine allgemeine entire agreement clause wird eine Vertragsergänzung<br />
durch implied terms grundsätzlich nicht ausschließen. 80 Sie kann aber als<br />
78 Inntrepreneur Pub Co. Ltd. v. East Crown Ltd. (oben N. 71).<br />
79 1406 Pub Company Ltd. v. Hoare and Another (2. 3. 2001; unveröffentlicht, LEXIS).<br />
80 Tatung (UK) Ltd. v. British Satellite Broadcasting Ltd. (19. 3. 1992; unveröffentlicht,<br />
LEXIS); Hotel Services Ltd. v. Hilton International Hotels (UK) Ltd. (5. 2. 1999; unveröffentlicht,<br />
LEXIS).
582 olaf meyer RabelsZ<br />
Indikator gegen eine solche Implikation wirken. 81 Allerdings können Parteien<br />
möglicherweise die ergänzende Auslegung durch eine ausdrückliche<br />
Bestimmung in der Integrationsklausel ausschließen. Dies ist für die Vertragsergänzung<br />
durch Handelsbräuche so entschieden worden. 82 Der Richter<br />
hielt jedoch offen, ob er einer Integrationsklausel auch in den Fällen den<br />
Vorrang vor der Vertragsergänzung einräumen würde, wo letztere zur effektiven<br />
Vertragsdurchführung (business effi cacy) erforderlich ist.<br />
e) Haftung für misrepresentation<br />
Der Schwerpunkt der englischen Rechtsprechung liegt im Bereich der<br />
Auswirkung von entire agreement clauses auf die Haftung für unwahre Tatsachenangaben<br />
bei Vertragsschluss (misrepresentation). 83 Es besteht dabei<br />
Einigkeit dahingehend, dass eine einfache entire agreement clause die Haftung<br />
für misrepresentation nicht ausschließt. 84 Dies liegt darin begründet,<br />
dass die Integration sich nur auf das »agreement« (nichts anderes gilt bei der<br />
Wortwahl »understanding«) bezieht, die misrepresentation aber ohnehin<br />
nicht Bestandteil der vertraglichen Einigung ist. Wegen der gebotenen engen<br />
Auslegung von haftungsausschließenden Klauseln erfasst eine einfache<br />
entire agreement clause also zwar die vertraglichen collateral warranties, aber<br />
nicht die auf der Grenze zum Deliktsrecht stehende misrepresentation.<br />
In der Kautelarpraxis wird daher die Integrationsklausel oft um die Bestätigung<br />
erweitert, dass die Vertragspartner nicht auf vorvertragliche Zusagen<br />
der anderen Seite vertraut haben, um so die Anspruchsvoraussetzung für<br />
eine Haftung für misrepresentation entfallen zu lassen. 85 Die rechtliche Be-<br />
81 Tatung (UK) Ltd. v. British Satellite Broadcasting Ltd. (vorige Note); World Wide Fund for<br />
Nature and Another v. World Wrestling Federation Entertainment Inc. (1. 10. 2001; unveröffentlicht,<br />
LEXIS).<br />
82 Exxonmobil Sales and Supply Corp. v. Texaco Ltd., [2003] 2 Lloyd’s Rep. 686, 690 f. Die<br />
Klausel lautete: »This instrument contains the entire agreement of the parties with respect to<br />
the subject matter hereof and there is no other promise, representation, warranty, usage or<br />
course of dealing affecting it.«<br />
83 Allgemein zur Haftung für misrepresentation Dieter Henrich/Peter Huber, Einführung in<br />
das englische Privatrecht 3 (2003) 61 ff.; P. S. Atiyah, An Introduction to the Law of Contract 5<br />
(1995; Nachdruck 2004) 257 ff.; Treitel (oben N. 65) 330 ff.<br />
84 Alman and Benson v. Associated Newspapers Group Ltd. (20. 6. 1980; unveröffentlicht,<br />
LEXIS); Thomas Witter & Co. Ltd. v. TBP Industries Ltd., [1996] 2 All E. R. 573, 595 ff.; Deepak<br />
Fertilisers & Petrochemicals Corp. Ltd. v. Davy McKee (London) Ltd., [1999] 1 All E. R. (Comm.)<br />
69 (der Vertrag unterlag indischem Recht, aber das Gericht ging mangels Parteivortrags davon<br />
aus, dass <strong>dieses</strong> mit englischem Recht übereinstimmte); Government of Zanzibar v. British Aerospace<br />
(Lancaster House) Ltd. (26. 1. 2000; unveröffentlicht, LEXIS); Inntrepreneur Pub Co. Ltd.<br />
v. East Crown Ltd. (oben N. 71).<br />
85 In Watford Electronics Ltd. v. Sanderson CFL Ltd., [2001] 1 All E. R. (Comm.) 696 lautete<br />
diese Klausel: »The parties agree that these terms and conditions (together with any other<br />
terms and conditions expressly incorporated in the Contract) represent the entire agreement<br />
between the parties relating to the sale and purchase of the Equipment and that no statement
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
583<br />
ständigkeit einer solchen »non-reliance clause« ist noch nicht abschließend<br />
geklärt. Während einige Richter 86 sie als Haftungsausschluss ansehen und<br />
daher den Beschränkungen von s. 3 Misrepresentation Act, s. 11(1) UCTA<br />
unterwerfen, ordnete Chadwick L. J. derartige Klauseln in einer Reihe von<br />
Entscheidungen als Verwirkung der Beweismöglichkeit (evidential estoppel)<br />
ein. 87 Dies hat zwar den Vorteil, dass die Klauselkontrolle nicht mehr anhand<br />
des unbestimmten Kriteriums der Angemessenheit nach s. 11(1) UCTA<br />
erfolgt, dafür sind aber die von der Rechtsprechung an eine Verwirkung<br />
von Beweisen gestellten Anforderungen ungleich strenger. 88 Bemerkenswert<br />
an diesem Ansatz ist zudem, dass damit erstmals ein Problem der Vertragsintegration<br />
auf die prozessuale Schiene verlegt wird, obwohl zuvor alle<br />
Entscheidungen einen materiellrechtlichen Ansatz gewählt haben. 89<br />
3. Zwischenergebnis<br />
Der schwachen Stellung der Parol Evidence Rule in England entspricht<br />
eine eher restriktive Behandlung der Integrationsklauseln durch englische<br />
Gerichte. Die Abgrenzung von teilweise und vollständig integrierten Verträgen<br />
entfällt aus dem Aufgabenbereich der Klausel. Sie dienen damit<br />
hauptsächlich dem Ausschluss von vertraglichen Nebenabreden. In der Regel<br />
werden englische Gerichte Integrationsklauseln nicht als per se verbindlich<br />
einordnen, sondern nur als starkes Indiz für die Geschlossenheit des<br />
schriftlichen Vertrages. Soweit es die Auslegung des Vertragstextes betrifft,<br />
sind die Verhandlungsmaterialien bereits nach dem englischen Common<br />
Law ausgeschlossen, die Klausel erstreckt sich hierauf also nicht.<br />
or representations made by either party have been relied upon by the other in agreeing to enter<br />
into the Contract.«<br />
86 Thomas Witter & Co. Ltd. v. TBP Industries Ltd. (oben N. 84); National Westminster Bank<br />
v. Utrecht-America Finance Co., [2001] 3 All E. R. 733; Government of Zanzibar v. British Aerospace<br />
(Lancaster House) Ltd. (oben N. 84); South West Water Services Ltd. v. International Computers<br />
Ltd., [2001] Lloyd’s Rep. P. N. 353. Offengelassen in Inntrepreneur Pub Co. Ltd. v. East<br />
Crown Ltd. (oben N. 71); vgl. auch Brikom Investments Ltd. v. Carr and Others (oben N. 76).<br />
87 E. A. Grimstead & Son Ltd. v. McGarrigan (27. 10. 1999; unveröffentlicht, LEXIS); Watford<br />
Electronics Ltd. v. Sanderson CFL Ltd. (oben N. 85). Dazu Edwin Peel, Reasonable Exemption<br />
Clauses: L.Q.Rev. 117 (2001) 545 ff. Vgl. ferner bereits McGrath v. Shah, [1987] 57 P &<br />
CR 452, 459 ff.<br />
88 Lowe v. Lombank Ltd., [1960] 1 All E. R. 611. Chadwick L. J. räumt ein, dass der Beweis<br />
der Voraussetzungen eine Vertragspartei vor »insuperable diffi culties« stellen könne, Watford<br />
Electronics Ltd. v. Sanderson CFL Ltd. (oben N. 85).<br />
89 So ausdrücklich Inntrepreneur Pub Co. Ltd. v. East Crown Ltd. (oben N. 71): »The operation<br />
of the clause is not to render evidence of the collateral warranty inadmissible in evidence<br />
[. . .]: it is to denude what would otherwise constitute a collateral warranty of legal effect.«
584 olaf meyer RabelsZ<br />
IV. Der Ansatz im Civil Law<br />
1. Allgemeine Überlegungen<br />
In den Rechtsordnungen des Civil Law gibt es einen der Parol Evidence<br />
Rule vergleichbaren förmlichen Ausschluss von außervertraglichen Abreden<br />
nicht. Die Vertragsauslegung orientiert sich hier regelmäßig mehr am<br />
wirklichen Parteiwillen als an der objektiven Bedeutung des Vertragswortlautes.<br />
90 So hat sich beispielsweise die deutsche Rechtsprechung, welche hier<br />
im Vordergrund der Betrachtung stehen soll, von einer Eindeutigkeitsregel<br />
distanziert und betont, dass selbst ein klarer objektiver Wortsinn keine absolute<br />
Barriere für die Berücksichtigung der äußeren Umstände des Vertragsschlusses<br />
bildet, vielmehr die Eindeutigkeit einer Formulierung erst als<br />
Ergebnis der Auslegung festgestellt werden könne. 91 Die Vorgeschichte des<br />
Vertrages wird dabei regelmäßig zu den auslegungsrelevanten Umständen<br />
gezählt. 92<br />
Die Überlegung, dass Parteien mit der schriftlichen Abfassung des Vertrages<br />
gerade auch Klarheit über das Nichtbestehen von Nebenabreden<br />
schaffen wollten, ist aber auch dem deutschen Recht nicht fremd. Ein funktionales<br />
Äquivalent fi ndet sich im Prozessrecht in Form der Vermutung der<br />
Vollständigkeit und Richtigkeit der Vertragsurkunde. 93 Sie basiert ebenso<br />
wie die Parol Evidence Rule auf dem Erfahrungssatz, dass die Parteien ihre<br />
Rechtsbeziehungen in der Vertragsurkunde abschließend regeln wollen. 94<br />
Anders als ihr formalistisches Pendant im angloamerikanischen Rechtsraum<br />
bedeutet sie aber kein Beweisverbot, sondern lediglich eine Beweiserschwernis.<br />
95 Diejenige Partei, die eine zusätzlich zum schriftlichen Vertragstext<br />
hinzutretende Abrede behauptet, muss daher nicht nur beweisen, dass diese<br />
tatsächlich getroffen wurde, sondern auch, dass sie neben dem Vertragstext<br />
weiterhin Bestand haben soll. Für diesen Zweck darf sie wiederum auf außervertragliche<br />
Materialien zurückgreifen. Vergleichbares gilt in Frankreich<br />
und Italien, wo die Beweisregeln den Zeugenbeweis zum Nachweis von<br />
dem schriftlichen Vertrag widersprechenden Vereinbarungen zwar aus-<br />
90 Dazu Hein Kötz, Vertragsauslegung, Eine rechtsvergleichende Skizze, in: FS Albrecht<br />
Zeuner zum 70. Geburtstag (1994) 219 ff., sowie die rechtsvergleichenden Nachweise bei<br />
Anm. 2 zu Art. 5:101 PECL.<br />
91 BGH 19. 12. 2001, NJW 2002, 1260 (1261).<br />
92 Vgl. etwa BGH 8. 7. 1999, NJW 1999, 3191; 13. 3. 2003, NJW 2003, 2235 (2236);<br />
weitere Nachweise in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (-Vogenauer) (2003) §§ 133,<br />
157, Rz. 52 (zitiert: HKK [-Vogenauer]); Hanns Prütting/Gerhard Wegen/Gerd Weinreich (-Ahrens),<br />
BGB, Kommentar (2006) § 133 Rz. 35.<br />
93 RG 13. 6. 1902, RGZ 52, 23 (25 f.); BGH 5. 2. 1999, NJW 1999, 1702; 5. 7. 2002, NJW<br />
2002, 3164.<br />
94 Alexander Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften (1966) 217 ff.<br />
95 HKK (-Vogenauer) (oben N. 92) §§ 133, 157, Rz. 83.
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
585<br />
schließen, Geschäfte des Handelsverkehrs hiervon jedoch bezeichnenderweise<br />
ausgenommen sind, um die Flexibilität der Kommunikationsmittel im<br />
modernen Geschäftsverkehr zu erhalten. 96 Somit ist der Beweis des <strong>Inhalt</strong>s<br />
der Vertragsvereinbarung mithilfe der Verhandlungsgeschichte in wichtigen<br />
kontinentalen Rechtsordnungen im Grundsatz zulässig, die Beweiskraft der<br />
schriftlichen Formulierung daher nie absolut. Hingegen ist die Parol Evidence<br />
Rule zwar durch viele Ausnahmen durchbrochen, doch gilt vor allem<br />
im amerikanischen Common Law der Grundsatz nach wie vor, dass die<br />
Vertragsverhandlungen den objektiven Wortlaut des schriftlichen Vertrages<br />
nicht mehr beeinfl ussen können und es zu ihrer Zulassung im Einzelfall stets<br />
einer besonderen Rechtfertigung bedarf. 97<br />
Zu diesem Befund passt die eher spärliche Verbreitung von Integrationsklauseln<br />
im kontinentaleuropäischen Raum. Sie passen nur bedingt zu der<br />
üblichen knappen Vertragsgestaltung, die in großem Maße auf die ergänzende<br />
Geltung des dispositiven Gesetzesrechts und damit auf vertragsexterne<br />
Faktoren vertrauen kann. Eine Besonderheit bilden insoweit internationale<br />
Verträge, besonders wenn daran Parteien aus dem angloamerikanischen<br />
Rechtsraum beteiligt sind. Im internationalen Rechtsverkehr, wo amerikanische<br />
Vertragsmuster weit verbreitet und die Verträge entsprechend detailreich<br />
sind, haben Integrationsklauseln sich ihren festen Platz erobert. 98 Unterliegt<br />
der Vertrag einer Rechtsordnung des Civil Law, so muss der rechtliche<br />
Ursprung der Integrationsklausel im Common Law bei ihrer<br />
Anwendung Berücksichtigung fi nden. 99<br />
Dabei ergibt sich nun folgendes Problem: In ihrem Ursprungsland, den<br />
Vereinigten Staaten, dient die Integrationsklausel zur Verstärkung der Parol<br />
Evidence Rule, also zur Fortschreibung einer im amerikanischen Common<br />
Law fest verankerten und akzeptierten Regel. Die Parteien vermeiden durch<br />
die Integration in erster Linie die Lücken und Unsicherheiten, die sich bei<br />
der Anwendung der Parol Evidence Rule sonst ergeben würden. Daher<br />
können sie mit einer positiven Aufnahme der Klausel durch die Gerichte<br />
rechnen. Bereits in England zeigen sich aber Unterschiede: Auch hier ist die<br />
Parol Evidence Rule bekannt, hat aber im Verlauf der Geschichte viel von<br />
ihrem ursprünglichen Gewicht eingebüßt. Entsprechend eingeschränkt ist<br />
die Bedeutung der entire agreement clauses. Im kontinentalen Rechtskreis<br />
gibt es keinen vergleichbaren formalen Ausschluss der Verhandlungsmateri-<br />
96 Vgl. Art. 1341 franz. Code civil, Artt. 2272, 2274 ital. Codice civile, sowie Zweigert/<br />
Kötz (oben N. 14) 363 ff.<br />
97 Zweigert/Kötz (oben N. 14) 403.<br />
98 Crivellaro (oben N. 7) 783; Rawach 224.<br />
99 Hondius 27 ff.; Fontaine/de Ly 148. Allgemein zur Bewertung ausländischer Elemente in<br />
Verträgen Günter Weick, Zur Auslegung von internationalen juristischen Texten, in: Geschichtliche<br />
Rechtswissenschaft, Freundesgabe für Alfred Söllner zum 60. Geburtstag (1990)<br />
607 (612 ff.).
586 olaf meyer RabelsZ<br />
alien von der Vertragsauslegung. Die Integrationsklausel kann also nicht auf<br />
einer bereits vorhandenen Rechtsregel aufbauen, vielmehr würden die Parteien<br />
mit ihr geradezu eine »private« Parol Evidence Rule unter Verdrängung<br />
der gesetzlichen Vertragsschluss- und Auslegungsregeln einführen. Es<br />
liegt auf der Hand, dass sich dabei viel weiterreichende Hindernisse und<br />
Probleme ergeben müssen als im angloamerikanischen Recht. 100<br />
2. Einordnung im materiellen Recht oder im Prozessrecht<br />
Für die rechtliche Beurteilung gilt es zunächst zu klären, ob es sich bei<br />
Integrationsklauseln um eine Regelung des Vertragsinhaltes und damit um<br />
materielles Recht oder um eine Beschränkung der Beweismöglichkeiten,<br />
also um einen Prozessvertrag handelt. Dies ist nicht nur für die Anforderungen<br />
an die Wirksamkeit der Klausel entscheidend, sondern bereits für die<br />
Festlegung, welches Recht hierauf überhaupt zur Anwendung gelangt.<br />
Im angloamerikanischen Rechtsraum werden Integrationsklauseln regelmäßig<br />
im Zusammenhang mit der Parol Evidence Rule und somit auf materiellrechtlicher<br />
Basis behandelt. In Deutschland ist die Vermutung der<br />
Vollständigkeit der Vertragsurkunde hingegen im Prozessrecht angesiedelt.<br />
Auch für Integrationsklauseln ist schon eine prozessuale Qualifi kation vertreten<br />
worden. 101 Dies dürfte allerdings kaum mit dem Parteiwillen in Einklang<br />
gebracht werden können. Es geht den Vertragsgestaltern in erster Linie<br />
eben nicht darum, nur die Beweisbarkeit einer Nebenabrede unabhängig<br />
von ihrer materiellrechtlichen Richtigkeit auszuschließen, sondern den außervertraglichen<br />
Absprachen soll jegliche juristische Verbindlichkeit genommen<br />
werden, die ihnen anderenfalls zukommen würde. 102 Die Integration<br />
zielt auf den Vertragsinhalt ab. Wäre eine prozessuale Wirkung beabsichtigt,<br />
würde statt des vereinbarten Vertragsstatuts aber das Verfahrensrecht<br />
des Forums über die Wirksamkeit der Integrationsklausel entscheiden.<br />
Überhaupt ist die Privatautonomie im Prozess weitreichenden Beschränkungen<br />
unterworfen, wodurch die Integrationsklausel leerzulaufen droht. 103<br />
In Deutschland kann der Richter nach § 142 ZPO von Amts wegen die<br />
Vorlage von Urkunden, also auch von vorvertraglichen Schriftstücken anordnen,<br />
und es ist angesichts der Bedeutung <strong>dieses</strong> Verfahrens für die vollständige<br />
Sachverhaltsaufklärung mehr als zweifelhaft, ob eine Integrationsklausel<br />
eine solche Anordnung verhindern würde, wenn sie gleichzeitig die<br />
materielle Richtigkeit der Urkunde unberührt ließe. 104 Interessengerecht ist<br />
100 Darauf hat als erster Hondius 30 hingewiesen.<br />
101 Kaufmann 210; wohl auch Fontaine/de Ly 163.<br />
102 Lüderitz (oben N. 94) 219.<br />
103 Das räumen auch Fontaine/de Ly 164 ein.<br />
104 Kaufmann 214 hält es gar für ratsam, die von Amts wegen vom Gericht anzuordnenden
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
587<br />
daher nur eine Interpretation, wonach die Klausel den außervertraglichen<br />
Absprachen nicht nur ihren Beweiswert nimmt, sondern auch unmittelbar<br />
die Vertragsbeziehung inhaltlich gestaltet.<br />
3. Widerleglichkeit<br />
Grundsätzlich sind außervertragliche Abreden nach dem im Civil Law<br />
vorherrschenden Verständnis in sehr viel stärkerem Maße beachtlich als im<br />
Common Law. Da ihre Abbedingung diesem Vertragsverständnis zuwiderläuft,<br />
wird die Klausel es schwer haben, vor Gericht uneingeschränkte Verbindlichkeit<br />
beanspruchen zu können, besonders da die Klarheit des Vertragsinhaltes<br />
auf Kosten der Gerechtigkeit im Einzelfall erkauft sein kann.<br />
Es ist aus diesem Grunde kaum denkbar, dass ein Richter den Beweisvortrag<br />
zu außervertraglichen Umständen nur aufgrund einer Integrationsklausel<br />
nicht einmal zur Kenntnis nehmen wird. Stattdessen ist zu erwarten, dass<br />
die Entscheidung von der Auslegung abhängig gemacht wird, ob eine im<br />
Vorfeld getroffene Absprache tatsächlich durch die Integration ersatzlos abbedungen<br />
werden sollte. 105<br />
So hat die deutsche Rechtsprechung in Vollständigkeitsklauseln bislang<br />
keine über die ohnehin anerkannte Vermutung der Vollständigkeit der Vertragsurkunde<br />
hinausgehende Regelung erblicken können. Dies soll selbst<br />
dann gelten, wenn die Klausel nicht ausdrücklich als Vermutung formuliert<br />
ist, sondern den Vorrang des Vertragstextes generell anordnet. 106 Hierin<br />
zeigt sich der erste grundlegende Unterschied zum Common Law: Trotz der<br />
relativ strengen Maßstäbe, die sonst im Verbandsklageverfahren bei der<br />
rechtlichen Prüfung von AGB angelegt werden, hält es der Bundesgerichtshof<br />
(BGH) offenbar für selbstverständlich, dass eine Vertragspartei eine übliche<br />
Vollständigkeitsklausel lediglich als widerlegliche Vermutung begreifen<br />
werde. Die Gefahr, so der BGH, dass der Kunde es aufgrund der Klausel<br />
Beweisaufnahmen ausdrücklich in der Integrationsklausel auszunehmen. Das ist in der Praxis<br />
nun überhaupt nicht gebräuchlich und unterstreicht nur umso mehr, dass es sich um eine<br />
Frage des materiellen Rechts handelt.<br />
105 Fontaine/de Ly 158. Vgl. außerdem Yves Derains, Valeur interpretative des negociations,<br />
in: Formation of Contract and Precontractual Liability (1990) 309 (321) (ICC-Publikation<br />
Nr. 440/9), der einen unveröffentlichten Schiedsspruch zitiert, in dem eine Vertragsergänzung<br />
trotz entire agreement clause zugelassen wurde. Derains stellt dazu fest: »Such decision<br />
shows that as soon as the arbitrators are convinced that a written agreement is just the top of<br />
the iceberg, no clause will be suffi cient for obliging them to refrain from entering into the<br />
contractual relationship as they are.«<br />
106 BGH 26. 11. 1984, BGHZ 93, 29 (61) zu der Klausel: »Soweit in diesem Vertrag nicht<br />
ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, hat O. [. . .] keine Zusagen gemacht. Weitere mündliche<br />
oder schriftliche Vereinbarungen oder Absprachen zwischen den Parteien, die diesen<br />
Vertrag oder einen der darin geregelten Gegenstände betreffen, bestehen nicht.«
588 olaf meyer RabelsZ<br />
gar nicht erst wage, den Gegenbeweis anzutreten, sei nicht signifi kant größer<br />
als bei jedem schriftlich fi xierten Vertragswerk, das den Eindruck erweckt,<br />
die getroffenen Abreden abschließend und erschöpfend wiederzugeben.<br />
107 Der Rechtsgedanke einer unwiderleglich abschließenden Vertragsurkunde,<br />
wie er der Parol Evidence Rule zugrunde liegt, ist also nach dem<br />
Verständnis des BGH dem deutschen Publikum so fremd, dass es auch eine<br />
gewöhnliche Vollständigkeitsklausel nicht in diesem Sinne verstehen muss.<br />
Ein zweiter Unterschied betrifft die beweisrechtliche Wirkung der Klausel.<br />
Während der Parol Evidence Rule jedenfalls historisch die Idee eines<br />
Beweiserhebungsverbots zugrunde liegt, die Partei also schon gar nicht mit<br />
ihrem Vorbringen außervertraglicher Abreden gehört werden soll, vermag<br />
die Vermutung im deutschen Recht die Beweiserhebung nicht auszuschließen.<br />
Dies hat der BGH etwa in einem Fall festgestellt, wo Geschäftsanteile<br />
für einen symbolischen Preis von 1,- DM verkauft worden waren und der<br />
Veräußerer sich zudem zur Zahlung einer weiteren Million an den Erwerber<br />
verpfl ichtet hatte. Der Rechtsnachfolger des Veräußerers verlangte <strong>dieses</strong><br />
Geld zurück, da es nach einer mündlichen Nebenabrede nur zweckgebunden<br />
zur Sanierung oder Liquiditätsüberbrückung hätte verwendet werden<br />
dürfen. Diese Zweckbindung war im Vertrag, der im Übrigen eine Vollständigkeitsklausel<br />
enthielt, nicht vorgesehen. Dennoch, so der BGH, hätte dem<br />
Kläger Gelegenheit zum Zeugenbeweis der Nebenabrede gegeben werden<br />
müssen. Die Vermutung der Vollständigkeit könne sich allenfalls auf die Beweiswürdigung<br />
beziehen, die Beweiserhebung aber nicht einmal dann ausschließen,<br />
wenn die Behauptung wenig wahrscheinlich sei. 108 Zwar hat sich<br />
auch die amerikanische und englische Judikatur in neuerer Zeit der Zulassung<br />
der Beweise nicht mehr generell versperrt, jedoch scheint die grundsätzliche<br />
Regel demgegenüber immer noch anders zu lauten und die Ausnahme<br />
einzelfallabhängig immer nur dann gewährt zu werden, wenn der<br />
Richter überzeugt ist, dass der Beweis der Nebenabrede gelingen kann.<br />
Schließlich liegen auch die inhaltlichen Anforderungen an den Gegenbeweis<br />
nicht wesentlich höher als bei der ohnehin bestehenden Vermutung für<br />
die Vollständigkeit der Urkunde. Beweisbelastet ist die Partei, die eine vom<br />
schriftlichen Vertrag abweichende oder diesen ergänzende Nebenabrede behauptet.<br />
Diese muss nicht nur nachweisen, dass eine solche Vereinbarung<br />
überhaupt getroffen wurde, sondern auch, dass sie neben dem schriftlichen<br />
Vertrag weiter Bestand haben sollte. 109 Dies geht nicht grundsätzlich über<br />
die ohnehin bestehende Beweisverteilung hinaus. 110 Es geht eben nach deut-<br />
107 BGH 24. 6. 1999, NJW 2000, 207 (208). Zustimmend Bamberger/Roth (-Schmidt)<br />
§ 305b Rz. 18; Heinrichs, EWiR § 9 AGBG 1/2000, 1 f.<br />
108 BGH 29. 9. 1999, NJW-RR 2000, 273 (275).<br />
109 BGH 29. 9. 1999 (vorige Note 274; OLG Düsseldorf 8. 2. 2001, OLG-Report Düsseldorf<br />
2001, 239 (240).<br />
110 Vgl. nur BGH 19. 3. 1980, NJW 1980, 1680 (1681).
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
589<br />
schem Recht nicht darum, mithilfe einer Vollständigkeitsklausel eine gesetzlich<br />
bereits bekannte Integration des Vertrages herbeizuführen. Alles,<br />
was die Klausel bewirkt, ist die Bestätigung einer Vermutungsregel, ohne<br />
aber an der Widerleglichkeit dieser Vermutung etwas zu ändern. Auch die<br />
Anforderungen an die Widerlegung dürften nicht so hoch anzusetzen sein,<br />
dass dies faktisch einer Unwiderleglichkeit gleichkommt. So hat der BGH<br />
zugunsten der klauselrechtlichen Zulässigkeit von Vollständigkeitsklauseln<br />
unter anderem ins Feld geführt, dass formularmäßig geschaffenen Beweisanzeichen<br />
in der Praxis bei der Beweiswürdigung regelmäßig ohnehin keine<br />
entscheidende Bedeutung zugemessen werde. 111<br />
Integrationsklauseln dürften daher lediglich zur Folge haben, dass sie die<br />
Vermutung für die Vollständigkeit der Vertragsurkunde stärken, ohne aber<br />
den Gegenbeweis gänzlich auszuschließen. 112 Als problematisch können sich<br />
etwa im Vorfeld zugesicherte Eigenschaften des Vertragsgegenstandes erweisen.<br />
113 Auch dürfte das Gewicht einer bloß formularvertraglichen Klausel<br />
geringer sein als eine Regelung in einem ausgehandelten Vertragstext.<br />
114<br />
4. Wirksamkeit<br />
Als Regelung des Vertragsinhalts gilt für Integrationsklauseln auch im<br />
Civil Law das Prinzip der Vertragsfreiheit. An ihrer grundsätzlichen Zulässigkeit<br />
bestehen daher keine Zweifel. 115 Damit steht aber noch nicht fest, ob<br />
der Vertragsfreiheit der Parteien bei der Abbedingung vorvertraglicher Abreden<br />
im kontinentaleuropäischen Rechtskreis durch zwingende Vorschriften<br />
engere Grenzen gesetzt sind als im Common Law.<br />
Wie auch im amerikanischen und englischen Recht dürfte die Integrationsklausel<br />
Einwendungen gegen die Wirksamkeit des Vertrages unangetastet<br />
lassen; zu denken ist dabei etwa an Willensmängel wie Irrtum, Täuschung<br />
oder Scheingeschäfte. 116 Nicht erfasst werden ferner solche Garantien,<br />
die sich bereits aus dem Gesetz selbst ergeben. 117<br />
111 BGH 24. 6. 1999 (oben N. 107) 208.<br />
112 Lüderitz (oben N. 94) 219, 222.<br />
113 Hondius 32.<br />
114 Lüderitz (oben N. 94) 220.<br />
115 Für Italien Monti, in: Principles of European Contract Law and Italian Law, A Commentary<br />
(2005) 103; für die Niederlande Schrama, in: The Principles of European Contract<br />
Law and Dutch Law, A Commentary (2002) 94; für Spanien Perales Viscasillas, in: Comentario<br />
a los principios de UNIDROIT para los contratos del comercio internacional (1999) Art. 2.17<br />
Anm. 2 a; für Frankreich und Belgien Fontaine/de Ly 156 f.<br />
116 Fontaine/de Ly 148 f.; Hondius 31; Lüderitz (oben N. 94) 219; Rawach 226.<br />
117 Hubert Dubout, Les clauses d’entire agrément (accord complet) dans les contrats inter-
590 olaf meyer RabelsZ<br />
Zweifelhaft ist, ob die Klausel als Mittel zum Haftungsausschluss eingeordnet<br />
und den dafür geltenden Beschränkungen unterworfen werden kann,<br />
wie englische Gerichte dies häufi ger für die Kombination von entire agreement<br />
clauses mit non-reliance clauses entschieden haben. Jedenfalls scheitert<br />
die Anwendung von § 276 III BGB schon daran, dass die Integrationsklausel<br />
die Verantwortung für vorsätzlich getätigte Versprechungen erst nach deren<br />
Äußerung wieder entfallen ließe. Aber abgesehen davon geht es bereits nicht<br />
um den Ausschluss der Haftung für vorvertragliche Zusagen, sondern es soll<br />
bei Eingehung des Vertrages überhaupt keine Bindung an irgendwelche zuvor<br />
getätigten Aussagen eintreten. Eventuellem Missbrauch kann in geeigneten<br />
Fällen besser durch eine einschränkende Auslegung der Klausel entgegengewirkt<br />
werden.<br />
Für eine <strong>Inhalt</strong>skontrolle bleiben damit die Regelungen über allgemeine<br />
Geschäftsbedingungen und, als letzte Maßnahme, über Treu und Glauben.<br />
Eine AGB-Kontrolle kann dabei natürlich nur bei einer formularmäßigen<br />
Verwendung der Integrationsklausel eingreifen und ist in den praktisch bedeutsamen<br />
Fällen internationaler Handelsverträge, in denen auf beiden Seiten<br />
des Geschäfts erfahrene Unternehmer stehen, meist nur eingeschränkt<br />
möglich. 118 Im deutschen Recht erfolgt die Kontrolle gemäß § 307 I BGB<br />
anhand der Frage, ob eine Vollständigkeitsklausel den Vertragspartner des<br />
Verwenders unangemessen benachteiligt. Dies hat der BGH aufgrund seiner<br />
dargelegten restriktiven Auslegung der Klauseln konsequenterweise verneint.<br />
119 Da die Vollständigkeitsklausel nur die ohnehin bereits bestehende<br />
Vermutung für die Vollständigkeit und Richtigkeit der Vertragsurkunde<br />
wiederhole, beinhalte sie auch keine unangemessene Benachteiligung. Die<br />
Entscheidung wird von Dörner kritisiert, da die zugrundeliegende Klausel<br />
eben nicht als Vermutung, sondern als unwiderlegliche Feststellung der Unwirksamkeit<br />
formuliert gewesen sei. Diese Feststellung sei wegen des Vorrangs<br />
der Individualabrede (nunmehr geregelt in § 305b BGB) unrichtig.<br />
Sollte aber tatsächlich nur eine Vermutung gewollt sein, verstoße die Klausel<br />
jedenfalls gegen das Transparenzgebot (§ 307 I 2 BGB), da ein Verbraucher<br />
dies regelmäßig nicht erkennen könne. 120 Die überwiegende Auffassung teilt<br />
jedoch die enge Interpretation des BGH, wonach die Standardformulierung<br />
einer Vollständigkeitsklausel ohne weiteres als bloße Vollständigkeitsvermu-<br />
nationaux: intérêt et précautions d’utilisation: Cahiers juridiques et fi scaux de l’exportation<br />
1989, 193 (204 f.).<br />
118 Vgl. in Deutschland § 310 I BGB; in den Niederlanden schränkt Art 6:235 BW den<br />
Schutz auf Verbraucher und kleinere Unternehmer ein; zur AGB-Kontrolle von Integrationsklauseln<br />
in den Niederlanden Schrama (oben N. 115) 95. Die Wirksamkeit von Integrationsklauseln<br />
unter dem deutschen Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen analysiert Kaufmann<br />
217 ff., allerdings auf der Basis der Einordnung als Beweisbeschränkung.<br />
119 BGH 26. 11. 1984 (oben N. 106) 61; 24. 6. 1999 (oben N. 107) 208.<br />
120 Dörner, WuB IV.C. § 9 AGBG 2.00, 186 f.
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
591<br />
tung erkennbar sein soll. 121 Die Zulässigkeit einer eindeutig als unwiderleglich<br />
formulierten Klausel hat der BGH offengelassen; 122 solche Fälle sind<br />
bislang nicht bekannt geworden und wohl auch eher nicht zu erwarten.<br />
Nach Treu und Glauben kommt schließlich unter Umständen in Betracht,<br />
dass eine Partei die Möglichkeit, sich auf die Integration zu berufen, verwirkt.<br />
123 Das dürfte besonders dann der Fall sein, wenn eine Seite zunächst<br />
den Vertragsschluss durch vollmundige Versprechen vorantreibt und dann<br />
im Widerspruch zu diesem Verhalten im Vertragstext auf einer Integrationsklausel<br />
besteht (venire contra factum proprium).<br />
5. Auslegung des Vertrages<br />
Auf besonders große Schwierigkeiten werden die Parteien im Civil Law<br />
stoßen, wenn sie neben der Verbindlichkeit außervertraglicher Absprachen<br />
auch noch deren Heranziehung zur Auslegung des schriftlichen Vertrages<br />
ausschließen wollen. Im Gegensatz zum Common Law steht bei der Vertragsauslegung<br />
auf dem Kontinent nicht die objektive Wortbedeutung, sondern<br />
der wirkliche Wille der Parteien im Vordergrund. 124 Die dem Vertrag<br />
vorausgegangenen Verhandlungen werden dabei, abweichend von der Lage<br />
im englischen Recht, zur Ermittlung des wirklichen Willens herangezogen.<br />
Ob diese Auslegungsregel uneingeschränkt der Parteidisposition unterliegt,<br />
ist zumindest fraglich.<br />
Zuerst bedarf die Integrationsklausel selbst der Auslegung daraufhin, ob<br />
sie die Vertragsauslegung überhaupt erfassen soll. Anders als im angloamerikanischen<br />
Raum, wo der interpretative Wert des Verhandlungsmaterials<br />
bereits nach dem einschlägigen Fallrecht beschränkt ist, kann einer Partei<br />
mit zivilistischem Hintergrund nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass<br />
sie mit der Integration zugleich auch die Auslegung des Vertrages habe ausschließen<br />
wollen. Eher dürfte es der berechtigten Erwartung der Parteien<br />
entsprechen, dass Unklarheiten im Vertrag nach der ihnen vertrauten gesetzlichen<br />
Regel auch durch den Rückgriff auf vorvertragliche Materialien<br />
beseitigt werden dürfen. 125 Jedenfalls wird es für eine Ausdehnung der Integrationsklausel<br />
auf den Auslegungswert der vorvertraglichen Materialien<br />
regelmäßig einer ausdrücklichen dahingehenden Klarstellung bedürfen. 126<br />
121 Bamberger/Roth (-Schmidt) § 305b Rz. 18; Heinrichs, EWiR § 9 AGBG 1/2000, 1 f.;<br />
wohl auch Münchener Kommentar zum BGB5 (-Basedow) II (2007) § 305b Rz. 13.<br />
122 BGH 26. 11. 1984 (oben N. 106) 61.<br />
123 Hondius 31; Monti (oben N. 115) 104.<br />
124 §§ 133, 157 BGB; Art. 1156 franz. Code civil; Art. 1362 I ital. Codice civile; Art. 1281<br />
span. Código civil; Art. 18 I OR.<br />
125 Rawach 225.<br />
126 Hondius 30; Rawach 224 f.; anders anscheinend Dubout (oben N. 117) 197.
592 olaf meyer RabelsZ<br />
Die bloße Feststellung, der Vertrag enthalte die gesamte Vereinbarung der<br />
Parteien und mündliche Nebenabreden seien nicht getroffen, hat regelmäßig<br />
nicht bereits den Ausschluss der Interpretation durch Rückgriff auf die<br />
Verhandlungsmaterialien zur Folge. 127<br />
Aber auch dann, wenn die Parteien die Auslegungsbeschränkung explizit<br />
in die Integrationsklausel aufnehmen, um die freie Vertragsinterpretation<br />
des Civil Law abzubedingen, 128 bleibt der Erfolg dieser Maßnahme doch<br />
zweifelhaft. Angesichts der überragenden Bedeutung von Treu und Glauben<br />
bei der Ermittlung des wirklichen Parteiwillens stößt die Integration<br />
überall dort an ihre Grenzen, wo Ordnungsinteressen der Parteidisposition<br />
entzogen sind (Schrankenfunktion von Treu und Glauben). 129 Weist der<br />
Vertrag zudem solche Unklarheiten auf, die seine Wirksamkeit beeinträchtigen<br />
können (etwa nach § 155 BGB), wird man ebenfalls zunächst eine<br />
Auslegung anhand der Vertragsverhandlungen durchführen müssen. Es entspricht<br />
erfahrungsgemäß eher dem Interesse der Parteien, die Integrationsklausel<br />
zu opfern als den ganzen Vertrag. 130<br />
V. Integrationsklauseln im Internationalen Vertragsrecht<br />
1. Überblick<br />
Während Common Law-Gerichte, besonders in den Vereinigten Staaten,<br />
der privatautonomen Integration des Vertrages im Grundsatz wohlwollend<br />
gegenüberstehen, zeigen die Stellungnahmen aus den Rechtsordnungen des<br />
Civil Law ihnen gegenüber deutlich mehr Zurückhaltung. Dazwischen liegt<br />
der Bereich der hybriden Rechte, in denen Elemente aus Common Law und<br />
Civil Law zu einem ausgeglichenen Kompromiss vereint wurden, also im<br />
hier einschlägigen Bereich des allgemeinen Vertragsrechts insbesondere das<br />
UN-Kaufrecht (CISG), die UNIDROIT Principles of International Commercial<br />
Contracts und die Principles of European Contract Law (PECL).<br />
Diese Regelwerke sind autonom, also nicht aus einem bestimmten nationalen<br />
Vorverständnis heraus auszulegen. 131 Es fragt sich dann, ob sich be-<br />
127 So zum italienischen Recht ein unveröffentlichter Schiedsspruch der Camera Arbitrale<br />
Nazionale e Internazionale di Milano vom 28. 11. 2002 (Zusammenfassung unter ).<br />
128 Crivellaro (oben N. 7) 782 f.; auch Fontaine/de Ly 154 f. halten einen Ausschluss der<br />
Auslegungsfunktion in bestimmten Fällen für sinnvoll, da die Vertragsverhandlungen oftmals<br />
nicht zu einer Klärung beitragen, sondern nur bestätigen würden, dass es verschiedene Interpretationsmöglichkeiten<br />
gibt.<br />
129 Fontaine/de Ly 156; Hondius 31. Vgl. auch die rechtsvergleichenden Anmerkungen zu<br />
Art. 2:105 PECL.<br />
130 Rawach 226.<br />
131 Art. 7(1) CISG; Art. 1.6 UNIDROIT Principles; Art. 1:106(1) PECL.
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
593<br />
züglich der Beurteilung <strong>dieses</strong> Klauseltyps der amerikanische Pragmatismus<br />
oder die kontinentaleuropäische Skepsis durchsetzen wird.<br />
Keine ausdrückliche Regelung haben Integrationsklauseln im CISG erfahren,<br />
so dass die Lösung dort über die allgemeinen Vorschriften gefunden<br />
werden muss. Hingegen widmen die Principles diesem Problem jeweils eine<br />
eigene Vorschrift:<br />
Art. 2.1.17 UNIDROIT Principles<br />
“A contract in writing which contains a clause indicating that the writing completely<br />
embodies the terms on which the parties have agreed cannot be contradicted<br />
or supplemented by evidence of prior statements or agreements. However,<br />
such statements or agreements may be used to interpret the writing.”<br />
Art. 2:105 PECL 132<br />
“(1) If a written contract contains an individually negotiated clause stating that<br />
the writing embodies all the terms of the contract (a merger clause), any prior<br />
statements, undertakings or agreements which are not embodied in the writing<br />
do not form part of the contract.<br />
(2) If the merger clause is not individually negotiated it will only establish a presumption<br />
that the parties intended that their prior statements, undertakings or<br />
agreements were not to form part of the contract. This rule may not be excluded<br />
or restricted.<br />
(3) The parties’ prior statements may be used to interpret the contract. This rule<br />
may not be excluded or restricted except by an individually negotiated clause.<br />
(4) A party may by its statements or conduct be precluded from asserting a merger<br />
clause to the extent that the other party has reasonably relied on them.”<br />
Die Wirksamkeit der Klausel wird vom CISG nicht behandelt, sondern<br />
richtet sich nach dem unvereinheitlichten nationalen Recht. 133 Die Principles<br />
regeln zwar auch die Gültigkeit des Vertrages, enthalten aber keine Vorschriften,<br />
welche die Wirksamkeit der privatautonomen Vertragsintegration<br />
grundsätzlich in Frage stellen würden. Im Gleichlauf mit der angloamerikanischen<br />
Rechtsprechung dürfte jedenfalls immer der Beweis solcher Tatsachen<br />
zulässig sein, die zur Unwirksamkeit des gesamten Vertrages einschließlich<br />
der merger clause führen. In diesen Fällen ist die Klausel selbst<br />
vom Nichtigkeitsgrund infi ziert. Einigkeit scheint weiterhin dahingehend<br />
zu bestehen, dass eine Integrationsklausel Handelsbräuche nur dann ausschließt,<br />
wenn dies in ihrem Wortlaut ausdrücklich klargestellt wird. 134 Als<br />
132 Die Vorschrift wurde mit lediglich sprachlichen Anpassungen auch in den Entwurf<br />
eines Gemeinsamen Referenzrahmens übernommen, vgl. Art. II.-4:104 DCFR.<br />
133 Peter Schlechtriem/Ingeborg Schwenzer (-Schmidt-Kessel), Kommentar zum Einheitlichen<br />
UN-Kaufrecht 4 (2004) Art. 8 Anm. 35; Staudinger (-Magnus), Kommentar zum Bürgerlichen<br />
Gesetzbuch mit Nebengesetzen, Neubearbeitung 2005, Wiener UN-Kaufrecht (CISG)<br />
(2005) Art. 8 Anm. 9.<br />
134 So zum CISG Stephen Bainbridge, Trade Usages in International Sales of Goods, An<br />
Analysis of the 1964 and 1980 Sales Conventions: Va. J. Int. L. 24 (1984) 619 (640); CISG-AC
594 olaf meyer RabelsZ<br />
problematische Bereiche verbleiben damit vor allem das Verhältnis zur Vertragsauslegung<br />
sowie die zwingende Schlüssigkeit der Klausel.<br />
2. Auslegung des Vertrages<br />
Am deutlichsten nehmen die UNIDROIT Principles die Interpretationsfunktion<br />
der Vertragsverhandlungen aus dem Anwendungsbereich der Integrationsklausel<br />
aus (Art. 2.1.17 Satz 2 UNIDROIT Principles). 135 Dies ist<br />
konsequent im Lichte der korrespondierenden Vertragsauslegungsregeln<br />
(Artt. 4.1 ff. UNIDROIT Principles), welche die Bedeutung des wirklichen<br />
Parteiwillens betonen und starre Bindungen an ein plain meaning des Wortlauts<br />
ablehnen. 136 Zur Ermittlung des Parteiwillens erlaubt Art. 4.3 (a) UNI-<br />
DROIT Principles ausdrücklich den Rückgriff auf die vorvertraglichen<br />
Verhandlungen. Damit stehen die Regeln in dieser Frage dem Konzept des<br />
Civil Law näher als der angloamerikanischen Tradition.<br />
Komplizierter ist der Ansatz der PECL, die ebenfalls merger clauses im<br />
Regelfall nicht als für die Vertragsauslegung relevant erachten (Art. 2:105[3]<br />
PECL). Während entsprechende Ausdehnungsversuche in Formularverträgen<br />
immer unwirksam sind, soll den Parteien aber die Möglichkeit verbleiben,<br />
mittels einer individuell ausgehandelten Klausel die Integration auch<br />
hinsichtlich des Auslegungswertes vorvertraglicher Äußerungen herbeizuführen.<br />
Damit entsteht jedoch eine Diskrepanz zu den Auslegungsmaximen<br />
der PECL, die wie die UNIDROIT Principles in erster Linie auf den wirklichen<br />
Parteiwillen abstellen 137 und zur Feststellung desselben unter anderem<br />
auf die Vertragsverhandlungen verweisen. 138 Selbst wenn man diese<br />
Regeln als dispositiv ansieht, hat die Vertragsinterpretation weiterhin im<br />
Lichte von good faith zu erfolgen, 139 und dieser Grundsatz ist in den PECL<br />
zwingend. 140 Die Sperrfunktion von Treu und Glauben wird aber im Civil<br />
Law als ein Grund gegen die Wirkung von Integrationsklauseln auf der<br />
Opinion No. 3 Anm. 4.7; vgl. auch Schlechtriem/Schwenzer (-Schmidt-Kessel) (vorige Note)<br />
Art. 9 Anm. 14. Für die Principles dürfte im Ergebnis nichts anderes gelten.<br />
135 Michael Joachim Bonell, The UNIDROIT Principles and CISG, Sources of Inspiration<br />
for English Courts?: Unif. L. Rev. (N. S.) 11 (2006) 305 (316).<br />
136 Vgl. dazu Carlos Gorriz Lopez, L’interpretazione del contratto nei Principi UNI-<br />
DROIT dei contratti commerciali internazionali: Contratto e impresa/Europa 1998, 467 ff.<br />
137 Art. 5:101(1) PECL.<br />
138 Art. 5:102(a) PECL.<br />
139 Art. 5:102(g) PECL.<br />
140 Art. 1:201(2) PECL; die Vorschrift bezieht sich dem Wortlaut nach zwar nur auf Verhaltenspfl<br />
ichten und nicht auf die objektive Bedeutung von good faith bei der Vertragsauslegung;<br />
man kann aber sagen, eine Partei handele treuwidrig, indem sie sich gegenüber einer<br />
gebotenen Auslegung mit einer Integrationsklausel verteidigt.
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
595<br />
Auslegungsebene angesehen. 141 Angesichts der eher kontinental geprägten<br />
Auslegungsregeln der PECL muss somit in Zweifel gezogen werden, ob ein<br />
Rückgriff auf die Verhandlungen zur Vertragsauslegung durch eine Integrationsklausel<br />
tatsächlich verhindert werden kann.<br />
Unter der Geltung des CISG sind die Verhandlungen regelmäßig als ein<br />
Mittel zur Auslegung des Vertragstextes heranzuziehen. 142 Dieser Grundsatz<br />
scheint aber nach Art. 6 CISG zur Disposition der Parteien zu stehen. Auf<br />
jeden Fall wird man dafür in der merger clause eine ausdrückliche Bezugnahme<br />
auf Auslegungsgesichtspunkte verlangen müssen; allein die Feststellung,<br />
der Vertragstext enthalte das entire agreement zwischen den Parteien,<br />
reicht nicht aus. 143 Dies folgt daraus, dass anders als im amerikanischen<br />
Common Law die Klausel nicht lediglich der Klarstellung einer gesetzlich<br />
anerkannten Lage, sondern umgekehrt der Derogation von einer dispositiven<br />
Gesetzesregel dienen würde und daher deutlich gefasst sein muss.<br />
Es fragt sich aber, ob selbst eine eindeutig formulierte merger clause unter<br />
Geltung des vereinheitlichten Kaufrechts wirklich die Auslegungseignung<br />
der Verhandlung gänzlich ausschließen kann. Hier scheint es zwischen Vertrags-<br />
und Gesetzestext zu einem Paradoxon zu kommen: Die Parteien können<br />
gemäß Art. 6 CISG die Auslegung anhand der Verhandlungen ausschließen,<br />
doch muss dies ausdrücklich geschehen. Ob die Derogation des<br />
Art. 8(3) CISG mit hinreichender Klarheit erfolgt ist, muss wiederum durch<br />
Auslegung ermittelt werden, und dafür sind nach Art. 8(3) CISG unter anderem<br />
die Vertragsverhandlungen maßgeblich. Es ist keineswegs sicher, dass<br />
dieser Zirkel zugunsten von Art. 6 CISG durchbrochen wird. 144 Gelangen<br />
Anhaltspunkte zur Kenntnis des Richters, nach denen der Ausschluss der<br />
Auslegung doch nicht dem wirklichen Parteiwillen entspricht, ist Treu und<br />
Glauben im internationalen Handel (Art. 7[1] CISG) besser damit gedient,<br />
die Integrationsklausel einschränkend auszulegen. Jedoch wirkt die Klausel<br />
immerhin als Indiz, dass den vorvertraglichen Absprachen im Zweifel keine<br />
Bedeutung beizumessen ist.<br />
141 Vgl. oben IV. 5.<br />
142 Art. 8(3) CISG.<br />
143 Michael Joachim Bonell, Vertragsverhandlungen und culpa in contrahendo nach dem<br />
Wiener Kaufrechtsübereinkommen: RIW 1990, 693 (698); CISG-AC Opinion No. 3<br />
Anm. 4.6; Maria del Pilar Perales Viscasillas, Las cláusulas de restricción probatoria o merger<br />
clauses en los contratos internacionales: Apuntes de derecho 1997, 99 (dort bei N. 14).<br />
144 Der CISG Advisory Council hält den Ausschluss der Auslegung offenbar für möglich,<br />
vgl. CISG-AC Opinion No. 3 Anm. 4.6. Allerdings heißt es im Widerspruch dazu in Anm. 4.5:<br />
»However, extrinsic evidence should not be excluded, unless the parties actually intended the<br />
Merger Clause to have this effect. This question is to be resolved by reference to the criteria<br />
enunciated in Article 8, without reference to national law. Article 8 requires an examination<br />
of all relevant circumstances when deciding whether the Merger Clause represents the parties’<br />
intent.«
596 olaf meyer RabelsZ<br />
3. Widerleglichkeit<br />
Unklar ist, ob eine vertragliche merger clause in jedem Fall als verbindlich<br />
anzusehen ist oder gegebenenfalls durch außervertragliche Beweismittel<br />
widerlegt werden kann. Die UNIDROIT Principles votieren recht deutlich<br />
für die alleinige Maßgeblichkeit der Integrationsklausel. 145 Nach den<br />
PECL soll dies hingegen nur für ausgehandelte Klauseln gelten, während<br />
einseitig gestellten Vertragsbedingungen nur eine Vermutungswirkung zukommt.<br />
146 Für das UN-Kaufrecht fi nden sich schließlich in der Literatur<br />
Stellungnahmen zugunsten der Schlüssigkeit von merger clauses. 147 In einem<br />
ICC-Schiedsspruch von 1998, der auf der Grundlage des CISG ergangen ist<br />
und zudem ergänzend auf die Rechtslage in den UNIDROIT Principles<br />
verweist, heißt es dementsprechend mit Bezug auf merger clauses: »[. . .]<br />
there can be no doubt for any party engaged in international trade that the<br />
clauses mean, and must mean, what they say.« 148<br />
Angesichts der sie jeweilig umgebenden rechtlichen Rahmenvorschriften<br />
muss dieser bedingungslose Gehorsam vor einer Integrationsklausel überraschen.<br />
Keines der drei Regelwerke kennt nämlich eine Parol Evidence Rule.<br />
Sowohl Art. 1.2 UNIDROIT Principles als auch Art. 2:101(2) PECL erteilen<br />
einer solchen Privilegierung des schriftlichen Vertragstextes eine klare<br />
Absage. Für das UN-Kaufrecht hatte eine frühe amerikanische Entscheidung<br />
zwar ohne nähere Begründung die Geltung der Parol Evidence Rule<br />
unterstellt und damit heftige Diskussionen ausgelöst. 149 Doch dürfte inzwischen<br />
geklärt sein, dass Artt. 8(3), 11 CISG dieser Annahme entgegenstehen.<br />
150 Mit der Einfügung einer Integrationsklausel würden die Parteien<br />
145 Art. 2.1.17 Satz 1 UNIDROIT Principles.<br />
146 Art. 2:105(2) PECL.<br />
147 Ronald A. Brand/Harry M. Flechtner, Arbitration and Contract Formation, First Interpretations<br />
of the U. N. Sales Convention: Journal of Law and Commerce (J. L. Comm.) 12<br />
(1993) 239 (251 f.); Farnsworth 279; John O. Honnold, Uniform Law for International Sales<br />
under the 1980 United Nations Convention 3 (1999) Anm. 110; Perales Viscasillas (oben N. 143)<br />
99 (dort bei N. 12); Staudinger (-Magnus) (oben N. 133) Art. 8 Anm. 9.<br />
148 ICC Schiedsspruch Nr. 9117, Auszüge abgedruckt in: ICC International Court of Arbitration<br />
Bulletin 10 (1999) 96 ff. Keine Aussagekraft hat hingegen die Entscheidung des<br />
People’s Supreme Court, Appeal Division in Ho Chi Minh City vom 5. 4. 1996 (UNILEX), die<br />
sich zwar auch zur Begründung auf eine merger clause stützt, allerdings in der Sache eine<br />
nachvertragliche Modifi kation des Vertragstextes betraf.<br />
149 Beijing Metals v. American Business Center, 993 F.2d 1178 (5th Cir. 1993). Vgl. dazu<br />
Harry M. Flechtner, More U. S. Decisions on the U. N. Sales Convention: Scope, Parol Evidence,<br />
»Validity« and Reduction of Price under Article 50: J. L. Comm. 14 (1995) 153 ff.<br />
150 Calzaturifi cio Claudia v. Olivieri Footwear (S. D. N. Y. 7. April 1998, unveröffentlicht,<br />
Westlaw); Mitchell Aircraft Spares v. European Aircraft Service, 23 F.Supp. 2d 915; Shuttle Packaging<br />
Systems v. Tsonakis et al. (W.D.Mich 17. 12. 2001, unveröffentlicht, Westlaw), vgl. auch Franco<br />
Ferrari, Auslegung von Parteierklärungen und -verhalten nach UN-Kaufrecht: Internationales<br />
Handelsrecht (IHR) 2003, 10 (14); Olaf Meyer, Die Anwendung des UN-Kaufrechts in der<br />
US-amerikanischen Gerichtspraxis: IPRax 2005, 462 (464).
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
597<br />
diese Vorschriften derogieren und sich ihre private Parol Evidence Rule<br />
schaffen. Vor diesem Hintergrund wird man die starre Haltung der UNI-<br />
DROIT Principles als ein Zugeständnis an die in der Arbeitsgruppe vertretenen<br />
Common Lawyer verstehen können, um deren Verzicht auf die Parol<br />
Evidence Rule auszugleichen. Amerikanische Kommentatoren des CISG<br />
empfehlen auch, die Auslegungsregel des Art. 8(3) CISG durch eine merger<br />
clause abzubedingen und dadurch eine Rechtslage wie unter Geltung der<br />
Parol Evidence Rule zu schaffen. 151 Eine amerikanische Entscheidung hat<br />
die Wirksamkeit einer solchen Klausel bereits in einem obiter dictum bestätigt.<br />
152<br />
Tatsächlich lässt sich die zwingende Bindung der Gerichte an Integrationsklauseln<br />
nur bedingt in die Grundkonzeption der drei Regelwerke einfügen.<br />
Es sind verschiedene Wege denkbar, wie eine privatautonome Parol<br />
Evidence Rule doch wieder begrenzt werden könnte. Nach Art. 2:105(4)<br />
PECL kann eine Vertragspartei ihr Recht verwirken, sich auf die Integrationsklausel<br />
zu berufen, wenn sie einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat.<br />
Die Voraussetzungen dafür sind allerdings völlig unzureichend beschrieben.<br />
Unter welchen Umständen eine Partei trotz einer eindeutig formulierten<br />
merger clause vernünftigerweise auf ein Verhalten ihres Vertragspartners<br />
vertrauen dürfen soll, bleibt im Dunkeln. 153 Damit besteht insbesondere die<br />
Gefahr der Ungleichbehandlung der Vertragsparteien, da eine Partei aus<br />
dem Civil Law der Integrationsklausel erfahrungsgemäß weniger Bedeutung<br />
zumisst als ein Geschäftspartner aus dem Common Law und sie eher<br />
auf dessen Verhalten vertrauen wird als umgekehrt. Ähnliche Probleme<br />
können sich auch unter Geltung der UNIDROIT Principles ergeben, die<br />
allerdings nur eine allgemeine Regel des widersprüchlichen Verhaltens in<br />
Art. 1.8 enthalten. Im UN-Kaufrecht schließlich ist die Verwirkung als all-<br />
151 John E. Murray, Jr., An Essay on the Formation of Contracts and Related Matters under<br />
the United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods: J. L. Comm.<br />
8 (1988) 11 (45 f.): »Notwithstanding the criticisms of the Parol Evidence Rule, it is clear that<br />
parties are often eager to emphasize their intention that the document they have signed should<br />
be the sole and exclusive manifestation of their agreement. A carefully drafted merger clause,<br />
therefore, becomes critically important under CISG if the parties do not intend to be bound<br />
by favorable or even accurate recollections of their negotiations prior to the execution of the<br />
fi nal and complete writing evidencing their contract«; ebenso Albert Kritzer, Guide to Practical<br />
Applications of the United Nations Convention on Contracts for the International Sale of<br />
Goods (1989) 120.<br />
152 MCC-Marble Ceramic Center v. Ceramica Nuova D’Agostino, 144 F.3d 1384 (11th Cir.<br />
1998): »Moreover, to the extent parties wish to avoid parol evidence problems they can do so<br />
by including a merger clause in their agreement that extinguishes any and all prior agreements<br />
and understandings not expressed in the writing.«<br />
153 Nach Kaufmann 308 bietet Art. 2:105(4) PECL eine »breite Angriffsfl äche für die<br />
Nichtbeachtung von merger clauses«. Demgegenüber würden common law lawyer die Verwirkung<br />
wohl eher als eng begrenzten Ausnahmefall ansehen.
598 olaf meyer RabelsZ<br />
gemeiner Grundsatz nach Art. 7(2) CISG anerkannt. 154 Hier wird man nicht<br />
ausschließen können, dass ein Gericht die Berufung auf die Integrationsklausel<br />
als widersprüchliches Verhalten einordnet, 155 wenn dieselbe Partei<br />
während der Vertragsverhandlungen nachhaltig eine Eigenschaft zugesichert<br />
hat und ihr Vertragspartner darauf vertraute, obwohl die Zusage nicht<br />
in den Vertrag aufgenommen wurde.<br />
Ein weiterer Hebel gegen die alleinige Maßgeblichkeit der Integrationsklausel<br />
besteht in ihrer einschränkenden Auslegung. Um nichts anderes als<br />
einen typischen Fall einer solchen Auslegung handelt es sich letztlich bei<br />
Art. 2:105 (2) PECL, wonach bei nicht ausgehandelten Integrationsklauseln<br />
lediglich eine Vermutung für die Vollständigkeit der Urkunde gelten soll,<br />
eben weil Formularbedingungen erfahrungsgemäß nicht in gleichem Maße<br />
Garant für einen wirklichen übereinstimmenden Parteiwillen sind. Dies<br />
deckt sich mit der teilweise in der amerikanischen Rechtsprechung zu fi ndenden<br />
Skepsis gegenüber standardisierten merger clauses 156 und wird auch<br />
für das UN-Kaufrecht so vertreten. 157 Es ist aber kein einleuchtender Grund<br />
ersichtlich, warum die PECL diese einschränkende Auslegung nur in den<br />
Fällen nicht individuell verhandelter Klauseln zulassen. Der wirkliche Parteiwille<br />
kann eine Überwindung der Integration etwa auch dann nahelegen,<br />
wenn die Klausel lediglich aus Gewohnheit in den Vertrag eingefügt oder<br />
aus einem Formularbuch übernommen wurde.<br />
Noch weiter geht das Gutachten des CISG Advisory Council, wonach die<br />
Vertragsverhandlungen gemäß Art. 8(3) CISG stets im vollen Umfang zur<br />
Auslegung der merger clause herangezogen werden können. 158 Diese Interpretation<br />
wurde inzwischen von einem amerikanischen Gericht aufgegriffen.<br />
159 Hier hatte der amerikanische Käufer eine Maschine zur Herstellung<br />
von Aufbewahrungssystemen beim deutschen Verkäufer geordert. Bemerkenswerterweise<br />
war es sodann die deutsche Partei, die sich auf einen Haftungsausschluss<br />
in ihren AGB und eine weiter darin enthaltene merger<br />
clause berief, während der amerikanische Käufer eine mündliche Nebenabrede<br />
behauptete, wonach dieser Haftungsausschluss nicht gelten sollte. Der<br />
Richter entschied unter Berufung auf den Advisory Council, dass sich die<br />
merger clause nur dann gegen die vorvertragliche Absprache durchsetzt,<br />
154 Spezielle Ausprägungen des Grundsatzes fi nden sich in Art. 16(2)(b) und Art. 29(2)<br />
Satz 2 CISG. Vgl. Ulrich Magnus, Die allgemeinen Grundsätze im UN-Kaufrecht: RabelsZ 59<br />
(1995) 469 (482).<br />
155 Zum Grundsatz venire contra factum proprium im CISG vgl.: Internationales Schiedsgericht<br />
der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, RIW 1995, 590 f.<br />
156 Vgl. die Nachweise oben bei N. 59.<br />
157 William S. Dodge, Teaching the CISG in Contracts: Journal of Legal Education 50<br />
(2000) 72 89 (dort bei N. 82).<br />
158 Oben N. 144.<br />
159 TeeVee Tunes, Inc. et al. v. Gerhard Schubert GmbH, S. D. N. Y. 23. August 2006 (unveröffentlicht,<br />
Westlaw).
72 (2008)<br />
privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />
599<br />
wenn ein entsprechender übereinstimmender Parteiwille feststeht, und ließ<br />
die Eröffnung des Hauptverfahrens zur Beweisaufnahme zu. Sollte diese,<br />
was der Richter anscheinend für möglich hielt, ergeben, dass die Parteien<br />
unterschiedliche Vorstellungen über die Geltung der Klausel gehabt haben,<br />
so wäre sie nicht wirksamer Vertragsbestandteil geworden.<br />
Angesichts der Möglichkeiten, welche die drei untersuchten Regelwerke<br />
zur Beschränkung von Integrationsklauseln bieten, dürfte es zutreffender<br />
sein, letzteren generell lediglich eine Vermutungswirkung zuzuerkennen,<br />
welche aber im Einzelfall durch begründeten Vortrag widerlegt werden<br />
kann. Die strikter formulierten Vorschriften der UNIDROIT Principles<br />
und der PECL müssen insofern als unglücklich angesehen werden. 160 Auch<br />
unter dem UN-Kaufrecht begründen Integrationsklauseln lediglich eine<br />
Vermutung für die Vollständigkeit der Vertragsurkunde, den Parteien bleibt<br />
aber immer möglich zu beweisen, dass dessen ungeachtet weitere Abreden<br />
getroffen worden sind. 161<br />
VI. Zusammenfassung<br />
Bei der rechtlichen Beurteilung von Integrationsklauseln wird deren Ursprung<br />
im Common Law nicht immer hinreichend beachtet. Die Klauseln<br />
sind auf ein rechtliches Umfeld abgestimmt, in dem der Wert vorvertraglicher<br />
Beweismittel bereits durch die Parol Evidence Rule beschnitten ist;<br />
für die Rechtsordnungen des Civil Law, die den wirklichen Willen der Parteien<br />
über die objektive Bedeutung des Vertragswortlauts stellen, eignen sie<br />
sich hingegen weniger. Daraus folgt für die Regelwerke des Internationalen<br />
Vertragsrechts, die der Parol Evidence Rule ebenfalls nicht folgen, dass die<br />
Wirksamkeit einer Integrationsklausel eingeschränkt bleiben muss. Sie verhindert<br />
nicht die Heranziehung der vorvertraglichen Verhandlungen zum<br />
Zwecke der Auslegung des Vertrages. Außerdem entfalten diese Klauseln<br />
regelmäßig nur eine Vermutungswirkung für die Vollständigkeit des Vertrages,<br />
die aber durch den Nachweis eines abweichenden Parteiwillens widerlegt<br />
werden kann.<br />
160 So zu den PECL auch Claus-Wilhelm Canaris/Hans Christoph Grigoleit, Interpretation of<br />
Contracts, in: Towards a European Civil Code 3 , hrsg. von Arthur Hartkamp et al. (2004) 445<br />
(459).<br />
161 Kritisch beurteilen merger clauses unter dem CISG auch Rod N. Andreason, MCC-<br />
Marble Ceramic Center, The Parol Evidence Rule and Other Domestic Law Under the Convention<br />
on Contracts for the International Sale of Goods: Brigham Young Univ. L. Rev. 1999,<br />
351 (371 ff.); Dodge (oben N. 157) 89; implizit wohl auch Schlechtriem/Schwenzer (-Schmidt-Kessel)<br />
(oben N. 133) Art. 8 Anm. 5.
600 olaf meyer RabelsZ<br />
Summary<br />
Private Autonomy and the Exclusion of Pre-Contractual<br />
Negotiations – Integration Clauses in International Commerce<br />
Where a written contract is concluded after lengthy negotiations, it can<br />
be uncertain whether these negotiations continue to play a role in the construction<br />
and interpretation of the contract. In common law countries, the<br />
so-called ›merger‹ or ›entire agreement clauses‹ have been developed in legal<br />
practice. They provide that the parties’ consent is to be found only within<br />
the four corners of the written agreement. These clauses interact with the<br />
traditionally narrow approach to contract interpretation in common law,<br />
particularly with the parol evidence rule. Thus, American and English<br />
judges are prepared to enforce the clauses, as long as no reasons of policy call<br />
for a different result.<br />
It is argued that the role of merger clauses is more restricted in a legal<br />
environment concerned with the parties’ common intention rather than the<br />
literal meaning of the document. This is generally the attitude in civil law<br />
countries, where preliminary negotiations and the principle of good faith<br />
are among the factors to be considered in the interpretation of contracts.<br />
Here, the parties would not aim at clarifying a pre-existing exclusion found<br />
in the law, but rather introduce their own private parol evidence rule. The<br />
same is true for international instruments such as the CISG, the UNI-<br />
DROIT Principles and the PECL, which reject formalistic approaches to<br />
contract interpretation. Thus, the freedom of the parties to exclude the negotiations<br />
from the construction of the contract should be more limited<br />
under these instruments.
Das Internationale Privatrecht<br />
von Werner Goldschmidt:<br />
In Memoriam<br />
Von Mario J. A. Oyarzábal, La Plata/New York City *<br />
<strong>Inhalt</strong>sübersicht<br />
I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601<br />
II. Der Jurist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602<br />
III. Die allgemeine Bedeutung von Goldschmidts Werk in Argentinien . . . .<br />
IV. Der bewusste und radikale Gebrauch der normologischen Methode<br />
603<br />
als Darstellungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606<br />
V. Die Theorie des ausländischen Rechtsbrauchs . . . . . . . . . . . . . 609<br />
VI. Die Theorie der allgemein bekannten Tatsache . . . . . . . . . . . . . 611<br />
VII. Die Lehre von der zu erwartenden Gesetzesumgehung . . . . . . . . . 612<br />
VIII. Das Toleranzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614<br />
IX. Die Vereinheitlichung und Kodifi zierung des Internationalen Privatrechts 616<br />
X. Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617<br />
Summary: Werner Goldschmidt’s Private International Law: In Memoriam . . 618<br />
I. Vorbemerkung<br />
In der fast zweihundertjährigen Geschichte der argentinischen Wissenschaft<br />
des Internationalen Privatrechts gibt es verschiedene Meilensteine:<br />
* Der Autor dankt Alfredo Mendoza-Peña für die arbeitsintensive und gewissenhafte Forschungsarbeit<br />
und Claudia Paetzold für die Korrektur der deutschen Fassung sowie Jan Peter<br />
Schmidt vom Max-Planck-Institut Hamburg.<br />
Abgekürzt werden zitiert: Werner Goldschmidt, Derecho internacional privado, Derecho de<br />
la tolerancia, Basado en la teoría trialista del mundo jurídico (Buenos Aires 1992) (zitiert mit<br />
Nr.); Miguel Angel Ciuro Caldani, Werner Goldschmidt: El derecho 124 (1987) 833 ff.; Horacio<br />
Piombo, Bespr. von Goldschmidt, Derecho internacional privado, Basado en la teoría trialista<br />
del mundo jurídico 2 (1974): La ley (1975-A) 1345 ff.<br />
RabelsZ Bd. 72 (2008) S. 601–619<br />
© 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0033-7250
602 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />
Die Aufnahme des Faches in den Studienplan der Rechtsfakultät der Universität<br />
von Buenos Aires im Jahr 1857, das Erscheinen der ersten Ausarbeitungen<br />
in Lehre und Rechtsprechung fast unmittelbar im Anschluss daran<br />
und, im letzten Jahrhundert, die fruchtbare Arbeit von Werner Goldschmidt<br />
1 . Das philosophische und privatrechtliche Denken Goldschmidts<br />
übte einen so starken Einfl uss in Argentinien und dem Rest Lateinamerikas 2<br />
aus, dass man zwischen zwei Entwicklungsphasen des IPR in Argentinien<br />
unterscheiden muss: Der Phase bis zur Ankunft Goldschmidts und der Phase,<br />
die mit seiner Lehrtätigkeit und seinen Forschungen einsetzt. 3<br />
In den folgenden Abschnitten möchten wir – ohne Anspruch auf Originalität<br />
– dem Schaffen Goldschmidts gedenken, dessen Todestag sich am 21.<br />
Juli 2007 zum zwanzigsten Mal gejährt hat.<br />
II. Der Jurist<br />
Werner Goldschmidt wurde 1910 in Berlin geboren. Er war Sohn des<br />
bedeutenden Juristen James Paul Goldschmidt und Bruder des Rechtsvergleichers<br />
Robert Goldschmidt sowie des Philosophen Viktor Goldschmidt.<br />
Er studierte an den Universitäten Berlin, Kiel und Hamburg, wo ihm 1931<br />
der Titel des Doktors der Rechte verliehen wurde 4 . Von 1931 an lehrte er an<br />
der Universität Kiel. Im Jahr 1933 fl oh er vor der Judenverfolgung nach<br />
Spanien. 1945 erhielt er an der Universität Madrid seine Anwaltszulassung.<br />
Neben der berufl ichen Praxis widmete er sich weiterhin der Forschung und<br />
veröffentlichte Bücher sowie zahlreiche Artikel in juristischen Zeitschriften.<br />
1947 ließ er sich in Argentinien nieder, wo er eine fruchtbare Karriere als<br />
Dozent und Forscher aufnahm. Er lehrte als Professor an den Universitäten<br />
von La Plata (1982 emeritiert) und Buenos Aires (1983 emeritiert), an den<br />
Katholischen Universitäten La Plata (1982 emeritiert) und Buenos Aires<br />
(1984 emeritiert), an der Universidad Notarial (1984 emeritiert), den Universitäten<br />
von Tucumán (1957 emeritiert) und Rosario (bis 1976), der Uni-<br />
1 Vgl. Piombo 1345.<br />
2 Vgl. Antonio Boggiano, Poder, normatividad y justicia en el mundo jurídico: Jur. Arg.<br />
1970, 391 ff. Siehe auch Werner Goldschmidt, Droit international latino-américain: Clunet<br />
(1973) 88–90 N. 49 (in dem er zahlreiche argentinische und lateinamerikanische Spezialisten<br />
zitiert, die sich seiner »trialistischen Theorie des internationalen Privatrechts« und der »Theorie<br />
des Rechtsbrauchs« angeschlossen haben). Zur internationalen Würdigung von Goldschmidts<br />
Werk sei über die genannte Literatur hinaus auf die Hinweise in den Büchern von<br />
Henri Batiffol, Droit international privé 5 I (Paris 1970) und II (1971), Edoardo Vitta, Diritto<br />
internazionale privato (Turin 1972/75), und Haroldo Valladao, Direito internacional privado 2 I<br />
(Rio de Janeiro 1974) und II (1978) verwiesen.<br />
3 Vgl. Piombo 1345.<br />
4 Zur persönlichen Erfahrung und der Bedeutung der deutschen Universität für Goldschmidt,<br />
siehe Werner Goldschmidt, Justicia y verdad (Buenos Aires 1978) 524–554.
72 (2008)<br />
in memoriam werner goldschmidt<br />
603<br />
versidad del Salvador (bis 1984), sowie am Instituto del Servicio Exterior, an<br />
dem argentinische Diplomaten ausgebildet werden. Aus seiner Lehrtätigkeit<br />
im Ausland ist sein Kurs an der Akademie für Internationales Recht in Den<br />
Haag aus dem Jahr 1972 hervorzuheben. 5<br />
III. Die allgemeine Bedeutung von<br />
Goldschmidts Werk in Argentinien<br />
Bis zur Ankunft Goldschmidts in Argentinien war das argentinische IPR<br />
von zwei Faktoren geprägt: Zum einen vom dominierenden Einfl uss der<br />
französischen Lehre, mit ihrer Dreiteilung des Gegenstands der Materie und<br />
ihrer methodologischen Konfusion als Folge des Einschlusses des Fremdenrechts<br />
in ein klar wohnsitzorientiertes System; zum anderen von dem Fehlen<br />
einer organischen und systematischen Behandlung der Probleme des Allgemeinen<br />
Teils der Disziplin, was zu einer unverbundenen Aneinanderreihung<br />
der Themen führte. Hinzu kam eine deutliche Schwierigkeit bei der<br />
Aufnahme derjenigen Gebiete des öffentlichen Rechts, welche die Methodologie<br />
des IPR zur Lösung bestimmter Aspekte der eigenen Problematik<br />
benutzten. 6<br />
Die physische und intellektuelle Präsenz Goldschmidts bewirkte eine<br />
Neuformulierung der Thematik des IPR und gab den argentinischen Juristen<br />
eine Ausarbeitung der Lehre an die Hand, die den Besonderheiten der<br />
Disziplin gerecht wurde 7 . Die privatrechtlichen Fälle mit ausländischen Elementen<br />
konnten nun auf Grundlage eines solide strukturierten Allgemeinen<br />
Teils und eines rigorosen methodischen Schemas behandelt werden, das<br />
nicht nur normative, sondern auch soziologische und axiologische Aspekte<br />
einbezog. Durch die Arbeiten Goldschmidts wurden zudem diverse, den<br />
argentinischen Autoren bis dahin praktisch unbekannte Fragestellungen<br />
aufgeworfen, so beispielsweise die räumliche und zeitliche Dimension des<br />
5 Siehe Werner Goldschmidt, Transactions between States and public fi rms and foreign private<br />
fi rms, A methodological study: Rec. des Cours 136 (1972-II) 201–329 (zitiert: Transactions).<br />
6 Vgl. Piombo 1345. Siehe auch Goldschmidt, Droit international latino-américain (oben<br />
N. 2) 87–90 (enthält eine Abhandlung der geschichtlichen Entwicklung der Ideen im argentinischen<br />
IPR.<br />
7 Vgl. Piombo 1345. Siehe auch die »Conclusiones de las Jornadas de derecho internacional<br />
privado en homenaje al profesor doctor Werner Goldschmidt« [Schlussfolgerungen der Tagung<br />
über IPR zu Ehren von Professor Doktor Goldschmidt] (Mar del Plata 1982), abgedr. in:<br />
Alicia Perugini de Paz y Geuse, Jornadas de derecho internacional en homenaje a Werner Goldschmidt:<br />
La ley (1984-A) 1007–1009, und in: Miguel Angel Ciuro Caldani, Jornadas de derecho<br />
internacional en homenaje al doctor Werner Goldschmidt: Gaceta del notariado 1983, 131–<br />
135.
604 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />
IPR, der Gegenstand des Tatbestands der indirekten Norm, die Änderung<br />
der Anknüpfung (confl it mobile) und die Vorfrage. 8<br />
Das wissenschaftliche Schaffen Goldschmidts unterteilt sich in zwei Phasen:<br />
9 Die erste begann mit »La consecuencia jurídica de la norma del derecho<br />
internacional privado« (1935) 10 und gipfelte in dem Buch »Sistema y fi losofía<br />
del derecho internacional privado« (1952–1954) 11 . In der wissenschaftlichen<br />
Tradition Deutschlands bietet Goldschmidt hier eine normologische Systematisierung<br />
der allgemeinen Probleme des IPR. 12 In der zweiten Etappe<br />
sind vor allem die beiden Werke »La ciencia de la justicia: dikelogía« (1958) 13<br />
und »Introducción fi losófi ca al derecho« (1973) 14 von Bedeutung. Obwohl<br />
bereits die ersten beiden Jahrzehnte in Goldschmidts Schaffen deutliche philosophische<br />
<strong>Inhalt</strong>e aufweisen, zeigt die zweite Phase den lateinamerikanischen<br />
Einfl uss bei der Suche nach der Wahrheit, in diesem Fall verstanden<br />
als ein objektiver, aber von den veränderlichen Lebensrealitäten geprägter<br />
Bezugspunkt 15 . Mit der Idee der Verteilung von Macht und Ohnmacht –<br />
d. h. das, was das Sein begünstigt oder benachteiligt (und bei den Lebewesen<br />
das, was das Leben begünstigt oder benachteiligt) – formulierte Goldschmidt<br />
die grundlegende Idee, die es ihm ermöglicht, die drei juristischen Dimensionen<br />
(die normologische, die soziologische und die dikelogische) zu integrieren;<br />
diese Integration basiert auf der systematischen Entwicklung der<br />
8 Vgl. Piombo 1345.<br />
9 Vgl. Ciuro Caldani 833; Alicia Perugini, Desarrollo histórico de la obra jusprivatista internacional<br />
de Werner Goldschmidt Lange (Homenaje en su 70 aniversario): Rev. Esp. Der. Int.<br />
32 (1980) 143–150.<br />
10 Werner Goldschmidt, La consecuencia jurídica de la norma del derecho internacional<br />
privado (Barcelona 1935) (zitiert: Consecuencia).<br />
11 Werner Goldschmidt, Sistema y fi losofía del derecho internacional privado I (Barcelona<br />
1948), II (1949), bespr. von Gerhard Kegel, RabelsZ 15 (1949/50) 166–173 und RabelsZ 17<br />
(1952) 300–302, Adolf Schnitzer, Schweizerische Juristen-Zeitung 45 (1949) 95, E. J. Cohn, J.<br />
Comp. Legisl. 31 (1949) 120, Mariano Aguilar Navarro, Rev. Esp. Der. Int. 2 (1949) 1039–1047<br />
und Rev. Esp. Der. Int. 3 (1950) 229–230, J. Kunz, ÖZöffR 2 (1950) 385–386 und ÖZöffR<br />
3 (1951) 284–285, Kurt Lipstein, Int. L. Q. 4 (1951) 147, R. H. Graveson, Mod. L. Rev. 14 (1951)<br />
102. Die 2. Aufl . <strong>dieses</strong> Werkes von Goldschmidt erschien in Buenos Aires 1952 (I) und 1954 (II<br />
und III). Das Werk bietet eine komplette Darstellung des spanischen IPR auf der Grundlage<br />
des normologischen Systems: Seine Philosphie ist das Naturrecht und die Gerechtigkeit wird<br />
als die Achtung der Seinsart des Anderen konzipiert. Für eine Zusammenfassung seiner »Philosophie«<br />
in deutscher Sprache siehe Werner Goldschmidt, Die philosophischen Grundlagen des<br />
internationalen Privatrechts, in: FS Martin Wolff (Tübingen 1952) 203–223.<br />
12 Vgl. Miguel Ángel Ciuro Caldani, Aspectos fi losófi cos del derecho internacional privado<br />
de nuestro tiempo: Jur. Arg. (1994-I) 878–879.<br />
13 Werner Goldschmidt, La ciencia de la justicia: dikelogía (Buenos Aires 1958); 2. Aufl .<br />
(1986). Für eine Darstellung in deutscher Sprache, siehe Werner Goldschmidt, Die Lehre von<br />
der Gerechtigkeit (Dikelogie): ÖZöffR 22 (1971) 1–32.<br />
14 Werner Goldschmidt, Introducción fi losófi ca al derecho-La teoría trialista del mundo<br />
jurídico y sus horizontes 4 (Buenos Aires 1973).<br />
15 Vgl. Ciuro Caldani 833.
72 (2008)<br />
in memoriam werner goldschmidt<br />
605<br />
von ihm so genannten »trialistischen Theorie der juristischen Welt« 16 . Auf<br />
ihr baut sein erstmals 1970 veröffentlichtes Hauptwerk »Derecho internacional<br />
privado« auf. 17<br />
Die Anwendung der Dreidimensionalität auf das IPR erfordert, jedes<br />
Thema unter den drei genannten Gesichtspunkten darzustellen, die durch<br />
den dritten, also den visuellen dikelogischen Gesichtspunkt, miteinander<br />
verbunden werden. Der normologische Aspekt umfasst den <strong>Inhalt</strong> der Normen<br />
einschließlich ihrer Interpretation und Selbstintegration, die durch<br />
Analogie oder den Rekurs auf allgemeine positive Ordnungsprinzipien erfolgt.<br />
Der soziologische Teil enthält die gerichtliche und administrative<br />
Rechtsprechung sowie die Sitten und Gebräuche der Einwohner, die sich<br />
beispielsweise in typischen oder standardisierten Vertragsformen niederschlagen,<br />
daneben aber auch die Lehre, wenn sie unter dem Gesichtspunkt<br />
ihrer sozialen Auswirkungen betrachtet wird. Der dikelogische Teil schließlich<br />
widmet sich der Normenkritik, den Lösungen für dikelogische Fragen<br />
und der Entwicklung gerechter Normen 18 . Die Reihenfolge der Darstellung<br />
der drei Aspekte in einem abstrakten Zusammenhang ist – wie in den Werken<br />
Goldschmidts – normologisch, soziologisch und schließlich dikelogisch.<br />
Für den Gesetzgeber dagegen gilt eine andere Reihenfolge der Aspekte,<br />
nämlich soziologisch, dikelogisch und schließlich normologisch 19 . In seinem<br />
»Derecho internacional privado« kommen so beide Strömungen von Goldschmidts<br />
Denken – das Internationale Privatrecht und die Philosophie – zusammen.<br />
Im Bewusstsein der Unmöglichkeit, alle Beiträge Goldschmidts auf dem<br />
Gebiet des IPR darzustellen, beschränken wir uns auf diejenigen, die wir<br />
für fundamental halten: Das normologische System, das die allgemeine, auf<br />
der logischen Präzision beruhende Norm des IPR zum Ausgangspunkt für<br />
die Systematik <strong>dieses</strong> Bereichs der Rechtswelt macht; die Rechtsbrauchtheorie,<br />
die der Anwendung des ausländischen Rechts in positiver Achtung<br />
seiner Seinsweise und seiner Besonderheiten ein Fundament verleiht; die<br />
16 Vgl. Ciuro Caldani 833.<br />
17 Werner Goldschmidt, Derecho internacional privado, Basado en la teoría trialista del<br />
mundo jurídico [IPR, Auf der Grundlage der trialistischen Theorie der juristischen Welt]<br />
(Buenos Aires) 1. Aufl . 1970; 2. Aufl . 1974, bespr. von Piombo (oben N. *); 3. Aufl . – mit dem<br />
Untertitel »Derecho de la tolerancia« – 1977, bespr. von Jürgen Samtleben, RabelsZ 37 (1973)<br />
802–808, Henri Batiffol, Rev. crit. d. i.p. 67 (1978) 236–238; 4. Aufl . 1982; 5. Aufl . 1985;<br />
6. Aufl . 1988 – verantwortet von Miguel Angel Ciuro Candani; 7. Aufl . 1990; 8. Aufl . 1992;<br />
9. Aufl . 2002.<br />
18 Vgl. Goldschmidt (vorige Note) 1. Aufl ., Prólogo Punkt I.2 (in den verschiedenen Aufl agen<br />
wieder abgedruckt). Siehe auch Werner Goldschmidt, Semblanza del trialismo, En memoria<br />
de su vigésimo aniversario: El derecho 113 (1985) 733–739. Für eine Analyse der trialistischen<br />
Theorie der juristischen Welt in englischer Sprache siehe Goldschmidt, Transactions (oben<br />
N. 5) 222–232.<br />
19 Vgl. Goldschmidt (oben N. 17) 1. Aufl ., Prólogo Punkt I.2.
606 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />
Eingliederung des ausländischen Rechts als allgemein bekannte Tatsache in<br />
die Beweisseite der Rechtsbeziehung mit ausländischen Elementen; die<br />
Lehre von der vorhersehbaren Gesetzesumgehung ( fraude a la expectativa) als<br />
Maßnahme zum Schutz des staatlichen Gesetzes angesichts von Machenschaften<br />
zum Zweck einer künftigen Regelverletzung; eine Philosophie, die<br />
der Anwendung des ausländischen Rechts ein radikal antichauvinistisches<br />
und universalistisches ideologisches Fundament gab und den Weg für die<br />
strukturierte Eingliederung der internationalen Zusammenarbeit in allen<br />
ihren Aspekten ebnete; und schließlich sein Beitrag zur Vereinheitlichung<br />
und zur Kodifi zierung des Internationalen Privatrechts in Argentinien 20 .<br />
IV. Der bewusste und radikale Gebrauch<br />
der normologischen Methode als Darstellungsmethode<br />
Die Arbeiten Goldschmidts im Bereich des IPR gingen von der Analyse<br />
der Kollisionsnorm als Grundlage der Systematik des IPR aus. Unter Berufung<br />
auf das normologische System des Strafrechts 21 betont Goldschmidt die<br />
Struktur der Rechtsnorm, die die »logische und neutrale Erfassung einer<br />
beabsichtigten Verteilung bildet« 22 . Jede Norm besteht als solche aus zwei<br />
Teilen: Im ersten Teil beschreibt die Norm die soziale Situation, die eine<br />
Verteilung verlangt (Tatbestand); im zweiten Teil dagegen entwirft sie deren<br />
Lösung (Rechtsfolge). Der Tatbestand der Norm des IPR beschreibt den<br />
privatrechtlichen Fall mit ausländischen Elementen (den Sachverhalt), während<br />
die Rechtsfolge die Lösung verdeutlicht. Die Differenzierung der Normen<br />
des IPR erfolgt entsprechend der Territorialität bzw. Extraterritorialität<br />
23 ihrer Rechtsfolgen. Die Rechtsfolge beruht auf unterschiedlichen Methoden,<br />
je nachdem, ob sie territorial oder extraterritorial ist. Bei territorialen<br />
Lösungen beantwortet die Rechtsfolge unmittelbar die im Tatbestand umrissene<br />
Frage (direkte Methode) 24 . Die direkte Methode, die im Allgemeinen<br />
bei den Normen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts zur Anwendung<br />
kommt, wird auch von den Normen des Fremdenrechts und des<br />
konventionellen Einheitsprivatrechts verwendet 25 . Bei extraterritorialen Lösungen<br />
dagegen geht die Rechtsfolge die vom Tatbestand umrissene Frage<br />
nicht an, sondern beschränkt sich darauf, festzustellen, welches Recht das<br />
20 Wir folgen teilweise der Aufzählung bei Horacio Piombo, Homenaje a Werner Goldschmidt<br />
[Antrittsrede als Inhaber des Lehrstuhls für Internationales Privatrecht an der Universiät<br />
La Plata, 1. 10. 1997] (unveröffentlicht).<br />
21 Vgl. Goldschmidt, Consecuencia (oben N. 10) 28.<br />
22 Vgl. Goldschmidt Nr. 6.<br />
23 Vgl. Goldschmidt Nr. 7.<br />
24 Vgl. Goldschmidt Nr. 8.<br />
25 Vgl. Goldschmidt Nr. 9.
72 (2008)<br />
in memoriam werner goldschmidt<br />
607<br />
Problem lösen muss (indirekte Methode). Die Norm des IPR (oder der Kollisionsnorm)<br />
ist also eine »indirekte Norm« 26 . Dies ist die Folge der Anwendung<br />
der indirekten Methode 27 , die ihrerseits, je nach Umständen, eine Ergänzung<br />
durch Hilfsmethoden 28 erfordert.<br />
Die indirekte Norm umfasst wie jede Rechtsnorm einen Tatbestand und<br />
eine Rechtsfolge; beide Teile müssen Goldschmidt zufolge in positive und<br />
negative Merkmale aufgegliedert werden. Die positiven Merkmale des Tatbestands<br />
beschreiben einen Aspekt eines privatrechtlichen Falls mit ausländischen<br />
Elementen (analytische Methode); sie werden als »positiv« bezeichnet,<br />
da ihr Vorhandensein notwendig ist, damit die Norm anwendbar ist.<br />
Zunächst ist festzustellen, aus welcher Rechtsordnung wir die Defi nition der<br />
Begriffe, die die direkte Methode benutzt, ableiten müssen. Hierbei handelt<br />
es sich um das sogenannte Qualifi kationsproblem. Dann müssen wir den<br />
Tatbestand der indirekten Norm erklären, d. h. mit aller Klarheit defi nieren,<br />
auf welchen sozialen Bereich (auf welche Aspekte) er sich bezieht. Dies wird<br />
als Vorfrageproblem bezeichnet. Das negative Merkmal des Tatbestandes<br />
bezieht sich auf die sogenannte Gesetzesumgehung; es wird als »negativ«<br />
bezeichnet, da die Inexistenz der Gesetzesumgehung die notwendige Bedingung<br />
dafür ist, dass die Rechtsnorm normal wirken kann, d. h. die<br />
Rechtsfolge eintritt. (Im argentinischen Recht beispielsweise, wo sich das<br />
Erbrecht nach dem letzten Wohnsitz des Erblassers richtet, würde im Fall<br />
26 Goldschmidt führte den Begriff der »indirekten Norm« 1935 in seiner Monographie »La<br />
consecuencia jurídica« (oben N. 10) 14, ein.<br />
27 Siehe Goldschmidt Nr. 8, 10, 88–89.<br />
28 Die Hilfsmethoden umfassen die analytisch-analoge und die richterlich-synthetische<br />
Methode. Die Analyse der Kontroverse des IPR wird unter »analoger« Anwendung der »analytischen«<br />
Kategorien des Zivilrechts durchgeführt. Will man also feststellen, ob ein Vertrag<br />
gültig oder nichtig ist, so untersucht man die Befähigung der Parteien nach einem Recht<br />
(beispielsweise dem Recht des Wohnsitzes), die Form des Geschäfts nach einem anderen (beispielsweise<br />
dem Recht am Ort der Vertragsunterzeichnung) und die intrinsische Gültigkeit<br />
nach einem dritten Recht (beispielsweise dem nationalen Recht der jeweiligen Parteien). Die<br />
analytisch-analoge Methode zielt auf die Lösung des Falles und richtet sich in erster Linie an<br />
den Gesetzgeber. Aber da kein nationaler oder internationaler Gesetzgeber in der Lage ist, die<br />
Unstimmigkeiten zu überschauen, zu denen die analytische Methode führen kann, sind wir<br />
gezwungen, eine dritte Methode anzuwenden, die die Adaptation oder Synthese ermöglicht.<br />
Im IPR kann der Gesetzgeber diese Synthese nicht a priori bieten, sie ist a posteriori die Aufgabe<br />
des Richters. Goldschmidt präsentierte die Unterscheidung zwischen den drei Methoden<br />
(indirekt, analytisch-analog, richterlich-synthetisch) in seinem Artikel »Derecho internacional<br />
privado y derecho comparado«: Información jurídica 45 (1947) 84–86. Später sprach<br />
Goldschmidt von »konstitutiven Methoden«, weil sie dem Gesetzgeber und dem Richter Lösungen<br />
für privatrechtliche Fälle mit ausländischen Elementen bieten, während die »normologische<br />
Methode« – die sich auf die Darstellung bezieht – für den Wissenschaftler gilt. Vgl.<br />
Goldschmidt (oben N. 17) 1. Aufl . Nr. 10. Vgl. auch Perugini (oben N. 9) 146. Die richterlichsynthetische<br />
Methode für die Lösung der Fälle wurde in Art. 9 (unten im Text bei N. 40) der<br />
Interamerikanischen Konvention über allgemeine Normen des IPR (Convención Interamericana<br />
sobre Normas Generales de Derecho Internacional Privado) aufgenommen.
608 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />
einer Gesetzesumgehung nicht das am letzten, sondern das am vorletzten<br />
Wohnsitz geltende Recht angewendet.) Die Rechtsfolge hat zwei positive<br />
Merkmale (sie wurden in Analogie zu den Merkmalen des Tatbestands so<br />
genannt): die Anknüpfung und das Angeknüpfte. Die Anknüpfung enthält<br />
die Umstände des Falls, dank derer wir das anwendbare Recht identifi zieren<br />
können, beispielsweise den letzten Wohnsitz des Erblassers oder die Lage der<br />
Immobilie; hier spricht man auch vom »Anknüpfungspunkt«. Das Angeknüpfte<br />
ist das mit Hilfe des Anknüpfungspunktes identifi zierte anwendbare<br />
Recht. Dabei stellen sich zwei sukzessive Hauptfragen: Welcher Teil des<br />
ausländischen Rechts – sein Privatrecht oder sein Internationales Privatrecht<br />
(seine Kollisionsnormen) – ist anwendbar? Und mit welchem Konzept wenden<br />
wir in unserem Land Teile einer ausländischen Rechtsordnung an, wenden<br />
wir sie als »Tatsache« oder als »Recht« an? Das erste Problen (der »Umfang«<br />
des anzuwendenden Rechts) ist unter dem Begriff der Rück- und<br />
Weiterverweisung (renvoi) bekannt. Das zweite Problem (die »Erklärung«<br />
der Anwendung des ausländischen Rechts) führt zum Thema seiner Ermittlung<br />
im Prozess, was von Amts wegen geschehen kann oder durch das Vorbringen<br />
und Beweisen seitens der Parteien. Das negative Merkmal der<br />
Rechtsfolge schließlich betrifft den ordre public, da wir das anwendbare ausländische<br />
Recht zurückweisen werden, wenn wir zu der Auffassung gelangen,<br />
dass die Lösung, die es uns in dem jeweiligen Fall bietet, gegen unveräußerliche<br />
Rechtsgrundsätze des Forums verstößt 29 . Die folgende Grafi k<br />
verdeutlicht die Struktur der indirekten Norm Goldschmidts:<br />
Indirekte<br />
Norm<br />
Tatbestand<br />
Rechtsfolge<br />
Diese Systematisierung der Darstellung des IPR ist keine konstitutive<br />
Methode der Materie, denn sie bietet keine Lösungen. Die systematisierende<br />
Methode ist eine »Darstellungsmethode« für die Wissenschaft, die angibt,<br />
wie die Probleme entsprechend einem bestimmten Kriterium geordnet wer-<br />
29 Siehe Goldschmidt Nr. 86 ff., 87, 95.<br />
positive<br />
Merkmale<br />
negative<br />
Merkmale<br />
positive<br />
Merkmale<br />
negative<br />
Merkmale<br />
Qualifikationen<br />
Vorfrage<br />
Gesetzesumgehung<br />
Anknüpfungspunkte<br />
Rückverweisung<br />
Anwendung des<br />
ausländischen Rechts<br />
ordre public
72 (2008)<br />
in memoriam werner goldschmidt<br />
609<br />
den müssen 30 . Da die Wissenschaft die Wirklichkeit logisch und neutral erfasst<br />
und die logische und neutrale Erfassung der Rechtsrealität durch die<br />
Norm erfolgt, muss die systematisierende Methode des IPR von der internationalprivatrechtlichen<br />
Norm ausgehen. Dies ist die »normologische Konzeption<br />
des Internationalen Privatrechts«, die darin besteht, die Strukturanalyse<br />
des IPR (oder der indirekten Norm) zum Ausgangspunkt für die<br />
Wissenschaft vom IPR zu machen 31 .<br />
V. Die Theorie des ausländischen Rechtsbrauchs<br />
Der zweite Beitrag Goldschmidts ist die Darlegung und Verifi zierung der<br />
Theorie des ausländischen Rechtsbrauchs 32 . Die Rechtsbrauchtheorie taucht<br />
in der Rechtsfolge der indirekten Norm neben der Rück- und Weiterverweisung<br />
(renvoi) auf. Unbestritten gilt es als unvereinbar mit dem Völkerrecht,<br />
dass ein Land versucht, in einem anderen Recht zu setzen. Hingegen<br />
bestehen keine Einwände dagegen, dass »die Norm den ausländischen<br />
Rechtsbrauch verlangt, d. h. den lokalen Richter anweist, einen Rechtsstreit<br />
so zu entscheiden, wie er im Ursprungsland der Norm entschieden würde;<br />
sie zeigt eine Tatsache und nicht ein Recht an, da sie von dem Richter die<br />
Verifi zierung eines Wahrscheinlichkeitsurteils verlangt, nicht jedoch die<br />
Anwendung von Rechtsnormen.« 33<br />
Die Rechtsbrauchtheorie bestimmt die Seinsweise des Rechts bezüglich<br />
der Gerechtigkeit 34 ; die Gerechtigkeit beruht im IPR auf der »positiven<br />
Achtung des ausländischen Rechts« (uns den anderen gegenüber so zu verhalten,<br />
wie wir möchten, dass sie sich uns gegenüber verhalten) 35 . Sobald ein<br />
Fall (oder eines seiner Elemente) als ausländisch charakterisiert wurde, muss<br />
diese Achtung zum Tragen kommen; dabei muss es sich um eine positive<br />
30 Vgl. Goldschmidt Nr. 19.<br />
31 Vgl. Goldschmidt Nr. 19. Für eine frühe Entwicklung dieser These in französischer Sprache<br />
siehe Werner Goldschmidt, La conception normologique en droit international privé: Nouv.<br />
Rev. d. i.p. 7 (1940) 16–41.<br />
32 Goldschmidt entwickelt diese Theorie in »La consecuencia jurídica« (oben N. 10) 9 ff. Für<br />
eine deutschsprachige Fassung <strong>dieses</strong> Gesichtspunkts siehe Goldschmidt, Zur ontologisch-logischen<br />
Erfassung des internationalen Privatrechts: ÖZöffR 4 (1952) 121–133. Siehe auch<br />
Goldschmidt, Gestación, quintaesencia y recepción de la teoría del uso jurídico extranjero: La<br />
ley (1985-E) 716–722 (zitiert: Gestación). Albert Ehrenzweig, Private International Law (Leiden<br />
1967) 193, schreibt <strong>dieses</strong> Konzept irrtümlich Kegel zu, obwohl Kegel seinen Ursprung<br />
korrekt angibt. Vgl. Gerhard Kegel, Internationales Privatrecht, Ein Studienbuch 1 (München<br />
1960) 162. Ehrenzweig berichtigt seinen Irrtum in dem Werk »Psychoanalytic Jurisprudence,<br />
On Ethics Aethetics, and ›Law‹ on Crime Tort and Procedure« (Leiden 1971) 141 N. 67, was<br />
Goldschmidt anerkennt.<br />
33 Vgl. Goldschmidt, Consecuencia (oben N. 10) 12.<br />
34 Vgl. Goldschmidt Nr. 142.<br />
35 Vgl. Goldschmidt Nr. 17.
610 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />
Achtung handeln, d. h. das ausländische Recht ist so anzuwenden, wie es in<br />
jenem Land angewendet würde. Darin besteht die so genannte Rechtsbrauchtheorie,<br />
deren <strong>Inhalt</strong> Goldschmidt folgendermaßen formuliert:<br />
»Wenn ausländisches Recht als auf einen Rechtsstreit anwendbar deklariert<br />
wird, muss es grundsätzlich so gehandhabt werden, wie es mit dem größtmöglichen<br />
Grad erreichbarer Wahrscheinlichkeit der Richter des Landes<br />
tun würde, dessen Recht als anwendbar erklärt wurde; als Bezugspunkt<br />
muss ein Richter genommen werden, vor dem der Rechtsstreit verhandelt<br />
würde, wenn er sich in dem entsprechenden Land ergeben hätte.« 36<br />
Damit ist es für Goldschmidt ein virtueller Unterschied, ob eigenes Recht<br />
oder ausländisches Recht »angewendet« wird: Wir wenden das eigene Recht<br />
an und arbeiten mit ihm; aber das ausländische Recht beobachten wir, ahmen<br />
es nach oder imitieren es. Während die eigene Rechtswelt dreidimensional<br />
ist, reduziert sich das ausländische Recht auf eine einzige Dimension,<br />
die soziologische. Denn die Rechtsnormen erscheinen nur in ihrer richterlichen,<br />
administrativen etc. Soziologisierung, womit der Aspekt der Gerechtigkeit<br />
eliminiert wird und erst mit der Kontrolle des ordre public wieder<br />
zurückkehrt 37 .<br />
Goldschmidt begreift die Theorie des ausländischen Rechtsbrauchs als<br />
eine korrekte Form der Rückverweisung, denn mit dieser Theorie gelangt<br />
man zu ähnlichen Resultaten wie mit denen der »tesis de la referencia máxima«<br />
38 , verwickelt sich jedoch nicht in das berühmte internationale Pingpong<br />
bzw. den Teufelskreis, der dann entsteht, wenn beide beteiligten Länder<br />
die Gesamtverweisung (total renvoi) praktizieren, da sich die Gesetzgebungen<br />
der beiden Länder ad infi nitum aufeinander beziehen können.<br />
Demgegenüber können sich zwei Richter nicht endlos gegenseitig anrufen,<br />
denn es ist ihnen nicht erlaubt, die Rechtsgewährung zu verweigern 39 .<br />
Mit der Rechtsbrauchtheorie erklärt Goldschmidt schließlich die sogenannte<br />
prozessrechtliche Untergeordnetheit des ausländischen Rechts, ein<br />
Thema, das wir im nächsten Abschnitt aufgreifen werden, der sich mit der<br />
Theorie der »allgemein bekannten Tatsache« beschäftigt.<br />
Der ausländische Rechtsbrauch wurde in Art. 2 der Interamerikanischen<br />
Konvention über allgemeine Normen des Internationalen Privatrechts (CI-<br />
DIP-II) aufgenommen, die 1979 in Montevideo unterzeichnet wurde. Die<br />
Vorschrift bestimmt, dass »die Richter und Behörden der Unterzeichner-<br />
36 Siehe Goldschmidt Nr. 142.<br />
37 Siehe Goldschmidt Nr. 142.<br />
38 Mit diesem Begriff bezeichnet Goldschmidt die Theorie, die in dem berühmten Forgo-<br />
Fall in der französischen Rechtsprechung begründet wurde und derzufolge das IPR des Richters<br />
das ausländische IPR als anwendbar defi niert und danach dasjenige, das <strong>dieses</strong> für anwendbar<br />
erklärt, das wiederum ein IPR sein kann oder ein Privatrecht usw.; dieser Mechanismus<br />
ist in der deutschen Lehre als »Gesamtverweisung« bekannt.<br />
39 Vgl. Goldschmidt, Consecuencia (oben N. 10) 41; Goldschmidt Nr. 144.
72 (2008)<br />
in memoriam werner goldschmidt<br />
611<br />
staaten verpfl ichtet sind, das ausländische Recht so anzuwenden, wie es die<br />
Richter des Staates tun würden, dessen Recht anwendbar ist, unbeschadet<br />
des Rechts der Parteien, die Existenz und den <strong>Inhalt</strong> des angeführten ausländischen<br />
Rechts vorzubringen und zu beweisen« 40 . Der ausländische<br />
Rechtsbrauch wurde so zu einem in Lateinamerika allgemein anerkannten<br />
Prinzip 41 .<br />
VI. Die Theorie der allgemein bekannten Tatsache<br />
Eine der wichtigsten Aussagen der Rechtsbrauchtheorie besteht darin,<br />
dass sie das ausländische Recht nicht als eine normative Ordnung begreift,<br />
sondern als eine »Tatsache«, nämlich die Tatsache des wahrscheinlichen Ur-<br />
40 Siehe die offi zielle Publikation der OAS: Serie sobre tratados, Nr. 54, OEA/Ser. B/45<br />
(SEPF), Washington 1979 (spanisch/englisch/portugiesisch/französisch) – gültig zwischen<br />
Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Ekuador, Guatemala, Mexiko, Paraguay, Peru, Uruguay<br />
und Venezuela. Vgl. Gonzalo Parra Aranguren, Recent Developments of Confl ict of Laws Conventions<br />
in Latin America: Rec. des Cours 164 (1979-III) 145–146. Vgl. auch Jürgen Samtleben,<br />
Die Interamerikanischen Spezialkonferenzen für Internationales Privatrecht: RabelsZ 44<br />
(1980) 257–320 (284–288); Tatiana B. De Maekelt, General Rules of Private International Law<br />
in the Americas-New Approach: Rec. des Cours 177 (1982-IV) 157 (305–309). Für Liliana<br />
Rapallini, Temática de derecho internacional privado 3 (La Plata 1998) 86–87, dagegen nimmt<br />
Art. 2 das ausländische Recht als »echt« – wenn auch ein ausländisches – an, entsprechend der<br />
Konzeption von Rabel und Wolff. Tatsächlich erklärt der Artikel nicht, ob das ausländische<br />
Recht als Tatsache oder Recht angewendet wird; obzwar nicht zu bezweifeln ist, dass für<br />
Goldschmidt das wahrscheinliche Urteil eines ausländischen Richters eine »Tatsache« darstellt,<br />
ist es nicht weniger sicher, dass die Urteile – ursprünglich Rechtsakte – auch Recht<br />
schaffen und entsprechend als Recht auf andere Fälle anwendbar sind; damit bestehen Gründe<br />
für Zweifel. Siehe auch unten N. 74.<br />
41 Vgl. Gonzalo Parra Aranguren, General Course of Private International Law, Selected<br />
Problems: Rec. des Cours 210 (1988-III) 74 N. 131 (er macht darauf aufmerksam, dass bei der<br />
Diskussion über Art. 2 der CIDIP-II der brasilianische Delegierte Haroldo Valladão seine<br />
Streichung beantragte, da er »überfl üssig« sei, weil bei diesem Thema Konsens bestehe; infolge<br />
der Beharrlichkeit der Delegierten Argentiniens (Werner Goldschmidt) und Paraguays<br />
(Ramón Silva Alonso) konnte sich diese Position aber nicht durchsetzen). Unter den modernen<br />
Texten sei das IPR Venezuelas erwähnt; es bestimmt, dass das ausländische Recht wie in<br />
seinem Ursprungsland anzuwenden ist, vorausgesetzt, es werden die Ziele der venezolanischen<br />
Kollisionsnormen eingehalten; Art. 2, abgedr. in: Gaceta Ofi cial de la República de Venezuela<br />
Nr. 36.511 vom 6. 8. 1998. Siehe Gonzalo Parra Aranguren, The Venezuelan Act on Private<br />
International Law: Yb. P. I. L. 1 (1991) 108; Eugenio Hernández-Bretón, Nueva Ley venezolana<br />
del derecho internacional privado, in: Libro homenaje a Gonzalo Parra Aranguren II (Caracas<br />
2001) 56. Allerdings wird die Auffassung vertreten, dass Art. 2 bei der Regelung der Anwendung<br />
des ausländischen Rechts die »Rechtsthese« vertritt (es also nicht als »Tatsache« behandelt).<br />
Vgl. Tatiana B. De Maekelt, Nueva Ley venezolana del derecho internacional privado, in:<br />
Libro homenaje a Gonzalo Parra Aranguren (diese Note) 100. Auf Grund des Textes und der<br />
Tatsache, dass seine Verfasser Anhänger der Lehrmeinung Goldschmidts sind, bleibt festzuhalten,<br />
dass der letzte Entwurf eines Kodex des IPR in Argentinien ohne Zögern der Rechtsbrauchtheorie<br />
folgt (Art. 11). Siehe unten N. 70.
612 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />
teils des ausländischen Richters. Aber das ausländische Recht ist nicht irgendeine<br />
Tatsache, sondern eine »allgemein bekannte Tatsache«; dies bedeutet<br />
nicht, dass es sich um eine Tatsache handelt, die aller Welt bekannt ist,<br />
sondern um eine Tatsache, die jeder zuverlässig nachprüfen kann. Als eine<br />
solche allgemein bekannte Tatsache kann sie vom Richter in Betracht gezogen<br />
werden, unabhängig davon, ob die Parteien sie vorbringen und alle<br />
Beweise vorlegen, die ihnen opportun erscheinen 42 . Damit versucht Goldschmidt,<br />
die traditionelle Anknüpfung zwischen der Auffasung des ausländischen<br />
Rechts als einer Tatsache und seiner Unterordnung als dispositives<br />
Prinzip (indem es von den Parteien vorgebracht und bewiesen werden muss)<br />
im Prozess zu überwinden, indem er allgemein bekannte Tatsachen als Ausnahmen<br />
von diesem Prinzip erklärt 43 .<br />
Entsprechend der These von Gattari 44 , die Goldschmidt übernimmt 45 ,<br />
kann die allgemeine Bekanntheit unmittelbar, mittelbar, kausal oder entfernt<br />
sein. Wenn der für den Fall zuständige Richter über die ausländische<br />
Gesetzgebung und Rechtsprechung zu dem strittigen Punkt Zugang hat,<br />
erhält sein Urteil einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad. Fehlen ihm einige<br />
dieser Elemente, vermindert sich der Wahrscheinlichkeitsgrad. Aber selbst<br />
wenn er über keines der Elemente verfügt, könnte er auf ein Recht zurückgreifen,<br />
das mit dem, das er nachahmen soll, verwandt ist (beispielweise auf<br />
das französische oder schweizerische Recht, wenn ihm keine Informationen<br />
über das äthiopische Recht zugänglich sind); und nur in letzter Instanz darf<br />
er die lex fori anwenden, denn angesichts der Einheit der Menschheit existiert<br />
eine – wenn auch noch so geringe – Wahrscheinlichkeit, dass das lokale<br />
mit dem ausländischen Recht übereinstimmt.<br />
VII. Die Lehre von der zu erwartenden Gesetzesumgehung<br />
In der Struktur der indirekten Norm Goldschmidts bezieht sich die Gesetzesumgehung<br />
auf das zweite positive Merkmal des Tatbestands, also auf<br />
42 Vgl. Goldschmidt, Consecuencia (oben N. 10) 12 ff. Goldschmidt Nr. 145–146. In drei<br />
Aufsätzen von 1965 und 1966 schrieb sich allerdings Mauro Cappelletti diese Theorie zu, die<br />
er »teoria della probabilità« nannte, was eine heftige Reaktion Goldschmidts hervorrief. Vgl.<br />
Mauro Cappelletti, Las sentencias y las normas extranjeras en el proceso civil [Aus dem Italienischen<br />
übertragen von Santiago Sentís Melendo] (Buenos Aires 1968) Nr. 58; und die Antwort<br />
von Goldschmidt, Gestación (oben N. 32) 720–721. Das Werk Cappelletis war in Argentinien<br />
nicht direkt zugänglich. Die Urheberschaft Goldschmidts wird anerkannt von Carlos Gattari,<br />
La ley extranjera como hecho notorio: El derecho 36 (1971) 913 ff.; Samtleben (oben N. 17)<br />
806 ff.; sowie in seinem späteren Werk Mauro Cappelletti, Processo e ideologie (Bologna 1969)<br />
470 N. 25.<br />
43 Siehe Goldschmidt Nr. 146.<br />
44 Siehe Gattari (oben N. 42) 913 ff.<br />
45 Siehe Goldschmidt Nr. 146.
72 (2008)<br />
in memoriam werner goldschmidt<br />
613<br />
den den Anknüpfungspunkten zu Grunde liegenden Sachverhalt. Die Gesetzesumgehung<br />
kennzeichnet sich durch eine betrügerische Manipulation.<br />
Sehr scharfsinnig sagt Goldschmidt, dass »die Gesetzesumgehung in dem<br />
Versuch der Parteien besteht, die Beziehung von Ursache und Folge [die der<br />
Gesetzgeber zur Grundlage für seine Regelung macht] in eine Beziehung<br />
von Mittel und Zweck zu verwandeln« (Beispiel: Für den Gesetzgeber fungiert<br />
die Tatsache, dass die Ehe in einem Land mit Scheidungsrecht geschlossen<br />
wurde, als »Ursache« dafür, die Aufl ösbarkeit dem Gesetz des<br />
Ortes der Eheschließung zu unterstellen, wobei diese Regel die »Folge« darstellt;<br />
die Parteien, die den »Zweck« verfolgen, einer Gesetzgebung mit<br />
Scheidungsmöglichkeit zu unterliegen, benutzen das »Mittel«, die Ehe in<br />
einem Land zu schließen, das über die entsprechende Gesetzgebung verfügt)<br />
46 . Ein anderer, im argentinischen Schrifttum aus didaktischen Gründen<br />
sehr populärer Satz Goldschmidts charakterisiert die Gesetzesumgehung<br />
als »den Versuch der Parteien, in einem Land entsprechend der Gesetzgebung<br />
eines anderen Landes zu leben, die ihnen das erlaubt, was die Gesetzgebung<br />
des ersteren ihnen verbietet« 47 .<br />
Der wichtigste Beitrag Goldschmidts auf diesem Gebiet ist jedoch die<br />
Auffassung, dass es sich bei der zu erwartenden Gesetzesumgehung tatsächlich<br />
um einen Fall von Gesetzesumgehung handelt; damit soll das Gesetz<br />
eines Staates vor Machenschaften geschützt werden, die auf eine »künftige«<br />
Verletzung seiner Regeln abzielen 48 . Die zu erwartende Gesetzesumgehung<br />
manipuliert die Tatsachen, nicht weil die in dem Moment ehrliche Handlung<br />
unmittelbare Konsequenzen hätte, die vermieden werden sollen, sondern<br />
weil man fürchtet, dass sich in Zukunft derartige Folgen ergeben<br />
könnten, die man deshalb vorausschauend abzuwenden sucht. Das klassische<br />
Beispiel dafür sind Paare, die vor Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 23.515 49 , das<br />
die Ehescheidung ermöglicht, in Argentinien lebten, aber in Mexiko heirateten,<br />
um sich später gegebenenfalls scheiden lassen zu können 50 . Für Goldschmidt<br />
muss eine im Kontext einer zu erwartenden Gesetzesumgehung in<br />
Mexiko geschlossene Ehe als in Argentinien geschlossen gelten (und folglich<br />
unaufl öslich sein) 51 .<br />
Nicht weniger wichtig ist Goldschmidts Charakterisierung der typischen<br />
Indizien für die betrügerische Absicht: Eines ist die »räumliche Expansion«<br />
der Handlungen: Die Parteien tauchen in einem Land auf, manchmal auch<br />
nur durch Vertreter, in dem sie ihr Auftreten nicht rechtfertigen können.<br />
46 Vgl. Goldschmidt Nr. 120.<br />
47 Vgl. Goldschmidt Nr. 120.<br />
48 Vgl. Piombo 1347.<br />
49 Boletín Ofi cial de la República Argentina vom 12. 6. 1987.<br />
50 Vgl. Goldschmidt Nr. 128.<br />
51 Vgl. Goldschmidt Nr. 126, 128, 254. Siehe auch Werner Goldschmidt, Matrimonio celebrado<br />
por poder y con fraude a la expectativa: El derecho 80 (1979) 242 ff.
614 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />
Das andere ist die »zeitliche Kontraktion« (die Parteien handeln mit großer<br />
Schnelligkeit) 52 .<br />
VIII. Das Toleranzrecht<br />
Goldschmidt legte seine kosmopolitische, humanistische und essentiell<br />
optimistische Philosophie des IPR 1977 im Vorwort zur dritten Aufl age<br />
seiner Abhandlung dar. 53<br />
Für Goldschmidt unterscheidet sich das IPR von anderen Disziplinen, die<br />
ebenfalls Fälle mit ausländischen Elementen behandeln, durch seinen spezifi<br />
schen Wert, der in der positiven Achtung des ausländischen Rechts liegt<br />
und dessen Nachahmung bedeutet (Rechtsbrauchtheorie) 54 . Dieser Wert<br />
schlägt sich notwendigerweise in »indirekten Normen« nieder, also Normen,<br />
die für gemischte Fälle keine Lösung anbieten, sondern sich auf die<br />
Feststellung beschränken, dass entweder das nationale oder ausländische<br />
Recht anwendbar ist 55 . Allerdings ist dabei zu beachten, dass der Wert der<br />
positiven Achtung des ausländischen Rechts nur dann zulässig ist, wenn es<br />
hinsichtlich seines Zwecks oder seiner Mittel dem nationalen Recht nicht<br />
widerspricht 56 . Wenn man die positive Achtung des ausländischen Rechts –<br />
begrenzt durch den internationalen ordre public – als Konzept der Toleranz<br />
defi niert, so kann man die Auffassung vertreten, dass das IPR als Recht der<br />
Exterritorialität des ausländischen Privatrechts das »Toleranzrecht« darstellt<br />
57 . In der dritten und den folgenden Aufl agen seines »Derecho internacional<br />
privado« fasst Goldschmidt die Disziplin dreidimensional auf als das<br />
Recht, das gemischte privatrechtliche Fälle mit positiver Toleranz und infolgedessen<br />
indirekt löst.<br />
Humanismus, Universalismus und Optimismus durchdringen das gesamte<br />
Werk Goldschmidts. Sein Humanismus ist deutlich in seiner Dikelogie<br />
präsent, aber auch dort, wo er die Grundprinzipien des internationalen<br />
Rechts der Menschenrechte zum <strong>Inhalt</strong> des ordre public zählt 58 oder die Ein-<br />
52 3 Siehe Goldschmidt Nr. 120. Vgl. Antonio Boggiano, Derecho internacional privado I (Buenos<br />
Aires 1991) 483.<br />
53 Goldschmidt (oben N. 17) 3. Aufl . Prólogo (in den verschiedenen Aufl agen wieder abgedruckt).<br />
54 Vgl. Goldschmidt (oben N. 17) 3. Aufl . Prólogo Punkt I.1.<br />
55 Andere Disziplinen – wie etwa das Fremdenrecht, das Internationale Prozessrecht, das<br />
Einheitsrecht etc. – benutzen dagegen die direkte Methode. In dem Maße, wie sie darauf<br />
abzielen, die nationalen Interessen zu begünstigen oder andere Länder einer Region oder der<br />
Welt zu integrieren, basieren sie auf einer Intoleranz gegenüber dem Ausländischen. Vgl.<br />
Goldschmidt (oben N. 17) 3. Aufl . Prólogo Punkt II.<br />
56 Vgl. Goldschmidt (oben N. 17) 3. Aufl . Prólogo Punkt I.2.<br />
57 Vgl. Goldschmidt (oben N. 17) 3. Aufl . Prólogo Punkt I.2.<br />
58 Beispielsweise wenn er vorschlägt, mittels des ordre public (Art. 14 Abschnitt. 2 argenti-
72 (2008)<br />
in memoriam werner goldschmidt<br />
615<br />
richtung eines »Notgerichtsstands« vorschlägt, durch den die argentinischen<br />
Gerichte die Kompetenz an sich ziehen, wenn es unmöglich ist, ein Verfahren<br />
im Ausland einzuleiten, oder wenn nicht verlangt werden kann, dass es<br />
dort begonnen wird, vorausgesetzt, der Fall bietet eine ausreichende Beziehung<br />
zum Forum im Hinblick auf die Verteidigungsmöglichkeiten im Prozess<br />
59 . Sein Kosmopolitismus ist spürbar in seiner Rechtsbrauchtheorie,<br />
wenn er fordert, dass die wahrscheinliche Lösung des Falls in der ausländischen<br />
Gemeinschaft gesucht werden muss »indem wir uns ihr tamquam<br />
cadaver (mit Kadavergehorsam) unterwerfen« 60 ; und mehr noch in seiner<br />
Verteidigung der lex causae bei der Qualifi zierung der Tatbestandsmerkmale<br />
der indirekten Norm 61 ; weiterhin bei der eingeschränkten Konzeption des<br />
ordre public, die eine gebührende Entfaltung der Exterritorialität des ausländischen<br />
Privatrechts und die gebührende Anerkennung ausländischer Urteile<br />
und Entscheidungen ermöglicht 62 . Sein Optimismus schließlich fi ndet<br />
seinen Ausdruck in dem von ihm erreichten Gleichgewicht zwischen allgemeinen<br />
(philosophischen) Konstruktionen und dem positiven Recht 63 sowie<br />
in seinem Bemühen und seiner Hingabe als Dozent, die sich in der Überzeugungskraft<br />
seines Denkens, der Bildung einer auf seinen Lehren basierenden<br />
juristischen Schule und den 50 Jahren juristischer Lehrtätigkeit zeigt.<br />
Diese sieht Goldschmidt nicht in erster Linie als fachliche Herausforderung<br />
an, sondern als mit der Natur des Rechts selbst zusammenhängend, die ihrerseits<br />
mit dem Schicksal der menschlichen Natur verwandt ist 64 .<br />
nisches ZGB) eine nach dem ausländischen Ort der Eheschließung nichtige Ehe – beispielsweise<br />
zwischen Personen verschiedener Rasse oder Religion – zu korrigieren. Vgl. Goldschmidt<br />
Nr. 154a (S. 252).<br />
59 Angewendet vom Obersten Gerichtshof Argentiniens im Fall Emilia Cavura de Vlasof v.<br />
Alejandro Vlasof vom 21. 3. 1960, Fallos de la Corte Suprema de Justicia de la Nación 246:87<br />
(1960), Jur. Arg. (1960-III) 216 ff., mit Anmerkung von Werner Goldschmidt, La jurisdicción<br />
internacional argentina en materia matrimonial y las Naciones Unidas: La ley 98 (1960) 287–<br />
294.<br />
60 Vgl. Goldschmidt Nr. 142.<br />
61 Siehe Goldschmidt Nr. 106.<br />
62 Siehe Goldschmidt Nr. 16, 154, 367; ders., El orden público internacional (O. P. I.) en el<br />
derecho internacional privado (D. I.Pr.): El derecho 109 (1984) 889–894.<br />
63 Vgl. Batiffol (oben N. 17) 237.<br />
64 Vgl. Perugini de Paz y Geuse (oben N. 7) 1006–1007. Siehe auch Miguel Ángel Ciuro Caldani,<br />
El científi co y el técnico del derecho, Werner Goldschmidt, modelo de científi co del<br />
derecho: Boletín del Centro de investigaciones de fi losofía jurídica y fi losofía social de la<br />
Universidad Nacional de Rosario 23 (1998) 31 ff.
616 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />
IX. Die Vereinheitlichung und Kodifi zierung<br />
des Internationalen Privatrechts<br />
Ein letzter Punkt, auf den wir sehr kurz eingehen möchten, umfasst<br />
Goldschmidts Beitrag zur Kodifi zierung. Er hat immer die Notwendigkeit<br />
eines einheitlichen Gesetzes für das IPR betont, um Argentinien am amerikanischen<br />
und am globalen Integrationsprozess zu beteiligen, der logischerweise<br />
einer juristischen Harmonisierung bedarf 65 . Im Bewusstsein der<br />
Schwierigkeit dieser Aufgabe schlug Goldschmidt auch konkrete Maßnahmen<br />
zu ihrer Überwindung vor. Ohne das Ziel eines Einheitsgesetzes aufzugeben,<br />
hielt er es für einfacher, die »Grundlagen für ein Modellgesetz« zu<br />
fi nden, das die bestehenden Abkommen zwischen den Unterzeichnerstaaten<br />
in Kraft lässt und in dem die folgenden, unverzichtbaren Leitlinien enthalten<br />
sind: der Wohnsitz als prinzipielle Anknüpfung, die Rettung der Einheit<br />
des Falls vor der Aufspaltung sowie die Achtung des ausländischen Elements<br />
66 . Bezüglich des internen Rechts forderte Goldschmidt angesichts der<br />
Verstreutheit der Normen des IPR im normativen Chaos Argentiniens seine<br />
Kodifi zierung 67 .<br />
Sein »Vorentwurf für die Grundlagen eines Einheitsgesetzes (oder eines<br />
Einheitsabkommens oder eines Modellgesetzes) für das Internationale Privatrecht«<br />
(»Anteproyecto de bases de una ley uniforme [o de un convenio<br />
unifi cador normal o de una ley tipo] de Derecho Internacional Privado«)<br />
von 1969 68 und sein »Entwurf für ein Gesetzbuch des Internationalen Privatrechts«<br />
(»Proyecto de Código de Derecho Internacional Privado«) von<br />
1974 69 (dessen allgemeine Merkmale mit denen des Einheitsgesetzes übereinstimmen),<br />
haben die Arbeit der Interamerikanischen Spezialkonferenzen<br />
zum Internationalen Privatrecht stark beeinfl usst. Diese Spezialkonferenzen<br />
werden von der Organisation Amerikanischer Staaten etwa alle sechs Jahre<br />
durchgeführt und haben verschiedene Konventionen, Protokolle, Modellgesetze<br />
und Einheitsdokumente hervorgebracht. In jüngerer Zeit wurde ein<br />
65 Vgl. Alejandro Menicocci, Werner Goldschmidt y la codifi cación del derecho internacional<br />
privado: Investigación y docencia 15 (1990) 23–33.<br />
66 Vgl. Menicocci (vorige Note) 26.<br />
67 1955 veröffentlichte Goldschmidt eine Arbeit, in der er den Wunsch ausdrückte, das<br />
argentinische Internationale Privatrecht zu kodifi zieren und zu aktualisieren. Darin ist auch<br />
ein Kodifi kationsentwurfs enthalten. Vgl. Werner Goldschmidt, Reforma del Derecho Internacional<br />
Privado argentino: Rev. Fac. Tucumán 12 (1955) 169–213. Siehe auch Menicocci (oben<br />
N. 65) 26–27.<br />
68 Veröffentlicht bei Werner Goldschmidt, Estudios iusprivatistas internacionales (Rosario<br />
1969) 163 ff.<br />
69 Mit Mehrheit gebilligt am 2. 12. 1974 von der durch die Entscheidung 425/74 des Justizministeriums<br />
eingesetzten Kommission; veröffentlicht in: Gaceta del notariado 65 (1975)<br />
93–126; erneut abgedr. bei: Alexander Makarov, Quellen des Internationalen Privatrechts 3 (Tübingen<br />
1978) 40 ff., und bei Goldschmidt S. 668–691.
72 (2008)<br />
in memoriam werner goldschmidt<br />
617<br />
Entwurf für ein Gesetzbuch des IPR von verschiedenen Lehrstuhlinhabern<br />
der argentinischen Universitäten vorbereitet und am 14. Mai 2003 70 dem<br />
Ministerium für Justiz, Sicherheit und Menschenrechte vorgelegt. All dies<br />
legt beredtes Zeugnis ab von der in Goldschmidts Entwürfen enthaltenen<br />
Weisheit 71 .<br />
X. Nachwort<br />
Zwei Jahrzehnte nach dem Tod von Werner Goldschmidt kann nicht mit<br />
Sicherheit behauptet werden, dass die Theorie der Dreidimensionalität weiterhin<br />
als die vorherrschende Schule des Internationalen Privatrechts in Argentinien<br />
anzusehen ist, oder dass die Mehrheit der zeitgenössischen Autoren<br />
seinen Lehrmeinungen folgen würde 72 .<br />
Tatsache ist, dass Goldschmidts Auffassungen von führenden Wissenschaftlern<br />
aus Argentinien und dem Ausland stark angegriffen wurden. So<br />
kritisiert beispielsweise Diego Fernández Arroyo von der Universidad<br />
Complutense in Madrid die exzessive Starrheit der Struktur Goldschmidts,<br />
die – zusammen mit ihrem übertriebenen Einfl uss auf die Lehrmeinung in<br />
Argentinien – die Entwicklung anderer und neuerer Lehrmeinungen behindert<br />
habe. Der an der Universität Buenos Aires lehrende Antonio Boggiano<br />
griff in erster Linie das Monopol der Wahlmethode (der indirekten Norm)<br />
an, das die schöpferischen Methoden (der materiellen Normen) und die<br />
Selbstbeschränkung (der Polizeinormen) vernachlässige, die bei der Lösung<br />
eines internationalprivatrechtlichen Falles zu beachten sein könnten; weiterhin<br />
kritisierte er den Ausschluss der Themen der internationalen Zuständigkeit<br />
und der Anerkennung ausländischer Urteile vom Gegenstand des IPR 73 .<br />
Alberto Juan Pardo – seinerzeit Professor der Universität von Buenos Aires<br />
– hat die Fehler der Rechtsbrauchtheorie aufgezeigt, speziell die Prämisse,<br />
70 Beendet durch die Entscheidung 191/02 der vom Ministerium für Justiz und Menschenrechte<br />
eingesetzten Kommission, verlängert durch die Entscheidung 144/02 des Ministeriums<br />
für Justiz, Sicherheit und Menschenrechte. Neben anderen Vorschlägen Goldschmidts<br />
übernimmt der neue Kodifi kationsentwurf die Qualifi kation der Anknüpfungspunkte durch<br />
die lex fori und der übrigen von der Kollisionsnorm verwendeten Merkmale durch die lex<br />
causae (Art. 6), den Rechtsbrauch (Art. 11), seine Konzeption des ordre public als eine Gesamtheit<br />
von Prinzipien (Art. 14), den Notgerichtsstand (Art. 18) und die Einheit der Erbfolge<br />
(Art. 119) und des Konkurses (Art. 124).<br />
71 Siehe Menicocci (oben N. 65) 30–31.<br />
72 Ein Grund dafür ist der wachsende Einfl uss des Methodenpluralismus, der von Boggiano<br />
in Argentinien eingeführt wurde. Vgl. Antonio Boggiano, Del viejo al nuevo derecho internacional<br />
privado, Mediante la cooperación de las organizaciones internacionales (Buenos<br />
Aires 1981) 73 ff.<br />
73 Vgl. Boggiano I (oben N. 52) 82, 167–178. Mit einem ähnlichen Gedankengang: Diego<br />
Fernández Arroyo, Derecho internacional privado, Una mirada actual sobre sus elementos esenciales<br />
(Córdoba 1998) 28–39, 87–91.
618 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />
auf der sie basiert (dass die ausländischen Gesetze ihren juristischen Wert<br />
verlieren, wenn sie exterritorialisiert werden) 74 .<br />
Diese Kritiken haben ihre Berechtigung, und in vielen Fällen teilen wir<br />
sie 75 . Gleichzeitig macht die umfangreiche Literatur zu Goldschmidts Werk<br />
seine Bedeutung deutlich. In Argentinien berufen sich selbst seine Kritiker<br />
in größerem oder geringerem Umfang auf seine Lehren, und es gibt nur<br />
wenige, die zu Recht von sich behaupten können, nicht seine Schüler zu<br />
sein 76 .<br />
Summary<br />
Werner Goldschmidt’s Private International Law: In Memoriam<br />
This article pays tribute to German-Argentine Private International Law<br />
Professor Werner Goldschmidt on the twentieth anniversary of his death.<br />
Born and educated in Germany, Goldschmidt dedicated most of his professional<br />
life to teaching, research and writing in Argentina, where he had a<br />
very strong and long-lasting infl uence which extended throughout Latin-<br />
America<br />
His world-renowned court-like doctrine (teoría del uso jurídico) – according<br />
to which confl ict rules mandate courts not to apply foreign law but<br />
rather to imitate the fact of the probable judgment of the foreign court – leads<br />
the way in many if not most of the region’s domestic PIL systems and has<br />
74 Vgl. Alberto Juan Pardo, Derecho internacional privado, Parte general (Buenos Aires<br />
1976) 245–250; er beruft sich auf die Kritik von Dimitrios Evrigenis, L’Application d’un droit<br />
étranger-Contribution à la théorie générale du droit international privé (Salonique 1956)<br />
(Original in griechischer Sprache; französische Zusammenfassung von Phocion Francescakis, in:<br />
Rev. crit. d. i.p. 1957, 526 ff., 531–532); sie wurde von Adolfo Miaja de la Muela, Derecho internacional<br />
privado-Parte general I (Madrid 1970) 345 ff. aufgenommen und vertieft. Goldschmidt<br />
versucht, sie in seinem Aufsatz zu widerlegen: Goldschmidt, Jacques Maury et les aspects<br />
philosophiques du droit international privé, in: Mélanges offerts à Jacques Maury (Paris<br />
1960) 157–160. Der »ausländische Rechtsbrauch« ist die These Goldschmidts, die am meisten<br />
Aufmerksamkeit – und die stärkste Kritik – in der ausländischen Lehrmeinung erregt hat. Vgl.<br />
neben der bereits genannten Literatur die Einwände von Jacques Maury, Règles générales des<br />
confl its de lois: Rec. des Cours 57 (1936-III) 389–391; Henri Batiffol, Aspects philosophiques<br />
du droit international privé (Paris 1956) 111–112.<br />
75 Eine kritische Analyse des Werks von Goldschmidt überschreitet die Grenzen eines<br />
Aufsatzes zu Ehren des Autors und würde auch teilweise seiner Absicht widersprechen.<br />
76 Vgl. beispielsweise Antonio Boggiano, La doble nacionalidad en derecho internacional<br />
privado (Buenos Aires 1973) (übernimmt die Dreidimensionalität als Darstellungsmethode);<br />
Boggiano (oben N. 52) I 78 (nennt Goldschmidt »meinen Lehrmeister«), 443–495 (geht bei der<br />
Darstellung der allgemeinen Probleme des internationalen Rechts von der Struktur der Kollisionsnorm<br />
aus), 477–482 (ersetzt bei der Defi nition und Anwendung des ausländischen<br />
Rechts die Rückverweisung durch den ausländischen Rechtsbrauch).
72 (2008)<br />
in memoriam werner goldschmidt<br />
619<br />
ultimately been incorporated in the Inter-American Convention on General<br />
Rules of Private International Law (CIDIP-II).<br />
Other contributions of Goldschmidt to Confl icts theory include his Normological<br />
Method – beginning always with the analysis of the norms and its<br />
orders – which forms part of his Tridimensional Conception, a doctrine of<br />
Philosophy of Law assuming that when we analyze the juridical world we<br />
ought to take into consideration its normological dimension together with<br />
its sociological and its dikelogical ones. Also, Goldschmidt’s active promotion<br />
of both codifi cation and the »positive tolerance« of foreign law is to a<br />
large extent responsible for the slow but tangible erosion of traditional territorialism<br />
in Latin-American Private International Law in the last few decades.<br />
Goldschmidt’s doctrines have not been exempt from criticism either in<br />
Argentina or abroad. Nonetheless, the extensive literature addressing these<br />
theories is testimony to a creative genius upon which this article sheds further<br />
light.
Literatur<br />
I. Buchbesprechungen<br />
Mestmäcker, Ernst-Joachim: Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union.<br />
Beiträge zu Recht, Theorie und Politik der europäischen Integration. 2.<br />
ergänzte Aufl . – (Baden-Baden:) Nomos (2006). 800 S. (Wirtschaftsrecht<br />
und Wirtschaftspolitik. Bd. 184.)<br />
Wirtschaft und Verfassung sind in der Europäischen Union aufs Engste verbunden.<br />
Den Verfassungscharakter des Primärrechts sieht Mestmäcker besonders<br />
in der »Transformation völkerrechtlicher Pfl ichten der Mitgliedstaaten in subjektive<br />
Rechte der Bürger, die gerichtlich durchsetzbar sind« (van Gend & Loos;<br />
S. 79, 92 f., 173, 513, 559, 561 f.), begründet. Für die Wirtschaftsverfassung der<br />
Europäischen Gemeinschaft kennzeichnend sind die Privatautonomie, wie sie<br />
den Grundfreiheiten zugrunde liegt, sowie die offene Marktwirtschaft und das<br />
System des unverfälschten Wettbewerbs, die besonders durch das EG-Wettbewerbsrecht<br />
geschützt werden. Hier kommen die von Franz Böhm und Walter<br />
Eucken gelegten ordnungstheoretischen Grundlagen der Gemeinschaft zum<br />
Vorschein (290, 560 f.). Damit ist zugleich der Grund gelegt für eine Privatrechtsgesellschaft<br />
(Böhm), denn »eine Gesellschaft [wird] im gleichen Maße zur<br />
Privatrechtsgesellschaft, in dem an die Stelle von Privilegien, Vorrechten oder<br />
staatlicher Planung das Prinzip der Handlungsfreiheit tritt« (169). Die Ordnung<br />
entwickelt sich hier aus einem System zweckunabhängiger allgemeiner Regeln<br />
(spontane Ordnung im Sinne v. Hayeks), nicht durch Organisation oder eine<br />
planvolle Lenkung (123) oder eine »mit Bewusstsein vorgenommene Regulierung«<br />
(121 f., 291). Kennzeichen der Gemeinschaft ist dementsprechend eine<br />
institutionelle und indirekte (im Gegensatz zur personellen und direkten) Rahmensetzung,<br />
wie sie dem »Recht in der offenen Gesellschaft« (168–175) entspricht.<br />
Zu diesem Rahmen gehört in einer offenen Marktwirtschaft zentral das<br />
Wettbewerbsrecht als Kartellrecht, besonders aber auch als Beschränkung staatlicher<br />
Marktintervention. Freilich: »Eine Rechtsordnung, die Freiheitsrechte<br />
garantiert, setzt [. . .] die Bereitschaft voraus, die in Zukunft anhand seiner Regeln<br />
zu treffenden Entscheidungen zu akzeptieren, obwohl der Ausgang für alle<br />
ungewiss ist. Der ›Schleier der Unwissenheit‹ ( John Rawls) erweist sich auch<br />
empirisch als eine wichtige Bedingung der Rechtsetzung und der Lösung von<br />
Interessenkonfl ikten anhand von Rechtsregeln.« (172 f.). Eben diese Bereitschaft,<br />
die Ergebnisse der Freiheitsverfassung zu akzeptieren, ist das Verdienst<br />
der Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft. Sie scheint jedoch abzunehmen<br />
und einem größeren Vertrauen in staatliche Wirtschaftspolitik zu weichen.<br />
Dahinter steht die »durch nichts gerechtfertigte Annahme, dass Politiker<br />
oder Beamte besser als Unternehmen in der Lage sind, unter Bedingungen der<br />
Unwissenheit zu planen« (172).<br />
RabelsZ Bd. 72 (2008) S. 620–661<br />
© 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0033-7250
72 (2008)<br />
literatur<br />
621<br />
Der Band versammelt eine Vielzahl von Einzelbeiträgen, von denen die<br />
meisten aus den Jahren 1993–2005 stammen, einige (zum Kartellrecht) aber aus<br />
den Jahren 1965–1968. Sie betreffen ganz überwiegend Grundfragen der europäischen<br />
Einigung und des EG-Kartellrechts, auf die auch Spezialfragen, etwa<br />
zum Urheber- und Medienrecht, zurückgeführt werden. Kennzeichen der Beiträge<br />
ist es, dass Mestmäcker auch scheinbare Einzelfragen im Rahmen der Verfassung<br />
von Gemeinschaft und Wirtschaft sieht: So zum Beispiel wenn er die<br />
»Beschäftigungspolitik als neue Aufgabe der Europäischen Union« (310–326) in<br />
ihrer Bedeutung für »Soziale Marktwirtschaft und Europäisierung des Rechts«<br />
(288–309) auslotet oder die »Daseinsvorsorge« (100–115 sowie 116–132; auch<br />
94 f.) in ihren Implikationen würdigt. Der Sinn fürs Prinzipielle, für die Auswirkungen<br />
punktueller Änderungen auf das Gesamtsystem, eröffnet weitsichtige<br />
Perspektiven. Was die Einzelbeiträge zu einem Ganzen vereint, was sie von<br />
dem jeweiligen Anlass emanzipiert und was zugleich ihre Halbwertzeit deutlich<br />
erhöht, das ist ihre rechtsphilosophische und ordnungspolitische Grundlegung.<br />
»Seit 40 Jahren sucht Europa in seinen organisierten Teilen nach seiner Identität.<br />
Diese Zeit entspricht recht genau dem Teil meines Lebens, in dem ich das<br />
Glück hatte, wissenschaftlich arbeiten zu können«, schreibt Mestmäcker 1997.<br />
Wir haben das Glück, dass er diese Arbeit fortführt und weiterhin an der Gestaltung<br />
des (Europa-)Rechts mitwirkt. Für jeden, der an den Grundlagen des<br />
Gemeinschaftsrechts und des Wirtschafts- und Privatrechts interessiert ist, ist<br />
der Band eine wahre Fundgrube.<br />
Bochum Karl Riesenhuber<br />
Francq, Stéphanie: L’applicabilité du droit communautaire dérivé au regard des<br />
méthodes du droit international privé. (Zugl.: Louvain, Univ., Diss.). – Bruxelles:<br />
Bruylant; Paris: LGDJ 2005. XIV, 722 S. (Bibliothèque de la Faculté<br />
de droit de l’Université catholique de Louvain. 46.)<br />
Wie wird der räumliche Anwendungsbereich einer Norm bestimmt? Das<br />
Internationale Privatrecht stellt zur Beantwortung dieser Frage im Wesentlichen<br />
zwei Methoden zur Verfügung: die auf die mittelalterliche Statutentheorie zurückgehende<br />
unilaterale Methode einerseits und die von Friedrich Carl v. Savigny<br />
im 19. Jahrhundert begründete multilaterale Methode andererseits. 1 Beide Methoden<br />
unterscheiden sich fundamental. Während der Unilateralismus bei der<br />
Norm ansetzt und durch Auslegung ermittelt, ob sie auf einen bestimmten Lebenssachverhalt<br />
räumlich Anwendung fi nden will, ist für den Multilateralismus<br />
1 Zum historischen Hintergrund von Unilateralismus und Multilateralismus, insbesondere<br />
zur Statutentheorie und zur Kollisionsrechtslehre von Friedrich Carl v. Savigny, siehe Rudolf<br />
de Nova, Historical and Comparative Introduction to Confl ict of Laws: Rec. des Cours 118<br />
(1966) 433 (443–448, 453–464); Gerhard Kegel/Klaus Schurig, Internationales Privatrecht 9<br />
(2004) 166–168 und 181–185; Friedrich K. Juenger, A Page of History: Mercer L. Rev. 35 (1984)<br />
419 (424–430, 448–454). Siehe auch Symeon C. Symeonides, General Report, in: Private International<br />
Law at the End of the 20 th Century: Progress or Regress?, hrsg. von dems. (1998) 3<br />
(9–21).
622 literatur RabelsZ<br />
der Lebenssachverhalt der Ausgangspunkt. Dieser wird mit Hilfe von Kollisionsnormen<br />
einer bestimmten Rechtsordnung und damit einer bestimmten<br />
Norm zugeordnet, die dann unabhängig von ihrem Anwendungswillen anzuwenden<br />
ist.<br />
In Europa dominiert bei der Bestimmung des räumlichen Anwendungsbereichs<br />
einer Norm seit dem 19. Jahrhundert – nach herrschender Auffassung –<br />
die zuletzt beschriebene multilaterale Methode. Dem Unilateralismus wird<br />
demgegenüber lediglich eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Mit der hier zu<br />
besprechenden Arbeit macht sich Stéphanie Francq daran, <strong>dieses</strong> Bild von der<br />
»multilateralen« Festung Europas zu widerlegen – ein Anliegen, das zwar zunächst<br />
überrascht, aber bei näherer Betrachtung seine Berechtigung hat. Denn<br />
Francq widmet sich Normen, die bislang noch nicht unter dem Gesichtspunkt<br />
der kollisionsrechtlichen Dialektik von Unilateralismus und Multilateralismus<br />
untersucht worden sind: den Normen des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts.<br />
Ausgehend von der Beobachtung, dass zahlreiche Verordnungen und<br />
Richtlinien ihren räumlichen Anwendungsbereich selbst bestimmen, stellt sie<br />
die Frage, wie sich das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht insgesamt zu den<br />
beiden oben beschriebenen kollisionsrechtlichen Methoden verhält. Sie betrachtet<br />
die einschlägigen Regelungsakte damit nicht nur aus einer vollkommen<br />
neuen Perspektive, sondern beleuchtet darüber hinaus eine bislang kaum beachtete<br />
Schnittstelle zwischen Gemeinschaftsrecht und Kollisionsrecht. Durch die<br />
ausführliche Beschäftigung mit Grundfragen kollisionsrechtlicher Methodik im<br />
Kontext des Gemeinschaftsrechts leistet sie gleichzeitig einen bedeutenden Beitrag<br />
zur aktuellen Diskussion über die Zukunft des Kollisionsrechts in Europa.<br />
Die Arbeit von Francq gliedert sich in eine Einleitung (S. 5–65) und drei<br />
Hauptteile (67–652). In der Einleitung, die den Leser sofort in ihren Bann zieht,<br />
stellt sie zunächst das Anliegen ihrer Arbeit dar. Sie beginnt, indem sie drei<br />
Vorschriften aus unterschiedlichen Bereichen des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts<br />
im Wortlaut wiedergibt und die Frage stellt, was diesen Bestimmungen<br />
gemein ist. Der Leser erkennt sofort: Alle drei Vorschriften bestimmen die<br />
Voraussetzungen, unter denen sie räumlich Anwendung fi nden. Francq nimmt<br />
diese Beobachtung zum Ausgangspunkt für die provokative These, dass das<br />
gesamte sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht seinen räumlichen Anwendungsbereich<br />
selbst bestimmt und damit aus der Sicht kollisionsrechtlicher Methodik<br />
einem unilateralen Ansatz folgt. Bevor sie dieser These im Einzelnen nachgeht,<br />
ordnet sie ihr Thema jedoch in den größeren systematischen und methodischen<br />
Zusammenhang ein: Auf nur wenigen Seiten spannt sie souverän den Bogen<br />
von der Bestimmung des Anwendungsbereichs von Normen im Allgemeinen<br />
(7–14) über die Bestimmung des räumlichen Anwendungsbereichs von Normen<br />
des Privatrechts (15–42) zur Bestimmung des räumlichen Anwendungsbereichs<br />
von Normen des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts (42–65). Dabei geht sie<br />
insbesondere auf die für ihre Untersuchung wichtigen Aspekte des Unilateralismus<br />
sowie des Multilateralismus ein und weist auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten<br />
einerseits sowie Unvereinbarkeiten und Überschneidungen andererseits<br />
hin. Sie betont, dass sich beide Methoden zur Bestimmung des räumlichen<br />
Anwendungsbereichs von Normen zwar theoretisch ausschließen, in der Praxis<br />
häufi g jedoch harmonisch nebeneinander existieren. Als prominenteste Bei-
72 (2008)<br />
literatur<br />
623<br />
spiele nennt sie international zwingende Normen (lois de police), die von der<br />
multilateralen Methode anerkannt werden, obwohl sie ihren räumlichen Anwendungsbereich<br />
im Sinne des Unilateralismus selbst bestimmen.<br />
Im ersten und zweiten Hauptteil (67–475) macht sich Francq dann an den<br />
Nachweis ihrer These und untersucht das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht<br />
aus dem Blickwinkel kollisionsrechtlicher Methodik. Minutiös und unter umfassender<br />
Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur arbeitet sie die<br />
einschlägigen Akte des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts auf den Gebieten<br />
des Wettbewerbsrechts (69–176), des Transportrechts (177–273), des Verbraucherrechts<br />
(281–363), des Arbeitsrechts sowie des Handelsvertreterrechts (365–<br />
419) auf und untersucht, wie diese die Anwendbarkeit der einschlägigen Normen<br />
bestimmen. Dabei geht sie im ersten Hauptteil zunächst auf die einschlägigen<br />
Verordnungen und damit auf die Rechtsakte mit unmittelbarer Geltung<br />
ein (67–273). Im zweiten Hauptteil wendet sie sich den relevanten Richtlinien<br />
und damit den lediglich mittelbar geltenden Rechtsakten zu (275–475). Nach<br />
genauer und präziser Auswertung des in seiner Masse schier überwältigenden<br />
Materials kommt sie zu einem ebenso überraschenden wie eindeutigen Ergebnis:<br />
Alle Verordnungen und Richtlinien des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts<br />
bestimmen ihren Anwendungsbereich – explizit oder implizit – selbst,<br />
und zwar unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Regelungsinhalte und Regelungsziele.<br />
Das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht folgt damit – aus der Sicht<br />
kollisionsrechtlicher Methodik – einem unilateralen Ansatz.<br />
Francq lässt es allerdings nicht bei diesem – rein positiven Befund – bewenden.<br />
Vielmehr bemüht sie sich im dritten und letzten Hauptteil (477–652) um<br />
eine Erklärung des beobachteten Phänomens. Dabei untersucht sie zunächst, ob<br />
sich die Dominanz des Unilateralismus im sekundären Gemeinschaftsprivatrecht<br />
aus dem (europarechtlichen) Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />
oder der (kollisionsrechtlichen) Theorie der Eingriffsnormen ergibt. Beides<br />
verneint sie jedoch: Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gebe lediglich<br />
den Rahmen vor, in dem sich das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht<br />
im Hinblick auf seinen räumlichen Anwendungsbereich zu bewegen habe, mache<br />
aber keine Vorgaben hinsichtlich seiner methodischen Bestimmmung (481–<br />
536). Die kollisionsrechtliche Theorie der Eingriffsnormen könne nicht erklären,<br />
dass die Bestimmungen des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts, selbst<br />
wenn sie räumlich Anwendung fänden, durch Parteivereinbarung abbedungen<br />
werden könnten (537–576). Francq stellt deshalb die These auf, dass lediglich die<br />
Normqualität des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts und damit der Anspruch<br />
des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts auf normative Geltung die<br />
Dominanz des Unilateralismus erklären könne (577–587). Das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht<br />
sei als System von Normen zu verstehen, das sich an<br />
Rechtssubjekte wende und von diesen Gefolgschaft verlange. Es müsse deshalb<br />
notwendigerweise auch seinen eigenen räumlichen Anwendungsbereich bestimmen.<br />
Die zu beobachtende Dominanz des Unilateralismus ergebe sich folglich<br />
daraus, dass sich das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht als (partielles)<br />
unilaterales Kollisionsrechtssystem darstelle, wie es von namhaften »Unilateralisten«,<br />
insbesondere Rolando Quadri bereits seit langer Zeit gefordert werde<br />
(588–599).
624 literatur RabelsZ<br />
Aber auch mit der Erklärung des im ersten und zweiten Hauptteil beobachteten<br />
Phänomens bleibt die Autorin nicht stehen. Sie geht erneut einen Schritt<br />
weiter, indem sie sich bemüht, sowohl das Phänomen als auch ihre Erklärung<br />
normativ zu rechtfertigen. Kritisch setzt sie sich zu diesem Zweck mit dem<br />
Unilateralismus im Allgemeinen und dem Unilateralismus des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts<br />
im Besonderen auseinander und versucht, die Argumente<br />
zu widerlegen, die gegen die unilaterale Methode klassischerweise ins<br />
Feld geführt werden (600–621). Ausführlich legt sie dar, dass weder das angeblich<br />
fehlende Bewusstsein des Gesetzgebers für den räumlichen Anwendungsbereich<br />
einer Norm, noch die notwendige Auffangfunktion der lex fori<br />
in Fällen, in denen kein Recht Anwendung beansprucht, den Unilateralismus<br />
des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts treffen können (601–609). Ebenso<br />
ausführlich begründet sie, dass sich der Unilateralismus nicht deswegen in innere<br />
Widersprüche verwickelt, weil er in Fällen, in denen nur eine Norm<br />
Anwendung beansprucht (»unechte« Konfl ikte), im Kern eine multilaterale<br />
Kollisionsnorm zur Anwendung bringt (609–613). Probleme erkennt die Autorin<br />
im Unilateralismus lediglich insofern, als er Fälle nicht lösen kann, in<br />
denen mehrere Normen Anwendung beanspruchen (»echte« Konfl ikte), und<br />
insofern, als er die lex fori durch die Etablierung eines Anwendungsvorrangs<br />
bevorzugt (614–621). Da sie beide Probleme allerdings im Kontext des sekundären<br />
Gemeinschaftsprivatrechts für lösbar hält, begrüßt sie den im ersten und<br />
zweiten Hauptteil gefundenen Trend zum Unilateralismus und die damit einhergehende<br />
Entwicklung eines (partiellen) unilateralen Kollisionsrechtssystems.<br />
Die Arbeit von Francq stellt sich insgesamt als beeindruckende Analyse des<br />
sekundären Gemeinschaftsprivatrechts unter dem Gesichtspunkt kollisionsrechtlicher<br />
Methodik dar. Mit ebenso großer sprachlicher Brillianz wie inhaltlicher<br />
Überzeugungskraft weist sie nach, dass die wesentlichen Akte des sekundären<br />
Gemeinschaftsprivatrechts – entweder ausdrücklich oder konkludent –<br />
ihren Anwendungsbereich selbst bestimmen, und zeigt damit, dass der räumliche<br />
Anwendungsbereich europäischer Normen nicht nur mit Hilfe der multilateral<br />
ausgerichteten Kollisionsnormen Savigny’scher Prägung ermittelt werden, sondern<br />
auch mit Hilfe des unilateralen Ansatzes. Nicht ganz überzeugen können<br />
ihre Ausführungen allerdings dort, wo sie über diesen positiven Befund hinausgeht.<br />
Im Hinblick auf ihre »Erklärung« für das beobachtete Phänomen fällt<br />
zunächst auf, dass es sich nicht wirklich um eine Erklärung handelt, die Aufschluss<br />
über die Hintergründe und Ursachen der unilateralen Tendenz des sekundären<br />
Gemeinschaftsprivatrechts geben würde. Dass sich das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht<br />
als (partielles) unilaterales System im Sinne von Quadri<br />
darstellt, ist vielmehr eine Deutung, die nur dann überzeugt, wenn man den<br />
Unilateralismus als kollisionsrechtliche Methode anerkennt, wenn man also davon<br />
ausgeht, dass Normen aufgrund ihrer Normqualität stets ihren eigenen<br />
räumlichen Anwendungsbereich bestimmen. Tut man dies nicht, ist der Hinweis<br />
auf die Normqualität des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts nicht geeignet,<br />
Aufschluss darüber zu geben, warum Richtlinien und Verordnungen auf<br />
dem Gebiet des Privatrechts ihren räumlichen Anwendungsbereich selbst bestimmen.<br />
Ihre »Erklärung« läuft damit »ins Leere«.
72 (2008)<br />
literatur<br />
625<br />
Aber nicht nur die »Erklärung« der unilateralen Tendenz des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts<br />
an sich, auch der Versuch einer normativen Rechtfertigung<br />
des Unilateralismus kann nicht voll umfassend überzeugen. Ausschlaggebend<br />
dafür ist, dass sich die Autorin hier lediglich mit den »klassischen« – theoretischen<br />
– Argumenten gegen den Unilateralismus beschäftigt und mit großer<br />
Akribie und argumentativer Ausführlichkeit darlegt, warum sie sowohl im Allgemeinen<br />
als auch im Kontext des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts nur<br />
bedingte Überzeugungskraft haben. Auf zwei für die Praxis entscheidende<br />
Punkte geht sie allerdings nicht ein: Zunächst lässt sie unerwähnt, dass ein unilateraler<br />
Ansatz mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten und deshalb mit<br />
immensen Kosten einhergeht. Ein Gericht, das mit der Lösung eines grenzüberschreitenden<br />
Sachverhalts befasst ist, muss nämlich alle in Betracht kommenden<br />
Rechtsordnungen nach ihrem Anwendungswillen »absuchen« und – falls es an<br />
dahingehenden ausdrücklichen Regelungen fehlt – jede möglicherweise einschlägige<br />
ausländische Norm unter Berücksichtigung ihres Regelungsinhalts<br />
und ihres Regelungszwecks auf ihren Anwendungswillen hin auslegen. Unabhängig<br />
davon, dass Gerichte regelmäßig weder über die dafür erforderliche –<br />
rechtvergleichende – Ausbildung noch über die notwendigen Ressourcen verfügen,<br />
dürfte klar sein, dass ein derartiger Ansatz die Rechtsermittlungs- und<br />
die Rechtsanwendungskosten zu Lasten der Parteien und des Steuerzahlers in<br />
nahezu unermessliche Höhe treibt. 2 Damit einher geht ein zweites Problem, das<br />
Francq in ihrer Arbeit nicht behandelt, nämlich die jedem unilateralen Ansatz<br />
innewohnende Tendenz zum »Heimwärtsstreben« und damit zur Bevorzugung<br />
der lex fori. Zwar setzt sie sich ausführlich mit der Bevorzugung der lex fori<br />
durch den Unilateralismus auseinander, die dadurch entsteht, dass dem Anwendungswillen<br />
der lex fori stets Vorrang eingeräumt wird (616–620). Außen vor<br />
lässt sie allerdings, dass die Bevorzugung der lex fori nicht nur ausdrückliches<br />
Programm des Unilateralismus ist, sondern in vielen Fällen auch ungewollte<br />
Folge. Denn die Verpfl ichtung zur aufwendigen Ermittlung des Anwendungswillens<br />
aller möglicherweise einschlägigen Normen, an deren Ende die Anwendung<br />
einer ausländischen, dem Gericht unbekannten Vorschrift stehen kann,<br />
wird vor dem Hintergrund der in die Kenntnis des eigenen Rechts getätigten<br />
spezifi schen Investitionen häufi g dazu führen, dass Gerichte eine »Abkürzung«<br />
nehmen und leichtfertig auf den Anwendungswillen der ihnen bekannten lex<br />
fori schließen. 3 Dass dies kein übertriebener Pessimismus ist, zeigt sich eindrucksvoll<br />
am Beispiel der USA: Hier tendieren Richter in Bundesstaaten, die<br />
unilateralen Ansätzen wie beispielsweise der governmental interest analysis oder<br />
anderen Ansätzen der American Confl ict of Laws Revolution folgen, besonders häu-<br />
2 Siehe dazu auch Giesela Rühl, Methods and Approaches in Choice of Law, An Economic<br />
Perspective: Berkeley J. Int. L. 24 (2006) 801 (824–825).<br />
3 Siehe dazu auch Nita Ghei/Francesco Parisi, Adverse Selection and Moral Hazard in Forum<br />
Shopping, Confl ict Laws as Spontaneous Order: Cardozo L. Rev. 25 (2004) 1367 (1376);<br />
Andrew T. Guzman, Choice of Law: New Foundations: Geo. L. J. 90 (2002) 883 (896–897)<br />
und Rühl (vorige Note) 828–829.
626 literatur RabelsZ<br />
fi g zur Anwendung der lex fori. 4 Ob ein unilateraler Ansatz vor diesem Hintergrund<br />
trotzdem normativ überzeugen kann, erscheint zweifelhaft. 5<br />
Insgesamt können die zuletzt genannten Schwächen die Bedeutung der Arbeit<br />
allerdings nicht schmälern. Die ausführliche und präzise Analyse der einschlägigen<br />
Verordnungen und Richtlinien, die Francq vornimmt, erweist sich<br />
unabhängig von der Überzeugungskraft der von ihr angebotenen Erklärung<br />
und Rechtfertigung des Unilateralismus als Meilenstein für das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht<br />
und das europäische Kollisionsrecht. Vieles, was über<br />
Unilateralismus und Multilateralismus in Europa bislang geschrieben wurde,<br />
wird aufgrund der Erkennnisse von Francq überdacht und neu geordnet werden<br />
müssen. Darüber hinaus werden viele Fragen, die sich aus ihren Erkenntnissen<br />
ergeben, zu beantworten sein. Geklärt werden muss etwa, wie sich der Vormarsch<br />
des Unilateralismus im sekundären Gemeinschaftsprivatrecht zum Multilateralismus<br />
des im Werden begriffenen Gemeinschaftskollisionsrechts, insbesondere<br />
der Verordnungen zur Vereinheitlichung des Kollisionsrechts der vertraglichen<br />
und außervertraglichen Schuldverhältnisse (»Rom I« und »Rom II«)<br />
verhält. Stellt sich der hier zu betrachtende Trend als widersprüchlich dar? 6<br />
Muss die Rolle multilateraler Kollisionsnormen in Europa grundsätzlich überdacht<br />
werden? 7 Welchen Platz sollten Unilateralismus und Multilateralismus im<br />
Europäischen Binnenmarkt einnehmen? Sollten beide Methoden nebeneinander<br />
bestehen? 8 Oder gebührt einer Methode, namentlich dem Unilateralismus,<br />
der Vorrang? 9 Die Arbeit von Stéphanie Francq legt die Notwendigkeit zur Diskussion<br />
dieser und anderer Fragen eindrucksvoll dar und gibt wertvolle Anregungen<br />
für ihre Beantwortung. Bei der in den nächsten Jahren erforderlichen<br />
Neubetrachtung kollisionsrechtlicher Methodik im europäischen Kontext, insbesondere<br />
bei der genaueren Auslotung der möglichen Anwendungsbereiche<br />
von Unilateralismus und Multilateralismus, wird das hier besprochene Buch<br />
deshalb Ausgangspunkt und Referenzpunkt zugleich sein.<br />
Hamburg/Florenz Giesela Rühl<br />
4 Vergleiche nur die Studien von Patrick J. Borchers, The Choice-of-Law Revolution, An<br />
Empirical Study: Wash. & Lee L. Rev. 49 (1992) 357 (370–375); Michael E. Solimine, An Economic<br />
and Empirical Analysis of Choice of Law: Ga. L. Rev. 24 (1989) 49 (85, 87–88).<br />
5 Ähnlich, wenn auch nur angedeutet, Simon Schwarz, Buchbesprechung: Stéphanie<br />
Francq, L’applicabilité du droit communautaire derivé au régard des methodes du droit international<br />
privé: ZEuP 2008, 218.<br />
6 So Francq S. 453, 598.<br />
7 So Francq S. 453, 479, 599, 645.<br />
8 So die Andeutung von Francq S. 446–475, 646.<br />
9 So Francq im Hinblick auf die Verordnungen auf dem Gebiet der vertraglichen und außervertraglichen<br />
Schuldverhältnisse (»Rom I« und »Rom II«), die sie nur auf den nicht harmonisierten<br />
Bereich des Privatrechts anwenden will (S. 650).
72 (2008)<br />
literatur<br />
627<br />
Pontier, Jannet A./Edwige Burg: EU Principles on Jurisdiction and Recognition<br />
and Enforcement of Judgments in Civil and Commercial Matters according<br />
to the case law of the European Court of Justice. – The Hague: T. M. C. Asser<br />
Press (2004). X, 269 S.<br />
Gerade bei der autonomen Auslegung des europäischen Zivilprozessrechts<br />
nimmt der Europäische Gerichtshof (EuGH) gern auf Prinzipien Bezug. Es liegt<br />
daher nahe, diese zu analysieren. Das hier anzuzeigende Werk bietet eine solche<br />
Analyse anhand von 118 bis zum 1. Januar 2004 ergangenen Luxemburger Entscheidungen<br />
zum Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen<br />
(EuGVÜ).<br />
Ähnlich wie der EuGH sehen die Autorinnen dabei von der Berücksichtigung<br />
juristischer Literatur fast vollständig ab – <strong>dieses</strong> mag mit dem Selbstverständnis<br />
eines Höchstgerichts vereinbar sein, ist bei einem rechtswissenschaftlichen<br />
Text aber doch zumindest überraschend; das Nachdenken über die gerade<br />
etwa dem Zuständigkeitsrecht zugrunde liegenden Wertungen hat ja nicht<br />
erst gestern begonnen. Natürlich ist es kaum möglich, die europaweit erschienene<br />
Literatur zum Europarecht zu berücksichtigen; wer kennt <strong>dieses</strong> Dilemma<br />
nicht? Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass die Autorinnen des vorliegenden<br />
Bandes keinerlei Literatur zum EuGVÜ konsultiert haben und ihre Schlüsse aus<br />
der Rechtsprechung des EuGH sozusagen auf amateur-originalgeniehafte Weise<br />
gezogen haben. Daher würde es wissenschaftliche Redlichkeit gebieten, diese<br />
Literatur auch zu zitieren, auch und gerade um den nationalen Hintergrund<br />
der Autorinnen offenzulegen – niemand schreibt ja »rein europäisch«, jeder ist<br />
mehr oder weniger stark von einer oder mehreren Rechtstraditionen beeinfl usst<br />
– und das sollte man auch offenlegen. In der Tat hätte ein deutscher Jurist das<br />
im vorliegenden Werk errichtete Prinzipiengebäude auch in manchem Punkt<br />
anders gestaltet – gerade deshalb wäre es interessant zu erfahren, auf welchem<br />
Hintergrund es entwickelt wurde und ob und inwiefern einzelne Prinzipien so<br />
vom EuGH aus einer bestimmten Rechtstradition gewonnen oder erst von den<br />
Verfasserinnen aufgrund ihrer Vorprägung so in der Judikatur erkannt wurden.<br />
Aus Sicht unseres Rechtskreises stellt sich diese Frage deutlich etwa bei dem<br />
wohl aus dem romanischen Rechtsdenken 1 stammenden Zugang, die prozessualen<br />
Rechte des Beklagten als »Rights of the Defence« zu formulieren. Durch<br />
seine »reine« Beschränkung auf die Rechtsprechung des EuGH suggeriert das<br />
Buch freilich, »ganz autonom-europäisch« zu sein, also sozusagen die zur autonomen<br />
Auslegung durch den EuGH passende Wissenschaft darzustellen. Ja –<br />
dazu gäbe es manches zu sagen, doch nicht an dieser Stelle, weil auch das zu<br />
rezensierende Buch diesen Gedanken nicht formuliert.<br />
Literaturzitate fi nden sich freilich im ersten Kapitel der Arbeit (»The Method<br />
of Interpretation used by the Court of Justice: The Model of Principles«, S. 5–<br />
15); dort bezieht sich die Arbeit indes kaum auf europäische Autoren, vielmehr<br />
wird zur Fundierung der angewandten Methode fast ausschließlich auf die USamerikanische<br />
Rechtstheorie und hier vor allem auf Dworkin abgehoben (Alexy<br />
1 Siehe dazu rechtsvergleichend etwa Habscheid, Introduzione al diritto processuale civile<br />
comparato (1985) 151 ff.
628 literatur RabelsZ<br />
darf sich immerhin einer Erwähnung in N. 21 erfreuen). Hier kann und soll<br />
nicht refl ektiert werden, ob diese Rechtstheorie überhaupt oder in concreto der<br />
Sache gerecht wird. Die von den Autorinnen gewählte Herangehensweise ist es<br />
in diesem Zusammenhang kaum. Die Rechtsdogmatik (und diese ist Gegenstand<br />
des Buches) mag manchem bisweilen etwas wenig glamourös erscheinen;<br />
daraus resultiert dann nicht selten das Bemühen, dogmatische Werke mit aus<br />
Nachbardisziplinen geborgten »Grundlagen«-<strong>Inhalt</strong>en zu »verhübschen«, meistens<br />
am Anfang der jeweiligen Werke; früher diente hier eher die Rechtsgeschichte<br />
als Fundus, heute eher Theorie und ökonomische Analyse. Wer aus<br />
solchen Disziplinen wirklich »Grundlegendes« für die Dogmatik zu gewinnen<br />
vermag, verdient höchsten Respekt; die anderen – etwa die Verfasserinnen des<br />
vorliegenden Werks – sollten sich nicht durch vorangestellte »Theorieteile« dafür<br />
entschuldigen müssen, dass sie dann anschließend »nur« Jurisprudenz betreiben.<br />
Die von den Autorinnen vorgenommene »reine Judikaturanalyse« hat dann<br />
freilich einen erheblichen Vorteil: Gerade die überaus enge Einschränkung des<br />
Anschauungsgegenstandes – nämlich auf den Text der Begründung von EuGH-<br />
Entscheidungen – dient da und dort einem Gewinn von Klarheit. Gerade weil<br />
nur die Judikatur des EuGH dargestellt wird, und dabei auch kein Versuch unternommen<br />
wird, deren Argumente zu kritisieren, mit anderen Auffassungen<br />
zu kontrastieren oder sie weiterzuentwickeln, werden die vom EuGH herangezogenen<br />
Topoi zum Teil sehr klar dargestellt, und zwar auch und gerade (aber<br />
nicht nur!) in ihrer teilweise nicht zu übersehenden Leerformelhaftigkeit; ob<br />
<strong>dieses</strong> von den Autorinnen so bewusst bezweckt war, oder ob sie ihre Methode<br />
im Wesentlichen schon für die ganze angesichts des EuGVÜ mögliche Dogmatik<br />
halten, wird allerdings nicht recht klar; zum Teil hofft man Ersteres, zum<br />
Teil befürchtet man Letzteres.<br />
Ein typisches Beispiel stellt etwa die Diskussion des Prinzips »the defendant’s<br />
right to be heard in an appropriate court« dar; hier wird zunächst auf etwa zwei<br />
Seiten dargelegt, dass dieser »appropriate court« »ideally« jener im Wohnsitzstaat<br />
sei (55–57); auf S. 123 f. wird dann auf die Frage eingegangen, ob und inwiefern<br />
daraus folgt, dass Ausnahmen vom Grundsatz des Art. 2 eng auszulegen sind. In<br />
der Tat spielt <strong>dieses</strong> Argument in der Rechtsprechung des EuGH ja bisweilen<br />
eine Rolle, 2 aber eben nicht immer. Die Grundlagen und damit im Zusammenhang<br />
die (unklare) Tragweite <strong>dieses</strong> Grundsatzes stellen ein durchaus nicht nebensächliches<br />
Problem des europäischen Zivilprozessrechts dar. Dies wird anhand<br />
der Darstellung aber keineswegs klar – diese stellt die Judikatur des EuGH<br />
als ebenso konsistent dar, wie es der Gerichtshof selbst tut. Damit wird eine<br />
wesentliche Chance einer Judikaturanalyse vertan: Statt nüchtern Glanz und<br />
Elend der Rechtsprechung zu analysieren und damit konsistente Regeln ebenso<br />
zu identifi zieren wie Bruchlinien und Unklarheiten, wird hier versucht, ein<br />
möglichst klares »System« der Prinzipien des EuGH abzubilden, und zwar auch<br />
dort, wo die Rechtsprechung ein solches (vielleicht noch) nicht ausreichend klar<br />
hergibt.<br />
Auffällig ist die geringe Aufmerksamkeit, welche das Werk den Sachverhalten<br />
2 Vgl z. B. EuGH 20. 1. 2005, Rs. C-27/02 (Petra Engler ./. Janus Versand), Slg. 2005, I-<br />
481, Tz. 42 f.
72 (2008)<br />
literatur<br />
629<br />
und den Ergebnissen der Entscheidungen schenkt; schon in der Einleitung (2)<br />
wird bemerkt: »Our focus has not been the ultimate outcomes of the Court’s<br />
decisions, but rather on the argumentation on which they are based.« In der Tat<br />
wird hier nicht der differenzierte Umgang mit dem Entscheidungsmaterial gepfl<br />
egt, wie man ihn aus der angloamerikanischen Literatur kennt. Gerade das<br />
Gewicht der einzelnen Argumente für den »outcome« im Einzelfall und dessen<br />
Besonderheiten werden kaum abgewogen; wo sich ein Argument im Entscheidungstext<br />
fi ndet, wird es hier i.d.R. für relevant gehalten, ohne dass eine konkrete<br />
Beziehung zum im Einzelfall, aber auch allgemein mit Blick auf die Leitlinienfunktion<br />
der Rechtsprechung des EuGH angestrebten Ergebnis hergestellt<br />
wird. Damit bleibt auch einiges von der Anschaulichkeit und Lebensnähe, welche<br />
die Judikatur des EuGH in ihren Sternstunden auszeichnet, auf der Strecke.<br />
Insgesamt geht es den Autorinnen schließlich doch eher um eine Art Dogmatik<br />
des EuGVÜ und nicht bloß um eine Prinzipienanalyse anhand von Entscheidungstexten;<br />
damit wird aber eben wieder die Frage virulent, wie solches auf so<br />
schmaler Anschauungsgrundlage glücken soll. Eine ernsthafte Prinzipienlehre<br />
des europäischen Internationalen Prozessrechts sollte doch z. B. auf dessen Genese,<br />
die allgemeinen Grundsätze von Europarecht im engeren (dazu kurz S. 23)<br />
und weiteren Sinne (Europäische Menschensrechtskonvention und Europäischer<br />
Gerichtshof für Menschenrechte!), die zugrunde liegenden nationalen<br />
Traditionen und Entwicklungen und auch auf den Beitrag von nationalen Gerichten<br />
und schließlich der Rechtswissenschaft Bedacht nehmen; all das geschieht<br />
hier nicht. Das Vertrauen der Autorinnen in die Aussagekraft ihrer Ergebnisse<br />
ist freilich dennoch erheblich: Sie erarbeiten nicht weniger als ein (im<br />
Anhang gar noch tabellarisch dargestelltes) System von Prinzipien, das durchaus<br />
Anspruch auf eine gewisse Vollständigkeit und innerhalb dieser auf Konsistenz<br />
zu erheben scheint: Da gibt es »The Most General Principle« (»Legal Protection<br />
of Persons established in the Community«) und vier »Main Principles« (»Free<br />
Movement of Judgments«; »Rights of the Defence«; »Legal Certainty«; »Disputes<br />
in an Appropriate Court«), die sich wiederum in insgesamt (je nach Zählweise)<br />
etwa 30 »Sub-Principles« zergliedern. Die Gefahr, dass auf Grundlage<br />
solchen Ehrgeizes bei der Formulierung von Prinzipien schließlich »immanente<br />
Teleologien« oder dergleichen an die Stelle des eigentlich geltenden positiven<br />
Rechts treten könnten, ist unverkennbar.<br />
An mangelndem Selbstbewusstsein leiden die Autorinnen nicht. Mit Blick<br />
auf die EuGVVO wird die Bedeutung des Werks im Vorwort von ihnen selbst<br />
folgendermaßen beschrieben: »It constitutes a catalogue of arguments that will<br />
be employed by the Court to justify its interpretation of the provisions of the<br />
new regulation. As such, this book will be of great value to practitioners in international<br />
law as well as to academics and students alike.« Wahrscheinlich<br />
stimmt das sogar. Gerade dem deutschsprachigen Publikum ist das Werk durchaus<br />
zu empfehlen: Bei manchem Beitrag von Autoren unseres Rechtskreises<br />
möchte man mehr Aufmerksamkeit für die Aussagen des EuGH einmahnen –<br />
daran mangelt es Pontier und Burg gewiss nicht.<br />
Ingesamt ist zu konstatieren: Für den kundigen Leser, der die Begrenztheit<br />
des Ansatzes versteht, handelt es sich um ein sehr nützliches Werk, weil sich<br />
darin die autonom-prinzipiellen Argumentationsmuster des EuGH übersicht-
630 literatur RabelsZ<br />
lich dargestellt fi nden; ob und inwiefern diese Prinzipien dann auch wirklich<br />
»gelten« und was sie genau besagen, vermag ein solcher Leser dann durch Lektüre<br />
der einschlägigen Rechtsprechung zu überprüfen. Das Werk lädt dazu ein,<br />
die »Klassiker« aus Luxemburg wieder einmal zur Hand zu nehmen; jene, welche<br />
dies unterlassen, kann es jedoch durchaus in die Irre führen. Das Buch wäre<br />
sympathischer, würde es diese seine inhaltliche Beschränktheit deutlich refl ektieren<br />
– dann könnte man unbeschwerter sagen: »Sehr interessant, dass jemand<br />
die Judikatur einmal aus diesem Blickwinkel dargestellt hat!«<br />
Zürich Paul Oberhammer<br />
Reithmann, Christoph/Dieter Martiny (Hrsg.): Internationales Vertragsrecht. Das<br />
internationale Privatrecht der Schuldverträge. Bearb. von Carsten Dageförde<br />
u. a. 6. völlig neubearbeitete und wesentlich erweiterte Aufl . – Köln: O.<br />
Schmidt (2004). XCIX, 2480 S.<br />
Das von Reithmann und Martiny herausgegebene Kompendium zum Internationalen<br />
Vertragsrecht gehört nicht erst seit dieser Aufl age zur Standardliteratur.<br />
Die in den vergangenen Jahren erfolgten Gesetzesnovellen sowie die Entwicklung<br />
des Richterrechts unter Einbeziehung des Schrifttums haben zu einer erheblich<br />
erweiterten und völlig neubearbeiteten Aufl age geführt. Angesichts der<br />
vielfachen Veränderungen ist es nicht überraschend, dass der Umfang wiederum,<br />
diesmal um 25%, angewachsen ist. Die Arbeit konnte dabei auf neue Schultern<br />
verteilt werden. So sind in den Bearbeiterkreis Freitag, Göthel, Häusleschmidt<br />
und Obergfell aufgenommen worden.<br />
Entgegen dem Buchtitel fi ndet der Leser nicht nur Antworten auf Fragestellungen<br />
aus dem Kernbereich des Internationalen Vertragsrechts. Vielmehr bietet<br />
das Werk gleichermaßen eine wertvolle Hilfestellung bei Streitfragen zum<br />
Vollmachtsstatut, Internationalen Bereicherungs-, Familien- und Gesellschafts-<br />
sowie Insolvenzrecht. Dies stellt aus Praktikersicht ein Desiderat dar, fehlt es<br />
doch – hierauf wird im Vorwort zutreffend hingewiesen – beispielsweise an<br />
einer komprimierten Darstellung etwa derjenigen Schranken, denen verheiratete<br />
und jugendliche Personen unterliegen bzw. der Restriktionen der Vertretungsmacht<br />
in Bezug auf Handelsgesellschaften.<br />
Die Bearbeiterinnen und die Autoren haben auch bei der jüngsten Aufl age<br />
die überbordende Judikatur und Literatur systematisch aufbereitet und »auf den<br />
Punkt gebracht«. Bei der 6. Aufl age ist damit erneut der Spagat geglückt zwischen<br />
einer Darstellung, die einerseits breit angelegt wird, andererseits an neuralgischen<br />
Stellen den nötigen Tiefgang sowie dogmatische Schärfe aufweist.<br />
Dabei wird der Praxisbezug nie aus den Augen verloren. Dies illustrieren die<br />
Hinweise am Ende eines jeden größeren Abschnittes. Als pars pro toto mag<br />
überdies der Beitrag von Hausmann dienen, welcher Gerichts- und Schiedsklauseln<br />
betrifft. Denn gerade in Anbetracht der Quellenvielfalt – zu nennen sind<br />
unmittelbar wirkende Rechtsakte wie die Brüssel-I-Verordnung 1 , Staatsverträ-<br />
1 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerken-
72 (2008)<br />
literatur<br />
631<br />
ge bis hin zum nationalen Recht – bringt die Gestaltung von Formularabreden<br />
auf diesem Feld erhebliche Schwierigkeiten mit sich.<br />
Im Einzelnen: Die ersten beiden Teile aus der Feder von Martiny sind der<br />
Bestimmung des Vertragsstatuts sowie seiner Reichweite gewidmet. Er streicht<br />
die unterschiedliche Reichweite der Parteiautonomie vor staatlichen Gerichten<br />
kraft Art. 27 I EGBGB sowie innerhalb der Schiedsgerichtsbarkeit nach Maßgabe<br />
von § 1051 I 1 ZPO heraus (S. 82, Rz. 71). Die Frage, ob die zuerst genannte<br />
Norm die kollisionsrechtliche Wahl etwa der UNIDROIT oder Lando Principles<br />
erlaubt, ist seit jeher umstritten und angesichts der Vergemeinschaftung des<br />
Römischen Schuldvertragsübereinkommens (EVÜ) 2 von aktueller Brisanz.<br />
Wie gekonnt auf der einen Seite den Bedürfnissen eines Praktikers sowie<br />
dem wissenschaftlichen Anspruch Rechnung getragen wird, zeigt Martiny (etwa<br />
auf S. 272, Rz. 283), indem er eine Parallele zum Europäischen Zivilverfahrensrecht<br />
zieht. Denn in der Tat wird man schwerlich Aussagen des Europäischen<br />
Gerichtshofs (EuGH) 3 in der Rechtssache Tacconi zu Art. 5 Nr. 1 und 3 Brüssel-<br />
I-Verordnung für die Qualifi kation »vorvertraglicher« Schuldverhältnisse im<br />
Internationalen Privatrecht unberücksichtigt lassen können. Die Rom-II-Verordnung<br />
4 zeigt jedenfalls, dass sich der europäische Gesetzgeber auch im Kollisionsrecht<br />
vom Grundsatz her gegen eine vertragliche Einordnung derartiger<br />
Ansprüche entschieden hat.<br />
Infolge der IPR-Reform im Jahre 1999 wurden nunmehr im dritten Teil<br />
über die außervertraglichen Schuldverhältnisse die Artt. 38 ff. EGBGB ausführlich<br />
kommentiert. Verantwortlich zeichnet auch insofern Martiny. Seine Ausführungen<br />
zur ungerechtfertigten Bereicherung sowie zur Geschäftsführung<br />
ohne Auftrag in grenzüberschreitenden Sachverhalten dürften selbst nach Inkrafttreten<br />
der Rom-II-Verordnung von Relevanz bleiben. Dies betrifft zum<br />
einen Lücken des Sekundärrechtsakts, welche es in sachlicher Hinsicht weiterhin<br />
notwendig machen, dass jeder Mitgliedstaat eigene Anknüpfungsregeln<br />
vorsieht. Zum anderen mag sich der Rückgriff auf diese Kollisionsnormen ergeben,<br />
sofern die Rom-II-Verordnung nicht gegenüber Dänemark in Stellung gebracht<br />
werden darf – ein solcher Ansatz stünde allerdings im Widerspruch zur<br />
effet utile des Gemeinschaftsrechts – und der deutsche Gesetzgeber ebenso davon<br />
absehen sollte, das bisherige Anknüpfungsmodell im EGBGB »freiwillig«<br />
an deren Artikel anzupassen.<br />
Der als Bearbeiter neu hinzugekommene Freitag befasst sich im anschließenden<br />
Kapitel mit allgemeinen Grundsätzen der Berücksichtigung international<br />
zwingender Normen. Aktualität erlangt seine Aussage, dass allein der transformierte<br />
gemeinschaftsrechtliche Mindeststandard mit Hilfe eines supranationalen<br />
Eingriffsbefehls durchgesetzt wird, nicht hingegen das darüber hinausge-<br />
nung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22. 12. 2000,<br />
ABl. 2001 L 12/1.<br />
2 Römisches EWG-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende<br />
Recht vom 19. 6. 1980, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 C 27/34.<br />
3 EuGH 17. 09. 2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357.<br />
4 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende<br />
Recht (»Rom II«) vom 11. 7. 2007, ABl. L 188/40.
632 literatur RabelsZ<br />
hende strengere nationale Recht (S. 390, Rz. 417). Diese Differenzierung hat<br />
unlängst der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Anlassstreit vorgenommen,<br />
welcher Umsetzungsnormen zur Verbraucherkreditrichtlinie betraf 5 . Allerdings<br />
ist dieser Entscheidung zu entnehmen, dass die Hinweisnorm in Art. 34 EGBGB<br />
es jedenfalls nicht a priori ausschließt – wie Freitag es annimmt (S. 377 f., Rz. 405;<br />
S. 417 Rz. 440) –, Verbraucherschutzbestimmungen einen Eingriffscharakter<br />
zuzumessen. Die Aussage bezüglich des Bereicherungsverbotes in § 55 VVG<br />
(S. 432, Rz. 459) ist zumindest missverständlich, als nach Lesart des BGH kein<br />
allgemeines Bereicherungsverbot im Versicherungsvertragsgesetz (VVG) besteht<br />
und sich ein solches auch nicht dem § 55 VVG entnehmen lässt 6 . Überzeugend<br />
erscheint es, wenn Freitag (S. 444, Rz. 469) aus Art. 10 II EGV und dem<br />
darin verankerten Prinzip der Gemeinschaftstreue ableitet, es bestehe eine Anwendungspfl<br />
icht in Bezug auf die Eingriffsnormen anderer Mitgliedstaaten, zumindest<br />
innerhalb des Anwendungsbereichs der Brüssel-I-Verordnung bzw. des<br />
EuGVÜ 7 . Gerade die aktuelle Fassung von Art. 8 Rom-II-Verordnung, wonach<br />
scheinbar allein die Durchsetzung inländischer Eingriffsnormen zulässig ist,<br />
wirft somit Zweifel hinsichtlich der Primärrechtskonformität bzw. zumindest<br />
die Frage auf, ob es einem Gericht wegen des in Zukunft abschließenden Anknüpfungssystems<br />
tatsächlich verwehrt sein soll, die Eingriffsnorm eines anderen<br />
Mitgliedstaates zu beachten.<br />
Gewohnt souverän kommentiert Thode im nachfolgenden Abschnitt das Internationale<br />
Devisenrecht. Lesenswert sind ebenso die Ausführungen von<br />
Reithmann zum Problemkreis der Substitution (S. 538 ff., Rz. 665 ff.). Besondere<br />
Brisanz erfährt <strong>dieses</strong> Thema angesichts der aktuellen Reform des Gesellschaftsrechts<br />
in der Schweiz sowie des Regierungsentwurfs vom 23. 5. 2007 zur Modernisierung<br />
des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (Mo-<br />
MiG) 8 . Trotz anderslautender Stimmen im Schrifttum 9 verdient die Aussage<br />
von Martiny Zustimmung, wonach in den Anwendungsbereich von Art. 29a<br />
EGBGB allein Verbraucherverträge im Umfang der jeweiligen Harmonisierungsmaßnahme<br />
fallen (S. 692 f., Rz. 836). Dies ist insofern von zunehmender<br />
Praxisrelevanz, da sich der deutsche Gesetzgeber etwa im Zuge der Transformation<br />
der Fernabsatzrichtlinie II 10 dafür entschieden hat, den persönlichen<br />
Schutzbereich vom Grundsatz her auf sämtliche Versicherungsnehmer (mit<br />
Ausnahme von Verträgen über ein Großrisiko im Sinne des Art. 10 I 2 EGVVG)<br />
5 BGH 13. 12. 2005, NJW 2006, 762 (763 f.).<br />
6 BGH 17. 12. 1997, BGHZ 137, 318 (318 ff.); im reformierten VVG wird »auf ein zwingendes<br />
allgemeines versicherungsrechtliches Bereicherungsverbot [. . .] wie bisher verzichtet«,<br />
Begründung BT-Drucks. 16/3945.<br />
7 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher<br />
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. 9. 1968, konsolidierte Fassung,<br />
ABl. 1998 C 27/1.<br />
8 BT-Drucks. 16/6140 vom 25. 7. 2007.<br />
9 Palandt (-Heldrich), Bürgerliches Gesetzbuch 66 (2007) Art. 29a EGBGB Rz. 3, 6.<br />
10 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. 9. 2002<br />
über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der RL<br />
90/619/EWG des Rates und zur Änderung der RL 97/7/EG und 98/27/EG (Finanzdienstleistungs-RL),<br />
ABl. L 271/16.
72 (2008)<br />
literatur<br />
633<br />
zu erstrecken, mithin die Vorgaben überschießend umzusetzen. Artikel 29a<br />
EGBGB stellt hingegen angesichts seines Wortlautes sowie der systematischen<br />
Stellung allein eine Sonderanknüpfung zum Schutze des Verbrauchers dar, soll<br />
aber kollisionsrechtlich nicht etwa den »professionellen« Kleingewerbetreibenden<br />
als Versicherungsnehmer nach Art. 29a I, IV Nr. 5 EGBGB privilegieren.<br />
Methodisch überzeugt es ferner, dass Martiny eine Analogie von Art. 29a IV<br />
EGBGB etwa im Hinblick auf die Haustürwiderrufs- oder Verbraucherkreditrichtlinie<br />
ablehnt. Denn in der Tat kann schwerlich im Nachgang zur Erweiterung<br />
des Anhanges in Abs. 4 insofern noch von einer unbewussten Regelungslücke<br />
ausgegangen werden. Für diese Ansicht lässt sich ebenso die aktuelle<br />
Entscheidung des BGH zur Frage des Eingriffsbefehls von Umsetzungsvorschriften<br />
der Verbraucherkreditrichtlinie ins Feld führen 11 .<br />
Von Praxisrelevanz dürften die Ausführungen von Merkt zum Unternehmenskauf<br />
sein (S. 700, Rz. 845). Dies betrifft etwa die in Rechtsprechung und<br />
im Schrifttum umstrittene Frage, ob die Ortsform auch das eigentliche Verfügungsgeschäft<br />
beherrscht (S. 718, Rz. 879). Merkt verweist zu Recht darauf, dass<br />
es sich verbietet, eine Substitution der notariellen Beurkundung per se abzulehnen,<br />
vielmehr die Gleichwertigkeit anhand des konkreten Einzelfalles zu prüfen<br />
ist (S. 720, Rz. 880). Angesichts der Vorgaben des Primärrechts mag man sich<br />
ohnehin fragen, ob und inwieweit jedenfalls innerhalb des Binnenmarktes im<br />
Zweifel ein Gebot zur Substitution besteht.<br />
Gerade das Internationale Gesellschaftsrecht ist im Lichte der Judikatur des<br />
EuGH einem erheblichen Wandel unterworfen. Limmer geht bei seinen Ausführungen<br />
zum Vertragsstatut des Grundstückskaufes überzeugend davon aus, dass<br />
sich die Frage der Rechtsfähigkeit ausländischer juristischer Personen zwar bislang<br />
nach dem Personalstatut beurteilt hat, welches die herrschende Meinung<br />
anhand des tatsächlichen Sitzes der Hauptverwaltung ermittelte, nunmehr allerdings<br />
eine Hinwendung zur Gründungstheorie angezeigt ist (S. 755, Rz. 951).<br />
Dies gilt zumindest für innerhalb des Binnenmarkts gegründete Gesellschaften.<br />
Limmer verweist dabei in der Fußnote 4 auf die umfangreichen Ausführungen<br />
von Hausmann (S. 1627 ff., Rz. 2272 ff.). Dies mag als Beleg dafür dienen, dass<br />
die Partien innerhalb <strong>dieses</strong> umfassenden Kompendiums miteinander verzahnt<br />
sind. Für den Praktiker von erheblichem Nutzen dürften überdies die Länderübersichten<br />
zum Grundstückskauf sein (S. 800 ff., Rz. 1013 ff.).<br />
Kenntnisreich versteht es Mankowski, die verschiedenen Spielarten grenzüberschreitender<br />
Timesharing-Verträge darzustellen. Den Ansatz, die Regelung<br />
in Art. 29a III EGBGB zu beschränken (S. 856, Rz. 1091; S. 857, Rz. 1094;<br />
S. 858 f., Rz. 1096), begrüßt der Rezensent ausdrücklich. Auf das Dilemma,<br />
dass Art. 29a I und III EGBGB ihrem Wortlaut nach keinen Günstigkeitsvergleich<br />
vorsehen – dies indes wohl nicht mit den Vorgaben des Gemeinschaftsrechtes<br />
im Einklang stehen und Sinn und Zweck entsprechen dürfte – macht<br />
Mankowski zu Recht aufmerksam (S. 860, Rz. 1100).<br />
Für viele Leser mögen die Ausführungen von Thode zur Frage, ob die Durchsetzung<br />
der Regeln zur Honorarordnung für Architekten und Ingenieure<br />
(HOAI) mit dem Primärrecht vereinbar sind, als visionär erscheinen. Gerade<br />
11 BGH 13. 12. 2005 (oben N. 5).
634 literatur RabelsZ<br />
aktuelle Entwicklungen – wie etwa beim Erfolgshonorar – zeigen allerdings,<br />
dass in der Tat traditionsreiche Bastionen geschleift werden. So verdeutlicht die<br />
Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Cipolla 12 zu der Mindestgrenze in<br />
der italienischen Anwaltsgebührenordnung, dass Regeln, welche in die Dienstleistungsfreiheit<br />
eingreifen, zunächst einmal der Rechtfertigung bedürfen und<br />
der Verhältnismäßigkeitskontrolle unterliegen. Thode weist daher zu Recht darauf<br />
hin, dass deutsche Spruchkörper die ungeklärte Frage zur Durchsetzung der<br />
HOAI dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen sollten.<br />
Die Ausführungen von Dageförde zum Leasingvertrag sind von hohem praktischen<br />
Wert. Unklar erscheint, ob und inwieweit die Vergemeinschaftung des<br />
Römischen Schuldvertragsübereinkommens bei der objektiven Anknüpfung<br />
des Leasingvertrages (dazu S. 906, Rz. 1154) zu einer veränderten Rechtslage<br />
führen wird. Dies betrifft ebenso die Ausführungen von Martiny zur Bürgschaft<br />
unter Rückgriff auf Art. 28 V EGBGB (S. 930, Rz. 1184). Denn es erscheint<br />
nicht ausgeschlossen, dass der Sekundärrechtsgeber die Ausweichklausel streicht<br />
und für bestimmte Vertragstypen Sonderregeln vorsieht.<br />
Schnyder versteht es, Licht ins Dunkel des Internationalen Versicherungsvertragsrechtes<br />
zu bringen. Es bleibt abzuwarten, ob der europäische Gesetzgeber<br />
den Mut fi ndet, die Rechtsquellenvielfalt zu beseitigen und die Rom-I-Verordnung<br />
als alleiniges Anknüpfungssystem vorzusehen. Jedenfalls werden im Zuge<br />
der VVG-Reform 13 einige Schutzvorschriften für die Inhaber von Grundpfandrechten<br />
wie § 102 VVG (S. 1029, Rz. 1359) entfallen und mithin zukünftig<br />
nicht mehr zum Kreis der Eingriffsnormen zählen.<br />
Die 6. Aufl age hat gegenüber der Voraufl age zu einem vermehrten Umfang<br />
von 550 Seiten geführt. Einen maßgeblichen Anteil daran hat die detailreiche<br />
Kommentierung des Rechts der Transportverträge von Mankowski. Die Ausführungen<br />
von Hiestand zum Kartellrecht (S. 1262 ff., Rz. 1755 ff.) im Rahmen<br />
des Lizenzvertrages dürften auch nach Inkrafttreten der Rom-II-Verordnung<br />
im Ergebnis weiter von Relevanz bleiben. Zwar sieht der Gemeinschaftsgesetzgeber<br />
in Art. 6 III <strong>dieses</strong> Sekundärrechtsakts eine Sonderanknüpfung vor. Dennoch<br />
bleibt die Durchsetzung von international zwingenden Bestimmungen<br />
der lex fori jedenfalls in Bezug auf das behördliche Kartellrecht auch zukünftig<br />
zulässig. Lesenswert sind die Ausführungen von Obergfell zur Frage, ob und<br />
inwieweit bei Verlagsverträgen, insbesondere aus dem Bereich des Urhebervertragsrechtes,<br />
Eingriffsnormen durchzusetzen sind. Sie zieht dabei eine Parallele<br />
zur Diskussion im Bereich des Internationalen Verbraucherschutzrechtes. Anders<br />
als Obergfell (S. 1300 f., Rz. 1811) geht allerdings der BGH in seiner aktuellen<br />
Entscheidung zur Eingriffsqualität von Transformationsnormen zur<br />
Verbraucherkreditrichtlinie nicht von einem strikten Verbot aus, Verbraucherschutzvorschriften<br />
abseits des Art. 29 EGBGB als Eingriffsnormen durchzusetzen<br />
14 . Dies gilt jedenfalls für den Fall, dass ein Vertragstyp nicht dem sachlichen<br />
Anwendungsbereich dieser Sonderanknüpfung unterfällt.<br />
Zu Recht differenziert Göthel bei Kooperationsverträgen im Lichte der aktu-<br />
12 EuGH 5. 12. 2006 – Rs. C-94/04 (Cipolla), Slg. 2006, I-11421 ff.<br />
13 BGBl. 2007 I 2631.<br />
14 BGH 13. 12. 2005 (oben N. 5) 763.
72 (2008)<br />
literatur<br />
635<br />
ellen Entwicklungen im Internationalen Gesellschaftsrecht danach, ob eine Gesellschaft<br />
in einem Mitglied- bzw. Drittstaat gegründet wurde. Er weist zutreffend<br />
darauf hin, dass die Judikatur des EuGH jedenfalls nicht dazu zwingt,<br />
Gesellschaften gegenüber, die wirksam in einem Drittstaat gegründet wurden,<br />
von der Sitztheorie abzuweichen. Etwas anderes gilt allein dann, wenn – wie im<br />
Verhältnis zu den USA durch den deutsch-amerikanischen Freundschafts-,<br />
Handels- und Schifffahrtsvertrag vom 29. 10. 1954 15 – die Gründungstheorie<br />
festgeschrieben ist (S. 1423, Rz. 1958, Fußnote 5). Die Bedeutung einer Ausweichklausel<br />
in Art. 28 V EGBGB wird im Abschnitt über die akzessorische<br />
Anknüpfung von Kooperationsverträgen deutlich (S. 1446, Rz. 2016). Es bleibt<br />
zu hoffen, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber in der Rom-I-Verordnung an dieser<br />
Korrekturmöglichkeit festhält.<br />
Häusleschmidt befasst sich eingehend mit der Entscheidung des EuGH vom<br />
9. 11. 2000 in der Rechtssache Ingmar 16 (S. 1462 ff., Rz. 2034 f.) und beleuchtet<br />
die Auswirkungen für das Recht der Handelsvertreter-Verträge. Mankowski<br />
geht im Abschnitt über Anwaltsverträge auf die Frage ein, ob die Restriktionen<br />
der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) zum Erfolgshonorar international<br />
zwingend sind (1525, Rz. 2117). Ebenso behandelt er die Frage, ob etwa ein<br />
Erfolgshonorar nach Maßgabe eines ausländischen Rechts gegen den deutschen<br />
ordre public im Sinne des Art. 6 EGBGB verstoßen kann (S. 1527, Rz. 2122).<br />
Angesichts der aktuellen rechtspolitischen Diskussion im Nachgang zur Entscheidung<br />
des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) 17 erscheint derzeit unklar,<br />
ob und inwieweit das Verbot eines Erfolgshonorars Eingriffscharakter hat und<br />
sogar einen Ausschnitt des ordre public bildet. Überdies muss das Urteil des Gerichtshofs<br />
in der Rechtssache Cipolla 18 in den Blick genommen werden.<br />
Für den Leser von großem Nutzen ist die Aufbereitung der Judikatur des<br />
EuGH zum Internationalen Gesellschaftsrecht. Hausmann widmet dieser richterrechtlichen<br />
Entwicklung einen eigenen Abschnitt. Er spricht sich im Ergebnis<br />
für ein gespaltenes Gesellschaftskollisionsrecht aus (S. 1639 f., Rz. 2284 f.).<br />
Gleichermaßen befürworten unterinstanzliche Gerichte in jüngster Vergangenheit<br />
teils eine solche Zweispurigkeit 19 . Der BGH hat hierzu noch nicht abschließend<br />
Stellung bezogen. Nicht verhehlen mag der Rezensent, dass er einer einheitlichen<br />
Anknüpfung wie jüngst auch der Referentenentwurf zum Internationalen<br />
Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen den<br />
Vorzug einräumt. Von besonderem Wert für die Praxis sind überdies die Angaben<br />
zur gesetzlichen Vertretung von Handelsgesellschaften und deren Nachweis<br />
im ausländischen Recht, nunmehr unter Einschluss von Kanada (S. 1651 ff.,<br />
Rz. 2292 ff.).<br />
Aufgenommen wurde ebenso die Europäische Insolvenzverordnung sowie<br />
das am 20. 3. 2003 in Kraft getretene autonome Internationale Insolvenzrecht in<br />
den §§ 335 ff. InsO. Hinzuweisen ist hinsichtlich der Insolvenzanfechtung auf<br />
15 BGBl. 1956 II 487.<br />
16 EuGH 9. 11. 2000 – Rs. C-381/98 (Ingmar), Slg. 2000, I-9305 = NJW 2001, 2007 f.<br />
17 BVerfG 12. 12. 2006, NJW 2007, 979.<br />
18 EuGH 5. 12. 2006 (oben N. 12).<br />
19 OLG Hamburg 30. 3. 2007, DB 2007, 1245.
636 literatur RabelsZ<br />
die schwierige Abgrenzung der Brüssel-I-Verordnung von dem zuvor genannten<br />
Sekundärrechtsakt (S. 1845 f., Rz. 2628 f.), wie die Vorlage des BGH vom<br />
21. 6. 2007 an den EuGH belegt 20 .<br />
Anlass für umfangreiche Veränderungen waren ferner der Erlass der Brüssel-<br />
I-Verordnung sowie die Neufassung der §§ 1025 ff. ZPO. Zu Recht weist Hausmann<br />
darauf hin, dass eine <strong>Inhalt</strong>skontrolle einer Gerichtsstandsvereinbarung<br />
bei Verbraucherverträgen nicht durch Art. 23 V in Verbindung mit Art. 17<br />
Brüssel-I-Verordnung gesperrt wird. Vielmehr ist neben den besonderen Pro-<br />
und Derogationsschranken als weiteres Schutzinstrument die Richtlinie über<br />
missbräuchliche Klauseln bzw. deren Umsetzung in den jeweiligen Mitgliedstaaten<br />
zu beachten (S. 2043, Rz. 2958). Hingegen stößt die These von Hausmann,<br />
§ 1051 ZPO gehe als speziellere Kollisionsnorm für Schiedsverfahren den<br />
allgemeinen Vorschriften der Artt. 27 ff. EGBGB vor, auf Bedenken. Unklar<br />
bleibt bereits die Aussage, der sachliche Anwendungsbereich jener Sonderkollisionsnorm<br />
sei im Wesentlichen »auf schuldvertragliche Streitigkeiten und damit<br />
zusammenhängende Ansprüche aus gesetzlichen Schuldverhältnissen beschränkt«<br />
(S. 2404, Rz. 3511). So führt Hausmann an anderer Stelle aus, dass<br />
etwa ebenso kartellrechtliche Streitigkeiten schiedsfähig seien (S. 2373,<br />
Rz. 3465). Dies wirft beispielsweise die Frage auf, ob auch insoweit uneingeschränkte<br />
Rechtswahlfreiheit besteht. Entsprechende Zweifelsfragen ergeben<br />
sich in sachen- und erbrechtlichen Konstellationen. Die Rom-II-Verordnung<br />
jedenfalls lässt nach ihrer letzten Fassung – dies verdeutlich der Erwägungsgrund<br />
Nr. 8 – keinen Zweifel daran, dass die Kollisionsnomen gleichermaßen<br />
innerhalb der Schiedsgerichtsbarkeit eingreifen. Angesichts des Anwendungsvorranges<br />
vermag § 1051 ZPO das Gemeinschaftsrecht zumindest auf diesem<br />
Gebiet zukünftig nicht zu überspielen.<br />
Die Brisanz der Ausführungen von Hausmann wird bei der Durchsetzung<br />
international zwingender Normen sowie in Bezug auf etwaige Rechtswahlschranken<br />
in Verbraucherverträgen deutlich (S. 2406, Rz. 3115 f.). Hausmann<br />
sieht zwar formal keine Bindung des Schiedsgerichtes an Eingriffsnormen der<br />
lex fori. Angesichts der Pfl icht des Schiedsgerichtes, die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung<br />
seines Schiedsspruches sicherzustellen, plädiert er allerdings<br />
dafür, jene gleichwohl heranzuziehen. Für den Verbraucherschutz hält er eine<br />
Analogie zu Art. 29 I EGBGB für vorzugswürdig. Dies zeigt allerdings die methodischen<br />
Brüche. Konsequenterweise müssten gleichermaßen die kollisionsrechtlichen<br />
Regelungsgebote in den Verbraucherschutzrichtlinien bzw. ihre<br />
Transformation in Art. 29a EGBGB entsprechend herangezogen werden. Ebenso<br />
erscheint es naheliegend, dass die Ingmar-Doktrin Schiedsgerichte dazu<br />
zwingt, Handelsvertretern entgegen dem kraft § 1051 I 1 ZPO vereinbarten<br />
Statut kollisionsrechtlich einen gewissen Mindestschutz zu gewähren 21 .<br />
Summa summarum ist auch die 6. Aufl age dringend jedem als Pfl ichtlektüre<br />
zu empfehlen, der sich in der Praxis mit den Fallstricken grenzüberschreitender<br />
20 BGH 21. 6. 2007, WM 2007, 1582.<br />
21 Siehe in weiterem Zusammenhang OLG München 17. 5. 2006, IPRax 2007, 322 mit<br />
Aufsatz Rühl, Die Wirksamkeit von Gerichtsstands- und Schiedsvereinbarungen im Lichte<br />
der Ingmar-Entscheidung des EuGH: ebd. 294–302.
72 (2008)<br />
literatur<br />
637<br />
Schuldverträge befasst. Dank der klaren Diktion, wertvoller Praxistipps sowie<br />
seinem wissenschaftlichen Tiefgang ist das Werk ein wertvoller Kompass auf<br />
dem stürmischen Meer des Internationalen Vertragsrechts.<br />
Bielefeld Ansgar Staudinger<br />
Schärtl, Christoph: Das Spiegelbildprinzip im Rechtsverkehr mit ausländischen<br />
Staatenverbindungen. Unter besonderer Berücksichtigung des deutsch-amerikanischen<br />
Rechtsverkehrs. (Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 2004/2005.)<br />
– (Tübingen:) Mohr Siebeck (2005). XVI, 298 S. (Studien zum ausländischen<br />
und internationalen Privatrecht. 145.)<br />
Ausländische Urteile werden im Inland grundsätzlich nur anerkannt, wenn<br />
die ausländischen Gerichte aus Sicht des inländischen Staates international zur<br />
Entscheidung des Rechtsstreits berufen waren. Eine Prüfung dieser sog. Anerkennungszuständigkeit<br />
erübrigt sich lediglich, soweit das internationale Zuständigkeitsrecht<br />
des Urteils- und des Anerkennungsstaates harmonisiert wurden,<br />
wie es etwa für die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft weitgehend<br />
durch die Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung<br />
(EuGVO) 1 geschehen ist 2 . Im Übrigen folgt das deutsche autonome Recht bei<br />
der Anerkennungszuständigkeit, vorbehaltlich staatsvertraglicher Bestimmungen,<br />
dem sog. Spiegelbildprinzip. Eine ausländische Entscheidung wird nach<br />
§ 328 I Nr. 1 ZPO nicht anerkannt, »wenn die Gerichte des Staates, dem das<br />
ausländische Gericht angehört, nach den deutschen Gesetzen nicht zuständig<br />
sind«. Positiv gewendet besteht eine Anerkennungszuständigkeit, wenn das<br />
fremde Gericht bei spiegelbildlicher Anwendung der deutschen Zuständigkeitsregeln<br />
international entscheidungszuständig gewesen wäre.<br />
Das Spiegelbildprinzip greift auf die territorialen Anknüpfungspunkte der<br />
inländischen Zuständigkeitsnormen zurück. Etwa ist in spiegelbildlicher – sowie<br />
analoger oder doppelfunktionaler – Anwendung 3 des § 23 ZPO das ausländische<br />
Gericht international anerkennungszuständig, wenn sich Vermögensgegenstände<br />
des Beklagten im ausländischen Territorium befanden. Steht die Anerkennung<br />
eines Urteils einer ausländischen Staatenverbindung im Raum, so<br />
stellt sich die Frage, ob diese territorialen Anknüpfungspunkte in Bezug auf die<br />
Staatenverbindung oder in Bezug auf den Einzelstaat erfüllt sein müssen. So hatte<br />
der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil vom 29. 4. 1999 4 zu klären, ob<br />
es für die Anerkennungszuständigkeit eines amerikanischen Bundesgerichts in<br />
Wisconsin (USA) nach §§ 328 I Nr. 1, 23 ZPO ausreicht, dass der Beklagte ein<br />
Grundstück in Illinois (USA) besitzt. Die Antwort auf die Frage nach dem richtigen<br />
Bezugspunkt des Spiegelbildprinzips bei ausländischen Staatenverbin-<br />
1 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die<br />
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom<br />
22. 12. 2000, ABl. EG 2001 L 12/1, berichtigt: ABl. EG 2001 L 307/28.<br />
2 Siehe deshalb Art. 35 III EuGVO.<br />
3 Siehe nur BGH 2. 7. 1991, BGHZ 115, 90 (91 f.).<br />
4 BGH 29. 4. 1999, BGHZ 141, 286.
638 literatur RabelsZ<br />
dungen hängt von der Auslegung der Wendung »[. . .] Staat, dem das ausländische<br />
Gericht angehört« in § 328 I Nr. 1 ZPO ab, also konkret in dem vom<br />
Bundesgerichtshof zu entscheidenden Fall davon, ob man die USA als Staat<br />
i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO ansieht (dann bestünde eine Anerkennungszuständigkeit)<br />
oder deren Bundesstaaten (dann bestünde keine Anerkennungszuständigkeit).<br />
Christoph Schärtl geht dieser Auslegungsfrage in seiner von Herbert Roth betreuten<br />
Regensburger Dissertation unter besonderer Berücksichtigung des<br />
deutsch-amerikanischen Rechtsverkehrs nach und entwickelt einen neuen Ansatz<br />
zur Bestimmung des Begriffes »Staat« in § 328 I Nr. 1 ZPO. Diese Untersuchung<br />
ist durchaus gerechtfertigt. Der Bundesgerichtshof hatte seinerzeit nur<br />
festgestellt, dass jedenfalls ein amerikanisches Bundesgericht anerkennungszuständig<br />
ist, wenn bei spiegelbildlicher Anwendung des deutschen Zuständigkeitsrechts<br />
irgendein Gericht innerhalb der gesamten USA zuständig ist 5 , hatte<br />
dies aber für die Staatengerichte offengelassen 6 .<br />
I. Im ersten der beiden Hauptteile (S. 9–114) untersucht Schärtl abstrakt, unter<br />
welchen Umständen Staatenverbindungen bzw. deren Einzelstaaten »Staat«<br />
i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO sind. Hierzu gibt Schärtl zunächst einen Überblick über<br />
die rechtspolitischen und rechtlichen Grundlagen des Spiegelbildprinzips (9 ff.).<br />
Dabei betont er vor allem den Zweck des Spiegelbildprinzips, den Beklagten vor<br />
– aus Sicht des Inlands – exorbitanten Gerichtsständen zu schützen. Das Spiegelbildsprinzip<br />
sorge dafür, dass nur ausländische Entscheidungen anerkannt und<br />
vollstreckt werden, die im Ergebnis auf einer den inländischen Maßstäben vergleichbaren<br />
internationalen Zuständigkeitsordnung basieren; die inländischen<br />
Vorstellungen über eine gerechte Abgrenzung der Jurisdiktionssphären werden<br />
durchgesetzt (22).<br />
Sodann erläutert Schärtl ausführlich die bisherigen Lösungen zur Auslegung<br />
des Staatsbegriffs in § 328 I Nr. 1 ZPO (37 ff.). Nach einer Ansicht sei die Untergliederung<br />
einer Staatenverbindung in einzelne Bundesstaaten aus anerkennungsrechtlicher<br />
Sicht stets unbedeutend, jedenfalls soweit die Staatenverbindung<br />
Völkerrechtssubjekt ist. Demgegenüber seien andere der Auffassung, dass<br />
der Einzelstaat der maßgebliche Bezugspunkt beim Spiegelbildprinzip sein<br />
kann, etwa wenn die Organisationshoheit über das Gerichtssystem oder die<br />
Regelungsbefugnis für das internationale Anerkennungs- und Vollstreckungsrecht<br />
beim Einzelstaat liegt oder jeder Einzelstaat sein eigenes Kollisions-, Verfahrens-<br />
oder Sachrecht besitzt. Dies werde unter anderem damit begründet,<br />
dass auch Art. 4 III EGBGB für Zwecke des Kollisionsrechts einen Durchgriff<br />
auf die einzelnen Teilrechtsordnungen eines Mehrrechtsstaates zulasse. Zudem<br />
seien in einigen Staatenverbindungen die Einzelstaaten, wie etwa die amerikanischen<br />
Bundesstaaten, derart verselbständigt, dass auch für Zwecke der Gegenseitigkeit<br />
nach § 328 I Nr. 5 ZPO oder § 110 II Nr. 1 ZPO a. F. auf den jeweiligen<br />
Einzelstaat abgestellt werden müsse.<br />
Schärtl kommt zu dem Ergebnis, dass keine der bisher vertretenen Lösungen<br />
überzeugt (104 f.). Vielmehr leitet er vor allem aus der Entstehungsgeschichte<br />
5 BGH 29. 4. 1999 (vorige Note) 289.<br />
6 BGH 29. 4. 1999 (oben N. 4) 292.
72 (2008)<br />
literatur<br />
639<br />
des § 328 I Nr. 1 ZPO ab, dass Staat im Sinne des Spiegelbildprinzips grundsätzlich<br />
diejenigen Gerichte zusammenfasst, die ihre Rechtsprechungsfunktion von<br />
einem gemeinsamen Souverän ableiten (106 f.). Bei Staatenverbindungen könne<br />
deshalb, je nach verfassungsrechtlicher Ausgestaltung, Bezugspunkt des Spiegelbildprinzips<br />
sowohl die Staatenverbindung als auch der Einzelstaat sein.<br />
1. Schärtl betont zunächst, dass das Spiegelbildprinzip historisch im engen<br />
Zusammenhang mit der Herausbildung souveräner Staaten nach dem Zerfall<br />
des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zu sehen sei (63 f., 65 f.).<br />
Dessen Aufl ösung habe zu einer Verlagerung der Rechtsprechungssouveränität<br />
vom Kaiser auf den Partikularstaat geführt (64). Nicht mehr der Kaiser, von<br />
dem abgeleitet die Lehnsherren ihre Rechtsprechungsgewalt ausgeübt hätten<br />
(53 f.), sondern der Einzelstaat sei Souverän für die Rechtsprechung geworden;<br />
verschiedene Souveränitätssphären seien entstanden. Während im Heiligen Römischen<br />
Reich Deutscher Nation Urteile der deutschen Schwesterstaaten<br />
grundsätzlich wechselseitig anerkannt worden seien (54 f.), sei dies nach 1803<br />
nicht mehr ohne Weiteres geschehen (56 f.); es habe nunmehr eines inländischen<br />
Transformationsaktes bedurft, durch welchen die innerstaatliche Souveränitätssphäre<br />
geöffnet wird (58, 64). Die Regeln über die Anerkennungszuständigkeit<br />
– und damit auch das Spiegelbildprinzip, das im 19. Jahrhundert seinen Weg<br />
in zahlreiche deutsche Prozessordnungen gefunden habe (61 ff.) – seien vor<br />
allem dazu bestimmt gewesen, die Souveränitätssphären abzugrenzen (65). So<br />
habe Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775–1833), der Erfi nder des Spiegelbildprinzips<br />
(57 ff.), das Spiegelbildprinzip weniger aus Gründen des Beklagtenschutzes<br />
vorgeschlagen, sondern vielmehr, weil die Anwendung der ausländischen<br />
Zuständigkeitsregeln die innerstaatliche Souveränität gefährde; allein<br />
das Spiegelbildprinzip gewährleiste, dass dem Urteilsstaat die gleichen Entscheidungsbefugnisse<br />
eingeräumt werden, die auch der inländische Gesetzgeber für<br />
sich in Anspruch nimmt (59 f.). Vor diesem Hintergrund könne aus historischer<br />
Sicht »Staat« i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO nur eine solche Souveränitätssphäre nach<br />
damaligem Verständnis sein, d. h. ein Zusammenschluss von Gerichten, die –<br />
wie im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation die deutschen Schwesterstaaten<br />
– einen Rechtsprechungssouverän teilen (66).<br />
Aber unabhängig von diesen historischen Erwägungen verwirft Schärtl die<br />
bisherigen Ansätze. So könne insbesondere die Ansicht nicht überzeugen, dass<br />
jede fremde Staatenverbindung mit Völkerrechtssubjektivität »Staat« i. S. d. § 328<br />
I Nr. 1 ZPO sei (68 ff.). Völkerrechtssubjekte könnten auch Gebilde sein, die als<br />
Staat i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO von vornherein ausscheiden. Etwa fehle internationalen<br />
Organisationen trotz ihrer Völkerrechtssubjektivität eine territoriale<br />
Zusammengehörigkeit, die nach dem Wortlaut des § 328 I Nr. 1 ZPO erforderlich<br />
sei. Auch Art. 4 III EGBGB und dessen kollisionsrechtlicher Durchgriff auf<br />
die Teilrechtsordnung könne nicht begründen, dass maßgeblicher Bezugspunkt<br />
bei ausländischen Staatenverbindungen der Einzelstaat sei (73 ff.). Artikel 4 III<br />
EGBGB verfolge als Hilfskollisionsnorm völlig andere Zwecke als das anerkennungsrechtliche<br />
Spiegelbildprinzip, das verschiedene Jurisdiktionssphären abgrenzen<br />
möchte. Zudem könne nicht auf den Staatsbegriff in § 328 I Nr. 5 ZPO<br />
oder § 110 II Nr. 1 ZPO a. F. zurückgegriffen werden, weil das Gegenseitigkeitserfordernis<br />
einen anderen Zweck als das Spiegelbildprinzip verfolge, näm-
640 literatur RabelsZ<br />
lich auf den ausländischen Staat Druck ausüben möchte, inländische Urteile<br />
anzuerkennen bzw. deutschen Staatsbürgern keine Sicherheitsleistungspfl icht<br />
aufzuerlegen (80, 83 f.).<br />
Außerdem will Schärtl nicht danach differenzieren, ob die Staatenverbindung<br />
oder der Einzelstaat die Regelungsbefugnis für die Anerkennung ausländischer<br />
Urteile habe (87 f.). § 328 I Nr. 1 ZPO stelle allein auf das deutsche Recht ab,<br />
nicht auf das Recht des Urteilsstaates; zudem könne es bei der Frage der Anerkennungszuständigkeit,<br />
die das ausländische Erkenntnisverfahren betrifft, nicht<br />
auf das nachgelagerte ausländische Vollstreckungsverfahren ankommen. Abzulehnen<br />
sei auch das Abgrenzungskriterium, ob die Organisationshoheit über das<br />
Gerichtssystem beim Einzelstaat oder beim Staatenverbund liegt (91 ff.); die<br />
Verwendung <strong>dieses</strong> Kriteriums übersähe, dass gerade in föderal untergliederten<br />
Staaten die Gerichtsgewalt, etwa in Deutschland je nach Instanz, auf verschiedene<br />
Träger verteilt sein kann, die jedoch nicht zwangsläufi g unterschiedliche<br />
Jurisdiktionssphären bilden.<br />
Ferner könne für einen »Staat« i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO nicht maßgeblich<br />
sein, ob für alle Gerichte des Staatengebildes ein einheitliches Sach-, Verfahrens-<br />
oder Kollisionsrecht gelte (93 ff.). Auch Staaten mit unterschiedlichen<br />
Sachrechten könnten eine Jurisdiktionssphäre darstellen; zudem sei es für den<br />
Zweck des Spiegelbildprinzips, den Beklagten vor – aus deutscher Sicht – exorbitanten<br />
Gerichtsständen zu schützen, unerheblich, welches Sachrecht das Gericht<br />
anwendet (96). Auch ein einheitliches Verfahrensrecht ist nach Schärtl für<br />
den Staatsbegriff in § 328 I Nr. 1 ZPO irrelevant, da auch in einer einheitlichen<br />
Jurisdiktionssphäre wie Deutschland unterschiedliche Verfahrensrechte – etwa<br />
in den verschiedenen Gerichtszweigen – gelten könnten (98). Schließlich sei<br />
auch ein einheitliches Kollisionsrecht kein taugliches Abgrenzungskriterium<br />
(101 ff.). Die internationale Zuständigkeit habe zwar Refl exwirkung für das<br />
anwendbare Kollisionsrecht; es sei aber nicht Aufgabe der Anerkennungszuständigkeit,<br />
die Anwendung des richtigen Kollisionsrechts zu gewährleisten, sodass<br />
umgekehrt auch die Aufteilung in unterschiedliche Kollisionsrechtssphären<br />
nicht zu einer Aufteilung der Jurisdiktionssphären führen könne.<br />
2. Da die bisher vertretenen Lösungen zur Bestimmung des maßgeblichen<br />
Bezugspunktes in § 328 I Nr. 1 ZPO bei ausländischen Staatenverbindungen als<br />
untauglich empfunden werden, schlägt Schärtl eine »historisch-verfassungsstrukturorientierte<br />
Auslegung« des § 328 I Nr. 1 ZPO vor (105 ff.). Wie insbesondere<br />
die Entstehungsgeschichte gezeigt habe, beschreibe »Staat« i. S. d. § 328 I Nr. 1<br />
ZPO alle diejenigen Gerichte, die ihre Rechtsprechungsfunktion von einem gemeinsamen<br />
Souverän ableiten; die verfassungsrechtliche Strukturentscheidung<br />
der betreffenden Staatenverbindung müsse deshalb ermittelt werden (108 f.).<br />
Allerdings soll ein gemeinsamer Souverän, auf den die ausländischen Gerichte<br />
ihre Rechtsprechungsgewalt gründen, der grundsätzliche, nicht aber der<br />
einzige Faktor sein. Da es sich bei der Auslegung des § 328 I Nr. 1 ZPO um eine<br />
Wertungsfrage handele, die deutsche Vorstellungen berücksichtigen müsse, bedürfe<br />
es zusätzlich einer wertenden Betrachtung des ausländischen Gerichtssystems<br />
(109). Die einzelstaatlichen Gerichtssysteme könnten derart verselbständigt<br />
sein, dass aus deutscher Sicht trotz der Ableitung der Rechtsprechungssouveränität<br />
von einem gemeinsamen Souverän der Einzelstaat als eigene
72 (2008)<br />
literatur<br />
641<br />
Jurisdiktionssphäre betrachtet werden müsse. Zur Beantwortung dieser Wertungsfrage<br />
gibt Schärtl dem Rechtsanwender einige Kriterien an die Hand<br />
(111 ff.). Etwa könne von Bedeutung sein, ob der ausländische Verfassungs- und<br />
Gesetzgeber einen einheitlichen Instanzenzug geschaffen hat oder ob bei getrennten<br />
Gerichtssystemen konkurrierende Zuständigkeiten oder wechselseitige<br />
Pfl ichten zur Anerkennung bestehen. Ferner könne zu berücksichtigen<br />
sein, wie die Aufteilung der Rechtsprechungsaufgaben zwischen Staatenverbindung<br />
und Einzelstaaten historisch entstanden ist.<br />
II. Im zweiten Hauptteil der Arbeit (115–271) wendet Schärtl sodann seine<br />
»historisch-verfassungsstrukturorientierte Auslegung« des § 328 I Nr. 1 ZPO auf<br />
den deutsch-amerikanischen Rechtsverkehr an, um seine Lösung auf ihre<br />
»Richtigkeit und Handhabbarkeit« (7) zu überprüfen. Er kommt zu dem Schluss,<br />
dass sowohl für die Bundesgerichte als auch für die Staatengerichte allein die<br />
USA und nicht die Bundesstaaten »Staat« i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO sind. Damit<br />
besteht eine Anerkennungszuständigkeit bei US-amerikanischen Urteilen nach<br />
Schärtl, wenn die Gerichte irgendeines Bundesstaates in den Vereinigten Staaten<br />
nach den spiegelbildlich angewendeten deutschen Zuständigkeitsregeln zuständig<br />
gewesen wären. Schärtl bestätigt damit im Ergebnis nicht nur die eingangs<br />
geschilderte Lösung des Bundesgerichtshofs für Urteile der Bundesgerichte,<br />
sondern lässt dieselben Maßstäbe auch für Urteile der Staatengerichte gelten.<br />
1. Schärtl untersucht zunächst in einem ersten Abschnitt, von welchem Souverän<br />
die amerikanischen Bundesgerichte und die einzelstaatlichen Gerichte<br />
ihre Rechtsprechungsgewalt ableiten. Hierzu wird der staatsorganisatorische<br />
Aufbau der USA als Bundesstaat dargestellt (118 ff.) und insbesondere die Stellung<br />
der amerikanischen Einzelstaaten im Verfassungsgefüge der USA analysiert<br />
(122 ff.). Schärtl legt dar, dass die amerikanischen Bundesstaaten und die<br />
Bundeszentralgewalt zwei voneinander zu trennende Ebenen eines gemeinsamen,<br />
vom amerikanischen Volk in seiner Gesamtheit abgeleiteten Gewaltenteilungssystems<br />
bilden, sodass die amerikanischen Bundes- oder Staatengerichte<br />
ihre Rechtsprechungsgewalt auf einen gemeinsamen Souverän zurückführen.<br />
Aus anerkennungsrechtlicher Sicht stellten die USA deshalb grundsätzlich eine<br />
einheitliche Jurisdiktionssphäre dar (161).<br />
2. Allerdings reicht ein gemeinsamer Rechtsprechungssouverän allein, wie<br />
bereits berichtet, nach Schärtls »historisch-verfassungsstrukturorientierter Auslegung«<br />
für eine nach § 328 I Nr. 1 ZPO »staatstaugliche« Staatenverbindung<br />
nicht aus. Die einzelstaatlichen Gerichtssysteme dürfen nicht derart verselbständigt<br />
sein, dass sie nach wertender Betrachtung als von der Bundesgerichtsbarkeit<br />
unabhängige Jurisdiktionssphäre anzusehen sind.<br />
Schärtl kommt zu dem Ergebnis, dass die Gerichtssysteme der US-Bundesstaaten<br />
nicht ausreichend verselbständigt sind, um sie als eigenständige Jurisdiktionssphäre<br />
anzusehen (269). Die Unterscheidungen zwischen den Gerichtssystemen<br />
in den USA seien Bausteine eines komplexen Gewaltenteilungssystems.<br />
So erhebe etwa die Tatsache, dass die Bundesgerichte nach der sog. Erie-Klaxon-<br />
Doktrin 7 unter Umständen das jeweilige Recht des Sitzstaates anwenden, die<br />
7 Basierend auf Erie Railroad v. Tompkins, 304 U. S. 64 (1938) und Klaxon Co v. Stentor<br />
Electric Mfg Co, 313 U. S. 487 (1941).
642 literatur RabelsZ<br />
Einzelstaaten nicht zu selbständigen Jurisdiktionssphären. Diese Doktrin folge<br />
nicht aus Souveränitätserwägungen, sondern setze lediglich das amerikanische<br />
Gewaltenteilungssystem um und schütze die bundesstaatlichen Gesetzgebungskompetenzen<br />
(217 f.). Auch die Verteilung der personal jurisdiction auf die verschiedenen<br />
Bundesstaaten führe nicht zu selbständigen Jurisdiktionssphären.<br />
Die Verteilung der Rechtsprechungsgewalt diene lediglich dazu, eine gewisse<br />
Nähe zwischen Gericht und Rechtsstreit zu gewährleisten und folge aus dem<br />
verfassungsrechtlichen due-process-Gebot (240 ff.). Des Weiteren ergäben sich<br />
aus dem Erfordernis einer Anerkennung der Entscheidungen aus anderen Einzelstaaten<br />
keine unabhängigen Gerichtssysteme. Der sog. Full-Faith and Credit<br />
Clause des Art. IV § 1 der US-Verfassung gewährleiste vielmehr, dass Entscheidungen<br />
grundsätzlich bundesweit anerkannt würden und sorge für eine einheitliche<br />
Rechtsanwendung (253 ff.). Schließlich sieht Schärtl auch in der aus dem<br />
XI th Amendment hergeleiteten doctrine of sovereign immunities keinen Grund für<br />
die Herausbildung unterschiedlicher Jurisdiktionssphären (263 f.). Zwar dürften<br />
dieser Doktrin zufolge die Bundes- und Einzelstaatengerichte nicht über<br />
Rechtsstreitigkeiten gegen die Regierungen der Einzelstaaten entscheiden; diese<br />
Immunität diene aber dazu, die lokale Selbstverwaltungsautonomie möglichst<br />
weitgehend zu erhalten.<br />
III. Schärtls Buch ist fl üssig geschrieben und klar gegliedert. Auf Grundlage<br />
seiner »historisch-verfassungsstrukturorientierten Auslegung« des § 328 I Nr. 1<br />
ZPO entwickelt er ein in sich geschlossenes und facettenreiches Gedankengebilde<br />
8 . Sein Lösungsansatz zum deutschen Internationalen Anerkennungsrecht<br />
ermöglicht es Schärtl, sich vertieft mit deutscher Verfassungsgeschichte und dem<br />
amerikanischen Verfassungs- und Verfahrensrecht auseinanderzusetzen. Das<br />
Buch überzeugt hier durch seine Tiefgründigkeit und Liebe zum Detail.<br />
Allerdings möchte der Rezensent einige praktische Bedenken gegen Schärtls<br />
Lösung nicht verhehlen, die sich selbst dann ergeben, wenn man durch eine<br />
Betonung der historischen Auslegung 9 wie Schärtl die verfassungsrechtliche Perspektive<br />
einer – womöglich dem Beklagtenschutz gerechter werdenden – funktionalen<br />
Betrachtungsweise 10 vorzieht. So mag man insbesondere Zweifel haben,<br />
ob der deutsche Anerkennungsrichter die Mühen umfassender verfassungs-<br />
und verfahrensvergleichender Studien auf sich nehmen wird, die Schärtls<br />
»historisch-verfassungsstrukturorientierte Auslegung« von ihm fordert. Ein<br />
kurzer Blick in das ausländische Verfassungs- und Verfahrensrecht genügt hier<br />
nicht, zumal Schärtl selbst gut 150 Seiten seiner Arbeit der Anwendung seiner<br />
Lösung auf die USA widmet. Hinzu kommt, dass sein Ansatz auch reichlich<br />
Argumentationsspielraum für die Parteien im Einzelfall eröffnet. Die von Schärtl<br />
favorisierten wertenden Abgrenzungskriterien (gemeinsamer Rechtsprechungssouverän,<br />
Verselbständigung der Jurisdiktionssphären) können, eine entspre-<br />
8 Siehe auch die positive Rezension von Arnold, Rev. int. dr. comp. 2007, 219 f.<br />
9 Deren Gewicht traditionell als gering eingestuft wird, siehe nur Vogenauer, Die Auslegung<br />
von Gesetzen in England und auf dem Kontinent I (2001) 115 ff.<br />
10 Vgl. auch Stein/Jonas (-H. Roth), Kommentar zur Zivilprozessordnung 22 V: §§ 328–510b<br />
(2006) § 328 ZPO Rz. 77; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht 4 (2006) Rz. 906 mit<br />
N. 5.
72 (2008)<br />
literatur<br />
643<br />
chende Argumentation vorausgesetzt, zu vertretbaren Ergebnissen in die eine<br />
oder in die andere Richtung führen – anders als die bisher vorgeschlagenen eher<br />
starren Abgrenzungskriterien. Schärtl hat zwar umfassende Vorarbeiten für die<br />
USA geleistet, dennoch bleiben Staatenverbindungen (z. B. Australien, Indien,<br />
Kanada, die Russische Föderation, die Schweiz oder das Vereinigte Königreich),<br />
für die – sollte sich Schärtls Ansatz durchsetzen – ähnlich tiefschürfende und<br />
umfangreiche verfassungs- und verfahrensrechtsrechtsvergleichende Untersuchungen<br />
vonnöten wären. Dennoch sei das Buch nicht nur dem am Internationalen<br />
Zivilverfahrensrecht, sondern vor allem auch dem am vergleichenden<br />
Verfassungs- und Verfahrensrecht interessierten Leser zur Lektüre empfohlen.<br />
Hamburg Anatol Dutta<br />
Bösch, Harald: Liechtensteinisches Stiftungsrecht. – Bern: Stämpfl i; Wien: Manz<br />
2005. XXXV, 880 S.<br />
I. Das liechtensteinische Stiftungsrecht spielt eine bedeutende Rolle. Obwohl<br />
Liechtenstein nur gut 30.000 Einwohner zählt, gibt es dort mehr als 51.000<br />
Stiftungen (in Deutschland bestehen derzeit gerade einmal 13.000 rechtsfähige<br />
Stiftungen). Die Stiftung ist damit die zahlenmäßig dominierende Rechtsform<br />
im liechtensteinischen Recht und eines der »Lieblingskinder« des Berufszweigs<br />
der liechtensteinischen Treuhänder. Der »Siegeszug« der liechtensteinischen<br />
Stiftung ist im Ausland nicht unbemerkt geblieben: Viele liechtensteinische<br />
Stifter kommen aus dem Ausland, der »Wettbewerb der Rechtsordnungen« hat<br />
Österreich bewogen, im Jahre 1993 das liechtensteinische »Erfolgsmodell« zum<br />
Vorbild für die österreichische Privatstiftung zu nehmen 1 . Eine entsprechende<br />
Reforminitiative in der Schweiz (Parlamentsinitiative Schiesser) hat eine beachtliche<br />
Diskussion über die Vorzüge und Nachteile des liechtensteinischen<br />
Stiftungsrechts entfacht; im Ergebnis haben sich aber weitgehend die Kritiker<br />
durchsetzen können, die eine »Ver-Liechtensteinisierung« des schweizerischen<br />
Stiftungsrechts ablehnen 2 .<br />
In der deutschen Debatte um die Reform des Stiftungszivilrechts, die auch<br />
nach dem Stiftungsreformgesetz von 2002, das im Wesentlichen den Status quo<br />
beibehalten hat, in der Wissenschaft anhält, spielen die liechtensteinischen Erfahrungen<br />
bislang keine große Rolle. Sofern Liechtenstein überhaupt erwähnt<br />
wird, überwiegen die skeptischen Stimmen. Manche Berichte, insbesondere aus<br />
den Medien, legen nahe, dass liechtensteinische Stiftungen vor allem als Instrument<br />
zur Steuerhinterziehung oder Geldwäsche dienen. Andererseits gibt es<br />
1 Näher zur Entstehungsgeschichte der österreichischen Privatstiftung Helbich, Die österreichische<br />
Privatstiftung – eine Erfolgsstory?, in: Privatstiftungen, Gestaltungsmöglichkeiten<br />
in der Praxis, hrsg. von Gassner/Göth/Gröhs/Lang (2000) 1 (3 ff.).<br />
2 Näher zur Stiftungsrechtsreform in der Schweiz Jakob, Das neue Stiftungsrecht der<br />
Schweiz: RIW 2005, 669 ff.
644 literatur RabelsZ<br />
Anzeichen, dass sich liechtensteinische juristische Personen mit deutschem Verwaltungssitz<br />
»vom Außenseiter zum Liebling« entwickeln könnten 3 .<br />
Trotz dieser großen praktischen Bedeutung und kontroversen Bewertung<br />
fehlte es bislang an einer grundlegenden wissenschaftlichen Darstellung des<br />
liechtensteinischen Stiftungsrechts. Diese Lücke wird nunmehr durch das Werk<br />
von Harald Bösch, Rechtsanwalt in Bregenz und mit der liechtensteinischen Stiftungspraxis<br />
bestens vertraut, geschlossen.<br />
II. Die Untersuchung ist in 12 Kapitel unterteilt.<br />
1. Nach einer Einführung in das Thema und einer Darlegung des Ganges der<br />
Untersuchung (S. 1–15) entwickelt der Autor in den ersten beiden Kapiteln eine<br />
Grundlage des liechtensteinischen Organisationsrechts.<br />
Das 1. Kapitel zeichnet die Entstehungsgeschichte des liechtensteinischen<br />
Personen- und Gesellschaftsrechts (PGR) nach und stellt den Aufbau <strong>dieses</strong><br />
Gesetzes vor (16–62). Die Entstehungsgeschichte belegt insbesondere die persönliche<br />
Verbindung der Redakteure zum schweizerischen Recht und die wirtschaftspolitische<br />
Motivation des historischen Gesetzgebers, ausländisches Kapital<br />
nach Liechtenstein zu locken.<br />
Das 2. Kapitel, das einen der Glanz- und Schwerpunkte der Arbeit darstellt,<br />
enthält eine methodische Grundlegung des liechtensteinischen Stiftungsrechts<br />
(63–182). Während die wohl herrschende liechtensteinische Meinung die Eigenständigkeit<br />
des liechtensteinischen Rechts betont, legt der Verfasser in einer<br />
eindrucksvollen, historisch ausgreifenden Analyse dar, dass das schweizerische<br />
Stiftungsrecht bis in die Formulierungen hinein das Vorbild für das liechtensteinische<br />
Stiftungsrecht gewesen ist. Der Autor stellt daher mit Recht die (in der<br />
Rezeptionsdiskussion) wohlbekannte Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit<br />
die schweizerische Rechtsprechung und Literatur (als partiell rezipierte Rechtsordnung)<br />
zur Auslegung des liechtensteinischen Stiftungsrechts herangezogen<br />
werden kann. Der Verfasser arbeitet allerdings auch die Unterschiede heraus,<br />
welche die Redakteure des liechtensteinischen Stiftungsrechts in bewusster Abkehr<br />
vom schweizerischen Vorbild eingearbeitet haben. Dabei handelt es sich<br />
insbesondere um die Einführung von Widerrufs- und Änderungsvorbehalten,<br />
aber auch um die Beschränkung »wirtschaftlicher Zwecke« und Zulässigkeit von<br />
»voraussetzungslosen Familienunterhaltsstiftungen«. Auf dieser Basis kommt der<br />
Verfasser zu dem überzeugenden Zwischenergebnis, das schweizerische Stiftungsrecht<br />
könne in behutsamer Form zur Auslegung des liechtensteinischen<br />
Stiftungsrechts herangezogen werden (152–159). Gleichzeitig taucht hier erstmals<br />
ein Leitmotiv auf, das sich durch die gesamte Arbeit zieht, nämlich die<br />
Fragen, inwiefern sich eine Stiftung durch das Fehlen körperschaftlicher Struk-<br />
3 So der Titel eines Aufsatzes von Rehm, Vom Außenseiter zum Liebling?, Liechtensteinische<br />
Gesellschaften mit deutschem Verwaltungssitz als unternehmerische Gestaltungsoption:<br />
Der Konzern 2006, 166 ff., der zugleich eine Besprechung der BGH-Entscheidung vom<br />
19. 9. 2005 (Az. II ZR 372/03) enthält, in welcher der BGH die vom EuGH zur Niederlassungsfreiheit<br />
(Artt. 43, 48 EGV) entwickelten Grundsätze der Entscheidungen Centros, Überseering<br />
und Inspire Art auf die entsprechenden Grundfreiheiten des EWR-Abkommens (Artt.<br />
31, 34 EWRA) übertragen hat, so dass er »im Ergebnis den Weg für liechtensteinische Gesellschaften<br />
in Deutschland freigeräumt hat« (so Rehm [diese Note] 175).
72 (2008)<br />
literatur<br />
645<br />
turen defi niert und welche Konsequenzen es vor diesem Hintergrund hat, dass<br />
das liechtensteinische Stiftungsrecht dem Stifter das Recht einräumt, sich den<br />
freien Widerruf und/oder die freie Zweckänderung vorzubehalten.<br />
Sodann geht der Verfasser auf die zahlreichen globalen Verweisungen des<br />
PGR ein (159–182). Das Stiftungsrecht verweist unter anderem auf die allgemeinen<br />
Vorschriften über die Verbandsperson, die vereinsrechtlichen Bestimmungen<br />
und das Gesetz über das Treuunternehmen (TrUG). Durch diese schon<br />
von Gschnitzer kritisierte »unglückliche Liebe, ja Sucht zu Verweisungen« im<br />
PGR im Allgemeinen und dem Stiftungsrecht im Besonderen ergeben sich<br />
Rechtsunsicherheiten, wie der Verfasser anhand mehrerer Beispiele aus der<br />
Rechtsprechung illustriert.<br />
Instruktiv sind hier insbesondere die Entscheidungen des liechtensteinischen<br />
Obersten Gerichtshofs (OGH) zwischen den späten achtziger Jahren und den<br />
späten neunziger Jahren (in der Amtszeit des damaligen Präsidenten Karl Kohlegger),<br />
in denen der OGH – mit Verweis auf die Privatautonomie des Stifters –<br />
eine nahezu uferlose Gestaltungsfreiheit des Stifters anerkannt hat, die sich nicht<br />
immer ohne weiteres mit den gesetzlichen Regelungen vereinbaren ließ.<br />
Eines der Beispiele ist die Anforderung an die Bestimmtheit des Stiftungszwecks:<br />
Art. 552 I PGR verlangt einen »bestimmten Stiftungszweck«. Die<br />
schweizerische herrschende Lehre legt die entsprechende Formulierung des Art<br />
80 ZGB mit Verweis auf den Stiftungsbegriff dahingehend aus, der Zweck müsse<br />
hinreichend bestimmt sein. Die liechtensteinische Rechtsprechung hat Ende<br />
der achtziger Jahre <strong>dieses</strong> Ergebnis abgelehnt und dies unter anderem mit einem<br />
Rückgriff auf Vorschriften des TrUG begründet, auf die mangels einer eindeutigen<br />
Regelung in den stiftungsrechtlichen Bestimmungen des PGR zurückzugreifen<br />
sei 4 . Die methodische Kritik des Verfassers an der »gedankenlosen Verallgemeinerung«<br />
(Rabel) der Verweisungsvorschriften überzeugt ebenso, wie<br />
die rechtspolitische Forderung nach Abhilfe durch ein Einschreiten des liechtensteinischen<br />
Gesetzgebers.<br />
2. Nach dieser methodischen Grundlegung wendet sich der Verfasser dem<br />
liechtensteinischen Stiftungsrecht zu. Das 3. Kapitel behandelt seiner Überschrift<br />
nach die »Begriffsmerkmale der selbständigen liechtensteinischen Stiftung«<br />
(183–249). Der Autor stellt eingangs die These auf, der Stiftungsbegriff<br />
sei »das entscheidende Kriterium für die Zulässigkeit atypischer Gestaltungen«,<br />
indem er eine »Grenzlinie zwischen zulässigem und unzulässigem Stiftungsgebilde«<br />
darstelle, welche der Typus »eben nicht zu leisten vermag« (S. 183). Anschließend<br />
macht der Verfasser als Begriffselemente den Stiftungszweck, das<br />
Stiftungsvermögen und die Stiftungsorganisation aus.<br />
Ein Schwerpunkt <strong>dieses</strong> Abschnitts ist die (bereits angesprochene) Frage, inwieweit<br />
der Stiftungszweck in der Stiftungsurkunde bestimmt bezeichnet sein<br />
muss. Der Verfasser setzt sich eingehend und kritisch mit der (bereits angesprochenen)<br />
Entscheidungspraxis des liechtensteinischen OGH zwischen den späten<br />
achtziger Jahren und den späten neunziger Jahren auseinander, in der auch unbestimmte<br />
Formulierungen wie »die Verwaltung von eigenem Vermögen und<br />
dessen Mehrung, die Vornahme aller Rechtsgeschäfte, die im Interesse der Stif-<br />
4 Fürstentum Liechtenstein (FL) OGH 26. 1. 1988, 3C 96/86–36, LES 1990, 107.
646 literatur RabelsZ<br />
tung liegen und geeignet sind, das Vermögen derselben zu mehren sowie die<br />
Verteilung des Stiftungsertrags« als hinreichend bestimmter Stiftungszweck angesehen<br />
wurden. Der Autor gelangt mit durchweg plausiblen Argumenten zum<br />
Ergebnis, dass diese Entscheidungspraxis nicht haltbar ist (202–227). Dies wird<br />
auch durch die neue Rechtsprechung des liechtensteinischen OGH unterstützt,<br />
die mittlerweile ebenfalls erhöhte Anforderungen an die Bestimmtheit des Stiftungszwecks<br />
stellt 5 . Die Folgefrage, inwieweit es die Privatautonomie des Stifters<br />
erlaubt, die Elemente des Stiftungsbegriffs zu ändern, und »atypische Stiftungen«<br />
zu schaffen, spart der Verfasser für spätere Kapitel auf.<br />
Stattdessen geht er im 4. Kapitel auf die »gesetzlichen Stiftungstypen« des<br />
liechtensteinischen Rechts ein (250–300). Das Hauptaugenmerk liegt hier auf<br />
der »reinen Familienstiftung«, die in der Praxis die am weitaus häufi gsten vertretene<br />
Stiftungsform ist, und sich dadurch auszeichnet, dass sie (im Gegensatz<br />
zur »normalen Stiftung«) von der Registeraufsicht und Eintragungspfl icht befreit<br />
ist. Auch hier besteht Uneinigkeit, inwieweit der Stiftungszweck einer Familienstiftung<br />
die zu unterstützende Familie bestimmen muss. Der Autor belegt<br />
in überzeugender Weise, dass der Verzicht auf die Registeraufsicht und die Eintragungspfl<br />
icht sich nur begründen lässt, wenn der Stiftungszweck und die Destinatäre<br />
eindeutig bestimmbar sind.<br />
Das 5. Kapitel möchte »rechtliche Konsequenzen der gesetzlichen Typenbildung«<br />
aufzeigen (301–459) und handelt ausführlich drei Problemkreise des<br />
liechtensteinischen Stiftungsrechts ab, nämlich die Problematik der »Hinterlegung«<br />
der Stiftungsurkunde, der Stiftungsaufsicht sowie der Aufl ösung der Stiftung.<br />
Die Kritik des Autors, die Regelungen zur Hinterlegung seien schlichtweg<br />
unvollkommen, überzeugt. In der Tat scheinen diese Regeln in erster Linie<br />
daraufhin abzuzielen, eine Stiftung mit anonymem Stifter und anonymen privaten<br />
Destinatären zu ermöglichen. Dies ist bedenklich, denn es liegt auf der<br />
Hand, dass eine solche »anonymisierte« Stiftung zur Benachteiligung etwaiger<br />
Gläubiger genutzt werden kann und darüber hinaus sogar der Geldwäsche dienen<br />
kann.<br />
3. In den folgenden vier Kapiteln geht es schließlich um die (schon angesprochene)<br />
Frage korporativer Stiftungen. Mit Recht begreift der Autor diese Fragestellung<br />
als ein Problem der Privatautonomie des Stifters und ihrer Grenzen.<br />
Das 6. Kapitel beginnt daher mit der Darstellung der »Stiftungsrechtliche[n]<br />
Privatautonomie und ihre[n] Grenzen« (459–505). Zu beachten ist hierbei die<br />
bewusst liberale Grundhaltung des liechtensteinischen Rechts, das der Privatautonomie<br />
durchweg einen sehr hohen Stellenwert einräumt. Dies geht so weit,<br />
dass in der Rechtsprechung des liechtensteinischen OGH davon die Rede ist,<br />
der Stifterfreiheit sei der Vorrang vor dem zwingenden Recht einzuräumen,<br />
was paradox anmutet und von Bösch mit Recht schon in früheren Beiträgen<br />
kritisiert worden ist. Der Autor verweist damit auch auf die entsprechende Diskussion<br />
in Deutschland zur Begrenzung der Stifterfreiheit bei »stiftungsfremden«<br />
Zwecken und vor der »Degenerierung der Stiftung zur Quasi-Einmann-<br />
GmbH«. Als Grenzen macht er (mit Recht) die »Widerrechtlichkeit und Unsittlichkeit<br />
des Zwecks und des Gegenstandes« aus. Darüber hinaus plädiert der<br />
5 FL OGH 17. 7. 2003–1 CG 2002.262.55.
72 (2008)<br />
literatur<br />
647<br />
Autor für »stiftungsimmanente Grenzen« der Privatautonomie des Stifters, die<br />
der Autor aus dem »Stiftungsbegriff« entnehmen möchte, wobei er sich in guter<br />
Gesellschaft mit der wohl herrschenden deutschen Lehre befi ndet 6 . Konsequenterweise<br />
sieht der Autor daher in der Möglichkeit des Stifters, sich im liechtensteinischen<br />
Stiftungsrecht den Widerruf oder die Zweckänderung (ohne besonderen<br />
Grund) vorzubehalten, den »Sündenfall« des liechtensteinischen Stiftungsrechts<br />
(482).<br />
Ehe das 8. Kapitel diese Überlegungen weiterführt, wendet das 7. Kapitel<br />
(»Stiftungsbeteiligte und Rechtsschutz«, 505–604) den Blick zu den Rechten<br />
der »Stiftungsbeteiligten« und »Stiftungsinteressierten«. Anders als viele andere<br />
Rechtsordnungen enthält das liechtensteinische Stiftungsrecht vergleichsweise<br />
ausführliche gesetzliche Bestimmungen, in denen den »Beteiligten« der Stiftung<br />
diverse Kontroll-, Informations- und Anhörungsrechte eingeräumt sind. Umstritten<br />
ist jedoch die Reichweite dieser Rechte. Dies gilt sowohl hinsichtlich<br />
der Rechte selbst (da unklar ist, ob und gegebenenfalls inwieweit neben den<br />
Vorschriften des PGR auch die einschlägigen Vorschriften des TrUG auf Stiftungen<br />
anzuwenden sind), als auch hinsichtlich des Personenkreises, der diese<br />
Rechte geltend machen kann. Der Autor spricht sich hier mit überzeugenden<br />
Gründen für eine differenzierende Lösung aus und unterscheidet danach, welche<br />
Interessen (potentielle) »Beteiligte« und »Interessierte« wahrnehmen können.<br />
Diese Überlegungen sind nicht nur für die Auslegung des liechtensteinischen<br />
Stiftungsrechts interessant, sondern lassen sich auch als übergeordnete<br />
Prinzipien für das deutsche Stiftungsrecht fruchtbar machen. Dort ist die Frage<br />
bislang nicht geregelt, welche Rechte die Destinatäre und andere »stiftungsinteressierte«<br />
Personen haben. In der Literatur wird diese Frage jedoch zunehmend<br />
kontrovers diskutiert 7 .<br />
Das 8. Kapitel (»Stifter und Stifterrechte«, 605–666) wendet den Blick zurück<br />
zur Rechtsposition des Stifters. Der Autor zeigt auf, dass sich ein liechtensteinischer<br />
Stifter sehr weitgehende Rechte einräumen kann. Zu nennen sind in<br />
diesem Zusammenhang insbesondere das Recht, eine »Stiftung für den Stifter«<br />
zu errichten, bei der sich der Stifter selbst als Destinatär einsetzt (613 ff.), die<br />
bereits angesprochenen Widerrufs- und Änderungsvorbehalte hinsichtlich des<br />
Stiftungszwecks nach Art. 559 IV PGR (S. 616 ff.) und die von der Rechtsprechung<br />
anerkannte Möglichkeit des Stifters, sich die Stellung eines »obersten<br />
Stiftungsorgans« einzuräumen. Der Autor steht diesen weitgehenden Gestaltungsmöglichkeiten<br />
– wie bereits ausgeführt – eher kritisch gegenüber. Außerdem<br />
diskutiert der Autor, inwieweit der Stifter Dritten das Recht einräumen<br />
kann, die Geschicke der Stiftung zu bestimmen (Zweckänderung, Organisati-<br />
6 Siehe Münchener Kommentar zum BGB 5 (-Reuter) (2006) § 85 BGB Rz. 1 ff. (zitiert:<br />
Münch. Komm. BGB [-Reuter]); Jeß, Das Verhältnis des lebenden Stifters zur Stiftung (1991)<br />
passim; Jakob, Schutz der Stiftung (2006) 523 ff.<br />
7 Eher zurückhaltend Schwintek, Vorstandskontrolle in rechtsfähigen Stiftungen bürgerlichen<br />
Rechts (2001) 311 ff. Jakob (vorige Note) 346 f. Für vergleichsweise weitgehende Kontroll-<br />
und Klagerechte (potentieller) Destinatäre hingegen Reuter, Die Haftung des Stiftungsvorstandes<br />
gegenüber der Stiftung, Dritten und dem Fiskus, in: Non Profi t Law Yearbook<br />
2002 (erschienen 2003) 157 (172 ff.), sowie Thymm, Das Kontrollproblem der Stiftung und die<br />
Rechtsstellung der Destinatäre (2007).
648 literatur RabelsZ<br />
onsänderung, Bestimmung des Begünstigten, 629 ff.). Schließlich geht der Autor<br />
auf die in der neueren Rechtsprechung thematisierte Frage ein, ob und gegebenenfalls<br />
inwieweit die »Stifterrechte« abtretbar sind (646 ff.). Nachdem die<br />
Rechtsprechung hier ursprünglich sehr großzügig war, hat sie in einem neueren<br />
Urteil nunmehr die »Stifterrechte« pauschal als höchstpersönliche, nicht übertragbare<br />
Rechte eingeordnet. Der Autor spricht sich – unter Rückgriff auf dogmatische<br />
Erwägungen im schweizerischen Recht – mit Recht für eine differenzierende<br />
Lösung aus: Es bestünden keine Bedenken, durch die Satzung Dritten<br />
Nominierungs-, Zustimmungs-, Veto- oder andere Eingriffsrechte »mit geringer<br />
Eingriffstiefe« zu übertragen.<br />
Das 9. Kapitel (»Körperschaftlich beherrschbare Stiftung«, 667–733) ist eines<br />
der weiteren Herzstücke der Arbeit. Der Autor beschränkt sich hier nicht nur<br />
auf eine theoretische Analyse, sondern verdeutlicht durch Beispiele, warum er<br />
die Widerrufs- und Änderungsvorbehalte hinsichtlich des Stiftungszwecks nach<br />
Art. 559 IV PGR für missbrauchsanfällig hält. Hierdurch erlange der Stifter das<br />
Recht, über das Stiftungsvermögen weiterhin wie über sein eigenes Vermögen<br />
zu verfügen, weil er die Stiftung jederzeit zu einer Stiftung für den Stifter machen<br />
könne, in dem er die Satzung und Beistatuten der Stiftung entsprechend<br />
ändere (667 ff.). Die »körperschaftliche Beherrschbarkeit« einer solchen Stiftung<br />
zeige sich nicht schon dadurch, dass sie auf einem Zusammenschluss von Personen<br />
(Quasi-Mitgliedern) beruhe, sondern dadurch, dass der Stifter (wie die<br />
Mitglieder eines Verbandes) berechtigt sei, den ursprünglich angestrebten<br />
Zweck (auch zu seinem eigenen wirtschaftlichen Vorteil) immer wieder abzuändern.<br />
Diese Besonderheit entspreche dem »körperschaftlichen Selbstbestimmungsrecht«,<br />
das »eigentlich das grundlegende Unterscheidungskriterium<br />
zur Körperschaft« darstellt. Da der liechtensteinische Gesetzgeber diesen Widerspruch<br />
bewusst in Kauf genommen habe, sei diese Rechtslage trotz der damit<br />
verbundenen dogmatischen Verwerfungen hinzunehmen (670 ff.). Im Folgenden<br />
zeigt der Autor anhand konkreter Beispiele aus der liechtensteinischen<br />
Rechtsprechung zur Stiftung und (der mit dieser insoweit vergleichbaren) Anstalt<br />
die (gewollten?) Unzulänglichkeiten des liechtensteinischen Zwangsvollstreckungsrechts,<br />
die es – in Kombination mit der bereits geschilderten Anonymität<br />
des Stiftungsrechts – einem Schuldner leicht machen, durch Übertragung<br />
seines Vermögens auf eine liechtensteinische Stiftung den Zugriff seiner Gläubiger<br />
auf <strong>dieses</strong> Vermögen erheblich zu erschweren, wenn nicht gar unmöglich<br />
zu machen (672 ff.). Auch eigne sich die »jederzeit beherrsch- und aufl ösbare<br />
Stiftung hervorragend für Geldwäschereizwecke«, zumal sie in der Praxis treuhänderisch<br />
errichtet und verwaltet werde (689 f.). Die liechtensteinische Kautelarpraxis<br />
müsse sich fragen lassen, warum sie »körperschaftlich beherrschbare<br />
Stiftungen« propagiere, obwohl sowohl die Abtretbarkeit der »Stifterrechte« als<br />
auch die »Anonymität« der liechtensteinischen Stiftung bei richtiger Anwendung<br />
des liechtensteinischen Rechts (wie nunmehr auch die neue Rechtsprechung<br />
des liechtensteinischen OGH aufgezeigt habe) nicht in dem Ausmaße<br />
möglich sei, wie es in der Kautelarpraxis angestrebt werde.<br />
4. Das 10. und 11. Kapitel thematisieren besondere Fragestellungen. Das 10.<br />
Kapitel widmet sich »Sonderfragen der treuhänderischen Stiftungserrichtung<br />
und -verwaltung« (733–772). Hier werden nochmals die Besonderheiten des
72 (2008)<br />
literatur<br />
649<br />
liechtensteinischen Stiftungsrechts deutlich: Die vom Stifter erwünschte Anonymität<br />
führt dazu, dass die treuhänderische Gründung durch einen liechtensteinischen<br />
Treuhänder zum Regelfall geworden ist. Hieraus ergibt sich wiederum<br />
eine Vielzahl spannender Fragen, die der Autor in überzeugender Manier<br />
aufwirft und beantwortet. Das 11. Kapitel diskutiert das »Stiftungsrechtsreformvorhaben<br />
der liechtensteinischen Regierung« (773–804) und hält <strong>dieses</strong> in wesentlichen<br />
Punkten für unzureichend, um die aufgezeigten Defi zite zu beheben.<br />
5. Das Schlusskapitel enthält eine leserfreundliche Zusammenfassung der<br />
wichtigsten Thesen und einen Ausblick (805–832). Im Annex fi ndet sich eine<br />
Synopse der einschlägigen Regeln des PGR und des schweizerischen ZGB.<br />
III. Wenn man die Untersuchung nochmals zusammenfassend würdigt, so<br />
sind insbesondere drei Leistungen des Autors hervorzuheben.<br />
(1) Einmal gelingt es dem Autor, eine lebendige und hochinteressante Studie<br />
der Entwicklung des liechtensteinischen Stiftungsrechts und der Art und Weise,<br />
wie sich die merkantile Erwägung, durch die Stiftungsform ausländisches Kapital<br />
anzuziehen, in der Gesetzgebung und Rechtsprechung niedergeschlagen hat.<br />
Dabei ist besonders hervorzuheben, dass der Autor auch Interna aus der Stiftungspraxis<br />
darstellt, die aus der Lektüre des Gesetzestexts nicht erkennbar<br />
sind.<br />
(2) Zweitens zeigt Bösch in überzeugender Weise auf, dass sich zumindest<br />
manche bedenklich anmutende Auswüchse des liechtensteinischen Stiftungsrechts<br />
schon de lege lata korrigieren lassen.<br />
(3) Schließlich ist die Diskussion über die Möglichkeiten und Gefahren »korporativer<br />
Stiftungen« auch für die aktuelle deutsche Debatte von großem Interesse,<br />
denn sie zeigt die Erfahrungen und Probleme mit derartigen Gebilden auf<br />
und regt an zu überdenken, in welchen Fällen solche »korporativen Elemente«<br />
eine diskutable Gestaltungsoption darstellen und in welchen Fällen sie für Missbräuche<br />
anfällig sind.<br />
IV. Was die (zuletzt) angesprochenen »korporativen Stiftungen« betrifft, tendiert<br />
der Rezensent allerdings zu einer anderen Auffassung als der Autor. Bösch<br />
sieht einen »Missbrauch« wohl schon darin, dass die Stiftungsform wegen<br />
Art. 559 IV PGR sich entgegen dem traditionellen Stiftungsbegriff »körperschaftlich«<br />
modifi zieren lässt, weil sich nach dieser Vorschrift der Stifter den<br />
Widerruf und die vorbehaltlose Zweckänderung vorbehalten darf. Hiermit befi<br />
ndet er sich in guter Gesellschaft, denn nach ganz überwiegender deutscher<br />
stiftungsrechtlicher Ansicht besteht ein »Verbot korporativer Elemente im Stiftungsrecht«,<br />
das derartige Zweckänderungen nur erlauben soll, wenn hierfür<br />
ein »wichtiger Grund« im Sinne eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage eintritt 8 .<br />
Indessen legen es die vom Autor selbst angeführten Beispiele des Missbrauchs<br />
nahe, diesen Standpunkt zu überprüfen. Dabei spricht einiges für eine differenzierte<br />
Betrachtungsweise:<br />
Der eigentliche Missbrauch scheint dem Rezensenten vor allem darin zu liegen,<br />
dass das liechtensteinische Stiftungsrecht ausländische Gläubiger des Stifters<br />
(wie Pfl ichtteilsberechtigte, Unterhaltsberechtigte oder den Fiskus) in ekla-<br />
8 Siehe Münch. Komm. BGB (-Reuter) § 85 BGB Rz. 1 ff.; Jeß passim; Jakob, Schutz der<br />
Stiftung 523 ff. (alle oben N. 6).
650 literatur RabelsZ<br />
tanter Weise benachteiligt. Dies liegt einmal an der Intransparenz, die es ermöglicht,<br />
»geheime Stiftungen« zu errichten, bei denen weder der wirkliche<br />
Stifter noch der wirkliche Destinatär erkennbar sind, und zum anderen daran,<br />
dass Liechtenstein bisher insoweit mit den meisten Staaten keine ausreichenden<br />
Rechtshilfeabkommen abgeschlossen hat.<br />
Zweifelhaft erscheint es dem Rezensenten hingegen, ob ein Missbrauch<br />
schon dann anzunehmen ist, wenn sich die »korporativen Elemente« darauf beschränken,<br />
dass der Stifter zwischen mehreren gemeinnützigen Zwecken mehr<br />
oder minder frei wählen kann (z. B. den Zweck einer Stiftung von Stipendien<br />
für Musikstudenten in Entwicklungshilfe ändern darf). Sofern der Stiftung keine<br />
Zuwendungen im Hinblick auf ihren ursprünglichen Zweck gemacht worden<br />
sind, ist nicht recht ersichtlich, warum hier ein »Missbrauch« vorliegen soll,<br />
denn die Interessen der potentiellen Destinatäre an der Aufrechterhaltung eines<br />
bestimmten Förderprogramms verdienen keinen rechtlichen Schutz. Die Bedenken<br />
an der »korporativen« Ausgestaltung lassen sich in diesen Fällen daher<br />
nicht mit den »Missbrauchs«-Erwägungen rechtfertigen, sondern allein mit dem<br />
formaleren Argument, dass die vorbehaltlose Änderung eines (fremdnützigen)<br />
Zwecks in einen anderen (fremdnützigen) Zweck traditionellerweise im Stiftungsrecht<br />
nicht üblich ist und dass eine solche Flexibilität auch durch die Wahl<br />
einer »Stiftungs-Körperschaft« (z. B. einen Verein) erreicht werden könnte. Ob<br />
deswegen jedoch eine trennscharfe Abgrenzung von Stiftung und Körperschaft<br />
zwingend geboten ist, lässt sich gleichwohl bezweifeln, da derselbe (gemeinnützige)<br />
Zweck sich ebenso gut durch eine Stiftung wie durch einen Verein fördern<br />
lässt und in der Praxis offenbar bisweilen ein gewisser Bedarf für »Mischformen«<br />
(wie zum Beispiel im Fall der Bürgerstiftung) besteht. Auch die Reform des<br />
schweizerischen Stiftungsrechts von 2005 hat die Möglichkeiten zur Zweckänderung<br />
behutsam erweitert 9 .<br />
Diskutabel ist schließlich, ob man in der Möglichkeit der »Stiftung für den<br />
Stifter« generell einen Missbrauch sehen sollte. Zutreffend ist, dass eine solche<br />
»Stiftung« einen »eigennützigen Charakter« erhält, der dem traditionellen Stiftungsrecht<br />
fremd ist. Aus diesem Grunde kann man die »Stiftung für den Stifter«<br />
kritisieren. Fraglich ist jedoch, ob ein solcher Funktionswandel der Stiftung<br />
hin zu einem »eigennützigen« Gebilde schon per se als »missbräuchlich« anzusehen<br />
ist. Einen solchen Missbrauch kann man darin sehen, dass eine »Stiftung für<br />
den Stifter« ein Vermögen gegen den Zugriff der Gläubiger immunisiert. Dieser<br />
Gefahr lässt sich aber auch dadurch begegnen, dass man die Anfechtungsrechte<br />
der Gläubiger entsprechend ausweitet. So zeigt die Diskussion um die<br />
österreichische Privatstiftung (die auch die »Stiftung für den Stifter« kennt),<br />
dass man bei einer entsprechenden Interpretation durchaus die Gläubiger schützen<br />
kann 10 .<br />
9 Näher zur Stiftungsrechtsreform in der Schweiz Jakob, Das neue Stiftungsrecht der<br />
Schweiz (oben N. 2) 669 ff.<br />
10 Siehe jüngst OGH 26. 4. 2006–3 Ob 217/05s, JBL 2007, 110 ff., wonach Gläubiger des<br />
Stifters einer österreichischen Privatstiftung dessen satzungsmäßig vorbehaltenes Änderungsrecht<br />
pfänden und ausüben können und damit im Ergebnis Zugriff auf das Stiftungsvermögen<br />
erhalten.
72 (2008)<br />
literatur<br />
651<br />
V. Summa summarum ist die Arbeit von Bösch ein großer Gewinn für die<br />
Wissenschaft, weil es sich hierbei um eine fundierte Grundlagenarbeit im besten<br />
Sinne des Wortes handelt, die reichhaltiges Anschauungsmaterial zur liechtensteinischen<br />
Stiftungspraxis bietet und die deutsche Diskussion zu den Destinatärsrechten<br />
und der Zulässigkeit »korporativer« Stiftungen bereichert.<br />
Hamburg Thomas v. Hippel<br />
Choosing Genes for Future Children. Regulating Preimplantation Genetic Diagnosis.<br />
Human Genome Research Project. Principal Investigator: Mark Henaghan.<br />
– Dunedin, N. Z.: Human Genome Research Project 2006. 370 S.<br />
Anzuzeigen ist der erste Band eines Forschungsprojektes über Genome, welches<br />
von der Juristischen Fakultät der University of Otago, der südlichsten Universität<br />
der Welt gesteuert wurde. Ein Forscherkollektiv von den Inseln im Südpazifi<br />
k hat sich umfassend mit der Wahl von Genen für künftige Kinder befasst.<br />
Dabei wurden auch Fachleute aus dem Vereinigten Königreich und den USA<br />
herangezogen.<br />
Beim Lesen der Reports trifft man schon auf der ersten Seite auf ein Zitat von<br />
Jürgen Habermas, der die Präimplantationsdiagnostik als das Streben nach genetischer<br />
Optimierung bezeichnet hat. Diese Suche nach einem gesünderen Organismus<br />
entstamme derselben Haltung wie die eugenische Praxis. Dieses Zitat<br />
macht einen neugierig, denn offensichtlich sollen in dem Bericht nicht alle Präimplantationstechniken<br />
verworfen werden. Ein gutes Beispiel für den anderen<br />
Standpunkt liefert der Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages:<br />
»Chancen und Risiken der Gentechnologie« (1987). Als dieser Bericht<br />
der Presse vorgestellt wurde, war der Saal des Bundestags für Presseäußerungen<br />
nur relativ schwach besetzt. Der Vorsitzende, ein Mitglied und späterer Staatssekretär<br />
der SPD, las einem scheinbar ermüdeten Publikum die Empfehlungen<br />
der Kommission vor. Diese gingen auch dahin, dass der somatische Gentransfer<br />
zulässig sein solle, gentechnische Eingriffe in die Keimbahn des Menschen sollten<br />
jedoch aus kategorischen Gründen strafrechtlich verboten werden. Aus dem<br />
Zuschauerraum meldete sich ein Reporter der »Süddeutschen Zeitung« und<br />
fragte, wie es denn im folgenden Fall stehen würde: In einer Familie sei Schwerhörigkeit<br />
erblich. Nun gebe es eine Möglichkeit, durch einen gentechnischen<br />
Eingriff in die Keimbahnzellen die Schwerhörigkeit zu beseitigen. Sollte <strong>dieses</strong><br />
etwa verboten werden? Die Antworten des Vorsitzenden und einzelner Kommissionsmitglieder<br />
waren unbefriedigend. Der neben mir sitzende Soziologe<br />
hielt <strong>dieses</strong> Verbot für verfassungswidrig, ich sogar für menschenrechtswidrig.<br />
Die hier vorgelegte Untersuchung beginnt mit den wesentlichen Ergebnissen,<br />
geht dann zurück zu den klinischen Möglichkeiten, erörtert die Perspektiven<br />
aus der Sicht der Maori, um schließlich die ethischen Fragen ebenso umfassend<br />
wie die juristischen und regulatorischen Besonderheiten zu erörtern. Was<br />
das Rechtliche angeht, so ist selbstverständlich vom heimischen Recht auszugehen,<br />
insbesondere ist nach einer Reihe von Richtlinien der sog. Human Assisted<br />
Reproductive Technology Act 2004 (HART Act) erlassen worden. Dieses
652 literatur RabelsZ<br />
Gesetz verwirft nicht die Präimplantationsdiagnostik, sondern greift sie durch<br />
zwei Kommissionen auf. Die eine stellt Richtlinien auf, um das Gesetz anzuwenden<br />
oder Neuentwicklungen einzubeziehen. Die andere befasst sich mit<br />
jedem einzelnen vorgelegten Fall und erlaubt ihn oder lehnt ihn ab. Bei dieser<br />
Gelegenheit muss die außerordentliche Offenheit gelobt werden, mit der schon<br />
zu Beginn des Buches die Zwangssterilisation in den USA, die Tuskegee Syphilis<br />
Study (1932–1974) – bei welcher den Teilnehmern der Syphilis-Studie das zwischenzeitlich<br />
erfundene Penicillin vorenthalten wurde – erwähnt wird, sowie<br />
der Cartwright Report (1988), bei dem es um die Voraussetzungen der klinischen<br />
Forschung und die Einrichtung von Ethikkommissionen ging. Dennoch kommt<br />
der Report zu dem Ergebnis, dass man die Problematik mit sympathetic detachment<br />
betrachten solle. Der von der deutschen Enquete-Kommission eingenommene<br />
kategorische Standpunkt wird also nicht übernommen.<br />
Dem exzellenten Bericht über die Problematik der Präimplantationsdiagnostik<br />
im angloamerikanischen Bereich ist eigentlich nur noch hinzuzufügen, dass<br />
man sich gewünscht hätte, dass auch das kontinentaleuropäische Recht und die<br />
japanische bzw. südkoreanische Sicht der Dinge eingefl ossen wären. Vielleicht<br />
ist dies noch nachzuholen. Allerdings ist im Bericht über das Recht Europas die<br />
Entscheidung der Cour de Cassation im Fall Perruche behandelt worden. Wenn es<br />
dort heißt, dass die französischen Gerichte dem public-policy-Argument gegen<br />
den Anspruch des Kindes aus wrongful life nicht gefolgt seien, so ist das durchaus<br />
richtig, wenn auch die Fußnoten auf S. 353 etwas durcheinandergeraten sind<br />
und nicht der Senat, sondern das Parlament in Frankreich das entscheidende<br />
Gesetzgebungsgremium ist. Was den ordre public angeht (vgl. S. 271), so ist jedoch<br />
in der ungewöhnlich ausführlichen Begründung von Pierre Sargos davon<br />
nicht die Rede.<br />
Ziehen wir die Summe, so handelt es sich um ein hoch interessantes, aber<br />
auch hoch spekulatives Werk zu den Problemen der Präimplantationsdiagnostik,<br />
ihrem Vollzug und ihrer Wertung. Der Einfl uss dieser Technik auf die<br />
Gesellschaft insbesondere in der Zukunft soll im nächsten Bericht folgen, auf<br />
den man durchaus gespannt sein darf. Innerhalb der selbst gesetzten Grenzen<br />
ein rundum lobenswertes Buch.<br />
Göttingen Erwin Deutsch<br />
Watson, Alan: The Shame of American Legal Education. – Belgrad: Dosije<br />
2005. 227 S.<br />
Alan Watsons Verriss der amerikanischen Juristenausbildung ist für deutsche<br />
Leser gleich mehrfach interessant. Nicht nur gewährt er, gleichsam ex negativo,<br />
einen handfesten Eindruck von der amerikanischen Juristenausbildung, das<br />
Buch ist auch erkennbar von einem kontinentalen Ideal der Juristenausbildung<br />
getrieben. Erstaunlich in Zeiten, in denen deutsche Jurastudenten in Scharen<br />
und wie magisch von den US-amerikanischen Law Schools angezogen scheinen.<br />
Deutsche Pilger, die Watsons schonungslose Kritik zur Hand nehmen, werden<br />
um einen gewissen Schock nicht umhinkommen, denn Schonung hat Watson in
72 (2008)<br />
literatur<br />
653<br />
der Tat nicht walten lassen. Der Verfasser liefert das, was man früher »starken<br />
Tobak« nannte. Das Buch ist nichts weniger als ein Verriss des gesamten Systems<br />
der amerikanischen Juristenausbildung, mit deutlichen Worten und, bisweilen,<br />
großem Zorn.<br />
Wie kam es dazu? Man hat keineswegs den Ausfall eines akademischen Außenseiters<br />
vor sich. Alan Watson gehört weltweit zu den angesehensten Romanisten.<br />
Sein Lehrer David Daube, dessen Werk und Person sich Watson bis heute<br />
stark verbunden und verpfl ichtet fühlt, gehörte zu den originellsten und vielseitigsten<br />
romanistischen Schriftstellern des vergangenen Jahrhunderts und darf<br />
wohl zu Meistern des Faches vom Format eines Ernst Rabel, Paul Koschaker oder<br />
Ludwig Mitteis gezählt werden. 1 In diese Reihe gehört Alan Watson schon aufgrund<br />
seines breiten, rechtshistorisch-rechtsvergleichenden Zugriffs. Damit hat<br />
er seit den siebziger Jahren die romanistische Forschung intensiv bereichert, bisweilen<br />
auch intensiv beunruhigt, etwa mit seinen dezidierten, rechtstheoretisch<br />
orientierten Thesen zu den Mechanismen historischer Rechtstransfers und zur<br />
Evolution des Rechts. 2 Umso bemerkenswerter ist, dass in den USA trotz wiederholter<br />
Bemühungen kein Verlag bereit war, Watsons Kritik zu veröffentlichen.<br />
So ist das Werk zunächst in Belgrad erschienen, in eher bescheidener Ausstattung.<br />
Erst die (nur unwesentlich veränderte) »zweite Aufl age« konnte Watson<br />
in den USA platzieren, in nicht weniger bescheidener Ausstattung und in einem<br />
Verlag mit durchaus überschaubarem Renommee 3 . Von einer dem Ruf des Autors<br />
angemessenen Publikation ist der mit nicht wenigen Druckfehlern versehene<br />
Text nicht nur haptisch weit entfernt. Was aber macht das Buch so brisant?<br />
Alan Watsons Buch ist in neun Kapitel aufgeteilt, die auf den ersten Blick<br />
recht lose miteinander verknüpft sind. Darin werden gleichwohl alle tragenden<br />
Säulen der amerikanischen Juristenausbildung attackiert: Das Curriculum<br />
(S. 27 ff., 127 ff.), die Unterrichtsmethode (59 ff. und passim), die Stellung der<br />
mächtigen Dekane (98 ff.), die Berufungspraxis (100 f.), das System der von Studenten<br />
geleiteten »Law Reviews« (93 ff.), die einfl ussreichen Rankings (53 ff.),<br />
die Casebooks, die den Alltag amerikanischer Jurastudenten prägen (87 ff.), und<br />
schließlich sogar die wissenschaftliche Qualität der amerikanischen Rechtsprofessoren<br />
(131 ff.). Und doch geht es bei diesem kraftvollen Rundumschlag im<br />
Kern um einen wiederkehrenden Topos. Es ist der Vorwurf, amerikanische Jurastudenten<br />
lernten nicht das Recht, ja hätten nach drei Jahren Law School nicht<br />
den blassesten Schimmer vom Recht (12, 23, 36 und passim). »Was aber ist das<br />
Recht?« wird nicht nur der Rechtstheoretiker sofort fragen. Und hier liegt bereits<br />
die Problematik von Watsons Kritik. Denn die These des Verfassers ist genuin<br />
rechtstheoretisch. Die Studierenden lernten nichts über das Recht, weil sie<br />
nichts über die tragenden Prinzipien und Konzepte des Rechts lernten (siehe<br />
nur 36). Dass aber das Recht von solch tragenden (und also erlernbaren!) Prin-<br />
1 Siehe die wunderbare Hommage von Carmichael, Ideas and the Man: Remembering<br />
David Daube (2004).<br />
2 Watson, Legal Transplants, An Approach to Comparative Law (1974); ders., Society and<br />
Legal Change (1977); siehe auch ders., Legal Change Sources of Law and Legal Culture: U.<br />
Penn. L. Rev. 131 (1983) 1121 ff.; ders., Roman Law and English Law, Two Patterns of Legal<br />
Development: Loyola L. Rev. 32 (1990) 247 ff.<br />
3 Lake Mary, Fla.: Vandeplas Publ. 2006.
654 literatur RabelsZ<br />
zipien und Konzepten durchzogen sei, ist bereits keine kleine Prämisse. Von<br />
einer langen Tradition innerhalb der amerikanischen Rechtswissenschaft wird<br />
sie vehement bestritten. Seit Oliver Wendell Holmes’ legendärem »the life of the<br />
law has not been logic, it has been experience« 4 über die Ernüchterungen des<br />
Legal Realism bis hin zu den Entzauberungen der Critical-Legal-Studies-Bewegung<br />
erschienen die vermeintlichen Prinzipien des Rechts als bloße Nebelbomben,<br />
mal geworfen von lebensfremden Naivlingen, mal von böswilligen Verteidigern<br />
des Status quo. 5 Auch die heute wohl führende Theorie der Rechtsökonomen<br />
um den vielseitigen Richard Posner glaubt an ganz andere »Prinzipien« im<br />
Recht. 6<br />
Noch wichtiger erscheint, dass es gerade der von Watson attackierten case<br />
method, nach der seit über einem Jahrhundert an allen Law Schools gelehrt wird,<br />
um nichts anderes ging, als eben die tragenden Prinzipien eines Rechtsgebietes<br />
anhand konkreter obergerichtlicher Entscheidungen aufzufi nden. Gerade dies<br />
hat ihr vernichtende und nachhaltige Kritik eingetragen, immer entlang des<br />
Holmesschen Antagonismus von »logic« und »experience«. 7 Insoweit könnte<br />
man Watsons Pamphlet leicht einer langen Reihe von Verrissen der case method<br />
zuordnen, in denen die Lebensfremdheit, aber auch die Rigidität dieser Unterrichtsmethode<br />
gnadenlos angeprangert wurden. 8 Doch Watsons Kritik geht<br />
gleichsam in die Gegenrichtung. Für ihn fehlt es bei der case method an dem Blick<br />
auf jene Strukturen, die das ganze Rechtsgebiet durchziehen, und nicht nur den<br />
konkreten Fall. Sein Vorbild ist insoweit erkennbar die kontinentale Methode<br />
des Rechtsunterrichts, wo in Vorlesungen das Rechtsgebiet in toto präsentiert<br />
wird, von oben nach unten statt von unten, dem Fall, nach oben, zu den »Prinzipien«.<br />
Nach Watson wird das Recht nur auf dem ersteren Weg verstanden.<br />
Dass es um ein solch hermeneutisches Projekt geht, zeigt Watsons zweiter<br />
wesentlicher Kritikpunkt. Er betrifft den Mangel an Rechtsvergleichung, vor<br />
allem aber an Rechtsgeschichte im amerikanischen Curriculum. Amerikanische<br />
Jurastudenten wüssten nichts darüber, wie eine Regelung in anderen Rechtskreisen<br />
ausfällt und nichts über ihre historische Genese. Warum aber müssen die<br />
Studenten davon etwas wissen? Watsons Argument entpuppt sich auch hier als<br />
ein rechtstheoretisches. Nicht sosehr die Frage wie, sondern die Frage warum in<br />
anderen Ländern und in der Geschichte anders verfahren wurde, ist für Watson<br />
entscheidend. Die Jurastudenten verstünden das Recht besser, wenn sie seine<br />
4 So die berühmte Passage aus Holmes, The Common Law (1881) 5.<br />
5 Siehe nur Llewellyn, Some Realism About Realism, Responding to Dean Pound: Harv.<br />
L. Rev. 44 (1931) 1222 ff.; Duncan Kennedy, Form and Substance in Private Law Adjudication:<br />
Harv. L. Rev. 89 (1976) 1685 ff. Eine wertungsfreudige, aber darum sehr lesbare Geschichte<br />
der amerikanischen Rechtswissenschaft, die sich dieser besonderen Tradition intensiv widmet,<br />
liefert Duxbury, Patterns of American Jurisprudence (1995).<br />
6 Siehe vor allem Posner, The Economics of Justice (1981).<br />
7 Dazu grundlegend LaPiana, Logic and Experience, The Origin of Modern American<br />
Legal Education (1994); siehe auch R. Stevens, Law School, Legal Education in America from<br />
the 1850s to the 1980s (1983).<br />
8 Siehe nur die »klassischen« Bestseller von Turow, One L (1977) und Osborn, The Paper<br />
Chase (1971); legendär auch Duncan Kennedy, Legal Education and the Reproduction of Hierarchy<br />
(2004) und dazu meine Rezension in: Krit. Justiz 39 (2006) 395 ff.
72 (2008)<br />
literatur<br />
655<br />
Vorgeschichte kennen. Dies aber bedeutet, dass es gewisse rechtstheoretische<br />
Gesetze geben muss, die auf das Recht generell, zu allen Zeiten und überall<br />
wirken – sonst wäre rechtshistorische oder rechtsvergleichende Erkenntnis nur<br />
ein intellektuelles Glasperlenspiel. Und so lautet Watsons Credo wiederholt:<br />
»[T]he standard approach misrepresents the way law is, how it develops, and its<br />
relation to society« (36). Was aber ist Recht, wie »entwickelt« es sich, was ist<br />
genau sein »Verhältnis« zu »der« Gesellschaft? Watson führt an keiner Stelle seine<br />
rechtstheoretischen Prämissen aus. Seine zahlreichen rechtshistorischen Exkurse,<br />
in denen er immer wieder in meisterlicher Dichte vor allem die römischen<br />
Wurzeln heutiger Rechtsinstitute skizziert, bleiben daher merkwürdig apodiktisch.<br />
Denn die Gründe, die er für das Fortleben oder den Untergang einer<br />
Regelung, für die nützliche oder nutzlose soziale Funktion einer Norm gibt,<br />
stehen unüberprüfbar am Ende dieser Passagen. »[U]nderstanding the nature of<br />
law and how it operates« (42) bleibt so ein unerfülltes rechtstheoretisches Unternehmen,<br />
bei dem den Studierenden auch in den USA nicht die Erkenntnis einfach<br />
ex machina ins Gesicht springen wird.<br />
Die sicher schärfste Kritik fi ndet sich freilich dort, wo Watson die amerikanische<br />
Professorenschaft an sich attackiert. Hier speist sich seine Ablehnung aus<br />
recht unterschiedlichen Argumenten, von denen nicht alle offengelegt werden.<br />
Ist schon die mit großer Überzeugung vorgetragene Spekulation des Verfassers,<br />
in den USA enthalte der Wunsch auf eine akademische Karriere ein gerüttelt<br />
Maß an gepfl egter Faulheit (49 f.), rational wenig nachprüfbar, erzeugen vor<br />
allem die direkten Angriffe auf Kollegen gemischte Gefühle. Watson hat sich<br />
»Three Celebrated American Legal Scholars« (131 ff.) ausgesucht, in denen er die<br />
Grundübel der amerikanischen Juristenausbildung personifi ziert sieht. Dass diese<br />
Wissenschaftler überhaupt diskutiert werden, dass ihnen gar Beifall und Gefolgschaft<br />
zuteil werden, sei nichts als Ausdruck der »poverty of American legal<br />
education« (131). Immerhin: »Their weaknesses are apparent« (ebd.). Trotz<br />
<strong>dieses</strong> Evidenzappells handelt es sich um den längsten Abschnitt des Buches.<br />
Und die Schwächen der Attackierten sind so offensichtlich nicht. Ein Artikel<br />
des 1977 verstorbenen Romanisten A. Arthur Schiller aus dem Jahr 1929 dient<br />
einem seitenlangen Elaborat über die handwerklichen Schwächen und den kreativen<br />
Umgang mit Quellen, die dann von unzähligen Professoren übernommen<br />
worden seien. Ohne Zugang zu den Quellen aber bleibt das Elaborat eine<br />
Sache für Spezialisten. Der Leser bleibt indes ratlos. Dasselbe gilt für die beiden<br />
anderen »celebrated scholars«, Morton Horwitz und Duncan Kennedy, ihres Zeichens<br />
rechtshistorisch orientierte Hauptvertreter der Critical Legal Studies, und<br />
also scharfe und nachhaltige Kritik in den USA gewohnt. Watsons Attacken<br />
oszillieren hier zwischen Petitessen und ohne Quellenvergleich recht haltlosen<br />
Richtigkeitsanrufungen. Kennedys in der Tat hochgerühmter Artikel von 1979 9<br />
ist eben nicht einfach »obviously wrong« (157), sondern enthält einen im besonderen<br />
Kontext der sechziger und siebziger Jahre zu würdigenden Versuch. 10<br />
9 Duncan Kennedy, The Structure of Blackstone’s Commentaries: Buffalo L. Rev. 28<br />
(1979) 205 ff.<br />
10 Siehe dazu Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik, Critical Legal Studies etc., in:<br />
Neue Theorien des Rechts, hrsg. von Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (2006) 97 ff.
656 literatur RabelsZ<br />
Ohne die tektonischen Veränderungen innerhalb der amerikanischen Rechtswissenschaft<br />
dieser Zeit ist er kaum zu verstehen. Das hätte gerade dem Rechtshistoriker<br />
Watson einer Erwähnung wert sein sollen.<br />
Ob der Leser aus dem Buch Gewinn ziehen wird, hängt davon ab, was er<br />
sucht. Natürlich kann man sich dem Charme eines »angry old man« nicht ganz<br />
entziehen, der mit beeindruckender Sachkenntnis, fühlbarer Leidenschaft und<br />
glaubhafter Empörung schreibt. Aber vieles bleibt in Watsons Kritik Unterstellung,<br />
vor allem rechtstheoretisch. Insofern ergibt man sich gern der entwaffnenden<br />
Chuzpe, mit der der Verfasser Montaigne zitiert: »I speak the truth, not<br />
so much as I wish but as much as I dare; and I dare a little the more as I grow<br />
older« (19) – und fragt hinterher doch, was sie denn sei, die Wahrheit.<br />
Cambridge, Mass. Viktor Winkler<br />
Sunstein, Cass R.: Laws of Fear. Beyond the Precautionary Principle. – (Cambridge:)<br />
Cambridge University Press (2005). XII, 234 S. 1<br />
Das Vorsorgeprinzip greift um sich. Nicht zuletzt die Europäische Union<br />
(EU) fördert zunehmend seine Geltung. 2 Die Annahme dahinter lautet, dass<br />
mehr und früher einsetzende Vorsorge eine sichere Welt schafft, in der technische<br />
Risiken beherrschbar, Fortschritt kontrollierbar und Entwicklungen<br />
vorhersehbar sind. Recht verspricht Sicherheit. Dass <strong>dieses</strong> Versprechen kaum<br />
einlösbar ist, zeigt nicht nur die Hilfl osigkeit der Politik, sondern gerade auch<br />
die Ratlosigkeit des Rechts angesichts naturwissenschaftlicher Entwicklungen<br />
– wie BSE, Vogelgrippe – oder technischer wie der des Internets: Staatliche<br />
Regulierung ist und bleibt fundamentalem Nichtwissen und beständiger Wissensveränderung<br />
ausgesetzt. Je mehr Wissensstrukturen netzwerkähnlich ausgeprägt<br />
sind, umso weniger sind Veränderungen vorhersehbar. Es darf indes bezweifelt<br />
werden, ob der Ansatz »Je weniger Wissen, umso eher staatliche Legitimation<br />
zum präventiven Eingriff«, der dem Vorsorgeprinzip zugrunde liegt,<br />
tatsächlich eine rechtliche Lösung zum Umgang mit Unsicherheiten bietet. Dagegen<br />
spricht schon aus tatsächlicher Sicht, dass mit dem Ausschluss von Risiken<br />
auch die Chancen negiert werden. Und auch das Recht verlangt in der Multipolarität<br />
des Grundrechtsschutzes mehrseitige Interessenwahrung statt einseitiger<br />
Betonung des Schutzgedankens.<br />
Das jüngste Buch von Cass R. Sunstein, einem Hauptrepräsentanten der amerikanischen<br />
Behavioral Law and Economics-Bewegung, thematisiert diese Zweifel<br />
am Einsatz des Vorsorgeprinzips aus einer besonderen Perspektive: Er untersucht<br />
aus einer ökonomisch, vor allem aber aus einer verhaltenswissenschaftlich<br />
informierten Sichtweise, welche Wirkungen das Vorsorgeprinzip kurz- und<br />
1 Die deutsche Ausgabe ist erschienen unter dem Titel: Cass R. Sunstein: Gesetze der<br />
Angst. Jenseits des Vorsorgeprinzips. Aus dem Amerikanischen von Robin Celikates und Eva<br />
Engels. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. 343 S.<br />
2 Siehe nur die Mitteilung der Europäischen Kommission, Die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips<br />
vom 2. 2. 2000, KOM (2000) 1 endg.
72 (2008)<br />
literatur<br />
657<br />
mittelfristig entfaltet und warum es trotzdem so attraktiv erscheint. Im Wesentlichen<br />
nutzt er dazu Erkenntnisse aus der von Daniel Kahneman und Amos Tversky<br />
begründeten Risikowahrnehmungslehre (Prospect Theory) 3 .<br />
Das vorliegende Buch baut auf einer Reihe von Aufsätzen und Working Papers<br />
auf, die in den letzten Jahren veröffentlicht worden sind, ohne sich jedoch<br />
in deren Einzelanalyse zu verfangen oder diese lediglich zu wiederholen. Sunsteins<br />
Grundthese formuliert einmal mehr, dass unsere soziale, technische und<br />
rechtliche Welt voller Risiken ist: Unbekannte und unüberschaubare, höchstens<br />
erahnte, vor allem aber komplex vernetzte Gefahrenpotentiale lauerten allenthalben.<br />
Dies wecke Ängste, auf die der Staat durch Einsatz des Vorsorgeprinzips<br />
reagiere – seinerseits in diesen Ängsten befangen. Damit sei der staatliche Einsatz<br />
eine Reaktion auf verschiedene verhaltenswissenschaftlich belegte Mechanismen<br />
der menschlichen Wahrnehmung und Verarbeitung von Risiken. Das<br />
Vorsorgeprinzip sei im Wesentlichen ein »Gesetz der Angst«, bei dem eine Reihe<br />
von Effekten der Risikowahrnehmung einseitig greife. Sunstein sieht einen<br />
Hauptgrund für die fehlerhafte Wahrnehmung der Risiken in der gruppendynamisch<br />
vorangetriebenen Realisierung des sog. Probability Effects: Laien und<br />
Experten gewichteten Ereignisse unterschiedlich und ermittelten dadurch verschiedene<br />
subjektive Wahrscheinlichkeiten. Darauf bauten jeweils verschiedene<br />
Einschätzungen von Welt und Bedrohung auf. 4<br />
Allerdings, so Sunstein weiter, werde generell übersehen, dass mit der Konzentration<br />
auf die Verhinderung eines Risikos andere Risiken vernachlässigt<br />
würden und neue entstünden. Die Beherrschung der Risikosituation durch<br />
Angst führe dazu, dass diese und andere Wirkungen des Vorsorgeprinzips ausgeblendet<br />
würden. Damit lehnt Sunstein das Vorsorgeprinzip nicht generell ab.<br />
Er gesteht ihm durchaus eine Berechtigung zu, allerdings nur unter den eingeschränkten<br />
Bedingungen (etwa irreversibles Katastrophenpotential).<br />
Mindestens ebenso viel Raum wie der Kritik am Vorsorgeprinzip gibt Sunstein<br />
anderen Zugängen zum Umgang mit Nichtwissens-Entscheidungen, die er<br />
im zweiten Teil seines Buches erläutert. Dabei greift er insbesondere 5 auf seine<br />
Vorstellung eines »Libertarian Paternalism« zurück: Die Letztentscheidung verbleibt<br />
beim Privaten. Der Staat beeinfl usst aber dessen Entscheidung. Haftungsregeln<br />
oder staatlich gesetzte Anker, an denen sich die private Entscheidung<br />
orientiert, werden als Beispiele für solche Formen zurückgenommener staatlicher<br />
Intervention genannt.<br />
Sunsteins Kritik am Vorsorgeprinzip trifft in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung.<br />
Die Objektivierbarkeit von Entscheidungen hängt wesentlich davon ab,<br />
3 Kahnemann/Tversky, Prospect Theory, An Analysis of Decision under Risk: Econometrica<br />
47 (1979) No. 2, S. 263–291; dies., Advances in Prospect Theory, in: Choices, Values and<br />
Frames, hrsg. von dens. (2000) 44–66 (bespr. von Engel, RabelsZ 67 [2003] 781–786).<br />
4 Der Probability Effect ist vermutlich eher eine Anhäufung verschiedener einzelner Phänomene<br />
der Risikowahrnehmung, unter anderem der Availability- und Recognition-Heuristik.<br />
Sunstein rückt damit fast schon in die Nähe kulturtheoretischer Interpretationen zur Nichtwissens-Problematik.<br />
5 Er setzt sich außerdem vor allem mit den Möglichkeiten einer deliberativ geprägten<br />
Kosten-Nutzen-Analyse und ihren Grenzen und Möglichkeiten in einem demokratischen<br />
Rechtsstaat auseinander.
658 literatur RabelsZ<br />
dass ihre subjektiven Beschränkungen deutlich gemacht werden. Hier können<br />
verhaltenswissenschaftliche Ansätze die Konkretisierung rechtlicher Tatbestandsmerkmale<br />
bereichern. Einer der besonderen Vorzüge des Buches liegt in<br />
dieser Transferleistung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Vorschläge<br />
zu einem reformierten Vorsorgeprinzip und von Alternativen dazu bleiben<br />
indes vage. Was Irreversibilität der Folgen bedeutet und wann sie anzunehmen<br />
ist, bleibt offen. Was eine Katastrophe ausmacht, wird höchstens in Ansätzen<br />
erkennbar. Es geht Sunstein wohl weniger um die Intensität von Eingriffen<br />
für Einzelne als um eine vergleichende Einschätzung von Massenphänomenen.<br />
Leider fehlt Sunsteins Ansatz ein differenzierendes Bild des Nichtwissens. Er<br />
geht ersichtlich davon aus, dass die Wissens- und Entscheidungsgrundlage durch<br />
mehr Wissen stets verbessert wird. Gewissheit ist für ihn immer herstellbar,<br />
wenigstens aber eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit. Dabei ist es genau das<br />
Fehlen gesicherter Wahrscheinlichkeiten, das überhaupt erst den Probability<br />
Neglect entstehen lässt. In der Folge bleibt im Unklaren, ob es stets objektivierter<br />
Wahrscheinlichkeiten als Rechtfertigungsgrundlage des Staates bedarf. Und<br />
auch die Konsequenzen von Sunsteins Kritik bleiben offen: Wer ermittelt solche<br />
Wahrscheinlichkeiten? Wer legt darauf aufbauende Schwellenwerte fest? Ist die<br />
Schwelle immer gleich hoch?<br />
Es bedarf keiner verhaltenswissenschaftlichen Analyse, um zu erkennen, dass<br />
Kennzeichnungspfl ichten, wie sie etwa die Novel-Food-Verordnung 6 kennt, weniger<br />
eingreifend sind als ein Verbot solcher Nahrungsmittel oder ihre vollständige<br />
Erlaubnis. 7 Solche Kennzeichnungspfl ichten belassen – im Sinne von Sunsteins<br />
»Libertarian Paternalism« – dem Verbraucher die Entscheidung. Aber die<br />
»Laws of Fear« ergreifen nicht nur die Wahrnehmung der bestehenden Handlungsalternativen<br />
auf der Verbraucher-, sondern bereits auf der staatlichen Ebene.<br />
Sie betreffen also schon die Zielsetzung staatlichen Handelns. Darauf geht<br />
Sunstein nicht ein. Zudem bleibt der Konfl ikt ungelöst, ob ein staatlicher Einfl<br />
uss auf die Entscheidung des Privaten tatsächlich ein milderes Mittel darstellt.<br />
Das gilt erst recht, wenn man, wie Sunstein, einer transparenten Offenlegung<br />
der Risiken eher kritisch gegenübersteht. So sind Rechtsschutzmöglichkeiten<br />
beschränkt, weil schon die Eingriffsqualität fraglich ist: Worin besteht der Eingriff,<br />
wenn der Staat mit Information oder objektivierbaren Hinweisen agiert?<br />
Für den europäischen Juristen sind Sunsteins Überlegungen in ihrer Allgemeinheit<br />
nicht immer hilfreich, kennen doch das deutsche und das europäische<br />
Recht verschiedenste Intensitätsgrade des Vorsorgeprinzips, auf die »Laws of<br />
Fear« nicht differenziert eingeht. Die Kritik trifft daher nicht immer. Dennoch<br />
leistet Sunstein einen wegweisenden Beitrag zum Vorsorgeprinzip. Schon seine<br />
analytische Schärfe und die Einbindung der verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse<br />
machen das Buch lesenswert. Darüber hinaus leistet es einer Analyse<br />
von Entscheidungen unter Bedingungen des Nichtwissens wertvolle Hilfestellung:<br />
Das grundlegende Problem wird konturiert, eine zentrale Lösung des<br />
Rechts – Anwendung des Vorsorgeprinzips – aus einer gänzlich anderen Per-<br />
6 Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. 1.<br />
1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten, ABl. L 43/1.<br />
7 Dieses Beispiel ist nicht dem Buch entnommen.
72 (2008)<br />
eingegangene bücher<br />
659<br />
spektive beleuchtet und schließlich werden Alternativen erörtert. Das Buch<br />
könnte damit eine fällige Diskussion um die herausgehobene Stellung des Vorsorgeprinzips<br />
in Gang setzen, ohne sich an alten Frontlinien aufzureiben. Denn<br />
– und im begründeten Hinweis darauf liegt der besondere Wert von »Laws of<br />
Fear« – das Vorsorgeprinzip vermag die ihm zugedachten Verheißungen von<br />
Sicherheit, Berechenbarkeit und Gestaltbarkeit der Zukunft nicht zu erfüllen.<br />
Daher gilt nach der Lektüre: Vorsicht vor dem Vorsorgeprinzip!<br />
Freiburg Indra Spiecker genannt Döhmann<br />
II. Eingegangene Bücher<br />
(Spätere Besprechung vorbehalten)<br />
Common Frame of Reference and Existing EC Contract Law. Reiner Schulze<br />
(Ed.). – (Munich:) Sellier European Law Publishers (2008). XI, 356 S.<br />
Forum Shopping in the European Judicial Area. Ed. by Pascal de Vareilles-Sommières.<br />
– Oxford and Portland, Ore.: Hart 2007. XIV, 242 S. (Studies of the<br />
Oxford Institute of European and Comparative Law. Vol. 7.)<br />
Handkommentar zum Schweizer Privatrecht. Hrsg.: Marc Amstutz, Peter Breitschmid<br />
u. a. – Schlussredaktion der englischen Gesetzesfassung ZGB: Stephen<br />
V. Berti, Craig Hilton. – (Zürich, Basel, Genf:) Schulthess 2007. XLVI, 3672 S.<br />
Hoffman, Scott L.: The Law of Business of International Project Finance. 3. ed.<br />
– (Cambridge:) Cambrige Univ. Press (2008). XLIX, 474 S.<br />
Huber, Stefan: Entwicklung transnationaler Modellregeln für Zivilverfahren am<br />
Beispiel der Dokumentenvorlage. (Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 2007.) –<br />
(Tübingen:) Mohr Siebeck (2008). XXVII, 517 S. (Studien zum ausländischen<br />
und internationalen Privatrecht. 197.)<br />
International Encyclopedia of Comparative Law. Vol. 7, P. 1.2.: Contracts in<br />
General. Chief ed. Arthur T. von Mehren. – Tübingen: Mohr Siebeck; Leiden,<br />
Boston: Nijhoff (2008).<br />
Kuckein, Mathias: Die ›Berücksichtigung‹ von Eingriffsnormen im deutschen<br />
und englischen internationalen Vertragsrecht. (Zugl.: Passau, Univ., Diss.,<br />
2007.) – (Tübingen:) Mohr Siebeck (2008). XXII, 321 S. (Studien zum ausländischen<br />
und internationalen Privatrecht. 198.)<br />
Pinheiro, Luís de Lima: Direito internacional privado. Vol. 1: Introdução de direito<br />
de confl itos. Parte geral. 2. ed. refundida. – (Coimbra:) Almedina<br />
(2008). 618 S.<br />
Precedent and the law. Reports to the XVIIth Congress, International Academy<br />
of Comparative Law, Utrecht, 16–22 July 2006. Ed. by Ewoud Hondius. –<br />
Bruxelles: Bruylant 2007. XVII, 517 S.<br />
La Règlement communautaire »Rome II« sur la loi applicable aux obligations<br />
non-contracutuelles. Sous la direction de Sabine Corneloup et Natalie Joubert.<br />
Actes du colloque du 20 septembre 2007 – Dijon. – Paris: Litec [2008]. 231<br />
S. (Université de Bourgogne – CNRS – Travaux du Centre de recherche sur<br />
le droit des marchés et des investissements internationaux. Année 2008,<br />
Vol. 31.)
660 mitarbeiter <strong>dieses</strong> heftes<br />
RabelsZ<br />
Varga, Csaba: Transition? To Rule of Law? Constitutionalism and Transitional<br />
Justice Challenged in Central & Eastern Europe. – Pomáz: Kráter Mühely<br />
Egyesület (2007). 289 S. (PoLíSz Series. 6.)<br />
Wilhelmi, Theresa: Das Weltrechtsprinzip im internationalen Privat- und Strafrecht.<br />
Zugleich eine Untersuchung zu Parallelitäten, Divergenzen und Interdependenzen<br />
von internationalem Privatrecht und internationalem Strafrecht.<br />
(Zugl.: Trier, Univ., Diss., 2007.) – Frankfurt a. M., Berlin, Bern usw.:<br />
P. Lang (2007). XXXV, 462 S. (Studien zum vergleichenden und internationalen<br />
Recht. Bd. 147.)<br />
Mitarbeiter <strong>dieses</strong> <strong>Heftes</strong><br />
Deutsch, Dr. iur., Dr. iur. h.c. mult., Dres. med. h. c. Erwin, M.C.L. (Columbia/N.Y.),<br />
em. Professor an der Universität Göttingen, Höltystr. 8, D-37085<br />
Göttingen<br />
Dutta, Dr. Anatol, M.Jur. (Oxon.), Referent am Institut<br />
Gelter, Dr. Dr. Martin, Assistent an der Wirtschaftsuniversität Wien, Institut<br />
für Zivil- und Unternehmensrecht, Althanstr. 39–45, A-1090 Wien<br />
Grechenig, Dr. Kristoffel, Assistent an der Universität St. Gallen, Bodanstr.<br />
4, Ch-9000 St. Gallen<br />
Hippel, Privatdozent Dr. Thomas v., Referent am Institut; zur Zeit Lehrstuhlvertreter<br />
an der TU Dresden<br />
Meyer, Dr. Olaf, M.St. (Oxon.), Research Fellow am Zentrum für Europäische<br />
Rechtspolitik (ZERP) an der Universität Bremen, Universitätsallee<br />
GW 1, D-28359 Bremen<br />
Oberhammer, Dr. Paul, Professor an der Universität Zürich, Rämistr. 74/9,<br />
CH-8001 Zürich<br />
Oyarzábal, Mario, LL.M. (Harvard), Professor an der Universität La Plata,<br />
Arenales 3178, 1425 Buenos Aires, Argentina<br />
Riesenhuber, Dr. Karl, M.C.J., Professor an der Ruhr-Universität Bochum,<br />
D-44780 Bochum<br />
Rohe, Dr. Mathias, M.A., Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg,<br />
Schillerstr. 1, D-91054 Erlangen; Richter am OLG Nürnberg a.D., Vorsitzender<br />
der Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht<br />
Rühl, Giesela, LL.M. (Berkeley), Referentin am Institut und Max Weber Fellow,<br />
Europäisches Hochschulinstitut, Via delle Fontanelle 10, I-50014 San<br />
Domenico di Fiesole<br />
Spiecker genannt Döhmann, Dr. Indra, LL.M. (Georgetown), Professorin an<br />
der Universität Karlsruhe, Fasanengarten 5, D-76131 Karlsruhe; Wiss. Mitarbeiterin<br />
am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern,<br />
Abt. Recht, Kurt-Schumacher-Str. 10, D-53113 Bonn<br />
Staudinger, Dr. Ansgar, Professor an der Universität Bielefeld, Universitätsstr.<br />
25, D-33615 Bielefeld<br />
Winkler, Viktor, LL.M. Candidate, Harvard Law School, 1563 Massachusetts<br />
Avenue, Cambridge, MA 02138