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<strong>Inhalt</strong> <strong>dieses</strong> <strong>Heftes</strong><br />

Aufsätze<br />

Rohe, Mathias, Muslimische Identität und Recht in Kanada . . . . 459–512<br />

Summary: Muslim Identity and the Law in Canada . . . . . . 512<br />

Grechenig, Kristoffel, und Martin Gelter, Divergente Evolution<br />

des Rechtsdenkens – Von amerikanischer Rechtsökonomie<br />

und deutscher Dogmatik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513–561<br />

Summary: The Divergent Evolution of Legal Thought – Law<br />

and Economics in the USA and German Legal Theory . . . . . 560<br />

Meyer, Olaf, Die privatautonome Abbedingung der vorvertraglichen<br />

Abreden – Integrationsklauseln im internationalen Wirtschaftsverkehr<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562–600<br />

Summary: Private Autonomy and the Exclusion of Pre-Contractual<br />

Negotiations – Integration Clauses in International<br />

Commerce . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600<br />

Oyarzábal, Mario J. A., Das Internationale Privatrecht von Werner<br />

Goldschmidt: In Memoriam . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601–619<br />

Summary: Werner Goldschmidt’s Private International Law: In<br />

Memoriam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618<br />

Literatur<br />

I. Buchbesprechungen<br />

Mestmäcker, Ernst-Joachim: Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen<br />

Union. 2. Aufl . Baden-Baden 2006 (Karl Riesenhuber)<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620–621<br />

Francq, Stéphanie: L’applicabilité du droit communautaire dérivé au<br />

regard des méthodes du droit international privé. Bruxelles 2005<br />

(Giesela Rühl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621–626<br />

Pontier, Jannet A./Edwige Burg: EU Principles on Jurisdiction and Recognition<br />

and Enforcement of Judgments in Civil and Commercial<br />

Matters According to the Case Law of the European Court<br />

of Justice (Paul Oberhammer) . . . . . . . . . . . . . . . . 627–630


II inhalt <strong>dieses</strong> heftes RabelsZ<br />

Reithmann, Christoph/Dieter Martiny (Hrsg.), Internationales Vertragsrecht.<br />

Bearb. von Carsten Dageförde u. a. 6. Aufl . Köln 2004<br />

(Ansgar Staudinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630–637<br />

Schärtl, Christoph: Das Spiegelbildprinzip im Rechtsverkehr mit ausländischen<br />

Staatenverbindungen. Tübingen 2005 (Anatol<br />

Dutta) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637–643<br />

Bösch, Harald: Liechtensteinisches Stiftungsrecht. Bern usw. 2005<br />

(Thomas v. Hippel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643–651<br />

Choosing Genes for Future Children. Dunedin, N. Z. 2006 (Erwin<br />

Deutsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651–652<br />

Watson, Alan: The Shame of American Legal Education. Belgrad<br />

2005 (Viktor Winkler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652–656<br />

Sunstein, Cass R.: Laws of Fear. Cambridge 2005 (Indra Spiecker<br />

genannt Döhmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656–659<br />

II. Eingegangene Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . 659–660<br />

Mitarbeiter <strong>dieses</strong> <strong>Heftes</strong> . . . . . . . . . . . . . . . 660–661


Muslimische Identität und Recht in Kanada<br />

Von Mathias Rohe, Erlangen *<br />

<strong>Inhalt</strong>sübersicht<br />

A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

B. Der rechtliche Rahmen für Anwendung islamrechtlicher Normen<br />

459<br />

in Kanada . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467<br />

I. Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467<br />

II. Bereiche der Anwendung islamischer Normen . . . . . . . . . . . . 469<br />

1. Kollisionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469<br />

2. Dispositives Sachrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470<br />

3. Religiöses Schiedswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474<br />

a) Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

b) Islamische Schiedsgerichtsbarkeit (»Islamic Sharia Courts«,<br />

474<br />

Islamic arbitration) in Ontario . . . . . . . . . . . . . . . 475<br />

c) Die Debatte in Québec . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499<br />

III. Zwischenergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

C. Muslimische Identität und säkularer Rechtsstaat:<br />

499<br />

Gegensatz oder Synthese? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507<br />

Summary: Muslim Identity and the Law in Canada . . . . . . . . . . . . 512<br />

A. Einführung<br />

Kanada ist ein klassisches Einwanderungsland. Unter seinen ca. 33 Millionen<br />

Staatsangehörigen fi nden sich ca. 600.000 Muslime 1 , meist mit Migra-<br />

* Abgekürzt werden zitiert: Natasha Bakht, Were Muslim Barbarians Really Knocking On<br />

the Gates of Ontario?, The Religious Arbitration Controversy, Another Perspective: Ottawa<br />

L.Rev. (voraussichtlich: 39 [2007/08]); Marion Boyd, Dispute Resolution in Family Law: Protecting<br />

Choice, Promoting Inclusion, (December 2004), ; Raja G. Khouri, Arabs in Canada – Post 9/11 (Toronto 2003); Mubarak Ali,<br />

The Muslim Handbook (Toronto 2001); Syed Mumtaz Ali in: Interview, A review of the Muslim<br />

Personal Family Law Campaign, (Rabia Mills), fi rst published August 1995, . Die angegebenen Internetadressen wurden – wo nichts anderes<br />

vermerkt ist – im Jahre 2006 abgerufen. Die zitierten Werke muslimischer Autoren<br />

wurden alle in Kanada in Moscheen und islamischen Buchhandlungen erworben.<br />

1 Laut Volkszählung von 2001 lebten 579.640 Muslime in Kanada (mehr als doppelt so<br />

RabelsZ Bd. 72 (2008) S. 459–512<br />

© 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0033-7250


460 mathias rohe RabelsZ<br />

tionshintergrund vom indischen Subkontinent und Ostafrika, in geringerer<br />

Zahl auch aus dem Nahen Osten, der früheren Sowjetunion und dem<br />

früheren Jugoslawien. 2 Neben der Mehrzahl sunnitischer Muslime unterschiedlicher<br />

Richtungen fi ndet sich ein starker, auf 1/3 geschätzter Anteil<br />

von Schiiten unterschiedlicher Denominationen. 3<br />

Die kanadische Gesellschaft versteht sich explizit als multikulturell. 4 Dies<br />

ist sogar in der kanadischen Verfassung festgeschrieben: s. 27 der Charter of<br />

Rights and Freedoms verlangt eine Interpretation der Verfassungsbestimmungen<br />

»in a manner consistent with the preservation and enhancement of<br />

the multicultural heritage of Canadians«. Im einstimmig verabschiedeten<br />

Multiculturalism Act vom 21. 7. 1988 heißt es in s. 3 (1): »It is hereby declared<br />

to be the policy of the Government of Canada to (a) recognize and<br />

promote the understanding that multiculturalism refl ects the cultural and<br />

racial diversity of Canadian society and acknowledges the freedom of all<br />

members of Canadian society to preserve, enhance and share their cultural<br />

heritage; (b) recognize and promote the understanding that multiculturalism<br />

is a fundamental characteristic of the Canadian heritage and identity and<br />

that it provides an invaluable resource in the shaping of Canada’s future.« In<br />

einem Urteil aus jüngerer Zeit 5 beschrieb der Supreme Court Kanada als »a<br />

multiethnic and multicultural country [. . .], which accentuates and advertises<br />

its modern record of respecting cultural diversity and human rights and<br />

of promoting tolerance of religious and ethnic minorities – and is in many<br />

ways an example thereof for other societies [. . .]«.<br />

Auch Rechtspluralismus zählt zu den Eigenheiten Kanadas: Englisches<br />

und französisches Rechtserbe stehen seit dem 18. Jahrhundert nebeneinander,<br />

hinzu treten Rechtsordnungen und gruppenspezifi sche Rechte der Ureinwohner<br />

( fi rst nations). 6 Chief Justice Beverley McLachlin sprach im Jahre<br />

viele wie 1991), darunter 352.500 in Ontario; vgl. die Daten unter , (Zahl für Ontario unter<br />

derselben Adresse, aber »code=35&Table«).<br />

2 Vgl. den Überblick bei Amir Hussain, Muslims in Canada, Opportunities and Challenges:<br />

Studies in Religion 33/3–4 (2004) 359 (361).<br />

3 Vgl. die Angaben bei Amir Hussain (vorige Note) 362, 364.<br />

4 Vgl. die Übersicht bei Philip Resnick, The European Roots of Canadian Identity (Peterborough<br />

u. a. 2005) 57 ff. mit weiteren Nachweisen; grundlegend Will Kymlicka, Multicultural<br />

Citizenship, A Liberal Theory of Minority Rights (Oxford 1995); ders., Finding Our Way,<br />

Rethinking Ethnocultural Relations in Canada (Oxford 1998; Reprint 2004).<br />

5 Syndicat Northcrest v. Amselem, [2004] 2 S. C. R. 551, 595 f.<br />

6 Vgl. hierzu nur das Sammelwerk: Canada’s Legal Inheritances, hrsg. von DeLloyd J.<br />

Guth/W. Wesley Pue (Winnipeg 2001); Serge Rouselle, La diversité culturelle et le droit des<br />

minorités, Une histoire de développement durable (Québec 2006).


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

461<br />

2003 vom Stolz auf das kanadische »encouraging and nourishing the identity<br />

of the other, and celebrating the gifts of difference«. 7<br />

Bis vor wenigen Jahren war die Präsenz von Muslimen in der kanadischen<br />

Gesellschaft weitgehend eine Selbstverständlichkeit, die keine breiteren öffentlichen<br />

Diskussionen ausgelöst hat. Die zahlenmäßig breitere Immigration<br />

von Muslimen ist noch recht jungen Datums (nach der Volkszählung<br />

1981 lebten 89.165 Muslime in Kanada, nach der Volkszählung 1970 nur<br />

33.370 8 ). Seit dem 11. 9. 2001 hat auch in Kanada der islamistische Extremismus<br />

breite Debatten entfacht. 9 Ein kanadisches Spezifi kum waren die<br />

Diskussionen über die Etablierung islamischer Schiedsinstanzen in Ontario<br />

und Québec in Angelegenheiten des Familien- und Erbrechts seit dem Jahr<br />

2003. Die zum Teil äußerst scharf geführte, international beachtete Debatte<br />

hatte letztlich zum Ergebnis, dass die Schaffung spezieller rechtlicher<br />

Grundlagen für solche Schiedsinstanzen im Parlament von Québec einhellig<br />

abgelehnt (dazu unten B.II.3.c), und dass die hierfür bestehende rechtliche<br />

Grundlage in Ontario substantiell geändert wurde (dazu unten B.<br />

II.3.b). Laut einer Meinungsumfrage im Oktober 2005 sprachen sich fast<br />

2/3 der Kanadier gegen religiöses Schiedswesen in Familiensachen generell<br />

und ebenso viele speziell gegen ein derartiges muslimisches Schiedswesen<br />

aus. 10 Bemerkenswert war und ist, dass andere Religionsgemeinschaften,<br />

darunter auch die jüdische 11 und die isma’ilitisch-islamische 12 , ein solches<br />

7 Zitat bei Resnick (oben N. 4) 59 f. mit N. 76.<br />

8 Belege bei Amir Hussain (oben N. 2) 361.<br />

9 Vgl. nur den Überblick bei Steven Frank, Islam and Canada: Time Canada vom 28. 5.<br />

2005, , und den Bericht<br />

von Isabel Teotonio/Jessica Leeder, Jihadist generation: Toronto Star vom 10. 6. 2006,<br />

, und aus muslimischer Sicht Ahmad<br />

F. Yousif, The impact of 9/11 on Muslim identity in the Canadian national Capital Region,<br />

Institutional response and future prospects: Studies in Religion 34 (2005) 49 ff. sowie den<br />

faktenreichen Überblick bei Amir Hussain (oben N. 2).<br />

10 Norma Greenaway, 63 per cent oppose faith based arbitration: The Ottawa Citizen vom<br />

31. 10. 2005, ; in Ontario war die Ablehnung mit 68% am<br />

größten; vgl. auch Kymlicka, Finding Our Way (oben N. 4) 60 f. zur Ablehnung des talaq (einseitiges<br />

Scheidungsrecht des muslimischen Ehemannes) und anderen religiös-kulturellen Institutionen.<br />

11 Vgl. die Schilderung und die Stellungnahme jüdischer Repräsentanten im Bericht von<br />

Boyd 55 f. Bemerkenswert ist die Aussage des orthodoxen Rabbi Reuven Tradburks, wonach<br />

es selten Druck aus der Gemeinde gebe, die als religiöse Verpfl ichtung angesehene Anrufung<br />

der jüdischen Gerichtsbarkeit (Beis Din) zu erfüllen. Es komme aber doch gelegentlich vor,<br />

dass die Weigerung von Gemeindemitgliedern, den Entscheidungen des Beis Din zu folgen,<br />

publik gemacht werde.<br />

12 Sie wendet allerdings kanadisches Recht an; besondere Anziehungspunkte sind in der<br />

vergleichsweise intimen und für kulturelle Zusammenhänge verständnisvollen Atmosphäre,


462 mathias rohe RabelsZ<br />

Schiedswesen schon länger etabliert hatten, ohne dass dies in der Öffentlichkeit<br />

zur Kenntnis genommen worden wäre.<br />

Seit der Festnahme von 17 mutmaßlichen islamistischen Extremisten in<br />

Ontario – fast alle gebürtige oder eingebürgerte Kanadier –, die der Planung<br />

von Terroranschlägen in Kanada verdächtigt werden, haben sich die Spannungen<br />

in der Öffentlichkeit verschärft; so wurden bei der größten Moschee<br />

in Toronto drei Dutzend Tür- und Fensterscheiben eingeworfen. 13<br />

Allerdings gibt es verbreitete Aufrufe zu Besonnenheit und Mäßigung. 14<br />

Weitere Spannungen haben sich über die öffentliche Diskussion um die<br />

Kriegsführung in Israel/Palästina und dem Libanon im Sommer 2006 entwickelt,<br />

nachdem der kanadische Ministerpräsident Harper eine uneingeschränkte<br />

Unterstützung der israelischen Maßnahmen kundgetan hat. 15<br />

Über die Religiosität unter Muslimen in Kanada und eventuell damit<br />

verbundene Identitätsbildung durch Anwendung islamischer Normen liegen<br />

keine Untersuchungen vor. Die Zahl der Aktivisten, die sich deutlich<br />

für eine Anwendung islamischer Rechtsnormen im kanadischen Kontext<br />

aussprechen, scheint insgesamt eher gering zu sein, während die Gegner<br />

eine Fülle von Organisationen mobilisiert haben. Immerhin hat aber eine<br />

breiter angelegte Befragung unter Kanadiern arabischer Herkunft in den<br />

Jahren 2001/2002 ergeben, dass sich fast 40% der befragten Muslime (aber<br />

nur ca. 15% der befragten Christen und ca. 25% der befragten Drusen) stärker<br />

über die Religion als über Arabertum, kanadische Staatsangehörigkeit<br />

oder anderes defi nieren. 16 Mehr als 1/3 der befragten Muslime beten 5-mal<br />

täglich 17 , immerhin über 20% geben an – gegen starken Widerspruch der<br />

Mehrheit der Befragten –, es sei schwer, in Kanada seine Religion auszu-<br />

adäquaten sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten sowie dem kostenlosen Zugang zu suchen;<br />

Informationen von Professor Natasha Bakht bei einem Gespräch in Ottawa am 14. 9.<br />

2006; vgl. auch den Bericht von Boyd 58 ff.<br />

13 Vgl. »Mosque vandalized« ( Jim Wilkes), Toronto Star vom 5. 6. 2006, .<br />

14 Vgl. nur die Berichte in: »Terror suspects’ treatment questioned by citizen group« (Harold<br />

Levy), Toronto Star vom 8. 6. 2006, .<br />

15 Vgl. »Lebanon terror hits home«, Toronto Star vom 17. 7. 2006, S. A 6; »Good politics<br />

now exposed as bad public policy, Harper has some big learning to do«, Toronto Star vom<br />

17. 7. 2006, S. A 7; »Harper refuses to budge« und »PM’s steadfastness a political gamble, The<br />

Globe and Mail vom 18. 7. 2006, S. A 1.<br />

16 Vgl. Khouri Appendix C, Table C1, S. 98: Auf die Feststellung »My religion defi nes who<br />

I am more than being Arab, Canadian or otherwise« antworteten 20,1% mit »strongly agree«<br />

und 19,5% mit »somewhat agree« (Christen 2,2% bzw. 13,3%, Drusen 16,7% bzw. 11,1%).<br />

17 Khouri Table C2, S. 98 (35,7%); nur 26,8% geben an, nie das Gebet auszuführen.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

463<br />

üben 18 . Über 40% aller Befragten 19 war der Überzeugung, dass Kanadier<br />

keine Muslime mögen 20 , und fast 85% bejahten die Aussage, dass die Kanadier<br />

Muslime für gewalttätig halten 21 . Zwischen 1/5 und fast 1/3 aller befragten<br />

Eltern gaben an, dass ihre Kinder sich »wie Kanadier« verhalten<br />

würden und sie sie nicht erreichen könnten. Sie hätten Töchter, die dieselben<br />

Freiheiten für sich in Anspruch nehmen wollten wie andere Kanadierinnen<br />

(z. B. Dating, auswärts Übernachten), sie ließen dies aber nicht zu.<br />

Ihre Kinder verstünden zumindest gelegentlich nicht, dass ihre Familie und<br />

die gesellschaftlichen Wertvorstellungen ihrer Eltern anders seien als die<br />

anderer Kanadier. Sie hätten ihre Kinder an die ihnen fremde kanadische<br />

Gesellschaft verloren. 22 Die Zahlenangaben aus der Befragung Jugendlicher<br />

(bis 30 Jahre), die mit ihren Eltern leben, liegen jeweils noch deutlich höher<br />

23 . Bei einem gut besuchten Workshop der International Muslims Organization<br />

of Toronto zu Fragen der Eheschließung von Muslimen 24 hat sich<br />

diese mögliche Konfl iktlage bestätigt. Hierbei hat sich auch gezeigt, dass<br />

viele Muslime, auch junge Menschen, sehr stark in einem Großfamilienkontext<br />

verwurzelt sind wie er den Lebensverhältnissen aus Herkunftsregionen<br />

wie dem indischen Subkontinent oder arabischen Staaten entspricht. Auch<br />

ist keineswegs ein einheitliches Bild der Verminderung religiösen Bewusstseins<br />

in der jüngeren Generation erkennbar. So berichten junge Musliminnen,<br />

die sich zum Tragen des Kopftuchs entschlossen haben, von Auseinandersetzungen<br />

mit ihren Eltern, die dies wegen vermuteter schlechterer Berufschancen<br />

ablehnen. 25 Nur am Rande sei erwähnt, dass die obengenannten<br />

mutmaßlichen islamistischen Extremisten offenbar aus meist nicht religiös<br />

orientierten Familien stammen. 26 Eine prominente Vertreterin einer musli-<br />

18 Khouri Table C 3, S. 98 (2,6% »strongly agree«, 18,1% »somewhat agree«; dagegen 51,6%<br />

»strongly disagree«).<br />

19 Ohne Aufschlüsselung nach Religionszugehörigkeit.<br />

20 Khouri Table 7, S. 24 (8,9% »strongly agree«, 32,4% »somewhat agree«, nur 11,7%<br />

»strongly disagree«).<br />

21 Khouri Table 7, S. 24 (43,5% »strongly agree«, 41,1% »somewhat agree«, nur 1,2%<br />

»strongly disagree«).<br />

22 Khouri S. 48, Angaben unter »Values clash« ohne Aufschlüsselung nach Religionszuge-<br />

hörigkeit.<br />

23 Khouri Table 43, S. 49 f., z. B. bei der Aussage: »I have a problem with my parents who<br />

cannot understand that their family and social values are out of place in this country«, die fast<br />

50% zumindest gelegentlich für zutreffend halten (9,3% »happens all the time«, 3,7% »happens<br />

frequently«, 35,2% »happens occasionally«).<br />

24 Abgehalten am 23. 7. 2006 in Toronto zu den Themen »Engagement in Islam, Maher,<br />

Wedding Arrangements, Cultural Marriages & Islamic Marriages, The Generation Gap«.<br />

Auch die Gesprächsatmosphäre zeigte bei aller Höfl ichkeit erhebliche Distanz zur Mehrheitsgesellschaft,<br />

wie sie sich in der lobend gemeinten Aussage eines Imams niederschlägt: »[. . .]<br />

frankly, there is not everything bad in the West.«<br />

25 Informationen bei einem Workshop am 23. 7. 2006 in Toronto (vorige Note).<br />

26 Vgl. »Behind the Toronto Terror Case, A clear guide led spies to suspects«, The Globe


464 mathias rohe RabelsZ<br />

mischen Frauenorganisation 27 hat berichtet, dass eine seit langem zunehmende,<br />

von »Petrodollars« unterstützte Tendenz zu beobachten sei, sich<br />

»identity markers« wie Kopftücher, lange Bärte, Vermeidung des Händedrucks<br />

als Begrüßung, möglichste Geschlechtersegregation etc. zuzulegen.<br />

Aus alledem ist nicht bei der Mehrheit, wohl aber bei einem signifi kanten<br />

Teil der Muslime zumindest ein deutliches Maß an Distanz gegenüber der<br />

kanadischen Gesellschaft und ihren Familien- und Gesellschaftswerten abzuleiten,<br />

das eine Hinwendung zu »eigenen« traditionellen Normen begünstigen<br />

kann. Paradigmatisch für solche Haltungen seien die (sicherlich allzu<br />

verallgemeinernden) Aussagen des früher an der McGill University in<br />

Montréal lehrenden Professors Syed Serajul Islam 28 zitiert. In ihnen scheinen<br />

die seit Jahrhunderten wiederholt formulierten 29 Urängste von Muslimen in<br />

nicht-islamischen Gesellschaften auf: »Muslims in the West in general, and<br />

in North America in particular, are now unanimous in their self-defi nition<br />

as Muslims vs non-Muslims. They all agree that they share a common be lief<br />

in the Qur’an and Sunnah. Muslims, upon arrival to Canada, encounter<br />

adjustment problems in language, culture and religion since they lose the<br />

identity of their country of origin. Islam provides an opportunity of macroidentity.<br />

[. . .] The identity crisis of the Muslims is enhanced by the hostility<br />

of the host culture. Faced with rejection Muslim immigrants seek an alternative<br />

integrating system for their lives. Under the situation, Islam is perceived<br />

to be the only integrating system. The Islamic identity guarantees the<br />

preservation of the family and protects the children from total integration<br />

into the Canadian culture. [. . .]« Im Folgenden warnt der Autor nachdrücklich<br />

vor den von ihm beklagten interreligiösen Ehen, die der Islam rechtlich<br />

und traditionell verbiete. 30 Er weist zudem auf die – erfolglose – Kampagne<br />

der Canadian Society of Muslims, Toronto, im Jahre 1991 hin, die kanadische<br />

Regierung zur Anerkennung des muslimischen Familienrechts als<br />

(optionale) Partikularrechtsordnung zu bewegen. 31 In diesem Zusammenhang<br />

soll der Auslöser solcher Initiativen nicht unerwähnt bleiben. Sie stehen<br />

offenbar im Zusammenhang mit einer im August 1991 in Washington<br />

and Mail vom 19. 8. 2006, S. 1 (4 f.). Einer der Verdächtigen sandte an ein mittlerweile geschlossenes<br />

Internet-Forum folgende Nachricht: »Parents’ anti-jihad/anti-religiousness’ talks<br />

are starting to effect«; »come on bros, I need some jihad talks, anything! Its like [. . .] so [. . .]<br />

dead [. . .] my sources for viedeos is no more either«; »I know that u guys can hook me up«.<br />

27 Alia Hogben, executive director des Canadian Council of Muslim Women (CCMW)<br />

bei einem Gespräch am 14. 9. 2006 in Kingston.<br />

28 Syed Serajul Islam, Awareness and Consciousness of Muslims in Canada, in: Muslims and<br />

Islamization in North America, Problems and Prospects, hrsg. von Amber Haque (Beltsville,<br />

Md. 1999) 131 (135).<br />

29 Vgl. die Nachweise bei Mathias Rohe, Application of Sharı - ’a Rules in Europe, Scope and<br />

Limits: Die Welt des Islams 44 (2004) 323 (346) (zitiert: Sharı - ’a Rules).<br />

30 Syed Serajul Islam (oben N. 28) 138 f.<br />

31 Syed Serajul Islam (oben N. 28) 138 mit weiteren Nachweisen.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

465<br />

abgehaltenen Konferenz mit nordamerikanischen Imamen zum Thema<br />

»Einführung der Scharia in den USA und in Kanada«, die von der in Saudi-<br />

Arabien ansässigen, islamistisches Gedankengut propagierenden al-Rabita<br />

al-Islamiya (Islamische Weltliga) fi nanziert wurde 32 .<br />

Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass diese Kampagne – vergleichbar<br />

der späteren Kampagne zur Bekanntmachung der Islamic arbitration, aber<br />

ohne deren öffentliches Aufsehen – nur sehr wenig (positive) Resonanz unter<br />

Muslimen gefunden hat. 33 Abgesehen von inhaltlichen Problemen würde<br />

die Anwendung islamischen Rechts durch staatliche Gerichte im Westen<br />

und damit durch Nicht-Muslime von traditionalistisch gesonnenen Muslimen<br />

wohl ohnehin nicht als hinreichend »authentisch« akzeptiert. 34<br />

Aus einer Vielzahl von Gesprächen mit Muslimen und einschlägig befassten<br />

Wissenschaftlern in Kanada im Jahr 2006 35 hat sich ergeben, dass offenbar<br />

ein großer Teil der Muslime keine Vorbehalte gegen die Anwendung<br />

kanadischen Rechts hegt. Auch Muslime, die sich in islamischen Organisationen<br />

engagieren, sprechen häufi g davon, dass sie mit weitaus anderen Problemen<br />

zu kämpfen hätten als mit derlei Fragen der Rechtsanwendung. Insbesondere<br />

wird auf soziale Fragen und breit angelegte sicherheitsrechtliche<br />

Maßnahmen als Problempotential verwiesen. Erkennbar ist aber auch eine<br />

verbreitete Unsicherheit über das Verhältnis zwischen staatlichem Recht<br />

und islamischen Normen. Manche Muslime äußern, dass »eigentlich« islamische<br />

Normen Anwendung fi nden sollten, dass dies in Kanada aber nicht<br />

möglich sei, was auch akzeptiert werde. Wiederholt wurde jedoch bemerkt,<br />

dass es eine signifi kante Gruppe, vor allem unter Einwanderern, gebe, die<br />

einigen Regelungen des kanadischen Familien- und Erbrechts reserviert gegenüberstehe.<br />

Hier ist ein potentieller rechtskultureller Konfl ikt im Hinblick<br />

auf die Gleichberechtigung der Geschlechter und Religionen erkennbar.<br />

36<br />

32 Vgl. den entsprechenden, nach Kenntnisstand des Verfassers unwidersprochenen Hinweis<br />

der Abgeordneten Fatima Houda-Pepin im Parlament von Québec (Assemblée, Journal<br />

du débats, No. 156, 26 mai 2005, S. 8716–8720, ).<br />

33 Sie ging anscheinend auf einen Initiator zurück, der gewisse rechtliche Schwierigkeiten<br />

sah, weil er in polygamer Ehe lebte. Vgl. auch die einschlägige Publikation von Syed Mumtaz<br />

Ali/Anab Whitehouse, Oh! Canada!, Whose Land, Whose Dream? (Toronto: The Canadian<br />

Society of Muslims 1991) insbes. 41 ff. Ablehnend z. B. Shahnaz Khan, Canadian Muslim Women<br />

and Shari’a Law, A Feminist Response to »Oh! Canada!«: Canadian Journal of Women<br />

and the Law 6 (1993) 52 (55 ff.).<br />

34 So die übereinstimmenden Aussagen mehrerer Vertreter muslimischer Organisationen<br />

und muslimischer Rechtswissenschaftler.<br />

35 Repräsentativität konnte angesichts der begrenzten Anlage des Projekts nicht angestrebt<br />

werden; die Aussagen lassen aber, in Verbindung mit einer Fülle im Internet publizierten<br />

Materials, doch belastbare Tendenzaussagen zu.<br />

36 Vgl. hierzu etwa Mashood A. Baderin, International Human Rights and Islamic Law<br />

(Oxford 2003) 133 ff.; Mathias Rohe, Islam und Menschenrechte, Eine Problemskizze, in:


466 mathias rohe RabelsZ<br />

So wird die Aufteilung des Vermögens im Scheidungsfall unter den Ehegatten<br />

abgelehnt. Daneben werden genereller von manchen staatliche gerichtliche<br />

Entscheidungen nicht als ausreichend akzeptiert, insbesondere im<br />

Zusammenhang mit Ehescheidungen. Vor allem Frauen wünschen im<br />

Scheidungsfall den islam-rechtlichen Ausspruch der Scheidung per »talaq«,<br />

weil sie andernfalls mangelnde soziale Anerkennung der Scheidung fürchten<br />

oder sich selbst noch als verheiratet fühlen. Manche Männer lehnen das im<br />

Vergleich zu den islam-rechtlichen Vorschriften strukturell wesentlich weiter<br />

reichende nacheheliche Unterhaltsrecht ab. Hier prallen offenbar unterschiedliche<br />

Familienbilder aufeinander: Sowohl das islamische Recht als<br />

auch westliche Familienrechtsordnungen gehen zwar von der prinzipiellen<br />

Eigenverantwortung Erwachsener aus und gewähren Unterhaltsansprüche<br />

nur unter bestimmten Umständen. In der Praxis kommen indes erhebliche<br />

Unterschiede dadurch zustande, dass das islamische Unterhaltsrecht auf<br />

Großfamilienstrukturen abgestimmt ist und dass Frauen nach einer Scheidung<br />

in aller Regel in ihren Familienverband zurückkehren und im Bedarfsfalle<br />

häufi g auch von dieser Seite Unterhalt erlangen. Westliches Familienrecht<br />

ist hingegen von Kleinfamilienstrukturen geprägt. Deshalb erhalten<br />

geschiedene Ehegatten z. B. im Falle von Krankheit oder unverschuldeter<br />

Arbeitslosigkeit u. U. lebenslang Unterhalt vom geschiedenen leistungsfähigen<br />

Ehegatten. Viele Muslime wissen allerdings nicht, dass gemäß westlichem<br />

Unterhaltsrecht geschiedene Ehegatten (auch Frauen) grundsätzlich<br />

eigenverantwortlich für ihren Unterhalt sorgen müssen und fortbestehender<br />

Unterhalt daher die konzeptionelle Ausnahme darstellt. 37 Ein weiteres Konfl<br />

iktpotential liegt in Sorgerechtsentscheidungen: Die weitgehende Zuweisung<br />

des Sorgerechts an die geschiedene Ehefrau und Mutter entspricht<br />

nicht dem rechtskulturellen Vorverständnis von Vätern, deren Herkunftsrechtsordnungen<br />

ihnen hier weitreichende Befugnisse einräumen. 38<br />

Zudem bestehen religiös-kulturell geprägte Vorbehalte unter manchen<br />

Muslimen, die mit Scheidungsverfahren verbundenen persönlichen Angelegenheiten<br />

gerichtsöffentlich zu verhandeln; innerfamiliärer Ausgleich und<br />

Schiedsverfahren werden bevorzugt. 39 Hinzu treten Aspekte wie unzurei-<br />

Menschen- und Bürgerrechte, Perspektiven der Regionen, hrsg. von Petra Bendel/Thomas Fischer<br />

(2004) 439 (442 ff.).<br />

37 Vgl. für Kanada nur die Aussage von Lamer J. in Messier v. Delage, [1983] 2 S. C. R. 401:<br />

»As maintenance is only granted for as long as it takes to acquire suffi cient independence, once<br />

that independence has been acquired it follows that maintenance ceases to be necessary« sowie<br />

die weiteren Nachweise bei James C. MacDonald/Lee K. Ferrier, Canadian Divorce Law and<br />

Practice 2 (Loseblattslg.; Stand 08/2006) (Toronto 1986 ff.) S. 15 § 1 ff.<br />

38 Vgl. Anne Saris/Jean-Mathieu Potvin/Naïma Bendriss/Wendy Ayotte/Samia Amor, Étude de<br />

cas auprès de Canadiennes musulmanes et d’intervenants civils et religieux en résolution de<br />

confl its familiaux (Montréal März 2007) 72.<br />

39 Vgl. nur Furqan Ahmad, Triple Talaq, An Analytical Study with Emphasis on Socio-<br />

Legal Aspects (New Delhi 1994) 132.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

467<br />

chender Zugang zu Prozesskostenhilfe für staatliche Gerichtsverfahren, Unverständnis<br />

vieler Richter für spezifi sche kulturelle Hintergründe der Beteiligten<br />

und mangelhafte Möglichkeiten adäquater sprachlicher Artikulation<br />

(Übersetzungen) 40 . Solange hier keine Verbesserungen im staatlichen Sektor<br />

erfolgen, dürfte die Nachfrage nach außergerichtlichen Schlichtungsmechanismen<br />

anhalten.<br />

Manche Muslime betrachten die Regelungen des islamischen Familien-,<br />

Personenstands- und Erbrechts aber auch als universell bindend und lehnen<br />

die Anwendung westlicher Normen in diesen Bereichen generell ab (hierzu<br />

noch ausführlicher unten B.II.3.b] [3]). Auch wenn staatliche Gerichte im<br />

Einzelfall (unter Anwendung staatlichen Rechts) islamische Normen anwenden,<br />

wird dies als unzureichend angesehen, weil nur muslimische Richter<br />

hierfür geeignet seien. In anderen, recht weltlich ausgerichteten Fällen<br />

wird schlicht pragmatisch das Anwendungsergebnis kanadischen Rechts<br />

bzw. islamischen Rechts gegeneinander abgewogen und dann nach Günstigkeit<br />

die eine oder andere Rechtsordnung präferiert. 41<br />

Praktische Probleme für diesen Personenkreis ergeben sich insbesondere,<br />

wenn der Ehemann die Scheidung verweigert 42 und die Ehefrau in ihrem<br />

sozialen Umfeld, vielleicht aber auch nach den Regeln der Herkunftsrechtsordnung,<br />

zu der noch Beziehungen bestehen, auch nach einem staatlichen<br />

Scheidungsurteil weiterhin als verheiratet angesehen wird. 43<br />

B. Der rechtliche Rahmen für Anwendung<br />

islamrechtlicher Normen in Kanada<br />

I. Allgemeines<br />

Die kanadische Charter of Rights and Freedoms (Constitution Act, 1982)<br />

garantiert unter den »fundamental freedoms« in s. 2(a) für jedermann das<br />

Grundrecht auf Gewissens- und Religionsfreiheit ( freedom of conscience and<br />

40 So die Aussagen vieler Gesprächspartner unter Befürwortern wie Gegnern der Islamic<br />

arbitration; vgl. auch die Aussagen von Janet Ritch von der No Religious Arbitration Coalition<br />

in der Parlamentsanhörung in Ontario am 16. 1. 2006, abrufbar unter .<br />

41 Hiervon haben mehrere in Streitschlichtung involvierte Imame bzw. Juristen berichtet.<br />

42 Ein Ausnahmefall dürfte einem Bericht der in British Columbia vertriebenen Zeitschrift<br />

»al-Ameen« (»CSIS has Spies in Many Mosques«, al-Ameen Vol. 5, issue 5 vom 11. 8.<br />

2006, S. 1 f.) zugrunde liegen: Ein muslimischer Ehemann hat danach versucht, seine scheidungswillige<br />

Ehefrau von ihrem Vorhaben abzubringen, indem er offenbar grundlos ihren<br />

Bruder bei der Polizei als in terroristische Aktivitäten verwickelt anzeigte.<br />

43 Zu vergleichbaren Problemen bei Muslimen im Vereinigten Königreich vgl. Rohe,<br />

Sharı - ’a Rules (oben N. 29) 339 ff.


468 mathias rohe RabelsZ<br />

religion). Section 15(1) gewährt Schutz vor Diskriminierung u. a. aufgrund<br />

der Religion und des Geschlechts. Die hierdurch wie auch durch Verfassungen<br />

der Provinzen 44 gewährleistete Religionsfreiheit reicht weit. Sie umfasst<br />

nicht nur die religiöse Überzeugung und deren Äußerung, sondern<br />

auch die religiöse Erziehung (nicht aber in öffentlichen Schulen 45 ) sowie<br />

Propagierung und Praktizierung der Religion im öffentlichen Raum. 46<br />

Die religionsrechtliche Multikulturalität Kanadas wird in der Leitentscheidung<br />

R. v. Big M Drug Mart Ltd. 47 deutlich: Der bundesstaatliche Lord<br />

Day’s Act, der kommerzielle Aktivitäten mit Einschränkungen an Sonntagen<br />

verbot, wurde von der Mehrheit der befassten Richter des Supreme<br />

Court für verfassungswidrig erklärt, weil er die Religionsfreiheit von Nicht-<br />

Christen unzulässig einschränkte; »[G]overnment may not coerce individuals<br />

to affi rm a specifi c religious belief or to manifest a specifi c religious<br />

practice for a sectarian purpose.« 48 Ein Gesetz Ontarios (Retail Business Holidays<br />

Act), das anders als der Lord’s Day Act nicht den christlichen Sonntag<br />

schützen sollte, sondern den Sonntag als Tag gemeinsamer Arbeitsruhe 49 ,<br />

wurde ebenfalls als Beeinträchtigung der Religionsfreiheit nicht-christ -<br />

licher Unternehmer qualifi ziert, allerdings wegen des gesetzgeberischen<br />

Schutzanliegens für die Arbeitnehmer nach s. 1 der Charter gebilligt. 50<br />

Mittlerweile wurde eine als verfassungsgemäß gebilligte 51 Ergänzung des<br />

Act vorgenommen, die es allen Geschäften, die aus Gründen der Religionszugehörigkeit<br />

des Eigners an einem anderen Tag als Sonntag schließen, ermöglicht,<br />

sonntags zu öffnen.<br />

Aus der Minderheitssituation resultierende Grenzen zeigen sich z. B. bei<br />

der Festlegung der Schulferien: Die auf christliche Traditionen zurückgehenden<br />

Ferienzeiten werden nun als säkulare Zeiten gemeinsamer freier Tage<br />

verstanden. Deshalb werden Muslime nicht unzulässig beeinträchtigt, wenn<br />

44 Vgl. z. B. s. 3 der Charter of Human Rights and Freedoms von Québec: »Every person<br />

is the possessor of the fundamental freedoms, including freedom of conscience, freedom of<br />

religion, freedom of opinion, freedom of expression, freedom of peaceful assembly and freedom<br />

of association.«<br />

45 Vgl. für Ontario: Ontario Court of Appeal in Canadian Civil Liberties Association v. Ontario<br />

(Minister of Education), [1990] 65 D. L. R. (4th) 1; kritisch Henri Brun, Droit constitutionnel<br />

4 (Québec 2002) 1028 ff. (1032).<br />

46 Vgl. nur Brun (vorige Note) 1028 ff. mit weiteren Nachweisen; Peter W. Hogg, Constitutional<br />

Law of Canada (Scarborough 2006) 964 ff.<br />

47 R. v. Big M Drug Mart Ltd., [1985] 1 S. C. R. 295; vgl. hierzu Hogg (vorige Note) 964 f.<br />

unter 39.4.<br />

48 R. v. Big M Drug Mart Ltd. (vorige Note) 347.<br />

49 Eine Ausnahmeregelung wurde für kleinere Geschäfte geschaffen, die den Samstag als<br />

Ruhetag (Sabbat) eingerichtet hatten.<br />

50 R. v. Edwards Books and Art, [1986] 2 S. C. R. 713; hierzu Hogg (oben N. 46) 965 f. unter<br />

39.5.<br />

51 Ontario Court of Appeal in Peel v. Great Atlantic and Pacifi c Co., [1991] 2 O. R. (3d) 65<br />

(C. A.) = 78 D. L. R. (4th) 333.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

469<br />

islamische Schulen nicht generell an muslimischen Feiertagen geschlossen<br />

werden dürfen, sondern Schüler auf individuelle Unterrichtsbefreiung verwiesen<br />

werden. 52 Schließlich wird auch eine Trennlinie zwischen allgemein<br />

geltenden Rechtsvorschriften des Privatrechts und religiösen Überzeugungen<br />

gezogen: Niemand könne sich dem Geltungsanspruch solcher Vorschriften<br />

(im hierzu entschiedenen Fall 53 ging es um die Möglichkeit der<br />

Ehescheidung entgegen christlichen Glaubensüberzeugungen) entziehen,<br />

um seine Religion besser ausüben zu können. Solche Vorschriften zielten<br />

nicht auf religiöse Diskriminierung ab; der verfassungsrechtliche Religionsschutz<br />

gehe nicht so weit, dem Individuum hier Ansprüche auf bestimmte<br />

staatliche Regelungen einzuräumen. Andererseits kann die verfassungsrechtliche<br />

Religionsfreiheit auch privatrechtliche Beziehungen beeinfl ussen, wie<br />

es der in jüngerer Zeit vom Supreme Court entschiedene Fall Syndicat Northcrest<br />

v. Amselem 54 zur Einrichtung von Sukkah-Hütten auf Balkonen in einer<br />

Wohnanlage entgegen einem Beschluss aller Miteigentümer zeigt.<br />

II. Bereiche der Anwendung islamischer Normen 55<br />

1. Kollisionsrecht<br />

Kanadisches Kollisionsrecht 56 knüpft Familiensachen anders als viele kontinentaleuropäische<br />

Kollisionsrechtsordnungen nicht an die Staatsangehö-<br />

52 Islamic Schools Federation of Ontario v. Ottawa Board of Education, [1997] 145 D. L. R. (4th)<br />

659, 661 f., 679, 681 ff., 691 f. (D. C. Ontario).<br />

53 Ontario High Court in Baxter v. Baxter, [1983] 6 D. L. R. (4th) 557, 560.<br />

54 Syndicat Northcrest v. Amselem (oben N. 5) 551 zur Religionsfreiheit nach s. 3 der Québec<br />

Charter of Human Rights and Freedoms (R. S. Q. C-12). Danach wurde eine Bestimmung in<br />

der Gemeinschaftsordnung von Immobilienmiteigentum über die Balkongestaltung insoweit<br />

für unwirksam erklärt, als sie es den (jüdischen) Miteigentümern verbot, Sukkah-Hütten für<br />

die Zeit des neuntägigen Sukkot-Festes auf ihren Balkonen zu errichten (das Angebot der<br />

Errichtung einer Gemeinschaftshütte im Garten wurde als unzureichend abgelehnt). Verfassungsrechtliche<br />

Erwägungen beeinfl ussten die Auslegung des Art. 1056, der wie folgt lautet:<br />

»No declaration of co-ownership may impose any restriction on the rights of the co-owners<br />

except restrictions justifi ed by the destination, characteristics or location of the immovable.«<br />

Die Entscheidung erging mit einer knappen 5:4-Mehrheit. Vgl. auch Richard Moon, Religious<br />

Commitment and Identity, Syndicat Northcrest v. Amselem: Supreme Court L.Rev. (2d) 29<br />

(2005) 201 ff.; Bruce Ryder, State Neutrality and Freedom of Conscience and Religion: ebd.<br />

169 ff.; David M. Brown, Neutrality or Privilege?, A Comment on Religious Freedom: ebd.<br />

221 ff.<br />

55 Zur Situation in verschiedenen Staaten Europas vgl. European Commission, Directorate-General<br />

Justice and Home Affairs (Authors: Jocelyne Césari/Alexandre Caeiro/Dilwar Hussain),<br />

Islam and Fundamental Rights in Europe, Final Report (October 2004) insbes. 17 ff.,<br />

; Rohe, Sharı - ’a Rules (oben N. 29).<br />

56 Je nach Gesetzgebungskompetenz durch Recht der Provinzen (praktisch ganz überwie-


470 mathias rohe RabelsZ<br />

rigkeit der Beteiligten, sondern an die (common) habitual residence bzw. die lex<br />

fori (s. 15[1] Family Law Act Ontario 1990/2006 für property rights) bzw. an<br />

das matrimonial domicile für Eheverträge (domestic contracts) an. Hierbei gelten<br />

auch für auswärts geschlossene domestic contracts die zwingenden Regelungen<br />

in ss. 33(4), 56(1) des Act. 57 Dieses Anknüpfungssystem führt in der Regel<br />

ungeachtet der Staatsangehörigkeit der Beteiligten zur Anwendung (jeweiligen)<br />

kanadischen Sachrechts in »heimischen« Fällen. Bei »ausländischen«<br />

Fällen dürfte es dagegen regelmäßig an der internationalen Zuständigkeit<br />

(jurisdiction) kanadischer Gerichte fehlen. 58 Zudem wird nach kanadischem<br />

Kollisionsrecht (anders als z. B. gemäß § 293 ZPO) ausländisches Recht<br />

grundsätzlich nicht als von Amts wegen anzuwendendes Recht qualifi ziert,<br />

sondern als Tatsache, die von der Partei, die sich darauf beruft, vorgetragen<br />

und bewiesen werden muss. Andernfalls kommt kanadisches Sachrecht als<br />

lex fori zur Anwendung. 59 Nach alledem ist die Anwendung ausländischen<br />

Sachrechts stark eingeschränkt und daher vergleichsweise wenig konfl iktträchtig.<br />

Gemäß s. 1(2) Family Law Act 1990 werden polygame Ehen als Ehen<br />

anerkannt, soweit sie im Geltungsbereich einer Rechtsordnung geschlossen<br />

wurden, die solche Ehen zulässt. 60<br />

2. Dispositives Sachrecht<br />

Das Familienrecht Kanadas ist teils durch Gesetze der Provinzen, teils<br />

durch gesamtstaatliches Recht geregelt. 61 Section 91(26) des Constitution<br />

Act, 1867, weist dem Gesamtstaat »Marriage and Divorce« zur Gesetzge-<br />

gend) bzw. des Gesamtstaates geregelt; weitgehend gemeinsamer Nenner ist die bevorzugte<br />

Anknüpfung an Formen des domicile bzw. der residence; vgl. nur Janet Walker, Castel & Walker,<br />

Canadian Confl ict of Laws 6 (Loseblattslg.; Stand: 03/2006) (Markham 2005 ff.) § 4.1 und ff.,<br />

§ 18.1., § 25.1.b; James G. McLeod, The Confl ict of Laws (Calgary 1983) 235 und ff., 270 ff.,<br />

279 ff., 291 ff. Québec verfügt seit 1994 über ein im Zehnten Buch des Code civil normiertes,<br />

teils kontinentaleuropäischen Regelungen verwandtes Kollisionsrecht.<br />

57 Vgl. James MacDonald/Ann Wilton, The 2005 Annotated Ontario Family Law Act (Toronto<br />

2004) S. 58 (58§ 1), S. 537 f. mit weiteren Nachweisen. Zu einer konkreten einschlägigen<br />

Entscheidung: Khan v. Khan, [2005] ONCJ 155 (CanLII) Tz. 31 ff.<br />

58 Vgl. hierzu Walker (oben N. 56) §§ 11.1.2.c, 17.1.b; für Québec gilt als Grundregel<br />

Art. 3134 Code civil du Québec (C.c.Q.), der die internationale Zuständigkeit ebenfalls an<br />

das domicile des Beklagten knüpft; ebenso Art. 3148(1) C.c.Q. (domicile oder residence in patrimonial<br />

matters).<br />

59 Vgl. Walker (oben N. 56) § 7.1 und ff. mit zahlreichen Nachweisen.<br />

60 Vgl. zu einschlägigen Fällen die Nachweise in: The Canadian Abridgement 3 XXXVI:<br />

Family Law (2004) S. 136–141; Marvin Baer et al., Private International Law in Common Law<br />

Canada (Toronto 1997) 752 ff.; McLeod (oben N. 56) 239 ff.<br />

61 Vgl. zu religiösen Aspekten des Familienrechts in Kanada Margaret H. Ogilvie, Religious<br />

Institutions and the Law in Canada 2 (2003) 365 ff.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

471<br />

bung zu. Auf die Provinzen entfallen nach s. 92(12) die »Solemnization of<br />

Marriage in the Province« sowie nach ss. 13 und 14 weitere Bereiche des<br />

Zivilrechts und die Justiz in den Provinzen. Im Rahmen dieser Gesetze<br />

(z. B. nach dem Ontario Marriage Act, R. S. O. 1990, 62 und nach dem Code<br />

civil du Québec 63 ; vergleichbare Regelungen bestehen in allen Provinzen 64 )<br />

kann die Eheschließung auch an anerkannte religiöse Vertreter delegiert<br />

werden. So soll das Islamic Center of Québec allein im Jahr 1998 3.000<br />

Ehen geschlossen haben. 65<br />

Eheverträge (»Domestic contracts«, vgl. ss. 51 ff. Family Law Act Ontario,<br />

1990/2006) einschließlich vermögensrechtlicher Regelungen und Trennungsvereinbarungen<br />

(vgl. s. 54[3] des Act) mit Wirkungen auf das Erziehungs-<br />

und Sorgerecht (s. 54[3][c] und [d] des Act, eingeschränkt durch s.<br />

56[1] des Act 66 ) sowie Unterhaltsvereinbarungen sind zulässig. Sie unterliegen<br />

aber z. B. gemäß ss. 33(4), 35(3)-(5) Family Law Act, R. S. O. 1990/2006,<br />

von Ontario einer Ergebniskontrolle. Insofern ist die Parole in der öffentlichen<br />

Debatte um religiös motivierte Rechtsgestaltung, es gebe nur ein<br />

einheitliches Recht für alle (Kanadier), stark verkürzt. Sie trifft im Hinblick<br />

auf die Grenzziehung für privatrechtliche Gestaltungsfreiheit zu, ignoriert<br />

aber die breiten Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb <strong>dieses</strong> Rahmens. 67<br />

Ehescheidungen in Kanada liegen in der ausschließlichen Zuständigkeit<br />

staatlicher Gerichte (vgl. ss. 8 ff. Canadian Divorce Act, 1985). Staatliche<br />

Gerichte sind auch für rechtliche Auseinandersetzungen über nachehelichen<br />

Unterhalt zuständig (vgl. s. 15[2] Divorce Act, 1985).<br />

Im Bereich des Familienrechts hatten kanadische Gerichte über Streitigkeiten<br />

betreffend die Zahlung der Brautgabe nach islamischem Recht (mahr)<br />

zu befi nden und kamen dabei zu unterschiedlichen Ansätzen. Der British<br />

Columbia Supreme Court 68 hielt die Regelung über die Zahlung einer<br />

Brautgabe im Ehevertrag für vereinbar mit der einschlägigen Regelung British<br />

Columbias (sect. 61[2][b] Family Relations Act, R. S. B. C. 1996) und<br />

erklärte sie im Zusammenhang mit einer Scheidung für durchsetzbar. Hin-<br />

62 Vgl. den Hinweis in Kaddoura v. Hammoud (1998), 168 D. L. R. (4th) 503, 509 (Ont.<br />

Gen. Div.).<br />

63 Dort Art. 366; hierzu Mireille D.-Castelli/Dominique Goubeau, Le droit de la famille au<br />

Québec 5 (Québec 2005) 58.<br />

64 Vgl. Hogg (oben N. 46) 974 unter 39.9.<br />

65 Information anläßlich einer Informationsveranstaltung des »Islamic Information Center<br />

Vancouver« am 19. 8. 2006 in Vancouver.<br />

66 Vgl. hierzu MacDonald/Wilton (oben N. 57) S. 54 (54§ 5), S. 494, S. 56 (56§ 1A),<br />

S. 507 ff.<br />

67 So auch Bakht.<br />

68 Amlani v. Hirani (2000), 194 D. L. R. (4th) 543, 546 ff. (B. C. S. C.). Zu Recht störte sich<br />

das Gericht nicht daran, dass der Vertrag nach der zivilrechtlichen Eheschließung im Verlauf<br />

einer ismailitisch-islamischen Zeremonie geschlossen wurde.


472 mathias rohe RabelsZ<br />

gegen hielt ein Gericht in Ontario 69 eine solche Verpfl ichtung für nur religiös<br />

und daher vor staatlichen Gerichten für nicht durchsetzbar. 70 Verfehlte<br />

Entscheidungen wie die letztgenannte liefern in der Tat einen Grund für die<br />

Forderung nach religiöser Rechtsdurchsetzung. Das Gericht zitiert selbst<br />

einen im Verfahren befragten Mufti, der sich dafür ausgesprochen hatte,<br />

derlei Dinge ausschließlich vor einer islamischen religiösen Autorität zu verhandeln,<br />

und schließt sich dieser Sicht offenbar an. Damit wird in einer<br />

höchst weltlichen Angelegenheit – der adäquaten Absicherung geschiedener<br />

Ehefrauen nach der Ehescheidung und deren rechtliche Grenzen – den Beteiligten<br />

ohne Not der Schutz der staatlichen Gerichtsbarkeit versagt. Die<br />

Illusion, dass das Gericht hierdurch vor einem Schritt ins »religiöse Dickicht«<br />

(»religious thicket« 71 ) bewahrt werde, dürfte spätestens dann enden, wenn in<br />

einem möglichen Unterhaltsprozess die Frage des mahr und seines Einfl usses<br />

auf Unterhaltsansprüche zu stellen ist. Der Ontario Court of Justice hat sich<br />

in einer jüngeren Entscheidung denn auch beherzt in <strong>dieses</strong> »religious<br />

thicket« begeben 72 und einen in Pakistan zwischen einer dort lebenden Braut<br />

und einem in Kanada lebenden Bräutigam geschlossenen Ehevertrag als<br />

»domestic contract« im Sinne von s. 51 Family Law Act, 1990 (in Verb. mit<br />

s. 58) qualifi ziert, dann allerdings die streitige Regelung über nachehelichen<br />

Unterhaltsverzicht entsprechend hanafi tisch-islamischem Recht überzeugend<br />

wegen Verstoßes gegen s. 56(4)(b) sowie gegen ss. 33(4)(a) und (b)<br />

Family Law Act, 1990, für unwirksam erklärt.<br />

Dieses Urteil kann Maßstäbe für die Zukunft setzen. Leitlinie ist die Aussage<br />

in Khan v. Khan 73 : »The court [. . .] notes that defence should be given to<br />

the religious and cultural laws and traditions of all groups living in Canada.<br />

If, however, cultural groups are given complete freedom to defi ne family<br />

matters, they may tread on the rights of individuals within the group and<br />

discriminate in ways that are unacceptable to Canadian society.« Der Schutz<br />

69 Kaddoura v. Hammoud (oben N. 62) 507 ff. Offenbar ging das Gericht – wenig kompetent<br />

beraten von Imamen – davon aus, dass der Ehevertrag nach islamischem Recht ohne<br />

Vereinbarung eines mahr ungültig sei, während in diesen Fällen tatsächlich der sog. »mahr almithl«<br />

also der übliche mahr, geschuldet wird, ohne dass die Gültigkeit des Ehevertrags betroffen<br />

wäre. Der Fall bietet Anhaltspunkte dafür, dass die Vereinbarung aus anderen, zivilrechtlichen<br />

Gründen unwirksam oder anfechtbar gewesen sein könnte. Anders nun der Ontario<br />

Court of Justice in Khan v. Khan (oben N. 57) Tz. 31 ff.<br />

70 Vergleichbar verfehlt die mittlerweile vom BGH (6. 10. 2004, IPRax 2005, 346 mit<br />

Anm. Rauscher, ebd. 313 ff.) aufgehobene Entscheidung des KG (27. 11. 1998, IPRax 2000,<br />

125 mit Anm. Herfarth, ebd. 101 ff.) zum iranischen Scheidungsrecht.<br />

71 Kaddoura v. Hammoud (oben N. 62) 512.<br />

72 Ontario Court of Justice in Khan v. Khan (oben N. 56) Tz. 32. Ein weiterer, hier nicht<br />

bedeutsamer Aspekt betraf die Frage, ob die gegenüber den kanadischen Behörden abgegebene<br />

Verpfl ichtung zur Unterhaltszahlung für 10 Jahre im Zusammenhang mit der Einreise<br />

der Braut auch Wirkungen zugunsten der Ehefrau auslöst; vgl. hierzu auch die Entscheidung<br />

des British Columbia Supreme Court in Achari v. Samy, (2000) 80 B. C. L. R. (3d) 378.<br />

73 Khan v. Khan (oben N. 57) Tz. 52.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

473<br />

schwächerer Individuen gegen repressive Gruppenvorstellungen wird dann<br />

konkretisiert mit den Feststellungen, dass der Unterhaltsverzicht nicht völlig<br />

klar formuliert worden sei. Die Braut habe bei Eingehung der arrangierten<br />

Ehe wegen der kulturellen und sozialen Begleitumstände keine wirklich<br />

freie Entscheidung hinsichtlich der streitigen Regelung treffen können. Zudem<br />

habe sie keinen unabhängigen Rechtsrat erhalten. 74 Weiterhin sei bei<br />

Eingehung der Ehe in Pakistan nicht absehbar gewesen, dass die Braut später<br />

in Kanada in völliger (von ihrem Mann geschaffener) Isolation und ohne<br />

eigene Erwerbsmöglichkeit leben würde. Schließlich müsse sie andernfalls<br />

von der Unterstützung von Freunden oder Sozialhilfe leben, während er in<br />

der Lage sei Unterhalt zu leisten. 75 Damit werden die wichtigsten Fallgruppen<br />

erfasst, die gegen eine Anerkennung einschlägiger Regelungen sprechen<br />

können. Bemerkenswert ist hierbei, dass der Ehemann von seinem<br />

Jahreseinkommen von 43.000 kanadischen Dollar netto seinen Vater, seinen<br />

Bruder und andere Familienangehörige fi nanziell unterstützte. Das Gericht<br />

führt aus, dass er dann doch auch seine (ehemalige) Ehefrau unterstützen<br />

könne. 76 An dieser Stelle scheint ein rechtskultureller Konfl ikt auf: Westliches<br />

modernes Familienrecht statuiert geschlechtsneutrale Unterhaltspfl<br />

ichten in der Kleinfamilie, insbesondere gegenüber bedürftigen Ehepartnern<br />

und Kindern. Dagegen basiert traditionelles islamisches Unterhaltsrecht<br />

auf Großfamilienstrukturen und klaren Geschlechterrollenverteilungen<br />

77 mit alleiniger Unterhaltsverantwortung von Männern, die zumindest<br />

nach sozialen Normen auch in der Seitenlinie bestehen können, gegenüber<br />

Ehefrauen jedoch nur während der Ehe und für eine sehr kurze Übergangszeit<br />

nach einer Scheidung. Es herrscht die Vorstellung vor, dass die unterhaltsbedürftige<br />

geschiedene Ehefrau dann von ihrer Herkunftsfamilie zu<br />

versorgen sei. In grenzüberschreitenden Fällen wie dem vorliegenden treffen<br />

sich dann die Rollenerwartungen westlicher, geschlechtsneutraler<br />

Rechtskultur und patriarchaler Großfamilienstrukturen.<br />

Offenbar ohne erkennbare Resonanz in der öffentlichen Diskussion hat<br />

sich in Kanada ein System islamischen Wirtschaftens für Interessierte etabliert.<br />

So werden Möglichkeiten zur Immobilenfi nanzierung unter Vermeidung<br />

von Zinszahlungen in Form der islam-rechtlichen musharaka 78 angeboten.<br />

Die Royal Bank of Canada offeriert Sharia Compliant Equity-Linked<br />

74 Khan v. Khan (oben N. 57) Tz. 48 ff.<br />

75 Khan v. Khan (oben N. 57) Tz. 58 ff.; 74.<br />

76 Khan v. Khan (oben N. 57) Tz. 74.<br />

77 Das islamische Recht steht damit nicht allein; vgl. zum strukturell vergleichbaren Hindu-Recht<br />

etwa Nidhi Gupta, Woman’s Human Rights and the Practice of Dowry in India:<br />

Journal of Legal Pluralism and Unoffi cial Law 48 (2003) 85 (88 ff.).<br />

78 Vgl. hierzu Mathias Rohe, Islamisches Wirtschaften aus rechtlicher Sicht, in: Globalisierung<br />

und Ethik, hrsg. von Harald Herrmann/Kai-Ingo Voigt (2005) 103 (118 ff.) mit weiteren<br />

Nachweisen.


474 mathias rohe RabelsZ<br />

Notes zur Finanzanlage, gestützt auf billigende Gutachten dreier islamischer<br />

Gelehrter. 79 Daneben existiert eine Fülle von Betrieben, die – unter Geltung<br />

kanadischen Vertragsrechts – z. B. halal-geschlachtetes Fleisch oder islamische<br />

Bestattungen anbieten. Desgleichen werden Kurse von Organisationen<br />

bis hin zu zahlreichen (kostenpfl ichtigen) Privatschulen vorgehalten.<br />

a) Einführung<br />

3. Religiöses Schiedswesen<br />

Die Anrufung von Schiedsinstanzen in Familienrechtsangelegenheiten ist<br />

in Kanada dort, wo sie zulässig ist, anscheinend weit verbreitet. 80 Neben den<br />

allgemein für Mechanismen der ADR (alternative dispute resolution außerhalb<br />

staatlicher Gerichte) sprechenden Gründen sind Urteile staatlicher Gerichte<br />

oft nur mit erheblicher Zeitverzögerung zu erlangen und können vergleichsweise<br />

kostspielig sein. Zudem liegen die Hürden zur Prozesskostenhilfe<br />

nach vielfältigen Informationen vergleichsweise hoch. Für Immigranten<br />

kommen oft noch Sprachprobleme, eine generelle Scheu vor dem Kontakt<br />

mit staatlichen Behörden und Barrieren aufgrund unterschiedlicher Kommunikationskulturen<br />

81 sowie Unkenntnis vieler Richter hinsichtlich kultureller<br />

Hintergründe hinzu 82 . So haben viele Muslime über Diskriminierung<br />

vor staatlichen Gerichten geklagt. 83 Nach einer Studie des kanadischen Justizministeriums<br />

auf dem Jahre 2005 nehmen Angehörige »sichtbarer Minderheiten«<br />

(»visible minorities«) vor solchem Hintergrund Gerichtsentscheidungen<br />

mit 1,4-fach höherer Wahrscheinlichkeit gegenüber dem Durchschnitt<br />

der Bevölkerung als ungerecht wahr. 84 Auf in den Herkunftsregionen<br />

übliche innerfamiliäre Schlichtungsmechanismen kann oft nicht zurückgegriffen<br />

werden, wenn die hierfür in Betracht kommenden Familienmitglieder<br />

nicht vor Ort sind. Auch können familiäre Interventionen negativ<br />

wirken, wenn etwa Söhne zur Scheidung oder Ehefrauen zum Verzicht auf<br />

79 Vgl. »Muslim Mortgages« (Andre Mayer), Friday Magazine vom 30. 7. 2004, ; »A Grow ing<br />

Interest in No Interest: Muslims and Ethical Finance« (Ron Csillag), Friday Magazine<br />

vom 1. 4. 2005, .<br />

80 Vgl. Bakht; Boyd 9 ff., 35 ff.<br />

81 Vgl. hierzu Mathias Rohe, Executive Summary, in: Persepektiven und Herausforderungen<br />

in der Integration muslimischer MitbürgerInnen in Österreich, hrsg. vom Bundesministerium<br />

des Inneren/Sicherheitsakademie, Österreich (Wien Mai 2006) 51.<br />

82 Vgl. Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor (oben N. 38) 44 ff.<br />

83 Vgl. den Bericht von Boyd 66.<br />

84 Av Currie, Problèmes juridiques et groupes vulnérables au Canada, 2002, 13 Juste recherché,<br />

abgerufen am 8. 5. 2007 .


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

475<br />

das Sorgerecht für Kinder gedrängt werden. 85 Zudem stellen sich gelegentlich<br />

Probleme der Nichtanerkennung staatlicher kanadischer Urteile im<br />

Herkunftsstaat, wenn dessen Familien- und Erbrechtsordnung von religiösrechtlichen<br />

Vorschriften geprägt ist. 86 All dies kann eine Nachfrage nach<br />

nichtstaatlicher, institutionalisierter Streitschlichtung innerhalb der jeweiligen<br />

Community unterstützen.<br />

b) Islamische Schiedsgerichtsbarkeit (»Islamic Sharia Courts« 87 ,<br />

Islamic arbitration) in Ontario<br />

(1) Einführung. – Die Befürworter der Islamic arbitration haben sich stets auf<br />

die kanadischen Verfassungsgarantien der Religions- und Gewissensfreiheit<br />

berufen. 88 Allerdings ist es rechtlich völlig ungeklärt, ob diese Freiheiten<br />

auch die Etablierung eines staatlich approbierten Schiedswesens umfassen.<br />

Das Verbot der religiösen Erziehung in öffentlichen Schulen (vgl. oben B.I.),<br />

die Trennung zwischen Staat und Religion sprechen eher, die oben (B.I.)<br />

genannte Entscheidung in Baxter v. Baxter spricht deutlich dagegen, dass es<br />

nach kanadischem Verfassungsrecht keinen Anspruch auf Einrichtung eines<br />

solchen Systems gibt. Dies wäre in der westlichen Welt wohl auch ein singuläres<br />

Verfassungsverständnis. Ein Richter des Supreme Court weist denn<br />

auch darauf hin, dass nach dem System der kanadischen Charter of Rights<br />

and Freedoms Gruppenrechte die Ausnahme darstellten. Im Mittelpunkt<br />

stünden Individualrechte, auch wenn sie Minderheitengruppen schützten:<br />

»La protection du groupe passe donc par l’individu.« 89 Vergleichbar formuliert<br />

Marion Boyd 90 : »Commitment to individual right lies at the core of the<br />

legal and political organization of any liberal democracy and underpins freedom<br />

of religion and expression, and the rights of minorities to legitimately<br />

enter into dialogue with the broader society with any kind of legitimacy. It<br />

85 Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor (oben N. 38) 77 ff.<br />

86 Vgl. Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor (oben N. 38) 33, 94 ff. Hierin dürfte ein bedeutender<br />

Grund für muslimische, aber auch für jüdische religiöse Schiedsverfahren liegen.<br />

87 Die Verwendung des »Court«-Begriffs in der Debatte war symptomatisch. Die Gegner<br />

bezogen sich oft nicht auf die konkrete, auf Schiedsinstanzen beschränkte gesetzliche Regelung,<br />

aber auch Befürworter benutzten den Begriff wohl auch bewusst, um einen möglichst<br />

weitreichenden Herrschaftsanspruch zu formulieren.<br />

88 Vgl. »McGuinty Does Not Have the Last Word on Faith Based Arbitration«, Friday<br />

Magazine vom 16. 9. 2005, ; »Ontario Court Should be Welcome, Not Feared«, Friday Magazine<br />

vom 3. 9. 2004, . Ebenso die Argumentation von B’nai Brith Canada, wiedergegeben<br />

im Bericht von Boyd 64.<br />

89 Michel Bastarache, [Vorwort, in:] Rouselle (oben N. 6) S. XII.<br />

90 Boyd 92. Vgl. auch Jean-François Gaudreault-DesBiens, The Limits of Private Justice?, The<br />

Problems of the State Recognition of Arbitral Awards in Family and Personal Status Disputes<br />

in Ontario, in: World Arbitration and Mediation Report 16/1 (2005) 18 (21 ff.).


476 mathias rohe RabelsZ<br />

is illogical and untenable to claim minority rights in order then to entrench<br />

religious or cultural orthodoxies that seek to trample the individual rights of<br />

select others.« So ist es nicht verwunderlich, dass sich auch die Gegner der<br />

Islamic arbitration auf ebendieselben Verfassungsbestimmungen zum Schutz<br />

vor Diskriminierung berufen haben 91 , nicht wie die Befürworter aus einer<br />

gruppenbezogenen Sicht, sondern im Hinblick auf gefährdete individuelle<br />

Freiheiten. Die Debatte entzündete sich denn auch vor allem dort, wo die<br />

einfache Gesetzeslage religiöse Schiedsgerichtsbarkeit zulässt.<br />

Nach längeren Vorarbeiten (vgl. zur Vorgeschichte bereits oben A.) wurde<br />

in Ontario im Jahre 2004 eine islamische Schiedsgerichtsbarkeit (arbitration<br />

tribunals) durch das Islamic Institute of Civil Justice 92 auf der Grundlage<br />

des Arbitration Act, R. S.O 1991, eingeführt 93 , nachdem zuvor bereits Katholiken,<br />

Mennoniten, Zeugen Jehovas, und ismailitische Muslime ein solches<br />

religiöses Schiedswesen etabliert hatten. Nach dem Arbitration Act<br />

1991 erstreckte sich die Zuständigkeit solcher Schiedsgerichte auf sämtliche<br />

Schiedsvereinbarungen, soweit die Anwendung des Act nicht gesetzlich ausgeschlossen<br />

oder der International Commercial Arbitration Act 1988 anwendbar<br />

war. Familien- und Erbrechtsfragen waren danach der Schiedsvereinbarung<br />

zugänglich. Anwaltlicher Beistand war nicht obligatorisch. 94<br />

Dieses islamische Schiedswesen hat äußerst heftige Debatten über die<br />

Grenzen der Multikulturalität in Kanada ausgelöst. 95 Soll Multikulturalität<br />

zu strukturellem, ethnischem oder religiös begründetem Rechtspluralismus<br />

(über die Möglichkeiten bestehenden dispositiven Rechts hinaus) führen,<br />

oder bedarf es eines einigenden rechtlichen Bandes für alle Staatsangehörigen?<br />

Diese Debatte wird auf einer eher abstrakten sozialpolitischen und sozialwissenschaftlichen<br />

Ebene geführt, wobei Vor- und Nachteile eines rechtlichen<br />

Pluralismus gegeneinander abgewogen werden. Seltener hat man sich<br />

mit den konkreten Auswirkungen befasst, also vor allem mit der Frage, welche<br />

Unterschiede zwischen dem kanadischen säkularen Recht und den in der<br />

91 Vgl: nur die Äußerungen der seinerzeitigen Frauenministerin von Ontario Sandra Pupatello<br />

in der Parlamentsdebatte: (2. Lesung am 23. 11. 2005 abrufbar unter .<br />

92 Im Oktober 2003 wurde das Institut mit 30 Mitgliedern gegründet, vgl. »Canada<br />

Moves Toward Accepting Islamic Sharia Settlements«, Friday Magazine vom 12. 12. 2003,<br />

.<br />

93 Zur Vorgeschichte vgl. die Darstellung des Hauptpropagandisten Syed Mumtaz Ali »A<br />

Word from the President . . .«, .<br />

94 Vgl. zur damaligen Lage Hans-Patrick Schneider, Die Anwendung der Sharia als materielles<br />

Recht im kanadischen Schiedsverfahrensrecht: IPRax 2006, 77 ff.<br />

95 Exemplarisch der Artikel von Rosie DiManno, It’s absurd and repugnant to label critics<br />

af sharia as Islamophobic: Toronto Star vom 16. 9. 2005, . Vgl. auch die Übersicht im Bericht von Boyd 4 ff.; Bakht.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

477<br />

islamischen Schiedsgerichtsbarkeit angewandten Normen im Einzelnen bestehen<br />

und welche Folgen daraus für die Beteiligten und die Gesamtgesellschaft<br />

resultieren. Shahnaz Khan hat die hiermit verbundene Problematik<br />

bereits 1993 anlässlich des ersten Vorstoßes in Richtung auf Einführung islam-rechtlicher<br />

Normen zugespitzt: Die Befürworter wendeten sich gegen<br />

den Muslime treffenden Rassismus, aber nicht gegen den Sexismus in den eigenen<br />

Reihen (bei Anwendung entsprechender Rechtsvorschriften). 96 Letztlich<br />

führten die Diskussionen im Jahre 2006 zur einschränkenden Neuregelung<br />

der bislang in Ontario möglichen Anwendung religiös-rechtlicher Normen<br />

in familienrechtlichen Schiedsverfahren generell (vgl. unten B.III.).<br />

Die breitere Debatte 97 wurde mit einiger Härte und insgesamt bemerkenswert<br />

faktenarm geführt. Das Islamic Institute of Civil Justice als betreibende<br />

Instanz hat in seinen Ankündigungen (vielleicht auch zu Werbezwecken)<br />

selbst den unzutreffenden Eindruck erweckt, die Regierung von Ontario<br />

habe ihm eine spezielle Erlaubnis zur Einrichtung eines Scharia-Gerichts<br />

(Court) erteilt. 98 Der Präsident des Canadian Islamic Congress (CIC) Elmasry<br />

warf den Kritikern vor, »Shariah will only become relevant when Muslims<br />

in Canada can depend on secular members of their communities not to<br />

make a cause of publicly deriding their religion, badmouthing their Prophet,<br />

ridiculing the Qur’an – and mounting uninformed crusades to smear their<br />

Islamic Law, the Islamic Shariah.« 99 In den Medien stark präsente Propagandisten<br />

wie Syed Mumtaz Ali 100 und Aly Hindy 101 vertraten sehr aggressiv die<br />

96 Shahnaz Khan (oben N. 33) 59 ff.<br />

97 Sehr differenzierte Äußerungen fi nden sich im Bericht von Boyd sowie teilweise in der<br />

parlamentarischen Debatte in Ontario, einschließlich der Anhörungen interessierter Organisationen<br />

durch das Standing Commitee on General Government vom 16. und 17. 1. 2006<br />

(Nachweis N. 40).<br />

98 Dies kritisiert z. B. Faisal Kutty, Ignorance and Islamophobia forces Ontario government<br />

to ban faith-based arbitrations in Ontario (12. 3. 2006): Media Monitors Network vom<br />

5. 7. 2006, .<br />

99 Elmasry, Why Was Shariah Not Treated Like Halachah?: Friday Magazine vom 30. 9.<br />

2005, .<br />

Der Muslim Canadian Congress hat von Elmasry eine Entschuldigung für diese Vorwürfe<br />

verlangt und darauf hingewiesen, dass mit ihnen der Vorwurf der Blasphemie verbunden sei,<br />

der in manchen islamischen Ländern zu strafrechtlichen Konsequenzen für die Mitglieder führen<br />

könnte; vgl. »Sharia opponents demand apology for Elmasry’s critical remarks«, Globeand<br />

mail.com vom 26. 10. 2005, .<br />

Die Ausrichtung des CIC wird etwa deutlich an einer Buchempfehlung auf der website , wo als einer von sieben Titeln das Werk von Abid Ullah<br />

Jan, The End of Democracy (2003) empfohlen wird, dessen <strong>Inhalt</strong> hält, was der Titel verspricht.<br />

100 Rechtsanwalt im Ruhestand, Präsident des Islamic Institute of Civil Justice und der<br />

Canadian Society of Muslims; zu seiner vita vgl. »Our President«, .<br />

101 Imam der Salaheddin-Moschee in Scarborough bei Toronto, in deren Umfeld sich<br />

auch einige der 17 Terrorverdächtigen jungen kanadischen Muslime (vgl. hierzu nur Michelle


478 mathias rohe RabelsZ<br />

Ansicht, dass Muslime nur noch den Weg in muslimische Schlichtungsinstanzen<br />

gehen dürften und deuteten erkennbar an, dass sie durchaus eine<br />

weiterreichende Einführung der Scharia anstrebten, auch wenn sie später<br />

unter dem Druck der Debatte einige Relativierungen vornahmen. Kritiker<br />

wurden pauschal als anti-islamische Propagandisten und Verräter an der<br />

muslimischen Gemeinschaft gebrandmarkt.<br />

Die Gegner haben selten zwischen einzelnen Aspekten der Scharia und<br />

diversen Auslegungsmöglichkeiten differenziert. 102 Die Nachrichtenmeldung<br />

von Ende November 2003, welche die Diskussion breitfl ächig ausgelöst<br />

hat 103 , begann unter der Überschrift »Canada prepares to enforce Islamic<br />

law« mit dem Satz: »Canadian judges will soon be enforcing Islamic law, or<br />

Sharia, in disputes between Muslims, possibly paving the way to one day<br />

administering criminal sentences, such as stoning women caught in adultery.«<br />

Damit wurden alle denkbaren Ablehnungskräfte mobilisiert, auch<br />

wenn es konkret »nur« um einen Aspekt des bürgerlichen Rechts ging.<br />

Manche der Gegner, z. B. die prominente Frauenrechtlerin Homa Arjomand<br />

104 von Women Living Under Muslim Law (WLUML), assoziierten<br />

die Entwicklung in Kanada mit der schreckenerregenden Anwendung von<br />

Scharia-Regeln in einigen Teilen der islamischen Welt wie Saudi-Arabien,<br />

Iran, Nigeria und andernorts, durchaus verständlich vor dem Hintergrund<br />

ihrer eigenen Erfahrungen 105 , aber weniger zielgerichtet im Hinblick auf die<br />

Shephard/Harold Levy, Accusations vary, lawyer says: Toronto Star vom 17. 6. 2006) bewegt<br />

haben. Hindy hat sich denn auch verpfl ichtet gefühlt, den Betreffenden beizustehen. Bekannt<br />

wurde er im Sommer 2005 durch ein Interview im »Globe and Mail«, als er die kanadische<br />

Regierung aufforderte, das »Terrorisieren« kanadischer Muslime einzustellen. »If you try to<br />

cross the line, I can’t guarantee what is going to happen. Our young people, we can’t control«;<br />

vgl. den Bericht »Imam no stranger to controversy, Aly Hindy a vocal critic of spy service<br />

knows several suspects in latest raid« (Michelle Shephard), Toronto Star vom 7. 6. 2006, . In <strong>dieses</strong> Bild passen Zitate<br />

Hindys aus seiner Tätigkeit in der Moschee (wiedergegeben im Bericht von Boyd 98), wonach<br />

er es im Konfl iktfall für religiös gerechtfertigt hält, dass Ehemänner ihre Frauen schlagen,<br />

wenn sie nicht gehorsam sind, und dass sie auch im Falle schwerer Schläge nicht die Polizei<br />

informieren sollten.<br />

102 Kritisch zur Debatte unter diesem Aspekt z. B. Richard Fidler, Ontario’s »Sharia Law«<br />

Controversy, How Muslims Were Hung Out to Dry: Monthly ReviewZine vom 26. 5. 2006,<br />

.<br />

103 WorldNetDaily vom 28. 11. 2003, .<br />

104 Homa Arjomand – Iranische Menschenrechtsaktivistin, 1989 aus dem Iran nach Kanada<br />

gefl ohen; in der Parlamentsanhörung in Ontario am 16. 1. 2006 (N. 40) Vertreterin der<br />

»International Campaign Against Sharia Court in Canada«.<br />

105 Vgl. »UPDATE: Canada: McGuinty rejects Ontario’s use of Shariah law«, ; vgl. auch<br />

die im Bericht von Boyd 46 f. wiedergegebene Stellungnahme Homa Arjomands »[. . .] the<br />

mere suggestion of the Shariah tribunals causes an atmosphere of fear among women who


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

479<br />

konkrete Rechtslage in Ontario. Andere äußerten die Befürchtung, dass<br />

repressive islamische Rechtssysteme durch das kanadische »Beispiel« gestärkt<br />

und liberale Musliminnen und Muslime in der islamischen Welt in ihrem<br />

Kampf gegen menschenrechtswidrige Rechtsanwendung geschwächt würden.<br />

106 Eine regelrechte Kampagne wurde gegen die Ernennung zweier<br />

Wissenschaftler und Spezialisten für islamisches Recht an der Juristischen<br />

Fakultät der Universität von Toronto entfacht – die wissenschaftliche Befassung<br />

mit einem weltweit bedeutsamen Rechtsgebiet scheint nicht mehr<br />

selbstverständlich möglich zu sein. 107 Einige Befürworter des familienrechtlichen<br />

Schiedswesens wie Vertreter des CAIR-CAN 108 äußerten deshalb,<br />

man solle den Begriff der Scharia in der Gesetzgebung und Bezeichnung<br />

vermeiden, weil damit falsche Assoziationen geweckt würden. Schlecht<br />

informiert waren auch die vielen, die sich gegen die »Einführung« (islamisch-)religiöser<br />

Schiedsgerichtsbarkeit wandten, die auf der Grundlage des<br />

Gesetzes von 1991 längst möglich war. 109<br />

Insgesamt wurde die breitere Debatte oft auf denkbar emotionalem Niveau,<br />

wenig informiert und oft mit erheblicher Selbstgerechtigkeit geführt,<br />

durchaus typisch für derartige Debatten in der westlichen Welt in jüngerer<br />

Zeit. Letztlich wurde sie bei vielen Gegnern auf das Paradigma der unterdrückten<br />

muslimischen Frau (bzw. der vom Islam unterdrückten Frau) und<br />

dem rückständigen und grausamen islamischen Recht reduziert, bei den<br />

meisten Befürwortern auf die »Verteidigung des reinen Glaubens« bzw. die<br />

Abwehr islamophober Angriffe, ohne sich zu den in der Tat problematischen<br />

<strong>Inhalt</strong>en zu äußern. Mögliche Vorzüge und Nachteile religiöser (nicht nur:<br />

came from ›Islamic‹ countries. If this Institute gains validity, it will increase intimidation and<br />

threats against innumerable women. [. . .] the reality is that millions of women are suffering<br />

and being oppressed under Shariah law in many parts of the world. Some of us managed to fl ee<br />

to a safe country, a country like Canada with no secular backlash.«<br />

106 Vgl. die Äußerungen vom früheren Kommunikationsdirektor und Gründungsmitglied<br />

des Muslim Canadian Congress, Tarek Fatah, Keep sharia law out of Canadian judicial system,<br />

vom 12. 8. 2005 unter ; deutlich auch die Parlamentarierin<br />

Fatima Houda-Pepin in der einschlägigen Parlamentsdebatte in Québec am 26. 5.<br />

2005 (Assemblée nationale, Journal des débats, 26 mai 2005, Cahier no. 156, S. 8716–8720<br />

[8716]), .<br />

107 Der Verfasser, selbst nicht Muslim, hat entsprechende Erfahrungen mit einem deutschen<br />

Blatt namens »Emma« gemacht, dessen journalistischer Stil in solchen Fragen offenbar<br />

an den Maßstäben der früheren DDR Gefallen fi ndet.<br />

108 Canadian Council on American-Islamic Relations; zitiert u. a. der Direktor Riad Saloojee<br />

in »Islamic group against Ontario use of Sharia law«, Canadian Press vom 22. 8. 2004,<br />

.<br />

109 Exemplarisch der Bericht von Paul Carlucci, Arbitration Confrontation: Eye Weekly<br />

vom 15. 9. 2005, .<br />

Vgl. hierzu Bakht.


480 mathias rohe RabelsZ<br />

islamischer) Schiedsgerichtsbarkeit bzw. konkrete Probleme aus solchen<br />

Verfahren, insbesondere der Haltung der Schiedsrichter und ihrer Auswahl<br />

und Interpretation bestimmter Normen, wurden hingegen weniger erörtert.<br />

Im Folgenden soll auf diese substantiellen Aspekte näher eingegangen<br />

werden. 110<br />

(2) Allgemeine Diskussion über Vorzüge und Nachteile außergerichtlicher religiöser<br />

Streitschlichtung. – In der öffentlichen Debatte stützten sich die Befürworter<br />

zum einen im Wesentlichen auf Argumente, welche für Lösungen im Wege<br />

der ADR allgemein sprechen, zum anderen auf spezifi sche glaubensbezogene<br />

Gründe, wie sie etwa in der FAQ-Liste des Darul Qada (hierzu unten<br />

[3]) genannt werden. Mohamed Elmasry, Präsident des Canadian Islamic<br />

Congress und nach eigenen Angaben (2005) seit 35 Jahren als Mediator und<br />

Schiedsrichter tätig, hebt folgende Gründe hervor 111 :<br />

Das (westliche) kanadische Gerichtswesen sei auf streitige Verfahren mit<br />

Gewinner und Verlierer ausgerichtet. Dort werde oft dem Mann die volle<br />

Verantwortung (für den Konfl ikt) zugeschoben; die alternative Wahl von<br />

Mediation/Schiedsverfahren werde aus solcher Sicht als typische Beeinträchtigung<br />

von Frauenrechten verstanden. 112 Das westliche streitige Verfahren<br />

bringe vielleicht mehr Geld oder die Genugtuung für den Sieger, im<br />

Recht zu sein. Es eigne sich aber nicht für sensible Familienrechtsfragen, in<br />

denen es zuallererst um Herstellung des Familienfriedens gehe. 113 Dort seien<br />

auch in besonderer Weise Emotionen und menschliche Anliegen betroffen,<br />

die ein Verfahren in vertrauensvoller Atmosphäre und mit – auch religiösem<br />

– Beistand nötig machten. Die Beteiligten könnten entsprechend der Tradition<br />

des islamischen Rechts jeweils Personen ihres Vertrauens als Schiedspersonen<br />

benennen. Das Verfahren sei zudem kostengünstiger und wegen<br />

vergleichsweiser Schnelligkeit auch in emotionaler Hinsicht weniger belas-<br />

110 Neben den hier verwendeten Quellen – Informationen aus persönlichen Gesprächen<br />

mit Vertretern interessierter Organisationen und befassten Wissenschaftlern (Oktober 2005<br />

und Juli-September 2006), Publikationen und Stellungnahmen auf Websites von Organisationen<br />

im Internet und den Protokollen der Parlamentsdebatten in Ontario und Québec – sei<br />

auf die im Bericht der früheren Attorney General und Frauenministerin von Ontario Marion<br />

Boyd im Auftrag ihrer Amtsnachfolger (Dispute Resolution in Family Law) wiedergegebenen<br />

umfangreichen Stellungnahmen (Stand Ende 2004) hingewiesen. Der Verfasser hatte Gelegenheit<br />

zum Gedankenaustausch mit Marion Boyd bei einer gemeinsamen öffentlichen Diskussion<br />

im Montréal im Oktober 2005 (dem Goethe-Institut und seiner Leiterin in Montréal<br />

Mechthild Manus sowie der McGill University sei hierfür gedankt).<br />

111 Vgl. oben N. 88.<br />

112 Offenbar soll also den Männern mehr Gerechtigkeit widerfahren.<br />

113 Dieses Argument fi ndet sich auch in allgemeiner Literatur zur ADR, vgl. McLaren/<br />

Sanderson, Innovative Dispute Resolution, The Alternative (Loseblattslg.; Stand 01/06) (Toronto)<br />

4.6C: »Family law disputes are particularly ill-suited to the court process. The adversarial<br />

system and its numerous delays tend to increase the acrimony between the parties [. . .]«.<br />

Allerdings verlangt s. 10 Divorce Act, 1985 auch von staatlichen Gerichten, stets Möglichkeiten<br />

einer Versöhnung zu beachten.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

481<br />

tend. Selbst manche Richter würden Mediation oder Schiedsverfahren<br />

empfehlen. Approbierte (professionally licensed) religiöse ADR könne einen<br />

wertvollen Beitrag für die Gesellschaft leisten, auch für »Gefallene« oder<br />

nicht praktizierende Gläubige. Der Umstand, dass kein kodifi ziertes islamisches<br />

Recht zur Anwendung kommen könne, spreche nicht gegen islamische<br />

ADR, wenn auch andere religiöse Gruppen wie Juden oder Christen<br />

solche ADR ohne kodifi ziertes Recht betreiben könnten. Gelegentlich wird<br />

auch noch darauf hingewiesen, dass ADR die Ressourcen der staatlichen<br />

Justiz und damit Steuergelder schone 114 .<br />

Staatliche Mitwirkung könne zudem Einfl uss auf den Standard und die<br />

Zusammensetzung von Schiedsinstanzen nehmen. Bisherige informelle<br />

Verfahren hätten häufi g zu ungerechten und merkwürdigen Ergebnissen<br />

geführt; Formalisierung führe zu größerer Transparenz und Verlässlichkeit.<br />

115 Nicht zuletzt wird oft hervorgehoben, dass ein offenes, staatlich<br />

kontrolliertes und kontrollierbares Schiedswesen besser sei als unkontrollierbare<br />

informelle Strukturen. 116<br />

Die Gegner haben sich zum einen entsprechend der Debatte in Québec<br />

(dazu unten c) wegen möglicher struktureller Ungleichgewichte generell<br />

gegen Schiedsgerichtsbarkeit in Angelegenheiten des Familienrechts ausgesprochen.<br />

117 Ein weiterer Argumentationsstrang richtete sich – neben spezifi<br />

sch rechtlichen Begründungen, die in der Tat vorhandene Probleme thematisieren<br />

(dazu sogleich unten [3]) – gegen die religiöse Komponente generell,<br />

oft in einem religionsskeptischen bis religionsfeindlichen Tonfall.<br />

Religiös motiviertes Handeln wurde insgesamt und insbesondere im Hinblick<br />

auf den Islam als rückständig und überholt und damit auch als ungeeignet<br />

für Schlichtung rechtlicher Konfl ikte angesehen. 118 Aus solcher Sicht<br />

wurde die sogenannte »Abschaffung« (hierzu unten III.) religiöser Schiedsgerichtsbarkeit<br />

in Ontario insgesamt als Sieg gefeiert.<br />

Differenzierte Argumente befassten sich mit dem Aspekt, dass die Zugehörigkeit<br />

zu einer Einwanderergemeinschaft – die meisten Muslime in Ka-<br />

114 Vgl. Ibrahim Hayani, Shariah Tribunals Would Help Canadian Judicial System: Friday<br />

Magazine vom 16. 9. 2005, .<br />

115 Dahingehend werden Ahmad und Faisal Kutty (Toronto) zitiert in: »Canada Okays<br />

Islamic Sharia Courts to settle non-Criminal Cases«, Friday Magazine vom 28. 5. 2004,<br />

.<br />

116 Die Vizepräsidentin des Canadian Islamic Congress Wahida Valiante wird mit der<br />

Aussage zitiert. »You can’t monitor something when it is being done quietly somewhere, can<br />

you?«, in: »Shariah Opponent makes Case to Province«, Friday Magazine vom 6. 8. 2004,<br />

.<br />

117 Vgl. die Nachweise bei Boyd 29 ff.<br />

118 Vgl. Bakht mit weiteren Nachweisen; Boyd 39 ff. Hier scheinen gelegentlich eigenartige<br />

Züge einer neuen extremen Säkularität als neuer Religion durch.


482 mathias rohe RabelsZ<br />

nada sind in jüngerer Zeit eingewandert – spezifi sche Probleme insbesondere<br />

für sozial »schwächere« Angehörige mit sich bringen kann. Insgesamt<br />

dürfte die Einrichtung kommunitaristischer Freiheitsräume die Freiheitssphäre<br />

»schwacher« Mitglieder der community 119 – in Wirklichkeit Menschen<br />

von unterschiedlicher religiöser, kultureller und individueller Ausrichtung<br />

– tendenziell einschränken, weil ihre Freiheit, gegen den kommunitären<br />

Schlichtungsmechanismus zu optieren, sich bei starkem sozialen Druck faktisch<br />

aufl öst. Hier ist bemerkenswert, dass die Propagandisten der islamischen<br />

Schiedsgerichtsbarkeit wiederholt betont haben, derjenige Muslim,<br />

der sich solcher Instanzen nicht bediene, sei kein (guter) Muslim. Diese Aussagen<br />

werden im Internet auch noch nach jahrelangen öffentlichen Auseinandersetzungen<br />

zu diesem Punkt aufrechterhalten. In der FAQ-Liste des<br />

Islamic Institute of Civil Justice 120 , das die islamische Schiedsgerichtsbarkeit<br />

in Ontario seit 2004 betrieben hat, wird unter Tz. 23. die Weigerung, sich<br />

an eine einmal freiwillig getroffene Schiedsvereinbarung zu halten und<br />

stattdessen staatliche Gerichte in Anspruch zu nehmen, als »blasphemyapostasy«<br />

121 gebrandmarkt. Es sei darauf hingewiesen, dass nach traditionell<br />

islam-rechtlicher Sicht Apostasie mit dem Tode bestraft wird. 122 Äußerst<br />

deutlich wird der in Kanada ansässige muslimische Aktivist Mubarak Ali in<br />

seinem »Muslim Handbook« 123 , das im Vorwort vom Direktor der Al-Azhar<br />

Academy of Canada Shaikh Hafi z Al-Saeed Muhammad Ghars El-Din gepriesen<br />

wird und das laut abgedrucktem Attest der Al-Azhar Universität<br />

Kairo in keinem Punkt dem islamischen Glauben widerspricht. In den Kapiteln<br />

über islamisches Familienrecht, das er offenbar selbstverständlich für<br />

119 Die Muslime insgesamt können angesichts ihrer religiösen, kulturellen und nicht zuletzt<br />

individuellen Vielfalt keinesfalls als einheitliche »Gemeinschaft« verstanden werden. Die<br />

Drucksituation kann sich aber innerhalb der jeweiligen homogeneren Einzelgruppe ergeben.<br />

Zudem können Musliminnen und Muslime angesichts der umfassend formulierten Ansprüche<br />

selbsternannter Führungsfi guren generell unter Druck geraten.<br />

120 Syed Mumtaz Ali in: Interview (oben N. *).<br />

121 Syed Mumtaz Ali unter 23: »Once the parties have agreed to be governd by Muslim<br />

PFL, then they will be committed to it by their prior consent. As a consequence, on religious<br />

grounds, a Muslim who would choose to opt out at this stage, for reasons of convenience<br />

would be guilty of a far greater crime than a mere breach of contract – and this could be tantamount<br />

to blasphemy-apostasy. [. . .]«<br />

122 Vgl. hierzu und zu modernen Ansätzen Rohe, Islam und Menschenrechte (oben N. 36)<br />

449 ff. Syed Mumtaz Ali scheint diese Ansicht zu teilen, wie es sich aus seinen Äußerungen<br />

(übernommenen Zitaten) zu Salman Rushdie ergibt (»According to Muslim Law, a male apostate<br />

[. . .] is liable to be put to death if he continue obstinate in his error [. . .])«; »The Salman<br />

Rushdie Issue: A Synthesis of the Islamic Law of Blasphemy/Apostasy in the Context of Canadian<br />

Multiculturalism«, The Canadian Society of Muslims (August 2004), abgerufen am<br />

21. 7. 2006 unter .<br />

123 Shaikh Hafi z Al-Saeed Muhammad Ghars El-Din, Vorwort, in: Mubarak Ali S. XIII. Der<br />

Autor ist laut eigener Beschreibung als Freitagsprediger, Referent und Imam des Weston Islamic<br />

Community Centre tätig.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

483<br />

auch in Kanada verbindlich und anwendbar hält, weist der Autor im Zusammenhang<br />

mit der Scheidung 124 darauf hin, dass der Islam nicht empfehle,<br />

jede Streitigkeit vor Gericht auszutragen. Dies gelte schon im Zuständigkeitsbereich<br />

von gänzlich islamischen Rechtssystemen. »In a non-Islamic<br />

system, it is a very serious matter to let disbelievers settle the affairs of Muslims<br />

using their own standards. In that case their decisions may run counter<br />

to Islamic Law and to be bound by laws that contravene the Shari’ah is unacceptable<br />

in Islam. Thus, if a matter can be settled mutually between the<br />

parties concerned, this is the preferred course for every believer.«<br />

Sehr differenzierte Ansätze fi nden sich im Bericht von Marion Boyd 125<br />

und in Ausführungen einiger Rechtswissenschaftler 126 . Hier wurde versucht,<br />

die möglichen Vorzüge einer freiwilligen, religiös orientierten Streitschlichtung<br />

mit Ausbildungs-, Hilfs- und Kontrollmechanismen zu verbinden,<br />

127 welche die möglichen Benachteiligungen Schwächerer ausschließen<br />

sollen. So wurde vorgeschlagen (und zum Teil in der grundlegenden Reform<br />

des Arbitration Act auch umgesetzt), dass die Schiedsrichter einer professionellen<br />

Organisation angehören und eine Ausbildung erhalten müssen,<br />

die es ermöglicht, Benachteiligungen von Verfahrensbeteiligten aufzudecken<br />

und zu verhindern. Konkrete Verfahrensregeln, das Verbot entsprechender<br />

Vereinbarungen vor Entstehen der Streitigkeit, Dokumentation<br />

und unabhängiger Rechtsrat zur Aufklärung der Beteiligten über <strong>Inhalt</strong><br />

und Bedeutung des Verfahrens sollen kontrollierbare Fairness und Gleichberechtigung<br />

gewährleisten, die Ergebnisse sollen einer staatlichen gerichtlichen<br />

Kontrolle sowie die gesamten Regelungen einer ministeriellen Evaluation<br />

unterliegen. Schließlich sollen allgemeine öffentliche Information<br />

und Bildung über das bestehende Rechtssystem und Möglichkeiten religiösen<br />

Schiedswesens erfolgen.<br />

Die wissenschaftlich gewiss interessante, aber doch eher abstrakte Diskussion<br />

über Vorzüge und Nachteile einer »joint governance« 128 ist offenbar<br />

zukunftsgerichtet. Sie setzt voraus, dass die vorgesehenen Schutzmechanismen<br />

bereits greifen, berücksichtigt meines Erachtens jedoch zu wenig die<br />

wohl praktisch wichtigste Frage nach den konkret schon vorhandenen Akteuren<br />

und ihrer inhaltlichen Ausrichtung. Eine Institutionalisierung verleiht<br />

zum einen den involvierten Akteuren gesellschaftliche, im bestehen-<br />

124 Mubarak Ali 301.<br />

125 Boyd 109 ff.; Zusammenfassung im summary unter 12. ff.<br />

126 Grundlegend Ayelet Shachar, Multicultural Jurisdictions, Cultural Differences and<br />

Women’s Rights (Cambridge 2001) insbes. 88 ff.<br />

127 Diese aufwendigen Mechanismen wurden ihrerseits als kontraproduktiv für schnelle,<br />

unaufwendige Schiedsverfahren kritisiert.<br />

128 So grundlegend Ayelet Shachar, Multicultural Jurisdictions (oben N. 126) insbes. 88 ff.;<br />

dies., Religion, State, and the Problem of Gender, New Modes of Citizenship and Governance<br />

in Diverse Societies: McGill L. J. 50 (2005) 49 (insbes. 71 ff.).


484 mathias rohe RabelsZ<br />

den Rahmen dann auch rechtliche Macht. Die Selbstrekrutierung der Institution<br />

durch diese Akteure kann nur noch teilweise durch entsprechende<br />

Kontrollmechanismen beeinfl usst werden. Über die Wirksamkeit von Kontrollmechanismen<br />

sollte man sich gerade im Kontext vergleichsweise starker<br />

Segregation der Beteiligten von der Gesamtgesellschaft keinen Illusionen<br />

hingeben. Dies gilt besonders dann, wenn auch noch sprachliche Barrieren<br />

zur Mehrheitsgesellschaft bestehen, und wenn Gerichte mit Eingriffen in<br />

privatautonome Rechtsgestaltung und außergerichtliche Streitbeilegung<br />

große Zurückhaltung üben (hierzu unten III.). Die erkennbare Ausrichtung<br />

der vorhandenen Akteure und ihr ideologisches Umfeld, etwa in islamischen<br />

Buchhandlungen, sprechen meines Erachtens insgesamt sehr deutlich dagegen,<br />

ihnen den Anschein staatlicher Billigung zu verleihen (hierzu ausführlich<br />

im Folgenden).<br />

(3) Spezifi sche rechtliche Fragestellungen. – Die Gegner der islamischen ADR<br />

heben vor allem hervor, dass das islamische Recht – jedenfalls in seiner jahrhundertealten<br />

Interpretation durch die Rechtsgelehrten – zu Lasten von<br />

Frauen von der Ungleichbehandlung der Geschlechter 129 durchdrungen<br />

sei. 130 Von Menschen (durch Interpretation) gemachten Vorschriften würde<br />

irrigerweise göttliche Autorität zugemessen; es sei gefährlich, solche Vorschriften<br />

als Ersatz für parlamentarische Gesetze anzuerkennen. 131 Dies gelte<br />

insbesondere für das äußerst fl exible, aber dementsprechend viele Interpretationen<br />

ermöglichende und deshalb wenig berechenbare System der<br />

Rechtsanwendung im islamischen Recht; werden familien- und erbrechtliche<br />

Vorschriften in traditioneller Auslegung angewandt, so folgten daraus<br />

deutliche Benachteiligungen insbesondere von Frauen und Nicht-Muslimen.<br />

132<br />

Prägnante Beispiele hierfür fi nden sich in dem bereits genannten, von<br />

traditionalistischen Rechtsvorstellungen (in vulgarisierter Form) durchdrungenen<br />

»Muslim Handbook« von Mubarak Ali 133 . Dort wird ausgeführt,<br />

dass die ehewillige Frau einen »guardian« benötigt, der ihre Interessen bei<br />

der Eheschließung vertritt, wenngleich sie selbst der Eheschließung eben-<br />

129 Parallel hierzu existiert bei traditionell orientierten Muslimen eine weitreichende, gelegentlich<br />

obsessiv anmutende Geschlechtertrennung; vgl. für Toronto die Hinweise von<br />

Amir Hussain (oben N. 2) 372.<br />

130 Prononciert etwa die verschiedenen Stellungnahmen von Homa Arjomand und des<br />

Canadian Council of Muslim Women; auch schon die Ausführungen von Shahnaz Khan<br />

(oben N. 33) gegen die Einführung eines Muslim Personal Law.<br />

131 Vgl. nur Tarek Fatah (oben N. 106) mit weiteren Nachweisen.<br />

132 Kritisch deshalb zur Einführung islamischer ADR in Kanada die iranische Juristin und<br />

Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi; vgl. »Nobel prize winner speaks out against Islamic<br />

tribunals in Canada«, University Pittsburgh School of Law, Jurist, Legal News & Research<br />

vom 14. 6. 2005, .<br />

133 Mubarak Ali.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

485<br />

falls zustimmen muss. Allerdings wird Schweigen einer Jungfrau gemäß der<br />

traditionellen Prophetenüberlieferung als Zustimmung gewertet, was bei<br />

der Problematik von Zwangsheiraten für einige Brisanz sorgen kann. 134 Zudem<br />

heißt es, dass eine Eheschließung ohne Kenntnis und Zustimmung von<br />

Eltern und guardians nicht möglich sei. 135 Bei Benennung der ehelichen<br />

Pfl ichten heißt es: »In marriage, all the duties of the wife are summed up in<br />

one word, ta’a, or obedience to her husband.« 136 Zuvor wird ihre Verpfl ichtung<br />

benannt, besonders rücksichtsvoll gegenüber seinen Bedürfnissen und<br />

Vorlieben bei Ernährung, Kleidung etc. zu sein. Dem Mann wird die ausschließliche<br />

Pfl icht zum Familienunterhalt zugemessen, auch soll er seine<br />

Frau gut und großzügig behandeln. 137 Das klassische Scheidungsrecht (hanafi<br />

tischer Prägung) mit Zumessung eines begründungslosen einseitigen<br />

Scheidungsrechts an den Ehemann (talaq und andere Formen des Scheidungsausspruchs)<br />

wird schlicht wiedergegeben. Beiträge zum Familienunterhalt<br />

seitens der Ehefrau erhalten keine religiös-rechtliche Relevanz, sollen<br />

aber geleistet werden, wenn die Frau schon einer Erwerbstätigkeit nachgehe:<br />

»This is because the wife can work only with the permission of her<br />

husband.« 138 Folgerichtig soll das Sorgerecht 139 für Kinder nach den ersten<br />

beiden Lebensjahren grundsätzlich allein beim Vater bzw. bestimmten<br />

männlichen Verwandten liegen, es sei denn diese erweisen sich als ungeeignet.<br />

140<br />

Die geäußerten Befürchtungen haben also durchaus reale Hintergründe,<br />

zumal hier schlicht traditionelle Rechtsansichten wiedergegeben werden.<br />

Zudem wird darauf hingewiesen, dass Muslime unterschiedliche rechtlichreligiöse<br />

Hintergründe aufwiesen und die Anwendung eines »einheitlichen«<br />

islamischen Rechts angesichts vielfältiger Schulunterschiede nicht möglich<br />

sei, erst recht angesichts noch weiterreichender kultureller Vielfalt. 141 Der<br />

lapidare Hinweis von Befürwortern, man wende dann eben jeweils die passende<br />

Rechtsschule an 142 , lässt unter anderem außer Acht, dass es auch innerhalb<br />

der Rechtsschulen unterschiedliche Auffassungen gibt, dass die Frage,<br />

welche Schule bei »Angehörigen« unterschiedlicher Schulen angewandt<br />

werden soll, und wer unter den oft kaum einschlägig ausgebildeten Involvierten<br />

diese schwierigen Probleme meistern soll.<br />

134 Vgl. Mathias Rohe, Wer schweigt, stimmt nicht zu: Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />

vom 12. 4. 2006, S. 41.<br />

135 Mubarak Ali 266 f.<br />

136 Mubarak Ali 273.<br />

137 Mubarak Ali 276, 308.<br />

138 Mubarak Ali 308.<br />

139 Anders als auch das traditionelle islamische Recht unterscheidet der Autor nicht zwischen<br />

Personensorge (hadāna) und sonstigem Sorgerecht/Vermögenssorge (wilāya, walyāa).<br />

140 Mubarak Ali 305 f.<br />

141 Vgl. nur Shahnaz Khan (oben N. 33) 55 ff.<br />

142 Vgl. Syed Mumtaz Ali unter 26.


486 mathias rohe RabelsZ<br />

Manche der Gegner haben sich nicht konkret zu derlei Fragstellungen<br />

geäußert, sondern vor dem Hintergrund solcher traditioneller Haltungen<br />

die Anwendung islamischen Rechts pauschal als freiheitswidrig abgelehnt.<br />

Andere Muslime sehen Entwicklungs- und Anpassungsmöglichkeiten innerhalb<br />

und mit Mitteln der Scharia 143 , lehnen indes eine traditionalistisch<br />

orientierte Schiedsgerichtsbarkeit bzw. Rechtsanwendung ebenso ab. So<br />

wurde die Initiative auf Einrichtung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit<br />

nur von sehr wenigen muslimischen Gruppen getragen. Einige sind<br />

Vorbereitungstreffen bewusst ferngeblieben, weil sie die inhaltliche Ausrichtung<br />

der Initiatoren ablehnen. Vertreter dieser Richtung sind etwa der<br />

Auffassung, dass es bei zutreffender Interpretation der islamischen Normen<br />

im kanadischen Kontext auch islam-rechtlich geboten sei, das während der<br />

Ehe erworbene Vermögen entsprechend kanadischem Recht zu verteilen<br />

und z. B. für den Erbfall testamentarisch nicht die Verteilung nach traditionellem<br />

Schema vorzunehmen: Wenn rechtlich und oft auch faktisch Frauen<br />

ebenso wie Männer zum Familienunterhalt beizutragen hätten, entfalle die<br />

Begründung für die pauschalisierte Besserstellung der Männer bei Bemessung<br />

der Erbquoten. 144 Vertreter dieser Richtung sehen inhaltlich keinerlei<br />

strukturelle Probleme oder gar Gegensätze bei der Anwendung kanadischen<br />

Rechts auch auf Muslime – auch kanadisches Recht sei darauf ausgerichtet,<br />

gerechte Lösungen zu fi nden und diese umzusetzen. Abweichende Forderungen<br />

würden oft von islam-rechtlich überhaupt nicht oder nur marginal<br />

ausgebildeten »Amateuren« aufgestellt. Diese fänden zum Teil auch deshalb<br />

in der community Anklang, weil mache die »strengsten« Vertreter der Zunft<br />

für die frommsten hielten. Ein gewisses Maß an Unterstützung seitens solcher<br />

Vertreter erhielten die Befürworter der islamischen Schiedsgerichtsbarkeit<br />

erst dann, als in der öffentlichen Diskussion praktisch ausschließlich die<br />

islamische Initiative angegriffen wurde, während andere Religionen, die<br />

eine solche Schiedsgerichtsbarkeit bereits betrieben und inhaltlich zum Teil<br />

ähnliche Rechtsprobleme bei der Gleichberechtigung der Geschlechter kennen,<br />

außerhalb der Betrachtungen blieben. Anstößig aus solcher Sicht war<br />

also nicht die inhaltliche Opposition gegen die islamische Schiedsgerichtsbarkeit,<br />

sondern allein der Aspekt der Ungleichbehandlung.<br />

Die Befürworter weisen den Vorwurf der Ungleichbehandlung der Geschlechter<br />

zurück. Sie gehen von einem Geschlechterverhältnis traditio-<br />

143 Vgl. hierzu Bülent Ucar, Recht als Mittel zur Reform von Religion und Gesellschaft,<br />

Die türkische Debatte um die Scharia und die Rechtsschulen im 20. Jahrhundert (2005);<br />

Mathias Rohe, Der Islam, Alltagskonfl ikte und Lösungen, Rechtliche Perspektiven 2 (2001)<br />

21 ff.<br />

144 Informationen von Barrister Faisal Kutty (Member of Board Canadian Council on<br />

American Islamic Relations [CAIR-CAN] und der Islamic Social Services Association of<br />

North America, General Counsel der Canadian-Muslim Civil Liberties Association) bei<br />

einem Gespräch in Toronto am 28. 7. 2006.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

487<br />

neller Prägung aus, wie es dem islamischen Recht unterliegt 145 , und betonen,<br />

dass beide Geschlechter jeweils eine wichtige und mit eigenen Rechten<br />

versehene Position in der Gesellschaft einnähmen. Die Rolle des (Ehe-)<br />

Mannes als Familienoberhaupt bringe mehr Pfl ichten als Rechte mit sich. 146<br />

Dieses Vorverständnis erscheint in der Tat weit verbreitet, wie es sich sowohl<br />

aus der einschlägigen Literatur in islamischen Bildungszentren und<br />

Buchhandlungen 147 als auch aus Äußerungen von Imamen und anderen<br />

Muslimen in der Öffentlichkeit zeigt. Hier liegt der eigentliche Gegensatz<br />

zwischen islamischem Recht und zeitgenössischen westlichen Rechtsordnungen,<br />

die sich von einem solchen Rollenvorverständnis völlig gelöst haben<br />

und Sonderregelungen (z. B. betreffend Schwangere) nur noch vorsehen,<br />

wenn biologische Unterschiede 148 sie nötig machen.<br />

Zudem heben die Befürworter hervor, dass auch andere Rechte wie das<br />

jüdische solche Ungleichheiten kenne 149 , ohne dass dies zu erkennbaren öffentlichen<br />

Kontroversen geführt habe. Dieses wiederholt vorgebrachte<br />

Gleichbehandlungsargument hat in Ontario letztlich zur weitreichenden<br />

Änderung der religiösen ADR in Familienrechtssachen überhaupt geführt,<br />

auch unter Protest von jüdischer Seite 150 .<br />

145 In vertretbarer Vereinfachung beschreibt die Stellungnahme des Canadian Council of<br />

Muslim Women (Boyd 48) dies wie folgt: »The jurisprudence of fi qh [islamisches Recht, der<br />

Verfasser] does have some common understanding. It is based on a patriarchal model of community<br />

and the family. It is generally accepted that men are the head of the state, the mosque<br />

and the family.«<br />

146 Exemplarisch die Ausführungen bei Mustafa Yusuf McDermott/Muhammad Manazir Ahsan,<br />

The Muslim Guide, For teachers, employers, community workers and social administrators<br />

in Britain 2 (Leicester 1993) 81; vgl. auch Ahmad H. Sakr, Islam & Muslims, Myth or Reality<br />

(Milwaukee u. a. 1994) 38 f.: Frauen genössen mehr Privilegien als Männer (erwähnt<br />

werden die Befreiung vom Ritualgebet und Fasten während der Mensis und in Stillperioden,<br />

die Befreiung vom gemeinschaftlichen Freitagsgebet [nicht wenige Musliminnen möchten<br />

allerdings teilnehmen, ungern allerdings verbannt in Ecken], Befreiung von fi nanziellen Verpfl<br />

ichtungen und besondere Anerkennung als Mutter vor Gott und dem Propheten).<br />

147 Vgl. nur Mubarak Ali 273 ff., 296 ff., 305 ff. und öfter, wo das traditionelle Familienrecht<br />

wiedergegeben wird (Notwendigkeit eines Vormunds [wali] bei der Eheschließung auf<br />

Seiten der Frau, Letztentscheidungsrecht des Ehemannes in Familienangelegenheiten, seine<br />

ausschließliche Pfl icht zum Familienunterhalt, sein einseitiges Recht auf Ehescheidung, seine<br />

Dominanz im Sorgerecht für Kinder etc.), das in einigen islamischen Ländern mittlerweile<br />

zugunsten der Rechtspositionen von Frauen deutlich reformiert wurde, was sich hier allerdings<br />

nicht niederschlägt. Vgl. auch die Nachweise unten in N. 190.<br />

148 In einem Werk von Mahmood Ibraheem El-Geyoushi, Islamic Reader, Islamic Studies for<br />

Young People (New Delhi 2002), wird allerdings die Rollenverteilung beim außerhäuslichen<br />

Gelderwerb auch mit biologischen Gegebenheiten »begründet«, allerdings ohne nähere Ausführungen,<br />

worin sie denn exakt bestehen.<br />

149 Vgl. zu den deutlichen Parallelen Judith R. Wegner, The Status of Women in Jewish and<br />

Islamic Marriage and Divorce law: Harvard Women’s L. J. 5 (1982) 1 ff. (gelegentliche inhaltliche<br />

Fehler im Detail beeinträchtigen nicht die generelle Aussagekraft).<br />

150 Nach vielen Berichten soll es Überlegungen seitens B’nai Brith geben, gegen die<br />

Neuregelung vorzugehen. Auch in der Parlamentsdebatte in Ontario (z. B. Abgeordnete Ro-


488 mathias rohe RabelsZ<br />

In gewissem Kontrast zu diesen Argumenten wurde betont, dass es keineswegs<br />

um die Einrichtung eines konkurrierenden Rechtssystems gehen<br />

könne, weil die Rechtsanwendung kanadischem Recht (»the law of the<br />

land«) entsprechen müsse. 151 Der Hauptbetreiber der Initiative, Syed Mumtaz<br />

Ali, sprach in diesem Zusammenhang von einer »watered down version<br />

of Muslim personal law« 152 , die zur Anwendung kommen solle. Der rechtliche<br />

Ansatzpunkt für diese Aussagen fi ndet sich in s. 46(1) 6., wonach ein<br />

Schiedsspruch vom (staatlichen) Gericht aufgehoben werden kann, wenn:<br />

»[T]he applicant was not treated equally and fairly, was not given an opportunity<br />

to present a case or to respond to another party’s case, or was not given<br />

proper notice of the arbitration or of the appointment of an arbitrator.«<br />

Damit werden wesentliche Elemente eines verfahrensrechtlichen ordre public<br />

beschrieben. Eine <strong>Inhalt</strong>skontrolle müsste sich auf die sehr vagen Formulierungen<br />

von equity und fairness stützen und wird damit in sehr hohem Maße<br />

von der Einschätzung des jeweiligen Gerichts abhängig. Zudem ist zu bedenken,<br />

dass die in Kanada herrschende Common Law-Tradition bindende<br />

Schiedssprüche nur unter sehr engen Voraussetzungen einer gerichtlichen<br />

Überprüfung öffnet 153 und Zurückhaltung der Gerichte bei der Anwendung<br />

von s. 46 Arbitration Act Ontario, R. S. O. 1991, nicht verwunderlich<br />

wäre. 154 Damit bleibt es höchst fraglich, ob etwa ein im Rahmen eines<br />

bert W. Runciman und John R. Baird in der 2. Lesung am 23. 11. 2005, ) wurde von mehreren Abgeordneten auf die Implikationen<br />

für andere Glaubensgemeinschaften hingewiesen, die unzureichend berücksichtigt würden;<br />

vgl. auch die Stellungnahmen des Canadian Jewish Congress, Region Ontario (Stephen<br />

Adler, Rachael Turkienicz, Mark Freiman) in der parlamentarischen Anhörung am 16. 1. 2006<br />

(Nachweis N. 40).<br />

151 So die Vizepräsidentin des Canadian Islamic Congress Wahida Valiante, vgl. die Wiedergabe<br />

ihrer Äußerungen in »Shariah Law Debate Badly Skewed, Says Boyd«, Friday Magazine<br />

vom 12. 8. 2005, .<br />

152 Syed Mumtaz Ali in einem Interview am 2. 2. 2005; vgl. »Sharia for Canada«, abgerufen<br />

am 15. 9. 2005 unter ; vgl. auch seine Ausführungen in »Is Shariah Incapable of Change?«, .<br />

153 Vgl. nur Robert M. Nelson, On ADR (Scarborough 2003) 198 mit weiteren Nachweisen.<br />

154 So jedenfalls die traditionelle Haltung; in jüngerer Zeit scheint es gewisse Anzeichen<br />

intensiverer Intervention in »domestic cases« zu geben, vgl. Andrea Himel, Mediation/Arbitration<br />

Agreements, The Binding Comes Undone: Canadian Family L. Q. 20 (2002/2003) 55<br />

(58 ff.); vgl. aber andererseits die Nachweise bei Natasha Bakht, Arbitration, Religion and<br />

Family Law: Private Justice on the Backs of Women (March 2005), ,<br />

welche gerade auch bei domestic contracts wenig Interventionsbereitschaft<br />

zeigen; vgl. hierzu die Entscheidung des Supreme Court in Hartshorne v.<br />

Hartshorne, [2004] 1 S. C. R. 550, die eine anerkanntermaßen unfaire Privatvereinbarung hinsichtlich<br />

der Vermögensaufteilung aufrechterhielt (ebd. 554, 585 f.; allerdings handelte es sich<br />

um eine Vereinbarung unter Juristen in voller Kenntnis der rechtlichen Würdigung, wobei


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

489<br />

Scheidungsverfahrens erklärter Unterhaltsverzicht und/oder die Rückgabe<br />

von Vermögenswerten, die eigentlich zur späteren Absicherung gedacht waren<br />

155 , noch rückgängig zu machen wären. Andererseits stehen die Fragen<br />

der Präsidentin des Canadian Council of Muslim Women Alia Hogben im<br />

Raum: »Muslim law is not monolithic or simple or applied consistently [. . .],<br />

so how will it be applied here in Canada? And why is it needed here, when<br />

the law of the land tries to be fair and just?« 156 Der vormalige Communications<br />

Director des Muslim Canadian Congress Tarek Fatah hat die Empfehlungen<br />

Marion Boyds 157 mit den drastischen Worten kommentiert: »[. . .] the<br />

racism of lower expectations where under the garb of diversity, Muslims are<br />

encouraged to ghettoize and withdraw from the mainstream.« 158<br />

Schiedssprüche wurden soweit ersichtlich bislang nicht veröffentlicht –<br />

dies widerspräche auch in gewisser Weise dem Grundsatz nicht-öffentlicher<br />

Abwicklung des Schiedsverfahrens. Jedoch lassen sich aus öffentlichen Äußerungen<br />

und Veröffentlichungen der Hauptvertreter des islamischen<br />

Schiedswesens hinreichend aussagekräftige Rückschlüsse ziehen.<br />

Das betreibende Islamic Institute of Civil Justice sieht sich offenbar in<br />

einer breiteren muslimischen Tradition, was sich bereits in der parallelen<br />

Namensgebung »Darul Qada« (»Gerichtshaus«) ausdrückt. Angesichts der<br />

Herkunft des Gründers Syed Mumtaz Ali vom indischen Subkontinent 159 ,<br />

wo bereits seit den 20er Jahren in Bihar und Orissa Schlichtungsinstanzen<br />

unter dieser Bezeichnung betrieben werden, scheint die Namensgebung<br />

kein bloßer Zufall zu sein.<br />

Die Begründung für die Notwendigkeit einer spezifi sch muslimischen<br />

Schiedsgerichtsbarkeit in Familienrechts- und Personenstandssachen aus<br />

der in Anspruch genommene Ehemann nach Erfahrungen aus erster Ehe weitere Verpfl ichtungen<br />

aus seinem Vermögen explizit vermeiden wollte).<br />

155 Dies wird nach islamischem Recht auch neuerer Ausformung z. B. beim Scheidungsverlangen<br />

der Ehefrau in Form des khul’ notwendig, vgl. hierzu Mathias Rohe, Das neue ägyptische<br />

Familienrecht: StAZ 2001, 193 (203 ff.); ders., The Application of Islamic Norms in<br />

Europe: Reasons, Scope and Limits: Canadian Diversity Vol. 4:3 (2005) 39 (43). Solche Fälle<br />

gibt es nach Auskunft einschlägig befasster Muslime auch in Nordamerika.<br />

156 Zitiert bei Ron Gray, Bringing Islamic law into Canada, Christian Heritage Party,<br />

CHP Archive vom 21. 1. 2004, .<br />

157 Boyd 109 ff.<br />

158 Wiedergegeben von Mona Eltahawy, Ontario must say ›no‹ to Islamic law: Christian<br />

Science Monitor vom 2. 2. 2005, . Vergleichbar auch die Presseerklärung des Muslim Canadian Congress vom 26. 8.<br />

2004 »Shariah based Arbitration Racist and Unconstitutional«, .<br />

159 Vgl. zu seiner Biographie die Ausführungen in »Our president«, . Es ist bemerkenswert, dass Syed Mumtaz Ali seine wissenschaftliche<br />

Ausbildung von Lehrern der äußerst traditionalistischen Deoband-Schule erhalten<br />

hat.


490 mathias rohe RabelsZ<br />

Sicht der Betreiber richtet sich in zunächst eher abstrakter Weise gegen das<br />

geltende kanadische Recht. Auf der FAQ-Liste, die auf einem Interview mit<br />

Syed Mumtaz Ali aus dem Jahr 1995 beruht, wird Folgendes ausgeführt 160 :<br />

»For Muslims, Personal/Family law (PFL) is a key ingredient which helps<br />

the individual and the community struggle towards harmonious equilibrium.<br />

Muslim PFL governs fundamental aspects of individual and community<br />

affairs [. . .]. Muslim PFL is rooted in and derived from the most basic<br />

sources of Islamic law – namely, the holy Qur’an and the Sunnah of the<br />

Prophet [. . .]. Again and again, Muslims are informed in the Qur’an that one<br />

cannot consider oneself a Muslim [. . .] unless one follows the guidelines,<br />

counsel, and principles related to us through the Qur’an and the Prophet<br />

Muhammad [. . .].«<br />

Damit wird die Bedeutung des muslimischen Personenstandsrechts als<br />

zentrales identitätsstiftendes Element für Individuen wie auch die muslimische<br />

Gemeinschaft herausgestellt. Es wird durch geschickte Wortwahl<br />

eine untrennbare Verbindung zwischen den allgemein anerkannten Quellen<br />

Koran und Prophetenüberlieferung einerseits und der über die Jahrhunderte<br />

entwickelten, höchst vielgestaltigen Ausformung von Personenstands- und<br />

Familienrechtsregeln andererseits hergestellt. Zugleich wird erkennbar, dass<br />

die Verfasser denjenigen, der diesem Recht nicht folgen will, nicht als (guten)<br />

Muslim anerkennen. 161<br />

In den folgenden Ausführungen wird der Gegensatz 162 zum kanadischen<br />

Recht herausgearbeitet, zunächst recht allgemein unter 3.:<br />

»In accordance with the holy Qur’an and the Sunnah of the Prophet Muhammad<br />

[. . .], we have mounted a campaign which would meet the needs of<br />

all Canadian Muslims, because right now we cannot meet those needs<br />

through Canadian secular law as it presently stands.«<br />

Später (unter 8., kursorisch auch unter 11., 12. und 13.) wird angesprochen,<br />

in welchen Bereichen Gegensätze gesehen werden. So wird empfohlen,<br />

das kanadische Recht dahingehend zu ändern, dass marriage offi cers auch<br />

für Scheidungen zuständig werden und dass die einjährige Trennungsfrist<br />

160 Syed Mumtaz Ali unter 1.<br />

161 In diese Richtung gehen auch die Ausführungen von Syed Mumtaz Ali unter 5.: »As<br />

Canadian Muslims, you have a clear choice. Do you want to govern yourself by the personal<br />

law of your own religion, or do you prefer governance by secular Canadian family law? If you<br />

choose the latter, then you cannot claim that you believe in Islam as a religion and a complete<br />

code of life actualized by a Prophet who you believe to be a mercy to all. [. . .] You cannot shirk<br />

from your religious and moral duty to try for what can be achieved lawfully within the parameters<br />

of the Canadian democratic system and constitutional legal rights.«<br />

162 Syed Mumtaz Ali unter 3. Der Abgeordnete Milloy hat in der Parlamentsdebatte in Ontario<br />

(2. Lesung vom 28. 11. 2005, abrufbar unter denn auch beklagt, dass einer der<br />

Befürworter in einer Fernsehdiskussion mit ihm kanadisches und islamisches Recht in einen<br />

strukturellen Gegensatz (»juxtaposition«) gebracht habe.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

491<br />

bei Konsensualscheidungen 163 aufgehoben wird und dass Fälle der Intestaterbfolge<br />

bei Muslimen muslimischen Schiedsgerichten zugewiesen werden.<br />

Eine inhaltliche Begründung, weswegen gerade in diesen Bereichen Sonderregelungen<br />

getroffen werden sollen, erfolgt nicht. Sie ergibt sich aber aus<br />

einem Vergleich zwischen traditionellen islam-rechtlichen Regelungen,<br />

welchen Syed Mumtaz Ali und das Darul Qada offenbar folgen, und dem<br />

kanadischen Recht. So kennt das islamische Recht ein einseitiges begründungsloses<br />

Scheidungsrecht des Ehemannes (talaq), in seiner traditionellen<br />

Form nach den sunnitischen Rechtsschulen ohne Formalitäten, während<br />

Ehefrauen nur unter sehr erschwerten Bedingungen eine Scheidung herbeiführen<br />

können. Gerade in Indien sorgt <strong>dieses</strong> Scheidungsrecht für ständige<br />

Auseinandersetzungen: Nach der herrschenden hanafi tischen Rechtsschule<br />

ist sogar eine entgegen den koranischen Regeln sofort hintereinander dreimalig<br />

ausgesprochene Scheidung wirksam 164 , dies selbst dann, wenn der<br />

Ehemann z. B. betrunken war. In mehreren Fällen haben Ortskleriker das<br />

betreffende Ehepaar daran gehindert, die Ehe fortzusetzen, obgleich beide<br />

Beteiligten dies wünschten, was für große Empörung in der Öffentlichkeit<br />

gesorgt hat. 165 Dass ein solches Scheidungsrecht – schon wegen seiner Einseitigkeit<br />

– weder mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter<br />

noch mit dem Schutz von Ehe und Familie vereinbar ist, bedarf<br />

keiner weiteren Begründung. 166<br />

Die geforderte Regelung der Intestaterbfolge richtet sich offenbar gegen<br />

den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter bei Bemessung der<br />

Erbanteile. Das islamische Recht kennt hier äußerst komplexe Regelungen,<br />

die freilich weiblichen Hinterbliebenen (z. B. Ehefrauen und Töchtern) nur<br />

die Hälfte dessen zumessen, was vergleichbare männliche Hinterbliebene<br />

erben würden. Auch bestehen gesetzliche Erbberechtigungen bestimmter<br />

Angehöriger. Zudem wird die Testierfreiheit auf 1/3 des Nachlasses beschränkt,<br />

wobei mehrheitlich die Meinung vertreten wird, dass zugunsten<br />

gesetzlicher Erben nicht testiert werden darf. 167 Desweiteren kennt das isla-<br />

163 Vgl. s. 8(2)(a) Divorce Act, R. S. C., 1985, c. 3 (2nd Supp.).<br />

164 Diese Ansicht fi ndet sich auch im »Muslim Handbook« des in Kanada lebenden muslimischen<br />

Aktivisten Mubarak Ali 297. Er bezeichnet das als Konsequenz der Dummheit des<br />

Ehemannes. Die Perspektive der dann vielleicht gegen ihren Willen geschiedenen Ehefrau<br />

scheint nicht zu interessieren.<br />

165 Bericht in der Sunday Hindustan Times vom 23. 4. 2006, S. 6.<br />

166 Vgl. hierzu Mathias Rohe, Muslim Minorities and the Law in Europe, Chances and<br />

Challenges (New Delhi 2007) 121 ff.<br />

167 In Kanada ist einschlägige englischsprachige Literatur erhältlich, die bereits entsprechende<br />

Formulierungsvorschläge enthält und sich ausdrücklich an Muslime in nicht-islamischen<br />

Ländern wendet; vgl. Muhammad al-Jibaly, Inheritance, Regulations and Exhortations<br />

2 (Arlington u. a. 2005) Preface S. XXIV und S. 99; Kareem M. Irfan/M. Nasrul Huq, Islamic<br />

Estate Planning Using Wills and Living Trusts, in: Muslims and Islamization in North<br />

America: Problems & Prospects, hrsg. von Amber Haque (Beltsville, Md. 1999) 331 ff.


492 mathias rohe RabelsZ<br />

mische Recht Erbverbote zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, zweifellos<br />

ein Verstoß gegen die Religionsfreiheit, nach schiitischem Recht sogar<br />

in der einseitigen Form eines Erbverbots nur zu Lasten von Nicht-Muslimen.<br />

168 Unter 13. wendet man sich gegen die Möglichkeit staatlicher Betreuungsmaßnahmen<br />

für Betreuungsbedürftige, die nach dem Rechtsverständnis<br />

der Verfasser offenbar ausschließlich in den Händen der nach islamischem<br />

Recht zuständigen Familienmitglieder (bzw. in der Kompetenz<br />

der islamischen Schiedsgerichtsbarkeit, vgl. 22. 169 ) liegen sollen.<br />

Schließlich wird deutlich, dass Syed Mumtaz Ali und das Darul Qada das<br />

geltende kanadische Recht zwar als »Gast« im Lande gemäß der traditionellen<br />

islam-rechtlichen Doktrin 170 einhalten, es aber insgesamt ablehnen,<br />

soweit es im Gegensatz zum (traditionellen) islamischen Recht steht. So<br />

heißt es etwa: »If we prefer to disregard our religious duty to strive for inclusion<br />

of our rights within the Canadian system, then Canadian secular law<br />

will take precedence over the Law of Allah and His Messenger.« 171 Zum<br />

Thema der in Kanada grundsätzlich verbotenen Polygamie 172 wird unmissverständlich<br />

ausgeführt: »I stand on the Shariah which states that a Muslim<br />

living in a non-Muslim country must obey to Muslim Law to every extent<br />

possible, and that we must also adhere to the laws of the host country. Therefore,<br />

we accede to the Canadian Law on this point without accepting its<br />

superiority or supremacy over Muslim Law.«<br />

All dies legt den Schluss nahe, dass aus Sicht von Syed Mumtaz Ali die<br />

Einrichtung eines islamischen Schiedswesens im Bereich des Familien- und<br />

Personenstandsrechts nicht etwa ein abschließendes Projekt darstellt, sondern<br />

nur einen ersten Schritt in Richtung auf die weitestmögliche Einrichtung<br />

einer Parallelrechtsordnung, während andere Muslime wie z. B. Ahmad<br />

168 Vgl. Heiko Thoms, Nichtmuslimische Minderheiten im iranischen Erbrecht, in: Beiträge<br />

zum Islamischen Recht, hrsg. von Silvia Tellenbach/Thoralf Hanstein IV (2004) 77 (81 ff.).<br />

169 Syed Mumtaz Ali unter 22.: »(d) If a Muslim were to become incapable of conducting<br />

his affairs, either fi nancially or physically, then substitute decisions could be provided by arbitration<br />

boards in accordance with the provisions of the Muslim law.«<br />

170 Vgl. Rohe, Sharı - ’a Rules (oben N. 29) 346 ff.<br />

171 Syed Mumtaz Ali unter 15. Noch schärfer formuliert der Vizekanzler der Universität<br />

von Medina, Abdul Muhsin bin Hamd al-Abbad in seinem Traktat »The Islamic Shari’ah and the<br />

Muslims« (übersetzt aus dem Arabischen von Muhammad Saeed Siddiqi) (Lahore 1979) 32: »[. . .]<br />

the Muslims by adhering to the Islamic Shari’ah can dominate other nations and [. . .] their<br />

indifferent attitude to Islam is bound to drag them into the mire of ignominy and disgrace<br />

[. . .]. When the Muslims whom Allah had given prestige and honour due to their acting upon<br />

the decrees of Allah ignored the Commandments of Allah and depended upon the man-made<br />

laws and resolved their issues in the light thereof, dishonour and disgrace fell to their lot. What<br />

more dishonour and disgrace could be than that which the Arabs are suffering at the hands of<br />

the Jews today.«<br />

172 Syed Mumtaz Ali unter 28. Vgl. D.-Castelli/Goubeau (oben N. 63) 45 ff.; ausführlich zur<br />

Thematik der Sammelband: Polygamy in Canada: Legal and Social Implications of Policy<br />

Research Reports (Ottawa 2005).


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

493<br />

Kutty aus Toronto mit den Worten zitiert werden: »No one in his right<br />

mind would propose implementing this system of laws [sc.: the Sharia] in<br />

Canada« 173 . So wird in der FAQ-Liste unter 4. ausgeführt »We live in a non-<br />

Muslim country which subjects us to laws which, for the most part, do not<br />

allow us to live our faith to the best of our ability. Confi ning our campaign<br />

to those areas where the Canadian judicial system could accommodate Muslim<br />

minority concerns is far more feasible, realistic and practical than other<br />

areas of the Shariah. Family relationship is just such an area, in that while it<br />

does not make it necessary for Canadians to sacrifi ce the fundamental principles<br />

upon which the country was founded, it does enable the Canadian<br />

Muslims to have recourse to legal problem-solving based upon the Shariah.«<br />

Die Betreiber sehen also einen – nicht näher ausgeführten – fundamentalen<br />

Gegensatz zwischen einigen Teilen der Scharia und kanadischem Recht und<br />

beschränken sich (nur) aus Praktikabilitätsgründen auf vermeintlich wenig<br />

sensible Bereiche.<br />

Bemerkenswert ist, dass Familien- und Personenstandsrecht aus muslimischer<br />

Sicht als eine Materie gesehen wird, die sowohl Individualinteressen<br />

als auch diejenigen der Religionsgemeinschaft berührt. Andererseits<br />

wird aber die größere Rechtsgemeinschaft Kanadas mit ihren Verfassungswerten<br />

von Gleichberechtigung der Geschlechter und Religionen als »interessiert«<br />

ausgeblendet, dies entgegen der einschlägigen kanadischen Gesetzgebung<br />

174 und Rechtsprechung 175 . Vielmehr wird die multikulturelle Verfassung<br />

in Verbindung mit dem Vorbild der mehrheitlich muslimischen<br />

Staaten oder auch Indiens, welche in diesen Rechtsbereichen religiös-rechtliche<br />

Autonomie kennen, als Grundlage für die Forderung nach weitreichender<br />

Autonomie benutzt. Bei manchen mag aufgrund von Erfahrungen<br />

aus dem Herkunftsland staatliche Intervention in diesen Rechtsbereichen in<br />

der Tat ungewohnt erscheinen. So kann etwa in Indien der bloße Wunsch<br />

nach – zulässiger, aber wenig üblicher – staatlicher Registrierung einer Ehe<br />

die Frage auslösen, ob denn die ansonsten »zuständige« Familie mit dieser<br />

Eheschließung nicht einverstanden ist. 176<br />

Der – meines Erachtens zu hohe – Preis solcher Autonomie wäre aber die<br />

Außerkraftsetzung der Grundsätze der Gleichberechtigung der Geschlechter<br />

und Religionen in einem sehr sensiblen und, anders als viele Materien des<br />

173 »Islamic group against Ontario use of Sharia law« (oben N. 108).<br />

174 In Art. 2639 Code civil du Québec über Schiedsgerichtsbarkeit fi ndet sich die Formulierung<br />

»family matters or other matters of public order«.<br />

175 Der Ontario High Court hat in Baxter v. Baxter (1983), 6 D. L. R. (4th) 557 (559 f.)<br />

entschieden, dass das einen Ehegatten betreffende religiöse Scheidungsverbot nicht zu einem<br />

Ausschluss der Anwendbarkeit des staatlichen Divorce Act führen kann, weil die Ehe nicht<br />

nur die Beteiligten selbst betreffe, sondern auch grundlegende Interessen der Gesellschaft.<br />

176 Bericht von Professor Shalini Raneria bei einer Tagung in Brüssel zum Thema »The<br />

Response of State Law to the Expression of Cultural Diversity« am 29. 9. 2006.


494 mathias rohe RabelsZ<br />

Rechts, jedermann betreffenden Rechtsbereich. 177 Hierzu ist zu bemerken,<br />

dass in vielen – wenngleich durchaus nicht allen – Teilen der islamischen<br />

Welt seit langem Reformen durchgeführt werden, die insbesondere die<br />

Rechtsposition von Frauen im Familien- und Personenstandsrecht verbessern<br />

sollen. Solche Reformen werden von den meisten Gesetzgebern mit<br />

(von Traditionalisten oft angefeindeten) Scharia-rechtlichen Begründungen<br />

durchgesetzt. Wer also den religiösen Standpunkt vertritt, dass Gleichberechtigung<br />

der Geschlechter und Religionen auch die Botschaft des Islam<br />

sei 178 , kann das geltende Recht getrost als im Geiste »islamisch« akzeptieren,<br />

und es bedarf keiner Änderungen. Wer hingegen dem traditionellen islamischen<br />

Familien- und Personenstandsrecht mit seiner strengen Geschlechterrollenzuweisung<br />

und seinem Superioritätsanspruch über andere Religionen<br />

folgt, kann darin kaum die Unterstützung von Rechtsordnungen suchen,<br />

welche dieser Haltung diametral gegenüberstehen. Zwar können<br />

Individuen grundsätzlich auf ihnen zustehende Rechte verzichten, und die<br />

Schiedsgerichtsbarkeit kann nur dann aktiv werden, wenn alle Beteiligten<br />

sich ihr freiwillig unterwerfen. Anders als bei völlig informellen Schlichtungsmechanismen,<br />

auf die der Staat keinen Einfl uss hat, geht es hier aber<br />

um ein System der gesetzlich geregelten Kooperation und Aufgabenverteilung.<br />

Damit begibt sich der Staat und seine Rechtsordnung in die Nähe<br />

solcher Instanzen, die als eine Form der staatlichen Approbation auch der<br />

<strong>Inhalt</strong>e verstanden werden kann. Es geht auch nicht nur um Fälle grenzüberschreitender<br />

Rechtsanwendung, in denen aus Praktikabilitäts- und Vertrauensschutzgründen<br />

die Anwendung von fremden Rechtsnormen in gewissem<br />

Umfang hingenommen wird, auch wenn sie grundsätzlich nicht<br />

dem im Lande geltenden Standard entsprechen (vgl. dazu oben II.1.), sondern<br />

um »Inlandsfälle«, welche die Rechtsgemeinschaft unmittelbar berüh-<br />

177 Vgl. zur Parallelproblematik des »get« im jüdischen Ehescheidungsrecht Michael Freeman,<br />

Is the Jewish ›Get‹ any Business of the State?, in: Law and Religions, hrsg. von Richard<br />

O’Dair/Andrew Lewis (Oxford 2001) 365 (377 ff.) (Current legal issues, 4) mit weiteren Nachweisen.<br />

Ein gewisser Unterschied liegt allerdings darin, dass ein get nur höchstpersönlich<br />

ausgesprochen werden kann, während der talaq durch richterliche Entscheidung ersetzungsfähig<br />

ist; vgl. zum Problem der Erzwingung des get Rachel Biale, Women and Jewish Law (New<br />

York 1984) 97 ff. Zudem scheint es soziale Druckmechanismen zu geben – z. B. Demonstrationen<br />

von Frauen vor dem Büro des unwilligen Ehemannes –, um den get herbeizuführen; vgl.<br />

Gabrielle Atlan, Les juifs et le divorce (Bern u. a. 2002) 236. Immerhin ist bemerkenswert, dass<br />

im Vereinigten Königreich auch von jüdischer Seite die Einführung religiösen Scheidungsrechts<br />

gefordert wurde; vgl. Bernard Berkovits, Get an Talaq in English Law, Refl ections on<br />

Law and Policy, in: Islamic Family Law, hrsg. von Chibli Mallat/Jane Connors (London usw.<br />

Nachdruck 1993) 119 ff. (141 ff.).<br />

178 Vgl. nur Riffat Hasan, Rights of Women within Islamic Communities, in: Religious<br />

Human Rights in Global Persepective, hrsg. von John Witte Jr./Johan D. van der Vyver (The<br />

Hague u. a. 1996) 361 ff. sowie die Nachweise bei Rohe, Der Islam (oben N. 143) 53 ff. Ebenso<br />

die Aussage von Alia Hogben, Excecutive Director des Canadian Council of Muslim Women,<br />

bei einem Gespräch mit dem Verfasser am 14. 9. 2006 in Kingston.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

495<br />

ren. Sie unterliegen folgerichtig dem notwendigerweise engeren inländischen<br />

ordre public: Die friedenserhaltende Hauptfunktion der Rechtsordnung<br />

kann nur dann gewährleistet werden, wenn in sozial sensiblen<br />

Rechtsbereichen ein Minimum an einheitlichen Regeln festgelegt und<br />

durch gesetzt wird. Zudem wird der Druck auf Mitglieder der community<br />

mittelbar erhöht: So hat Syed Mumtaz Ali mehrfach geäußert, angesichts der<br />

nunmehr bestehenden Möglichkeiten einer am islamischen Recht orientierten<br />

Streitbeilegung gebe es keine Scharia-rechtliche Entschuldigung<br />

mehr, dies zu unterlassen. 179<br />

Eine gewisse Brisanz liegt im Übrigen in dem selbstformulierten Auftrag<br />

der FAQ-Liste (unter 16.), unter anderem durch Bildungsmaßnahmen Muslime,<br />

insbesondere die Jugend, an die islamischen Familien- und Personenstandsregelungen<br />

heranzuführen und ihre Bedeutung klarzumachen.<br />

Auch ist die in Kanada vertriebene Literatur zu erheblichen Teilen<br />

geeignet – und zum Teil auch erkennbar darauf gemünzt –, Muslime in<br />

Gegensatz zu westlichen Rechtsvorstellungen zu bringen. So ist es bemerkenswert,<br />

dass ein erheblicher Teil der in kanadischen Bildungszentren,<br />

Moscheen und islamischen Buchhandlungen erhältlichen Literatur nicht in<br />

englischer Sprache verfasst ist, sondern in Urdu, Arabisch etc. 180 Die englischsprachige<br />

Literatur besteht zu ganz erheblichen Teilen aus Übersetzungen<br />

von Werken islamistischer Vordenker wie Maududi 181 und Sayyid<br />

Qutb 182 oder aber aus Werken, in denen die angeblich rein materialistische,<br />

179 Wiedergegeben in: »Canada Moves Toward Accepting Islamic Sharia Settlements«,<br />

Friday Magazine vom 12. 12. 2003, , sowie beim Gründungskongress des Islamic Institute<br />

for Civil Justice am 21. 10. 2003 in Etobicoke, Ont.; vgl. »First Steps taken for Islamic arbitration<br />

board (Canada)«, Law Times News vom 25. 11. 2003 ( Jady van Rhijn), .<br />

180 Beobachtungen des Autors beim Besuch einer Vielzahl solcher Einrichtungen im<br />

Herbst 2005 sowie während eines Forschungsaufenthalts von Juli bis September 2006 in<br />

Montréal, Ottawa, Groß-Toronto, Vancouver, Calgary und Québec.<br />

181 Bei Maududis, Towards Understanding Islam (Ausgabe Scarborough 2003) 137, kann<br />

man etwa nachlesen: »And in Jihad, he [sc.: der gläubige Muslim] sacrifi ces money, material<br />

and all he has – even his own life. [. . .] In Jihad a man takes away life and gives it away solely<br />

in the cause of Allah.« Die Bedeutung von Jihad wird (ebd. 124) als »[. . .] a war that is waged<br />

solely in the name of Allah against those who practice oppression as enemies of Islam« defi -<br />

niert, was jedenfalls nach klassischer Lesart, der Maududi offenbar folgt, nicht als nur defensive<br />

Verteidigung gegen Angriffe zu interpretieren ist; vgl. hierzu Rudolph Peters, Jihad in<br />

Classical and Modern Islam (Princeton 1996). Die Konvertitin Jamilah Kolocotronis, Lehrerin<br />

an einer islamischen Schule in Kansas City, führt in ihrem breit auf Maududi und andere<br />

Extremisten gestützten Werk »Islamic Jihad, An Historical Persepective« (Indianapolis 1990)<br />

124 f. aus, dass sich die Grundlagen des Jihad über die Geschichte nicht geändert hätten, dass<br />

der militärisch-expansive Jihad aber heutzutage gefährlich sei, und dass die technologischen<br />

Fortschritte in Information und Kommunikation andere Mittel des Jihad ermöglichten.<br />

182 In dem Einführungsbändchen von Mohamed Ibrahim Elmasry, 1,000 Questions On Islam<br />

(Reprint New Delhi 2005), werden z. B. die Korankommentare von Maududi und Qutb


496 mathias rohe RabelsZ<br />

individualistische, säkulare und moral- und wertungebunden-rationalistische<br />

westliche Kultur scharf von der angeblich rein religiös-wertorientierten<br />

islamischen Weltsicht abgegrenzt wird183 , während Werke liberaler Autoren<br />

sehr selten auftauchen. 184<br />

184 184Nicht zuletzt ansprechend aufgemachte und offenbar subventionierte Literatur<br />

aus saudi-arabischen Quellen185 ist hier zu nennen. So wird in Toron-<br />

besonders hervorgehoben (S. 15 f., questions 124–127). Dass die frühislamische Eroberung<br />

Zentralasiens und des Sudan sowie die Eroberung Konstantinopels 1453 als »liberation« bezeichnet<br />

wird (question 19, S. 93, question 69, S. 97), verwundert dann kaum. Die rechtlichen<br />

Fragen zum Geschlechterverhältnis werden entsprechend der traditionellen Rollenverteilung<br />

beantwortet, wobei die erleichterte Scheidung für Frauen im Wege des khul’ sinngemäß befürwortet<br />

wird (question 11 ff., S. 107 ff., question 73, S. 113). In question 105, S. 117 wird<br />

dann ausgeführt, dass der Islam die Todesstrafe für Mord, illegalen Geschlechtsverkehr Verheirateter<br />

und für Abfall vom Islam nach freiwilliger Annahme befürworte. Der Verfasser lebt<br />

seit 1968 in Kanada, ist Professor für Electrical and Computer Engineering an der University<br />

of Waterloo, Ontario, und laut Buchumschlag »active in Islamic teaching to English-speaking<br />

Muslims and Non-Muslims«. In dem Werk von Sayyid Qutb, Milestones (Indianapolis 1990)<br />

47 f., heißt es: »Preaching alone is not enough to establish the dominion of Allah on earth, to<br />

abolish the dominion of man, to take away sovereignty from the usurper and return it to Allah,<br />

and to bring about the enforcement of the Divine shari’ah and the abolition of man-made<br />

laws.«<br />

183 Exemplarisch Shujaat A. Khan (Professor of Economics, St. John’s University, New<br />

York!), A Critical Review of Islamization of Knowledge in the American Perspective, in:<br />

Muslims and Islamization in North America (oben N. 28) 49 (51 f.). Massiv geht es dann im<br />

Schlusskapitel von Saiyad Fareed Ahmad/Saiyad Nizamuddin Ahmad, American Muslims at the<br />

Millenium and Beyond unter der Überschrift »The Clash of Civilizations, – The Crash of<br />

Western Civilization, – and Civilizational Dialogue« weiter: »Under the euphemism of a<br />

›fundamentalist threat‹, the Western powers, in their sinister alliance with international hegemonist<br />

Zionism are trying to demonize Islam wherever they can«, ebd. 399, 416; in der<br />

Tendenz vergleichbar die folgenden Werke: Muhammad Samiullah, Muslims in Alien Society<br />

(Lahore 1982): »[. . .] in all those societies where non-Muslims dominate, Muslims are generally<br />

subjected to discrimination as a consequence of being Muslims [. . .]; Muslim minorities<br />

can survive best by developing and putting into action the Islamic way of life to the fullest<br />

extent [. . .] Muslims have been given the leadership of mankind and our duty as leaders, not<br />

imitators, is to establish the right and eradicate the wrong. [. . .] Among problems confronting<br />

Muslims living in non-Muslim countries especially in the West, the one most acute is how to<br />

raise the new generation [. . .] amidst a hostile, materialistic, atheistic culture« (Preface S. III,<br />

IV, V); Abul Hasan Ali Nadwi, Western Civilization, Islam and Muslims 5 (Lucknow 1982) (ins<br />

Englische übersetzt von Mohammad Asif Kidwai); Maryam Jameelah, Western Imperialism<br />

menaces Muslims (Lahore 1978/2000) (23: »[. . .] what is today being exported from Europe<br />

and America and Asia is merely the rubbish from the collapse of Western civilization along<br />

with the deadly poisons of atheism and materialism«); Bilal Philips, Clash of Civilizations, An<br />

Islamic View (Qatar 2004) (z. B. fi ndet sich neben grundlegender Demokratiekritik [S. 27 ff.]<br />

auf S. 29 der Satz »[. . .] the social consequence of secular democracy and its basic principles is<br />

the removal of any foundation for stable morals in society.«). Vgl. auch die Nachweise in<br />

N. 184.<br />

184 Vertreter liberaler Organisationen berichten davon, dass es ihnen regelmäßig untersagt<br />

wird, ihre Materialien und Ankündigungen in solchen Läden bzw. den angeschlossenen Moscheen<br />

auszulegen.<br />

185 Vgl. zur wahhabistischen Indoktrination in nordamerikanischen Moscheen und Zen-


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

497<br />

to ein Buch mit dem Titel »Man-Made Laws vs. Shari’ah« 186 in einer englischen<br />

Übersetzung vertrieben, in dem der vormalige Mufti von Saudi<br />

Arabien ausgiebig zitiert wird. Unter anderem fi nden sich dort Ausführungen,<br />

dass der Muslim zum Ungläubigen (kafi r) werde, wenn er glaube,<br />

dass weltliche Gesetzgebung besser sei als die islamische Scharia oder ihr<br />

gleichkomme, oder dass es zulässig sei, sich ihrem Urteil zu unterwerfen (»to<br />

refer to them for judgment«), oder dass das islamische System nur auf die<br />

Beziehung zwischen Gott und dem Menschen beschränkt sei, oder dass<br />

Gottes Gesetze hinsichtlich des Handabschneidens bei Dieben oder des Steinigens<br />

Verheirateter, die außerehelichen Geschlechtsverkehr betreiben,<br />

nicht in die gegenwärtige Zeit passten 187 . Auch auf der Website der Muslim<br />

Youth Canada, die auf reichhaltige islamistische Quellen verweist, fi ndet<br />

sich eine apologetische Schrift von Taha Ghayyur 188 zum islamischen Strafrecht,<br />

die dessen allmähliche Einführung in Nordamerika propagiert. 189 Die<br />

tren auch Nina Shea, Conclusion: American Responses to Extreme Shari’a, in: Radical Islam’s<br />

Rules, The Worldwide Spread of Extreme Shari’a Law, hrsg. von Paul Marshall (Lanham u. a.<br />

2005) 195 (205 f.).<br />

186 Abdur-Rahmaan ibn Salih al-Mahmood, Man-Made Laws vs. Shari’ah, Ruling by Laws<br />

other that what Allah Revealed, Conditions and Rulings, übersetzt von V. Nasiruddin al-Khattab<br />

(Riad 2003).<br />

187 Abdur-Rahmaan ibn Salih al-Mahmood (vorige Note) 169; Zitate von Ibn Baaz. Vgl. zu<br />

diesem radikalen, in Saudi-Arabien und andernorts hochangesehenen Imam Stephen Schwartz,<br />

Shari’a in Saudi Arabia, Today and Tomorrow, in: Radical Islam’s Rules (oben N. 185) 19<br />

(32 ff.); vgl. auch Mathias Rohe, Islamisten und Schari’a, in: Islamismus, Diskussion eines vielschichtigen<br />

Phänomens, hrsg. von der Senatsverwaltung für Inneres, Abteilung Verfassungsschutz,<br />

Berlin (2005) 98 (111 f.).<br />

188 Taha Ghayyur, »Understanding Punishment in Sharia«, im Schlusskapitel »Shariah Today«,<br />

. Derselbe Autor kommt<br />

in dem muslimischen Jugendmagazin »aver« (Vol. 1 Issue 0) 2006, 21 mit einem Artikel über<br />

»In pursuit of knowledge« zu Wort, der mit folgender Passage unter der Überschrift »Selective<br />

Islam« (23) endet: »Some so-called ›progressive Muslims‹ have a hard time digesting certain<br />

aspects of Islam or Islamic sources that do not seem ›rational‹ or ›compliant‹ with our modern<br />

age. They pick and choose whatever they like. Due to this cut and paste method of learning<br />

they fail to see the bigger picture and deny Islamic law any role in our society. This leads to<br />

privatization of Islam to the domain of personal worship only.«<br />

189 Vergleichbar ausgerichtet ist auch ein Sammelband eines Aufsatzwettbewerbs der Federation<br />

of Students Islamic Societies in the UK and Eire (FOSIS): Essays on Islam, Winning<br />

Entries 1995 (London, Leicester 1995), in dem zum Thema »Lashing, stoning, mutilating:<br />

Islamic law is barbaric and outdated. Defend the case of Islam« apologetische Aussagen zum<br />

Nutzen von Körperstrafen und zur Verderbtheit des Westens dominieren. So wird in einem<br />

Aufsatz (S. 37) Sayyid Qutb mit der Aussage zitiert, der wahre Grund für die Ablehnung der<br />

Körperstrafen in Europa sei darin zu fi nden, dass sie »criminal in nature« seien und »persist in<br />

committing crimes which lack all justifi cation«. An anderer Stelle (S. 58 f.) wird ausdrücklich<br />

hervorgehoben, die entsprechenden Regelungen seien göttlich und gültig für alle Menschen<br />

zu allen Zeiten. Vergleichbar auch die in Kanada gedruckte Schrift von Abdallah Ibn Jarrallah<br />

Al-Jarrallah, La Responsabilité de la Femme Musulmane (übersetzt von V. Abdelfattah Bourouba)<br />

(Scarborough 2002) S. 69 unter 1., wo lapidar die Strafen für außerehelichen Geschlechtsverkehr<br />

eingefordert werden.


498 mathias rohe RabelsZ<br />

vergleichsweise breite Literatur zur »Frau im Islam« pfl egt weitestgehend ein<br />

jedenfalls in Rechtsfragen unrefl ektiert patriarchalisch-traditionelles, auf<br />

strenge Geschlechtertrennung ausgerichtetes Bild, das mit dem als ausufernd<br />

libertären und sittenlosen Leben im Westen in Gegensatz gebracht wird. 190<br />

Ein in der Hauptmoschee von Ottawa vertriebenes Werk der Majlisul Ulama<br />

of South Africa zum Erbrecht fordert deutlich dazu auf, die Rechtsordnung<br />

der Ungläubigen (kuffar) nicht anzuerkennen bzw. zu übernehmen<br />

und dort, wo es nötig wird, ihr formell zu folgen, materiell aber abweichende<br />

»glaubensgemäße« Regelungen zu treffen. 191 Wie viele Leser diese<br />

äußerst traditionalistische, teils auch extremistische Literatur erreicht, ist<br />

nicht abzuschätzen – die Mehrheit der muslimischen Bevölkerung wohl<br />

kaum. Für sie steht wohl eher die Aussage Shahnaz Khans, wonach die<br />

Konstruktion eines Gegensatzes zwischen »kanadisch« und »muslimisch« die<br />

Realität nicht treffe und im Grunde genau den rassistischen Vorurteilen<br />

entspreche, nach denen Muslime nicht Teil der kanadischen Gesellschaft<br />

sein können. 192<br />

190 Exemplarisch M. Mazheruddin Siddiqi, Women in Islam (Delhi 1993) z. B. 108 f., 117,<br />

118, Aboo Ibraheem ’Abdul-Majeed ’Alee Hasan, Islamic Family Guidelines (Hounslow 1998);<br />

’Abdur Rahman I. Doi, Woman in Shariah (London 1996; Nachdruck der Ausgabe von 1989)<br />

(hier werden z. B. auf S. 117 ff. die drakonischen Körperstrafen für illegalen Geschlechtsverkehr<br />

gepriesen) und die Broschüre von Sarah Sheriff, Women’s Rights in Islam (London 1989).<br />

Vgl. auch Abdallah Ibn Jarallah (vorige Note) 127 ff., wo ein grundsätzliches Verbot der außerhäuslichen<br />

Frauenarbeit postuliert wird, sowie 119 ff. mit Ausführungen zu den umfangreichen<br />

Gehorsamspfl ichten der Ehefrau gegenüber dem Ehemann. Bei Mahmood Ibraheem<br />

El-Geyoushi (oben N. 143) 162 wird die familienrechtliche Geschlechterrollenverteilung<br />

schlicht mit dem Hinweis gerechtfertigt, die Frau sei »on physical grounds« daran gehindert<br />

und nicht verpfl ichtet, zum Gelderwerb für den Familienunterhalt beizutragen. Im Folgenden<br />

(ebd. 163) werden dann Falschinformationen über angeblich mangelnde Unterstützungsverpfl<br />

ichtungen für junge Mädchen ab dem Alter von 16 Jahren nach europäischem Recht gegeben<br />

und dies in Kontrast zum islamischen Vorbild gesetzt (es sei darauf hingewiesen, dass in<br />

Kanada unter den 20–24jährigen mehr als die Hälfte der Frauen und ca. 2/3 der Männer bei<br />

ihren Eltern leben; vgl. D.-Castelli/Goubeau [oben N. 63] 4 mit weiteren Nachweisen). Das<br />

Werk von Saalih ibn Ghaanim al-Sadlaan, The Fiqh of Marriage in the Light of the Quran and<br />

Sunnah (übersetzt von Jamaal al-Din M. Zarbozo) (Boulder, Colo. 1999), enthält auf S. 122 ff.<br />

Ausführungen zu Pfl ichten der Ehefrau wie den Verbleib im Haus des Ehemanns und das<br />

Verbot, es ohne seine Erlaubnis zu verlassen, die Pfl icht, sich auf Anforderung in sein Bett zu<br />

begeben, niemanden ohne sein Einverständnis in »sein« Haus zu lassen, ihm zu dienen etc.<br />

191 Majlisul Ulama (of South Africa), Kitaabul Meerath, The Book of Inheritance (New<br />

Delhi 2000) 13, 17 f.<br />

192 Shahnaz Khan (oben N. 33) 62 f. Vgl. auch zu den vielfältigen Haltungen gegenüber<br />

Scharia und kanadischem Recht die Interviews bei Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor (oben<br />

N. 38) 74 f.


72 (2008)<br />

c) Die Debatte in Québec<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

499<br />

Anders als in Ontario lässt der Code civil du Québec Schiedssprüche in<br />

Personenstands- und Familiensachen nicht zu (Art. 2639 C.c.Q. 193 ). Im Jahr<br />

2005 fand eine parlamentarische Debatte statt 194 , ausgelöst durch die Vorgänge<br />

in Ontario. Eine Erweiterung des Schiedsverfahrensrechts spezifi sch<br />

im Hinblick auf islamisch-religiöse Einrichtungen wurde schließlich einstimmig<br />

abgelehnt (»Que l’Assemblée nationale du Québec s’oppose à<br />

l’implantation des tribunaux dits islamiques au Québec et au Canada.«). 195<br />

Prägnant war die Aussage der Initiatorin Fatima Houda-Pepin: »Les victimes<br />

de la charia [. . .] ont un visage humain, et ce sont les femmes musulmanes<br />

[. . .].« Die hoffnungsvolle Entwicklung einer Integration gerade in der jüngeren<br />

Generation von Muslimen dürfe nicht durch die Machenschaften einer<br />

islamistischen Minderheit zerstört werden. Insbesondere wurde darauf<br />

hingewiesen, dass die Einführung einer islamischen Schiedsgerichtsbarkeit<br />

nur ein Teil eines breiter angelegten Plans von Islamisten sei, ihre Ideologie<br />

weltweit durchzusetzen. Die Argumente in der Debatte, welche gegen die<br />

Anwendung islamischer Normen vorgetragen wurden, entsprechen im Wesentlichen<br />

denen der Gegner in der Diskussion in Ontario, so dass hier eine<br />

Wiederholung unterbleiben kann.<br />

Über die konkrete Auseinandersetzung hinaus wird spekuliert, dass angesichts<br />

der besonderen Situation Québecs als Stimme der frankophonen<br />

Minderheit die Anerkennung anderer Minderheiten dort auf größere Widerstände<br />

stoße als in anderen Teilen Kanadas. Es ist aber nicht nachweisbar,<br />

dass diese Sondersituation bei der Debatte über islamische ADR eine spürbare<br />

Rolle gespielt hat. Andererseits wäre es einer Untersuchung wert, ob<br />

die anders als in Ontario strukturierte, meist arabisch-frankophone muslimische<br />

Bevölkerungsgruppe vielleicht ihrerseits weniger an solcher ADR<br />

interessiert ist als die englischsprachigen, in Ontario schwerpunktmäßig ansässigen<br />

Muslime vom indischen Subkontinent mit seiner besonders starken<br />

Verwurzelung im islamischen Familien- und Personenstandsrecht.<br />

III. Zwischenergebnis und Ausblick<br />

Die Diskussion in Kanada hat sich, soweit sie überhaupt mit Fachfragen<br />

beschäftigt war, wenig mit den möglichen positiven Wirkungen religiöser<br />

193 »Disputes over the status and capacity of persons, family matters or other matters of<br />

public order may not be submitted to arbitration.«<br />

194 Québec, Assemblée nationale, Journal des débats, 26 mai 2005 (oben N. 106).<br />

195 Vgl. hierzu die heftige Kritik von Mohamed Nekili, A Historic Mistake in Quebec:<br />

Friday Magazine (des Canadian Islamic Congress) vom 9. 9. 2005, Vol. 8, Issue 74, .


500 mathias rohe RabelsZ<br />

Konfl iktbeilegung beschäftigt, sondern vor allem auf deren mögliche negative<br />

Auswirkungen auf Schwache konzentriert. Der einleuchtende Grund<br />

hierfür ist, dass der Anlass für die Debatte nicht bloße informelle, »nur« sozial<br />

wirksame Konfl iktbeilegungsmechanismen waren, sondern die Schiedsgerichtsbarkeit<br />

mit unmittelbarer Verbindung zu staatlichen Rechtsdurchsetzungsmechanismen.<br />

Es gibt aus zwei Gründen einen strukturellen Unterschied zwischen informeller<br />

religiöser Beratung und Mediation einerseits und religiöser<br />

Schiedsgerichtsbarkeit andererseits. Informelle Konfl iktlösungsmechanismen<br />

stehen grundsätzlich jedermann offen und berühren die Interessen von<br />

Staat und Gesamtgesellschaft erst dort, wo Menschen unter Zwang in ihren<br />

Rechten eingeschränkt werden. Wegen der mangelnden Formalität solcher<br />

Mechanismen steht den Betroffenen jederzeit und ohne Einschränkungen<br />

der Weg zu staatlichem Rechtsschutz offen. Insofern ist der Staat nicht unmittelbar<br />

in die Schlichtungsmechanismen involviert, sondern übt nur eine<br />

latente, aber im Bedarfsfall jederzeit zu aktivierende Wächterrolle aus.<br />

Bei der Schiedsgerichtsbarkeit hingegen sollen zwischen den Beteiligten<br />

möglichst rechtsverbindliche Ergebnisse erzielt werden, auch wenn ihre Anrufung<br />

selbst auf freiwilliger Basis zu erfolgen hat. Zudem setzt der Staat<br />

letztlich die dort gewonnenen Ergebnisse mit seinen eigenen Sanktionsmechanismen<br />

durch, wenngleich nicht uneingeschränkt. Dennoch ist die Kontrolldichte<br />

gegenüber rein staatlichen Entscheidungen deutlich geringer;<br />

ansonsten würde die Schiedsgerichtsbarkeit ja auch weitgehend sinnlos.<br />

Durch den Mechanismus, Schiedssprüche grundsätzlich zu vollstrecken, erteilt<br />

der Staat diesen eine Form staatlicher Anerkennung. Dies dürfte jedenfalls<br />

psychologisch nicht nur den konkreten »approbierten« Schiedsspruch<br />

betreffen, sondern das Anerkennungssystem generell. Das (religiöse)<br />

Schiedsgericht erhält damit eine Form staatlicher Approbation, die über eine<br />

bloße Duldung weit hinausreicht. Damit stellt sich für den Staat zugleich das<br />

Problem einer »Scheinidentifi kation« mit angewandten religiösen Normen,<br />

die inhaltlich von der staatlichen Rechtsordnung abweichen. Eine solche<br />

Anwendung kann auch indirekt erfolgen, indem z. B. Regelungen über Unterhaltszahlungen<br />

oder Erbeinsetzung auf der Grundlage diskriminierender<br />

religiöser Normen getroffen werden, ohne hierbei diese Normen ausdrücklich<br />

zu benennen. Beispiele aus dem Vereinigten Königreich zeigen, dass<br />

religiöse Normen insbesondere von Ehemännern in erpresserischer Weise<br />

gegen Ehefrauen genutzt werden, um diese zum Verzicht auf bestehende<br />

Rechte oder zu Zahlungen zu bewegen. 196<br />

Die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung von Schiedssprüchen<br />

196 Vgl. zur islamischen Schiedsgerichtsbarkeit die Nachweise bei Rohe, Das neue ägyptische<br />

Familienrecht (oben N. 155) 42 f.; zur jüdischen Schiedsgerichtsbarkeit Freeman (oben<br />

N. 177) 368 f.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

501<br />

ändert nichts Grundsätzliches an den eben beschriebenen Mechanismen.<br />

Wenn religiöse Schiedsgerichtsbarkeit als »Regel« anerkannt wird, ist die<br />

Überprüfung des Schiedsspruchs durch staatliche Gerichte die (zumindest<br />

psychologische) Ausnahme. Gerade der sozial schwächere Beteiligte wird<br />

sich gegen religiös begründete Entscheidungen einer staatlich »approbierten«<br />

Instanz, in deren Anrufung er einmal eingewilligt hat, nur schwer zur<br />

Wehr setzen können. Dies gilt insbesondere für einen Personenkreis, der<br />

aufgrund religiös-kultureller Verhaltensnormen ohnehin tendenziell darauf<br />

ausgerichtet ist, Konfl ikte »intern« zu bereinigen und nach außen Einigkeit<br />

zu demonstrieren. Zudem löst die staatliche »Approbation« bereits einen gewissen<br />

Druck aus, diese Instanz auch anzurufen, wenn dies nicht nur innerhalb<br />

der community als angemessenes Verhalten gefordert wird, sondern der<br />

Staat eine Art genereller »Unbedenklichkeitsbescheinigung« ausstellt. Mit<br />

den Worten Freemans: »[T]here are distinctions to be drawn between noninterference<br />

and active support, and also between toleration and endorsement.«<br />

197 Solange also nicht sichergestellt ist, dass die Anwendung religiöser<br />

Normen nicht mit dem Grund- und Menschenrechtsschutz der staatlichen<br />

Rechtsordnung in Widerspruch gerät (z. B. durch die Ausformulierung entsprechender<br />

religiös-rechtlicher Regeln in einem Kompendium und Gewährleistung,<br />

dass die involvierten Personen auch dieser Linie folgen), ist<br />

staatliche Beteiligung an religiöser Schiedsgerichtsbarkeit zumindest problematisch<br />

und meines Erachtens abzulehnen. Dies gilt ungeachtet dessen, dass<br />

entgegen verbreiteten Vorurteilen muslimische Frauen keineswegs als<br />

grundsätzlich schwach, unterdrückt und deshalb schutzbedürftig anzusehen<br />

wären. 198 Es genügt jedoch im vorliegenden Zusammenhang, wenn eine<br />

nennenswerte Gruppe – übrigens können auch Söhne betroffen sein – unter<br />

solch starkem sozialen Druck steht, dass der »Ausweg« zu staatlichen Instanzen<br />

faktisch verschlossen bleibt. Darin, dass es derart Betroffene in nicht<br />

unerheblicher Zahl gibt, waren sich indes sämtliche Gesprächspartner des<br />

Verfassers einig, auch wenn einschlägige wissenschaftliche Erhebungen fehlen.<br />

Insbesondere neu eingewanderte, mit den Lebensverhältnissen und<br />

Rechten der neuen Umgebung unvertraute, oft auch isoliert lebende Frauen<br />

dürften hier in Betracht kommen. Die Hauptpropagandisten der Islamic arbitration<br />

haben durch ihre zum Teil geradezu bedrohlichen öffentlichen Äußerungen<br />

die Entscheidung gegen ein religiöses Schiedswesen sicherlich<br />

wesentlich beeinfl usst. Die von manchen Vertretern muslimischer Organisationen<br />

und Wissenschaftlern gehegte – angesichts der agierenden Personen<br />

eher unrealistische 199 – Hoffnung, ein »Versuchsfeld« für die partielle Exis-<br />

197 Freeman (oben N. 177) 378.<br />

198 Vgl. hierzu Rohe, Das neue ägyptische Familienrecht (oben N. 155) 40; Bahkt.<br />

199 Etwas schlicht erscheint in diesem Zusammenhang die auf ein Zitat gestützte Argumentation<br />

Boyds (93). Sie will aus dem Umstand, dass die Betreiber der Islamic arbitration vor-


502 mathias rohe RabelsZ<br />

tenz eines entwickelten Islamischen Rechts 200 im Rahmen einer liberalen<br />

Verfassung unter Respektierung aller Beteiligten und mit Schutz für<br />

Schwache zu eröffnen, wurde damit zunichte gemacht.<br />

Die Debatte in Ontario kam mit der Ankündigung des Provinzgouverneurs<br />

Dalton McGuinty am 11. September 2005 201 , die religiöse Schiedsge-<br />

handene gesetzliche Möglichkeiten (einschließlich staatlicher Kontrolle in gewissem Umfang)<br />

nutzen, ableiten, dass sie sich in einen institutionellen Dialog mit dem Staat begeben; »In<br />

multicultural societies such as our own, this type of engagement ultimately aims at creating a<br />

genuine sense of shared identity, [and] social integration.« Hier scheint es sich aber eher um<br />

die Nutzung vorhandener Möglichkeiten zu weitestmöglicher Desintegration zu handeln.<br />

Noch prononcierter, aber mit wenig Problembewusstsein der Torontoer Politikwissenschaftler<br />

H. D. Forbes (Liberal Values and Illiberal Cultures, The Question of Sharia Tribunals in<br />

Ontario, Paper prepared for delivery at the Conference Citizenship-Ethnos-Multiculturalism,<br />

Canadian Embassy, Berlin, 8 November 2005, S. 9): Die Entscheidung in Ontario sei »a<br />

step away from the view that the fullest possible recognition of cultural differences, within the<br />

broadest possible understanding of liberal principles, can overcome the feelings of alienation<br />

and resentment of those living in the margins of a liberal society in which they are aliens and<br />

which does not really welcome their presence. [. . .] Instead, a step was taken in the direction<br />

of forced assimilation as the only realistic way to deal with scary Others.«<br />

200 In der Debatte wurde die Scharia von den Gegnern meist als strukturelles Gegenbild<br />

zum westlich-liberalen Rechtssystem und der Gleichberechtigung der Geschlechter stilisiert.<br />

Deutlich wird dies im Debattenbeitrag der Parlamentarierin Jocelyne Caron im Parlament von<br />

Québec am 26. 5. 2005 (oben N. 194) (S. 8716). Sie nimmt dort Bezug auf die Anwesenheit<br />

von Vertreterinnen Marokkos und die jüngst in Marokko erfolgten Familienrechtsreformen<br />

zugunsten von Frauen und schließt, es sei doch seltsam, dass in Kanada über die Einführung<br />

der Scharia debattiert werde, wenn zugleich in einem islamischen Staat gegen die Scharia<br />

gekämpft werde. Hier wird völlig ausgeblendet, dass die Reformen in Marokko als Reform<br />

innerhalb der Scharia konzipiert und verstanden wurden; vgl. hierzu auch Hans-Georg Ebert,<br />

Das neue Personalstatut Marokkos: Normen, Methoden und Problemfelder: Orient 46 (2005)<br />

609 (620, 630) sowie den Hinweis des Abgeordneten Michael Prue in der Parlamentsdebatte in<br />

Ontario (2. Lesung vom 28. 11. 2005, ).<br />

201 McGuinty wird mit den Worten zitiert: »There will be no Sharia law in Ontario.<br />

There will be no religious arbitration in Ontario. There will be one law for all Ontarians.« Die<br />

religiösen Schiedsgerichtsbarkeiten »threaten our common ground«. »Ontarians will always<br />

have the right to seek advice from anyone in matters of family law, including religious advice.<br />

But no longer will religious arbitration be deciding matters of family law«, vgl.: McGuinty<br />

rejects Ontario’s use of Shariah law and all religious arbitrations (Keith Leslie), Canadian Press<br />

vom 11. 9. 2005, . Ähnlich der Attorney<br />

General Michael Bryant in der Parlamentsdebatte vom 15. 11. 2005 (vorige Note): »[. . .]<br />

when it comes to family law arbitrations in this province, there is only one law in Ontario, and<br />

that is Canadian law. [. . .] Resolutions based on any other laws or principles would have no<br />

legal effect and would not constitute family arbitration.« Zur parlamentarischen Kritik über<br />

die Art der Debattenführung vgl. die Äußerungen der Abgeordneten Runciman (ebd.): »Sadly,<br />

the Attorney General allowed this issue to fester for month after month, turning it into a<br />

them-against-us controversy« und Peter Kormos (ebd.) : »[. . .] the Attorney General and this<br />

government have made a bad situation worse«; im Folgenden wird die ungenügende Ausstattung<br />

der staatlichen Gerichte kritisiert, die andere Lösungen erzwingt; vgl. hierzu auch die<br />

Kritik des Abgeordneten Jim Flaherty (2. Lesung vom 28. 11. 2005, ebd.).


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

503<br />

richtsbarkeit in Familiensachen wesentlich zu beschneiden (anders als in der<br />

öffentlichen Ankündigung wurde die religiöse Schiedsgerichtsbarkeit nicht<br />

etwa abgeschafft 202 ), zu einem vorläufi gen Abschluss. Durch den Family<br />

Law Act 2006 wurde diese Ankündigung umgesetzt. Gemäß s. 2.1.(1) des<br />

Ontario Arbitration Act in der Fassung von 2006 (Parallelregelungen in s.<br />

59 Ontario Family Law Act, R. S. O. 1990/2006) gelten für die Schiedsgerichtsbarkeit<br />

in Familiensachen der Arbitration Act und der Family Law<br />

Act, wobei gemäß subsection (2) letzterer sich im Konfl iktfall durchsetzt.<br />

Gemäß s. 2.2(1) werden Schiedsverfahren in Familiensachen durch dritte<br />

Personen, die nicht in völliger Übereinstimmung mit dem Recht Ontarios<br />

oder einer anderen kanadischen Provinz durchgeführt werden, nicht als<br />

Familienschiedsverfahren anerkannt, und Entscheidungen in solchen Verfahren<br />

wird jede rechtliche Wirkung abgesprochen. Section 3(2) erklärt die<br />

wesentlichen Regelungen des kanadischen Rechts (ausschließliche Anwendbarkeit<br />

kanadischen Sachrechts mit beschränkter Wahlmöglichkeit gemäß<br />

s. 32[4] unter den Sachrechten der kanadischen Provinzen sowie uneingeschränkte<br />

Möglichkeit zur gerichtlichen Überprüfung) in familienrechtlichen<br />

Schiedsverfahren für zwingend. Section 50.1. regelt die ausschließliche<br />

Vollstreckbarkeit von Schiedssprüchen in Familiensachen nach<br />

dem Family Law Act 2006.<br />

Gemäß s. 59.4 Ontario Family Law Act, R. S. O. 1990/2006, sind Schiedsvereinbarungen<br />

in Familiensachen nur dann durchsetzbar, wenn sie nach<br />

Entstehen der Streitigkeit geschlossen wurden. Section 59(6)(1)(b) verlangt<br />

zudem vorherige unabhängige rechtliche Beratung aller Beteiligten; dabei<br />

stellt sich nun das Problem, dass für Schiedsverfahren keine Prozesskostenhilfe<br />

gewährt wird, was armen Beteiligten den Weg in solche Streitschlichtung<br />

verschließt. 203 Section 2.2.(2) stellt klar, dass niemand gehindert ist, in<br />

solchen Dingen Rat von Dritten einzuholen. Informelle Verfahren ohne<br />

Rechtswirkungen nach kanadischem Recht 204 bleiben also möglich.<br />

Fraglich bleibt, inwieweit religiöse Normen in Familienschiedsverfahren<br />

weiterhin Anwendung fi nden. 205 Sie dürften wohl im Rahmen des ohnehin<br />

geltenden dispositiven Rechts anwendbar sein 206 , aber keinesfalls darüber<br />

202 So auch die Einschätzung von Professor Natasha Bakht, University of Ottawa, bei<br />

einem Gespräch am 14. 9. 2006 in Ottawa.<br />

203 Vgl. hierzu Bakht. Vertreterinnen muslimischer Frauenorganisationen fordern deshalb<br />

entsprechende gesetzliche Ergänzungen, so Alia Hogben, Executive Director des Canadian<br />

Council of Muslim Women bei einem Gespräch mit dem Verfasser am 14. 9. 2006 in Kingston.<br />

204 Es ist möglich, dass andere, religiös ausgerichtete Rechtsordnungen die Ergebnisse<br />

solcher Verfahren anerkennen. Zu solchen Verfahren von sunnitisch-muslimischer Seite vgl.<br />

den Bericht von Boyd 60 f.<br />

205 Darauf weist als eine von wenigen Stimmen Fidler hin (oben N. 102).<br />

206 So auch die Einschätzung von Professor Natasha Bakht, University of Ottawa, bei<br />

einem Gespräch am 14. 9. 2006 in Ottawa.


504 mathias rohe RabelsZ<br />

hinausreichen. Nicht restlos geklärt ist angesichts der vom Ministerpräsidenten<br />

deutlich geäußerten Intention, religiöse Schiedsgerichtsbarkeit abzuschaffen,<br />

ob Vereinbarungen in diesem Rahmen, die sich nicht nur inhaltlich,<br />

sondern auch explizit auf religiöse Normen beziehen, einer gerichtlichen<br />

Überprüfung standhalten. 207 Der Gesetzestext und die bisherige<br />

kanadische Rechtspraxis sprechen allerdings deutlich dafür. So bestünde<br />

nach wie vor die Möglichkeit, ein Schiedswesen mit den gesetzlichen Anforderungen<br />

entsprechend (vgl. s. 58[b] und [d] 208 des reformierten Family<br />

Law Act) ausgebildeten Schiedsrichtern zu etablieren, das solchen Interpretationen<br />

des islamischen Rechts folgt, die inhaltlich mit den Grundlagen des<br />

kanadischen Familienrechts übereinstimmen.<br />

Zudem wurde die oben genannte Abschluss-, <strong>Inhalt</strong>s- und Ergebniskontrolle<br />

eingeführt, wie sie auch für sonstige »domestic contracts« im Sinne<br />

von s. 51 Ontario Family Law Act, R. S. O. 1990/2006, gilt (vgl. ss. 59[5],<br />

33[4] für Unterhaltsvereinbarungen, s. 56[1]-[7] für domestic contracts genereller).<br />

Die bisherigen Betreiber der Islamic arbitration haben die Neuregelung im<br />

Gesetzgebungsverfahren als Kapitulation vor anti-islamischen Kräften heftig<br />

kritisiert, scheinen also wenig Interesse daran zu haben, auf ihrer Basis<br />

die Arbeit fortzusetzen. Diejenigen Muslime, welche sich nur aus dem Aspekt<br />

medialer Ungleichbehandlung heraus mit der Initiative in gewissem<br />

Umfang solidarisiert haben, scheinen darauf zu setzen, dass sie sich angesichts<br />

dieser neuen Umstände totläuft.<br />

Allerdings ist zu erwarten, dass islamische Mediationsverfahren, wie sie<br />

bereits vor 2004 praktiziert wurden 209 , auch weiterhin (ohne jegliche Kontrolle)<br />

angewandt werden. 210 Der mit der soeben erörterten Änderung des<br />

207 Information von Professor Ayelet Shachar, University of Toronto, bei einem Gespräch<br />

in Toronto am 29. 7. 2006; nach Einschätzung von Professor Natasha Bakht wurde ein möglicherweise<br />

dahingehender politischer Wille tatsächlich nicht umgesetzt. Dies erscheint angesichts<br />

der vorhandenen Regelungen sehr plausibel. Ohne Berücksichtigung des Aspekts dispositiven<br />

Sachrechts würdigt Shelley McGill (Religious Tribunals and the Ontario Arbitration<br />

Act, 1991: The Catalyst for Change: Journal of Law and Social Policy 20 [2005] 53 ff. [66])<br />

die Aussage, es solle nur »one law for all Ontarians« gelten, dahingehend »then there will be<br />

no choice of law whatsoever«.<br />

208 Danach ist die Mitgliedschaft in einer bestimmten anerkannten ADR-Organisation<br />

erforderlich; zudem muss eine Ausbildung erfolgt sein, die Training in getrennter Befragung<br />

der Parteien hinsichtlich Machtungleichgewichten und häuslicher Gewalt beinhaltet.<br />

209 Deutlich z. B. Elmasry in »Ontario Islamic Court Should be Welcome, Not Feared«<br />

(oben N. 88); vgl. auch den Bericht von Carlucci (oben N. 109); dort wird ein Imam aus Toronto<br />

(Mubin Shaikh) mit der Aussage zitiert, er habe im Jahr (2005) 13–14 Schlichtungsfälle<br />

behandelt; pikanterweise wurde mittlerweile bekannt, dass dieser vehemente Vertreter des<br />

islamischen Schiedswesens Mitarbeiter des Canadian Security Intelligence Service war (vgl.<br />

»Mubin Shaikh, the bomb plot mole«, CBC news online vom 14. 7. 2006, ).<br />

210 Vgl. nur Faisal Kutty, Ignorance and Islamophobia forces Ontario government to ban


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

505<br />

Arbitration Act verfolgte Hauptzweck des Schutzes Schwächerer kann hier<br />

offensichtlich nicht greifen. Der Verfasser konnte sich in zahlreichen Gesprächen<br />

davon überzeugen, dass die religiös-kulturelle Vorprägung in vielen<br />

muslimischen Familien in Kanada Konfl ikte auslöst, die dem durchschnittlichen,<br />

in der westlichen Kultur aufgewachsenen Kanadier (wie Europäer)<br />

fremd sein dürften. Familiäre Erwartungen, denen man sich nicht<br />

ohne weiteres widersetzt, intensive Einfl ussnahme der Großfamilie bei der<br />

Wahl des Ehepartners – bis hin zu Details der Hochzeit und Ähnliches – sowie<br />

spezifi sche, auf indirekte Mechanismen ausgerichtete Konfl iktlösungskulturen<br />

erleichtern versierten »Insidern« den Zugang zu Ausgleich und<br />

Mediationsverfahren. Solange deren Ergebnis keine Rechtsverbindlichkeit<br />

beansprucht, könnten die positiven Potentiale überwiegen, sofern sie von<br />

geeigneten Personen betrieben werden. Vertreter einer Anpassung der einschlägigen<br />

Normen an den kanadischen Kontext sind teilweise skeptisch,<br />

solange ein nicht geringer Teil an Mediation in den Händen autodidaktisch<br />

ausgebildeter, besonders traditionalistisch gesonnener Personen liegt. Sie<br />

fordern dringlich ein modernes islamisches Bildungswesen ein, das die Brücke<br />

zwischen kanadischer Rechts- und Gesellschaftsordnung und islamischem<br />

Glauben schlägt. Sehr problematisch sei es z. B., dass manche islamischen<br />

Bildungseinrichtungen schwache Schüler oder Problemschüler aus<br />

staatlichen Schulen übernähmen und sie dann auf traditionalistischer Basis<br />

zum »Mufti« ausbildeten. 211 Sie mahnen denn auch eine konsequente Trennung<br />

zwischen zeitgemäßer Interpretation der islamischen Quellen und<br />

dem verbreiteten, oft sehr traditionalistisch-patriarchalischen kulturellen<br />

Kontext an.<br />

Letztlich offen bleibt der Konfl ikt, der sich aus einem Auseinanderfallen<br />

staatlicher Rechtsgrundsätze und sozial gelebten Rechtsvorstellungen ergibt.<br />

Das gilt – vergleichbar der Situation im Vereinigten Königreich 212 –<br />

insbesondere im Hinblick auf Scheidungsverfahren. Auch in Kanada gibt es<br />

Fälle, in denen Frauen in der community trotz staatlicher Ehescheidung als<br />

verheiratet gelten – entgegen der Beratung von gemäßigter Seite, wonach<br />

eine solche Scheidung auch die religiösen Voraussetzungen erfülle – oder<br />

fühlen sich selbst subjektiv in dieser Situation. In anderen Fällen herrscht<br />

faith-based arbitrations in Ontario (12. 3. 2006), Media Monitors Network vom 5. 7. 2006,<br />

.<br />

211 Information von Faisal Kutty (oben N. 144).<br />

212 Vgl. hierzu Sonia Shah-Kazemi, Untying the Knot, Muslim Women, Divorce and the<br />

Sharia (London 2001); Rohe, Das neue ägyptische Familienrecht (oben N. 155) 42 f. sowie die<br />

im September 2006 von Maha Sardar an der SOAS, University of London vorgelegte Magisterarbeit<br />

zum Thema »Ignorance, arrogance or simple complacency?, An analysis of Muslim<br />

views of nikah without registration.«


506 mathias rohe RabelsZ<br />

Unsicherheit, ob die Rechtsordnung des Herkunftslandes die staatliche<br />

Scheidung anerkennt.<br />

Hier stehen mehrere Wege offen. Zum einen könnten staatliche Gerichte,<br />

wenn sie denn angerufen werden, den Ehegatten zum Scheidungsausspruch<br />

mit Mitteln des Rechts zwingen, indem die nach geltendem staatlichem<br />

Recht unbegründete Unterlassung als Delikt gewertet wird. 213 Fraglich ist<br />

allerdings wiederum, ob eine solche unter mittelbarem »Zwang« ausgesprochene<br />

Scheidung auch akzeptiert wird.<br />

Zum anderen dürfte es ausreichen, wenn in informellen oder jedenfalls<br />

rechtlich nicht bindenden Mediationsverfahren der Ehemann zum Scheidungsausspruch<br />

veranlasst wird bzw. die Mediationsinstanz die Scheidung<br />

konstatiert. Wenn sie soziale Autorität in der community hat, die dem staatlichen<br />

Gericht bei manchen fehlen mag, so müsste eine Entscheidung sozial<br />

wirksam werden, auch wenn sie nicht mit staatlichen Mitteln durchsetzbar<br />

ist. Ohnehin ist ja ein gewisser Widerspruch erkennbar, wenn einerseits<br />

staatliche Gerichte aus religiös-rechtlichen Gründen abgelehnt werden, aber<br />

anderseits staatliche Rechtsdurchsetzungsmechanismen in Anspruch genommen<br />

werden sollen, womit das von Syed Mumtaz Ali betriebene Institut<br />

auch ausdrücklich geworben hat 214 . Allerdings ist festzuhalten, dass mit<br />

einer Abschaffung religiöser Schiedsgerichtsbarkeit denjenigen, die aus den<br />

genannten Gründen den Gang zu staatlichen Gerichten scheuen, noch nicht<br />

geholfen ist; rein interne informelle Mediationslösungen können – unkontrolliert<br />

– zu ihren Lasten ausfallen. 215 Das von Ayelet Shachar 216 herausgearbeitete<br />

Dilemma, sich für das eine (staatliche Rechtsdurchsetzung) oder<br />

das andere (informelle kommunitäre Konfl iktlösung) entscheiden zu müssen,<br />

bleibt insoweit ungelöst.<br />

Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Abwehr von Rechtsnormen,<br />

welche eine Geschlechterungleichheit fortschreiben, und die theoretische<br />

213 Vgl. zu Parallelüberlegungen bei Verweigerung des jüdisch-rechtlichen get Freeman<br />

(oben N. 177). Allerdings hat es die Cour d’Appel von Québec in Marcovitz v. Bruker ([2005]<br />

R. J. Q. 2482, 2495 ff.) abgelehnt, der scheidungswilligen Ehefrau Schadensersatz wegen Verweigerung<br />

des get zuzusprechen; eine solche »religiöse« (anlässlich der Scheidung durch das<br />

staatliche Gericht vereinbarte) Verpfl ichtung könne nicht zivilrechtlich durchgesetzt werden.<br />

Die Entscheidung (ebd. 2492) stützt sich auch auf die Fehlentscheidung in Kaddoura v. Hammoud<br />

(oben N. 62). Ähnlich für die Verpfl ichtung zur Mitwirkung am get unter Berufung auf<br />

die Religionsfreiheit (angenommener Verstoß gegen Art. 4 GG, Art. 9 EMRK, Art. 6<br />

EGBGB) OLG Oldenburg, StAZ 2006, 295 (297).<br />

214 In der Broschüre »A Essential Islamic Service in Canada: Muslim Marriage, Mediation<br />

& Arbitration Service« () wird mehrfach als<br />

einzigartiger Vorteil hervorgehoben, dass die Schiedssprüche bindend und durchsetzbar<br />

sind.<br />

215 Vgl. hier nur den Hinweis von Eileen Morrow (Ontario Association of Interval and<br />

Transition Houses) in der Parlamentsanhörung in Ontario am 16. 1. 2006 (oben N. 40).<br />

216 Grundlegend Shachar, Multicultural Jurisdictions (oben N. 126).


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

507<br />

Geltung solcher Normen, die auf dem Grundsatz der Geschlechtergleichheit<br />

beruhen, faktisch bestehende Ungleichheitsprobleme – weit über die islamische<br />

Gemeinschaft hinaus – keineswegs beseitigt.<br />

C. Muslimische Identität und säkularer Rechtsstaat:<br />

Gegensatz oder Synthese?<br />

Insgesamt hat sich in zahlreichen Gesprächen mit Vertreterinnen und<br />

Vertretern muslimischer Organisationen und mit Wissenschaftlerinnen und<br />

Wissenschaftlern gezeigt, dass wohl für die meisten Muslime in Kanada die<br />

Frage der Anwendung islam-rechtlicher Normen im Bereich des Privatrechts<br />

von allenfalls nachrangiger Bedeutung ist. »Säkulare« Vertreter lehnen<br />

die Anwendung derartiger Normen schlichtweg ab und sind mit der<br />

Anwendung des geltenden kanadischen Rechts zufrieden. Letzteres gilt aber<br />

auch für viele eher traditionell-fromme Muslime, denen die Einhaltung der<br />

orthopraktischen Religionsvorschriften (Gebet, Fasten, Speisevorschriften<br />

etc.) ein wichtiges Anliegen ist, die aber in Fragen der Rechtsanwendung<br />

die Geltung kanadischen Rechts schlicht als selbstverständliches Faktum<br />

voraussetzen. Der mögliche inhaltliche Konfl ikt zwischen islam-rechtlichen<br />

Normen und den kanadischen Pendants wird oft nicht gesehen bzw. thematisiert.<br />

Wird er allerdings zur Sprache gebracht, so deckt er oft ein erhebliches<br />

Maß an Verunsicherung über das Verhältnis zwischen dem geltenden<br />

staatlichen Recht und der Verbindlichkeit islam-rechtlicher Normen auf.<br />

Viele Muslime haben sich diese Frage offenbar nie gestellt. Soweit unter<br />

ihnen islam-rechtliche Normen des Herkunftslandes (informell) angewandt<br />

werden, dürfte es sich in vielen Fällen um ein unrefl ektiertes Festhalten an<br />

einer eher kulturell als religiös zu deutenden Praxis handeln. Nur eine sehr<br />

kleine Zahl von Aktivisten und Extremisten propagiert öffentlich die breitere<br />

Anwendung islam-rechtlicher Normen im Privatrecht über die bestehenden<br />

Möglichkeiten bei grenzüberschreitenden Sachverhalten und im<br />

Rahmen des dispositiven Sachrechts hinaus.<br />

Allerdings wird in der dem Publikum zugänglichen einschlägigen Literatur<br />

und in Internetpräsentationen muslimischer Organisationen weitgehend<br />

unkommentiert traditionelles Familienrecht zumeist sunnitisch-hanafi -<br />

tischer Prägung als »islamisch« vorgestellt. Offenbar herrscht hier die Auffassung<br />

vor, dass diese Normen »eigentlich« Anwendung fi nden sollten. Eine<br />

ähnliche Haltung hat sich auch in vielen Gesprächen mit Muslimen in Organisationen<br />

bzw. bei Veranstaltungen 217 gezeigt, wobei die große Mehrzahl<br />

217 Repräsentative Ergebnisse waren im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu erzielen.<br />

Die gezielte Befragung von Muslimen, die sich in Organisationen engagieren, die einschlägige<br />

Veranstaltungen besuchen oder die in islamischen Buchhandlungen beschäftigt sind oder


508 mathias rohe RabelsZ<br />

der Befragten darauf praktisch kaum Wert legt 218 bzw. über das Verhältnis<br />

geltenden kanadischen Rechts und ihrer religiösen Einstellung zu der Frage<br />

wie erwähnt verunsichert ist. Häufi g wurde in Gesprächen mit Vertretern<br />

von Organisationen oder Betreibern von Buchhandlungen auf Imame verwiesen,<br />

die »offi zielle« Stellungnahmen abgeben könnten 219 . Diese ihrerseits<br />

sind nach Aussagen einiger Vertreter muslimischer Organisationen ganz<br />

überwiegend traditionalistisch eingestellt. Hier kann sich ein »Einfallstor«<br />

für fundamentalistische Indoktrination öffnen, wie sie auch von Seiten<br />

mancher muslimischer Organisationen beobachtet wird, insbesondere unterstützt<br />

aus Saudi-Arabien und einigen anderen Staaten der Region. Hingegen<br />

ist von Seiten »liberaler« Muslime wenig Bereitschaft erkennbar, sich<br />

auf die inner-islamische Reformdebatte einzulassen. Die Mehrheit dieser<br />

Richtung wendet sich gegen die Anwendung religiöser Rechtsvorschriften<br />

generell, insbesondere vor dem – verständlichen – Hintergrund des traditionalistischen<br />

Mainstream, der seinerseits wenig Verständnis für Reformüberlegungen<br />

aufbringt. Die Debatte über die islamische Schiedsgerichtsbarkeit<br />

hat darüber hinaus gezeigt, dass eine erhebliche Zahl von Befürwortern<br />

nicht die Anwendung bestimmter Vorschriften ihres <strong>Inhalt</strong>s wegen im<br />

Sinn hatte, sondern das Anliegen der Gleichberechtigung mit anderen Religionsangehörigen.<br />

So lässt sich denn auch vermuten, dass wohl vor allem unter neueren Immigranten<br />

rechtliche Parallelstrukturen vorzufi nden sind, bei denen die soziale<br />

Realität insbesondere in Fragen der Ehescheidung von <strong>Inhalt</strong> und<br />

Durchsetzung des geltenden kanadischen Rechts abweicht. Wie in vielen<br />

europäischen Staaten stellt sich die Aufgabe, in allen Bevölkerungsschichten<br />

und Bildungsstufen ein Bewusstsein für die Grundlagen der bestehenden<br />

Rechtsordnung zu schaffen, über die verbreitete Unkenntnis herrscht,<br />

durchaus nicht nur unter Muslimen. Ein entscheidend wichtiger Aspekt<br />

hierbei ist die notwendige inner-muslimische Debatte über die Frage, inwieweit<br />

und in welchen Grenzen sich muslimische Glaubensüberzeugungen<br />

innerhalb der unveränderlichen Grundsätze westlicher Rechtsordnungen<br />

realisieren lassen. Im hier untersuchten Bereich des Privatrechts würden<br />

mögliche Konfl ikte dadurch entschärft, dass Reformentwicklungen innerhalb<br />

des islamischen Rechts rezipiert werden, die eine inhaltliche Übereinstimmung<br />

mit westlichen Rechts- und Gerechtigkeitskonzepten bewirken.<br />

Das Beispiel der Anpassung des Erbrechts an das Postulat der Gleichberech-<br />

einkaufen, rechtfertigt aber doch Tendenzaussagen für diejenigen, die sich überdurchschnittlich<br />

aktiv mit Fragen des Islam befassen.<br />

218 Häufi g wurde in Gesprächen geäußert, dass die Muslime in Kanada andere Probleme<br />

hätten als derartige Fragen. Bei der großen Mehrheit darf weitgehend Desinteresse vermutet<br />

werden.<br />

219 Zur besonderen Rolle von Imamen gerade in Diasporasituationen vgl. auch Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor<br />

(oben N. 38) 16.


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

509<br />

tigung der Geschlechter vor dem Hintergrund ebenso gleicher unterhaltsrechtlicher<br />

Verpfl ichtungen (vgl. oben B.II.3.[3]) ist ein Beispiel hierfür.<br />

Bislang befassen sich allerdings wie erwähnt nur sehr wenige Muslime mit<br />

derartigen – gewiß anspruchsvollen – Fragen; die kritiklose Übernahme<br />

traditioneller Vorstellungen dominiert noch bei Weitem. Andererseits besteht<br />

ein erkennbares Bildungsbedürfnis für Gerichte und Verwaltungen im<br />

Hinblick auf handlungsbestimmende sozio-kulturelle und religiöse Prägungen<br />

unter Immigranten, um Konfl ikte zutreffend analysieren und so<br />

weit wie möglich im Zusammenwirken mit den Beteiligten lösen zu können.<br />

220<br />

Im Übrigen können vor allem grenzüberschreitende Sachverhalte und die<br />

Lebenssituation neuer Immigranten im Rahmen des Internationalen Privatrechts<br />

und des dispositiven Sachrechts sowie durch angemessene informelle<br />

Mediationsverfahren adäquat geregelt werden.<br />

Zugleich fügt sich die Debatte über die Reichweite der Autonomie von<br />

Muslimen in Kanada in eine breitere Diskussion über Gründe und Grenzen<br />

der Multikulturalität. Bis vor wenigen Jahrzehnten betraf Multikulturalität<br />

in Kanada im Wesentlichen anglo- bzw. franko-kanadische Unterschiede<br />

und Gegensätze sowie die Position der Ureinwohner (»First Nations«). 221<br />

Durch die verstärkte und weiterhin zunehmende Zuwanderung aus Asien<br />

und Afrika erweitert sich das Spektrum kultureller Prägungen wesentlich;<br />

zugleich erhöht sich dadurch auch das Potential an Spannungen. So hat die<br />

Entscheidung des Quebec Court of Appeal 222 , welche das Verbot für einen<br />

Sikh-Schüler, in der Schule einen nicht als Waffe intendierten Ritual-Dolch<br />

(kirpan) zu tragen, unter Sicherheitsaufl agen aufgehoben hatte, viel Ablehnung<br />

erfahren. Nicht von ungefähr ist jüngst ein Werk erschienen, das an<br />

die europäischen Wurzeln der kanadischen Identität erinnert, und in dem<br />

sich der Satz fi ndet, nötig sei »[. . .] emphasizing what core Canadian values<br />

really are instead of making of diversity an end in itself« 223 . Schon früher<br />

hatte Will Kymlicka 224 , ein prominenter Vertreter kanadischer Multikulturalität,<br />

angemahnt: »Canadians want to know that being a Canadian citizen<br />

entails certain ›non-negotiable‹ requirements, including respect for human<br />

rights and democratic values [. . .]«. Solche Klarheit liegt auch im Inter-<br />

220 Vgl. Saris/Potvin/Bendriss/Ayotte/Amor (oben N. 38) 88 f.<br />

221 Vgl. hierzu Gerald Kernerman, Multicultural Nationalism, Civilizing Difference, Constituing<br />

Community (Vancouver u. a. 2005).<br />

222 Multani v. Commission scolaire Marguerite-Bourgeoys, 241 D. L. R. (4th) 336 (Urteil vom<br />

4. 3. 2004); vgl. auch die einschlägige Kritik bei Brun (oben N. 45) 1035.<br />

223 Resnick (oben N. 4) 61. Der Autor verweist darauf (64, 85 ff. und öfter), dass diese Werte<br />

im wesentlichen europäischer (englischer und französischer) Herkunft seien. Vgl. auch die<br />

Kritik von Kymlicka (Finding Our Way [oben N. 4] 66 und öfter) an der mangelnden Präzisierung<br />

der Grenzen der Multikulturalität.<br />

224 Kymlicka, Finding Our Way (oben N. 4) 68 f.


510 mathias rohe RabelsZ<br />

esse von Immigranten, die wissen wollen und sollen, welches die unerlässlichen<br />

gemeinsamen Grundlagen des Zusammenlebens in der neuen<br />

Gesellschaft sind. Insgesamt scheint sich bei Abwägung konfl igierender 225<br />

kommunitärer und individueller Rechte 226 die Waagschale zugunsten Letzterer<br />

zu neigen, wenngleich dies von schrankenlosen Multikulturalisten immer<br />

wieder als zu sehr auf westlich-liberale Werte zentriert und zu wenig<br />

sensitiv für kulturelle Differenzen kritisiert wird. 227 Die Position Kymlickas<br />

dürfte auch den Leitfaden für die Handhabung von Rechtsfragen abgeben.<br />

Er unterscheidet im Hinblick auf gruppenspezifi sche Rechte zwischen »external<br />

protection« von »internal restrictions«. 228 Ersteres zielt auf die – auch<br />

rechtlich gebotene – Gleichbehandlung gleicher Gruppen, z. B. religiöser<br />

Vereinigungen, ab. Letzteres beschreibt das Phänomen, zugunsten der internen<br />

Stabilisierung einer Gruppe Druck auf Mitglieder auszuüben. Hierfür<br />

kann rechtlicher Schutz grundsätzlich nicht beansprucht werden. Ayelet<br />

Shachar hat für die hiermit verbundenen Probleme gerade für Frauen in<br />

patriarchalischen Ordnungen den prägnanten Begriff des »paradox of multicultural<br />

vulnerability« 229 geprägt. Gegen Überlegungen, ein gespaltenes<br />

personales Recht zu etablieren, hat denn auch Marion Boyd 230 klar formuliert:<br />

»Ontarians do not subscribe to the notion of ›separate but equal‹ when<br />

it comes to the laws that apply to us. [. . .] Equality before and under the law,<br />

and the existence of a single legal regime available to all Ontarians are the<br />

cornerstones of our liberal democratic society.« Nur innerhalb der vom geltenden<br />

Recht selbst gesetzten Räume und Grenzen kann staatlich verbindliche<br />

und durchsetzbare private Rechtsgestaltung erfolgen.<br />

Bei alledem ist nicht zu vergessen, dass wesentliche Teile des islamischen<br />

Familienrechts bis vor wenigen Jahrzehnten dem Rechtszustand in Québec<br />

entsprachen bzw. frauenfreundlicher waren als das Recht von Québec, etwa<br />

im Hinblick auf die vermögensrechtliche Handlungsfreiheit von Ehefrauen.<br />

231 Es wäre also gewiß verfehlt, bestimmte Rechts- und Kulturkreise<br />

in einen strukturellen Gegensatz zum »westlichen« Vorbild zu bringen. An-<br />

225 Sehr hilfreich ist Kymlickas (Finding Our Way [oben N. 4] 61 ff.) Unterscheidung zwischen<br />

– abzulehnenden – kommunitären Rechten zur Einschränkung internen Widerspruchs/<br />

interner Rechte der Mitglieder (betreffend intra-group relations) einerseits und in gewissen<br />

Grenzen zu befürwortenden Rechten von Gruppen gegenüber anderen Gruppen (inter-group<br />

relations) auf gleichberechtigte Partizipation.<br />

226 Vgl. hierzu Kymlicka, Finding Our Way (oben N. 4) 61 ff.<br />

227 Vgl. M. Malik, Communal Goods as Human Rights, in: Understanding Human<br />

Rights, hrsg. von C. Gearty/A. Tomkins (London 1996) 138.<br />

228 Kymlicka, Finding Our Way (oben N. 4) 62 und öfter.<br />

229 Ayelet Shachar, The Puzzle of Interlocking Power Hierarchies: Harvard Civil Rights-<br />

Civil Liberties L.Rev. 35 (2000) 385 (386); ausführlich dies., Multicultural Jurisdictions (oben<br />

N. 126) 62 und öfter.<br />

230 Boyd 88.<br />

231 Vgl. D.-Castelli/Goubeau (oben N. 63) 101: »Par les réformes de 1964, 1969, 1981, 1989


72 (2008)<br />

muslimische identität und recht in kanada<br />

511<br />

dererseits mag die noch junge rechtliche Gleichbehandlung im kanadischen<br />

(und europäischen) Familienrecht besonders heftige Abwehrreaktionen gegen<br />

Normen und Wertverständnisse auslösen, die man nun eben mit Mühe<br />

überwunden hat bzw. im Begriff ist zu überwinden.<br />

Auch in Kanada scheinen die Gründe, aber auch die notwendigen Grenzen<br />

der Multikulturalität neu ausgelotet zu werden. Schlagworte werden<br />

wenig helfen. Vielmehr wird je nach Lebenssituation zu bestimmen sein,<br />

wie viel an gemeinsamen Verhaltensweisen und Überzeugungen notwendig,<br />

und wie viel an Pluralität möglich, ja wünschenswert ist. Eine blinde<br />

Fortschreibung des Status quo oder die Durchsetzung vermeintlich allgemein<br />

gültiger, in Wirklichkeit aber nur partikulärer Vorstellungen, verbietet<br />

sich dabei ebenso wie die Infragestellung der wesentlichen Elemente einer<br />

»Hausordnung«, die ein friedvolles Zusammenleben erst ermöglicht. Im<br />

Hinblick auf Rechtsfragen ist meines Erachtens stets das Primärziel der<br />

Rechtsordnung – Herstellung und Gewährleistung eines friedvollen Zusammenlebens<br />

und der Gesellschaft unter der Herrschaft der Menschenrechte<br />

und des staatlichen Gewaltmonopols – bei aller Abstraktion nur im<br />

Blick auf die konkreten Verhältnisse zu erreichen. »Einheimische« Fälle sind<br />

von grenzüberschreitenden zu unterscheiden: Letztere haben oft nur vergleichsweise<br />

geringen Inlandsbezug, so dass der weltweit bestehende Rechtspluralismus<br />

insoweit an Bedeutung gewinnt, als die Beteiligten sich bei ihrer<br />

privaten Rechtsgestaltung auf die Geltung bestimmter Normen verlassen<br />

haben. Fälle mit starkem Inlandsbezug hingegen – und ein Inlandsaufenthalt<br />

von gewisser Dauer gehört regelmäßig dazu – müssen die gemeinsamen<br />

stabilisierenden Grundüberzeugungen der Rechtssubjekte wahren. Polarisierende<br />

Parallelrechtsordnungen sind auch aus dieser Sicht nicht hinzunehmen.<br />

Rechtsgestaltung in irgendeiner Form der Verbindung mit staatlicher<br />

Autorität ist im Hinblick auch auf islamische Normen nur dann möglich,<br />

wenn sich verlässliche Interpretationen und Interpreten fi nden, welche sich<br />

in den Rahmen einer rechtsstaatlichen, den Menschenrechten verpfl ichteten<br />

Ordnung halten. Auf dieser Basis muss Gleichberechtigung auch eine reale<br />

Lebenserfahrung sein. Ungelöst bleiben allerdings Konfl ikte, bei denen die<br />

Beteiligten die Inanspruchnahme staatlicher Instanzen scheuen. Hier stellen<br />

sich Bildungsaufgaben im Schulbereich und bei der Erwachsenenbildung:<br />

Immigranten bedürfen der Aufklärung über vorhandene Rechtsbehelfe und<br />

Schutzmechanismen – die auch real greifen müssen –, die ihnen den Weg zu<br />

einer freien Entscheidung über den Weg der Konfl iktlösung eröffnen.<br />

et 1992, on est passé d’un régime de complète subordination de la femme à un regime d’égalité<br />

entre époux.«


512 mathias rohe RabelsZ<br />

Summary<br />

Muslim Identity and the Law in Canada<br />

Immigration to Canada has shifted from Europeans to Asians and Africans,<br />

occurring to a large extent within the last decades. Muslims have become<br />

a fast growing group of Canadians. Large parts of the Muslim population<br />

obviously have no reservations whatsoever to the application of Canadian<br />

law inclusive of civil matters. Many representatives of Muslim<br />

organizations stress that Muslims in Canada must cope with more basic<br />

problems concerning labour or social issues as opposed to questions of what<br />

law should be applicable. On the other hand, a wide-spread uncertainty<br />

with regard to the relationship between the law of the land and Islamic<br />

norms is obvious. Some Muslims view the law of the land, especially relating<br />

to personal status and inheritance, with reservation given the fact that in<br />

many Islamic countries these matters are governed by more or less traditionally<br />

promoted rules relying on a strict segregation of gender roles and on the<br />

supremacy of Islam over other religions. Inasmuch, a potential confl ict of<br />

legal culture regarding the equality of sexes and religions is at stake.<br />

The reasons for this are manifold. Some Muslims claim group rights permitting<br />

them to apply their religion-based rules – which they consider to be<br />

binding in any location – in civil law matters. Others simply cannot afford<br />

access to the state’s judiciary, are lacking cultural sensitivity with regard to<br />

their special living conditions or simply hesitate to have their sensitive family<br />

affairs dealt with publicly. Thus, an Islamic arbitration board established<br />

in Ontario in 2003 under the law at the time caused heated debates on the<br />

“Islamization” of indispensable western values vs. the “disregard of religious<br />

needs and discrimination”. A major cause can be attributed to the personal<br />

convictions and attitudes of the leading fi gures running this arbitration<br />

board, which could indeed undermine core parts of the protection of Human<br />

Rights. This debate left little space for decisions on the basis of genuine<br />

and neutral research. Thus, in 2006 Ontario changed the relevant arbitration<br />

rules, confi ning religious arbitration run by Muslims, Jews or Christians to<br />

a relatively narrow fi eld. This article aims to clarify the argumentation used<br />

by different groups and individuals involved, to point out possible lines of<br />

confl icts between the different legal cultures and attitudes at stake and to<br />

consider possible solutions.


Divergente Evolution des Rechtsdenkens –<br />

Von amerikanischer Rechtsökonomie<br />

und deutscher Dogmatik<br />

Von Kristoffel Grechenig und Martin Gelter, Wien *<br />

<strong>Inhalt</strong>sverzeichnis<br />

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514<br />

II. Bisherige Rezeption der Rechtsökonomie im deutschsprachigen Raum. . .<br />

1. Stand der Rezeption der »amerikanischen« ökonomischen Analyse<br />

516<br />

des Rechts im deutschen Sprachraum. . . . . . . . . . . . . . . . 516<br />

2. Bisherige Erklärungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519<br />

III. Die Entwicklung in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522<br />

1. American legal realism als entwicklungsgeschichtlicher Hintergrund . . 522<br />

2. Die utilitaristische Basis der Rechtsökonomie . . . . . . . . . . . . 530<br />

3. Law and economics und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534<br />

IV. Die Entwicklung im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . 540<br />

1. Rechtsökonomische Vorstöße im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . 540<br />

2. Interne Betrachtung in Gesetzgebungslehre und Auslegung . . . . . . 543<br />

3. Rechtsrealismus als fehlende Voraussetzung für die Rechtsökonomie? . 549<br />

4. Reproduktionsdenken in Interessen- und Wertungsjurisprudenz. . . . 553<br />

5. Das Ende der Gesetzgebung als rechtswissenschaftliche Disziplin . . . 556<br />

V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .<br />

Summary: The Divergent Evolution of Legal Thought – Law and Economics<br />

559<br />

in the USA and German Legal Theory . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560<br />

* Für hilfreiche Anmerkungen danken die Autoren Prof. Dr. Anne van Aaken, Prof. Dr.<br />

Marc Amstutz, Dr. Thomas Bachner Ph.D., Prof. Simon Deakin, Ph.D., Dr. Helge Dedek,<br />

Prof. Dr. Jens Drolshammer, Prof. Dr. Lukas Gschwend, Philipp Klages, Dr. Michael Litschka,<br />

Prof. Dr. Gerhard Luf, Dr. Jürgen Noll, Dr. Judith Schacherreiter, Prof. Dr. Erich Schanze,<br />

PD Dr. Mathias Siems, Prof. Dr. Alexander Somek, Holger Spamann, Dr. Tobias Tröger,<br />

a.o. Prof. Dr. Wolfgang Weigel, Viktor Winkler und PD Dr. Martin Winner sowie den Teilnehmern<br />

des START-Workshops »Law, Functionalism and Legal Evolution« an der Wirtschaftsuniversität<br />

Wien (Juli 2005), des Young Scholars’ Workshop des »Joseph von Sonnenfels<br />

Center for the Study of Public Law and Economics« an der Universität Wien (November<br />

2005) und des START-Workshop an der Wirtschaftsuniversität Wien (Mai 2006).<br />

Abgekürzt werden zitiert: Eugen von Böhm-Bawerk, Bespr. von Victor Mataja, Das Recht des<br />

Schadenersatzes vom Standpunkt der Nationalökonomie (1888): GrünhutsZ 17 (1890) 418–<br />

RabelsZ Bd. 72 (2008) S. 513–561<br />

© 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0033-7250


514 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

I. Einleitung<br />

Die Arbeiten von Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern haben zu allen<br />

Zeiten Verbindungslinien zueinander aufgewiesen. Seit den 1960er Jahren<br />

ist in den Vereinigten Staaten jedoch eine Law-and-economics-Bewegung entstanden,<br />

die breite Bedeutung an amerikanischen Rechtsfakultäten erlangt<br />

hat. Auf den nicht rechtsvergleichend arbeitenden deutschsprachigen Beobachter<br />

wirken Aufsätze in amerikanischen Rechtszeitschriften mitunter befremdend.<br />

Dies beruht nicht allein auf den unterschiedlichen klassischen<br />

Rechtstraditionen (common law bzw. civil law), sondern vor allem auf der interdisziplinären<br />

Ausrichtung der Beiträge. Während sich im deutschsprachigen<br />

Raum die Rechtsdogmatik in erster Linie mit der systemimmanenten<br />

Weiterentwicklung des Rechts befasst, gehen amerikanische Rechtslehrer<br />

fast immer von einem externen Blickwinkel aus. 1 Das betrifft vor<br />

423; Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff 2 (1991); Kenneth G. Dau-<br />

Schmidt/Carmen Brun, Lost in Translation, The Economic Analysis of Law in the United States<br />

and Europe: Colum. J. Transnat. L. 44 (2005/06) 602–621; John P. Dawson, The Ora cles of<br />

the Law (1968); Neil Duxbury, Patterns of American Jurisprudence (1995); Izhak Englard, Victor<br />

Mataja’s Liability for Damages from an Economic Viewpoint, A Centennial to an Ignored<br />

Economic Analysis of Tort: International Review of Law and Economics (Int. Rev. L. Econ.)<br />

10 (1990) 173–191; Dieter Grimm, Methode als Machtfaktor, in: Europäisches Rechtsdenken<br />

in Geschichte und Gegenwart, FS Coing I (1982) 469–492; Élie Halévy, The growth of philosophic<br />

radicalism (1928); Philipp Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz (1932) (zitiert:<br />

Begriffsbildung); ders., Das Problem der Rechtsgewinnung, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz,<br />

Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz 2 (1932) (zitiert: Rechtsgewinnung);<br />

James E. Herget, Contemporary German Legal Philosophy (1996); Morton J.<br />

Horwitz, The Transformation of American Law 1870–1960 (1992); Arthur Kaufmann, Problemgeschichte<br />

der Rechtsphilosophie, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann, Einführung in<br />

Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart 7 (2004) 26–147; Hans Kelsen, Was ist<br />

Gerechtigkeit? (1953; Nachdruck Reclam 2005); Peter J. King, Utilitarian Jurisprudence in<br />

America (1986); Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft 6 (1991); Nicholas Mercuro/Steven<br />

G. Medema, Economics and the Law, From Posner to Post-Mod ernism (1997); Knut<br />

Wolfgang Nörr, Zwischen den Mühlsteinen (1988); The Origins of Law and Economics, hrsg.<br />

von Parisi/Rowley (2005); Hans-Martin Pawlowski, Methodenlehre für Juristen 2 (1991); Norbert<br />

Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas (1967);<br />

Charles K. Rowley, Wealth Maximization in Normative Law and Economics, A Social Choice<br />

Analysis: Geo. Mason L. Rev. 6 (1998) 971–996 (zitiert: Wealth Maximization); ders., An intellectual<br />

history of law and economics, 1739–2003, in: The Origins of Law and Economics<br />

(diese Note) 3–32 (zitiert: Intellectual History); Horst Schröder, Friedrich Karl von Savigny,<br />

Geschichte und Rechtsdenken beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in<br />

Deutschland (1984); Joseph William Singer, Legal Realism Now: Cal. L. Rev. 76 (1988) 465–<br />

544; Robert S. Summers, Pragmatic Instrumentalism in Twentieth Century American Legal<br />

Thought, A Synthesis and Critique of Our Dominant General Theory About Law and its Use:<br />

Cornell L. Rev. 66 (1980/81) 870–948; Jochen Taupitz, Ökonomische Analyse und Haftungsrecht,<br />

Eine Zwischenbilanz: AcP 196 (1996) 114–167; Gerald B. Wetlaufer, Systems of Belief in<br />

Modern American Law, A View from Century’s End: Am. U. L. Rev. 49 (1999) 1–80; Franz<br />

Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit 2 (1967).<br />

1 Herget 104 ff.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

515<br />

allem die Auswirkungen des Rechts auf die Gesellschaft, die stärker unter<br />

Einbeziehung anderer Disziplinen, wie der Soziologie, der Politikwissenschaft,<br />

der Philosophie und der Ökonomie, analysiert werden. Insbesondere<br />

wird das geltende Recht auch von Juristen an externen Maßstäben, etwa<br />

ökonomischen Effi zienzkriterien, gemessen. In bestimmten Bereichen, etwa<br />

im Gesellschaftsrecht, kann die ökonomische Betrachtung des Rechts mittlerweile<br />

als dominant bezeichnet werden, was leicht zu der provokanten<br />

Feststellung führen kann, amerikanische Gesellschaftsrechtler seien eigentlich<br />

Ökonomen, die sich mit dem Recht befassen. 2<br />

In dieser rein funktionalen Betrachtung unterscheidet sich die US-amerikanische<br />

Rechtslehre wesentlich von der europäischer Staaten einschließlich<br />

Großbritanniens. 3 Gerade im deutschsprachigen Raum begegnen ökonomisch<br />

orientierte Forschungsansätze unter Juristen oft pauschalierter Reserviertheit.<br />

4 Das Recht als solches gilt nicht als Betrachtungsfeld anderer<br />

Disziplinen, sondern vielmehr als eigenständige Disziplin mit eigenen wissenschaftlichen<br />

Methoden. Noch in den frühen 1990er Jahren wurde behauptet,<br />

die Rechtsökonomie in Europa läge bloß zeitlich, nämlich etwa 15<br />

Jahre, hinter der Entwicklung in den Vereinigten Staaten. 5 Das würde bedeuten,<br />

dass die heutige Diskussion mit jener in den Vereinigten Staaten<br />

Anfang der 1990er Jahre vergleichbar wäre. Davon kann freilich keine Rede<br />

sein. 6<br />

Diese Arbeit versucht eine Erklärung für diese unerwartete Divergenz im<br />

Rechtsdiskurs und betont zu diesem Zweck in der bisherigen rechtsvergleichenden<br />

Diskussion unberücksichtigte bzw. vernachlässigte Faktoren, wobei<br />

als die zwei zentralen Faktoren der amerikanische Rechtsrealismus sowie<br />

der Utilitarismus identifi ziert werden. In den USA wurde die vorherr-<br />

2 So z. B. Lombardo, Regulatory Competition in Company Law in the European Community<br />

(2002) 18.<br />

3 Zu Skandinavien siehe allerdings Pihlajamäki, Against Metaphysics in Law, The Historical<br />

Background of American and Scandinanvian Legal Realism Compared: Am. J. Comp. L.<br />

52 (2004) 469–487.<br />

4 Siehe z. B. zum Stand der frühen 1990er Jahre Kirchner, The diffi cult reception of law<br />

and economics in Germany: Int. Rev. L. Econ. 11 (1991) 277–292; Hertig, Switzerland: ebd.<br />

293–300. Neuere Darstellungen der Situation umfassen u. a. Dau-Schmidt/Brun; Weigel, Law<br />

and Economics in Austria, in: Encyclopedia of Law and Economics, hrsg. von Bouckaert/De<br />

Geest (2000) Nr. 0305; Taupitz 120 f.<br />

5 Mattei/Pardolesi, Law and Economics in Civil Law Countries, A comparative approach:<br />

Int. Rev. L. Econ. 11 (1991) 265–275 (insb. 272). Mattei und Pardolesi sprechen genau genommen<br />

von »at least fi fteen years«. Gleichzeitig meinen sie, dass sich – wegen der unterschiedlichen<br />

Richterbestellung – die Rechtsökonomie in Europa schneller entwickeln könnte<br />

(271). Daran hält Mattei auch 1997 fest; siehe Mattei, Comparative Law and Economics (1997)<br />

89 (91). Vgl. auch Hertig, The European Community: Int. Rev. L. Econ. 11 (1991) 331–342.<br />

6 Siehe die quantitative Auswertung des Einfl usses der Rechtsökonomie in den USA bei<br />

William Landes/Richard A. Posner, The Infl uence of Economics on Law, A Quantitative Study:<br />

J. Law Econ. 36 (1993) 385–424.


516 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

schende rechtsdogmatische Betrachtung, anders als im deutschsprachigen<br />

Raum, durch den Rechtsrealismus nachhaltig diskreditiert. Die parallel mit<br />

anderen konsequentialistischen Ansätzen in diese Lücke stoßende Rechtsökonomie<br />

erlangte aufgrund einer positiven Grundeinstellung gegenüber<br />

dem Utilitarismus großen Einfl uss. Dagegen wurde im deutschsprachigen<br />

Raum, aufgrund des nur vorübergehenden Erfolgs der Freirechtslehre, eine<br />

solche Lücke gar nicht erst aufgerissen. Zudem schlägt der Rechtsökonomie<br />

auch aufgrund verbreiteter Skepsis gegenüber utilitaristischem Gedankengut<br />

Widerstand entgegen.<br />

II. Bisherige Rezeption der Rechtsökonomie<br />

im deutschsprachigen Raum<br />

1. Stand der Rezeption der »amerikanischen« ökonomischen Analyse<br />

des Rechts im deutschen Sprachraum<br />

Die vergleichsweise schwache Stellung der ökonomischen Analyse des<br />

Rechts im deutschsprachigen Rechtsdiskurs lässt sich insbesondere bei der<br />

Interpretation des geltenden Rechts, darüber hinaus aber auch in der Rechtspolitik<br />

beobachten. 7 Die Kritiker argumentierten, dass die ökonomische<br />

Analyse den Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Effi zienz in den Vordergrund<br />

rücke, nämlich die optimale Ressourcenallokation und die Minimierung<br />

von Transaktionskosten. Diese Ziele seien aber nicht primär bedeutsam,<br />

weil die Rechtsordnung auch immaterielle Werte berücksichtige. 8 Effi<br />

zienzanalysen würden die Güterordnung und Einkommensverteilung<br />

außer Acht lassen, was dazu führe, dass »effi ziente« Rechtsnormen eine ungleiche<br />

Güterverteilung weiter verstärkten. 9 Darüber hinaus agiere die ökonomische<br />

Analyse mit utopischen Modellen, die nicht auf die Praxis über-<br />

7 Siehe nur die Standardwerke der Methodenlehre: Pawlowski Rz. 852, 855; Kramer, Juristische<br />

Methodenlehre 2 (2005) 236 f.; Bydlinski 331 f.; siehe auch Standardwerke des Zivilrechts:<br />

Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch 62 (2003) Einl. Rz. 32 f.; für Österreich: Koziol/Welser,<br />

Grundriss des bürgerliches Rechts I 12 (2002) 20 f.; überhaupt nicht diskutiert wird die ökonomische<br />

Analyse des Rechts bei Larenz und Zippelius, Juristische Methodenlehre 4 (1985); zurückhaltend<br />

Taupitz 135 f.; besonders kritisch Fezer, Aspekte einer Rechtskritik an der economic<br />

analysis of law und am property rights approach: JZ 1986, 817–864 (817 ff.); differenziert<br />

Eidenmüller, Effi zienz als Rechtsprinzip (1995) 450 ff. (zitiert: Effi zienz), bzw. ders.,<br />

Rechtsanwendung, Gesetzgebung und ökonomische Analyse: AcP 197 (1997) 80–135.<br />

8 Z. B. Taupitz 133; Koziol/Welser (vorige Note) 20 f. Zu diesem Missverständnis z. B.<br />

Schwintowski, Ökonomische Theorie des Rechts: JZ 1998, 587 f. Ein gutes Beispiel ist auch<br />

Schilcher, Theorie der sozialen Schadensverteilung (1977), der das »marktwirtschaftliche Verteilungsprinzip«<br />

dem »Sozialprinzip« gegenüberstellt.<br />

9 Z. B. Fezer (oben N. 7) 823 f. Auch Taupitz 124 meint, »Aspekte der sozialen Verteilung<br />

von Ressourcen [. . .] bleiben per se außerhalb des Blickfeldes« der ökonomischen Analyse.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

517<br />

tragen werden können 10 , weshalb die behaupteten ökonomischen Auswirkungen<br />

bloße Spekulation seien. 11<br />

Nicht zu verkennen ist dennoch, dass die ökonomische Analyse des<br />

Rechts in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum einen Aufschwung<br />

erlebt hat. So sind im deutschen Sprachraum eine Reihe von Lehrbüchern<br />

über die ökonomische Analyse des Rechts 12 sowie Universitätslehrgänge<br />

13 und Forschungseinrichtungen 14 entstanden, die sich der ökonomischen<br />

Analyse des Rechts widmen. Ebenso werden vermehrt einschlägige<br />

rechtsökonomische Tagungen abgehalten. 15 Allerdings wird die Institutionalisierung<br />

der Rechtsökonomie in Deutschland, wie in Europa überhaupt,<br />

primär von Ökonomen getragen, wie etwa eine Erhebung der Autorenschaften<br />

von Aufsätzen in internationalen rechtsökonomischen Zeitschriften<br />

zeigt. 16<br />

Zwar fi nden sich in der deutschsprachigen juristischen Literatur zumindest<br />

im Wirtschaftsrecht mittlerweile immer wieder grundlegende Untersuchungen,<br />

vor allem Habilitationsschriften, die ausführliche Abschnitte über<br />

10 Fezer (oben N. 7) 822 f.; siehe auch Rüffl er, Gläubigerschutz durch Mindestkapital und<br />

Kapitalerhaltung in der GmbH – überholtes oder sinnvolles Konzept?: Zeitschrift für Gesellschafts-<br />

und Steuerrecht (GeS) 2005, 144 (mit einer pauschalen Ablehnung der ökonomischen<br />

Analyse); Rittner, Das Modell des homo oeconomicus und die Jurisprudenz: JZ 2005, 668–<br />

670.<br />

11 Vgl. hierzu z. B. die Kontroverse zwischen Eidenmüller und Rittner: Eidenmüller, Der<br />

homo oeconomicus und das Schuldrecht, Herausforderungen durch Behavorial Law and Economics:<br />

JZ 2005, 216 ff. (zitiert: Homo oeconomicus); daraufhin Rittner (vorige Note) sowie<br />

Eidenmüller, Schlusswort: JZ 2005, 670 f.; weiters Fezer (oben N. 7) 822 f. sowie Rüffl er (vorige<br />

Note). Das Argument mangelnder Exaktheit der Sozialwissenschaften taucht schon in der<br />

Diskussion des 19. Jahrhunderts auf (siehe Englard 185) und fi ndet sich unter anderem bei<br />

Kelsen 23 f. wieder.<br />

12 3 Z. B. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Rechts (2001); Weigel,<br />

Rechtsökonomik (2003); Adams, Ökonomische Theorie des Rechts (2004); Noll, Rechtsökonomie,<br />

Eine anwendungsorientierte Einführung (2005). Siehe auch Kötz/Wagner, Deliktsrecht<br />

(2006) mit einem rechtsökonomisch ausgerichteten Lehrbuch zum Deliktsrecht.<br />

13 Siehe z. B. das Programm »European Master in Law and Economics (EMLE)« sowie das<br />

Programm »Master of Law and Economics« in St. Gallen; siehe dazu etwa Nobel, The University<br />

of St.Gallen Study Program in Law and Economics (continued), in: New Frontiers of Law<br />

and Economics, hrsg. von Nobel/Gets (Zürich 2006) 127 ff.; Schanze, Die Bedeutung von Law<br />

and Economics für die Unternehmen, in: Rechtliche Rahmenbedingungen des Wirtschaftsstandortes<br />

Schweiz, FS 25 Jahre juristische Abschlüsse an der Universität St. Gallen (HSG)<br />

(2007) 103 ff.<br />

14 Z. B. zu Deutschland das »Institut für Recht und Ökonomik« in Hamburg und das<br />

»Center for the Study of Law and Economics« in Saarbrücken; zur Schweiz das »Institute for<br />

Law and Economics« in St. Gallen; zu Österreich siehe die Vortragsreihe des »Sonnenfels<br />

Center for Public Law and Economics« an der Universität Wien.<br />

15 Am bekanntesten sind die Jahreskonferenzen der EALE (European Association for Law<br />

and Economics); siehe ferner z. B. die »French-German Talks in Law and Economics«.<br />

16 Gazal-Ayal, Economic Analysis of Law and Economics, , insb. Tabellen 1–3.


518 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

einschlägige Bereiche der ökonomischen Theorie enthalten. 17 Überdies gibt<br />

es in diesem Bereich auch verschiedene Aufsätze, die die Bedeutung ökonomischer<br />

Erkenntnisse für bestimmte Rechtsgebiete untersuchen; 18 zum Teil<br />

fi nden auch Stellungnahmen von Autoren aus den Bereichen der Betriebs-<br />

oder Volkswirtschaftslehre in die juristische Literatur Eingang. 19 Von der<br />

Rolle der Rechtsökomonik im amerikanischen Rechtsdiskurs unterscheidet<br />

sich die (wenn auch gewachsene) Bedeutung im deutschsprachigen Raum<br />

jedoch fundamental. Zunächst fällt auf, dass die Bedeutung der Rechtsökonomie<br />

in allen Bereichen (Professuren, Institute, Publikationen, Juristenausbildung)<br />

in quantitativer Hinsicht mit der klassischen Rechtsdogmatik in<br />

keiner Weise mithalten kann. Im Verhältnis zu den Rechtsfakultäten der<br />

Vereinigten Staaten ist nur eine verschwindend geringe Zahl von Professuren<br />

mit ausgewiesenen Rechtsökonomen besetzt; eine verhältnismäßig<br />

kleine Zahl von juristischen Beiträgen nimmt Bezug zu ökonomischen Argumenten;<br />

und in der überwiegenden Mehrzahl von juristischen Grundstudiengängen<br />

wird Rechtsökonomie wenig bis überhaupt nicht unterrichtet.<br />

In den USA gibt es zudem eine Vielzahl von Lehrstuhlinhabern, die methodisch<br />

einen ausschließlich rechtsökonomischen Zugang pfl egen; 20 im deutschsprachigen<br />

Raum wäre dies unmöglich (zumindest am Beginn der akademischen<br />

Laufbahn) und kommt auch tatsächlich nicht vor. Wesentlich ist<br />

auch die unterschiedliche Nutzung des ökonomischen Zugangs zum Recht.<br />

Die amerikanische Rechtslehre abstrahiert von dogmatischen Einzelheiten<br />

17 Z. B. Eidenmüller, Unternehmenssanierung zwischen Markt und Gesetz (1999); Ruffner,<br />

Die ökonomischen Grundlagen eines Rechts der Publikumsgesellschaft (2000); Kulms,<br />

Schuldrechtliche Organisationenverträge in der Unternehmenskooperation (2000) 55 ff.;<br />

Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht (2001) 82 ff.; Merkt, Unternehmenspublizität<br />

(2001) 191 ff.; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im europäischen Binnenmarkt<br />

(2002) 45 ff.; Haar, Die Personengesellschaft im Konzern (2006) 31 ff.<br />

18 Z. B. Hopt, Ökonomische Theorie und Insiderrecht: AG 1995, 353–362; Baums/v. Radow,<br />

Der Markt für Stimmrechtsvertreter: AG 1995, 145–163; Eidenmüller, Kapitalgesellschaftsrecht<br />

im Spiegel der ökonomischen Theorie: JZ 2001, 1041–1051; ders., Homo oeconomicus<br />

(oben N. 11); Kirchner, Grundstruktur eines neuen institutionellen Designs für Arbeitnehmermitbestimmung<br />

auf der Unternehmensebene: AG 2004, 190–196; Engert, Die<br />

ökonomische Begründung der Grundsätze ordnungsgemäßer Unternehmensfi nanzierung:<br />

ZGR 2004, 813–841 (835 ff.); Wagner, Prävention und Verhaltenssteuerung durch Privatrecht,<br />

Anmaßung oder legitme Aufgabe?: AcP 206 (2006) 350–474. Die deutschsprachige<br />

Literatur befasste sich schon in den 1970er und frühen 1980er Jahren mit der ökonomischen<br />

Analyse des Rechts; siehe z. B. die Nachweise bei Behrens, Die ökonomischen Grundlagen des<br />

Rechts (1986) N. 10.<br />

19 Z. B. Kuhner, Unternehmensinteresse vs. Shareholder Value als Leitmaxime kapitalmarktorientierter<br />

Aktiengesellschaften: ZGR 2004, 244–279; Bak/Bigus, Kapitalmarkteffi zienz<br />

versus zwingender Anlegerschutz im Aktienrecht: Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft<br />

(ZBB) 2006, 430–443.<br />

20 Wenngleich einige der rennomiertesten US-amerikanischen Law Schools auch Ökonomen<br />

ohne formelle juristische Ausbildung beschäftigen, verfügt der Großteil der Rechtsökonomen<br />

nach wie vor über eine vorrangig juristische Ausbildung.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

519<br />

der Rechtsprechung sowie des gesetzten Rechts und nähert sich diesem von<br />

einer »externen« Warte, von der aus rechtspolitische Fragen beantwortet<br />

werden. 21 Die Lehre befasst sich gar nicht mit Zweifelsfragen der Auslegung<br />

des Rechts, sondern begnügt sich mit einer Feststellung der Rechtslage, die<br />

allenfalls als exogener Faktor in die Analyse Eingang fi ndet. Soweit im<br />

deutschsprachigen Rechtsdiskurs ein ökonomischer Ansatz verwendet wird,<br />

bemüht man sich weniger, eigenständige ökonomische Argumente mit Bezug<br />

zum Recht zu entwickeln, sondern vorhandene ökonomische Ansätze<br />

für die Rechtsdogmatik nutzbar zu machen. In diesem Lichte ist auch die<br />

Aussage zu verstehen, Kosten-Nutzen-Erwägungen seien schon immer Teil<br />

des Methodenkanons gewesen, die moderne Ökonomie biete nur besser<br />

entwickelte analytische Methoden an. 22 Eidenmüller stellt daher – in Einklang<br />

mit der herrschenden Methodenlehre – fest, dass ökonomische Effi zienz<br />

als Auslegungsprinzip nur insoweit in Frage kommt, als es durch gesetzgeberische<br />

Wertung zur Politik des Gesetzes gemacht wurde. 23 Auch sonst<br />

werden teilweise ökonomische Argumente im Rahmen der teleologischen<br />

Interpretation für zulässig erachtet, insbesondere in Hinblick auf das Kriterium<br />

der Zweckmäßigkeit von Rechtsnormen. 24 Ökonomische Erwägungen<br />

bleiben dabei zumeist den traditionellen Auslegungsmethoden streng untergeordnet,<br />

was bisweilen darauf hinausläuft, dass die ökonomische Analyse<br />

des Rechts nicht bestimmte Interpretationsmethoden für effi zient erklären<br />

soll, sondern umgekehrt (auf andere Art gefundene) Interpretationsmethoden<br />

die ökonomische Analyse rechtfertigen können. 25<br />

2. Bisherige Erklärungsversuche<br />

Wohl am häufi gsten werden in der Literatur institutionelle Faktoren als<br />

Grund für Unterschiede angeführt. So stellen etwa Mattei und Pardolesi die<br />

dezentralisierte Entscheidungsfi ndung im common law und die daraus resultierende<br />

starke Stellung der Richter in den Vereinigten Staaten dem Klischeebild<br />

des kontinentaleuropäischen Richters als »bloßem Interpreten«<br />

21 Cheffi ns, Using Theory to Study Law, A Company Law Perspective: Cambridge L. J. 58<br />

(1999) 197–221 (198 f.).<br />

22 Schwintowski, Juristische Methodenlehre (2005) 151 f.<br />

23 Eidenmüller, Effi zienz (oben N. 7) 450 ff.<br />

24 Siehe z. B. Bydlinski 331 f.; Kramer (oben N. 7) 236 f.; Krimphove, Rechtstheoretische<br />

Aspekte der »Neuen ökonomischen Theorie des Rechts«: Rechtstheorie 2001, 530 f.; Kohl,<br />

Über die Rechtsanwendung im Sinne der Ökonomischen Analyse des Rechts im Verhältnis<br />

zu den hergebrachten Kanons der Gesetzesauslegung, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler<br />

1992 (1993) 29–46; weitere Nachweise bei N. 7.<br />

25 Rechtsökonomen anerkennen typischerweise eine weitergehende Bedeutung (z. B.<br />

Schäfer/Ott [oben N. 12] 10 f.), nicht aber der überwiegende Teil der am juristischen Diskurs<br />

teilnehmenden Wissenschaftler.


520 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

gegenüber. 26 Damit unmittelbar zusammen hängt der von Kirchner vorgebrachte<br />

Verweis auf das Verständnis der Gewaltenteilung in Deutschland.<br />

Da der Richter das Recht nur anhand der kodifi zierten Gesetze auslegen<br />

darf, sei ihm die Einbeziehung nicht-juristischer Argumente verwehrt. 27 In<br />

diesem Sinn wird auch auf den Rechtspositivismus verwiesen, der die Bedeutung<br />

der Nachbardisziplinen in den Hintergrund treten lässt. 28 Demgegenüber<br />

hat Winkler zuletzt darauf hingewiesen, dass sich sowohl in<br />

Deutschland als auch in den USA Methoden durchsetzten, die dem Positivismus<br />

kritisch gegenüberstehen. Die deutsche Kritik des Positivismus sei<br />

allerdings in eine wertungsorientierte, transzendentale Rechtslehre gemündet,<br />

die rechtsökonomische Argumente nur in geringem Ausmaß zulasse. 29<br />

Zum Teil werden die Gründe der Divergenz auch in der Juristenausbildung<br />

gesucht, wobei etwa Weigel auf das geringe ökonomische Vorwissen<br />

hinweist. 30 Dagegen absolvieren amerikanische Studenten vor dem rechtswissenschaftlichen<br />

Studium eine vierjährige nicht-juristische College-Ausbildung<br />

(undergraduate studies), was tendenziell zu einer größeren Offenheit<br />

für interdisziplinäre Ansätze führe. 31 Cooter und Gordley führen darüber<br />

hinaus die unter Juristen oft vorzufi ndende Abneigung gegenüber der Mathematik<br />

als Methode der Ökonomie bzw. Rechtsökonomie an. 32<br />

Kritisiert wird auch die in Kontinentaleuropa vorherrschende konservative<br />

Einstellung bei der Bestellung von Professoren 33 und die Wahrung von<br />

Besitzständen durch traditionell ausgebildete Juristen angeführt; demnach<br />

würden sie sich als Interessengruppe gegen eine Konzeption wehren, die<br />

ihre Stellung untergraben könnte. 34 Im Bereich der Rechtswissenschaft lässt<br />

26 Mattei/Pardolesi 267; auch abgedruckt bei Mattei 81 f. (beide oben N. 5). Mit Bezug zu<br />

common law und civil law allgemein Posner, Law and Economics in Common-Law, Civil-Law,<br />

and Developing Nations: Ratio Juris 17 (2004) 66–79 (76 f.); siehe auch ders., The Future of<br />

the Law and Economics Movement in Europe: Int. Rev. L. Econ. 17 (1997) 3–14 (zitiert:<br />

Future of Law).<br />

27 Kirchner (oben N. 4) 277–292. Zum Gewaltenteilungsaspekt siehe auch Posner, Future of<br />

Law (vorige Note) 5; siehe auch Dau-Schmidt/Brun 607, 617; Taupitz 129 ff. Unabhängig von<br />

law and economics Herget 115 f.<br />

28 Z. B. zu Österreich Weigel, Prospects for Law and Economics in Civil Law Countries:<br />

Austria: Int. Rev. L. Econ. 11 (1991) 325–329 (326).<br />

29 Winkler, Review Essay, Some Realism about Rationalism: Economic Analysis of Law<br />

in Germany: German L. J. 6 (2005) 1033–1044 (1042).<br />

30 Weigel (oben N. 28) 326.<br />

31 Vgl. Dau-Schmidt/Brun 607 f.<br />

32 Cooter/Gordley, Economic Analysis in Civil Law Countries: Past, Present, Future: Int.<br />

Rev. L. Econ. 11 (1991) 261–263 (als zusammenfassender Bericht der Beiträge).<br />

33 Mattei (oben N. 5) 88. Siehe auch das Symposium »Selecting Minds«: Am. J. Comp. L.<br />

41 (1993) 351 ff.<br />

34 Siehe bereits Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Studienausgabe 1921 Tübingen;<br />

5. Aufl age 1976) VII § 8, 509 ff.; C. C. von Weizsäcker in einem Brief vom 24. 6. 1993 an Eidenmüller;<br />

zitiert bei Eidenmüller, Effi zienz (oben N. 7) 7; vgl. auch Rittner (oben N. 10) 669,<br />

der »behavioral law and economics« u. a. deshalb ablehnt, weil damit der »Verlust der Eigen-


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

521<br />

sich noch auf die Eingangskontrolle durch die Schriftleitung juristischer<br />

Zeitschriften verweisen, die in Europa typischerweise in der Hand etablierter<br />

Rechtslehrer liegt, während demgegenüber amerikanische law reviews<br />

von Studenten herausgegeben werden, die keine eigene Position zu verteidigen<br />

haben, sondern vom Autor eines eingereichten Aufsatzes davon überzeugt<br />

werden müssen, dass dieser neue und kontroversielle Thesen enthält.<br />

Dau-Schmidt und Brun meinen, dass dieser Faktor ein stärkeres Abweichen<br />

von bestehenden Auffassungen und Rechtskritik generell in weiterem Ausmaß<br />

zulasse. 35<br />

All diese Faktoren sind sicher nicht zu vernachlässigen. Zugleich lassen sie<br />

aber entscheidende Fragen offen. Ein Ansatz, der auf die Unterscheidung<br />

der Rechtskreise civil law und common law abstellt, kann beispielsweise nicht<br />

erklären, warum auch die englische Rechtswissenschaft überwiegend eher<br />

einer Innenbetrachtung des Rechts zuneigt. 36 Ebenso ist unklar, inwieweit<br />

der Besitzwahrungsschutz von Juristen der Rechtsökonomie hinderlich ist,<br />

wird doch in den Vereinigten Staaten die Rechtsökonomie von mehr Juristen<br />

als Ökonomen betrieben, was eine Ausweitung und keine Einschränkung<br />

ihres Arbeitsbereichs darstellt. Die Juristenausbildung spielt sicher eine<br />

Rolle. Allerdings hatten Juristen im deutschen Sprachraum über lange Zeit<br />

ökonomische Pfl ichtfächer zu absolvieren; 37 gleichzeitig fehlen auch amerikanischen<br />

Rechtsprofessoren oft mathematische Grundlagen 38 , was aber für<br />

diese keineswegs ein Hindernis bei der Entwicklung rechtsökonomischer<br />

Argumente darstellt. Man muss sich fragen, ob die Gestaltung der gegenwärtigen<br />

Studienpläne im deutschen Sprachraum nicht weniger die Ursache<br />

als vielmehr die Folge der im Vergleich geringen Bedeutung der Wirtschaftswissenschaften<br />

in Rechtsdogmatik und Rechtspolitik ist.<br />

Unserer Ansicht nach stellt auch der Rechtspositivismus, verstanden als<br />

strenge Bindung an die »positiven Gesetze« unter Ausschluss einer inhalt-<br />

ständigkeit des Rechts« drohe. Siehe auch Grimm 469 ff., allerdings ohne Bezug zur Rechtsökonomiebewegung.<br />

Zum politischen Gewicht des Konsenses für die Rechtswissenschaft als<br />

Machtfaktor siehe Luhmann, Öffentliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet (1965)<br />

189 ff. (192). Speziell im österreichischen Kontext macht etwa Weigel (oben N. 28) 326 auf die<br />

vorherrschende Stellung der Juristen in der Wirtschaft aufmerksam; ebenso Raiser, Das lebende<br />

Recht 3 (1999) 361 ff. zu Deutschland; vgl. auch Hertig (oben N. 4) 293 mit Bezug zur<br />

Schweiz.<br />

35 Dau-Schmidt/Brun 614 f.<br />

36 Cheffi ns (oben N. 21) 197, 200 f.; vgl. auch Duxbury, When Trying is Failing: Holmes’s<br />

›Englishness‹: Brook. L. J. 63 (1997) 145–164 (146); Herget 106.<br />

37 Gleichzeitig wies bereits Böhm-Bawerk (418) darauf hin, dass nur wenige Leute Experten<br />

sowohl in der Rechtswissenschaft als auch in der Volkswirtschaftslehre sein können.<br />

38 Im konkreten Zusammenhang auch Cooter/Gordley (oben N. 32) 262; vgl. aber die<br />

Zahlen zu Professoren an führenden Law Schools mit einem Ph.D. im Bereich der Ökonomie<br />

bei Ellickson, Bringing Culture and Human Frailty to Rational Actors, A Critique of Classical<br />

Law and Economics: Chi.-Kent. L. Rev. 65 (1989) 23–55 (26).


522 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

lichen Rechtfertigungsprüfung, einen nicht unbedeutenden Faktor für die<br />

Entwicklung im deutschen Sprachraum dar, kann aber allein keine ausreichende<br />

Erklärung bieten, da rechtsökonomisches Denken zumindest in der<br />

Rechtspolitik ihre Berechtigung haben könnte. Nicht zuletzt zählen Rechtspositivisten<br />

wie Bentham zu den philosophischen Vorläufern der modernen<br />

Law-and-economics-Bewegung. 39 Außerdem würde der Rechtspositivismus<br />

einer Einbeziehung ökonomischer Effi zienzkriterien als Auslegungsmaximen<br />

nicht entgegenstehen, sofern diese ausreichend gesetzlich verankert<br />

sind.<br />

III. Die Entwicklung in den USA<br />

1. American legal realism als entwicklungsgeschichtlicher Hintergrund<br />

Die moderne ökonomische Analyse des Rechts 40 entwickelte sich in den<br />

USA und wurde dort, zumindest in manchen Bereichen, zur dominanten<br />

Methode der Rechtswissenschaft. Dies erklärt sich unter anderem aus der<br />

Entwicklung der amerikanischen Rechtstheorie in der ersten Hälfte des 20.<br />

Jahrhunderts. Bis zu dieser Zeit war der methodische Zugang dem des<br />

deutschsprachigen Raums weitgehend ähnlich. Entscheidend für die Abkehr<br />

der amerikanischen Rechtswissenschaft von der Rechtsdogmatik waren<br />

die politischen Entwicklungen dieser Zeit.<br />

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert herrschte in der amerikanischen<br />

Rechtslehre die heute als »classical legal thought« bezeichnete Richtung 41<br />

vor, die starke Parallelen zur Begriffsjurisprudenz aufwies. 42 Diese wird vor<br />

allem mit dem Namen Christopher Columbus Langdell verbunden, der als<br />

Dekan in Harvard den Studienplan reformierte und wesentlichen Anteil an<br />

der Etablierung der über lange Zeit vorherrschenden fallorientierten »sokratischen«<br />

Lehrmethode hatte. Die Rechtslehre wurde als »legal science« verstanden.<br />

43 Nach Langdell sollten aus Gerichtsentscheidungen allgemeine,<br />

39 Siehe dazu unten Abschnitt III. 2.<br />

40 Zu frühen spieltheoretischen Überlegungen und zur »fi rst wave« von law and economics<br />

beginnend um 1830 siehe Mackaay, History of Law and Economics, in: Encyclopedia of Law<br />

and Economics (oben N. 4) Nr. 0200, 65–117 (68, 69 ff.).<br />

41 Vgl. etwa Horwitz 9; Kennedy, The Rise and Fall of Classical Legal Thought (1998). Mit<br />

einer anderen rechtsgeschichtlichen Einteilung Minda, One Hundred Years of Modern Legal<br />

Thought: From Langdell and Holmes to Posner and Schlag: Ind. L. Rev. 28 (1994/95) 353–<br />

389. 42 Rechtsvergleichend etwa Kennedy, Two Globalizations of Law & Legal Thought: 1850–<br />

1968: Suffolk U. L. Rev. 35 (2002/03) 631–679. Im Zusammenhang mit dem Rechtsrealismus<br />

Mensch, The History of Mainstream Legal Thought, in: The Politics of Law; hrsg. von<br />

Kairys/Pantheon (1998) 33.<br />

43 Siehe z. B. Schwartz, Main Currents in American Legal Thought (1993) 346 ff.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

523<br />

ein kohärentes System bildende Rechtsprinzipien gewonnen werden, aus<br />

denen in deduktiver Vorgehensweise Lösungen für konkrete zukünftige<br />

Fälle gefunden werden sollten. 44 Fälle, die nicht in <strong>dieses</strong> System passten,<br />

waren als Fehler auszuscheiden. 45 Dabei bestand auch ein erheblicher Einfl<br />

uss der deutschen Rechtswissenschaft – also im Wesentlichen der von Savigny<br />

begründeten historischen Rechtsschule –, der damals schlechthin eine<br />

weltweite Vorreiterrolle zugestanden wurde. 46 Von dort übernahm die klassische<br />

Langdellsche Rechtslehre insbesondere auch das Verständnis von<br />

Recht als Wissenschaft 47 und den Wunsch nach einer von den Einfl üssen<br />

anderer Disziplinen freien Rechtslehre. 48<br />

Die Gegenströmung des Rechtsrealismus kam zwar erst in den 1920er<br />

Jahren auf, als Wegbereiter gilt aber bereits Oliver Wendell Holmes, Jr. 49 Vor<br />

allem in seinem 1897 erschienen Aufsatz »The Path of the Law« 50 wandte er<br />

sich gegen das vorherrschende formale Rechtsdenken. 51 Auf ihn geht die<br />

44 Singer 496 f.; Reich 31 f.<br />

45 Leiter, Legal Realism, in: A Companion to Philosophy of Law and Legal Theory, hrsg.<br />

von Patterson (1999) 275 f.; kritisch dazu etwa Pound, Mechanical Jurisprudence: Colum. L.<br />

Rev. 8 (1908) 605–623. Historisch zum damaligen »Formalismus« Horwitz 16 f.; Singer 496 ff.;<br />

Mercuro/Medema 7 ff.; Wetlaufer 10 ff.; vgl. auch Duxbury (oben N. 36) 156, der die Aufsätze<br />

dieser Zeit als »dry, technical, doctrinal, and often narrowly focused« bezeichnet.<br />

46 Auszugsweise Wieacker 381 ff.; Dawson 451 ff.; Riesenfeld, The Infl uence of German Legal<br />

Theory on American Law, The Heritage of Savigny and His Disciples: Am. J. Comp. L.<br />

37 (1989) 1–8; Hoefl ich, Savigny and his Anglo-American Disciples: ebd. 17–38; Reimann, The<br />

Historical School Against Codifi cation: Savigny, Carter, and the Defeat of the New York<br />

Civil Code: ebd. 95–120; Reimann, Nineteenth Century German Legal Science: Boston Coll.<br />

L. Rev. 31 (1989/90) 837–897 (838 ff., 894 ff.); Kennedy (oben N. 42) 637 ff.; Appleman, The<br />

Rise of the Modern American Law School: How Professionalization, German Scholarship,<br />

and Legal Reform Shaped Our System of Legal Education: New England L. Rev. 39 (2005)<br />

251–306 (274 ff., 283 ff.); vgl. auch Posner, Frontiers of Legal Theory (2001) 193 ff. (zitiert:<br />

Frontiers). Siehe bereits Beale, The Development of Jurisprudence During the Past Century:<br />

Harv. L. Rev. 18 (1904/05) 271–283 (283); speziell zur Langdellschen Kurrikularreform<br />

Clark, Tracing the Roots of American Legal Education, A Nineteenth-Century German<br />

Connection: RabelsZ 51 (1987) 313–333 (insb. 328).<br />

47 Appleman (vorige Note) 280 ff.<br />

48 Appleman (oben N. 46) 289 ff.; Reich 32. Zum Zusammenhang der Langdellschen Tradition<br />

mit der deutschen Begriffsjurisprudenz siehe auch Herget 113.<br />

49 Andere frühe Autoren, die sich bereits früh von der Orthodoxie abwandten, wie etwa<br />

Roscoe Pound und Benjamin Cardozo, werden zum Teil mit dem American legal realism zu<br />

einer gemeinsamen Bewegung zusammengefasst. So insbesondere Summers 863 ff.; Horwitz<br />

170 ff., der sich kritisch zu Karl Llewellyns Versuch äußert, sich von der älteren Generation<br />

abzugrenzen. Siehe Llewellyn, Some Realism about Realism, Responding to Dean Pound:<br />

Harv. L. Rev. 44 (1930/31) 1222–1264 (insb. 1226 N. 18, wo eine Liste von Rechtsrealisten<br />

erstellt wird).<br />

50 Holmes, The Path of the Law: Harv. L. Rev. 10 (1897) 457–478 (457 ff.).<br />

51 Holmes (vorige Note) 457, 465 f. Siehe auch seine dissenting opinion in Lochner v. New<br />

York, 198 U. S. 45 (1905): »General propositions do not decide concrete cases. The decision<br />

will depend on a judgment or intuition more subtle than any articulate major premise« (a.a.O.<br />

76).


524 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

»Prädiktionslehre« zurück, nach der es die Aufgabe des Juristen, insbesondere<br />

des beratenden und den Klienten vertretenden Anwalts sei, vorherzusehen,<br />

wie das Gericht entscheiden würde. 52 Richtungweisend war an Holmes’<br />

Rechtsdenken vor allem die Kritik an der logisch-rechtshistorischen 53 Betrachtung<br />

des Rechts und der darauf basierenden rechtsdogmatischen Argumentation.<br />

Vorzuziehen sei eine Ausrichtung auf die Ziele, die mit einer<br />

Regelung erreicht werden sollen. 54 Ein Richter, welcher die den Rechtsnormen<br />

historisch zugrunde liegenden ebenso wie die gegenwärtigen sozialen<br />

Ziele verstehe, könne besser zu Verständnis und Fortentwicklung des<br />

Rechts beitragen. 55<br />

Zur Leitfi gur der späteren Rechtsrealisten wurde Holmes aber durch seine<br />

Tätigkeit als Richter des U. S. Supreme Court, in deren Rahmen er zahlreiche<br />

dissenting opinions verfasste. Am bekanntesten ist wohl jene im Fall<br />

Lochner v. New York 56 , in dem die Verfassungskonformität eines Arbeitszeitgesetzes<br />

des Staates New York verneint wurde. Begründung war die Vertragsfreiheit,<br />

die als Teilaspekt des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes<br />

gesehen wurde und demnach nach Auffassung der Mehrheit der Richter<br />

einer gesetzlichen Höchstarbeitszeit entgegenstand. 57 In Einklang mit der<br />

klassischen Orthodoxie lag dem Gericht das Bild eines vom öffentlichen<br />

Recht getrennten, politisch neutralen Privatrechts vor Augen, 58 welches mit<br />

einem Verständnis des Staates einherging, der sich in Interessenkonfl ikten<br />

zwischen verschiedenen Gruppen sowie verteilungspolitisch neutral verhalten<br />

sollte. 59 Holmes setzte dem entgegen, dass der Verfassung keine bestimmten<br />

ökonomischen Vorstellungen zugrunde lägen. Während der bis<br />

1937 andauernden »Lochner era« ergingen zahlreiche ähnliche Entscheidungen,<br />

in denen auf der Basis formal verstandener Rechts- und Verfas-<br />

52 Holmes (oben N. 50) 457 ff.; kritisch z. B. Bydlinski, Themenschwerpunkte der Rechtsphilosophie<br />

bzw. Rechtstheorie (insbesondere für die Juristenausbildung, Teil I): JBl. 1994,<br />

363. 53 Holmes (The Common Law [1881] Lecture 1) war die allgemeine historische Betrachtung<br />

durchaus wichtig. Horwitz (109 ff., speziell zur historischen Betrachtung 141) argumentiert<br />

freilich, dass sich Holmes’ Ansichten zwischen »The Common Law« und »The Path of the<br />

Law« (oben N. 50) in Richtung einer ausgeprägteren Skepsis entwickelt hatten. Dies stellt eine<br />

interessante Parallele zu Jhering dar, der sich von einem der wichtigsten Vertreter der Begriffsjurisprudenz<br />

zu ihrem Hauptkritiker wandelte; dazu etwa Wieacker 451 f.<br />

54 Holmes (oben N. 50) 474: »I look forward to a time when the part played by history in<br />

the explanation of dogma shall be very small, and instead of ingenious research we shall spend<br />

our energy on a study of the ends sought to be attained and the reasons for desiring them.« Vgl.<br />

dazu auch Summers 870 ff.<br />

55 Vgl. z. B. Kelley, Holmes, Langdell and Formalism: Ratio Juris 15 (2001) 26–51 (44 f.).<br />

56 Lochner v. New York (oben N. 51). Im Zusammenhang mit der Entwicklung des rechtsökonomischen<br />

Denkens siehe z. B. Rowley, Intellectual History 10.<br />

57 Dazu auch McCloskey/Levinson, The American Supreme Court 4 (2005) 102 ff.<br />

58 Vgl. Horwitz 10 f.<br />

59 Vgl. Horwitz 19 f.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

525<br />

sungsprinzipien Sozialgesetzgebung einzelner Bundesstaaten für verfassungswidrig<br />

erklärt wurde, 60 was von einer wachsenden Zahl von Juristen kritisiert<br />

wurde. 61<br />

Der American legal realism der 1920er und 1930er Jahre, der die amerikanische<br />

Rechtslehre nachhaltig prägte, ist in seiner Gegnerschaft zur als wirtschaftsliberal<br />

geltenden Rechtsprechung der »Lochner era« zu sehen, wobei<br />

auch ein Einfl uss von Jherings Kritik an der Begriffsjurisprudenz 62 und der<br />

deutschen Freirechtslehre 63 bestand. Recht wurde seitens der Realisten nicht<br />

mehr als ein System von Regeln, sondern als die Menge aller tatsächlichen<br />

Gerichtsentscheidungen verstanden. 64 Damit wandte sich der Rechtsrealismus<br />

gegen die Sichtweise des Rechts als eigenständiger, wertneutraler Wissenschaft,<br />

die es ermögliche, durch objektive Methoden innerhalb eines geschlossenen,<br />

logischen Systems alle erdenklichen Fälle einer an sich von<br />

vornherein feststehenden Lösung zuzuführen. 65<br />

Grundthese des Rechtsrealismus war die Unbestimmtheit richterlicher<br />

Entscheidungen; diese hängen weniger von den Vorgaben der Präjudizien<br />

oder des gesetzten Rechts als von den konkreten Fakten ab. 66 Gerichtliche<br />

Urteile sind nach Auffassung des legal realism nicht als objektive Anwendung<br />

im Vorhinein feststehender Normen, sondern vor allem als eigene Wertung<br />

des jeweiligen Richters zu verstehen, da abstrakte Regeln und Präzedenzfälle<br />

vom Richter »zurechtgebogen« werden können, 67 wobei allerdings die<br />

Notwendigkeit der Begründung in Form einer richterlichen opinion hier<br />

Grenzen setze. 68 Politisch waren die Realisten meist Gegner des auf Ver-<br />

60 Vgl. z. B. Coppage v. Kansas, 236 U. S. 1 (1915) (Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes,<br />

das eine Diskriminierung von Gewerkschaftsmitgliedern verbot); Morehead v. New York, 298<br />

U. S. 587 (1936) (Arbeitszeitgesetz für Schwangere). Für einen rechtsdogmatisch orientierten<br />

Überblick siehe Tribe, American Constitutional Law I 3 (2000) 1346 ff.; aus der deutschen Literatur<br />

Reich 23 f.; vgl. aber Posner, Overcoming Law (1995) 284.<br />

61 Antikritisch McCloskey/Levinson (oben N. 57) 92.<br />

62 Siehe vor allem F. Cohen, Transcendental Nonsense and the Functional Approach: Colum.<br />

L. Rev. 35 (1935) 809–849; vgl. zu Jherings Wandel auch Wieacker 451 f.<br />

63 Zu Llewellyn Horwitz 172 mit weiteren Nachweisen; generell zu Llewellyn und dem<br />

von ihm maßgeblich geprägten Uniform Commercial Code siehe Whitman, Commercial Law<br />

and the American Volk, A Note on Llewellyn’s German Sources for the Uniform Commercial<br />

Code: Yale L. J. 97 (1987/88) 156–175; allgemein Herget/Wallace, The German Free Law<br />

Movement as the Source of American Legal Realism: Va. L. Rev. 73 (1987) 399–455.<br />

64 Vgl. etwa Mercuro/Medema 10.<br />

65 Kritisch zur Logik in der Rechtsanwendung Dewey, Logical Method and Law: Cornell<br />

L. Q. 10 (1924/25) 17–27; vgl. etwa Horwitz 188.<br />

66 Leiter, American Legal Realism, in: The Blackwell Guide to the Philosophy of Law and<br />

Legal Theory, hrsg. von Golding/Edmundson (2005) 51 ff.<br />

67 Vgl. etwa Singer 465, 469 f.<br />

68 Singer 471 f. mit weiteren Nachweisen. Auch bei Llewellyn (oben N. 49) 1239 kommt<br />

klar zum Ausdruck, dass es darum geht, wie weit Rechtsregeln gerichtliche Entscheidungen<br />

vorhersagen können. Dass Richter nicht völlig unbeschränkt entscheiden, ist überwiegend<br />

anerkannt, siehe nur (als Vertreter der Critical-Legal-Studies-Bewegung) Kennedy, A Critique


526 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

tragsfreiheit aufbauenden Systems selbstregulierender Märkte, 69 das sich<br />

hinter den als formalistisch betrachteten Ableitungen der vor-realistischen<br />

Rechtswissenschaft zu verbergen schien und nach ihrer Auffassung dazu<br />

diente, den immanent politischen Charakter gerichtlicher Entscheidungen<br />

zu legitimieren. Als zentral für diese wirtschaftspolitische Position gilt insbesondere<br />

Robert Hale, ein sich mit dem Recht befassender Ökonom, der<br />

dem Rechtsrealismus zugeordnet wird. Er wies 1923 darauf hin, dass eine<br />

vermeintlich liberale Rechtslage faktisch durchaus zur Beschränkung individueller<br />

Freiheit führen kann: Da Markttransaktionen von vorhandenen<br />

geschützten Rechtspositionen abhängen, wäre der Markt an sich eine Form<br />

von Zwang der Armen durch die Reichen. 70 Im unmittelbar rechtlichen<br />

Bereich geht damit die Ablehnung der Unterscheidung zwischen öffentlichem<br />

Recht und »ideologiefreiem« Privatrecht einher. Nach der rechtsrealistischen<br />

Kritik ist Vertragsfreiheit nichts anderes als eine begrenzte Delegation<br />

der Rechtsetzungsautorität an den Einzelnen. 71<br />

Auch wenn die verschiedenen Zugänge, Methoden und Projekte der<br />

Rechtsrealisten keineswegs einheitlich waren und sich die extremsten Aussagen<br />

nicht durchsetzen konnten, 72 prägte der Rechtsrealismus die amerikanische<br />

Rechtslehre dauerhaft. 73 Auf politischer Ebene erfolgte der Durchbruch<br />

mit dem New Deal unter Präsident Roosevelt, der damit drohte, weitere<br />

Richter zum U. S. Supreme Court zu bestellen, um die konservative<br />

Mehrheit zu überstimmen. 74 Bevor es soweit kam, endete die »Lochner era«<br />

jedoch mit dem Meinungsumschwung eines Richters. 75<br />

Der geschichtliche Abriss zeigt die Besonderheit der amerikanischen Entwicklung,<br />

insbesondere auch im Vergleich zu England. Der englische Rechtspositivist<br />

H. L. A. Hart führte die amerikanische rechtskritische Haltung auf<br />

of Adjudication (1997) 182 ff. (zitiert: Critique), der den Richter als »constrained activist«<br />

sieht; vgl. aber Frank, What Courts Do in Fact: Ill. L. Rev. 27 (1931/32) 645–666, 761–784<br />

(766 ff.).<br />

69 Singer 477.<br />

70 Hale, Coercion and Distribution in a Supposedly Non-Coercive State: Pol. Sci. Q. 38<br />

(1923) 470–478; vgl. auch Hale, Bargaining, Duress, and Economic Liberty: Colum. L. Rev.<br />

43 (1943) 603–628.<br />

71 M. Cohen, The Basis of Contract: Harv. L. Rev. 46 (1932/33) 553–592; siehe auch Jaffe,<br />

Law Making by Private Groups: Harv. L. Rev. 51 (1937/38) 201–253; vgl. dazu auch Singer<br />

483 ff.; Mensch (oben N. 42) 33 ff.<br />

72 Jerome Frank führte Gerichtsentscheidungen vor allem auf die Persönlichkeit des<br />

Richters zurück. Siehe Frank, Law and the Modern Mind (1930); vgl. Summers 879; Singer<br />

470; Horwitz 176. Zu Frank aus der deutschsprachigen Literatur z. B. Reich 86 ff.<br />

73 Siehe z. B. Leiter (oben N. 66) 54 ff. der zwischen zwei Hauptströmungen unterscheidet.<br />

74 Vgl. McCloskey/Levinson (oben N. 57) 108 ff., 113.<br />

75 Dieser kam mit der Entscheidung West Coast Hotel Co. v. Parrish, 300 U. S. 379 (1937).<br />

Zu all dem Tribe (oben N. 60) 1360; McCloskey/Levinson (oben N. 57) 117 ff.; zum Einfl uss auf<br />

die spätere Rechtsprechung auch Reich 125 ff.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

527<br />

den judicial review zurück, also die gerichtliche Prüfung von Gesetzen auf<br />

ihre Verfassungskonformität und auf die Prüfung von Gesetzen auf ihre<br />

Konformität mit Grundrechten. 76 Diese habe in den Bereich der Politik hineingetragen,<br />

was andernorts dem Recht zugeordnet werde. 77 Die amerikanische<br />

Rechtslehre sei im Ergebnis daher hin- und hergerissen zwischen<br />

einerseits der rechtsrealistischen Extremvorstellung der freien richterlichen<br />

Entscheidung und dem unter anderem später bei Ronald Dworkin zum<br />

Ausdruck kommenden Wunsch, wonach es für jede Rechtsfrage eine richtige,<br />

wenn auch oft schwer zu ermittelnde Lösung gebe, die letztlich auf die<br />

grundlegenden Wertungen der Rechtsordnung zurückzuführen seien. 78<br />

Diese besondere Konstellation fehlte etwa in England, ebenso wie andere<br />

politische Faktoren wie etwa der Föderalismus und das daraus resultierende<br />

Konfl iktpotential. 79 Duncan Kennedy führt als weiteren Faktor die große<br />

soziale Heterogenität amerikanischer Juristen an, die zu starken ideologischen<br />

Gegensätzen geführt habe und daher das Interesse an einer Fundamentalkritik<br />

genährt hätte. 80 Die – wiederum im Gegensatz zu England –<br />

gut entwickelten law schools boten zudem genügend akademischen Freiraum.<br />

81<br />

Obwohl der Rechtsrealismus als Bewegung in der Folge seine Dynamik<br />

verlor 82 , kehrte die amerikanische Rechtslehre nicht mehr zur als diskreditiert<br />

geltenden »klassischen« Jurisprudenz zurück. 83 Eine der Hinterlassenschaften<br />

des Rechtsrealismus war die letztlich bereits auf Holmes zurückge-<br />

76 H. L. A. Hart, American Jurisprudence through English Eyes, The Nightmare and the<br />

Noble Dream: Ga. L. Rev. 11 (1976/77) 969–990 (971 f.).<br />

77 Hart (vorige Note) 972.<br />

78 Hart (oben N. 76) 972. Dworkin geht freilich davon aus, dass die »richtige« rechtliche<br />

Lösung oft nur von einem Richter mit übermenschlichen analytischen Fähigkeiten (»Hercules«)<br />

gefunden werden kann, der diese aus den Grundprinzipien der Rechtsordnung und<br />

einer diese erklärenden politischen Theorie extrahiert (grundlegend Dworkin, Hard Cases:<br />

Harv. L. Rev. 88 [1974/75] 1057–1109).<br />

79 Kennedy, Critique (oben N. 68) 78 f.<br />

80 Kennedy, Critique (oben N. 68) 79 f.<br />

81 Duxbury (English Jurisprudence between Austin and Hart: Va. L. Rev. 91 [2005] 1–91<br />

[70 f., 79]) berichtet demgegenüber, dass es im gesamten Vereinigten Königreich 1938/39 nur<br />

1515 Studenten der Rechtswissenschaft gab, wobei Anwälte nicht einmal über einen Universitätsabschluss<br />

verfügen mussten.<br />

82 Ab den 1950er Jahren herrschte die sog. legal process school vor, die den Schwerpunkt auf<br />

den Vorgang der Entscheidungsfi ndung (im Gegensatz zum <strong>Inhalt</strong> der Entscheidung) legte<br />

sowie auf die Frage, welche Institution (Gesetzgebung, Gerichte, Behörden) am besten zur<br />

Entscheidungsfi ndung geeignet sei (dazu Horwitz 253 ff.; Singer 505 f.; Wetlaufer 21 ff.; grundlegend<br />

H. M. Hart/Sacks, The Legal Process: Basic Problems in the Making and Application of<br />

Law [Unterrichtsmaterialien von 1958, posthume Veröffentlichung 1994]).<br />

83 Daran änderte auch Harts Kritik am Rechtsrealismus nichts (H. L. A. Hart, The Concept<br />

of the Law [1961] 137; dazu auch Leiter [oben N. 66] 63 f.), die für viele als überzeugend<br />

gilt; vgl. nur Michael Steven Green, Legal Realism as Theory of Law: William and Mary L.<br />

Rev. 46 (2004/05) 1915–2000 (1917) mit zahlreichen Nachweisen.


528 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

hende Forderung nach Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Methoden,<br />

deren sich alle policymakers – einschließlich der Richter – bedienen sollten, 84<br />

und hierzu zählt eben auch die Ökonomie.<br />

Die amerikanische Law-and-economics-Bewegung wird zuweilen als Erbin<br />

des legal realism und als Verwirklichung der Holmesschen Prophezeiung des<br />

Juristen als Sozialwissenschaftler gesehen. 85 Manche der Rechtsrealisten begannen,<br />

sich eklektisch mit Soziologie, Psychologie und Ökonomie auseinanderzusetzen.<br />

86 Als bekanntes Beispiel ist die 1932 erschienene Monographie<br />

von Adolf A. Berle (einem Juristen) und Gardiner Means (einem Ökonomen)<br />

über »The Modern Corporation and Private Property« zu nennen, 87<br />

die auch heute noch als eine der ersten wichtigen Untersuchungen zum Interessenkonfl<br />

ikt zwischen Aktionären und Management in börsennotierten<br />

Kapitalgesellschaften gilt. Teilweise hatten die vor dem Hintergrund des<br />

Rechtsrealismus entstandenen empirischen Studien Einfl uss auf die Gesetzgeber,<br />

etwa im Bereich des 1938 reformierten Insolvenzrechts. 88<br />

Die Charakterisierung von law and economics als Fortsetzung des legal realism<br />

ist keineswegs unumstritten. Wie andere Entwicklungen der amerikanischen<br />

Rechtstheorie des 20. Jahrhunderts 89 ist das rechtsökonomische Paradigma<br />

sowohl als Gegenbewegung als auch als Fortentwicklung des Realismus<br />

zu verstehen, wobei allen Schulen die realistische Ablehnung einer<br />

Rechtslogik oder -wissenschaft und die vorrangige Orientierung an Interessenkonfl<br />

ikten gemein ist. 90 Normative Theorien, im Sinne von rechtspo-<br />

84 Siehe z. B. Cook, The Logical and Legal Bases of the Confl ict of Laws: Yale L. J. 33<br />

(1923/24) 457–488 (457 ff.); Yntema, The Hornbook Method and the Confl ict of Laws: Yale<br />

L. J. 37 (1927/28) 468–483 (481); Llewellyn, A Realistic Jurisprudence, The Next Step: Colum.<br />

L. Rev. 30 (1930) 431–465 (431 ff.); Robinson, Law, An unscientifi c Science: Yale L. J. 44<br />

(1934/35) 235–267 (257); vgl. auch Summers 889 ff.; Minda, The Law and Economics and<br />

Critical Legal Studies Movements in American Law, in: Law and Economics, hrsg. von Mercuro<br />

(1989) 87–122 (96); Duxbury 79 ff.<br />

85 Vgl. etwa Posner, The Law and Economics Movement, From Bentham to Becker, in:<br />

The Origins of Law and Economics (oben N. *) 328–349 (344 f.); anders dagegen Posner,<br />

Overcoming Law (oben N. 60) 3; vgl. auch Wetlaufer 37; kritisch Duxbury 301 ff.; vgl. auch<br />

Kronman, Jurisprudential Reponses to Legal Realism: Cornell L. Rev. 73 (1987/88) 335–340<br />

(339).<br />

86 Zum »wissenschaftlichen Zweig« des Rechtsrealismus siehe etwa Kronman (vorige Note)<br />

336 ff. Zu damaligen Ansätzen einer ökonomischen Analyse des Vertragsrechts siehe Schwartz,<br />

Karl Llewellyn and the Early Law and Economics of Contract, in: The New Palgrave Dictionary<br />

of Law and Economics, hrsg. von Newman II (1998) 421 ff.<br />

87 Horwitz 166, ordnet die Arbeit dem Rechtsrealismus zu.<br />

88 Zur Gesetzgebungsgeschichte des Chandler Act von 1938 und des vorangehenden Berichts<br />

der Securities and Exchange Commission siehe Skeel, Debt’s Dominion (2001) 109 ff.<br />

89 Zu nennen sind etwa die legal process school, rights theory, law and society, critical legal studies.<br />

Siehe auch die Einteilung der Schulen in: A Companion to Philosophy of Law and Legal<br />

Theory, hrsg. von Patterson (1999) Kapitel II.<br />

90 Vgl. nur Singer 503 f., der zwischen »liberalen« und »kritischen« Bewegungen unterscheidet.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

529<br />

litischen Zugängen, hatten im Rechtsrealismus selbst noch eine untergeordnete<br />

Stellung. 91 Der Rechtsrealismus und sein instrumentelles Rechtsverständnis<br />

machten es allerdings aufgrund der Ablehnung reiner Dogmatik als<br />

Werkzeug des Juristen unausweichlich, ein normatives Programm zu entwickeln,<br />

um die Unbestimmtheit der Auslegung zu ergänzen bzw. ersetzen. 92<br />

Als sich mit dem Rechtsrealismus die Auffassung durchsetzte, dass eine rein<br />

dogmatische Methode zu keinen eindeutigen Ergebnissen führt, mussten<br />

andere Maßstäbe zur Entscheidungsfi ndung geschaffen werden. Diese Maßstäbe<br />

mussten sich nun an außerjuristischen Elementen orientieren. Dies<br />

führt in der Rechtswissenschaft notwendigerweise zu einer Betonung der<br />

Rechtspolitik. 93<br />

Auch wenn zwischen der Blütezeit des Rechtsrealismus und der allgemeinen<br />

Verbreitung der Rechtsökonomie mehrere Jahrzehnte lagen, ist eine<br />

klare Verbindungslinie zu erkennen. Der Rechtsökonomie liegt das methodische<br />

Instrumentarium der Wirtschaftswissenschaften zugrunde, das Prognoseaussagen<br />

über die Folgen von Rechtsnormen ermöglicht, die wiederum<br />

einer empirischen Überprüfung unterworfen werden können. Einerseits<br />

dadurch, andererseits durch die von der normativen Rechtsökonomie regelmäßig<br />

auch getätigten Aussagen über die aus ökonomischer Sicht wünschenswerten<br />

Ergebnisse, traf sie offenbar den Nerv der durch die Erfahrung<br />

des Rechtsrealismus geprägten amerikanischen Rechtswissenschaft. Obwohl<br />

es nach wie vor auch Kritik an der Rechtsökonomie gibt, gelang es<br />

dieser, zumindest für einen erheblichen Teil, in eine Lücke zu stoßen, die<br />

vom Rechtsrealismus geschaffen worden war, indem sie den als diskreditiert<br />

geltenden juristischen Formalismus in wesentlichen Teilgebieten der Rechtslehre<br />

durch einen ökonomischen Zugang ersetzte. 94<br />

91 Leiter (oben N. 45) 276 f. spricht in diesem Zusammenhang von »Quietism«; ähnlich<br />

Reich 116 ff., der allerdings auf F. Cohen hinweist (119 f.).<br />

92 Unter anderem riefen zu Beginn der 1940er Jahre Lasswell/McDougal (Legal Education<br />

and Public Policy, Professional Training in the Public Interest: Yale L. J. 52 [1942/43] 203–<br />

295 [205]) in Yale zur Einbeziehung von Rechtspolitik in die Lehre auf; dazu auch Mensch<br />

(oben N. 42) 36.<br />

93 Siehe bereits Reich 135.<br />

94 Zu dieser Verbindung siehe auch Leff, Economic Analysis of Law, Some Realism about<br />

Nominalism: Va. L. Rev. 60 (1974) 451–482 (459); Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts<br />

in den USA, Verbindungslinien zur realistischen Tradition, in: Ökonomische Analyse des<br />

Rechts 2 , hrsg. von Assmann/Kirchner/Schanze (1993) 1–16 (6 f.); Dau-Schmidt/Brun 615; vgl.<br />

auch Posner, The Problems of Jurisprudence (1990) 362, der die Möglichkeit empirischer<br />

Überprüfung ökonomischer Aussagen betont.


530 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

2. Die utilitaristische Basis der Rechtsökonomie<br />

Der Rechtsrealismus allein genügt freilich nicht, die heutige Bedeutung<br />

der Rechtsökonomie in den USA zu erklären, da parallel zu diesem auch<br />

andere normative Programme entstanden, die mit dem Rechtsrealismus die<br />

instrumentelle, konsequentialistische Sicht des Rechts gemeinsam haben,<br />

wie insbesondere das law and society movement sowie critical legal studies. Der<br />

zweite wesentliche Baustein für die Verbreitung der ökonomischen Analyse<br />

des Rechts war die hohe Akzeptanz einer utilitaristischen Grundeinstellung<br />

schlechthin in den USA.<br />

Ideengeschichtlich geht der Utilitarismus vor allem auf Jeremy Bentham<br />

zurück, der in seinen rechtspolitischen Arbeiten gegen Ende des 18. Jahrhunderts<br />

Kritik an Sir William Blackstone übte. 95 Während Blackstone das<br />

geltende Recht lehrte, 96 war Bentham ein Reformer. 97 Er wollte die überkommenen<br />

Dogmen und die Berufung auf nicht hinterfragbare Autoritäten<br />

diskreditieren und war nicht zuletzt für seine Aversion gegenüber theologischem<br />

und metaphysischem Gedankengut bekannt. 98 Bentham hatte sowohl<br />

ein Modell des menschlichen Verhaltens (»Nature has placed mankind<br />

under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure«) 99 als<br />

auch ein relativ klar defi niertes gesetzgeberisches Ziel (»[. . .] the happiness of<br />

the individuals, of whom a community is composed [. . .] is the end and the<br />

sole end which the legislator ought to have in view«) 100 . Er konnte unter<br />

anderem auf Cesare Beccaria aufbauen und fand in James Mill sowie dessen<br />

Sohn John Stuart Mill 101 weitere Verfechter seiner Lehren. 102<br />

Benthams Werke fanden weit über seine Heimat hinaus Anklang und<br />

erreichten über Spanien sogar Lateinamerika. Allerdings war ihm in Frankreich<br />

und Deutschland kein Erfolg beschieden. 103 In den Vereinigten Staaten<br />

stand er mit verschiedenen Politikern in Kontakt. 104 Vor dem Hintergrund<br />

95 Inwieweit er dabei nur seine eigenen Wertvorstellungen fördern wollte, soll hier nicht<br />

weiter behandelt werden; in diesem Sinn z. B. Posner, Blackstone and Bentham: J. L. Econ. 19<br />

(1976) 569–606 (593, 596).<br />

96 Blackstone, Commentaries on the Law of England I-IV (1765–1769) (London 1783).<br />

97 Halévy 35. Bentham selbst kritisiert Blackstone wegen seiner reformfeindlichen Einstellung;<br />

Bentham, A Fragment of Government, Preface. Zur Kritik Benthams an Blackstone<br />

siehe auch Posner, Blackstone and Bentham (oben N. 95) 569 mit einer etwas anderen Interpretation.<br />

98 Halévy 292 ff.; Lee, The legal-rational state (1990) 140 ff.<br />

99 Bentham, Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789) 1. Zum psychologischen<br />

Hedonismus im Zusammenhang mit Bentham siehe auch Kelly, Utilitarianism<br />

and Distributive Justice, Jeremy Bentham and the Civil Law (1990) 14 ff.<br />

100 Bentham (vorige Note) 27.<br />

101 Zur Bedeutung von Mill siehe z. B. Halévy 271; Kelly (oben N. 99) 5 f.<br />

102 Ausführlich Halévy.<br />

103 Halévy 296 f.<br />

104 Siehe etwa King 71.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

531<br />

des amerikanischen Strebens nach Unabhängigkeit war ihm als Person nur<br />

eingeschränkt Erfolg vergönnt. 105 Zumindest indirekt erlangten Benthams<br />

Lehren allerdings doch erheblichen Einfl uss. Das größtmögliche Glück<br />

wurde von namhaften Politikern wie Thomas Jefferson und Benjamin Franklin<br />

als rechtspolitische Zielsetzung proklamiert und auch von Philosophen<br />

aufgegriffen und weiterentwickelt. 106 Zugleich nahmen Zeitungen positiv<br />

auf Bentham Bezug. 107<br />

Benthams Bedeutung nahm bis zum amerikanischen Bürgerkrieg weiter<br />

zu, wobei diese im Norden größer als im Süden war. Auch das Fallrecht<br />

beeinfl usste er, was unter anderem einige Zitate durch Gerichte zeigen. 108<br />

Insbesondere erklärte das amerikanische höchste Gericht in einer Entscheidung<br />

von 1837 »the object and end of all government is to promote the<br />

happiness and prosperity of the community by which it is established«. 109 Zu<br />

dieser Zeit war es – ausgehend von Richtern wie Mansfi eld – anerkannt,<br />

vom common law abzuweichen, wenn die Utilität es erforderte, was unter<br />

anderem damit begründet wurde, dass das common law stets einen utilitaristischen<br />

Wandel erlaubte. 110 Ingesamt lässt sich aber bereits in der ersten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts ein nicht unerheblicher Einfl uss Benthams auf<br />

die öffentliche Meinung in den USA feststellen.<br />

Teilweise wirkten seine Lehren auch im Rechtsrealismus fort, allerdings<br />

primär hinsichtlich der Auswirkungen von Rechtsnormen und nicht als<br />

rechtspolitisches Programm. 111 Viel stärker nahm die neoklassische Wohlfahrtsökonomie<br />

auf die Nutzenmaximierung als normativen Maßstab Bezug,<br />

die auf dem klassischen Utilitarismus aufbaute und diesen weiterentwickelte<br />

112 sowie selbst eine wesentliche Grundlage für die rechtsökonomische<br />

Analyse des Rechts darstellt. 113 Schon William Stanley Jevons, der als einer<br />

105 Vgl. David Hoffman, Hoffman’s Legal Outlines: Southern Rev. 4 (August 1829) 467–<br />

469 (zitiert bei King 177). Zu Benthams Kodifi kationsbestrebungen vor allem in den Vereinigten<br />

Staaten siehe auch Schofi eld/Harris, Editorial Introduction, in: The Collected Works of<br />

Jeremy Bentham: Legislator of the World, hrsg. von Schofi eld/Harris (1998) S. XI-LVIII.<br />

106 King 139 ff., 142. Auch Bentham sah <strong>dieses</strong> Prinzip als treibende Kraft der amerikanischen<br />

Gesetzgebung bereits als verwirklicht an (King 62).<br />

107 Z. B. »Bosten Morning Post« vom 16. 5. 1840; »New York Evening Post« vom 11. 6.<br />

1840; »Democratic Review«. Sogar die konservative »North American Review« bewertete es<br />

positiv, dass Bentham alte Vorurteile zerstörte; alle zitiert nach King 252 ff.<br />

108 Eine Suche nach Bentham-Zitaten in der US-amerikanischen Rechtsprechung mittels<br />

der Rechtsdatenbank LexisNexis ergab 624 Treffer, davon 46 in Entscheidungen des United<br />

States Supreme Court. Die Suche wurde zuletzt am 28. 11. 2005 wiederholt.<br />

109 Charles River Bridge v. Warren Bridge, 36 U. S. (11 Pet.) 420 (1837).<br />

110 Mensch (oben N. 42) 27.<br />

111 Vgl. nur die enthusiastische Bewertung Benthams durch Cohen (oben N. 62) 848.<br />

112 Bohmen, Die utilitaristische Ethik als Grundlage der modernen Wohlfahrtsökonomie<br />

(1964).<br />

113 Siehe z. B. Rowley, Wealth Maximization 981 ff.; vgl. auch Kornhauser, A Guide to the<br />

Perplexed Claims of Effi ciency in the Law: Hofstra L. Rev. 8 (1979/80) 591–639 (598). Unter


532 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

der Gründer der Grenznutzentheorie gilt und ein Anhänger Benthams war,<br />

meinte »utility must be considered as measured by [. . .] the addition to a<br />

person’s happiness. It is a convenient name for the aggregate of the favourable<br />

balance of feeling produced – the sum of the pleasure created and the pain<br />

prevented.« 114<br />

Bentham glaubte, dass Glück unabhängig von den Individuen homogen<br />

war und auf einer Kardinalskala gemessen und damit verglichen bzw. aggregiert<br />

werden konnte. 115 Der Gedanke einer kardinalen Nutzenmessung<br />

wirkte von Bentham bis auf die Arbeiten von Arthur Cecil Pigou fort 116 und<br />

prägte trotz der Fortschritte in der Wohlfahrtsökonomie – die sich letztlich<br />

auf eine ordinale Nutzenmessung beschränkte 117 – auch die Law-and-economics-Bewegung<br />

maßgeblich. Entscheidend war bzw. ist die vom Utilitarismus<br />

und der Rechtsökonomie geteilte Überzeugung, dass eine Schätzung<br />

des individuellen Nutzens zu einer besseren Lösung führe als alternative<br />

Ansätze. 118 Die praktische Umsetzung <strong>dieses</strong> Gedankens bedeutete vielfach<br />

die Umrechnung in Geld, zu der auch die moderne Rechtsökonomie teilweise<br />

neigt und deren Grundzüge schon bei Bentham angelegt sind. 119<br />

Bentham schuf die Grundlagen für einen normativen Gehalt der Ökonomie<br />

und machte sie damit zum Gegenstand rechtlicher Theorien. 120 Frühe<br />

Arbeiten der modernen Rechtsökonomie griffen mitunter direkt auf Bentham<br />

zurück. So bereitete etwa die »Introduction to the Principles of Morals<br />

and Legislation« die Grundlage für die rechtsökonomische Analyse des späteren<br />

Nobelpreisträgers und führenden Rechtsökonomen Gary Becker in<br />

anderem führte Francis Ysidro Edgeworth, der gemeinsam mit Henry Sidgwick Utilitarist<br />

und einer der bekanntesten frühen Wohlfahrtsökonomen war, mit seinem Kriterium der »just<br />

noticable differences« zur Messung des Nutzens die utilitaristische Tradition fort; Cooter/Rappoport,<br />

Were the Ordinalists Wrong About Welfare Economics?: J. Econ. Lit. 22 (1984) 507–<br />

530 (511).<br />

114 Jevons, The Theory of Political Economy (1871; Nachdruck Macmillan 1975) 53 f.<br />

115 Z. B. Rowley, Wealth Maximization 978 f. im Zusammenhang mit der Rechtsökonomie.<br />

116 Pigou, The Economics of Welfare (1920); vgl. Rowley, Wealth Maximization 978 f.,<br />

982. 117 Die Abkehr von der kardinalen Nutzenmessung und interpersonellen Nutzenvergleichen<br />

wird insbesondere auf Vilfredo Pareto zurückgeführt (vgl. Samuelson, Foundations of<br />

Economic Analysis [1947] 93 f.; siehe konkret Pareto, Manuale di Economia Politica [1906]<br />

insb. Kapitel III §§ 12, 16, 29; zum Utilitarismus II §§ 34 ff.). Zur Annahme individueller ordinaler<br />

Präferenzen in der neoklassischen Konsumtheorie siehe Samuelson (diese Note) 97 f.,<br />

173 ff., 226 ff. Im historischen Rückblick Cooter/Rappoport (oben N. 113) 507 ff.<br />

118 Siehe z. B. Rowley, Wealth Maximization 981 ff.<br />

119 Lee (oben N. 98) 119; Kelly (oben N. 99) 33 f.<br />

120 Posner, Bentham’s infl uence on the law and economics movement: Curr. Leg. Probl. 51<br />

(1998) 425–439 (437) (zitiert: Bentham’s infl uence). Siehe auch Rowley, Intellectual History<br />

8; vgl. ferner Harrison, Introduction to J. Bentham, in: Bentham, A Fragment on Government<br />

(1988) 228; Joseph Priestley, An Essay on the First Principles of Government (1768); dazu z. B.<br />

Halévy 127 f.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

533<br />

»Crime and Punishment«. 121 Richard Posner, einer der Pioniere der ökonomischen<br />

Analyse des Rechts, räumt ein, dass der Utilitarismus Benthams<br />

entscheidenden Einfl uss hatte, 122 obwohl er selbst versuchte, sich vom Utilitarismus<br />

abzugrenzen. 123 Posner geht wie Bentham davon aus, dass Individuen<br />

rationale Nutzenmaximierer sind und dass ökonomische Effi zienz ein<br />

wissenschaftliches Konzept ist. 124 In seinen Werken verwendet er Vermögen,<br />

um Nutzen kardinal zu messen, und geht vom rechtspolitischen Kriterium<br />

der Gesamtnutzenmaximierung aus, das den Kern des Utilitarismus<br />

darstellt. 125<br />

Generell liegen die Grundpfeiler des Utilitarismus auch gleichzeitig der<br />

Rechtsökonomie zugrunde. Das gilt sowohl für den Wertmonismus 126 (also<br />

die Umrechnung allen Nutzens auf eine Einheit 127 ) wie für den Konsequentionalismus,<br />

wonach Handlungen nach ihren (handlungsexternen) Auswirkungen<br />

beurteilt werden, und für das Prinzip der universellen Glücks- bzw.<br />

Nutzenmaximierung (also der Gedanke, die Bedürfnisbefriedigung entsprechend<br />

den individuellen Präferenzen sei etwas an sich Erstrebenswertes).<br />

128 Dementsprechend werden ganz ähnlich »welfarism«, »sum-ranking«<br />

und »consequentialism« als Charakteristika des Utilitarismus bezeichnet, die<br />

über die Vertreter der Grenznutzentheorie und der Wohlfahrtsökonomie<br />

die moderne Rechtsökonomie geprägt haben. 129<br />

Für die Entwicklung der Rechtsökonomie dürfte nicht unbedeutend gewesen<br />

sein, dass in ihren Anfangsjahren einfl ussreiche Kritiken am Utilita-<br />

121 Vgl. etwa Posner, Blackstone and Bentham (oben N. 95) 600 zum Einfl uss von Bentham<br />

auf Becker, Crime and Punishment, An Economic Approach: J. Pol. Econ. 76 (1968) 169–217;<br />

weiters Posner, Bentham’s infl uence (vorige Note) 430, 437.<br />

122 Siehe vorige Note.<br />

123 Siehe z. B. Posner, Utilitarianism, Economics, and Legal Theory: J. Leg. Stud. 8 (1979)<br />

103–140 (zitiert: Utilitarianism); Posner, Bentham’s infl uence (oben N. 120) 425. Siehe auch<br />

die Zusammenfassung bei Parisi, Methodological Debates in Law and Economics, The Changing<br />

Contours of a Discipline, in: The Origins of Law and Economics (oben N. *) 33–52 (46 f.),<br />

der von einem sehr engen Utilitarismusbegriff ausgeht. Gerade diese Distanzierung (insbesondere<br />

»wealth maximization« statt »Glücksmaximierung«) hat Posner Kritik eingebracht;<br />

siehe z. B. Calabresi, The New Economic Analysis of Law: Scholarship, Sophistry, or Self-<br />

Indulgence: Proc. Brit. Acad. 68 (1982) 85–108 (90) (zitiert: Analysis); vgl. auch Mathis, Effi -<br />

zienz statt Gerechtigkeit (2003) 187.<br />

124 Rowley, Wealth Maximization 990 mit Bezug zu Posner, The Economics of Justice<br />

(1981).<br />

125 Siehe auch Rowley, Wealth Maximization 992.<br />

126 Siehe z. B. Kornhauser (oben N. 113) 598.<br />

127 Gesang, Eine Verteidigung des Utilitarismus (2003) 19.<br />

128 Eine übersichtliche Darstellung der Grundbausteine des Utilitarismus bietet Gesang<br />

(vorige Note) 17 ff.<br />

129 Rowley, Wealth Maximization 981 ff.; vgl. auch Kornhauser (oben N. 113) 591 ff., 598 f.<br />

zur Verknüpfung von Utilitarismus und dem rechtsökonomischen Maßstab der Gesamtnutzenmaximierung.


534 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

rismus noch nicht geschrieben waren 130 und in der akademischen Gemeinschaft<br />

eine gegenüber dem Utilitarismus weitgehend freundliche Grundeinstellung<br />

herrschte. 131 Selbst Kritiker des Utilitarismus entfernten sich nicht<br />

allzu weit von Grundaussagen seiner klassischen Lehren. 132<br />

Es können als Zwischenergebnis zwei wesentliche Gründe für die Aufnahme<br />

ökonomischer Erwägungen in die amerikanische Rechtslehre festgehalten<br />

werden: Die spezifi sche politische Situation in der ersten Hälfte des<br />

20. Jahrhunderts begünstigte die Entwicklung des Rechtsrealismus und die<br />

Diskreditierung der klassischen Dogmatik. Das dadurch entstandene Bedürfnis<br />

nach normativen Theorien führte zur Rechtsökonomie, die auf einer<br />

langen utilitaristischen Tradition aufbauen konnte (und dadurch gegenüber<br />

anderen aufkommenden Strömungen im Vorteil war). Heute hängen<br />

amerikanische Rechtsgelehrte überwiegend einem instrumentellen Rechtsverständnis<br />

an: Recht wird generell als Mittel zur Verwirklichung bestimmter<br />

Ziele und nicht als Wert an sich gesehen. 133<br />

3. Law and economics und Politik<br />

Neben der grundsätzlichen Offenheit gegenüber dem Utilitarismus ist als<br />

weiterer Faktor für die Verbreitung der Rechtsökonomie – ebenso wie zuvor<br />

beim Rechtsrealismus – wesentlich, dass sie in ihrer zu Beginn vorherrschenden<br />

Strömung mit einer gegen den Staatsinterventionismus des »New<br />

Deal« gerichteten wirtschaftspolitischen Ausrichtung in Verbindung stand,<br />

die sich zu dieser Zeit entwickelte. Als ein einem breiten Kreis (auch von<br />

Juristen) zugängliches Werkzeug entstand sie in den 1960er Jahren und wurde<br />

unter anderem von den Arbeiten von Ronald Coase und Guido Calabresi<br />

ausgelöst, die meist als Begründer der Law-and-economics-Bewegung genannt<br />

werden. 134 Der Boden dafür wurde schon in den 1940er und 1950er<br />

Jahren an der University of Chicago bereitet, wo vor allem Aaron Director<br />

130 Z. B. Sen, Collective Choice and Social Welfare (1970); Rawls, A Theory of Justice<br />

(1971); Nozick, Anarchy, State, and Utopia (1974); Dworkin, Taking Rights Seriously (1977).<br />

Freilich gab es bereits zuvor bekannte Angriffe auf den Utilitarismus, z. B. Robbins, An Essay<br />

on the Nature and Signifi cance of Economic Science (1932).<br />

131 So jedenfalls Calabresi (oben N. 123) 104; siehe auch Broome, Modern Utilitarianism,<br />

in: The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, hrsg. von Newman II (1998)<br />

651–656; ähnlich zu ökonomischen Effi zienzanalysen Roe, Backlash: Colum. L. Rev. 98<br />

(1998) 217–241 (239).<br />

132 So wurde die Rawlssche Konzeption der Gerechtigkeit als utilitaristisch interpretiert,<br />

wogegen sich Rawls (Justice as Fairness2 , A Restatement [2001]; deutsche Übersetzung: Gerechtigkeit<br />

als Fairness, Ein Neuentwurf [2003] 170 ff.) freilich wehrte.<br />

133 Summers 861 ff.; Kornhauser, The Great Image of Authority: Stan. L. Rev. 36 (1984)<br />

349–390 (361).<br />

134 Dazu und zum Folgenden auch Schanze (oben N. 94) 2 ff.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

535<br />

zu nennen ist, der als Ökonom eine Professur an der Law School erhielt. 135<br />

Unter seiner Ägide begann sich die dem Laissez-faire-Gedanken verpfl ichtete<br />

Chicago School, die von Frank Knight 136 und seinen Schülern geprägt<br />

wurde, auch in der Law School durchzusetzen, 137 wobei zunächst vor allem<br />

das Kartellrecht im Zentrum des Interesses stand. 138 In diesem Umfeld entstand<br />

1958 auch das »Journal of Law and Economics«, in dem Ronald Coase<br />

1960 seinen bahnbrechenden Aufsatz veröffentlichen konnte, 139 mit dem er<br />

die moderne Law-and-economics-Bewegung auslöste. Auch Gary Becker, dem<br />

vor allem das Verdienst zugeschrieben wird, ökonomische Methoden auf<br />

viele nicht von Märkten dominierte Lebensbereiche angewandt zu haben,<br />

wie etwa Kriminalität, Rassendiskriminierung oder Familienleben 140 , war<br />

überwiegend an der University of Chicago (allerdings nicht an der Law<br />

School) tätig. 141 Die Ökonomie konnte einerseits Aussagen in den für Juristen<br />

interessanten Kerngebieten des Vertrags- und Schadenersatzrechts auch<br />

außerhalb von Märkten machen, andererseits in schon zuvor von Ökonomen<br />

oft behandelten Bereichen wie der Industrieökonomie konkretere, für die<br />

Rechtsanwendung interessantere Ergebnisse entwickeln. 142<br />

Entscheidend für die Akzeptanz der ökonomischen Analyse des Rechts<br />

war aber wohl die Anwendung wirtschaftswissenschaftlichen Denkens auf<br />

juristische Fragen nicht in erster Linie durch Ökonomen, sondern vor allem<br />

durch Juristen selbst. Vorreiter war Guido Calabresi, der ab 1960 unabhängig<br />

von Coase in Yale begann, sich aus ökonomischer Sicht mit dem Schadenersatzrecht<br />

zu beschäftigen. 143 Als wichtiger früher Rechtsökonom aus<br />

dem Kreise der »Juristen« ist auch Henry Manne zu nennen, der unter Di-<br />

135 Umfassend Duxbury 331, 335 f., 342; Mercuro/Medema 52; Mackaay (oben N. 40) 72;<br />

Rowley, Law-and-economics from the perspective of economics, in: The New Palgrave Dictionary<br />

of Economics and the Law (oben N. 131) 478.<br />

136 Frank Knight gilt als Begründer der »Chicago School of Economics«, vgl. z. B. Hackney,<br />

Law and Neoclassical Economics: Science, Politics and the Reconfi guration of American<br />

Tort Law Theory: Law and History Review (L. Hist. Rev.) 15 (1997) 275–322 (295 mit weiteren<br />

Nachweisen); Mercuro/Medema 54.<br />

137 Vgl. Wetlaufer 37; weitere Nachweise bei Rowley, Intellectual History 13.<br />

138 Vgl. etwa Bok, Section 7 of the Clayton Act and the Merging of Law and Economics:<br />

Harv. L. Rev. 74 (1960) 226–355; historisch Duxbury 345, 350.<br />

139 Coase, The Problem of Social Cost: J. L. Econ. 3 (1960) 1–44.<br />

140 Becker, The Economics of Discrimination (1957); ders., Crime and Punishment (oben<br />

N. 121); ders., A Treatise on the Family (1981).<br />

141 Vgl. Mackaay (oben N. 40) 73.<br />

142 Vgl. Posner, The Decline of Law as an Autonomous Discipline, 1962–1987: Harv. L.<br />

Rev. 100 (1986/87) 761–780 (767).<br />

143 Z. B. Calabresi, Some Thoughts on Risk Distribution and the Law of Torts: Yale L. J.<br />

70 (1960/61) 499–553; ders., The Cost of Accidents (1970) (zitiert: Cost); Calabresi/Melamad,<br />

Property Rules, Liability Rules and Inalienability, One View of the Cathedral: Harv. L. Rev.<br />

85 (1971/72) 1089–1128; Calabresi/Hirschoff, Toward a Test for Strict Liability in Torts: Yale<br />

L. J. 81 (1971/72) 1055–1085.


536 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

rector in Chicago studiert hatte 144 und vor allem im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht<br />

einen anti-interventionistischen Ansatz 145 propagierte. 146<br />

Für zwei wesentliche Schritte zur Etablierung der Rechtsökonomie als anerkannter<br />

Disziplin war der Jurist Richard Posner verantwortlich, nämlich die<br />

Gründung des »Journal of Legal Studies« 1972 147 und die erste Aufl age seiner<br />

Monographie »Economic Analysis of Law« im Jahr 1973 148 , die erstmals eine<br />

ökonomische Aufarbeitung der Rechtsordnung beinahe in ihrer gesamten<br />

Breite versuchte.<br />

Die oft behauptete »konservative«, d. h. wirtschaftsliberale Ausrichtung 149<br />

stellt auch einen wichtigen Kritikpunkt dar, der freilich für die Verbreitung<br />

der Rechtsökonomie von wesentlicher Bedeutung war. In pauschaler Form<br />

ist die Kritik zwar nicht berechtigt, historisch aber verständlich. Rechtsökonomische<br />

Argumente wurden, vor allem seitens der Chicago School, oft zur<br />

Untermauerung wirtschaftsliberaler Politikziele eingesetzt. Gerade Richard<br />

Posner gilt nach weit verbreiteter Ansicht als »konservativ«; 150 seine These,<br />

das Richterrecht des common law tendiere zur Effi zienz (im Sinne von Vermögensmaximierung),<br />

151 richtet sich gegen Eingriffe des Gesetzgebers. Posners<br />

einfl ussreiches, für Nicht-Ökonomen gut zugängliches Lehrbuch und<br />

144 Siehe auch Manne, How law and economics was marketed in a hostile world, A very<br />

personal history, in: The Origins of Law and Economics (oben N. *) 309–327, der anschaulich<br />

Widerstände gegen den neuen Ansatz beschreibt.<br />

145 Manne, The Higher Criticism of the Modern Corporation: Colum. L. Rev. 62<br />

(1961/62) 399–432; ders., Mergers and the Market for Corporate Control: J. Pol. Econ. 73<br />

(1965) 110–120; ders., Our Two Corporate Systems, Law and Economics: Va. L. Rev. 53<br />

(1967) 259–284. Berühmt geworden sind vor allem seine Arbeiten zum Insider Trading. Siehe<br />

Manne, Insider Trading and the Stock Market (1966).<br />

146 Duxbury 359.<br />

147 Bereits seit 1958 gab es das von Aaron Director begründete und von Coase fortgeführte<br />

»Journal of Law and Economics«.<br />

148 1 6<br />

Posner, Economic Analysis of Law (1972); zuletzt ders., Economic Analysis of Law<br />

(2003).<br />

149 Z. B. Horwitz, Law and Economics, Science or Politics?: Hofstra L. Rev. 8 (1979/80)<br />

905–912; Kelman, A Guide to Critical Legal Studies (1987) 126; Downs, Law and Economics,<br />

Nexus of Science and Beliefs: Pac. L. J. 27 (1995/96) 1–36 (19). Siehe zur Kritik in der<br />

deutschsprachigen Literatur z. B. Taupitz 129 f., 133.<br />

150 Z. B. Malloy, Invisible Hand or Sleight of Hand?, Adam Smith, Richard Posner and the<br />

Philosophy of Law and Economics: U. Kan. L. Rev. 36 (1988) 209–259; Minda (oben N. 41)<br />

373; dagegen Posner, The New Institutional Economics Meets Law and Economics: Journal of<br />

Institutional and Theoretical Economics (JITE) 149 (1993) 73–87 (83).<br />

151 Posner (oben N. 148); siehe ferner Rubin, Why is the Common Law Effi cient?: J. Leg.<br />

Stud. 6 (1977) 51–63; Priest, The Common Law Process and the Selection of Effi cient Rules:<br />

ebd. 65–82; zum Schadenersatzrecht William Landes/Posner, The Economic Structure of Tort<br />

Law (1987); a. A. dagegen z. B. Kornhauser (oben N. 113) 591–639; Malloy (vorige Note 150);<br />

Hirsch, Comment: Evolutionary Theories of Common Law Effi ciency, Reasons for (Cognitive)<br />

Skepticism: Fla. St. U. L. Rev. 32 (2004/05) 425–441; Gennaioli/Shleifer, The Evolution<br />

of Precedent (April 2005) (NBER Working Paper No. W11265), mit Differenzierungen.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

537<br />

seine quantitativ besonders hervorstechende Publikationstätigkeit prägen bis<br />

heute die Außenwahrnehmung des rechtsökonomischen Forschungsansatzes.<br />

152 Nicht selten wird er als Leitfi gur angesehen, was zum Teil auf den<br />

geradezu imperialistischen Charakter seines Hauptwerks zurückgeführt<br />

wird. 153 Seine teilweise radikalen bzw. eigentümlich anmutenden Vorschläge<br />

154 machen ihn zum beliebten Ziel der Kritik. 155<br />

Der praktische Einfl uss dieser Form der Rechtsökonomie ist mit drei Faktoren<br />

verbunden. Erstens wurden ab dem Amtsantritt Präsident Reagans<br />

einige bekannte Rechtsökonomen zu Bundesrichtern bestellt, etwa bereits<br />

1981 Richard Posner. Dies hatte nicht nur Einfl uss auf die Rechtsentwicklung,<br />

sondern auch Rückwirkungen auf die Lehre. Eine 2002 erschienene<br />

Studie 156 stellt eine überproportionale Dominanz einiger weniger auch in<br />

der Lehre tätigen Richter in den sog. casebooks fest, namentlich Richard<br />

Posner, Frank Easterbrook und Ralph Winter, die alle als wirtschaftsliberal<br />

gelten. 157<br />

Zweitens ist das 1976 von Henry Manne etablierte Intensivtrainingsprogramm<br />

für Richter anzuführen, in dem diesen die Grundlagen der Mikroökonomie<br />

nähergebracht werden sollten. 158 Auch <strong>dieses</strong> wurde vielfach als<br />

einseitig der Chicago School verpfl ichtet und überdies als von der Großindustrie<br />

gesponsert kritisiert. 159 Bis 1983 hatten etwa ein Drittel der Bundesrichter<br />

160 , 1990 bereits 40% 161 daran teilgenommen. 162<br />

152 Vgl. etwa Hackney (oben N. 136) 316.<br />

153 Kelman (oben N. 149) 117.<br />

154 Besonderes Aufsehen erregte etwa sein Vorschlag einer partiellen Deregulierung des<br />

»Marktes der Adoptionen« (Elisabeth Landes/Posner, The Economics of the Baby Shortage: J.<br />

Leg. Stud. 7 [1978] 323–348; Posner, The Regulation of the Market in Adoptions: Boston<br />

U. L. Rev. 67 [1987] 59–72).<br />

155 Vgl. Kelman (oben N. 149) 117.<br />

156 Gulati/Sanchez, Giants in a World of Pygmies?, Testing the Superstar Hypothesis with<br />

Judicial Opinions in Casebooks: Iowa L. Rev. 87 (2001/02) 1141–1212 (1155).<br />

157 Vgl. auch Gulati/Sanchez (vorige Note) 1166. Zuletzt auch Choi/Gulati, Mr. Justice<br />

Posner?, Unpacking the Statistics: NYU Ann. Surv. Am. L. 61 (2005) 19–44, wonach Posner<br />

und Easterbrook die beiden Richter mit der größten Zahl an veröffentlichten Entscheidungen<br />

sind.<br />

158 Vgl. hierzu Butler, The Manne Program in Economics for Federal Judges: Case W. Res.<br />

L. Rev. 50 (1999/2000) 351–420.<br />

159 Vgl. nur die Nachweise bei Duxbury 359 f. Siehe auch Priest, The Emergence of Law &<br />

Economics as an Academic Discipline, Henry Manne and the Market Measure for Intellectual<br />

Infl uence: Case W. Res. L. Rev. 50 (1999/2000) 325–331 (330) zur Manneschen Stundenplangestaltung.<br />

160 Duxbury 360. Bundesrichter judizieren u. a. im Kartell-, Kapitalmarkt- und Insolvenz-<br />

recht.<br />

161 Butler (oben N. 158) 352.<br />

162 Zur Diskussion über die Teilnahme von Richtern an derartigen Konferenzen siehe<br />

Bruce A. Green, Judicial Independence, May Judges Attend Privately Funded Educational Pro-


538 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

Drittens ist die mit dem Aufstieg der Rechtsökonomie einhergehende<br />

»antitrust revolution« zu nennen. Mit dieser wurde die in der Nachkriegszeit<br />

vorherrschende Interpretation der generalklauselartig abgefassten Kartellgesetze<br />

163 aufgegeben und den Selbstreinigungskräften des Marktes breiterer<br />

Raum gegeben; die bis dahin in der Industrieökonomie vorherrschende,<br />

gegenüber Großunternehmen und Konglomeraten an sich skeptische Harvard<br />

School wich gegenüber dem auf neoklassischer Preistheorie beruhenden<br />

Ansatzes der Chicago School zurück, die die inhärente Instabilität von Monopolen<br />

betonte. 164 Die Gerichte machten sich in den 1980er Jahren zunehmend<br />

Auffassungen der Chicago School zu eigen wie etwa jene, dass das<br />

Kartellrecht allein allokativer Effi zienz dienen und nicht etwa auch andere<br />

Ziele, wie etwa den Schutz von Kleinbetrieben, vor Augen haben sollte. 165<br />

Auch in den merger guidelines des amerikanischen Justizministeriums schlug<br />

sich diese Sichtweise nieder. 166<br />

Es ist nicht zu verkennen, dass auch die Entwicklung der Rechtsökonomie<br />

zum Teil mit einer bestimmten politischen Entwicklung verbunden<br />

war. Der in der Außenwahrnehmung lange dominante Ansatz der Chicago<br />

School 167 ist Gegenstand eines Großteils der Kritik sowohl innerhalb als<br />

auch außerhalb der USA. Diese sollte keinesfalls dazu verleiten, den ökonomischen<br />

Zugang zum Recht an sich abzulehnen. In der Literatur wird der<br />

Chicago School oft eine »New Haven School« oder »reformist school« 168<br />

grams?, Should Judicial Education be Privatized?: Questions of Judicial Ethics and Policy:<br />

Fordham Urban L. J. 29 (2001/02) 941–1005 (941 f., 954).<br />

163 15 U. S. C. §§ 1–7 (Sherman Act), §§ 12–27 (Clayton Act), §§ 41 ff. (FTC Act).<br />

164 Vgl. Jacobs, An Essay on the Normative Foundations of Antitrust Economics: N. C. L.<br />

Rev. 74 (1995) 219–266 (226 ff.); vgl. etwa Easterbrook, The Limits of Antitrust: Tex. L. Rev.<br />

63 (1984) 1 (2).<br />

165 Vgl. Jacobs (vorige Note) 220 f.; siehe z. B. Matsushita Elec. Indus. Co. v. Zenith Radio<br />

Corp., 475 U. S. 574, 588–89 (1986); Northwest Wholesale Stationers v. Pacifi c Stationery & Printing<br />

Co., 472 U. S. 284, 296 (1985); National Collegiate Athletic Ass’n v. Board of Regents of Univ.<br />

of Okla., 468 U. S. 85, 104–07 (1984); insb. Continental T. V., Inc. v. GTE Sylvania, Inc., 433<br />

U. S. 36, 53 N. 21 (1977).<br />

166 Williamson, Delimiting Antitrust: Geo. L. J. 76 (1987) 271–304 (273 f.). Mittlerweile<br />

lässt sich freilich wiederum eine ökonomisch orientierte Gegenkritik (»post-Chicago«) ausmachen,<br />

die sich anscheinend bereits in der Rechtsprechung niederschlägt. Siehe insbesondere<br />

Image Technical Servs., Inc. v. Eastman Kodak Co., (1989–1 Trade Cas. [CCH] P 68,402, at<br />

60,210, 60,211–60,214 [N. D. Cal. Apr. 18, 1988], rev’d, 903 F.2d 612 [9th Cir. 1990], aff’d,<br />

504 U. S. 451 [1992]); vgl. dazu Lande, Chicago Takes it on the Chin, Imperfect Information<br />

Could Play a Role in the Post-Kodak World: Antitrust L. J. 62 (1993) 193–202; Jacobs (oben<br />

N. 164) 246 f.<br />

167 Vgl. etwa Rowley, Intellectual History 24; Rose-Ackerman, Law and Economics: Paradigm,<br />

Politics, or Philosophy, in: Law and Economics (oben N. 84) 233–258 (237).<br />

168 Vgl. zum Begriff etwa Minda (oben N. 84) 111 N. 3; Mercuro/Medema 79 ff.; Mackaay,<br />

Schools: General, in: Encyclopedia of Law and Economics (oben N. 4) Nr. 0500, 402–415<br />

(410); vgl. auch Parisi, Positive, Normative and Functional Schools in Law and Economics:<br />

Eur. J. L. Econ. 18 (2004) 259–272 (264 f.); Rose-Ackerman (vorige Note) 234.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

539<br />

gegenübergestellt, die gesetzlichen Eingriffen gegenüber offener sei. 169 Auch<br />

innerhalb der rechtsökonomischen Bewegung wurde der »Chicago-Ansatz«<br />

seit jeher kritisiert, etwa in einer bekannten Besprechung der ersten Aufl age<br />

des Posnerschen Lehrbuchs durch A. Mitchell Polinsky, der darauf hinweist,<br />

dass die unausgesprochene Annahme kompetitiver Märkte den (juristischen)<br />

Leser zu falschen Schlussfolgerungen verleiten könne. 170 In jüngerer Zeit hat<br />

überdies die Forschungsrichtung des »behavioral law and economics« Bedeutung<br />

erlangt, die aufgrund ihres Abgehens vom ökonomischen Rationalitätspostulat<br />

oft zu völlig konträren rechtspolitischen Empfehlungen gelangt.<br />

171<br />

Aus politischer Sicht war freilich von Anbeginn an der normative Aspekt<br />

der ökonomischen Analyse der kritischere Punkte, vor allem in Hinblick auf<br />

die Wahl des zugrundeliegenden Effi zienzziels. Der von Posner ursprünglich<br />

als Abgrenzungsversuch zum Utilitarismus eingebrachte Ansatz der<br />

Vermögensmaximierung (wealth maximization) als eigenständiges normatives<br />

Ziel 172 hat eine offensichtliche politische Dimension. Der Ansatz konnte sich<br />

in der Diskussion – gerade auch unter Rechtsökonomen – letztlich nicht<br />

durchsetzen. Die verteilungspolitisch blinde Vermögensmaximierung wird<br />

daher heute regelmäßig nur als Instrument einer Nutzenmaximierung gesehen.<br />

173 Insgesamt war jedoch der Ansatz der Chicago School – offenbar gerade<br />

aufgrund seiner politischen Konsequenzen, der Verbreitung der ökonomischen<br />

Analyse des Rechts ausgesprochen förderlich.<br />

169 Mercuro/Medema 80; Wetlaufer 37; Mackaay (vorige Note) 412; vgl. auch Ackerman, Law,<br />

Economics, and the Problem of Legal Culture: Duke L. J. 6 (1986) 929–947; Rose-Ackerman<br />

(oben N. 167) 235 f., 255 N. 19.<br />

170 Polinsky, Economic Analysis of Law as a Potentially Defective Product: A Buyer’s<br />

Guide to Posner’s Economic Analysis of Law: Harv. L. Rev. 87 (1973/74) 1655–1681 (1671 ff.,<br />

1680 f.).<br />

171 Grundlegend Jolls/Sunstein/Thaler, A Behavioral Approach to Law and Economics:<br />

Stan. L. Rev. 50 (1997/98) 1471–1550; Sunstein, Behavioral Law and Economics 2 (2004); Parisi/Smith,<br />

The Law and Economics of Irrational Behavior (2005); in Deutschland Eidenmüller,<br />

Homo oeconomicus (oben N. 11) 216 ff.; kritisch dazu Posner, Frontiers (oben N. 46) 252 ff.<br />

172 Posner, Utilitarianism (oben N. 123); ders., The Ethical and Political Basis of the Effi ciency<br />

Norm in Common Law Adjudication: Hofstra L. Rev. 8 (1979/80) 487–507. Auch unter<br />

Rechtsökonomen konnte sich der Vorschlag nicht durchsetzen. Siehe nur bereits 1970 Calabresi,<br />

Cost (oben N. 143) 24; ausführlicher ders., About Law and Economics, A Letter to Ronald<br />

Dworkin: Hofstra L. Rev. 8 (1979/80) 553–562; ders., Analysis (oben N. 123) 89; Rizzo,<br />

The Mirage of Effi ciency: ebd. 641–658; Bebchuk, The Pursuit of a Bigger Pie, Can Everyone<br />

Expect a Bigger Slice?: ebd. 671–709; Kaplow/Shavell, Fairness vs. Welfare (2002). Zusammenfassend<br />

Parisi (oben N. 123) 33 ff., 44 ff.<br />

173 Siehe vor allem Kaplow/Shavell (vorige Note) 37. Auch Posner dürfte von seiner ursprünglichen<br />

Position abgerückt sein; vgl. Posner, The Ethics of Wealth Maximization: Reply<br />

to Malloy: U. Kan. L. Rev. 36 (1987/88) 261–266 (265) (»[. . .] I never suggested that [wealth]<br />

is the only social value [. . .]«); ders., The Problematics of Moral and Legal Theory: Harv. L.<br />

Rev. 111 (1997/98) 1637–1717 (1670 N. 62); siehe auch Parisi (oben N. 123) 47. Siehe auch<br />

Rowley, Intellectual History 21 f.


540 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

IV. Die Entwicklung im deutschsprachigen Raum<br />

1. Rechtsökonomische Vorstöße im 19. Jahrhundert<br />

Früher als in den Vereinigten Staaten, nämlich schon gegen Ende des 19.<br />

Jahrhunderts, gab es im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Österreich,<br />

Ansätze zur ökonomischen Analyse des Rechts. 174 Hervorzuheben ist<br />

dabei die Arbeit von Victor Mataja, der sich – in dogmenkritischer Art – mit<br />

der ökonomischen Analyse des Schadenersatzrechts befasste und zentrale<br />

Erkenntnisse der ökonomischen Analyse des Rechts vorwegnahm. 175 Trotz<br />

der für die Rechtswissenschaft revolutionären Methodik erlangte seine Monographie<br />

wenig Bedeutung und hatte keine nachhaltige Auswirkung auf<br />

die rechtspolitische Diskussion. 176 Diese Entwicklung ist für unsere Fragestellung<br />

von Interesse, da sie zeigt, dass die theoretische Möglichkeit einer<br />

Hinwendung des deutschsprachigen Rechtsdenkens zur Ökonomik längst<br />

bestand, dieser jedoch kein nachhaltiger Erfolg beschieden war.<br />

Ganz im Sinn der modernen Law-and-economics-Diskussion war Mataja<br />

die Präventionswirkung des Haftungsrechts ein zentrales Anliegen, womit<br />

er unter anderem zu einer Kritik des Verschuldensprinzips gelangte. 177 In<br />

einem System der Verschuldenshaftung liegen nach Mataja die Anreize, den<br />

Schaden zu verhindern, unter dem sozialen Optimum, da der Schädiger nur<br />

soviel Sorgfalt aufwenden werde, wie vom Gesetz verlangt sei. Dagegen<br />

seien in einem System der Gefährdungs- bzw. Erfolgshaftung die Anreize<br />

optimal, da sich der Schädiger an seinen eigenen Kosten und denen des Geschädigten,<br />

somit also an den Gesamtkosten, orientiere. Ebenso gelte bei<br />

zufälligen Schäden, dass nicht der Eigentümer, sondern derjenige den Schaden<br />

tragen solle, der den Schaden am besten verhindern kann. In Anwendung<br />

der damals noch jungen Grenznutzentheorie führte Mataja aus, dass<br />

der Schaden grundsätzlich durch mehrere getragen werden sollte, da die<br />

volle Schadenstragung durch eine einzige Person diese härter treffe, als<br />

wenn der Schaden auf mehrere Personen aufgeteilt würde. 178 Matajas Arbeit<br />

174 Siehe vor allem Mataja, Das Recht des Schadensersatzes vom Standpunkte der Nationalökonomie<br />

(1888); Kleinwächter, Die Kartelle, Ein Betrag zur Frage der Organisation der<br />

Volkswirthschaft (1883); Anton Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Klassen<br />

(1890).<br />

175 Mataja (vorige Note); zur Bedeutung dieser Arbeit siehe Englard 173 ff.; Winkler, Ökonomische<br />

Analyse des Rechts im 19. Jahrhundert, Victor Matajas »Recht des Schadensersatzes«<br />

revisited: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 26 (2004) 262–281 (262 ff.). Seine<br />

Arbeiten gelten auch als richtungsweisend für die deutschsprachige Werbewissenschaft;<br />

grundlegend Mataja, Die Reklame 4 (1926).<br />

176 Englard 173 ff.; Winkler (vorige Note) 262.<br />

177 Mataja (oben N. 174) 23 f., 32 ff.; siehe dazu auch Böhm-Bawerk 420 f.; vgl. aus heutiger<br />

Sicht Shavell, Foundations of Economic Analysis of Law (2004) 179 f.<br />

178 Mataja (oben N. 174) 27 ff. mit Bezug zu Böhm-Bawerk.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

541<br />

beschritt auch in anderen Bereichen Neuland. Warum löste Mataja dennoch<br />

keine kontinentaleuropäische Diskussion zur ökonomischen Analyse des<br />

Rechts aus?<br />

Als Professor für politische Ökonomie und zeitweiliger österreichischer<br />

Handelsminister hatte er eine nicht unbedeutende Stimme in Wissenschaft<br />

und Politik. Überdies konnte er auf die theoretischen Grundlagen der Wiener<br />

Schule der Nationalökonomie zurückgreifen. Das ökonomische Werkzeug<br />

(z. B. die Grenznutzentheorie 179 ) war damals schon weit entwickelt,<br />

und die Diskussion über die Grundsätze des Privatrechts hatte sich von der<br />

Rechtswissenschaft teilweise auf die Nationalökonomie verlegt 180 . Auch die<br />

universitären Strukturen wären für eine interdisziplinäre Arbeit durchaus<br />

geeignet gewesen, da Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität<br />

Wien in einer gemeinsamen Fakultät zusammengefasst waren und Juristen<br />

wie Carl Menger oder Eugen von Böhm-Bawerk auf Lehrstühle der Ökonomie<br />

berufen wurden. 181 Allfällige Berührungsängste 182 hätten überwunden<br />

werden können. Auch im juristischen Studienplan waren ökonomische<br />

Fächer (Nationalökonomie, Finanzpolitik) enthalten.<br />

Dass das Wiener wissenschaftliche Umfeld geradezu prädestiniert gewesen<br />

wäre, eine Schule der ökonomischen Analyse des Rechts zu entwickeln,<br />

war durchaus bekannt. 183 Matajas Werk strahlte auch auf andere Teile Europas<br />

aus und wurde unter anderem in Frankreich von Teisseire 184 in seiner<br />

Arbeit und in Ungarn von Marton aufgegriffen. 185 Die Diskussion um die<br />

Verschuldenshaftung hatte aufgrund der Entwurfsarbeiten zum BGB große<br />

rechtspolitische Bedeutung, weshalb er in einer weiteren Arbeit auf die<br />

deutschen Reformbestrebungen Bezug nahm. 186 Der ökonomische Zugang<br />

Matajas wurde aber letztlich in der juristischen Diskussion weitestgehend<br />

abgelehnt, wobei sich selbst im Ergebnis zustimmende Beiträge letztlich auf<br />

eine rein dogmatische Analyse beschränkten. 187 In zumindest einem Fall<br />

bezeichnete sogar ein methodisch »fortschrittlicher« Vertreter der aufkommenden<br />

Interessenjurisprudenz Matajas »ganzen Gedankengang als einen<br />

179 Siehe dazu im historischen Kontext z. B. Screpanti/Zamagni/Field, An Outline of the<br />

History of Economic Thought (1995) 145 ff.<br />

180 Hofer, Freiheit ohne Grenzen (2001) 98. Details wurden freilich nach wie vor hauptsächlich<br />

im rechtswissenschaftlichen Diskurs behandelt.<br />

181 Winkler (oben N. 175) 276.<br />

182 Siehe Böhm-Bawerk 418 ff.<br />

183 Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1906; Nachdruck Nomos Verlag<br />

2002) 38; Böhm-Bawerk 419.<br />

184 Tesseire, Essai d’une théorie générale sur le fondement de la responsabilité (1901).<br />

185 Nachweise bei Englard 183.<br />

186 Mataja, Das Schadenersatzrecht im Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das<br />

Deutsche Reich: ArchBürgR 1 (1889) 267–282.<br />

187 Englard 187.


542 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

krankhaften«. 188 Auch andere Arbeiten, die sich nach heutigem Verständnis<br />

der ökonomischen Analyse des Rechts zuordnen ließen, fanden wenig dauerhaften<br />

Widerhall. 189<br />

Der interdisziplinäre Ansatz fand unter Ökonomen durchaus Anklang,<br />

wie etwa Böhm-Bawerks Lob von Matajas Arbeit zeigt. 190 Carl Menger,<br />

einer der Begründer der österreichischen Schule der Nationalökonomie,<br />

kritisierte die konservative Einstellung der an der Savignyschen Jurisprudenz<br />

geschulten Juristen. 191 Auch manche Juristen waren durchaus aufgeschlossen,<br />

etwa Carl Mengers Bruder, der Zivilprozessrechtler Anton Menger,<br />

der die historische Rechtsschule angriff und argumentierte, dass das<br />

Recht die Interessen der herrschenden Volksklassen auf Kosten der besitzlosen<br />

Klassen schützte; eine Wiedergabe des geltenden Rechts sei daher als<br />

Theorie der Gesetzgebung ungeeignet. 192 Letztlich setzten sich aber Juristen<br />

wie Bernhard Windscheid und Paul Laband durch, die interdisziplinäre Untersuchungen<br />

ablehnten und meinten, dass ethische, politische und volkswirtschaftliche<br />

Erwägungen nicht Sache des Juristen wären. 193<br />

Der Misserfolg der rechtsökonomischen Bewegung im juristischen Diskurs<br />

wurde mit der zunehmenden Spezialisierung der Sozialwissenschaften<br />

und der ökonomischen Methodenvielfalt erklärt. Man meinte, die Ökonomie<br />

stecke in einem frühen Entwicklungsstadium und ihre Übertragung auf<br />

die Rechtswissenschaft würde zu unklaren Maßstäben führen, 194 was insofern<br />

verwundert, als Meinungsstreite sowohl in der Rechtsdogmatik als<br />

188 So ausdrücklich Max Rümelin, Die Gründe der Schadenszurechnung und die Stellung<br />

des deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs zur objektiven Schadenersatzpfl icht (1896) 7. Zum<br />

geringen Einfl uss der Volkswirtschaftslehre auf die rechtswissenschaftliche Diskussion siehe<br />

auch Nörr 38 ff.<br />

189 Zu nennen ist vor allem Steinitzer, Ökonomische Theorie der Aktiengesellschaft<br />

(1908), wo moderne Gedanken wie das Prinzipal-Agenten-Problem (55 ff.) oder die Sichtweise<br />

der Kapitalgesellschaft als Netzwerk von Verträgen (48 f.) vorweggenommen werden.<br />

Siehe nunmehr Jensen/Meckling, Theory of the Firm: Managerial Behavior, Agency Cost and<br />

Ownership Structure: J. Fin. Econ. 3 (1976) 305–360 (310).<br />

190 Böhm-Bawerk 418 ff. Lob kommt auch von Steinbach, Die Rechtsgrundlage, betreffend<br />

den Ersatz von Vermögensschäden: JBl. 1888, 243 N. 1.<br />

191 Vgl. Hutchison, Some Themes from Investigations into Method, in: Carl Menger and<br />

the Austrian School of Economics, hrsg. von Hicks/Weber (1973) 15 (26 f.).<br />

192 Menger (oben N. 174) 5 ff., 10 ff.; siehe in diesem Zusammenhang auch Hofer (oben<br />

N. 180) 134 ff.<br />

193 Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, in: Bernhard Windscheid, Gesammelte<br />

Reden und Abhandlungen, hrsg. von Oertmann (1904) 112, wobei sich Windscheid<br />

nicht primär auf die Gesetzgebung, sondern die Rechtswissenschaft bezieht; siehe auch Oertmann,<br />

Windscheid als Jurist: ebd. S. XXXIII; Wieacker 431. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen<br />

Reichs2 (1888).<br />

194 Pearson, The Origins of Law and Economics, The Economists’ New Science of Law<br />

(1997) 43, 131; Mackaay (oben N. 40) 70. Schon Böhm-Bawerk (418 f.) sah in der Tatsache, dass<br />

die Ökonomie zu dieser Zeit »keine ausgereifte Disziplin« war, ein Hindernis für die interdisziplinäre<br />

Arbeit.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

543<br />

auch in sonstigen Sozialwissenschaften stets vorhanden waren. Entscheidend<br />

war eher die Unfähigkeit der damaligen Dogmatik, die ökonomische Analyse<br />

in ihre Methodik zu integrieren. Das Systemdenken und der damit<br />

verbundene Kohärenzgedanke war externen Einfl üssen, wie z. B. einer Reform,<br />

die sich unabhängig vom geltenden Recht an der sozialen Wohlfahrt<br />

orientierte, insofern abgeneigt, als externe Impulse nicht in das System der<br />

Begriffsbildungen, 195 später der Interessenkonfl ikte bzw. gesetzgeberischen<br />

Wertungen eingegliedert werden konnten. Sie müssten erst durch aufwendige<br />

Re-Interpretationsarbeit in das System integriert werden, was dadurch<br />

bedingt war, dass sich die Legitimität der Rechtssätze auf deren Widerspruchsfreiheit<br />

gründete. 196 So wurde Matajas Werk unter anderem mit dem<br />

Argument abgelehnt, dass es, im Widerspruch zum bestehenden System,<br />

Schadenersatz und Strafe vermenge. 197<br />

Nicht unbedeutend war zuletzt wohl auch, dass sich die Rechtsökonomie<br />

im späten 19. Jahrhundert, anders als die moderne Bewegung in den Vereinigten<br />

Staaten, tendenziell gegen die Macht- und Entscheidungsträger richtete.<br />

So hatte beispielsweise Anton Menger den Entwurf eines Bürgerlichen<br />

Gesetzbuches für das deutsche Reich grundlegend kritisiert. 198 Generell<br />

hielten die Kritiker des Rechtspositivismus die geltende Rechtsordnung für<br />

defi zitär, während seine Befürworter die strenge Gesetzestreue mitunter<br />

verwendeten, um bestehende Verhältnisse zu rechtfertigen. 199 Dagegen war<br />

ein wichtiger Teil der späteren US-amerikanischen rechtsökonomischen<br />

Bewegung tendenziell auf die Legitimierung des bestehenden Rechts, insbesondere<br />

des Richterrechts gegenüber staatlichen Eingriffen, ausgerichtet.<br />

200<br />

2. Interne Betrachtung in Gesetzgebungslehre und Auslegung<br />

Die Erklärung des geringen Erfolgs der Rechtsökonomie zu dieser Zeit<br />

und in der Folge gründet sich teilweise in den Ursprüngen der juristischen<br />

195 Im Rahmen der Begriffsjurisprudenz konnte das Recht nur durch die Begriffsbildungen<br />

und den davon ausgehenden Deduktionen systeminmmanent ergänzt werden; Puchta,<br />

Cursus der Institutionen I: Einleitung in die Rechtswissenschaft und Geschichte des Rechts<br />

bey dem römischen Volk (1841) 36.<br />

196 Wieacker 401. Siehe auch das Ringen um Gesetzespositivismus und Kohärenz bei Canaris,<br />

Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1969) 121 ff.: Einerseits muss sich<br />

der gesetzespositivistische Richter an das Gesetz halten, andererseits kamen widersprüchliche<br />

Entscheidungen des Gesetzgebers vor.<br />

197 Rümelin (oben N. 188) 6.<br />

198 Menger (oben N. 174).<br />

199 Grimm 489; vgl. auch Wieacker 442.<br />

200 Vgl. die Theorie Richard Posners, nach der sich das Richterrecht des Common Law auf<br />

Dauer von selbst in Richtung ökonomischer Effi zienz entwickle. Siehe oben bei N. 151.


544 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

Methodik, die den »externen« Blick auf das Recht aus ihrer Betrachtung<br />

weitestgehend ausblendet und auf die daher kurz eingegangen werden soll.<br />

Es wurde bereits mehrmals auf die untergeordnete Stellung der wissenschaftlichen<br />

Gesetzgebungslehre bzw. Rechtspolitik in der deutschsprachigen<br />

Literatur hingewiesen. 201 Wesentlicher Ausgangspunkt dieser Tradition<br />

ist die Selbstreferenz des rechtlichen Diskurses. Sie bedeutet für die<br />

Gesetzgebung die Gewinnung rechtspolitischer Argumente aus dem bereits<br />

bestehenden Recht und für die Auslegung die Lückenfüllung anhand des<br />

bestehenden Rechts. Die Abgrenzung hat ihren Ursprung vor allem in der<br />

»Historischen Rechtsschule« von Friedrich Carl von Savigny, die auf die<br />

Gewohnheiten und Überlieferungen des römischen Rechts abstellte, und<br />

reicht bis zu Kelsens »Reiner Rechtslehre«, die in enger Beziehung zum logischen<br />

Positivismus des Wiener Kreises die Rechtspolitik überhaupt aus der<br />

rechtswissenschaftlichen Disziplin ausschloss. 202 In diesem Zusammenhang<br />

haben auch in der rechtssoziologischen Literatur Theorien über die Autopoiesis<br />

des Rechts wieder an Bedeutung gewonnen, die das Rechtssystem<br />

als weitgehend autonomes gesellschaftliches Teilsystem ansehen – ein Teilsystem,<br />

dessen Weiterentwicklung vor allem auf systeminterne (also rechtliche)<br />

Operationen zurückzuführen versucht wird. 203 Mit der zentralen Stellung<br />

des Systemgedankens, der im Übrigen auch das Naturrechtsdenken<br />

prägte, 204 hängt die besondere Betonung, vielleicht sogar Überbetonung der<br />

Widerspruchslosigkeit neuer Gesetze mit dem geltenden Recht und die<br />

Übereinstimmung von rechtspolitischen Vorschlägen mit den allgemeineren<br />

Rechtsnormen und Rechtsprinzipien zusammen. 205<br />

Die Entwicklung des 19. Jahrhunderts muss vor dem Hintergrund des mit<br />

Johann Gottfried Herder gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufkommenden<br />

Historismus gesehen werden, der zu einer Abspaltung der Geisteswissenschaften<br />

von der Philosophie führte. 206 Phänomene wurden im Lichte ihres<br />

201 Auszugsweise: Luhmann (oben N. 34) 11, 193; Mayer-Maly, Rechtswissenschaft (1972)<br />

201; Weinberger, Zur Theorie der Gesetzgebung, in: Rechtsphilosophie und Gesetzgebung,<br />

hrsg. von Mokre/Weinberger (1976) 173 ff.; Peter Noll, Gesetzgebungslehre (1973) 9, 14; Schelsky,<br />

Die Soziologen und das Recht (1980) 59 ff.; Kubeš, Theorie der Gesetzgebung (1987) 1 ff.;<br />

Lammer, Grundfragen der Gesetzgebungslehre, in: Effi zienz der Gesetzesproduktion, hrsg.<br />

von Mantl (1995) 60 f.; Kaufmann 110 ff.; Büllesbach, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft,<br />

in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart 7 , hrsg. von<br />

Kaufmann/Hassemer/Neumann (2004) 401–427 (416). Kritisch bereits Fuchs, Gerechtigkeitswissenschaft:<br />

JW 1920, 6–10 (8) (Nachdruck in: Ernst Fuchs, Gesammelte Schriften über<br />

Freirecht und Rechtsreform, hrsg. von Foulkes II [1973] 247).<br />

202 Siehe Kaufmann 124 f.<br />

203 Siehe z. B. Teubner, Recht als autopoietisches System (1989).<br />

204 Kaufmann 82. Wieacker 372 ff. zu Ähnlichkeiten zwischen historischer Rechtssschule<br />

und Naturrecht.<br />

205 Zur überproportional großen Bedeutung von System, Struktur und Kohärenz im Vergleich<br />

zum amerikanischen Rechtsdenken siehe Herget 104 ff., 106, 110.<br />

206 Z. B. Skirbekk/Gilje, Geschichte der Philosophie II (1987) 552 ff.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

545<br />

ursprünglichen Kontextes begriffen und im Sinne von Veränderungen und<br />

Bewegungen dynamisch erklärt. Historisches Verstehen bedeutete, sich in<br />

den Zeit- und Volksgeist hineinzuversetzen und diesen von innen heraus zu<br />

verstehen. 207 Der Historismus geriet damit in Streit mit der naturrechtlichen<br />

Betonung einer allgemein gültigen, ewigen Vernunft. Savigny war der herausragende<br />

Vertreter der Rechtswissenschaft, die mit der historischen<br />

Rechtsschule ihre Selbstständigkeit als Disziplin nachhaltig konstituierte.<br />

Wie schon Herder war Savigny um die Einfühlung in den historischen Kontext<br />

bemüht, der in der Betonung des Volksgeistes zum Ausdruck kam. 208 In<br />

ihm kam das Recht als kulturelle Erscheinungsform zum Ausdruck, eine<br />

Ansicht, die von Puchta in seiner Abhandlung über das Gewohnheitsrecht 209<br />

weiterentwickelt wurde.<br />

Die historische Rechtsschule um Savigny ist Ausgangspunkt für die heutige<br />

rechtspolitische Haltung der Rechtswissenschaft. 210 In seinem einfl ussreichen<br />

Werk »Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft«<br />

von 1814 erklärte er, das Recht bilde sich aus dem Volksgeist<br />

heraus, und richtete sich damit unter anderem gegen Kodifi kationen. Mit<br />

der Kodifi kationsfrage eng verbunden und aus heutiger Sicht bedeutsamer<br />

ist die Absage an eine vernunftrechtliche Konstruktion des Rechts. Schon<br />

der noch stärker als Savigny philosophisch arbeitende Gustav von Hugo<br />

meinte, dass das Naturrecht keine zureichenden Maßstäbe bieten könne und<br />

die Rechtspolitik sich daher besser an den bestehenden und den vergangenen<br />

Gegebenheiten messen solle. 211<br />

Entgegen der historischen Rechtsschule war Anton Friedrich Justus Thibaut<br />

der Ansicht, dass die Gesetzgebung stets zweckmäßig sein und sich<br />

damit an externen Kriterien orientieren müsse. 212 In der Auseinandersetzung<br />

zwischen Savigny und Thibaut ging es um Ähnliches wie bei der Kritik<br />

Benthams an Blackstone. Auch Thibaut kritisierte die konservative Einstellung<br />

des vorherrschenden Rechtsdenkens, da sie eine Verbesserung der<br />

bestehenden Verhältnisse verhindere. 213 Anders als in England wurde aber<br />

die substantielle bzw. externe, rechtspolitische Zielsetzung nicht Gegenstand<br />

der Auseinandersetzung und wurde in der weiteren Entwicklung immer<br />

weiter in den Hintergrund gerückt.<br />

207 Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774; Ausg.<br />

Suhrkamp 1967) 37.<br />

208 Zum Einfl uss Herders auf Savigny siehe Wieacker 356 ff.<br />

209 Puchta, Das Gewohnheitsrecht I (1828), II (1837).<br />

210 So auch Büllesbach (oben N. 201) 416 zur Gesetzgebung als juristischer Disziplin.<br />

211 Wieacker 379 f. Zu Savignys Stellung zum Naturrecht ausführlich Schröder 257 ff.<br />

212 Thibaut, Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts in Deutschland<br />

(Nachdr. der Ausg. Heidelberg 1814: Goldbach 1997) 12 f.<br />

213 Thibaut (vorige Note) 58.


546 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

Für Savigny war das Recht aus Gewohnheit, Wissenschaft und Praxis –<br />

letztlich aus bestehendem Recht – zu gewinnen, wofür sich vor allem das<br />

römische Recht gut eignen sollte. Dabei wurde der »Volksgeist« als zentrales<br />

Konzept der Rechtsevolution mystifi ziert und war von gesellschaftspolitischen<br />

und sozialen Bewegungen weitgehend unabhängig. 214 Wenngleich<br />

die historische Rechtsschule eine Erneuerung der Rechtswissenschaft bewirkte,<br />

war Savignys Methode – jedenfalls aus heutiger Perspektive – streng<br />

konservativ, 215 da sie auf die Erhaltung bestehender Verhältnisse abzielte. 216<br />

Savigny, und ihm folgend Puchta, 217 machten den Juristen zum Träger des<br />

Volkswillens, der mit vorwiegend juristischen, d. h. technischen Methoden<br />

das Recht feststellte. 218 Um die Unparteilichkeit zu wahren, musste das Politische<br />

ausgeblendet werden. 219 Gleichzeitig war durch den in der systematischen<br />

Interpretation verankerten Kohärenzgedanken der autoritäre<br />

Ge setzgeber in seiner Willensbildung insofern beschränkt, als er sich nur<br />

innerhalb des vom Juristenstand gemachten Systems entfalten konnte. 220 Gesetzbücher,<br />

die unabhängig vom gelebten Recht geschrieben wurden, waren<br />

für Savigny Ausdruck autoritärer Macht und nicht des Volkswillens. 221 In<br />

einer solchen Tradition hätten auch rechtsökonomische Erkenntnisse, die zu<br />

einschneidenden Änderungen des Rechts geführt hätten, ausgeblendet werden<br />

müssen. Das zeigt sich auch daran, dass das Recht nach Savigny zwar<br />

keinen Selbstzweck hatte, 222 seine Methode aber den Glauben an einen solchen<br />

voraussetzte. Sie fi ngierte nämlich, dass das Recht nicht auf Basis seiner<br />

sozialen Funktion, sondern seiner geschichtlichen Entstehung legitimiert<br />

wurde. Eine Prüfung der sozialen Angemessenheit nach externen<br />

Kriterien war zwar für die Erarbeitung der juristischen Methode maßgeblich,<br />

für deren weitere Anwendung aber entbehrlich. 223 Wenngleich dieser An-<br />

214 Schröder 172 ff. erklärt das u. a. mit dem generellen Einfl uss der deutschen Philosophie<br />

auf die Einzelwissenschaften.<br />

215 Zur konservativen Grundeinstellung Savignys siehe Wieacker 383, 385.<br />

216 Siehe allgemein zur positiven Rechtswissenschaft als Mittel zur Aufrechterhaltung des<br />

Status quo z. B. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen<br />

Rechtsstaat (1977) 132 ff.<br />

217 Wieacker 399 f. Bei Puchta war das Monopol des Juristenstandes endgültig gefestigt;<br />

Grimm 478.<br />

218 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814;<br />

Neudruck der 3. Aufl age 1892) 7 f.; vgl. auch Wieacker 392; Dawson 456 f.<br />

219 Diese Entpolitisierung des Rechts wurde auch als Synthese der feudalen mit der kapitalistischen<br />

Gesellschaftsordnung interpretiert; siehe Schröder 221 f., 276.<br />

220 Grimm 475.<br />

221 Vgl. Savigny (oben N. 218) 10, 21.<br />

222 Darauf wies auch Savigny (oben N. 218) 18 hin.<br />

223 Grimm 476 f. Zur Ausblendung der Philosophie siehe Schröder 215 ff., 218 ff., passim.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

547<br />

satz vielfach kritisiert wurde, 224 verfestigte sich Savignys eigenständige juristische<br />

Methode im deutschen Rechtsdenken. 225<br />

Puchta 226 , Windscheid 227 , Gerber 228 und andere Vertreter der historischen<br />

Rechtsschule führten die interne Betrachtung des Rechts weiter und übertrugen<br />

den Ansatz auch auf das öffentliche Recht 229 . Auch ihre Methode war<br />

nicht zur Neugestaltung des Rechts, sondern als Mittel der Darstellung des<br />

geltenden Rechts konzipiert. 230 Gleichzeitig bewirkte die bereits bei Puchta<br />

anzutreffende zunehmende Betonung des Juristenrechts gegenüber dem<br />

Volksrecht die stärkere Betonung des Gedankens der Systematisierung und<br />

Kohärenz in der Methodenlehre. 231 Mit der »Genealogie der Begriffe« 232<br />

wurde das Recht zunehmend von der sozialen Wirklichkeit abgekoppelt. 233<br />

Sogar Vertreter der germanistischen Schule, der die Behebung der von der<br />

Industrialisierung aufgeworfenen sozialen Probleme ein wichtiges Anliegen<br />

war, befürworteten die Selbständigkeit des Rechts von der sozialen Realität.<br />

234 Dies mag zunächst als Widerspruch erscheinen, wird aber dann verständlich,<br />

wenn die geforderten externen Maßstäbe im Zuge der Gesetzgebung<br />

berücksichtigt werden und somit der unmittelbare Rückgriff auf sie<br />

im Rahmen der Auslegung entbehrlich wird. 235 Die naturrechtlich konzipierten<br />

Kodifi kationen des frühen 19. Jahrhunderts begünstigten daher den<br />

Rechtspositivismus, da sie gesetzliches Material schufen und das Naturrecht,<br />

224 Siehe etwa die Kritik von G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts<br />

(1821; Nachdruck Felix Meiner-Verlag 1995) § 211 (S. 182 f.); die Kritik von v. Kirchmann in<br />

seinem bekannten Vortrag von 1847; v. Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als<br />

Wissenschaft (1848) sowie die Kritik der Freirechtsschule, etwa Kantorowicz, Savigny and the<br />

Historical School of Law: L. Q. Rev. 53 (1937) 326–342. Vgl. ferner W. Kersting, Politik und<br />

Recht, Abhandlungen zur politischen Philosophie der Gegenwart und zur neuzeitlichen<br />

Rechtsphilosophie (2000) 342.<br />

225 So Müller-Erzbach, Wohin führt die Interessenjurisprudenz? (1932) 36. Zur Bedeutung<br />

Savignys siehe z. B. Wieacker 382 f.; siehe auch die Nachweise bei Kantorowicz (vorige Note)<br />

326. 226 Puchta, Lehrbuch der Pandekten (1838; 9. Aufl ., Leipzig 1863) S. 29 f. (§ 16).<br />

227 Windscheid, Die geschichtliche Schule in der Rechtswissenschaft, »Nord und Süd« IV<br />

(1878) 42–53, in: Bernhard Windscheid, Gesammelte Reden und Abhandlungen (oben N. 193)<br />

66 ff.; Eck, Gedächtnisrede, S. 17 zitiert bei Oertmann, Windscheid als Jurist: ebd. S. XXX.<br />

228 Gerber, System des deutschen Privatrechts (1848) (zitiert: System); ders., Gesammelte<br />

juristische Abhandlungen (1872).<br />

229 Dazu u. a. Gerber, Über öffentliche Rechte (1852). Andere Vertreter in diesem Zusammenhang<br />

waren Laband und Jellinek; siehe Somek, German Legal Philosophy and Theory in<br />

the Nineteenth and Twentieth Century, in: A Companion to Philosophy of Law and Legal<br />

Theory, hrsg. von Patterson (1999) 343–354 (347 f.).<br />

230 Grimm 479 mit Bezug auf Puchta.<br />

231 Grimm 478.<br />

232 Puchta (oben N. 195) 36 f.<br />

233 Das hatte bereits Savigny (oben N. 218) 18 vorhergesehen; vgl. auch Herget 110 f.<br />

234 Grimm 480 ff. mit Bezug auf Gerber.<br />

235 Gerber, System (oben N. 228) S. XI.


548 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

wie man meinte, selbst als Grundlage für die Gewinnung von Rechtssätzen<br />

nicht mehr gebraucht wurde. 236 Neue Rechtssätze wurden nur mehr innerhalb<br />

eines von der Wirklichkeit unabhängigen Systems entwickelt, womit<br />

man zu einem methodischen Formalismus zurückkehrte, den man einst<br />

dem Naturrecht vorgeworfen hatte. 237 Mit der zunehmenden Betonung des<br />

so defi nierten Konstruktivismus war schließlich eine Orientierung an externen<br />

Kriterien und damit auch eine ökonomische Gesetzgebungslehre nicht<br />

mehr denkbar. Die Rechtsökonomie lässt nämlich das Hinterfragen einer<br />

Rechtsnorm in Hinblick auf ihre Sinhaftigkeit sowie ihre Ersetzung durch<br />

eine andere zu, auch wenn dabei Kohärenz und Systematik verletzt werden.<br />

Hintergrund dieser Abkoppelung des Rechts von seinen Auswirkungen<br />

war eine antikonsequentionalistische Grundhaltung in der Philosophie, die<br />

vom deutschen Idealismus auf die juristische Methodik ausstrahlte. Wenngleich<br />

der deutsche Idealismus in einem Spannungsverhältnis zur historischen<br />

Rechtsschule stand, so wurden doch die handlungs- bzw. normexternen<br />

Auswirkungen in beiden Strömungen ausgeblendet. 238 Kant meinte<br />

bekanntlich, dass es Dinge gäbe, deren Wert nicht nach seinen Auswirkungen<br />

bestimmt werden könnte. 239 Sie hatten vielmehr einen Wert an sich,<br />

der nicht Gegenstand eines empirischen, sondern eines vor-empirischen<br />

Wissens sei. 240 Dieser vom deutschen Idealismus geprägte Zugang, der auch<br />

einfl ussreichen Schriften des 20. Jahrhunderts zugrunde lag, 241 stand im Gegensatz<br />

zum Konsequentionalismus der utilitaristischen Ethik und damit<br />

auch einer Rechtsökonomie. Er bildete sich bei Hegel bereits wieder zurück,<br />

doch nur so weit, als die Geschichte zur Erklärung der bestehenden<br />

Verhältnisse herangezogen werden sollte. 242 Die immer noch idealistische<br />

236 Grimm 472.<br />

237 Wieacker 372 ff., 401 f. weist auch auf die Ähnlichkeit der rechtspositivistischen zur<br />

naturrechtlichen Methodik hin.<br />

238 Zum Einfl uss der deutschen Philosophie auf Savigny ausführlich Schröder 215 ff., 224 f.,<br />

227; zur Bedeutung von Kants »Kritik der reinen Vernunft« für wissenschaftlichen Formalismus<br />

und Rechtspositivismus Wieacker 373 f.<br />

239 Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785): »Im Reiche der Zwecke hat alles<br />

entweder einen Preis, oder eine Würde. [. . .] Die Natur sowohl als Kunst enthalten nichts, was<br />

sie in Ermangelung derselben an ihre Stelle setzen könnten; denn ihr Werth besteht nicht in<br />

den Wirkungen, die daraus entspringen, im Vortheil und Nutzen, den sie schaffen, sondern in<br />

den Gesinnungen, d. i. den Maximen des Willens, die sich auf diese Art in Handlungen zu<br />

offenbaren bereit sind, obgleich auch der Erfolg sie nicht begünstigte.«<br />

240 Siehe z. B. Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik (1992) 43 f.<br />

241 Z. B. Hartmann, Ethik (1926); Stammler, Die Lehre vom richtigen Rechte (1902); Larenz,<br />

Richtiges Recht (1979). Kritisch zu Stammlers Verständnis von Kant z. B. Kersting (oben<br />

N. 224) 367; vgl. auch Nörr 33.<br />

242 Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie (1963) 161 bezeichnet Hegel sogar »als<br />

Anhänger der Historischen Rechtsschule«. Siehe allerdings die Kritik an Savigny (oben<br />

N. 224).


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

549<br />

Prägung des Historismus wurde erst vom dialektischen Materialismus eines<br />

Marx in einer Art und Weise in Frage gestellt, die, wenn auch nur indirekt,<br />

auf die rechtswissenschaftliche Diskussion einwirken konnte. Damit einher<br />

ging eine Betonung der Auswirkungen des Rechts auf die Lebensverhältnisse<br />

und eine generelle Entmystifi zierung des Rechts, die schließlich in die<br />

rechtsrealistische Freirechtsbewegung mündete. Auch von dieser Seite kam<br />

allerdings Kritik am Utilitarismus, da dieser die Menschen auf ein einziges<br />

Verhältnis der Brauchbarkeit reduziere. 243 Generell entwickelten bedeutende<br />

Kritiker des Rechtspositivimus wie Scheler und Hartmann eine naturrechtlich<br />

geprägte »materiale Wertethik« und wandten sich ausdrücklich gegen<br />

den Utilitarismus. 244 Auch bedeutende juristische Schriften bauten auf dem<br />

Idealismus auf und waren anti-utilitaristisch konzipiert. 245 Soweit Juristen,<br />

wie etwa Jhering, dem Utilitarismus positiv gegenüberstanden, wandten sie<br />

sich einer rechtssoziologischen, nicht rechtsökonomischen Sichtweise zu<br />

und betrachteten das Recht nur teilweise aus einem externen Blickwinkel.<br />

246 Insgesamt kann man von einer anti-utilitaristischen Grundeinstellung<br />

sprechen, die nicht nur vom deutschen Idealismus getragen war. 247 Sie ist<br />

einer der Gründe für die ablehnende Haltung gegenüber der Rechtsökonomie.<br />

3. Rechtsrealismus als fehlende Voraussetzung für die Rechtsökonomie?<br />

Die amerikanische legal-realism-Bewegung stellte eine entscheidende<br />

Grundlage für die Entwicklung und die erfolgreiche Aufnahme der ökonomischen<br />

Analyse des Rechts in das Rechtsdenken dar. Sie diskreditierte die<br />

herrschenden Dogmen der juristischen Methodik, die in das positive Recht<br />

übernommen wurden und sich in den Rechtsprinzipien widerspiegelten,<br />

und schuf Platz für Neues. Mit ihrer Kritik an der juristischen Methodik<br />

und rechtlichen Scheinbegründungen mussten gleichzeitig neue Entscheidungskriterien<br />

gefunden werden, die das Recht besser beschrieben als juristische<br />

Leerformeln und gleichzeitig den policymakers – einschließlich der<br />

243 Der Utilitarismus sei eine »Theorie der wechselseitigen Exploitation«, der die mannigfaltigen<br />

Verhältnisse der Menschen zueinander in das »Eine Verhältnis der Brauchbarkeit«<br />

aufl öse; Marx/Engels, Die deutsche Ideologie (1845–46; veröffentlicht 1932) 394 ff.<br />

244 Kritisch zum Utiltiarismus Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale<br />

Wertethik (1913–1916) 4 = Gesammelte Werke II (1954) 350; Hartmann, Ethik (1926) 79 f.<br />

Diese Ansätze wurden von Coing und anderen weiter getragen; z. B. Wieacker 591 f. Zu weiteren<br />

Vertretern der Wertphilosophie siehe Verdross (oben N. 242) 205 ff., der auf die anti-hedonistische<br />

Haltung hinweist.<br />

245 Siehe oben N. 241. Zum Einfl uss Kants siehe auch Kersting (oben N. 224) 334 ff.<br />

246 23 Jhering, Der Kampf ums Recht (1946) 20–46.<br />

247 Hügli/Han, Utilitarismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie XI (2001)<br />

506.


550 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

Richter – eine Anleitung für die Entscheidungsfi ndung boten. Im deutschsprachigen<br />

Raum gab es durchaus ähnliche Ansätze, die sich aber nicht<br />

durchsetzen konnten, was einen wesentlichen Grund für die untergeordnete<br />

Stellung der ökonomischen Analyse des Rechts im Rechtsdenken darstellt.<br />

Ein Faktor war der geringe Erfolg der Freirechtslehre. Zwar konnte sich die<br />

über weite Strecken des 19. Jahrhunderts dominierende Begriffsjurisprudenz<br />

248 auch im deutschsprachigen Raum auf Dauer nicht halten, die weitere<br />

Entwicklung verlief aber völlig anders als in den USA.<br />

Der Ablösung der Begriffsjurisprudenz ging die Betonung der sozialen<br />

Funktion des Rechts voraus. Marx, der späte Jhering und andere hatten das<br />

Recht als Mittel zur Steuerung gesellschaftlicher Verhältnisse erfasst und<br />

damit den Selbstzweck des Rechts verneint. 249 Die Freirechtsbewegung des<br />

deutschen Sprachraums hätte mit ihren dogmenkritischen Aussagen eine<br />

ausreichende Aufl ösung des traditionellen Rechtsdenkens bewirken können<br />

und hatte auch in der Tat Anteil an der Zurückdrängung der Begriffsjurisprudenz.<br />

250 Sie begann sich Ende des 19. Jahrhunderts als Kritik an der Lehre<br />

von der Lückenlosigkeit der Gesetze zu entwickeln 251 und erreichte noch<br />

vor Ende des Ersten Weltkrieges ihren Höhepunkt. 252 Auch seitens der sich<br />

parallel entwickelnden Rechtssoziologie, 253 zu der enge Verbindungen bestanden,<br />

254 wurde Kritik am herrschenden Rechtsverständnis geübt. Ähnlich<br />

der Kritik des amerikanischen Rechtsrealismus verstanden Vertreter der<br />

Freirechtsschule die richterliche Entscheidung als dezisionistischen Vorgang,<br />

dem im Wege der Dogmatik eine scheinlogische Begründung folgte. 255 Ju-<br />

248 Vgl. Larenz 19 ff.<br />

249 3 Ausdrücklich z. B. bei Jhering, Der Zweck im Recht I (1893) 250. Vgl. auch Winkler<br />

(oben N. 175) 276 f. Zu Marx siehe z. B. Wege (oben N. 216) 47 ff.<br />

250 Gegen sie richtete sich die Freirechtslehre primär (Kaufmann 121). Siehe z. B. Ehrlich,<br />

Über Lücken im Rechte: JBl. 1888, 447–630 (in fortgesetzten Teilen); ders., Freie Rechtsfi ndung<br />

und freie Rechtswissenschaft (1903); ders., Die richterliche Rechtsfi ndung auf Grund<br />

des Rechtssatzes: JherJb. 1917, 1–80 (alle drei Beiträge sind nachgedruckt in: Recht und Leben,<br />

Eugen Ehrlich, Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre,<br />

ausgewählt und hrsg. von Rehbinder [1967]). Vgl. auch Herget/Wallace (oben N. 63)<br />

399.<br />

251 Z. B. Ehrlich, Über Lücken im Rechte (vorige Note) 447–630. Siehe auch Bülow, Gesetz<br />

und Richteramt (1885). Zur freirechtlichen Kritik an der Lückenlosigkeit der Gesetze<br />

siehe auch Dawson 442 f.; Lombardi, Geschichte des Freirechts (1967) 54 ff.<br />

252 Nach Kriele sind die Hauptwerke der Freirechtsschule zwischen 1906 und 1915 entstanden:<br />

Kriele, Grundprobleme der Rechtsphilosophie (2004) 43 (siehe die Aufzählung in<br />

N. 4).<br />

253 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1921/22; 5. Aufl age 1976); Ehrlich, Grundlegung<br />

der Soziologie des Rechts (1913). Ausführlich zur Rechtssoziologie Raiser (oben N. 34)<br />

passim.<br />

254 Oft werden die beiden Strömungen als eine einzige Entwicklung dargestellt siehe z. B.<br />

Raiser (oben N. 34) 54, 104, 107.<br />

255 So z. B. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929) 61 f.; siehe auch Kriele (oben<br />

N. 252) 43.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

551<br />

ristische Analogien, extensive Interpretation und Ähnliches galten als pseudologische<br />

Argumente. 256 Maßgeblich für die Entscheidung war das Rechtsgefühl,<br />

das als Vorverständnis des Richters im Sinne der modernen Hermeneutik<br />

den Hauptfaktor darstellte. 257 Wie auch der Rechtsrealismus forderten<br />

die Vertreter der Freirechtsschule, dass Juristen sich auch mit anderen Disziplinen<br />

beschäftigen sollten. 258<br />

Die als Dogmenkritik zu verstehende Freirechtsschule 259 knüpfte häufi g<br />

an genuin national geführte Diskussionen an. In ihren deskriptiven Elementen<br />

ist sie aber jedenfalls mit dem amerikanischen Rechtsrealismus vergleichbar.<br />

Freirechtliches Denken war vor dem Zweiten Weltkrieg nicht nur<br />

in der Lehre, sondern auch in der Praxis durchaus verbreitet und wurde von<br />

Reichsgerichtsräten, Oberlandesgerichtsräten sowie einem Präsidenten des<br />

österreichischen Reichsgerichts geteilt. 260 Mitunter sah sich die richterliche<br />

Entscheidung dem Gesetz gleichgeordnet. 261 Auf die heutige Rechtswissenschaft<br />

haben die Kernaussagen der Freirechtsschule dagegen nur beschränkte<br />

Auswirkungen, wofür teilweise Missverständnisse ausschlaggebend waren.<br />

262 Teilweise hing die fehlende Anerkennung der Freirechtslehre damit<br />

zusammen, dass wichtige Vertreter, wie etwa Kantorowicz, berufl ich lange<br />

nicht Fuß fassen konnten. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten<br />

wurden sie abgesetzt, womit die Bewegung rasch endete. 263 Dies war nicht<br />

256 Siehe Muscheler, Einführung, in: Kantorowicz (oben N. 183) S. I-XXIII (XVII) über<br />

Kantorowicz. Kantorowicz (oben N. 183) 35 selbst sprach bildlich von »unehrlichen Schleichwegen«;<br />

siehe auch Herget 111; Somek (oben N. 229) 348.<br />

257 Vgl. Kaufmann 122.<br />

258 So z. B. Kantorowicz (oben N. 183) 38; Fuchs (oben N. 201) 7, von dem das Zitat des<br />

»Nur-Juristen« stammt; Wurzel, Das Juristische Denken (1904; Nachdruck 1991) 5 f., 70 ff.;<br />

ders., Die Sozialdynamik des Rechts (1924; Nachdruck 1991) 182 ff. Müller-Erzbach (oben<br />

N. 225) 107 meinte z. B., das deutsche Aktienrecht habe »den Grundsatz der rechtlichen Ökonomie<br />

verfehlt« und weist auf die rationale Apathie der Aktionäre in Gesellschaften mit breit<br />

gestreutem Aktienbesitz hin.<br />

259 Fuchs, Freirechtsschule und Wortstreitgeist: Monatsschrift für Handelsrecht und Bankwesen<br />

1918, 17 (nachgedruckt in: Gesammelte Schriften [oben N. 201] 359); ähnlich Kantorowicz<br />

(oben N. 183) Vorwort und Einleitung. Vgl. Kaufmann 121.<br />

260 Nachweise samt Zitate der einzelnen Juristen bei Isay (oben N. 255) 62 ff. Ebenso Nörr<br />

30 mit Nachweisen aus der Judikatur.<br />

261 Dazu und zum Einfl uss der Freirechtsbewegung auf die Rechtsprechung Nörr 30 ff. Vor<br />

allem in den 1920er Jahren kam es zu einer vermehrten Zitierung von Präzedenzfällen durch<br />

Gerichte; vgl. Dawson 432 ff., 463, der von einer »Case-Law Revolution« spricht.<br />

262 Rehbinder, Einleitung, in: Eugen Ehrlich, Recht und Leben (1967) 7–9; Muscheler (oben<br />

N. 256) S. XIII f.; Bydlinski 152.<br />

263 Die »Beurlaubung« von Kantorowicz erfolgte am 13. 4. 1933; siehe Eckert, Was war die<br />

Kieler Schule?, in: Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, hrsg. von Säcker (1992) 44;<br />

Muscheler (oben N. 256) S. XXII; Foulkes, Vorwort, in: Fuchs, Gesammelte Schriften (oben<br />

N. 201) 9. Anders anscheinend Behrends, Von der Freirechtsbewegung zum Ordnungs- und<br />

Gestaltungsdenken, in: Recht und Justiz im »Dritten Reich«, hrsg. von Dreier/Sellert (1989)<br />

34 ff., wonach die Freirechtsbewegung in die NS-Rechtstheorie gemündet habe.


552 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

zuletzt durch die jüdische Herkunft einiger Freirechtlicher bedingt, 264 die<br />

ihre Lehren in den dreißiger Jahren zum Gegenstand persönlicher Attacken<br />

werden ließ. 265<br />

An der Zurückdrängung der Begriffsjurisprudenz hatte die Freirechtsschule<br />

einen nicht unbedeutenden Anteil, doch konnte die sich von dieser<br />

zunehmend distanzierende Interessenjurisprudenz schließlich das Erbe der<br />

Begriffsjurisprudenz antreten. 266 Manche Freirechtler schwächten ihre Auffassungen<br />

im Zuge ihrer Laufbahn überdies ab, wodurch die Bewegung sich<br />

teilweise wieder an die Interessenjurisprudenz annäherte. 267 Die Tatsache,<br />

dass die juristische Methodenlehre vor und nach dem Nationalsozialismus<br />

eine bestechende Kontinuität aufwies, 268 bedeutete nicht, dass der Nationalsozialismus<br />

keine Auswirkungen hatte. Vielmehr verhinderte er eine Wende,<br />

wie sie sich in den USA vollzog. 269<br />

Einzelne Vertreter freirechtlichen Gedankenguts wie Radbruch, 270 Esser<br />

271 oder Fikentscher 272 erlangten zwar im theoretischen Diskurs der Nach-<br />

264 Siehe Lombardi (oben N. 251) 41 zur Abstammung verschiedener Freirechtler; siehe<br />

auch Nörr 31.<br />

265 Siehe z. B. Heck, Die Interessenjurisprudenz und ihre neuen Gegner: AcP 22 (1936)<br />

129–202 (151) (zitiert: Interessenjurisprudenz), der auf die »nichtarische« Abstammung verschiedener<br />

Vertreter der freirechtlichen und der soziologischen Schule hinweist. Zu Heck und<br />

Thieme siehe auch Foulkes, Vorwort (oben N. 263) 9.<br />

266 Herget 111 und unten N. 278. Siehe vor allem die Kritik von Heck an der Freirechtsschule:<br />

Heck, Begriffsbildung 104 ff.; ders., Rechtsgewinnung 23 ff.; ders., Interessenjurisprudenz<br />

(vorige Note) 129 ff.<br />

267 So z. B. Heck, Begriffsbildung 105 f. zu Eugen Ehrlich, und Heck, Rechtsgewinnung<br />

25 f. zu Kantorowicz, wobei er gleichzeitig dazu aufruft, den Begriff »Freirechtsmethode«<br />

fallenzulassen. Vgl. auch Muscheler (oben N. 256) S. XVII, bzw. ders., Ein Klassiker der Jurisprudenz:<br />

»Der Kampf um die Rechtswissenschaft« von Hermann Kantorowicz: NJW 2006,<br />

567. Vgl. auch die gemeinsame Darstellung von Interessenjurisprudenz und Freirechtsschule<br />

bei Lombardi (oben N. 251).<br />

268 Maus, Juristische Methodik und Justizfunktion im Nationalsozialismus, in: Recht,<br />

Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, hrsg. von Rottleuthner (1983) 167 ff. (193) (ARSP-<br />

Beiheft, 18); Maus, »Gesetzesbindung« der Justiz und Struktur der Nationalisozialistischen<br />

Rechtsnormen, in: Recht und Justiz im »Dritten Reich«, hrsg. von Dreier/Sellert (1989) 81 ff.<br />

269 Zur Diskussion, ob der Nationalsozialismus selbst positivistisch oder naturrechtlich<br />

geprägt war, vgl. etwa Kaufmann, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, in: Recht,<br />

Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus (vorige Note) 1 ff. (zitiert: Kaufmann, Rechtsphilosophie).<br />

270 9 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft (1952) 161: »[. . .] das Auslegungsmittel<br />

wird erst gewählt, nachdem das Ergebnis schon feststeht, die sogenannten Auslegungsmittel<br />

dienen in Wahrheit nur dazu, nachträglich aus dem Text zu begründen, was in schöpferischer<br />

Ergänzung des Textes bereits gefunden war [. . .].«<br />

271 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfi ndung (1972) 7 f.: »Die Praxis<br />

[. . .] geht nicht von doktrinären ›Methoden‹ der Rechtsfi ndung aus, sondern benutzt sie nur,<br />

um die nach ihrem Rechts- und Sachverständnis angemessene Entscheidung lege artis zu begründen«;<br />

ferner a.a.O. 14 f., 23 f., 41 f.<br />

272 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung I-V (1975–1977), vor<br />

allem Band IV: Dogmatischer Teil (1977).


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

553<br />

kriegszeit große Anerkennung, 273 konnten aber die alltägliche Rechtspraxis<br />

nicht nachhaltig beeinfl ussen. 274 Außerdem sollten die Erkenntnisse der<br />

Hermeneutik in der Nachkriegszeit bereits wieder dazu dienen, die dogmatische<br />

Methodik weiter zu entwickeln und nicht dazu, diese durch einen<br />

anderen Ansatz zu ersetzen. 275 Insgesamt verwundert es nicht, dass die Freirechtsschule<br />

in anerkannten Darstellungen der Privatrechtsgeschichte bzw.<br />

historischen Diskursen der Rechtsphilosophie 276 und der Methodenlehre 277<br />

nicht oder nur kurz dargestellt ist.<br />

Mit dem Sieg der Interessenjurisprudenz waren interdisziplinäre Ausfl üge<br />

in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft beendet. Philipp Heck, einer<br />

ihrer bedeutendsten Vertreter, stellte wieder auf eine interne Betrachtung<br />

des Rechts ab. 278 Der fehlende nachhaltige Erfolg der Freirechtsbewegung<br />

kann im Ergebnis als einer der Gründe für die Aversion gegen rechtsökonomisches<br />

Denken vorgebracht werden. 279 Wäre die damalige Dogmatik als<br />

Entscheidungsfi ndungsprozess des Richters bzw. Interpreten diskreditiert<br />

worden, hätte sich die Frage nach (externen) normativen Theorien gestellt,<br />

wodurch auch Raum für die Rechtsökonomie entstanden wäre. Die Abkehr<br />

von externen Elementen wurde von der Interessen- und Wertungsjurisprudenz<br />

weitergetragen und spiegelte sich schließlich in der Ausblendung der<br />

Gesetzgebungslehre aus den Methoden der Rechtswissenschaft wider.<br />

4. Reproduktionsdenken in Interessen- und Wertungsjurisprudenz<br />

Die Interessenjurisprudenz und die daraus hervorgegangene Wertungsjurisprudenz<br />

stellen die rechtstheoretische Grundlage der heute herrschenden<br />

273 Z. B. Larenz, Richtiges Recht (oben N. 241) 24. Siehe auch die Darstellung bei Pawlowski<br />

757 ff. mit Bezug zu Esser, Harenburg und anderen. Siehe auch Raiser (oben N. 34) 107, der<br />

darauf hinweist, dass die Lehren von Esser und Fikentscher auf Ehrlich aufbauen.<br />

274 Kaufmann 82 f.; siehe auch unten Abschnitt IV. 4.<br />

275 Siehe jedenfalls bei Esser (oben N. 271) 116 ff.<br />

276 Wieacker; Verdross (oben N. 242); Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik,<br />

in: Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart (oben<br />

N. 201) 1–25.<br />

277 Vgl. Bydlinski mit einzelnen sporadischen Bezugnahmen; Pawlowski Rz. 137 mit einem<br />

kurzen Hinweis auf Isay; Larenz 59–62.<br />

278 Heck, Begriffsbildung 27: »Auf solche rein juristische, und wie man sagen kann, ganz<br />

elementare Gründe stützt sich unsere Lehre.« [Hervorhebung im Original.] Siehe auch Herget<br />

111 (»The scholastic tradition persisted, but in a new form«); Somek, From Kennedy to Balkin,<br />

Introducing Critical Legal Studies from a Continental Perspective: U. Kan. L. Rev. 42<br />

(1993/94) 759–783 (763) (»[. . .] every attack on legal formality seems to have been silenced«);<br />

Somek (oben N. 229) 348.<br />

279 Mit einer ähnlichen Erklärung für die geringe Bedeutung von Critical Legal Studies im<br />

deutschen Sprachraum Somek, From Kennedy to Balkin (vorige Note) 763 f.


554 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

Interpretationsmethodik dar. 280 Beide Strömungen befassen sich auch mit<br />

der Rechtsfortbildung und untersuchen die Stellung der Gesetzgebungslehre<br />

bzw. Rechtspolitik auf Ebene der richterlichen Entscheidung. Externe<br />

rechtspolitische Erwägungen allgemein spielen bei der Begründung richterlicher<br />

Entscheidungen bzw. Auslegung nur eine untergeordnete Stellung.<br />

Während die Freirechtsschule sich von den Gesetzen löste, stellte die Interessenjurisprudenz<br />

die »Gesetzestreue« in der Methodenlehre wieder her.<br />

Ähnlich wie im 19. Jahrhundert versuchte man durch die Ausgrenzung externer<br />

Kriterien den Schein der Unparteilichkeit zu erzeugen bzw. zu wahren.<br />

Heck erklärte, dass sich die Interessenjurisprudenz gerade in der Gesetzestreue<br />

von der Freirechtslehre unterscheide und insofern der Begriffsjurisprudenz<br />

nahestehe. 281 Jedenfalls seien Klarheit und Eindeutigkeit bei der<br />

Lösung einer Rechtsfrage meist wichtiger als die Angemessenheit. 282 Richterliche<br />

Eigenwertungen sind in der Interessenjurisprudenz bestenfalls als<br />

Notlösung in streng untergeordneter Form zugelassen. 283 Auch im rechtsfreien<br />

Raum gelte, dass sich der Richter bei der Ergänzung fehlender Normen<br />

nicht an seinen Eigenwertungen (bzw. ökonomischen Effi zienzkriterien)<br />

orientieren, sondern an die Absichten des Gesetzgebers gebunden<br />

sei. 284 Die Rechtswissenschaft soll die Entscheidung des Richters vorbereiten,<br />

indem sie die Normen des Gesetzes ebenso systemintern ergänzt und<br />

ordnet. 285 Bestimmungen, die nicht aus dem System selbst entwickelt wurden,<br />

sondern etwa im Zuge einer ökonomischen Analyse als wünschenswert<br />

erschienen, konnten in das System nur schlecht integriert werden. Bei Heck<br />

beruht die Auslegung selbst auf rein juristischer Grundlage und ist von externen<br />

Wertungsentscheidungen unabhängig. 286 Nachbarwissenschaften<br />

wie die Geschichte, Philosophie, Soziologie und Nationalökonomie mussten<br />

in der rechtswissenschaftlichen Methode auch nach der Überwindung<br />

der Begriffsjurisprudenz außer Betracht bleiben 287 – eine Ansicht, die bis<br />

heute vorherrscht. 288<br />

Auch für eine (externe) Gesetzgebungslehre konnte die Interessenjurisprudenz<br />

als reine Auslegungsmethodik keine Basis bilden. 289 Soweit eine<br />

280 Larenz 120; Bydlinski 116 f., 123.<br />

281 Heck, Begriffsbildung 111, 118; ders., Interessenjurisprudenz (oben N. 265) 144. Siehe<br />

auch Binder, Bemerkungen zum Methodenstreite in der Privatrechtswissenschaft: ZHR 100<br />

(1934) 1–83 (82).<br />

282 Heck, Begriffsbildung 105; ders., Rechtsgewinnung 5.<br />

283 Vgl. Bydlinski 115 ff.<br />

284 Heck, Rechtsgewinnung 8.<br />

285 Heck, Begriffsbildung 126.<br />

286 Heck, Begriffsbildung 28 f.<br />

287 Heck, Begriffsbildung 21.<br />

288 Dazu Somek/Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken, <strong>Inhalt</strong> und Form des positiven<br />

Rechts (1996).<br />

289 Müller-Erzbach (oben N. 225) 3.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

555<br />

rechtspolitische Komponente vorhanden ist, verschwimmen wie schon bei<br />

Savigny normative und positive Elemente. 290 Die Interssenjurisprudenz verfolgte<br />

insgesamt einen internen, konstruktivistischen Ansatz und ließ wie<br />

zuvor die Begriffjurisprudenz im 19. Jahrhundert für ökonomische und andere<br />

interdisziplinäre Folgestudien des frühen 20. Jahrhunderts keinen<br />

Raum.<br />

Die Wertungsjurisprudenz griff die Gedanken der Interessenjurisprudenz<br />

auf und entwickelte sie weiter, wobei eine Unterscheidung zwischen den<br />

beiden Strömungen nicht immer leicht fällt. 291 Im Zentrum soll nicht mehr<br />

der Interessenkonfl ikt als alleiniger Kausalfaktor der Rechtsnorm stehen,<br />

sondern die in die Norm einfl ießenden Wertungen. 292 Diese sollen aber<br />

nicht aus übergesetzlichen Maßstäben, sondern aus den Gesetzen selbst gewonnen<br />

werden. 293 Der im demokratischen Prozess gewonnene Kompromiss<br />

komme demnach im Gesetz selbst zum Ausdruck. 294 Soweit auf übergesetzliche<br />

Entscheidungskriterien abgestellt wird, scheinen diese Wertungen<br />

letzten Endes, im Sinne eines Neopositivismus 295 , doch wieder aus<br />

den Gesetzen zu stammen. Reinhold Zippelius bezieht sich in diesem Zusammenhang<br />

auf das »in der Gemeinschaft herrschende Rechtsethos« sowie<br />

auf die »herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen«, 296 die vor allem aus den<br />

Grundrechtsartikeln der Verfassung und den übrigen Rechtsnormen zu gewinnen<br />

seien. Nach Pawlowski kann die Autorität des Richterspruchs nur<br />

auf rechtlicher bzw. gesetzlicher Basis erfolgen, nicht aber auf außerrechtlichen<br />

Erwägungen. 297 Larenz meint zu wertorientiertem Denken, »der Jurist<br />

hat dabei vor dem Moralphilosophen, der Ähnliches versucht, voraus,<br />

daß ihm die für ihn verbindlichen Wertungsmaßstäbe in der Rechtsordnung,<br />

in der Verfassung und den von ihr akzeptierten Rechtsgrundsätzen<br />

290 Heck beschreibt die »Normgewinnung« rekursiv: Einerseits enthalte ihre Aufgabe die<br />

»Fragen nach dem, was sein soll« (Heck, Begriffsbildung 127 f.), anderseits sei sie nichts anderes<br />

als ein Unterfall der Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung (Heck ebd. 69). Zur Norm-<br />

bzw. Rechtsgewinnung siehe ausführlich Heck, Rechtsgewinnung.<br />

291 So auch Bydlinski 123, 126, der schlussendlich doch zu einer Unterscheidung gelangt.<br />

292 Bydlinski 123 f. Freilich hatte schon Heck, Begriffsbildung 96 von »kausalen gesetzlichen<br />

Werturteilen« gesprochen. Siehe ferner die Darstellung bei Somek, Rechtssystem und<br />

Republik (1992) 193 ff.<br />

293 Zur Entlastungsfunktion und zu den Möglichkeiten interner Begründungen siehe z. B.<br />

Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (1996) 329 f.<br />

294 So anscheinend Bydlinski 135; vgl. auch Canaris (oben N. 196) 121 ff.; Pawlowski<br />

Rz. 953 ff. Allgemein dürfte die Meinung vorherrschen, dass dieser Zugang Ungerechtigkeiten<br />

tendenziell vermeide; z. B. Bydlinski 106 f.<br />

295 Kaufmann 82 f.<br />

296 Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte (1962) 131 ff.; ders., Das Wesen<br />

des Rechts (1965) 123 ff.; ders. (oben N. 7) 12 ff., 21.<br />

297 Pawlowski Rz. 95.


556 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

vorgegeben sind.« 298 Sogar bei einer Rechtsfortbildung contra legem bedarf es<br />

besonderer »im Sinnganzen der Rechtsordnung gelegener Gründe«. 299 Noch<br />

deutlicher betont Bydlinski, dass Wertungsmaßstäbe aus dem Gesetz zu gewinnen<br />

seien, würden doch sonst die Grenzen des Rechts verschwimmen. 300<br />

Ähnlich meint auch Habermas im Zusammenhang mit dem Gegensatzpaar<br />

Rechtssicherheit und Richtigkeit, dass es im Rechtsrealismus keine klare<br />

Unterscheidung zwischen Recht und Politik mehr gebe. Die Rechtsprechung<br />

müsse letzten Endes darauf verzichten, die Funktion des Rechts, d. h.<br />

Verhaltenserwartungen zu stabilisieren, zu erfüllen. 301 In jedem Fall werden<br />

zur Objektivierung der Entscheidungsfi ndung außerrechtliche, also auch<br />

rechtsökonomische Maßstäbe ausgeschlossen. Eine Reihe anderer Vertreter<br />

der Wertungsjurisprudenz versuchten, externe Kriterien für die Lösung von<br />

Rechtsfragen zu entwickeln, konnten sich damit aber im alltäglichen Diskurs<br />

nicht durchsetzen. In der Praxis werden rechtspolitische Argumente<br />

innerhalb des juristischen Diskurses häufi g in Form von Begriffen wie<br />

»sachgerecht« bzw. »angemessen« vorgebracht, die schon von bedeutenden<br />

Vertretern der Interessen- und Wertungsjurisprudenz verwendet wurden. 302<br />

In Hinblick auf die Bedeutung externer Maßstäbe – und damit der Rechtsökonomie<br />

– sind Interessen- und Wertungsjurisprudenz nahezu identisch<br />

und stehen auch der Begriffsjurisprudenz sehr nahe. Die gemeinsame Tradition<br />

ist ein weiterer Grund für die schwache Rezeption rechtsökonomischer<br />

Argumente im deutschsprachigen Diskurs.<br />

5. Das Ende der Gesetzgebung als rechtswissenschaftliche Disziplin<br />

Die interne Betrachtung des Rechts spiegelt sich, ähnlich wie in der Interessen-<br />

und Wertungsjurisprudenz, schließlich auch in der Reinen Rechtslehre<br />

wider, die das Rechtsdenken des 20. Jahrhunderts stark prägte. Während<br />

Savigny und seine Schüler noch die Rechtspolitik an das geltende<br />

Recht anknüpften, war bei Kelsen die Rechtspolitik überhaupt keine Frage<br />

298 Larenz 291 (Hervorhebung im Original); vgl. auch dens., Richtiges Recht (oben<br />

N. 241) 25.<br />

299 Larenz 428.<br />

300 Bydlinski 128.<br />

301 Habermas, Faktizität und Geltung (1992) 238 ff., 246 f.<br />

302 6 Z. B. Larenz, Methodenlehre , Studienausgabe (1994) 6: Richterliche Entscheidungen<br />

sind darauf zu prüfen, ob sie sich mit anderen Entscheidungen und anerkannten Rechtsgrundsätzen<br />

vereinbaren lassen, und ob sie »sachgerecht« sind. Heck, Rechtsgewinnung 8: Durch die<br />

Bindung an die Absichten des Gesetzgebers könne eine »angemessene Behandlung der Lückenfüllung«<br />

erreicht werden. Zur Kritik an einer dogmatischen Behandlung von Rechtsbegriffen<br />

siehe auch Forgó/Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: Neue Theorien des<br />

Rechts, hrsg. von Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (2006) 263 (277). Zum »nachpositivistischen«<br />

Rechtsdenken ausführlicher Somek/Forgó (oben N. 288).


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

557<br />

der Rechtswissenschaft mehr. Der politische Kontext war ein völlig anderer.<br />

303 Für den im Vergleich nur geringen Erfolg der Rechtsökonomie entscheidend<br />

war jedenfalls, dass in beiden Fällen das geltende Recht selbst in<br />

der Rechtswissenschaft sakrosankt war 304 .<br />

Während Savigny sich mit dem Verweis auf einen Sozial- oder Volksnormpositivismus<br />

von naturrechtlichen Überlegungen abwandte, stellte<br />

Kelsens Lehre auf das Gesetz ab. Anders als bei Savigny stand bei Kelsen der<br />

Unterschied zwischen Sein und Sollen wieder im Vordergrund. Beeinfl usst<br />

vom logischen Positivismus des Wiener Kreises 305 lehnte Kelsen Werturteile<br />

als nichtwissenschaftlich ab. 306 Werturteile seien an keinen höheren Werten<br />

messbar und damit weder verifi zierbar noch falsifi zierbar. Die (Rechts-)<br />

Wissenschaft könne daher Normen nur systematisch ordnen und aus ihnen<br />

ein widerspruchsfreies System formen, sie aber nicht hinterfragen. 307 Wie<br />

der Empirismus allgemein wandte sich auch der logische Positivismus gegen<br />

den Rationalismus und damit gegen vorgegebene, nicht überprüfbare Sätze.<br />

Damit war keine gänzliche Abkehr von politischen bzw. ethischen Standpunkten<br />

verbunden. Zentral war allerdings die Einsicht, dass normative<br />

Aussagen nicht rational begründet und damit nicht wissenschaftlich hinterfragt<br />

werden konnten, was in der Rechtspolitik zu einer dezisionistischen<br />

Vorgangsweise führen würde. 308<br />

Die Reinheit von Kelsens Lehre lag nun darin, die Rechtswissenschaft<br />

von all ihren fremden Elementen zu befreien 309 und damit in der politischen<br />

Indifferenz der Rechtserkenntnis, nicht unbedingt in der politischen Indifferenz<br />

von Kelsen selbst. 310 Kelsen hatte durchaus persönliche Gerechtigkeitsvorstellungen,<br />

verneinte aber, ganz im Sinne des ethischen Relativismus,<br />

allgemeine Aussagen darüber. 311 Er untersuchte zu diesem Zweck eine<br />

ganze Reihe von Gerechtigkeitstheorien bedeutender Philosophen, gelangte<br />

aber am Ende stets zu einer Beurteilung ihrer normativen Aussagen als unbestimmt.<br />

312 Da über Werturteile keine wissenschaftlich gültigen Aussagen<br />

getroffen werden können, müsse auch die geltende Rechtsordnung in stren-<br />

303 Grimm 491 f.<br />

304 Siehe Noll (oben N. 201) 9, allerdings ohne Bezugnahme auf die Rechtsökonomie.<br />

305 Kaufmann 124.<br />

306 Z. B. Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus<br />

(1928) 64, 70 (zitiert: Grundlagen).<br />

307 Kelsen, Grundlagen (vorige Note) 71.<br />

308 Skirbekk/Gilje (oben N. 206) 834 f.<br />

309 Kelsen, Reine Rechtslehre (1960; Nachdruck 2000) 1. Kelsen nennt in diesem Zusammenhang<br />

Psychologie, Soziologie, Ethik und politische Theorie; siehe auch Kelsen 52.<br />

310 Kelsen 51 f. Mit einer Kritik am Relativismus siehe Brunner, Gerechtigkeit, Eine Lehre<br />

von den Grundgesetzen der Gesellschaftsordnung (1943), gegen den Kelsen vehement ankämpft;<br />

siehe Kelsen 54 N. 21.<br />

311 Z. B. Kelsen 52.<br />

312 Kelsen 52 behandelt Platon, Aristoteles, Kant, Bentham und andere.


558 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

ger Gesetzestreue als solche hingenommen werden, ohne die Sinnhaftigkeit<br />

der Gesetze bei der Auslegung zu werten. 313 Eine Gesetzgebungslehre konnte<br />

nicht Gegenstand der Rechtswissenschaft sein. 314<br />

Für die Rechtswissenschaft war eine rein interne Betrachtung des Rechts<br />

in den maßgeblichen Perioden des 19. und 20. Jahrhunderts auch politisch<br />

willkommen. Jedenfalls unter den autokratischen Regimes des 19. Jahrhunderts<br />

konnte sich nur eine als unpolitisch deklarierte Theorie auf Dauer<br />

behaupten. Erst im späten 19. Jahrhundert – und wesentlich stärker im 20.<br />

Jahrhundert – konnten kritische Strömungen aufkommen. Umgekehrt sollte<br />

durch die strenge Gesetzesbindung im Rechtspositivismus wohl auch<br />

progressive Gesetzgebung vor einer richterlichen Verwässerung geschützt<br />

werden.<br />

Eine besondere Rolle spielt dabei natürlich der Nationalsozialismus. Dieser<br />

hatte, wie bereits erwähnt, den unmittelbaren Effekt, dass viele kritische<br />

Geister, insbesondere die ohnehin nur am Rande bedeutsamen Freirechtler,<br />

von ihren Lehrstühlen entfernt wurden. Nach dem Krieg wurde zunächst<br />

der Positivismus für die Mitwirkung der Justiz an nationalsozialistischen<br />

Gräueltaten verantwortlich gemacht. 315 Die »Naturrechtsrenaissance« der<br />

Nachkriegszeit unterstützte damit eine externe Betrachtung des Rechts, 316<br />

konnte sich aber nicht nachhaltig durchsetzen. Die Verantwortlichkeit des<br />

Rechtspositivismus wurde schließlich als Mythos enttarnt, 317 zumal die<br />

Richterschaft bereits in der Weimarer Zeit von einer streng formalen Gesetzesauslegung<br />

zugunsten eines »kreativeren« Ansatzes abgegangen waren.<br />

318 Diesen stellten sie in der Folge auch in den Dienst des Nationalsozialismus,<br />

was später drastisch als »unbegrenzte Auslegung« bezeichnet wurde.<br />

319<br />

313 Kelsen, Grundlagen (oben N. 306) 67.<br />

314 Vgl. auch Weinberger (oben N. 201) 175.<br />

315 Vgl. etwa z. B. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht: Süddeutsche<br />

Juristen-Zeitung 1946, 105–107; Beyer, Rechtsphilosophische Besinnung (1947); Coing,<br />

Die obersten Grundsätze des Rechts (1947); Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit<br />

(1951); Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts 2 (1947); Weinkauff, Die deutsche<br />

Justiz und der Nationalsozialismus, Ein Überblick, in: Die Deutsche Justiz und der Nationalsozialismus,<br />

hrsg. von Weinkauff/Wagner (1968) 17 (28); Aus amerikanischer Sicht Fuller, Positivism<br />

and Fidelity to Law, A Reply to Professor Hart: Harv. L. Rev. 71 (1958) 630 (657–<br />

661); Posner, Overcoming Law (oben N. 60) 146.<br />

316 Z. B. Kaufmann 81 ff.; Herget 1 ff.<br />

317 Siehe z. B. Kaufmann, Rechtsphilosophie (oben N. 269) 1–19; Curran, Fear of Formalism,<br />

Indications from the Fascist Period in France and Germany of Judicial Methodology’s<br />

Impact on Substantive Law: Cornell Int. L. J. 35 (2001/02) 101–187 (151 N. 235), die den<br />

maßgeblichen Zeitpunkt um 1970 ansetzt.<br />

318 Z. B. Wieacker 514 ff. mit zahlreichen Nachweisen; Dawson 473 passim insbesondere zu<br />

den Auswirkungen der Geldentwertung auf Verträge; Nörr 30 f.<br />

319 Grundlegend Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (1968); vgl. auch Dawson 476 ff. Vor<br />

der von Generalklauseln ausgehenden Gefahr hatte bereits Hedemann, Flucht in die General-


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

559<br />

Angesichts der starken akademischen Kontinuität zwischen Drittem<br />

Reich und Nachkriegszeit 320 mag es im Interesse vieler Rechtslehrer und<br />

Richter gelegen haben, das Recht aus einer internen, »technischen« Perspektive<br />

zu betrachten und die eigene Tätigkeit als möglichst unpolitisch<br />

und wertfrei darzustellen. 321 Kritische, interdisziplinäre Ansätze hätten dagegen<br />

die Rolle der Rechtsprechung und Lehre unter der nationalsozialistischen<br />

Herrschaft stärker ins Bewusstsein gerückt. Ein »konstruktivistischer«<br />

Ansatz in der Rechtswissenschaft erschien wohl gerade in einer um Wiederaufbau<br />

und Versöhnung bemühten Gesellschaft sinnvoll. Damit behinderte<br />

die in den folgenden Jahrzehnten weiter verfestigte rein interne Betrachtung<br />

des Rechts allerdings die Entwicklung anderer, etwa rechtsökonomischer<br />

Ansätze im juristischen Diskurs.<br />

V. Zusammenfassung<br />

Wir haben versucht, die Divergenz zwischen dem Rechtsdenken in den<br />

USA auf der einen und im deutschen Sprachraum auf der anderen Seite mit<br />

der Entwicklung der klassischen Rechtstheorie, der Dogmatikkritik des<br />

Rechtsrealismus und der Stellung des Utilitarismus zu erklären. Das in den<br />

Vereinigten Staaten und in Europa des 19. Jahrhunderts weit verbreitete<br />

klassische Rechtsdenken hat aufgrund seines System- und Kohärenzanspruchs<br />

externe Kriterien aus seiner Analyse ausgeschlossen. Dieser Zugang<br />

setzte vorerst voraus, dass die Übernahme gewachsenen Rechts besser als die<br />

Alternativen, insbesondere überzeugender als verschiedene naturrechtliche<br />

Ansätze war. Als <strong>dieses</strong> Material aufgearbeitet und in Gesetze gegossen wurde,<br />

konnte sich die juristische Arbeit immer mehr auf die Interpretation einer<br />

bereits wie auch immer erfolgten Willensbildung konzentrieren. Voraussetzung<br />

war, dass die Interpretation anhand rechtlicher Kriterien erfolgen<br />

konnte, es also möglich war, streng zwischen Dogmatik und Politik zu<br />

klauseln (1933) gewarnt. Mit Nachweisen auch zum österreichischen Recht in jüngerer Zeit<br />

Knoll, Um den Nationalsozialismus bemühte Rechtsauslegung: Österreichische Richterzeitung<br />

77 (1999) 2 ff.<br />

320 Vgl. nur Reimann, National Socialist Jurisprudence and Academic Continuity, A Comment<br />

on Professor Kaufmann’s Article: Cardozo L. Rev. 9 (1987/88) 1651–1662; Rüthers,<br />

Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz: JZ 2006, 53–60 (55), der berichtet, dass in den<br />

50er Jahren 80% der Professoren auch zur Zeit des Nationalsozialismus tätig gewesen waren.<br />

Die nationalsozialistische Machtübernahme hatte dagegen dazu geführt, dass in etwa 40% der<br />

Lehrstuhlinhaber ihre Stellung verloren hatten. Dazu Rüthers, Recht als Waffe des Unrechts,<br />

Juristische Instrumente im Dienst des NS-Rassenwahns: NJW 1988, 2825–2836 (2826);<br />

Kohl/Stolleis, Im Bauch des Leviathan: NJW 1988, 2849–2856 (2849 f.). Ähnlich für Österreich<br />

Reiter, Juristenausbildung an der Wiener Universität, 4. 12. 2007,


560 kristoffel grechenig / martin gelter RabelsZ<br />

unterscheiden. Dieser Ansatz wurde in den Vereinigten Staaten vom Rechtsrealismus<br />

nachhaltig kritisiert. Insbesondere setzte sich die Ansicht durch,<br />

dass richterliche Entscheidungen nicht allein auf Grundlage des vorgegebenen<br />

Materials an Gesetzen und Präzedenzfällen erfolgen können. Vielmehr<br />

begann die Meinung vorzuherrschen, dass bei der Interpretation stets<br />

persönliche Vorstellungen einfl ießen, was zu einem Bedarf an normativen<br />

Theorien führte. Diese Lücke, in die insbesondere auch die Rechtsökonomie<br />

stoßen konnte, sah man in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft<br />

nicht, da die dem amerikanischen Rechtsrealismus entsprechende Bewegung,<br />

die Freirechtslehre, keinen vergleichbaren Erfolg hatte. Die Rechtswissenschaft<br />

diskreditierte die interne Betrachtung des Rechts nicht, sondern<br />

versuchte sie vielmehr weiterzuentwickeln. Für externe Maßstäbe bestand<br />

in diesem Rechtsverständnis somit wenig Raum. Nachdem sich die<br />

Rechtspolitik vorerst am geltenden Recht zu orientieren hatte, wurde sie<br />

schließlich überhaupt aus dem Gegenstand der Rechtswissenschaft ausgeblendet.<br />

Soweit externe Maßstäbe in die Auslegung einfl ossen, waren die Ansätze<br />

von einer utilitarismusfeindlichen Ethik geprägt. Diese Grundeinstellung ist<br />

für die Rechtsökonomie nachteilig, da diese wie der Utilitarismus die Gesamtnutzenmaximierung<br />

als erstrebenswert ansieht, Nutzen (soweit möglich)<br />

in eine Einheit umzurechnen versucht und Handlungen nach ihren<br />

Auswirkungen bewertet. All dies stieß in den Vereinigten Staaten auf weit<br />

weniger Widerstand als im deutschsprachigen Raum. Die Entstehung und<br />

Durchsetzung der Rechtsökonomie als rechtswissenschaftlicher Ansatz<br />

setzte somit eine Mehrzahl von Elementen voraus, die in den USA, nicht<br />

aber im deutschsprachigen Raum gegeben waren. Auch gegenüber der verbreiteten<br />

These einer kurz- oder mittelfristigen Konvergenz 322 des Rechtsdiskurses<br />

ist daher einstweilen noch Skepsis geboten.<br />

Summary<br />

The Divergent Evolution of Legal Thought –<br />

Law and Economics in the USA and German Legal Theory<br />

Law and Economics has become an integral part of U. S. scholarship,<br />

while its role remains comparatively limited in the German-speaking legal<br />

debate. We propose a two-pronged explanation for this divergence of legal<br />

thought which rests on the rise and fall of legal realism and the rejection of<br />

utilitarian ethics.<br />

322 Siehe insbesondere die Nachweise in N. 5. Vgl. auch Kennedy (oben N. 42) 674 ff., der<br />

schlechthin eine Globalisierung des juristischen Diskurses der Gegenwart feststellt.


72 (2008)<br />

divergente evolution des rechtsdenkens<br />

561<br />

Until the late 19th century, the interpretative methodology of the respective<br />

legal systems showed remarkable parallels. Both the Langdellian approach<br />

as well as German conceptual jurisprudence focused on an internal<br />

perspective of the law and excluded external elements from »legal science«.<br />

This approach was attacked by both the Free law school and its American<br />

counterpart, legal realism, during the early decades of the Twentieth Century.<br />

Scholars essentially argued that the law was indeterminate to some<br />

extent and that the use of traditional legal methods disguised the true reasons<br />

for a particular interpretation of the law, e.g. in the form of a judicial<br />

decision. Both schools emphasized that decisions were inevitably based on<br />

policy considerations at least to some extent. Legal realism transformed<br />

American legal thought into a discourse focusing on policy and the consequences<br />

of the law in which extra-legal considerations, including economic<br />

analysis, take a predominant position. By contrast, German legal theory focused<br />

on the development of interpretative methods and emphasized the<br />

internal coherence of the legal system. Policy remained largely excluded<br />

from scholarly analysis.<br />

Differences in the philosophical roots can explain why law and economics<br />

prevailed over other theories that intended to fi ll the void torn open by<br />

legal realism and why it today takes such a prominent position in U. S. legal<br />

academia. The widespread acceptance of utilitarianism in American academic<br />

circles provided a fertile groundwork for welfarist, consequentialist<br />

approaches such as law and economics. Insofar as external criteria are accepted<br />

in the German legal discourse, they are mostly non-utilitarian. We<br />

argue that both legal realism and utilitarianism were necessary for the development<br />

of a legal discipline strongly characterized by law and economics<br />

scholarship, as we see it in the U. S. today.


Die privatautonome Abbedingung<br />

der vorvertraglichen Abreden<br />

– Integrationsklauseln im internationalen Wirtschaftsverkehr –<br />

Von Olaf Meyer, Bremen *<br />

<strong>Inhalt</strong>sübersicht<br />

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563<br />

II. Integrationsklauseln im US-amerikanischen Recht . . . . . . . . . . . 565<br />

1. Amerikanische Vertragskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566<br />

2. Die Parol Evidence Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567<br />

3. Funktion und Wirkung von Integrationsklauseln . . . . . . . . . . 570<br />

a) Ausfl uss der Parol Evidence Rule . . . . . . . . . . . . . . . 570<br />

b) Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571<br />

c) Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572<br />

d) Auslegung des Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575<br />

e) Feste Grenzziehung oder bloße Vermutungswirkung . . . . . . . 575<br />

III. Integrationsklauseln im englischen Recht. . . . . . . . . . . . . . . . 577<br />

1. And now for something completely different . . . . . . . . . . . . . 577<br />

2. Auswirkungen auf die Behandlung von Integrationsklauseln . . . . . 578<br />

a) Entfallende Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578<br />

b) Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579<br />

c) Widerleglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580<br />

d) Implied terms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581<br />

e) Haftung für misrepresentation . . . . . . . . . . . . . . . . . 582<br />

* 4<br />

Abgekürzt werden zitiert: John D. Calamari/Joseph M. Perillo, The Law of Contracts<br />

(1998); CISG-Advisory Council, Opinion No. 3: Parol Evidence Rule, Plain Meaning Rule,<br />

Contractual Merger Clause and the CISG: IHR 2005, 81 ff. (zitiert: CISG-AC Opinion No.<br />

3); E. Alan Farnsworth, The Interpretation of International Contracts and the Use of Preambles:<br />

Rev. dr. affaires int. 2002, 271 ff.; Marcel Fontaine/Filip de Ly, Droit des contrats internationaux2<br />

(2003); James L. Hartsfi eld jr., The »Merger Clause« and the Parol Evidence Rule:<br />

Texas L. Rev. 27 (1949) 361 ff.; Ewoud Hondius, De ›entire agreement‹ clausule: Amerikaanse<br />

contractsbedingen in het Nederlandse recht, in: Rechts als norm en als aspiratie; hrsg. von ten<br />

Berge/van Hoot/Jaspers/Swart (1986) 24 ff.; Sebastian Kaufmann, Parol Evidence Rule und Merger<br />

Clauses im internationalen Einheitsrecht (2004); Eid Rawach, La portée des clauses tendant<br />

à exclure le rôle des documents précontractuels dans l’interprétation du contrat: Dalloz 2001,<br />

223 ff.<br />

RabelsZ Bd. 72 (2008) S. 562–600<br />

© 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0033-7250


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

563<br />

3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583<br />

IV. Der Ansatz im Civil Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584<br />

1. Allgemeine Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584<br />

2. Einordnung im materiellen Recht oder im Prozessrecht . . . . . . . . 586<br />

3. Widerleglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587<br />

4. Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589<br />

5. Auslegung des Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591<br />

V. Integrationsklauseln im Internationalen Vertragsrecht . . . . . . . . . . 592<br />

1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592<br />

2. Auslegung des Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594<br />

3. Widerleglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596<br />

VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599<br />

Summary: Private Autonomy and the Exclusion of Pre-Contractual Negotiations –<br />

Integration Clauses in International Commerce . . . . . . . . . . . . . . . 600<br />

I. Einleitung<br />

Verträge haben regelmäßig eine Vorgeschichte. Der Unterzeichnung<br />

eines komplexen Vertragswerkes gehen oft mehrere Verhandlungsrunden<br />

voraus, in denen sich die Parteien Stück für Stück dem endgültigen Konsens<br />

annähern. 1 Auf dem Weg dahin werden mündliche Versprechen und Zusagen<br />

abgegeben sowie eine Vielzahl von Dokumenten ausgetauscht, anhand<br />

derer sich später der Verhandlungsablauf mehr oder weniger vollständig rekonstruieren<br />

lässt. Zu denken ist beispielsweise an die Leistungsbeschreibungen<br />

des Anbieters in Katalogen oder auf seinen Internetseiten, die vorvertragliche<br />

Korrespondenz zwischen den Parteien, eventuelle Vorfeldvereinbarungen<br />

2 sowie schließlich die Vorentwürfe zum Vertragstext. Welche<br />

Wirkung diesen Redaktionsarbeiten nach Vertragsschluss noch zukommt,<br />

lässt sich vorab nur schwer einschätzen. Das Konfl iktpotenzial liegt darin<br />

begründet, dass die eine Partei die im schriftlichen Vertrag niedergelegten<br />

Abreden für abschließend hält, während die andere Seite zusätzliche Punkte<br />

geltend macht, die zwar Gegenstand der Verhandlungen waren, in der Vertragsurkunde<br />

dann aber keinen Niederschlag gefunden haben. Es stellt sich<br />

1 Solche Verträge entsprechen nur noch bedingt dem überkommenen Schema von Angebot<br />

und Annahme. Man hat stattdessen von »sich verdichtenden Rechtsverhältnissen« gesprochen,<br />

vgl. Uwe Blaurock, Der Letter of Intent: ZHR 147 (1983) 334 (337). Die UNIDROIT<br />

Principles tragen dem Rechnung, indem sie in Art. 2.1.1 die Identifi zierbarkeit von Angebot<br />

und Annahme nicht mehr zwingend für einen wirksamen Vertragsschluss voraussetzen.<br />

2 Inzwischen sind Begriffe wie letter of intent, memorandum of understanding oder confi dentiality<br />

agreement auch in der deutschen Vertragspraxis bekannt. Einen Überblick über die gebräuchlichsten<br />

Vorfeldvereinbarungen gibt Kai Bischoff, Vorvertragliche Verhandlungsinstrumente<br />

und ihre Wirkungen im deutschen und US-amerikanischen Recht: ZvglRWiss. 103<br />

(2004) 190 ff.


564 olaf meyer RabelsZ<br />

daher die Frage, ob die Parteien mithilfe von Abwehrklauseln im Vertrag<br />

den Verhandlungen ihre rechtliche Bedeutung absprechen und so spätere<br />

Streitigkeiten über den genauen <strong>Inhalt</strong> ihrer Vereinbarung vermeiden können.<br />

Für den Ausschluss von vor und bei Vertragsschluss getroffenen Abreden<br />

haben sich in der Kautelarpraxis die so genannten Integrationsklauseln herausgebildet.<br />

3 Ihr amerikanischer Name »merger clauses« umschreibt ihre<br />

Funktion bildhaft: Sie »verschmelzen« alle vorangegangenen Erklärungen<br />

zu der einzig verbindlichen Vertragsurkunde. Damit bilden sie das zeitliche<br />

Gegenstück zu den Schriftformklauseln (»no-oral-modifi cation clauses«<br />

oder NOM-Klauseln), welche die Vertragsurkunde gegen die Behauptung<br />

nachvertraglicher mündlicher Nebenabreden abschirmen sollen. 4 Während<br />

Integrationsklauseln in Deutschland wenig verbreitet sind und bislang kaum<br />

wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, 5 gehören sie in<br />

den Vereinigten Staaten zu den »boilerplate«-Klauseln, 6 jenen Standardklauseln,<br />

die fest in der Kautelarpraxis verankert sind und die sich am Ende<br />

nahezu jeden Vertrages wiederfi nden. Auch in der internationalen Vertragsgestaltung,<br />

die ohnehin von amerikanischen Mustern beeinfl usst ist, haben<br />

sie ihren festen Platz und werden sogar schon in die Nähe internationaler<br />

Handelsbräuche gerückt. 7<br />

Ausgangspunkt der Auslegung einer Integrationsklausel muss natürlich<br />

die im Einzelfall gewählte Formulierung sein; hier lassen sich etliche Variationen<br />

beobachten. Die Vertragsparteien können sehr konkret und detailliert<br />

regeln, welche Absprachen außerhalb der Vertragsurkunde noch weiterhin<br />

Bedeutung behalten sollen und welche als ausgeschlossen anzusehen<br />

sind. Insgesamt aber dominieren Standardformulierungen ohne spezifi schen<br />

Bezug zum Vertrag, wie etwa:<br />

»This contract, including all the schedules attached hereto which represent<br />

an integral part hereof and have been signed by the parties, constitutes<br />

the entire agreement between the parties.« 8<br />

3 Zumeist wird die Klausel nach der angloamerikanischen Terminologie als merger clause<br />

oder entire agreement clause bezeichnet. Daneben fi nden sich Bezeichnungen als integration clause,<br />

four corner clause, Vollständigkeitsklausel, clause d’accord complet, clausula de restricción probatoria<br />

oder vierhoekenbeding.<br />

4 Fontaine/de Ly 180 ff.; Robert A. Hillmann, Article 29(2) of the United Nations Convention<br />

on Contracts for the International Sale of Goods, A New Effort at Clarifying the Legal<br />

Effect of »No Oral Modifi cation« Clauses: Cornell Int. L. J. 21 (1988) 449 ff. Die Wirksamkeit<br />

von Schriftformklauseln wird international allerdings unterschiedlich gehandhabt, vgl. die<br />

rechtsvergleichenden Anmerkungen zu Art. 2:106 PECL.<br />

5 Vgl. nun aber Kaufmann 197 ff.<br />

6 Der Ausdruck ist abgeleitet von gewalzten Kesselstahlblechen (boilerplate steel), die sich<br />

ebenso wie diese Klauseln selbst durch täglichen Gebrauch nicht abnutzen.<br />

7 Antonio Crivellaro, La rilevanza dei preamboli nell’interpretazione dei contratti internazionali:<br />

Diritto del commercio internazionale 15 (2001) 777 (783).<br />

8 Beispiel nach Fontaine/de Ly 147.


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

565<br />

Diese auf den ersten Blick unverdächtig erscheinende Formulierung birgt<br />

in sich eine überraschende Fülle von Problemen, sowohl was ihre Reichweite<br />

als auch was ihre Wirkungsweise angeht. Dies liegt darin begründet, dass<br />

die Klausel fundamentale Prinzipien der Vertragsauslegung betrifft, wobei<br />

sie mit den Auslegungsleitlinien des Vertragsstatuts interagiert und nur mit<br />

diesen zusammen verstanden werden kann. Dabei wird die Frage, inwieweit<br />

die Vertragsinterpretation überhaupt der Disposition der Parteien unterliegt,<br />

in den verschiedenen Rechtsordnungen durchaus unterschiedlich beantwortet.<br />

Die Wahrscheinlichkeit, mit der die Verhandlungspartner in den Schlussbestimmungen<br />

des Vertrages eine Integrationsklausel aufnehmen, wird<br />

hauptsächlich durch zwei Faktoren determiniert. Zum einen spielt die Komplexität<br />

des Vertrages eine Rolle. Mit Umfang und Detailreichtum der Regelungen<br />

steigt das Bedürfnis, den Vertrag wasserdicht zu machen und ihn<br />

gegen Einfl üsse von außen zu schützen, um das Verhandlungsergebnis nicht<br />

zu frustrieren. Zu solch typischerweise komplexen Verträgen gehören beispielsweise<br />

Dauerschuldverhältnisse wie Vertriebsverträge, technisch geprägte<br />

Rechtsverhältnisse wie Bauprojekte oder Softwareprogrammierung<br />

sowie generell Handelsverträge mit internationalen Elementen. Zum anderen<br />

gilt es aber auch, den Einfl uss des anwendbaren Vertragsstatuts zu berücksichtigen.<br />

Erst aus dem Zusammenspiel von Vertrags- und Gesetzesrecht<br />

ergibt sich der genaue <strong>Inhalt</strong> der Verpfl ichtungen. Nur so wird verständlich,<br />

warum Integrationsklauseln in den verschiedenen Rechtssystemen<br />

derart unterschiedliche Verbreitung gefunden haben.<br />

Im Folgenden soll zunächst die Wirkungsweise der Integrationsklauseln<br />

in ihrem Ursprungsland, den Vereinigten Staaten, untersucht werden (sogleich<br />

unter II.). Dem wird dann ihre Behandlung im englischen Recht<br />

gegenübergestellt (unter III.). In den folgenden Teilen sollen dann daraus<br />

Rückschlüsse auf ihre Wirkung in den kontinentaleuropäischen Rechtssystemen<br />

(unter IV.) und im Internationalen Einheitsrecht (unter V.) gezogen<br />

werden.<br />

II. Integrationsklauseln im US-amerikanischen Recht<br />

Die mit Abstand häufi gste Verwendung kommt Integrationsklauseln in<br />

den Vereinigten Staaten zu, also in einem Rechtssystem, das wegen seiner<br />

ausufernd langen Verträge berüchtigt ist. 9 Diese Vertragspraxis ist wiederum<br />

9 Zur amerikanischen Vertragspraxis Wulf Döser, Anglo-amerikanische Vertragsstrukturen<br />

in deutschen Vertriebs-, Lizenz- und sonstigen Vertikalverträgen: NJW 2000, 1451 ff.;<br />

Hein Kötz, Der Einfl uss des Common Law auf die internationale Vertragspraxis, in: FS Andreas<br />

Heldrich (2005) 771 ff.; John H. Langbein, Zivilprozeßrechtsvergleichung und der Stil<br />

komplexer Vertragswerke: ZvglRWiss. 86 (1987) 141 ff.; Hanno Merkt, Angloamerikanisie-


566 olaf meyer RabelsZ<br />

unmittelbar bedingt durch drei Charakteristika des US-amerikanischen<br />

Vertragsrechts, nämlich das Fehlen einer in sich geschlossenen gesetzlichen<br />

Reserveordnung, eine enge Vertragsauslegung sowie die Parol Evidence<br />

Rule. 10<br />

1. Amerikanische Vertragskultur<br />

US-amerikanisches Vertragsrecht ist, auch wenn einige Bundesstaaten<br />

Gesetzbücher kennen, seiner Natur nach in erster Linie ein Fallrecht, in<br />

dem gesetzliche Regelungen nur als Rechtsquelle zweiten Ranges angesehen<br />

werden. 11 Bei der Vertragsgestaltung kann daher anders als im kontinentaleuropäischen<br />

Bereich nicht auf die komplementäre Wirkung dispositiver<br />

gesetzlicher Normen vertraut werden. Die Parteien müssen vielmehr<br />

selbst für alle Eventualitäten Sorge tragen, und seien diese noch so fernliegend.<br />

12 Auch die beiden bekanntesten Regelwerke zum Vertragsrecht ändern<br />

an diesem Befund nichts: Der Uniform Commercial Code (UCC) ist<br />

als Modellgesetz von praktisch allen Bundesstaaten übernommen worden; 13<br />

er regelt aber nur bestimmte Vertragstypen und enthält nicht etwa ein allgemeines<br />

Vertragsrecht wie das BGB. Demgegenüber fi nden sich im Restatement<br />

(2d) Contracts 14 zwar allgemeine Regeln zum Vertragsrecht, allerdings<br />

sind diese nicht zu einem kohärenten, in sich geschlossenen System zusammengefasst<br />

worden. Das Restatement soll vielmehr von Fall zu Fall eine<br />

rung und Privatisierung der Vertragspraxis versus Europäisches Vertragsrecht: ZHR 171<br />

(2007) 490 ff.; Rolf Stürner, Die Rezeption U. S.-amerikanischen Rechts in der Bundesrepublik<br />

Deutschland, in: FS Kurt Rebmann (1989) 839 ff.; Volker Triebel, Anglo-amerikanischer<br />

Einfl uß auf Unternehmenskaufverträge in Deutschland, Eine Gefahr für die Rechtsklarheit?:<br />

RIW 1998, 1 ff.; Friedrich Graf v. Westphalen, Von den Vorzügen des deutschen Rechts gegenüber<br />

anglo-amerikanischen Vertragsmustern: ZvglRWiss. 102 (2003) 53 ff.<br />

10 Eine vierte Erklärung sieht Langbein (vorige Note) im amerikanischen Zivilprozess.<br />

11 Dieter Blumenwitz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht 6 (1998) 45.<br />

12 Döser 1452; Kötz 774 f. (beide oben N. 9).<br />

13 Zur Reform des UCC Mathias Reimann/Anne-Catherine Hahn, Die Revision des USamerikanischen<br />

Kaufrechts: IPRax 2004, 146 ff.<br />

14 American Law Institute, Restatement of the Law (2d) Contracts (1981). Der Restatement-Reihe<br />

kommt keine Gesetzesqualität zu, es handelt sich lediglich um eine private Zusammenstellung<br />

von Regeln, wie sie nach Ansicht seiner Verfasser am besten das Common<br />

Law wiedergeben. Gerichte ziehen sie als persuasive authority bei der Urteilsbegründung heran.<br />

Konrad Zweigert/Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung 3 (1996) 247 vergleichen<br />

ihre Funktionsweise mit der eines führenden Lehrbuches. Vgl. weiter Richard Hyland, The<br />

American Experience: Restatements, the UCC, Uniform Laws, and Transnational Coordination,<br />

in: Towards a European Civil Code 3 , hrsg. von Arthur Hartkamp et al. (2004) 59 ff.; Mathias<br />

Reimann, Amerikanisches Privatrecht und europäische Rechtseinheit, Können die USA<br />

als Vorbild dienen?, in: Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht, hrsg. von<br />

Reinhard Zimmermann (1995) 132 ff.; Thomas Schindler, Die Restatements und ihre Bedeutung<br />

für das amerikanische Privatrecht: ZEuP 1998, 277 ff.


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

567<br />

Auslegungsleitlinie für das einzelstaatliche Common Law bilden, so dass immer<br />

nur die einzelne Regel zur Anwendung gelangt und nicht etwa das<br />

Regelwerk in seiner Gesamtheit. 15 Es ist offenbar noch kein Fall bekannt<br />

geworden, in dem die Parteien das Restatement als Ganzes in ihren Vertrag<br />

inkorporiert hätten.<br />

Ein weiterer Grund für die Länge amerikanischer Verträge kann in der<br />

engen Vertragsauslegung gesehen werden. Allerdings sind amerikanische<br />

Gerichte nicht in jedem Fall abgeneigt, äußere Umstände in die Auslegung<br />

mit einzubeziehen. Dort wo der Vertrag offensichtlich unklar oder unvollständig<br />

ist, werden die Parteien vor dem Richter und der Jury den ganzen<br />

Verhandlungsablauf, egal ob mündlich oder schriftlich, aufrollen, um die<br />

Bedeutung des Vertragswortlauts zu erklären. 16 Die damit verbundenen<br />

Unsicherheiten und Kosten (vor allem für die discovery) sind bei komplexen<br />

Verträgen über hohe Werte eine geradezu Furcht einfl ößende Vorstellung<br />

für deren Gestalter. Das amerikanische Recht gibt den Vertragsschließenden<br />

daher in der Form der Plain Meaning Rule eine – oftmals trügerische – Möglichkeit,<br />

solchen Streitigkeiten um die richtige Auslegung vorzubeugen. Wo<br />

die Vertragssprache einen objektiv eindeutigen Sinn hat (»appears to be plain<br />

and unambiguous on its face«), darf zur Auslegung nicht auf externe Umstände<br />

zurückgegriffen werden. 17 Die Prüfung verläuft also zweistufi g: Bevor<br />

es zu einer Vertragsauslegung kommt, muss zuerst die Auslegungsfähigkeit<br />

der Vertragsklausel festgestellt werden. Die oftmals pedantisch anmutende<br />

Formulierungstechnik amerikanischer Rechtsanwälte dient demnach<br />

auch dazu, einer Interpretation des Vertrages durch den Richter und die<br />

Jury vorzubeugen.<br />

2. Die Parol Evidence Rule<br />

Von besonderer Bedeutung gerade im Hinblick auf die Umstände außerhalb<br />

der Vertragsurkunde ist die Parol Evidence Rule in der formalistischen<br />

Ausprägung, die sie im US-amerikanischen Recht erfahren hat. Vereinfacht<br />

ausgedrückt besagt sie, dass ein vollständig aussehender schriftlicher Vertrag<br />

abschließend ist. Dabei wird in den Vereinigten Staaten folgendermaßen<br />

differenziert: Ist der Vertragstext zwar endgültig verbindlich, allerdings<br />

nicht in allen Punkten vollständig (partially integrated), so kann die Vereinba-<br />

15 Withmore Gray, E pluribus unum?, A Bicentennial Report on Unifi cation of Law in the<br />

United States: RabelsZ 50 (1986) 111 (120).<br />

16 Vgl. Restatement (2d) § 202 (1); § 214 (c); E. Alan Farnsworth, Contracts 3 (1999) § 7.10.<br />

17 Zur Plain Meaning Rule vgl. Peter Linzer, The Comfort of Certainty: Plain Meaning<br />

and the Parol Evidence Rule: Fordham L. Rev. 71 (2002) 799 ff. Die Regel ist nicht unumstritten,<br />

UCC und Restatement haben sie abgeschafft, vgl. UCC § 2–202, cmt. 2; Restatement<br />

(2d) § 202 (4).


568 olaf meyer RabelsZ<br />

rung durch den Nachweis außervertraglicher Nebenabreden ergänzt werden,<br />

solange diese nicht im Widerspruch zum festgehaltenen Wortlaut stehen.<br />

Ist darüber hinaus der Vertrag sogar vollständig abschließend gemeint<br />

(completely integrated), so kann er durch außervertragliche Umstände in keiner<br />

Weise abgeändert werden, also nicht einmal um Punkte ergänzt werden,<br />

die im Vertragstext gar nicht angesprochen wurden. 18 Zunächst muss also<br />

festgestellt werden, ob dem Schriftstück überhaupt eine Integrationsfunktion<br />

zukommt, auf der zweiten Stufe sodann, ob diese abschließend ist oder<br />

Raum für Nebenabreden lässt.<br />

Anders als es der irreführende Name vermuten lässt, handelt es sich bei<br />

der Parol Evidence Rule nicht um eine prozessuale Beweisregel, sondern<br />

um materielles Vertragsrecht. 19 Sie basiert auf der Vermutung, dass die Parteien<br />

mit dem schriftlichen Vertrag alle vorherigen Abreden ersetzen wollen.<br />

20 Daher greift sie selbst dann, wenn die behauptete Absprache eindeutig<br />

bewiesen werden kann. Beweisrechtliche Wirkung entfaltet die Regel aber<br />

dadurch, dass der Richter die ausgeschlossenen Nebenabreden nicht als Beweis<br />

vor der Jury zulassen wird. Gesperrt wird ferner nicht nur die Berufung<br />

auf mündliche Abreden, wie die ungenaue Bezeichnung »parol« suggeriert,<br />

sondern es werden sämtliche außervertraglichen Umstände (extrinsic<br />

evidence) von der Regel erfasst. Ausgeschlossen sind allerdings nur Umstände<br />

vor und bei Vertragsschluss, für nachvertragliche Abreden gilt die Regel<br />

hingegen nicht. 21 Außerdem ist sie durch zahlreiche Ausnahmeregeln durchbrochen;<br />

parol evidence ist regelmäßig zulässig zum Beweis selbständiger Nebenabreden<br />

sowie der Unwirksamkeit des Vertrages. Trotz dieser in der Praxis<br />

oftmals kompliziert gehandhabten Ausnahmen ist die Regel im Grundsatz<br />

unbestrittener Bestandteil des US-amerikanischen Common Law. Für<br />

den amerikanischen Juristen ist eine ausformulierte Vertragsurkunde daher<br />

regelmäßig die ausschließliche Grundlage des Geschäfts: Was nicht in ihr<br />

steht, gilt auch nicht. 22<br />

Probleme bereitet insbesondere die Abgrenzung von teilweise und vollständig<br />

integrierten Verträgen. Hierzu existieren in den verschiedenen Jurisdiktionen<br />

zum Teil erheblich divergierende Ansichten, so dass sich die<br />

Parol Evidence Rule bei genauerem Hinsehen in mehrere »Parol Evidence<br />

Rules« aufspaltet. Nach der klassischen Sicht, die verbunden ist mit dem<br />

Namen Samuel Williston, einem der Väter des ersten Restatement, ist der<br />

Vertragstext als Ausgangspunkt zu nehmen, und zwar nur soweit er inner-<br />

18 Restatement (2d) § 216.<br />

19 Farnsworth, Contracts (oben N. 16) § 7.2.<br />

20 So schon das Restatement (1st) Contracts § 240 cmt. d).<br />

21 5 Farnsworth 272; James J. White/Robert S. Summers, Uniform Commercial Code (2000)<br />

92.<br />

22 Christian Borris, Common Law and Civil Law, Fundamental Differences and their Im-<br />

pact on Arbitration: Arbitration 60 (1994) 78 (84).


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

569<br />

halb der vier Ecken des Vertragsdokuments wiedergegeben ist. Erscheint<br />

dieser für einen objektiven Beobachter aus sich heraus abschließend und<br />

verständlich, so gilt er unwiderlegbar als vollständig integriert. Ausgenommen<br />

sind lediglich völlig selbständige Nebenabreden (collateral agreements),<br />

die von den Parteien naturgemäß separat behandelt würden (und die dann<br />

selbstverständlich von einer eigenen consideration gedeckt sein müssen). 23<br />

Nach Williston können die Vertragschließenden jeglichen Auslegungszweifel<br />

ausräumen, indem sie den Vertrag explizit als vollständig bezeichnen,<br />

also eine Integrationsklausel aufnehmen. 24<br />

Modernere Ansichten tendieren hingegen zu einem liberaleren Herangehen,<br />

auch wenn Willistons Regel immer noch sehr große Bedeutung in der<br />

Gerichtspraxis hat. So hat insbesondere Corbin vertreten, dass nicht objektive<br />

Überlegungen über die Integration bestimmen, sondern nur der wirkliche<br />

Parteiwille, und dieser solle unter Heranziehung aller beweiserheblichen<br />

Umstände inklusive der Verhandlungen ermittelt werden können. 25<br />

In diese Richtung weist auch das Restatement (2d) Contracts § 209(3). Der<br />

UCC enthält eine widerlegliche Vermutung für eine nur teilweise Integration,<br />

wobei sowohl objektive als auch subjektive Elemente in die Auslegung<br />

einfl ießen. 26<br />

Wird die Integration bejaht, verlieren die außervertraglichen Absprachen<br />

ihre rechtliche Bedeutung, soweit es um Abweichungen oder Ergänzungen<br />

zum Vertragstext geht. Das heißt aber noch nicht zwingend, dass sie bei der<br />

Ermittlung des Vertragsinhaltes gar keine Rolle mehr spielen. Nach verbreiteter<br />

Ansicht hindert die Parol Evidence Rule nämlich nicht die Heranziehung<br />

der Vertragsverhandlungen zur bloßen Auslegung des schriftlichen<br />

Textes. 27 Doch ist das Fallrecht hier betont zurückhaltend, wohl vor dem<br />

Hintergrund, dass die Parol Evidence Rule ihrer Funktion weitgehend beraubt<br />

würde, wenn man die vertragsexternen Abreden zuerst verbannt, nur<br />

um sie dann über die Hintertür der Vertragsauslegung wieder in den Vertrag<br />

hineinzuholen. 28 Aus diesem Grunde machen viele Gerichte eine Auslegung<br />

mithilfe von extrinsic evidence davon abhängig, dass der Vertrag objektiv<br />

Unklarheiten oder Mehrdeutigkeiten aufweist. Es soll oftmals noch nicht<br />

23 Restatement (1st) Contracts § 240.<br />

24 3 Samuel Williston, On Contracts (1961) § 633: »Since it is only the intention of the parties<br />

to adopt a writing as a memorial which makes that writing an integration of the contract, and<br />

makes the Parol Evidence Rule applicable, any expression of their intention in the writing in<br />

regard to the matter will be given effect. If they provide in terms that the writing shall con tain<br />

a complete integration of their agreement or that it shall be but a partial integration, or no<br />

integration at all, the expressed intention will be effectuated.«<br />

25 Arthur L. Corbin, On Contracts (1960) § 588.<br />

26 UCC § 2–202 (b); dazu Calamari/Perillo § 3.4 (e).<br />

27 Vgl. etwa Restatement (2d) § 214 (c); Corbin (oben N. 25) § 579; White/Summers (oben<br />

N. 21) 95.<br />

28 Calamari/Perillo § 3.16; Linzer (oben N. 17) 800 f.


570 olaf meyer RabelsZ<br />

einmal ausreichen, wenn erst die Berücksichtigung der Beweismittel Unklarheiten<br />

über die wirkliche Wortbedeutung entstehen lässt. 29 Das Verhältnis<br />

von zulässiger Auslegung zu ausgeschlossener Vertragsergänzung gehört<br />

damit zu den wohl schwierigsten Fragen der Parol Evidence Rule.<br />

3. Funktion und Wirkung von Integrationsklauseln<br />

a) Ausfl uss der Parol Evidence Rule<br />

Der vorangegangene Überblick verdeutlicht die Funktion amerikanischer<br />

merger clauses: Sie stellen eine direkte Antwort auf die Parol Evidence Rule<br />

dar und sind untrennbar mit ihr verbunden. 30 Wenn die Parteien ausdrücklich<br />

festlegen, dass außerhalb der Vertragsurkunde keine weiteren rechtsverbindlichen<br />

Abreden zwischen ihnen bestehen, so dient dies dazu, die<br />

Rechtsfolgen einer complete integration herbeizuführen, nämlich den Vertrag<br />

gegen behauptete Ergänzungen jeglicher Art abzuschotten. Angesichts der<br />

Verbreitung von Integrationsklauseln in den Vereinigten Staaten muss man<br />

davon ausgehen, dass dort die Ausschließlichkeit des Vertragstextes als etwas<br />

Positives und Erstrebenswertes angesehen wird, obwohl man sich sicherlich<br />

auch bewusst ist, dass kein noch so erfahrener Vertragsgestalter stets alle<br />

relevanten Aspekte eines Geschäftes vorab in eindeutige Formulierungen<br />

kleiden kann. Dennoch ist die amerikanische Kautelarpraxis bereit, eventuelle<br />

Härten in Kauf zu nehmen. Der Hauptgrund dürfte in der Furcht vor<br />

einer Vertragsauslegung durch die Jury liegen, deren Mitglieder in der Regel<br />

geschäftlich unerfahren sind und die sich möglicherweise bei ihrer Entscheidung<br />

von Sympathien für den »underdog« leiten lassen. 31 Daneben wird<br />

bei langfristigen Geschäftsbeziehungen befürchtet, dass wichtige Zeugen<br />

nach einigen Jahren nicht mehr zur Verfügung stehen, etwa weil sie verstorben<br />

sind oder das Unternehmen inzwischen verlassen haben. 32 Die enge<br />

Verbindung der Klausel mit der Parol Evidence Rule beherrscht auch ihre<br />

Auslegung durch die amerikanischen Gerichte.<br />

29 Boston Car Co., Inc. v. Acura Automobile Div., Am. Honda Motor Co., Inc., 971 F.2d 811,<br />

815 (1st Cir. 1992): »[. . .] parol evidence may not be admitted to contradict the clear terms of<br />

an agreement, or to create ambiguity where none otherwise exists.«<br />

30 Fontaine/de Ly 152; Hondius 25. Vgl. Smith v. Central Soya of Athens, Inc., 604 F. Supp. 518,<br />

526 (E. D. N. C. 1985): »Merger clauses were developed with the Parol Evidence Rule in mind<br />

in order to protect the parties to the contract.« Die Auswirkungen der Klausel auf vertretungsrechtliche<br />

Fragen sollen in diesem Beitrag außer Betracht bleiben.<br />

31 Langbein (oben N. 9) 149; vgl. auch Olympia Hotels Corp. v. Johnson Wax Development<br />

Corp., 908 F. 2d 1363, 1373 (7th Cir. 1990): »Not all parties to contracts want to entrust their<br />

fate to the vagaries of juries unversed in the usages of business [. . .]«; Armstrong Paint & Varnish<br />

Works v. Continental Can Co., 301 Ill. 102, 106, 133 N. E. 711 (1921).<br />

32 Farnsworth 272.


72 (2008)<br />

b) Wirksamkeit<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

571<br />

Integrationsklauseln werden allgemein als wirksam anerkannt. 33 Wenn<br />

schon die Parol Evidence Rule mit einem vermuteten Parteiwillen begründet<br />

wird, dann muss es den Parteien erst recht gestattet sein, den Vertrag<br />

mittels einer ausdrücklichen Regelung abschließend zu gestalten. Ihre<br />

Wirksamkeit steht und fällt aber mit der Wirksamkeit des gesamten Vertrages.<br />

Daher ist selbst bei Vorliegen einer Integrationsklausel jeglicher außervertragliche<br />

Beweis zulässig, der den Vertrag insgesamt zu Fall bringt,<br />

etwa aufgrund von Irrtum (mistake), Gesetzesverstoß (illegality) oder fehlender<br />

consideration. 34 Dies korrespondiert mit den Ausnahmeregelungen zur<br />

Parol Evidence Rule. Lediglich zwei Fallgestaltungen haben Anlass zu Diskussionen<br />

gegeben: In einigen Entscheidungen wurde der Kläger nicht mit<br />

der Behauptung gehört, er hätte sich bei der Unterzeichnung blind auf die<br />

Zusicherung seines Vertragspartners verlassen, dass eine bestimmte Abrede<br />

in den Vertragstext aufgenommen wurde. Die Gerichte argumentierten,<br />

dass die Parteien vor Unterzeichnung eine Pfl icht zum Lesen des Vertrages<br />

träfe und daher die durch die Integrationsklausel angestrebte Rechtssicherheit<br />

Vorrang vor dem Täuschungsvorwurf der nachlässigen Partei haben<br />

müsse. 35 Doch sind die meisten Gerichte diesem Ansatz nicht gefolgt und<br />

haben vollen Beweis auch für die Täuschung über den Vertragsinhalt zugelassen.<br />

36 Der zweite Problemfall betrifft die Behauptung mündlich vereinbarter<br />

aufschiebender Bedingungen. Diese stehen jedenfalls immer im Widerspruch<br />

zur Integrationsklausel und dürften daher unter der Parol Evidence<br />

Rule nicht ergänzend zum Vertrag herangezogen werden. Hier<br />

tendiert die ganz überwiegende Auffassung dazu, den Beweis der Bedingung<br />

mittels außervertraglicher Umstände dennoch zuzulassen, da die Parol<br />

Evidence Rule zu ihrer Anwendung die Endgültigkeit der schriftlichen<br />

Vereinbarung voraussetzt. 37 Allerdings wirkt die Integrationsklausel als<br />

starker Gegenbeweis, dass solch eine Bedingung gerade nicht vereinbart<br />

wurde. 38<br />

Von der Einwendung der Unwirksamkeit des gesamten Vertrages sind<br />

solche Argumente zu unterscheiden, die sich gegen die Wirksamkeit der<br />

33 Farnsworth 273; Hartsfi eld 362.<br />

34 Restatement (2d) § 214 (d), vgl. ebd. cmt. c); Calamari/Perillo 141.<br />

35 Mitchell v. Excelsior Sales & Imports, 243 Ga. 813, 256 S. E.2d 785 (1979); Knight & Bostvick<br />

v. Moore, 303 Wis. 540, 234 N. W. 902 (1931). Dies beruht auf der amerikanischen Unterscheidung<br />

von Täuschungen, die zum Vertragsschluss verleiten sollen ( fraud in the inducement),<br />

und Täuschungen über den <strong>Inhalt</strong> der Vertragsurkunde ( fraud in the execution).<br />

36 Belew v. Griffi s, 249 Ark. 589, 460 S. W.2d 80 (1970); Estes v. Republic Nat. Bank, 462<br />

S. W.2d 273 (Tex. 1970); Calamari/Perillo 144; Hartsfi eld 366 ff.<br />

37 Luther Williams Inc. v. Johnson, 229 A.2d 163 (D. C. Ct. App., 1967); Nord v. Herreid, 305<br />

N. W.2d 337 (Minn. 1981); Restatement (2d) § 217 cmt. b); White/Summers (oben N. 21) 95.<br />

38 Hartsfi eld 371 ff.


572 olaf meyer RabelsZ<br />

Integrationsklausel selbst richten. In diesem Punkt hält das amerikanische<br />

Recht kaum Instrumente bereit, mit denen die Klausel ernsthaft bedroht<br />

werden könnte. Insbesondere kennt das amerikanische Recht keine AGB-<br />

Kontrolle in der hierzulande vertrauten Gestalt. Vertragsregelungen werden<br />

in der Regel nur nach UCC § 2–303 auf Unbilligkeit (unconscionability) geprüft,<br />

doch sind die Voraussetzungen dafür so hoch, dass sie Integrationsklauseln<br />

zumeist keine Probleme bereiten. 39 Schutz vor überraschenden<br />

Klauseln bietet zu einem gewissen Umfang das Erfordernis, dass Regelungen<br />

mit haftungsausschließender Wirkung auffällig gestaltet (conspicuous,<br />

vgl. UCC § 1–201[10]) sein müssen. Da Integrationsklauseln vorvertraglichen<br />

Versprechungen ihre Verbindlichkeit nehmen und damit im Ergebnis<br />

einem Haftungsausschluss sehr nahekommen, können sie bei unauffälliger<br />

Gestaltung unwirksam sein. 40 Noch weiterreichende Folgen können sich aus<br />

Spezialgesetzen ergeben. So kann nach dem New Yorker General Business<br />

Law § 687 die Haftung für einem Franchisenehmer vorvertraglich gegebene<br />

Zusagen vertraglich nicht abbedungen werden – eine direkte Reaktion des<br />

Gesetzgebers auf missbräuchliche Vertragsgestaltung seitens der Franchisegeber.<br />

41<br />

c) Reichweite<br />

Bei strikter Befolgung kann eine Integrationsklausel zu unbilligen Härten<br />

führen. Dies folgt daraus, dass komplexe Geschäftsbeziehungen sich vorab<br />

nur bedingt in einem einzigen Schriftstück zusammenfassen lassen. So werden<br />

ungeachtet von Integrations- und Schriftformklauseln zahlreiche geschäftliche<br />

Abreden aus Effi zienzgründen nach wie vor mündlich getroffen.<br />

Dem kann sich auch das Vertragsrecht nicht verschließen und muss in bestimmten<br />

Situationen Ausnahmen von der Nichtbeachtung außervertraglicher<br />

Abreden zulassen.<br />

Hierzu gehören in erster Linie die collateral agreements, also diejenigen<br />

selbständigen Vereinbarungen, die vom integrierten Vertrag unabhängig<br />

39 Smith v. Central Soya of Athens, Inc., 604 F. Supp. 518, 526 f. (E. D. N. C. 1985); Kerry L.<br />

Macintosh, When Are Merger Clauses Unconscionable?: Denver U. L. Rev. 64 (1988) 529 ff.;<br />

White/Summers (oben N. 21) 107.<br />

40 Seibel v. Layne & Bowler, Inc., 641 P.2d 668, 671 (Or. App. 1982). Die Integrationsklausel<br />

war ebenso wie eine Haftungsfreizeichnungsklausel im buchstäblichen »Kleingedruckten«<br />

versteckt und nicht durch ein anderes Schriftbild vom übrigen Vertragstext abgehoben.<br />

41 AJ Temple Marble & Tile, Inc. v. Union Carbide Marble Care, Inc., 618 N. Y. S. 2d 155 (N. Y.<br />

Sup. Ct. 1994). Art. 687 General Business Law bestimmt:<br />

[. . .] »(4) Any condition, stipulation, or provision purporting to bind any person acquiring<br />

any franchise to waive compliance with any provision of this law, or rule promulgated<br />

hereunder, shall be void.<br />

(5) It is unlawful to require a franchisee to assent to a release, assignment, novation, waiver<br />

or estoppel which would relieve a person from any duty or liability imposed by this article.«


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

573<br />

sind und für die deshalb bereits die Parol Evidence Rule nicht gilt. Insbesondere<br />

bei regelmäßigen Geschäftskontakten muss zwischen den einzelnen<br />

Transaktionen unterschieden werden, da sonst die zeitlich letzte Vereinbarung<br />

alle vorangegangenen Verträge außer Kraft setzen würde. 42 Die Abgrenzung<br />

kann bisweilen schwierig sein. In einem Fall war einen Großhändler<br />

mündlich der Verkauf von Geschäftsanteilen an einen Lieferanten<br />

versprochen worden, woraufhin ersterer eine größere Menge an Papierprodukten<br />

bei letzterem bestellte. Obwohl der Kaufvertrag über das Papier eine<br />

Integrationsklausel enthielt, ließ der Court of Appeal den Beweis der mündlichen<br />

Zusage zu. Aus den Umständen sei klar ersichtlich, dass sich die Integration<br />

auf den eigentlichen Vertragsgegenstand beschränkt, also auf die<br />

Papierprodukte; es sei nicht zu erwarten gewesen, dass die Parteien den<br />

Kauf der Geschäftsanteile in einem Vertrag über Papierprodukte angesprochen<br />

hätten. 43 Insoweit scheinen also die gleichen Grundsätze wie bei der<br />

Parol Evidence Rule zu gelten; das Gericht wird fragen, ob die Parteien<br />

vernünftigerweise die Nebenabrede im selben Vertrag mitgeregelt hätten.<br />

Ebenfalls nicht ausgeschlossen sind die so genannten terms implied in law.<br />

Da diese ihre Grundlage im Gesetz haben, müssen sie auch nicht durch parol<br />

evidence nachgewiesen werden. Gesetzliche Garantien können somit nicht<br />

durch eine allgemeine Integrationsklausel abbedungen werden, sondern allenfalls<br />

durch eine ausdrückliche und eindeutige Verzichtserklärung. 44 Ähnliches<br />

gilt für Handelsbräuche (terms implied by usage), die nach Common<br />

Law-Verständnis ihre Geltungskraft aus dem vermuteten Parteiwillen schöpfen.<br />

45 Soweit diese mit der vertraglichen Regelung unvereinbar sind, gelten<br />

sie als abgewählt. Im Übrigen werden sie nur dann ausgeschlossen, wenn<br />

sich die merger clause ausdrücklich auch auf sie erstreckt. 46<br />

Eine besonders heikle Frage ist schließlich, ob eine Integrationsklausel die<br />

Haftung für misrepresentation ausschließen kann. Hierbei geht es um im Vorfeld<br />

des Vertragsschlusses getätigte unwahre Angaben, die zwar nicht selbst<br />

Vertragsbestandteil geworden sind, die getäuschte Partei aber zum Abschluss<br />

42 Corbin (oben N. 25) § 578; in dem Fall Harbor Village Home Center, Inc. v. Thomas, 882<br />

So. 2d 811 (Ala. 2003) lagen gar innerhalb derselben Transaktion zwei widersprüchliche Vereinbarungen<br />

vor, die jeweils laut Integrationsklausel alleinige Verbindlichkeit für sich beanspruchten.<br />

43 Gem Corrugated Box Corp. v. National Kraft Container Corp., 427 F.2d 499, 503 (2d Cir.<br />

1970). Vgl. ferner Kreiss v. McCown DeLeeuw & Co., 37 F. Supp. 2d 294, 300 (S. D. N. Y.<br />

1999).<br />

44 Chatlos Systems v. National Cash Register Corp., 479 F. Supp. 738, 742 f. (D. N. J. 1979);<br />

Farnsworth 274; Hartsfi eld 365 f.; White/Summers (oben N. 21) 104. Soweit die Integrationsklausel<br />

als Mittel zum Haftungsausschluss verwendet wird, gilt UCC § 2–316(2).<br />

45 Rechtsvergleichend zur Rolle der Handelsbräuche Michael Joachim Bonell, The Relevance<br />

of Course of Dealing, Usages and Customs in the Interpretation of International Commercial<br />

Contracts, in: New Directions in International Trade Law, hrsg. von UNIDROIT I<br />

(1977) 109 ff.<br />

46 Farnsworth 274.


574 olaf meyer RabelsZ<br />

bewogen haben. Auf der einen Seite ist es gerade der Sinn dieser Klauseln,<br />

außervertraglichen Zusagen ihre Verbindlichkeit zu nehmen und so für<br />

Rechtssicherheit zu sorgen. So können sie aber gegenüber unerfahrenen<br />

Verhandlungspartnern auch als Waffe missbraucht werden, indem etwa<br />

einem Franchisenehmer vorab bestimmte Umsatzzahlen oder Ausschließlichkeitsrechte<br />

in Aussicht gestellt werden, der standardisierte Franchisevertrag<br />

dann aber am Ende eine merger clause enthält. Im Fallrecht kommt<br />

dieser Konfl ikt zwischen Vertragsklarheit und Schutz vor Betrug klar zum<br />

Ausdruck. Im Grundsatz versuchen die Gerichte, der getäuschten Seite ihr<br />

Recht nicht gänzlich abzuschneiden. Oftmals wird deshalb danach differenziert,<br />

ob es sich um eine unspezifi sche merger clause handelt, wie es in der<br />

Praxis zumeist der Fall sein wird, oder die Klausel hinreichend detailliert<br />

aufl istet, welche Zusicherungen nicht als verbindlich gelten sollen. Lediglich<br />

im letzteren Falle soll die Partei nicht schutzwürdig sein. 47 Eine Rolle<br />

kann auch die Erfahrung der Vertragsschließenden spielen. Verhandlungserfahrene<br />

Parteien müssen sich eher an Ausschlussklauseln festhalten lassen<br />

als ungeübte Geschäftsteilnehmer. 48 Die merger clause wird dadurch aber<br />

nicht völlig bedeutungslos, sondern hat Beweiswert dafür, dass die behauptete<br />

Aussage gerade nicht verbindlich getroffen wurde.<br />

In der Kautelarpraxis wird angesichts dieser Durchbrechungen versucht,<br />

die Integrationsklausel mit einer »non-reliance clause« zu kombinieren und<br />

dadurch die Haftung für vorvertragliche Abreden mit absoluter Sicherheit<br />

auszuschließen. Dies beruht auf der rechtlichen Voraussetzung, nach der<br />

eine Haftung für misrepresentation nur dann eingreift, wenn der Getäuschte<br />

vernünftigerweise auf die Zusicherung vertraut hat. 49 Hier ist die Einstellung<br />

der Gerichte noch nicht abschließend feststellbar. In einigen Jurisdiktionen<br />

haben die Gerichte tatsächlich akzeptiert, dass niemand eine Vertrauenshaftung<br />

geltend machen könne, wenn er zuvor unterschrieben hat, dass<br />

er auf keinerlei außervertragliche Zusicherung vertraut hat. 50 Nach der in<br />

New York geltenden Regel gilt dies jedenfalls dann, wenn die merger clause<br />

spezifi sch auf den Vertrag zugeschnitten ist und nicht nur eine bloße Standardfl<br />

oskel enthält. 51 Diese Unterscheidung scheint aber wenig zur Klarheit<br />

beizutragen, da nun die Gerichte in jedem Einzelfall die gewählte Formu-<br />

47 Caiola v. Citibank, NA, 295 F.3d 312 (2d Cir. 2002).<br />

48 Caiola v. Citibank (vorige Note); Wells Fargo Bank Northwest v. Taca International Airlines,<br />

247 F. Supp. 2d 352, 369 (S. D. N. Y. 2002); White/Summers (oben N. 21) 105 f.<br />

49 Vgl. Restatement (2d) § 164.<br />

50 Rissman v. Rissman, 213 F.3d 381, 383–84 (7th Cir. 2000); Tirapelli v. Advanced Equities,<br />

Inc., 215. Supp. 2d 964 (N. D. Ill. 2002).<br />

51 First Nationwide Bank v. 965 Amsterdam, Inc., 212 A. D.2d 469 (1st Dept. 1995); Citibank,<br />

NA v. Plapinger, 66 N. Y.2d 90 (1985); Danann Realty Corp. v. Harris, 5 N. Y.2d 317, 320<br />

(1959).


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

575<br />

lierung unter die Lupe nehmen müssen. 52 Die Probleme liegen darin begründet,<br />

dass die non-reliance clause das zu erreichen versucht, was schon die<br />

merger clause nicht uneingeschränkt durchzusetzen vermochte; eine gänzliche<br />

Freistellung des Verkäufers von all seinen außervertraglich gegebenen<br />

Versprechen mithilfe einer Standardklausel würde eben zu einer ungerechten<br />

Risikoverteilung führen und dem Missbrauch alle Türen öffnen.<br />

Daher haben zahlreiche Gerichtsentscheidungen zumindest den Nachweis<br />

von betrügerisch gegebenen Zusagen zugelassen. 53<br />

d) Auslegung des Vertrages<br />

Der Zusammenhang mit der Parol Evidence Rule bildet schließlich auch<br />

den Hintergrund für die Frage, ob eine merger clause die Berücksichtigung<br />

von extrinsic evidence zur Vertragsauslegung verhindern kann. Wie gesehen<br />

gehen die Meinungen in der amerikanischen Rechtsprechung weit auseinander,<br />

ob ein vollständig integrierter Vertrag noch durch vorvertragliche<br />

Umstände interpretiert werden darf. Die Vertragsparteien könnten also mithilfe<br />

der Integrationsklausel nicht nur klarstellen, dass der Vertrag vollständig<br />

ist, sondern gleichzeitig auch eine restriktive Anordnung hinsichtlich<br />

der Rolle des Verhandlungsmaterials für die Vertragsauslegung treffen. Aber<br />

hier ist man vorsichtig, einer unspezifi schen Integrationsklausel ohne weiteres<br />

eine so weitreichende Wirkung zuzusprechen. 54 Etwas anderes mag<br />

dann gelten, wenn sich die Klausel ausdrücklich auch auf Fragen der Auslegung<br />

erstreckt.<br />

e) Feste Grenzziehung oder bloße Vermutungswirkung<br />

Wie gezeigt haben die Gerichte eine Reihe von Ausnahmen entwickelt,<br />

um in bestimmten Situationen auch entgegen einer Integrationsklausel außervertragliche<br />

Umstände in die Fallentscheidung einfl ießen zu lassen. Aber<br />

selbst dort, wo dem Vertragsschluss keine Täuschungen oder sonstige nicht<br />

zu billigenden Verhaltensweisen einer Partei vorangegangen sind, kann die<br />

Nichtberücksichtigung des Verhandlungsverlaufes unbefriedigend sein. Damit<br />

bleibt zu klären, ob die Vertragsparteien durch eine Integrationsklausel<br />

ein Gericht tatsächlich abschließend und unumstößlich zu binden vermö-<br />

52 Calamari/Perillo § 9.21: »The distinction is more subtle than practical and has produced<br />

the proverbial fl ood of litigation.«<br />

53 Associated Hardware Supply Co. v. Big Wheel Distrib. Co., 355 F.2d 114 (3d Cir. 1966).<br />

LaFazia v. Howe, 575 A.2d 182, 187 (RI 1990) (Ausschluss nur wirksam, wenn die außervertragliche<br />

Zusage in der non-reliance clause ausdrücklich angesprochen wird); Gibson v. Home<br />

Folks Mobile Home Plaza, Inc., 533 F. Supp. 1211 (S. D. Ga. 1982); Bates v. Southgate, 308 Mass.<br />

170, 182 (1941); Calamari/Perillo § 9.21.<br />

54 767 Third Avenue LLC v. Orix Capital Markets, LLC, 800 N. Y. S. 2d 357 (N. Y. Sup. Ct.<br />

2005); Restatement (2d) § 216 cmt. e); Corbin (oben N. 25) § 578; Hartsfi eld 373 f.


576 olaf meyer RabelsZ<br />

gen. Die traditionelle Sichtweise, die zumeist auch der strengeren Form der<br />

Parol Evidence Rule im Sinne Willistons anhängt, bejaht dies. 55 Danach<br />

müsste ein Vertrag, der eine merger clause enthält, vom Gericht immer als<br />

vollständig integriert behandelt werden.<br />

Doch befi ndet sich diese strenge Auslegung immer mehr auf dem Rückzug.<br />

56 Die moderne Argumentation setzt an bei der Forderung Corbins, dass<br />

über die Integration eines Vertragstextes der wirkliche Parteiwille entscheiden<br />

soll. Zu dessen Feststellung müssten aber alle verfügbaren Umstände<br />

herangezogen werden; keineswegs könne der Vertrag seine eigene Vollständigkeit<br />

beweisen. 57 So hatte etwa in der Entscheidung Sierra Diesel 58 der<br />

Kläger auf eine schriftliche Anpreisung hin einen Computer erworben, der<br />

sich anschließend als für seine Zwecke völlig ungeeignet erwies. Obwohl<br />

der Kaufvertrag eine merger clause enthielt, zog der neunte Circuit auch<br />

den vorvertraglichen Schriftwechsel zur Feststellung des Vertragsinhaltes<br />

heran; da der Käufer weder besondere Erfahrung mit Computern noch mit<br />

geschäftlichen Verträgen besaß, waren die Richter davon überzeugt, dass er<br />

keineswegs mit der Vertragsunterzeichnung eine vollständige Integration<br />

ohne Einschluss der zuvor gegebenen Zusagen erreichen wollte. Andere<br />

Gerichte stellen sich auf den Standpunkt, dass der routinemäßige Einschluss<br />

von boilerplate clauses nicht notwendig auf einen tatsächlichen Willen der<br />

Parteien schließen lässt. 59 Dies bedeutet nicht, dass diese Gerichte Integrationsklauseln<br />

ignorieren. Sie gestehen ihnen immer noch einen hohen Beweiswert<br />

zu im Rahmen der Feststellung, ob der Vertragstext vollständig<br />

integriert ist, doch kann sich im Einzelfall bei Heranziehung aller Faktoren<br />

auch ein anderer Parteiwille ergeben. 60 Integrationsklauseln erhöhen somit<br />

zwar die Wahrscheinlichkeit, dass das Gericht sich ausschließlich vom<br />

schriftlichen Vertragstext leiten lässt, geben aber keine absolute Sicherheit.<br />

Die entscheidende Neuerung in diesem Ansatz liegt darin, dass der Richter<br />

über die Vollständigkeit der Vertragsurkunde erst entscheiden kann, nach-<br />

55 Yates Development v. Old Kings Interchange, 256 F.3d 1285, 1291 (11th Cir. 2001); vgl.<br />

ferner die zahlreichen Rechtsprechungsnachweise bei Kaufmann 157 (dort bei N. 694); Macintosh<br />

(oben N. 39) 531; Restatement (1st) (1932) § 230 cmt. b); White/Summers (oben N. 21)<br />

108; Williston (oben N. 24) § 633.<br />

56 Calamari/Perillo § 3.6; Fontaine/de Ly 159.<br />

57 Restatement (2d) § 210 cmt. b): »But a writing cannot of itself prove its own completeness,<br />

and wide latitude must be allowed for inquiry into circumstances bearing on the<br />

intention of the parties.«<br />

58 Sierra Diesel Injection Service v. Burroughs Corp., 890 F.2d 108, 112 (9th Cir. 1989).<br />

59 Nanakuli Paving v. Shell Oil Co., 664 F.2d 772, 784 (9th Cir. 1981); Levien Leasing Co. v.<br />

Dickey Co., 380 N. W.2d 748, 752 (Iowa Ct. App. 1985).<br />

60 Bakery & Confectionery Union & Indus. Int’l Pension Fund v. Ralph’s Grocery Co., 118 F.3d<br />

1018, 1021 (4th Cir. 1997); Bowden v. United States, 106 F.3d 433, 440 (D. C. Cir. 1997); Smith<br />

v. Central Soya of Athens, Inc., 604 F. Supp. 518, 527 (E. D. N. C. 1985); ARB, Inc. v. E-Systems,<br />

Inc., 663 F.2d 189, 198 f. (D. C. Cir. 1980). Ebenso Restatement (2d) § 209 cmt. b); ebd.<br />

§ 216 cmt. e). Vgl. ferner die Nachweise bei Kaufmann 160 (dort bei N. 703).


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

577<br />

dem er den ganzen Vortrag der Partei über die außervertraglichen Abreden<br />

angehört hat. Dadurch wird wiederum der Gleichlauf der Integrationsklausel<br />

mit der moderneren Fassung der Parol Evidence Rule hergestellt: Die<br />

ausdrückliche Integration kann zwar in vielen Fällen verhindern, dass der<br />

Richter den Vertragstext ergänzt oder abändert, nicht aber, dass er die behaupteten<br />

Nebenabreden zunächst einmal zur Kenntnis nimmt.<br />

III. Integrationsklauseln im englischen Recht<br />

1. And now for something completely different<br />

Zieht man zum Vergleich die Rechtslage in England heran, so fällt zunächst<br />

die abweichende Terminologie ins Auge: Bereits der Ausdruck »merger<br />

clauses« ist hier ungebräuchlich, stattdessen spricht man von »entire<br />

agreement clauses«. Neben diesem rein sprachlichen Unterschied lassen sich<br />

aber schnell weitere substanzielle Besonderheiten ausmachen. Vor allem sind<br />

Integrationsklauseln in England nicht mit der gleichen Häufi gkeit und<br />

Selbstverständlichkeit wie in den Vereinigten Staaten anzutreffen. Ihre Verwendung<br />

ist hier viel später üblich geworden, 61 und erst etwa seit Beginn der<br />

neunziger Jahre müssen sich die englischen Gerichte verstärkt mit ihnen<br />

auseinandersetzen. Trotz der Verwandtschaft der beiden Rechte scheinen<br />

also Unterschiede zu bestehen, welche die Verwendung von Integrationsklauseln<br />

unter englischem Recht weniger dringlich erscheinen lassen.<br />

Der Grund für diese abweichende Vertragspraxis dürfte nicht in einer<br />

generellen Strukturverschiedenheit des englischen Rechts zu fi nden sein.<br />

Dieses ist wie die Zivilrechte der amerikanischen Bundesstaaten ein Fallrecht,<br />

in dem parlamentsgesetzlichen Regelungen nur eine untergeordnete<br />

Bedeutung zukommt. Die Vertragsauslegung ist ebenfalls streng objektiviert<br />

und vielleicht sogar noch buchstabengläubiger als nach den amerikanischen<br />

Maßstäben, bedingt durch das völlige Fehlen des Prinzips von good<br />

faith im englischen Recht. 62 Signifi kante Unterschiede bestehen aber im Bereich<br />

der Parol Evidence Rule. Ursprünglich in England entwickelt, hat<br />

diese dort inzwischen erheblich an Bedeutung eingebüßt. Dies dürfte wiederum<br />

darin begründet liegen, dass die Jury seit langem aus dem englischen<br />

61 Chitty, On Contracts 29 (2004) 12–104 (dort bei N. 441).<br />

62 Dazu Roy Goode, The Concept of »Good Faith« in English Law (1992) (Centro di studi<br />

e ricerche di diritto comparato e straniero, Saggi, conferenze e seminari, 2). Zur Aufweichung<br />

des englischen Dogmas unter europäischem Einfl uss vgl. Simon Whittaker, Assessing the<br />

Fairness of Contract Terms, The Parties’ »Essential Bargaining«, its Regulatory Context and<br />

the Signifi cance of the Requirement of Good Faith: ZEuP 2004, 75 ff.


578 olaf meyer RabelsZ<br />

Zivilprozess nahezu verschwunden ist. 63 Ohne eine derartige Laienbeteiligung<br />

fehlt es an einem Bedürfnis für starre Regeln über die Zuverlässigkeit<br />

von Beweismitteln. Hingegen hat die Parol Evidence Rule in den Vereinigten<br />

Staaten, wo die Jury-Beteiligung verfassungsrechtlich garantiert ist, ihre<br />

Bedeutung beibehalten. 64<br />

Die komplizierte amerikanische Trennung zwischen teilweise und ganz<br />

integrierten Verträgen ist dem englischen Recht fremd. Geprüft wird dort<br />

nur, ob die Vereinbarung der Parteien auf die schriftlichen Abmachungen<br />

reduziert ist (»whether the contract has been reduced to writing«). In diesem<br />

Falle sind außervertragliche Beweismittel nicht zulässig »to contradict, vary,<br />

add to or subtract from the terms of a written contract«. 65 Ob allerdings der<br />

schriftliche Vertrag tatsächlich abschließend ist, bestimmt sich nach dem<br />

Willen der Vertragsparteien, und diesen ermitteln die englischen Gerichte<br />

auf der Grundlage aller auslegungsrelevanten Umstände, also selbst soweit<br />

diese nicht im Vertragstext festgehalten sind. Damit verbleibt für die Parol<br />

Evidence Rule kaum noch eine prägende Funktion, auch angesichts der<br />

vielen Ausnahmen und Durchbrechungen, die in der Rechtsprechung anerkannt<br />

werden. Die Law Commission hat sich gar 1986 für eine Aufgabe der<br />

Regel ausgesprochen, da diese nichts mehr über die Bedeutung außervertraglicher<br />

Beweise aussage, sondern nur zirkulär feststelle, dass ein abschließender<br />

Vertrag abschließend sei. 66 Dazu ist es dann zwar nicht gekommen,<br />

doch ist die englische Parol Evidence Rule heute unstreitig nicht mehr als<br />

eine allgemeine Vollständigkeitsvermutung, die durch substantiierten Vortrag,<br />

auch mithilfe von extrinsic evidence, entkräftet werden kann.<br />

2. Auswirkungen auf die Behandlung von Integrationsklauseln<br />

a) Entfallende Probleme<br />

Die Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen führt in der Konsequenz<br />

dazu, dass sich bestimmte Fragen, die in der amerikanischen Kautelarpraxis<br />

mithilfe von merger clauses geregelt werden, für den englischen<br />

Juristen gar nicht erst stellen. Dazu gehört in erster Linie die Unterscheidung<br />

zwischen partiell und vollständig integrierten Verträgen, die in England<br />

nicht praktiziert wird. Die Behauptung bloßer Vertragsergänzungen<br />

63 Vgl. S. H. Bailey/J. P. L. Ching/M. J. Gunn/D. C. Ormerod, Smith, Bailey and Gunn On<br />

the Modern English Legal System 4 (2002) 15–007.<br />

64 CISG-AC Opinion No. 3, 1.2.2. Vgl. US Const. Amend. VII.<br />

65 So die Formel von Lord Morris in Bank of Australasia v. Palmer, [1897] A. C. 540, 545.<br />

Vgl. ferner Chitty (oben N. 61) 12–096; Guenter Treitel, The Law of Contract 11 (2003) 192 ff.<br />

66 Law Commission Report on the Parol Evidence Rule, Law Com. 154 (1986) Anm. 2.7;<br />

zustimmend Chitty (oben N. 61) 12–099; kritisch Treitel (vorige Note) 193 f.


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

579<br />

und echter Vertragsabweichungen wird dort gleichbehandelt. 67 Für eine Regelung<br />

mittels einer formalisierten Vertragsklausel, wie sie durch die Williston-Regel<br />

in den Vereinigten Staaten hervorgerufen wurde, besteht daher<br />

in England kein Bedürfnis. Zwar prüft auch ein englisches Gericht, ob sich<br />

die Vereinbarung zwischen den Parteien auf den schriftlichen Vertragstext<br />

beschränkt, doch kann es zu dieser Feststellung nach seiner Parol Evidence<br />

Rule immer auch alle außervertraglichen Beweismittel heranziehen.<br />

Ein weiterer Unterschied besteht hinsichtlich des Auslegungswertes der<br />

vorvertraglichen Absprachen bei der Vertragsinterpretation. In den Vereinigten<br />

Staaten ist es keineswegs sicher, inwieweit parol evidence zur Vertragsauslegung<br />

zugelassen wird, so dass eine Klarstellung im Vertrag selbst durch<br />

eine Integrationsklausel in Betracht kommt. Dagegen hat die englische Parol<br />

Evidence Rule mit Vertragsauslegung überhaupt nichts zu tun; sie regelt<br />

nur Abweichungen vom schriftlichen Vertragsinhalt, nicht aber dessen Feststellung.<br />

68 Allerdings gilt in England, anders als in den Vereinigten Staaten,<br />

das Dogma, wonach die Vertragsverhandlungen bei der Vertragsauslegung<br />

unberücksichtigt bleiben müssen. Zwar dürfen die äußeren Umstände (»factual<br />

matrix«), die beiden Parteien bei Vertragsschluss bekannt waren, zum<br />

Verständnis herangezogen werden, und dies sogar gegen einen eindeutigen<br />

Wortlaut. Die eigentlichen vorvertraglichen Absprachen und Vertragsentwürfe<br />

sind dabei jedoch tabu. 69 Damit entfällt auch die gesamte Auslegungsproblematik<br />

aus dem Anwendungsbereich englischer Integrationsklauseln.<br />

70<br />

b) Wirksamkeit<br />

Die englische Rechtsprechung hält Integrationsklauseln prinzipiell für<br />

zulässig und für ein probates Mittel zum Ausschluss außervertraglicher Nebenabreden.<br />

71 Sie stehen und fallen allerdings mit der Wirksamkeit des gesamten<br />

Vertrags, so dass dieser ebenso wie nach amerikanischem Recht stets<br />

mit allen Mitteln angegriffen werden kann. So können die Parteien trotz<br />

67 Vgl. oben bei N. 65.<br />

68 Chitty (oben N. 61) 12–117.<br />

69 Prenn v. Simmonds, [1971] 1 W. L. R. 1381, 1385; Youell v. Bland Welch & Co. Ltd., [1992]<br />

2 Lloyd’s Rep. 127.<br />

70 Die Wirkung von entire agreement clauses auf die Vertragsauslegung wird in der englischen<br />

Judikatur kaum behandelt. Allerdings hat der Court of Appeal in Phillips Petroleum Co.<br />

UK Ltd. v. Snamprogetti Ltd., [2001] 79 Con. L. R. 80, eine behauptete Auslegung auch unter<br />

Hinweis auf eine Integrationsklausel im Vertrag zurückgewiesen, sich dabei jedoch hauptsächlich<br />

darauf gestützt, dass die vorgetragene Interpretation in den tatsächlichen Umständen<br />

ohnehin keine Stütze fände. Vgl. auch ProForce Recruit Ltd. v. The Rugby Group Ltd., [2006]<br />

EWCA 69, wo eine Integrationsklausel restriktiv ausgelegt wurde, so dass sie nur die Vertragsergänzung,<br />

nicht aber die Auslegung eines unklaren Vertragswortlautes ausschließen sollte.<br />

71 Inntrepreneur Pub Co. Ltd. v. East Crown Ltd., [2000] 2 Lloyd’s Rep. 611.


580 olaf meyer RabelsZ<br />

einer entire agreement clause immer nachweisen, dass der Vertrag den wirklichen<br />

Parteiwillen nicht zutreffend wiedergibt und deshalb einer Berichtigung<br />

(rectifi cation) bedarf, 72 oder dass es sich bei der ganzen Transaktion lediglich<br />

um ein Scheingeschäft gehandelt hat. 73<br />

Soweit es die Wirksamkeit der Integrationsklausel selbst betrifft, kommt<br />

als Unwirksamkeitsgrund in Betracht, dass die Parteien nachträglich auf den<br />

Schutz der Integrationsklausel konkludent verzichten. 74 Keine Gültigkeitsprobleme<br />

ergeben sich hingegen aus dem Unfair Contract Terms Act<br />

(UCTA) von 1977, da entire agreement clauses die Haftung für misrepresentation<br />

unberührt lassen und folglich von s. 3 Misrepresentation Act 1967<br />

in der Fassung von ss. 8, 11(1) UCTA nicht erfasst werden. 75<br />

c) Widerleglichkeit<br />

Sind somit die Integrationsklauseln nach englischem Recht zumeist wirksam,<br />

bleibt als nächstes die Frage zu klären, ob englische Richter ihnen auch<br />

immer bedingungslos Folge leisten werden, mit anderen Worten also, ob<br />

eine eindeutig formulierte Integrationsklausel das Vorbringen vertraglicher<br />

Nebenabreden kategorisch ausschließt oder aber lediglich eine widerlegliche<br />

Vermutung für einen solchen Ausschluss begründet. In einer der frühesten<br />

Entscheidungen stellte sich Lord Denning auf den Standpunkt, dass<br />

eine Partei ihr Recht verwirken würde, sich auf eine Integrationsklausel zu<br />

berufen, wenn sie ein klares vorvertragliches Versprechen abgibt und die<br />

andere Seite auf dessen Wirksamkeit vertraut. 76 Ähnlich zurückhaltend gegenüber<br />

einer uneingeschränkten Geltung verhielt sich eine Entscheidung<br />

des Court of Appeal aus dem Jahre 1998, wonach die entire agreement clause<br />

zwar die Vermutung für die Vollständigkeit des Vertrages erhöhe, aber durch<br />

entsprechende Gegenbeweise überwunden werden könne. 77<br />

72 JJ Huber (Investments) Ltd. v. The Private DIY Co. Ltd. (16. 6. 1995; unveröffentlicht,<br />

LEXIS); Law Commission Report on the Parol Evidence Rule, Law Com. 154 (1986)<br />

Anm. 2.15.<br />

73 Oroleum Ltd. v. Sigmoil Resources NV (29. 1. 1991; unveröffentlicht, LEXIS).<br />

74 SAM Business Systems Ltd. v. Hedley & Co., [2003] 1 All E. R. (Comm.) 465.<br />

75 Dazu eingehend unter Punkt III. 2. e).<br />

76 Brikom Investments Ltd. v. Carr and Others, [1979] 2 All E. R. 753. Die konkurrierenden<br />

Lordrichter erreichten dasselbe Ergebnis, griffen in der rechtlichen Konstruktion allerdings<br />

auf den Rechtsverzicht (waiver) anstelle der Verwirkung (promissory estoppel) zurück.<br />

77 Henderson v. Commercial Union Investment Management Ltd. and another (22. 1. 1998; unveröffentlicht,<br />

LEXIS): »Of course, evidence may be adduced which would have the effect of<br />

negativing a clause like that, but we have been referred to no evidence in this case that would<br />

have that effect. That clause seems to me to strengthen the presumption that a written contract<br />

is intended to contain the terms of the bargain between the parties to that contract. What<br />

cannot remain alive is some previous agreement, arrangement or understanding« (per Gibson<br />

L. J.). Ebenso Law Commission Report on the Parol Evidence Rule, Law Com. 154 (1986)<br />

Anm. 2.15.


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

581<br />

Positivere Aufnahme fanden Integrationsklauseln bei Lightman J. in der<br />

viel zitierten Entscheidung Inntrepreneur v. East Crown. 78 Die Klägerin hatte<br />

1996 der Beklagten eine Gaststätte auf 30 Jahre verpachtet. Der Pachtvertrag<br />

war mit einer Bierbezugsverpfl ichtung verbunden, aber Inntrepreneur stellte<br />

bei den Verhandlungen mündlich in Aussicht, dass diese Pfl icht bereits<br />

1998 aufgehoben werden würde. Angesichts der im Vertrag enthaltenen entire<br />

agreement clause zeigte der Richter keine Bereitschaft, dieser behaupteten<br />

Abrede irgendeine rechtliche Beachtung zu schenken: »The purpose of<br />

an entire agreement clause is to preclude a party to a written agreement from<br />

threshing through the undergrowth and fi nding in the course of negotiations<br />

some (chance) remark or statement (often long forgotten or diffi cult<br />

to recall or explain) on which to found a claim such as the present to the<br />

existence of a collateral warranty.« Danach soll bereits eine einfache Integrationsklausel<br />

die Geltendmachung mündlicher Versprechen versperren. Dessen<br />

ungeachtet prüfte er aber anschließend dennoch den behaupteten Vortrag<br />

und kam zu dem Ergebnis, dass eine verbindliche Zusage der Aufhebung<br />

der Bezugspfl icht nicht bewiesen wurde.<br />

Allerdings dürfte die Inntrepreneur-Entscheidung nicht als bedingungslose<br />

Anerkennung von entire agreement clauses im englischen Recht zu werten<br />

sein. Nur ein Jahr später entschied ein anderer Richter am High Court bei<br />

fast identischem Sachverhalt (die Klägerin war die Rechtsnachfolgerin von<br />

Inntrepreneur) zugunsten der Pächter. 79 In diesem Fall lag es für den Richter<br />

aufgrund der Beweise auf der Hand, dass eine Befreiung von der Bezugspfl<br />

icht versprochen worden war, ohne dass es zu dieser Erkenntnis eines<br />

»threshing through the undergrowth« wie im Inntrepreneur-Fall bedurft hätte.<br />

Zudem beurteilte der Richter das Verhalten der Kläger, die bewusst eine<br />

Aufnahme der Zusage in den Vertrag als unnötig hingestellt hatten, als niederträchtig<br />

(»shabby«). Es scheint daher, als ob eine klar nachweisbare Absprache<br />

auch weiterhin ihre Gültigkeit behalten wird, die Integrationsklausel<br />

also nur die Vermutung für die Vollständigkeit des Vertrages verstärkt.<br />

d) Implied terms<br />

Hinsichtlich der ergänzenden Vertragsauslegung bestehen zwischen der<br />

englischen und amerikanischen Rechtslage offenbar keine größeren Unterschiede.<br />

Eine allgemeine entire agreement clause wird eine Vertragsergänzung<br />

durch implied terms grundsätzlich nicht ausschließen. 80 Sie kann aber als<br />

78 Inntrepreneur Pub Co. Ltd. v. East Crown Ltd. (oben N. 71).<br />

79 1406 Pub Company Ltd. v. Hoare and Another (2. 3. 2001; unveröffentlicht, LEXIS).<br />

80 Tatung (UK) Ltd. v. British Satellite Broadcasting Ltd. (19. 3. 1992; unveröffentlicht,<br />

LEXIS); Hotel Services Ltd. v. Hilton International Hotels (UK) Ltd. (5. 2. 1999; unveröffentlicht,<br />

LEXIS).


582 olaf meyer RabelsZ<br />

Indikator gegen eine solche Implikation wirken. 81 Allerdings können Parteien<br />

möglicherweise die ergänzende Auslegung durch eine ausdrückliche<br />

Bestimmung in der Integrationsklausel ausschließen. Dies ist für die Vertragsergänzung<br />

durch Handelsbräuche so entschieden worden. 82 Der Richter<br />

hielt jedoch offen, ob er einer Integrationsklausel auch in den Fällen den<br />

Vorrang vor der Vertragsergänzung einräumen würde, wo letztere zur effektiven<br />

Vertragsdurchführung (business effi cacy) erforderlich ist.<br />

e) Haftung für misrepresentation<br />

Der Schwerpunkt der englischen Rechtsprechung liegt im Bereich der<br />

Auswirkung von entire agreement clauses auf die Haftung für unwahre Tatsachenangaben<br />

bei Vertragsschluss (misrepresentation). 83 Es besteht dabei<br />

Einigkeit dahingehend, dass eine einfache entire agreement clause die Haftung<br />

für misrepresentation nicht ausschließt. 84 Dies liegt darin begründet,<br />

dass die Integration sich nur auf das »agreement« (nichts anderes gilt bei der<br />

Wortwahl »understanding«) bezieht, die misrepresentation aber ohnehin<br />

nicht Bestandteil der vertraglichen Einigung ist. Wegen der gebotenen engen<br />

Auslegung von haftungsausschließenden Klauseln erfasst eine einfache<br />

entire agreement clause also zwar die vertraglichen collateral warranties, aber<br />

nicht die auf der Grenze zum Deliktsrecht stehende misrepresentation.<br />

In der Kautelarpraxis wird daher die Integrationsklausel oft um die Bestätigung<br />

erweitert, dass die Vertragspartner nicht auf vorvertragliche Zusagen<br />

der anderen Seite vertraut haben, um so die Anspruchsvoraussetzung für<br />

eine Haftung für misrepresentation entfallen zu lassen. 85 Die rechtliche Be-<br />

81 Tatung (UK) Ltd. v. British Satellite Broadcasting Ltd. (vorige Note); World Wide Fund for<br />

Nature and Another v. World Wrestling Federation Entertainment Inc. (1. 10. 2001; unveröffentlicht,<br />

LEXIS).<br />

82 Exxonmobil Sales and Supply Corp. v. Texaco Ltd., [2003] 2 Lloyd’s Rep. 686, 690 f. Die<br />

Klausel lautete: »This instrument contains the entire agreement of the parties with respect to<br />

the subject matter hereof and there is no other promise, representation, warranty, usage or<br />

course of dealing affecting it.«<br />

83 Allgemein zur Haftung für misrepresentation Dieter Henrich/Peter Huber, Einführung in<br />

das englische Privatrecht 3 (2003) 61 ff.; P. S. Atiyah, An Introduction to the Law of Contract 5<br />

(1995; Nachdruck 2004) 257 ff.; Treitel (oben N. 65) 330 ff.<br />

84 Alman and Benson v. Associated Newspapers Group Ltd. (20. 6. 1980; unveröffentlicht,<br />

LEXIS); Thomas Witter & Co. Ltd. v. TBP Industries Ltd., [1996] 2 All E. R. 573, 595 ff.; Deepak<br />

Fertilisers & Petrochemicals Corp. Ltd. v. Davy McKee (London) Ltd., [1999] 1 All E. R. (Comm.)<br />

69 (der Vertrag unterlag indischem Recht, aber das Gericht ging mangels Parteivortrags davon<br />

aus, dass <strong>dieses</strong> mit englischem Recht übereinstimmte); Government of Zanzibar v. British Aerospace<br />

(Lancaster House) Ltd. (26. 1. 2000; unveröffentlicht, LEXIS); Inntrepreneur Pub Co. Ltd.<br />

v. East Crown Ltd. (oben N. 71).<br />

85 In Watford Electronics Ltd. v. Sanderson CFL Ltd., [2001] 1 All E. R. (Comm.) 696 lautete<br />

diese Klausel: »The parties agree that these terms and conditions (together with any other<br />

terms and conditions expressly incorporated in the Contract) represent the entire agreement<br />

between the parties relating to the sale and purchase of the Equipment and that no statement


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

583<br />

ständigkeit einer solchen »non-reliance clause« ist noch nicht abschließend<br />

geklärt. Während einige Richter 86 sie als Haftungsausschluss ansehen und<br />

daher den Beschränkungen von s. 3 Misrepresentation Act, s. 11(1) UCTA<br />

unterwerfen, ordnete Chadwick L. J. derartige Klauseln in einer Reihe von<br />

Entscheidungen als Verwirkung der Beweismöglichkeit (evidential estoppel)<br />

ein. 87 Dies hat zwar den Vorteil, dass die Klauselkontrolle nicht mehr anhand<br />

des unbestimmten Kriteriums der Angemessenheit nach s. 11(1) UCTA<br />

erfolgt, dafür sind aber die von der Rechtsprechung an eine Verwirkung<br />

von Beweisen gestellten Anforderungen ungleich strenger. 88 Bemerkenswert<br />

an diesem Ansatz ist zudem, dass damit erstmals ein Problem der Vertragsintegration<br />

auf die prozessuale Schiene verlegt wird, obwohl zuvor alle<br />

Entscheidungen einen materiellrechtlichen Ansatz gewählt haben. 89<br />

3. Zwischenergebnis<br />

Der schwachen Stellung der Parol Evidence Rule in England entspricht<br />

eine eher restriktive Behandlung der Integrationsklauseln durch englische<br />

Gerichte. Die Abgrenzung von teilweise und vollständig integrierten Verträgen<br />

entfällt aus dem Aufgabenbereich der Klausel. Sie dienen damit<br />

hauptsächlich dem Ausschluss von vertraglichen Nebenabreden. In der Regel<br />

werden englische Gerichte Integrationsklauseln nicht als per se verbindlich<br />

einordnen, sondern nur als starkes Indiz für die Geschlossenheit des<br />

schriftlichen Vertrages. Soweit es die Auslegung des Vertragstextes betrifft,<br />

sind die Verhandlungsmaterialien bereits nach dem englischen Common<br />

Law ausgeschlossen, die Klausel erstreckt sich hierauf also nicht.<br />

or representations made by either party have been relied upon by the other in agreeing to enter<br />

into the Contract.«<br />

86 Thomas Witter & Co. Ltd. v. TBP Industries Ltd. (oben N. 84); National Westminster Bank<br />

v. Utrecht-America Finance Co., [2001] 3 All E. R. 733; Government of Zanzibar v. British Aerospace<br />

(Lancaster House) Ltd. (oben N. 84); South West Water Services Ltd. v. International Computers<br />

Ltd., [2001] Lloyd’s Rep. P. N. 353. Offengelassen in Inntrepreneur Pub Co. Ltd. v. East<br />

Crown Ltd. (oben N. 71); vgl. auch Brikom Investments Ltd. v. Carr and Others (oben N. 76).<br />

87 E. A. Grimstead & Son Ltd. v. McGarrigan (27. 10. 1999; unveröffentlicht, LEXIS); Watford<br />

Electronics Ltd. v. Sanderson CFL Ltd. (oben N. 85). Dazu Edwin Peel, Reasonable Exemption<br />

Clauses: L.Q.Rev. 117 (2001) 545 ff. Vgl. ferner bereits McGrath v. Shah, [1987] 57 P &<br />

CR 452, 459 ff.<br />

88 Lowe v. Lombank Ltd., [1960] 1 All E. R. 611. Chadwick L. J. räumt ein, dass der Beweis<br />

der Voraussetzungen eine Vertragspartei vor »insuperable diffi culties« stellen könne, Watford<br />

Electronics Ltd. v. Sanderson CFL Ltd. (oben N. 85).<br />

89 So ausdrücklich Inntrepreneur Pub Co. Ltd. v. East Crown Ltd. (oben N. 71): »The operation<br />

of the clause is not to render evidence of the collateral warranty inadmissible in evidence<br />

[. . .]: it is to denude what would otherwise constitute a collateral warranty of legal effect.«


584 olaf meyer RabelsZ<br />

IV. Der Ansatz im Civil Law<br />

1. Allgemeine Überlegungen<br />

In den Rechtsordnungen des Civil Law gibt es einen der Parol Evidence<br />

Rule vergleichbaren förmlichen Ausschluss von außervertraglichen Abreden<br />

nicht. Die Vertragsauslegung orientiert sich hier regelmäßig mehr am<br />

wirklichen Parteiwillen als an der objektiven Bedeutung des Vertragswortlautes.<br />

90 So hat sich beispielsweise die deutsche Rechtsprechung, welche hier<br />

im Vordergrund der Betrachtung stehen soll, von einer Eindeutigkeitsregel<br />

distanziert und betont, dass selbst ein klarer objektiver Wortsinn keine absolute<br />

Barriere für die Berücksichtigung der äußeren Umstände des Vertragsschlusses<br />

bildet, vielmehr die Eindeutigkeit einer Formulierung erst als<br />

Ergebnis der Auslegung festgestellt werden könne. 91 Die Vorgeschichte des<br />

Vertrages wird dabei regelmäßig zu den auslegungsrelevanten Umständen<br />

gezählt. 92<br />

Die Überlegung, dass Parteien mit der schriftlichen Abfassung des Vertrages<br />

gerade auch Klarheit über das Nichtbestehen von Nebenabreden<br />

schaffen wollten, ist aber auch dem deutschen Recht nicht fremd. Ein funktionales<br />

Äquivalent fi ndet sich im Prozessrecht in Form der Vermutung der<br />

Vollständigkeit und Richtigkeit der Vertragsurkunde. 93 Sie basiert ebenso<br />

wie die Parol Evidence Rule auf dem Erfahrungssatz, dass die Parteien ihre<br />

Rechtsbeziehungen in der Vertragsurkunde abschließend regeln wollen. 94<br />

Anders als ihr formalistisches Pendant im angloamerikanischen Rechtsraum<br />

bedeutet sie aber kein Beweisverbot, sondern lediglich eine Beweiserschwernis.<br />

95 Diejenige Partei, die eine zusätzlich zum schriftlichen Vertragstext<br />

hinzutretende Abrede behauptet, muss daher nicht nur beweisen, dass diese<br />

tatsächlich getroffen wurde, sondern auch, dass sie neben dem Vertragstext<br />

weiterhin Bestand haben soll. Für diesen Zweck darf sie wiederum auf außervertragliche<br />

Materialien zurückgreifen. Vergleichbares gilt in Frankreich<br />

und Italien, wo die Beweisregeln den Zeugenbeweis zum Nachweis von<br />

dem schriftlichen Vertrag widersprechenden Vereinbarungen zwar aus-<br />

90 Dazu Hein Kötz, Vertragsauslegung, Eine rechtsvergleichende Skizze, in: FS Albrecht<br />

Zeuner zum 70. Geburtstag (1994) 219 ff., sowie die rechtsvergleichenden Nachweise bei<br />

Anm. 2 zu Art. 5:101 PECL.<br />

91 BGH 19. 12. 2001, NJW 2002, 1260 (1261).<br />

92 Vgl. etwa BGH 8. 7. 1999, NJW 1999, 3191; 13. 3. 2003, NJW 2003, 2235 (2236);<br />

weitere Nachweise in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (-Vogenauer) (2003) §§ 133,<br />

157, Rz. 52 (zitiert: HKK [-Vogenauer]); Hanns Prütting/Gerhard Wegen/Gerd Weinreich (-Ahrens),<br />

BGB, Kommentar (2006) § 133 Rz. 35.<br />

93 RG 13. 6. 1902, RGZ 52, 23 (25 f.); BGH 5. 2. 1999, NJW 1999, 1702; 5. 7. 2002, NJW<br />

2002, 3164.<br />

94 Alexander Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften (1966) 217 ff.<br />

95 HKK (-Vogenauer) (oben N. 92) §§ 133, 157, Rz. 83.


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

585<br />

schließen, Geschäfte des Handelsverkehrs hiervon jedoch bezeichnenderweise<br />

ausgenommen sind, um die Flexibilität der Kommunikationsmittel im<br />

modernen Geschäftsverkehr zu erhalten. 96 Somit ist der Beweis des <strong>Inhalt</strong>s<br />

der Vertragsvereinbarung mithilfe der Verhandlungsgeschichte in wichtigen<br />

kontinentalen Rechtsordnungen im Grundsatz zulässig, die Beweiskraft der<br />

schriftlichen Formulierung daher nie absolut. Hingegen ist die Parol Evidence<br />

Rule zwar durch viele Ausnahmen durchbrochen, doch gilt vor allem<br />

im amerikanischen Common Law der Grundsatz nach wie vor, dass die<br />

Vertragsverhandlungen den objektiven Wortlaut des schriftlichen Vertrages<br />

nicht mehr beeinfl ussen können und es zu ihrer Zulassung im Einzelfall stets<br />

einer besonderen Rechtfertigung bedarf. 97<br />

Zu diesem Befund passt die eher spärliche Verbreitung von Integrationsklauseln<br />

im kontinentaleuropäischen Raum. Sie passen nur bedingt zu der<br />

üblichen knappen Vertragsgestaltung, die in großem Maße auf die ergänzende<br />

Geltung des dispositiven Gesetzesrechts und damit auf vertragsexterne<br />

Faktoren vertrauen kann. Eine Besonderheit bilden insoweit internationale<br />

Verträge, besonders wenn daran Parteien aus dem angloamerikanischen<br />

Rechtsraum beteiligt sind. Im internationalen Rechtsverkehr, wo amerikanische<br />

Vertragsmuster weit verbreitet und die Verträge entsprechend detailreich<br />

sind, haben Integrationsklauseln sich ihren festen Platz erobert. 98 Unterliegt<br />

der Vertrag einer Rechtsordnung des Civil Law, so muss der rechtliche<br />

Ursprung der Integrationsklausel im Common Law bei ihrer<br />

Anwendung Berücksichtigung fi nden. 99<br />

Dabei ergibt sich nun folgendes Problem: In ihrem Ursprungsland, den<br />

Vereinigten Staaten, dient die Integrationsklausel zur Verstärkung der Parol<br />

Evidence Rule, also zur Fortschreibung einer im amerikanischen Common<br />

Law fest verankerten und akzeptierten Regel. Die Parteien vermeiden durch<br />

die Integration in erster Linie die Lücken und Unsicherheiten, die sich bei<br />

der Anwendung der Parol Evidence Rule sonst ergeben würden. Daher<br />

können sie mit einer positiven Aufnahme der Klausel durch die Gerichte<br />

rechnen. Bereits in England zeigen sich aber Unterschiede: Auch hier ist die<br />

Parol Evidence Rule bekannt, hat aber im Verlauf der Geschichte viel von<br />

ihrem ursprünglichen Gewicht eingebüßt. Entsprechend eingeschränkt ist<br />

die Bedeutung der entire agreement clauses. Im kontinentalen Rechtskreis<br />

gibt es keinen vergleichbaren formalen Ausschluss der Verhandlungsmateri-<br />

96 Vgl. Art. 1341 franz. Code civil, Artt. 2272, 2274 ital. Codice civile, sowie Zweigert/<br />

Kötz (oben N. 14) 363 ff.<br />

97 Zweigert/Kötz (oben N. 14) 403.<br />

98 Crivellaro (oben N. 7) 783; Rawach 224.<br />

99 Hondius 27 ff.; Fontaine/de Ly 148. Allgemein zur Bewertung ausländischer Elemente in<br />

Verträgen Günter Weick, Zur Auslegung von internationalen juristischen Texten, in: Geschichtliche<br />

Rechtswissenschaft, Freundesgabe für Alfred Söllner zum 60. Geburtstag (1990)<br />

607 (612 ff.).


586 olaf meyer RabelsZ<br />

alien von der Vertragsauslegung. Die Integrationsklausel kann also nicht auf<br />

einer bereits vorhandenen Rechtsregel aufbauen, vielmehr würden die Parteien<br />

mit ihr geradezu eine »private« Parol Evidence Rule unter Verdrängung<br />

der gesetzlichen Vertragsschluss- und Auslegungsregeln einführen. Es<br />

liegt auf der Hand, dass sich dabei viel weiterreichende Hindernisse und<br />

Probleme ergeben müssen als im angloamerikanischen Recht. 100<br />

2. Einordnung im materiellen Recht oder im Prozessrecht<br />

Für die rechtliche Beurteilung gilt es zunächst zu klären, ob es sich bei<br />

Integrationsklauseln um eine Regelung des Vertragsinhaltes und damit um<br />

materielles Recht oder um eine Beschränkung der Beweismöglichkeiten,<br />

also um einen Prozessvertrag handelt. Dies ist nicht nur für die Anforderungen<br />

an die Wirksamkeit der Klausel entscheidend, sondern bereits für die<br />

Festlegung, welches Recht hierauf überhaupt zur Anwendung gelangt.<br />

Im angloamerikanischen Rechtsraum werden Integrationsklauseln regelmäßig<br />

im Zusammenhang mit der Parol Evidence Rule und somit auf materiellrechtlicher<br />

Basis behandelt. In Deutschland ist die Vermutung der<br />

Vollständigkeit der Vertragsurkunde hingegen im Prozessrecht angesiedelt.<br />

Auch für Integrationsklauseln ist schon eine prozessuale Qualifi kation vertreten<br />

worden. 101 Dies dürfte allerdings kaum mit dem Parteiwillen in Einklang<br />

gebracht werden können. Es geht den Vertragsgestaltern in erster Linie<br />

eben nicht darum, nur die Beweisbarkeit einer Nebenabrede unabhängig<br />

von ihrer materiellrechtlichen Richtigkeit auszuschließen, sondern den außervertraglichen<br />

Absprachen soll jegliche juristische Verbindlichkeit genommen<br />

werden, die ihnen anderenfalls zukommen würde. 102 Die Integration<br />

zielt auf den Vertragsinhalt ab. Wäre eine prozessuale Wirkung beabsichtigt,<br />

würde statt des vereinbarten Vertragsstatuts aber das Verfahrensrecht<br />

des Forums über die Wirksamkeit der Integrationsklausel entscheiden.<br />

Überhaupt ist die Privatautonomie im Prozess weitreichenden Beschränkungen<br />

unterworfen, wodurch die Integrationsklausel leerzulaufen droht. 103<br />

In Deutschland kann der Richter nach § 142 ZPO von Amts wegen die<br />

Vorlage von Urkunden, also auch von vorvertraglichen Schriftstücken anordnen,<br />

und es ist angesichts der Bedeutung <strong>dieses</strong> Verfahrens für die vollständige<br />

Sachverhaltsaufklärung mehr als zweifelhaft, ob eine Integrationsklausel<br />

eine solche Anordnung verhindern würde, wenn sie gleichzeitig die<br />

materielle Richtigkeit der Urkunde unberührt ließe. 104 Interessengerecht ist<br />

100 Darauf hat als erster Hondius 30 hingewiesen.<br />

101 Kaufmann 210; wohl auch Fontaine/de Ly 163.<br />

102 Lüderitz (oben N. 94) 219.<br />

103 Das räumen auch Fontaine/de Ly 164 ein.<br />

104 Kaufmann 214 hält es gar für ratsam, die von Amts wegen vom Gericht anzuordnenden


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

587<br />

daher nur eine Interpretation, wonach die Klausel den außervertraglichen<br />

Absprachen nicht nur ihren Beweiswert nimmt, sondern auch unmittelbar<br />

die Vertragsbeziehung inhaltlich gestaltet.<br />

3. Widerleglichkeit<br />

Grundsätzlich sind außervertragliche Abreden nach dem im Civil Law<br />

vorherrschenden Verständnis in sehr viel stärkerem Maße beachtlich als im<br />

Common Law. Da ihre Abbedingung diesem Vertragsverständnis zuwiderläuft,<br />

wird die Klausel es schwer haben, vor Gericht uneingeschränkte Verbindlichkeit<br />

beanspruchen zu können, besonders da die Klarheit des Vertragsinhaltes<br />

auf Kosten der Gerechtigkeit im Einzelfall erkauft sein kann.<br />

Es ist aus diesem Grunde kaum denkbar, dass ein Richter den Beweisvortrag<br />

zu außervertraglichen Umständen nur aufgrund einer Integrationsklausel<br />

nicht einmal zur Kenntnis nehmen wird. Stattdessen ist zu erwarten, dass<br />

die Entscheidung von der Auslegung abhängig gemacht wird, ob eine im<br />

Vorfeld getroffene Absprache tatsächlich durch die Integration ersatzlos abbedungen<br />

werden sollte. 105<br />

So hat die deutsche Rechtsprechung in Vollständigkeitsklauseln bislang<br />

keine über die ohnehin anerkannte Vermutung der Vollständigkeit der Vertragsurkunde<br />

hinausgehende Regelung erblicken können. Dies soll selbst<br />

dann gelten, wenn die Klausel nicht ausdrücklich als Vermutung formuliert<br />

ist, sondern den Vorrang des Vertragstextes generell anordnet. 106 Hierin<br />

zeigt sich der erste grundlegende Unterschied zum Common Law: Trotz der<br />

relativ strengen Maßstäbe, die sonst im Verbandsklageverfahren bei der<br />

rechtlichen Prüfung von AGB angelegt werden, hält es der Bundesgerichtshof<br />

(BGH) offenbar für selbstverständlich, dass eine Vertragspartei eine übliche<br />

Vollständigkeitsklausel lediglich als widerlegliche Vermutung begreifen<br />

werde. Die Gefahr, so der BGH, dass der Kunde es aufgrund der Klausel<br />

Beweisaufnahmen ausdrücklich in der Integrationsklausel auszunehmen. Das ist in der Praxis<br />

nun überhaupt nicht gebräuchlich und unterstreicht nur umso mehr, dass es sich um eine<br />

Frage des materiellen Rechts handelt.<br />

105 Fontaine/de Ly 158. Vgl. außerdem Yves Derains, Valeur interpretative des negociations,<br />

in: Formation of Contract and Precontractual Liability (1990) 309 (321) (ICC-Publikation<br />

Nr. 440/9), der einen unveröffentlichten Schiedsspruch zitiert, in dem eine Vertragsergänzung<br />

trotz entire agreement clause zugelassen wurde. Derains stellt dazu fest: »Such decision<br />

shows that as soon as the arbitrators are convinced that a written agreement is just the top of<br />

the iceberg, no clause will be suffi cient for obliging them to refrain from entering into the<br />

contractual relationship as they are.«<br />

106 BGH 26. 11. 1984, BGHZ 93, 29 (61) zu der Klausel: »Soweit in diesem Vertrag nicht<br />

ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, hat O. [. . .] keine Zusagen gemacht. Weitere mündliche<br />

oder schriftliche Vereinbarungen oder Absprachen zwischen den Parteien, die diesen<br />

Vertrag oder einen der darin geregelten Gegenstände betreffen, bestehen nicht.«


588 olaf meyer RabelsZ<br />

gar nicht erst wage, den Gegenbeweis anzutreten, sei nicht signifi kant größer<br />

als bei jedem schriftlich fi xierten Vertragswerk, das den Eindruck erweckt,<br />

die getroffenen Abreden abschließend und erschöpfend wiederzugeben.<br />

107 Der Rechtsgedanke einer unwiderleglich abschließenden Vertragsurkunde,<br />

wie er der Parol Evidence Rule zugrunde liegt, ist also nach dem<br />

Verständnis des BGH dem deutschen Publikum so fremd, dass es auch eine<br />

gewöhnliche Vollständigkeitsklausel nicht in diesem Sinne verstehen muss.<br />

Ein zweiter Unterschied betrifft die beweisrechtliche Wirkung der Klausel.<br />

Während der Parol Evidence Rule jedenfalls historisch die Idee eines<br />

Beweiserhebungsverbots zugrunde liegt, die Partei also schon gar nicht mit<br />

ihrem Vorbringen außervertraglicher Abreden gehört werden soll, vermag<br />

die Vermutung im deutschen Recht die Beweiserhebung nicht auszuschließen.<br />

Dies hat der BGH etwa in einem Fall festgestellt, wo Geschäftsanteile<br />

für einen symbolischen Preis von 1,- DM verkauft worden waren und der<br />

Veräußerer sich zudem zur Zahlung einer weiteren Million an den Erwerber<br />

verpfl ichtet hatte. Der Rechtsnachfolger des Veräußerers verlangte <strong>dieses</strong><br />

Geld zurück, da es nach einer mündlichen Nebenabrede nur zweckgebunden<br />

zur Sanierung oder Liquiditätsüberbrückung hätte verwendet werden<br />

dürfen. Diese Zweckbindung war im Vertrag, der im Übrigen eine Vollständigkeitsklausel<br />

enthielt, nicht vorgesehen. Dennoch, so der BGH, hätte dem<br />

Kläger Gelegenheit zum Zeugenbeweis der Nebenabrede gegeben werden<br />

müssen. Die Vermutung der Vollständigkeit könne sich allenfalls auf die Beweiswürdigung<br />

beziehen, die Beweiserhebung aber nicht einmal dann ausschließen,<br />

wenn die Behauptung wenig wahrscheinlich sei. 108 Zwar hat sich<br />

auch die amerikanische und englische Judikatur in neuerer Zeit der Zulassung<br />

der Beweise nicht mehr generell versperrt, jedoch scheint die grundsätzliche<br />

Regel demgegenüber immer noch anders zu lauten und die Ausnahme<br />

einzelfallabhängig immer nur dann gewährt zu werden, wenn der<br />

Richter überzeugt ist, dass der Beweis der Nebenabrede gelingen kann.<br />

Schließlich liegen auch die inhaltlichen Anforderungen an den Gegenbeweis<br />

nicht wesentlich höher als bei der ohnehin bestehenden Vermutung für<br />

die Vollständigkeit der Urkunde. Beweisbelastet ist die Partei, die eine vom<br />

schriftlichen Vertrag abweichende oder diesen ergänzende Nebenabrede behauptet.<br />

Diese muss nicht nur nachweisen, dass eine solche Vereinbarung<br />

überhaupt getroffen wurde, sondern auch, dass sie neben dem schriftlichen<br />

Vertrag weiter Bestand haben sollte. 109 Dies geht nicht grundsätzlich über<br />

die ohnehin bestehende Beweisverteilung hinaus. 110 Es geht eben nach deut-<br />

107 BGH 24. 6. 1999, NJW 2000, 207 (208). Zustimmend Bamberger/Roth (-Schmidt)<br />

§ 305b Rz. 18; Heinrichs, EWiR § 9 AGBG 1/2000, 1 f.<br />

108 BGH 29. 9. 1999, NJW-RR 2000, 273 (275).<br />

109 BGH 29. 9. 1999 (vorige Note 274; OLG Düsseldorf 8. 2. 2001, OLG-Report Düsseldorf<br />

2001, 239 (240).<br />

110 Vgl. nur BGH 19. 3. 1980, NJW 1980, 1680 (1681).


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

589<br />

schem Recht nicht darum, mithilfe einer Vollständigkeitsklausel eine gesetzlich<br />

bereits bekannte Integration des Vertrages herbeizuführen. Alles,<br />

was die Klausel bewirkt, ist die Bestätigung einer Vermutungsregel, ohne<br />

aber an der Widerleglichkeit dieser Vermutung etwas zu ändern. Auch die<br />

Anforderungen an die Widerlegung dürften nicht so hoch anzusetzen sein,<br />

dass dies faktisch einer Unwiderleglichkeit gleichkommt. So hat der BGH<br />

zugunsten der klauselrechtlichen Zulässigkeit von Vollständigkeitsklauseln<br />

unter anderem ins Feld geführt, dass formularmäßig geschaffenen Beweisanzeichen<br />

in der Praxis bei der Beweiswürdigung regelmäßig ohnehin keine<br />

entscheidende Bedeutung zugemessen werde. 111<br />

Integrationsklauseln dürften daher lediglich zur Folge haben, dass sie die<br />

Vermutung für die Vollständigkeit der Vertragsurkunde stärken, ohne aber<br />

den Gegenbeweis gänzlich auszuschließen. 112 Als problematisch können sich<br />

etwa im Vorfeld zugesicherte Eigenschaften des Vertragsgegenstandes erweisen.<br />

113 Auch dürfte das Gewicht einer bloß formularvertraglichen Klausel<br />

geringer sein als eine Regelung in einem ausgehandelten Vertragstext.<br />

114<br />

4. Wirksamkeit<br />

Als Regelung des Vertragsinhalts gilt für Integrationsklauseln auch im<br />

Civil Law das Prinzip der Vertragsfreiheit. An ihrer grundsätzlichen Zulässigkeit<br />

bestehen daher keine Zweifel. 115 Damit steht aber noch nicht fest, ob<br />

der Vertragsfreiheit der Parteien bei der Abbedingung vorvertraglicher Abreden<br />

im kontinentaleuropäischen Rechtskreis durch zwingende Vorschriften<br />

engere Grenzen gesetzt sind als im Common Law.<br />

Wie auch im amerikanischen und englischen Recht dürfte die Integrationsklausel<br />

Einwendungen gegen die Wirksamkeit des Vertrages unangetastet<br />

lassen; zu denken ist dabei etwa an Willensmängel wie Irrtum, Täuschung<br />

oder Scheingeschäfte. 116 Nicht erfasst werden ferner solche Garantien,<br />

die sich bereits aus dem Gesetz selbst ergeben. 117<br />

111 BGH 24. 6. 1999 (oben N. 107) 208.<br />

112 Lüderitz (oben N. 94) 219, 222.<br />

113 Hondius 32.<br />

114 Lüderitz (oben N. 94) 220.<br />

115 Für Italien Monti, in: Principles of European Contract Law and Italian Law, A Commentary<br />

(2005) 103; für die Niederlande Schrama, in: The Principles of European Contract<br />

Law and Dutch Law, A Commentary (2002) 94; für Spanien Perales Viscasillas, in: Comentario<br />

a los principios de UNIDROIT para los contratos del comercio internacional (1999) Art. 2.17<br />

Anm. 2 a; für Frankreich und Belgien Fontaine/de Ly 156 f.<br />

116 Fontaine/de Ly 148 f.; Hondius 31; Lüderitz (oben N. 94) 219; Rawach 226.<br />

117 Hubert Dubout, Les clauses d’entire agrément (accord complet) dans les contrats inter-


590 olaf meyer RabelsZ<br />

Zweifelhaft ist, ob die Klausel als Mittel zum Haftungsausschluss eingeordnet<br />

und den dafür geltenden Beschränkungen unterworfen werden kann,<br />

wie englische Gerichte dies häufi ger für die Kombination von entire agreement<br />

clauses mit non-reliance clauses entschieden haben. Jedenfalls scheitert<br />

die Anwendung von § 276 III BGB schon daran, dass die Integrationsklausel<br />

die Verantwortung für vorsätzlich getätigte Versprechungen erst nach deren<br />

Äußerung wieder entfallen ließe. Aber abgesehen davon geht es bereits nicht<br />

um den Ausschluss der Haftung für vorvertragliche Zusagen, sondern es soll<br />

bei Eingehung des Vertrages überhaupt keine Bindung an irgendwelche zuvor<br />

getätigten Aussagen eintreten. Eventuellem Missbrauch kann in geeigneten<br />

Fällen besser durch eine einschränkende Auslegung der Klausel entgegengewirkt<br />

werden.<br />

Für eine <strong>Inhalt</strong>skontrolle bleiben damit die Regelungen über allgemeine<br />

Geschäftsbedingungen und, als letzte Maßnahme, über Treu und Glauben.<br />

Eine AGB-Kontrolle kann dabei natürlich nur bei einer formularmäßigen<br />

Verwendung der Integrationsklausel eingreifen und ist in den praktisch bedeutsamen<br />

Fällen internationaler Handelsverträge, in denen auf beiden Seiten<br />

des Geschäfts erfahrene Unternehmer stehen, meist nur eingeschränkt<br />

möglich. 118 Im deutschen Recht erfolgt die Kontrolle gemäß § 307 I BGB<br />

anhand der Frage, ob eine Vollständigkeitsklausel den Vertragspartner des<br />

Verwenders unangemessen benachteiligt. Dies hat der BGH aufgrund seiner<br />

dargelegten restriktiven Auslegung der Klauseln konsequenterweise verneint.<br />

119 Da die Vollständigkeitsklausel nur die ohnehin bereits bestehende<br />

Vermutung für die Vollständigkeit und Richtigkeit der Vertragsurkunde<br />

wiederhole, beinhalte sie auch keine unangemessene Benachteiligung. Die<br />

Entscheidung wird von Dörner kritisiert, da die zugrundeliegende Klausel<br />

eben nicht als Vermutung, sondern als unwiderlegliche Feststellung der Unwirksamkeit<br />

formuliert gewesen sei. Diese Feststellung sei wegen des Vorrangs<br />

der Individualabrede (nunmehr geregelt in § 305b BGB) unrichtig.<br />

Sollte aber tatsächlich nur eine Vermutung gewollt sein, verstoße die Klausel<br />

jedenfalls gegen das Transparenzgebot (§ 307 I 2 BGB), da ein Verbraucher<br />

dies regelmäßig nicht erkennen könne. 120 Die überwiegende Auffassung teilt<br />

jedoch die enge Interpretation des BGH, wonach die Standardformulierung<br />

einer Vollständigkeitsklausel ohne weiteres als bloße Vollständigkeitsvermu-<br />

nationaux: intérêt et précautions d’utilisation: Cahiers juridiques et fi scaux de l’exportation<br />

1989, 193 (204 f.).<br />

118 Vgl. in Deutschland § 310 I BGB; in den Niederlanden schränkt Art 6:235 BW den<br />

Schutz auf Verbraucher und kleinere Unternehmer ein; zur AGB-Kontrolle von Integrationsklauseln<br />

in den Niederlanden Schrama (oben N. 115) 95. Die Wirksamkeit von Integrationsklauseln<br />

unter dem deutschen Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen analysiert Kaufmann<br />

217 ff., allerdings auf der Basis der Einordnung als Beweisbeschränkung.<br />

119 BGH 26. 11. 1984 (oben N. 106) 61; 24. 6. 1999 (oben N. 107) 208.<br />

120 Dörner, WuB IV.C. § 9 AGBG 2.00, 186 f.


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

591<br />

tung erkennbar sein soll. 121 Die Zulässigkeit einer eindeutig als unwiderleglich<br />

formulierten Klausel hat der BGH offengelassen; 122 solche Fälle sind<br />

bislang nicht bekannt geworden und wohl auch eher nicht zu erwarten.<br />

Nach Treu und Glauben kommt schließlich unter Umständen in Betracht,<br />

dass eine Partei die Möglichkeit, sich auf die Integration zu berufen, verwirkt.<br />

123 Das dürfte besonders dann der Fall sein, wenn eine Seite zunächst<br />

den Vertragsschluss durch vollmundige Versprechen vorantreibt und dann<br />

im Widerspruch zu diesem Verhalten im Vertragstext auf einer Integrationsklausel<br />

besteht (venire contra factum proprium).<br />

5. Auslegung des Vertrages<br />

Auf besonders große Schwierigkeiten werden die Parteien im Civil Law<br />

stoßen, wenn sie neben der Verbindlichkeit außervertraglicher Absprachen<br />

auch noch deren Heranziehung zur Auslegung des schriftlichen Vertrages<br />

ausschließen wollen. Im Gegensatz zum Common Law steht bei der Vertragsauslegung<br />

auf dem Kontinent nicht die objektive Wortbedeutung, sondern<br />

der wirkliche Wille der Parteien im Vordergrund. 124 Die dem Vertrag<br />

vorausgegangenen Verhandlungen werden dabei, abweichend von der Lage<br />

im englischen Recht, zur Ermittlung des wirklichen Willens herangezogen.<br />

Ob diese Auslegungsregel uneingeschränkt der Parteidisposition unterliegt,<br />

ist zumindest fraglich.<br />

Zuerst bedarf die Integrationsklausel selbst der Auslegung daraufhin, ob<br />

sie die Vertragsauslegung überhaupt erfassen soll. Anders als im angloamerikanischen<br />

Raum, wo der interpretative Wert des Verhandlungsmaterials<br />

bereits nach dem einschlägigen Fallrecht beschränkt ist, kann einer Partei<br />

mit zivilistischem Hintergrund nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass<br />

sie mit der Integration zugleich auch die Auslegung des Vertrages habe ausschließen<br />

wollen. Eher dürfte es der berechtigten Erwartung der Parteien<br />

entsprechen, dass Unklarheiten im Vertrag nach der ihnen vertrauten gesetzlichen<br />

Regel auch durch den Rückgriff auf vorvertragliche Materialien<br />

beseitigt werden dürfen. 125 Jedenfalls wird es für eine Ausdehnung der Integrationsklausel<br />

auf den Auslegungswert der vorvertraglichen Materialien<br />

regelmäßig einer ausdrücklichen dahingehenden Klarstellung bedürfen. 126<br />

121 Bamberger/Roth (-Schmidt) § 305b Rz. 18; Heinrichs, EWiR § 9 AGBG 1/2000, 1 f.;<br />

wohl auch Münchener Kommentar zum BGB5 (-Basedow) II (2007) § 305b Rz. 13.<br />

122 BGH 26. 11. 1984 (oben N. 106) 61.<br />

123 Hondius 31; Monti (oben N. 115) 104.<br />

124 §§ 133, 157 BGB; Art. 1156 franz. Code civil; Art. 1362 I ital. Codice civile; Art. 1281<br />

span. Código civil; Art. 18 I OR.<br />

125 Rawach 225.<br />

126 Hondius 30; Rawach 224 f.; anders anscheinend Dubout (oben N. 117) 197.


592 olaf meyer RabelsZ<br />

Die bloße Feststellung, der Vertrag enthalte die gesamte Vereinbarung der<br />

Parteien und mündliche Nebenabreden seien nicht getroffen, hat regelmäßig<br />

nicht bereits den Ausschluss der Interpretation durch Rückgriff auf die<br />

Verhandlungsmaterialien zur Folge. 127<br />

Aber auch dann, wenn die Parteien die Auslegungsbeschränkung explizit<br />

in die Integrationsklausel aufnehmen, um die freie Vertragsinterpretation<br />

des Civil Law abzubedingen, 128 bleibt der Erfolg dieser Maßnahme doch<br />

zweifelhaft. Angesichts der überragenden Bedeutung von Treu und Glauben<br />

bei der Ermittlung des wirklichen Parteiwillens stößt die Integration<br />

überall dort an ihre Grenzen, wo Ordnungsinteressen der Parteidisposition<br />

entzogen sind (Schrankenfunktion von Treu und Glauben). 129 Weist der<br />

Vertrag zudem solche Unklarheiten auf, die seine Wirksamkeit beeinträchtigen<br />

können (etwa nach § 155 BGB), wird man ebenfalls zunächst eine<br />

Auslegung anhand der Vertragsverhandlungen durchführen müssen. Es entspricht<br />

erfahrungsgemäß eher dem Interesse der Parteien, die Integrationsklausel<br />

zu opfern als den ganzen Vertrag. 130<br />

V. Integrationsklauseln im Internationalen Vertragsrecht<br />

1. Überblick<br />

Während Common Law-Gerichte, besonders in den Vereinigten Staaten,<br />

der privatautonomen Integration des Vertrages im Grundsatz wohlwollend<br />

gegenüberstehen, zeigen die Stellungnahmen aus den Rechtsordnungen des<br />

Civil Law ihnen gegenüber deutlich mehr Zurückhaltung. Dazwischen liegt<br />

der Bereich der hybriden Rechte, in denen Elemente aus Common Law und<br />

Civil Law zu einem ausgeglichenen Kompromiss vereint wurden, also im<br />

hier einschlägigen Bereich des allgemeinen Vertragsrechts insbesondere das<br />

UN-Kaufrecht (CISG), die UNIDROIT Principles of International Commercial<br />

Contracts und die Principles of European Contract Law (PECL).<br />

Diese Regelwerke sind autonom, also nicht aus einem bestimmten nationalen<br />

Vorverständnis heraus auszulegen. 131 Es fragt sich dann, ob sich be-<br />

127 So zum italienischen Recht ein unveröffentlichter Schiedsspruch der Camera Arbitrale<br />

Nazionale e Internazionale di Milano vom 28. 11. 2002 (Zusammenfassung unter ).<br />

128 Crivellaro (oben N. 7) 782 f.; auch Fontaine/de Ly 154 f. halten einen Ausschluss der<br />

Auslegungsfunktion in bestimmten Fällen für sinnvoll, da die Vertragsverhandlungen oftmals<br />

nicht zu einer Klärung beitragen, sondern nur bestätigen würden, dass es verschiedene Interpretationsmöglichkeiten<br />

gibt.<br />

129 Fontaine/de Ly 156; Hondius 31. Vgl. auch die rechtsvergleichenden Anmerkungen zu<br />

Art. 2:105 PECL.<br />

130 Rawach 226.<br />

131 Art. 7(1) CISG; Art. 1.6 UNIDROIT Principles; Art. 1:106(1) PECL.


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

593<br />

züglich der Beurteilung <strong>dieses</strong> Klauseltyps der amerikanische Pragmatismus<br />

oder die kontinentaleuropäische Skepsis durchsetzen wird.<br />

Keine ausdrückliche Regelung haben Integrationsklauseln im CISG erfahren,<br />

so dass die Lösung dort über die allgemeinen Vorschriften gefunden<br />

werden muss. Hingegen widmen die Principles diesem Problem jeweils eine<br />

eigene Vorschrift:<br />

Art. 2.1.17 UNIDROIT Principles<br />

“A contract in writing which contains a clause indicating that the writing completely<br />

embodies the terms on which the parties have agreed cannot be contradicted<br />

or supplemented by evidence of prior statements or agreements. However,<br />

such statements or agreements may be used to interpret the writing.”<br />

Art. 2:105 PECL 132<br />

“(1) If a written contract contains an individually negotiated clause stating that<br />

the writing embodies all the terms of the contract (a merger clause), any prior<br />

statements, undertakings or agreements which are not embodied in the writing<br />

do not form part of the contract.<br />

(2) If the merger clause is not individually negotiated it will only establish a presumption<br />

that the parties intended that their prior statements, undertakings or<br />

agreements were not to form part of the contract. This rule may not be excluded<br />

or restricted.<br />

(3) The parties’ prior statements may be used to interpret the contract. This rule<br />

may not be excluded or restricted except by an individually negotiated clause.<br />

(4) A party may by its statements or conduct be precluded from asserting a merger<br />

clause to the extent that the other party has reasonably relied on them.”<br />

Die Wirksamkeit der Klausel wird vom CISG nicht behandelt, sondern<br />

richtet sich nach dem unvereinheitlichten nationalen Recht. 133 Die Principles<br />

regeln zwar auch die Gültigkeit des Vertrages, enthalten aber keine Vorschriften,<br />

welche die Wirksamkeit der privatautonomen Vertragsintegration<br />

grundsätzlich in Frage stellen würden. Im Gleichlauf mit der angloamerikanischen<br />

Rechtsprechung dürfte jedenfalls immer der Beweis solcher Tatsachen<br />

zulässig sein, die zur Unwirksamkeit des gesamten Vertrages einschließlich<br />

der merger clause führen. In diesen Fällen ist die Klausel selbst<br />

vom Nichtigkeitsgrund infi ziert. Einigkeit scheint weiterhin dahingehend<br />

zu bestehen, dass eine Integrationsklausel Handelsbräuche nur dann ausschließt,<br />

wenn dies in ihrem Wortlaut ausdrücklich klargestellt wird. 134 Als<br />

132 Die Vorschrift wurde mit lediglich sprachlichen Anpassungen auch in den Entwurf<br />

eines Gemeinsamen Referenzrahmens übernommen, vgl. Art. II.-4:104 DCFR.<br />

133 Peter Schlechtriem/Ingeborg Schwenzer (-Schmidt-Kessel), Kommentar zum Einheitlichen<br />

UN-Kaufrecht 4 (2004) Art. 8 Anm. 35; Staudinger (-Magnus), Kommentar zum Bürgerlichen<br />

Gesetzbuch mit Nebengesetzen, Neubearbeitung 2005, Wiener UN-Kaufrecht (CISG)<br />

(2005) Art. 8 Anm. 9.<br />

134 So zum CISG Stephen Bainbridge, Trade Usages in International Sales of Goods, An<br />

Analysis of the 1964 and 1980 Sales Conventions: Va. J. Int. L. 24 (1984) 619 (640); CISG-AC


594 olaf meyer RabelsZ<br />

problematische Bereiche verbleiben damit vor allem das Verhältnis zur Vertragsauslegung<br />

sowie die zwingende Schlüssigkeit der Klausel.<br />

2. Auslegung des Vertrages<br />

Am deutlichsten nehmen die UNIDROIT Principles die Interpretationsfunktion<br />

der Vertragsverhandlungen aus dem Anwendungsbereich der Integrationsklausel<br />

aus (Art. 2.1.17 Satz 2 UNIDROIT Principles). 135 Dies ist<br />

konsequent im Lichte der korrespondierenden Vertragsauslegungsregeln<br />

(Artt. 4.1 ff. UNIDROIT Principles), welche die Bedeutung des wirklichen<br />

Parteiwillens betonen und starre Bindungen an ein plain meaning des Wortlauts<br />

ablehnen. 136 Zur Ermittlung des Parteiwillens erlaubt Art. 4.3 (a) UNI-<br />

DROIT Principles ausdrücklich den Rückgriff auf die vorvertraglichen<br />

Verhandlungen. Damit stehen die Regeln in dieser Frage dem Konzept des<br />

Civil Law näher als der angloamerikanischen Tradition.<br />

Komplizierter ist der Ansatz der PECL, die ebenfalls merger clauses im<br />

Regelfall nicht als für die Vertragsauslegung relevant erachten (Art. 2:105[3]<br />

PECL). Während entsprechende Ausdehnungsversuche in Formularverträgen<br />

immer unwirksam sind, soll den Parteien aber die Möglichkeit verbleiben,<br />

mittels einer individuell ausgehandelten Klausel die Integration auch<br />

hinsichtlich des Auslegungswertes vorvertraglicher Äußerungen herbeizuführen.<br />

Damit entsteht jedoch eine Diskrepanz zu den Auslegungsmaximen<br />

der PECL, die wie die UNIDROIT Principles in erster Linie auf den wirklichen<br />

Parteiwillen abstellen 137 und zur Feststellung desselben unter anderem<br />

auf die Vertragsverhandlungen verweisen. 138 Selbst wenn man diese<br />

Regeln als dispositiv ansieht, hat die Vertragsinterpretation weiterhin im<br />

Lichte von good faith zu erfolgen, 139 und dieser Grundsatz ist in den PECL<br />

zwingend. 140 Die Sperrfunktion von Treu und Glauben wird aber im Civil<br />

Law als ein Grund gegen die Wirkung von Integrationsklauseln auf der<br />

Opinion No. 3 Anm. 4.7; vgl. auch Schlechtriem/Schwenzer (-Schmidt-Kessel) (vorige Note)<br />

Art. 9 Anm. 14. Für die Principles dürfte im Ergebnis nichts anderes gelten.<br />

135 Michael Joachim Bonell, The UNIDROIT Principles and CISG, Sources of Inspiration<br />

for English Courts?: Unif. L. Rev. (N. S.) 11 (2006) 305 (316).<br />

136 Vgl. dazu Carlos Gorriz Lopez, L’interpretazione del contratto nei Principi UNI-<br />

DROIT dei contratti commerciali internazionali: Contratto e impresa/Europa 1998, 467 ff.<br />

137 Art. 5:101(1) PECL.<br />

138 Art. 5:102(a) PECL.<br />

139 Art. 5:102(g) PECL.<br />

140 Art. 1:201(2) PECL; die Vorschrift bezieht sich dem Wortlaut nach zwar nur auf Verhaltenspfl<br />

ichten und nicht auf die objektive Bedeutung von good faith bei der Vertragsauslegung;<br />

man kann aber sagen, eine Partei handele treuwidrig, indem sie sich gegenüber einer<br />

gebotenen Auslegung mit einer Integrationsklausel verteidigt.


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

595<br />

Auslegungsebene angesehen. 141 Angesichts der eher kontinental geprägten<br />

Auslegungsregeln der PECL muss somit in Zweifel gezogen werden, ob ein<br />

Rückgriff auf die Verhandlungen zur Vertragsauslegung durch eine Integrationsklausel<br />

tatsächlich verhindert werden kann.<br />

Unter der Geltung des CISG sind die Verhandlungen regelmäßig als ein<br />

Mittel zur Auslegung des Vertragstextes heranzuziehen. 142 Dieser Grundsatz<br />

scheint aber nach Art. 6 CISG zur Disposition der Parteien zu stehen. Auf<br />

jeden Fall wird man dafür in der merger clause eine ausdrückliche Bezugnahme<br />

auf Auslegungsgesichtspunkte verlangen müssen; allein die Feststellung,<br />

der Vertragstext enthalte das entire agreement zwischen den Parteien,<br />

reicht nicht aus. 143 Dies folgt daraus, dass anders als im amerikanischen<br />

Common Law die Klausel nicht lediglich der Klarstellung einer gesetzlich<br />

anerkannten Lage, sondern umgekehrt der Derogation von einer dispositiven<br />

Gesetzesregel dienen würde und daher deutlich gefasst sein muss.<br />

Es fragt sich aber, ob selbst eine eindeutig formulierte merger clause unter<br />

Geltung des vereinheitlichten Kaufrechts wirklich die Auslegungseignung<br />

der Verhandlung gänzlich ausschließen kann. Hier scheint es zwischen Vertrags-<br />

und Gesetzestext zu einem Paradoxon zu kommen: Die Parteien können<br />

gemäß Art. 6 CISG die Auslegung anhand der Verhandlungen ausschließen,<br />

doch muss dies ausdrücklich geschehen. Ob die Derogation des<br />

Art. 8(3) CISG mit hinreichender Klarheit erfolgt ist, muss wiederum durch<br />

Auslegung ermittelt werden, und dafür sind nach Art. 8(3) CISG unter anderem<br />

die Vertragsverhandlungen maßgeblich. Es ist keineswegs sicher, dass<br />

dieser Zirkel zugunsten von Art. 6 CISG durchbrochen wird. 144 Gelangen<br />

Anhaltspunkte zur Kenntnis des Richters, nach denen der Ausschluss der<br />

Auslegung doch nicht dem wirklichen Parteiwillen entspricht, ist Treu und<br />

Glauben im internationalen Handel (Art. 7[1] CISG) besser damit gedient,<br />

die Integrationsklausel einschränkend auszulegen. Jedoch wirkt die Klausel<br />

immerhin als Indiz, dass den vorvertraglichen Absprachen im Zweifel keine<br />

Bedeutung beizumessen ist.<br />

141 Vgl. oben IV. 5.<br />

142 Art. 8(3) CISG.<br />

143 Michael Joachim Bonell, Vertragsverhandlungen und culpa in contrahendo nach dem<br />

Wiener Kaufrechtsübereinkommen: RIW 1990, 693 (698); CISG-AC Opinion No. 3<br />

Anm. 4.6; Maria del Pilar Perales Viscasillas, Las cláusulas de restricción probatoria o merger<br />

clauses en los contratos internacionales: Apuntes de derecho 1997, 99 (dort bei N. 14).<br />

144 Der CISG Advisory Council hält den Ausschluss der Auslegung offenbar für möglich,<br />

vgl. CISG-AC Opinion No. 3 Anm. 4.6. Allerdings heißt es im Widerspruch dazu in Anm. 4.5:<br />

»However, extrinsic evidence should not be excluded, unless the parties actually intended the<br />

Merger Clause to have this effect. This question is to be resolved by reference to the criteria<br />

enunciated in Article 8, without reference to national law. Article 8 requires an examination<br />

of all relevant circumstances when deciding whether the Merger Clause represents the parties’<br />

intent.«


596 olaf meyer RabelsZ<br />

3. Widerleglichkeit<br />

Unklar ist, ob eine vertragliche merger clause in jedem Fall als verbindlich<br />

anzusehen ist oder gegebenenfalls durch außervertragliche Beweismittel<br />

widerlegt werden kann. Die UNIDROIT Principles votieren recht deutlich<br />

für die alleinige Maßgeblichkeit der Integrationsklausel. 145 Nach den<br />

PECL soll dies hingegen nur für ausgehandelte Klauseln gelten, während<br />

einseitig gestellten Vertragsbedingungen nur eine Vermutungswirkung zukommt.<br />

146 Für das UN-Kaufrecht fi nden sich schließlich in der Literatur<br />

Stellungnahmen zugunsten der Schlüssigkeit von merger clauses. 147 In einem<br />

ICC-Schiedsspruch von 1998, der auf der Grundlage des CISG ergangen ist<br />

und zudem ergänzend auf die Rechtslage in den UNIDROIT Principles<br />

verweist, heißt es dementsprechend mit Bezug auf merger clauses: »[. . .]<br />

there can be no doubt for any party engaged in international trade that the<br />

clauses mean, and must mean, what they say.« 148<br />

Angesichts der sie jeweilig umgebenden rechtlichen Rahmenvorschriften<br />

muss dieser bedingungslose Gehorsam vor einer Integrationsklausel überraschen.<br />

Keines der drei Regelwerke kennt nämlich eine Parol Evidence Rule.<br />

Sowohl Art. 1.2 UNIDROIT Principles als auch Art. 2:101(2) PECL erteilen<br />

einer solchen Privilegierung des schriftlichen Vertragstextes eine klare<br />

Absage. Für das UN-Kaufrecht hatte eine frühe amerikanische Entscheidung<br />

zwar ohne nähere Begründung die Geltung der Parol Evidence Rule<br />

unterstellt und damit heftige Diskussionen ausgelöst. 149 Doch dürfte inzwischen<br />

geklärt sein, dass Artt. 8(3), 11 CISG dieser Annahme entgegenstehen.<br />

150 Mit der Einfügung einer Integrationsklausel würden die Parteien<br />

145 Art. 2.1.17 Satz 1 UNIDROIT Principles.<br />

146 Art. 2:105(2) PECL.<br />

147 Ronald A. Brand/Harry M. Flechtner, Arbitration and Contract Formation, First Interpretations<br />

of the U. N. Sales Convention: Journal of Law and Commerce (J. L. Comm.) 12<br />

(1993) 239 (251 f.); Farnsworth 279; John O. Honnold, Uniform Law for International Sales<br />

under the 1980 United Nations Convention 3 (1999) Anm. 110; Perales Viscasillas (oben N. 143)<br />

99 (dort bei N. 12); Staudinger (-Magnus) (oben N. 133) Art. 8 Anm. 9.<br />

148 ICC Schiedsspruch Nr. 9117, Auszüge abgedruckt in: ICC International Court of Arbitration<br />

Bulletin 10 (1999) 96 ff. Keine Aussagekraft hat hingegen die Entscheidung des<br />

People’s Supreme Court, Appeal Division in Ho Chi Minh City vom 5. 4. 1996 (UNILEX), die<br />

sich zwar auch zur Begründung auf eine merger clause stützt, allerdings in der Sache eine<br />

nachvertragliche Modifi kation des Vertragstextes betraf.<br />

149 Beijing Metals v. American Business Center, 993 F.2d 1178 (5th Cir. 1993). Vgl. dazu<br />

Harry M. Flechtner, More U. S. Decisions on the U. N. Sales Convention: Scope, Parol Evidence,<br />

»Validity« and Reduction of Price under Article 50: J. L. Comm. 14 (1995) 153 ff.<br />

150 Calzaturifi cio Claudia v. Olivieri Footwear (S. D. N. Y. 7. April 1998, unveröffentlicht,<br />

Westlaw); Mitchell Aircraft Spares v. European Aircraft Service, 23 F.Supp. 2d 915; Shuttle Packaging<br />

Systems v. Tsonakis et al. (W.D.Mich 17. 12. 2001, unveröffentlicht, Westlaw), vgl. auch Franco<br />

Ferrari, Auslegung von Parteierklärungen und -verhalten nach UN-Kaufrecht: Internationales<br />

Handelsrecht (IHR) 2003, 10 (14); Olaf Meyer, Die Anwendung des UN-Kaufrechts in der<br />

US-amerikanischen Gerichtspraxis: IPRax 2005, 462 (464).


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

597<br />

diese Vorschriften derogieren und sich ihre private Parol Evidence Rule<br />

schaffen. Vor diesem Hintergrund wird man die starre Haltung der UNI-<br />

DROIT Principles als ein Zugeständnis an die in der Arbeitsgruppe vertretenen<br />

Common Lawyer verstehen können, um deren Verzicht auf die Parol<br />

Evidence Rule auszugleichen. Amerikanische Kommentatoren des CISG<br />

empfehlen auch, die Auslegungsregel des Art. 8(3) CISG durch eine merger<br />

clause abzubedingen und dadurch eine Rechtslage wie unter Geltung der<br />

Parol Evidence Rule zu schaffen. 151 Eine amerikanische Entscheidung hat<br />

die Wirksamkeit einer solchen Klausel bereits in einem obiter dictum bestätigt.<br />

152<br />

Tatsächlich lässt sich die zwingende Bindung der Gerichte an Integrationsklauseln<br />

nur bedingt in die Grundkonzeption der drei Regelwerke einfügen.<br />

Es sind verschiedene Wege denkbar, wie eine privatautonome Parol<br />

Evidence Rule doch wieder begrenzt werden könnte. Nach Art. 2:105(4)<br />

PECL kann eine Vertragspartei ihr Recht verwirken, sich auf die Integrationsklausel<br />

zu berufen, wenn sie einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat.<br />

Die Voraussetzungen dafür sind allerdings völlig unzureichend beschrieben.<br />

Unter welchen Umständen eine Partei trotz einer eindeutig formulierten<br />

merger clause vernünftigerweise auf ein Verhalten ihres Vertragspartners<br />

vertrauen dürfen soll, bleibt im Dunkeln. 153 Damit besteht insbesondere die<br />

Gefahr der Ungleichbehandlung der Vertragsparteien, da eine Partei aus<br />

dem Civil Law der Integrationsklausel erfahrungsgemäß weniger Bedeutung<br />

zumisst als ein Geschäftspartner aus dem Common Law und sie eher<br />

auf dessen Verhalten vertrauen wird als umgekehrt. Ähnliche Probleme<br />

können sich auch unter Geltung der UNIDROIT Principles ergeben, die<br />

allerdings nur eine allgemeine Regel des widersprüchlichen Verhaltens in<br />

Art. 1.8 enthalten. Im UN-Kaufrecht schließlich ist die Verwirkung als all-<br />

151 John E. Murray, Jr., An Essay on the Formation of Contracts and Related Matters under<br />

the United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods: J. L. Comm.<br />

8 (1988) 11 (45 f.): »Notwithstanding the criticisms of the Parol Evidence Rule, it is clear that<br />

parties are often eager to emphasize their intention that the document they have signed should<br />

be the sole and exclusive manifestation of their agreement. A carefully drafted merger clause,<br />

therefore, becomes critically important under CISG if the parties do not intend to be bound<br />

by favorable or even accurate recollections of their negotiations prior to the execution of the<br />

fi nal and complete writing evidencing their contract«; ebenso Albert Kritzer, Guide to Practical<br />

Applications of the United Nations Convention on Contracts for the International Sale of<br />

Goods (1989) 120.<br />

152 MCC-Marble Ceramic Center v. Ceramica Nuova D’Agostino, 144 F.3d 1384 (11th Cir.<br />

1998): »Moreover, to the extent parties wish to avoid parol evidence problems they can do so<br />

by including a merger clause in their agreement that extinguishes any and all prior agreements<br />

and understandings not expressed in the writing.«<br />

153 Nach Kaufmann 308 bietet Art. 2:105(4) PECL eine »breite Angriffsfl äche für die<br />

Nichtbeachtung von merger clauses«. Demgegenüber würden common law lawyer die Verwirkung<br />

wohl eher als eng begrenzten Ausnahmefall ansehen.


598 olaf meyer RabelsZ<br />

gemeiner Grundsatz nach Art. 7(2) CISG anerkannt. 154 Hier wird man nicht<br />

ausschließen können, dass ein Gericht die Berufung auf die Integrationsklausel<br />

als widersprüchliches Verhalten einordnet, 155 wenn dieselbe Partei<br />

während der Vertragsverhandlungen nachhaltig eine Eigenschaft zugesichert<br />

hat und ihr Vertragspartner darauf vertraute, obwohl die Zusage nicht<br />

in den Vertrag aufgenommen wurde.<br />

Ein weiterer Hebel gegen die alleinige Maßgeblichkeit der Integrationsklausel<br />

besteht in ihrer einschränkenden Auslegung. Um nichts anderes als<br />

einen typischen Fall einer solchen Auslegung handelt es sich letztlich bei<br />

Art. 2:105 (2) PECL, wonach bei nicht ausgehandelten Integrationsklauseln<br />

lediglich eine Vermutung für die Vollständigkeit der Urkunde gelten soll,<br />

eben weil Formularbedingungen erfahrungsgemäß nicht in gleichem Maße<br />

Garant für einen wirklichen übereinstimmenden Parteiwillen sind. Dies<br />

deckt sich mit der teilweise in der amerikanischen Rechtsprechung zu fi ndenden<br />

Skepsis gegenüber standardisierten merger clauses 156 und wird auch<br />

für das UN-Kaufrecht so vertreten. 157 Es ist aber kein einleuchtender Grund<br />

ersichtlich, warum die PECL diese einschränkende Auslegung nur in den<br />

Fällen nicht individuell verhandelter Klauseln zulassen. Der wirkliche Parteiwille<br />

kann eine Überwindung der Integration etwa auch dann nahelegen,<br />

wenn die Klausel lediglich aus Gewohnheit in den Vertrag eingefügt oder<br />

aus einem Formularbuch übernommen wurde.<br />

Noch weiter geht das Gutachten des CISG Advisory Council, wonach die<br />

Vertragsverhandlungen gemäß Art. 8(3) CISG stets im vollen Umfang zur<br />

Auslegung der merger clause herangezogen werden können. 158 Diese Interpretation<br />

wurde inzwischen von einem amerikanischen Gericht aufgegriffen.<br />

159 Hier hatte der amerikanische Käufer eine Maschine zur Herstellung<br />

von Aufbewahrungssystemen beim deutschen Verkäufer geordert. Bemerkenswerterweise<br />

war es sodann die deutsche Partei, die sich auf einen Haftungsausschluss<br />

in ihren AGB und eine weiter darin enthaltene merger<br />

clause berief, während der amerikanische Käufer eine mündliche Nebenabrede<br />

behauptete, wonach dieser Haftungsausschluss nicht gelten sollte. Der<br />

Richter entschied unter Berufung auf den Advisory Council, dass sich die<br />

merger clause nur dann gegen die vorvertragliche Absprache durchsetzt,<br />

154 Spezielle Ausprägungen des Grundsatzes fi nden sich in Art. 16(2)(b) und Art. 29(2)<br />

Satz 2 CISG. Vgl. Ulrich Magnus, Die allgemeinen Grundsätze im UN-Kaufrecht: RabelsZ 59<br />

(1995) 469 (482).<br />

155 Zum Grundsatz venire contra factum proprium im CISG vgl.: Internationales Schiedsgericht<br />

der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, RIW 1995, 590 f.<br />

156 Vgl. die Nachweise oben bei N. 59.<br />

157 William S. Dodge, Teaching the CISG in Contracts: Journal of Legal Education 50<br />

(2000) 72 89 (dort bei N. 82).<br />

158 Oben N. 144.<br />

159 TeeVee Tunes, Inc. et al. v. Gerhard Schubert GmbH, S. D. N. Y. 23. August 2006 (unveröffentlicht,<br />

Westlaw).


72 (2008)<br />

privatautonome abbedingung vorvertraglicher abreden<br />

599<br />

wenn ein entsprechender übereinstimmender Parteiwille feststeht, und ließ<br />

die Eröffnung des Hauptverfahrens zur Beweisaufnahme zu. Sollte diese,<br />

was der Richter anscheinend für möglich hielt, ergeben, dass die Parteien<br />

unterschiedliche Vorstellungen über die Geltung der Klausel gehabt haben,<br />

so wäre sie nicht wirksamer Vertragsbestandteil geworden.<br />

Angesichts der Möglichkeiten, welche die drei untersuchten Regelwerke<br />

zur Beschränkung von Integrationsklauseln bieten, dürfte es zutreffender<br />

sein, letzteren generell lediglich eine Vermutungswirkung zuzuerkennen,<br />

welche aber im Einzelfall durch begründeten Vortrag widerlegt werden<br />

kann. Die strikter formulierten Vorschriften der UNIDROIT Principles<br />

und der PECL müssen insofern als unglücklich angesehen werden. 160 Auch<br />

unter dem UN-Kaufrecht begründen Integrationsklauseln lediglich eine<br />

Vermutung für die Vollständigkeit der Vertragsurkunde, den Parteien bleibt<br />

aber immer möglich zu beweisen, dass dessen ungeachtet weitere Abreden<br />

getroffen worden sind. 161<br />

VI. Zusammenfassung<br />

Bei der rechtlichen Beurteilung von Integrationsklauseln wird deren Ursprung<br />

im Common Law nicht immer hinreichend beachtet. Die Klauseln<br />

sind auf ein rechtliches Umfeld abgestimmt, in dem der Wert vorvertraglicher<br />

Beweismittel bereits durch die Parol Evidence Rule beschnitten ist;<br />

für die Rechtsordnungen des Civil Law, die den wirklichen Willen der Parteien<br />

über die objektive Bedeutung des Vertragswortlauts stellen, eignen sie<br />

sich hingegen weniger. Daraus folgt für die Regelwerke des Internationalen<br />

Vertragsrechts, die der Parol Evidence Rule ebenfalls nicht folgen, dass die<br />

Wirksamkeit einer Integrationsklausel eingeschränkt bleiben muss. Sie verhindert<br />

nicht die Heranziehung der vorvertraglichen Verhandlungen zum<br />

Zwecke der Auslegung des Vertrages. Außerdem entfalten diese Klauseln<br />

regelmäßig nur eine Vermutungswirkung für die Vollständigkeit des Vertrages,<br />

die aber durch den Nachweis eines abweichenden Parteiwillens widerlegt<br />

werden kann.<br />

160 So zu den PECL auch Claus-Wilhelm Canaris/Hans Christoph Grigoleit, Interpretation of<br />

Contracts, in: Towards a European Civil Code 3 , hrsg. von Arthur Hartkamp et al. (2004) 445<br />

(459).<br />

161 Kritisch beurteilen merger clauses unter dem CISG auch Rod N. Andreason, MCC-<br />

Marble Ceramic Center, The Parol Evidence Rule and Other Domestic Law Under the Convention<br />

on Contracts for the International Sale of Goods: Brigham Young Univ. L. Rev. 1999,<br />

351 (371 ff.); Dodge (oben N. 157) 89; implizit wohl auch Schlechtriem/Schwenzer (-Schmidt-Kessel)<br />

(oben N. 133) Art. 8 Anm. 5.


600 olaf meyer RabelsZ<br />

Summary<br />

Private Autonomy and the Exclusion of Pre-Contractual<br />

Negotiations – Integration Clauses in International Commerce<br />

Where a written contract is concluded after lengthy negotiations, it can<br />

be uncertain whether these negotiations continue to play a role in the construction<br />

and interpretation of the contract. In common law countries, the<br />

so-called ›merger‹ or ›entire agreement clauses‹ have been developed in legal<br />

practice. They provide that the parties’ consent is to be found only within<br />

the four corners of the written agreement. These clauses interact with the<br />

traditionally narrow approach to contract interpretation in common law,<br />

particularly with the parol evidence rule. Thus, American and English<br />

judges are prepared to enforce the clauses, as long as no reasons of policy call<br />

for a different result.<br />

It is argued that the role of merger clauses is more restricted in a legal<br />

environment concerned with the parties’ common intention rather than the<br />

literal meaning of the document. This is generally the attitude in civil law<br />

countries, where preliminary negotiations and the principle of good faith<br />

are among the factors to be considered in the interpretation of contracts.<br />

Here, the parties would not aim at clarifying a pre-existing exclusion found<br />

in the law, but rather introduce their own private parol evidence rule. The<br />

same is true for international instruments such as the CISG, the UNI-<br />

DROIT Principles and the PECL, which reject formalistic approaches to<br />

contract interpretation. Thus, the freedom of the parties to exclude the negotiations<br />

from the construction of the contract should be more limited<br />

under these instruments.


Das Internationale Privatrecht<br />

von Werner Goldschmidt:<br />

In Memoriam<br />

Von Mario J. A. Oyarzábal, La Plata/New York City *<br />

<strong>Inhalt</strong>sübersicht<br />

I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601<br />

II. Der Jurist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602<br />

III. Die allgemeine Bedeutung von Goldschmidts Werk in Argentinien . . . .<br />

IV. Der bewusste und radikale Gebrauch der normologischen Methode<br />

603<br />

als Darstellungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606<br />

V. Die Theorie des ausländischen Rechtsbrauchs . . . . . . . . . . . . . 609<br />

VI. Die Theorie der allgemein bekannten Tatsache . . . . . . . . . . . . . 611<br />

VII. Die Lehre von der zu erwartenden Gesetzesumgehung . . . . . . . . . 612<br />

VIII. Das Toleranzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614<br />

IX. Die Vereinheitlichung und Kodifi zierung des Internationalen Privatrechts 616<br />

X. Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617<br />

Summary: Werner Goldschmidt’s Private International Law: In Memoriam . . 618<br />

I. Vorbemerkung<br />

In der fast zweihundertjährigen Geschichte der argentinischen Wissenschaft<br />

des Internationalen Privatrechts gibt es verschiedene Meilensteine:<br />

* Der Autor dankt Alfredo Mendoza-Peña für die arbeitsintensive und gewissenhafte Forschungsarbeit<br />

und Claudia Paetzold für die Korrektur der deutschen Fassung sowie Jan Peter<br />

Schmidt vom Max-Planck-Institut Hamburg.<br />

Abgekürzt werden zitiert: Werner Goldschmidt, Derecho internacional privado, Derecho de<br />

la tolerancia, Basado en la teoría trialista del mundo jurídico (Buenos Aires 1992) (zitiert mit<br />

Nr.); Miguel Angel Ciuro Caldani, Werner Goldschmidt: El derecho 124 (1987) 833 ff.; Horacio<br />

Piombo, Bespr. von Goldschmidt, Derecho internacional privado, Basado en la teoría trialista<br />

del mundo jurídico 2 (1974): La ley (1975-A) 1345 ff.<br />

RabelsZ Bd. 72 (2008) S. 601–619<br />

© 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0033-7250


602 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />

Die Aufnahme des Faches in den Studienplan der Rechtsfakultät der Universität<br />

von Buenos Aires im Jahr 1857, das Erscheinen der ersten Ausarbeitungen<br />

in Lehre und Rechtsprechung fast unmittelbar im Anschluss daran<br />

und, im letzten Jahrhundert, die fruchtbare Arbeit von Werner Goldschmidt<br />

1 . Das philosophische und privatrechtliche Denken Goldschmidts<br />

übte einen so starken Einfl uss in Argentinien und dem Rest Lateinamerikas 2<br />

aus, dass man zwischen zwei Entwicklungsphasen des IPR in Argentinien<br />

unterscheiden muss: Der Phase bis zur Ankunft Goldschmidts und der Phase,<br />

die mit seiner Lehrtätigkeit und seinen Forschungen einsetzt. 3<br />

In den folgenden Abschnitten möchten wir – ohne Anspruch auf Originalität<br />

– dem Schaffen Goldschmidts gedenken, dessen Todestag sich am 21.<br />

Juli 2007 zum zwanzigsten Mal gejährt hat.<br />

II. Der Jurist<br />

Werner Goldschmidt wurde 1910 in Berlin geboren. Er war Sohn des<br />

bedeutenden Juristen James Paul Goldschmidt und Bruder des Rechtsvergleichers<br />

Robert Goldschmidt sowie des Philosophen Viktor Goldschmidt.<br />

Er studierte an den Universitäten Berlin, Kiel und Hamburg, wo ihm 1931<br />

der Titel des Doktors der Rechte verliehen wurde 4 . Von 1931 an lehrte er an<br />

der Universität Kiel. Im Jahr 1933 fl oh er vor der Judenverfolgung nach<br />

Spanien. 1945 erhielt er an der Universität Madrid seine Anwaltszulassung.<br />

Neben der berufl ichen Praxis widmete er sich weiterhin der Forschung und<br />

veröffentlichte Bücher sowie zahlreiche Artikel in juristischen Zeitschriften.<br />

1947 ließ er sich in Argentinien nieder, wo er eine fruchtbare Karriere als<br />

Dozent und Forscher aufnahm. Er lehrte als Professor an den Universitäten<br />

von La Plata (1982 emeritiert) und Buenos Aires (1983 emeritiert), an den<br />

Katholischen Universitäten La Plata (1982 emeritiert) und Buenos Aires<br />

(1984 emeritiert), an der Universidad Notarial (1984 emeritiert), den Universitäten<br />

von Tucumán (1957 emeritiert) und Rosario (bis 1976), der Uni-<br />

1 Vgl. Piombo 1345.<br />

2 Vgl. Antonio Boggiano, Poder, normatividad y justicia en el mundo jurídico: Jur. Arg.<br />

1970, 391 ff. Siehe auch Werner Goldschmidt, Droit international latino-américain: Clunet<br />

(1973) 88–90 N. 49 (in dem er zahlreiche argentinische und lateinamerikanische Spezialisten<br />

zitiert, die sich seiner »trialistischen Theorie des internationalen Privatrechts« und der »Theorie<br />

des Rechtsbrauchs« angeschlossen haben). Zur internationalen Würdigung von Goldschmidts<br />

Werk sei über die genannte Literatur hinaus auf die Hinweise in den Büchern von<br />

Henri Batiffol, Droit international privé 5 I (Paris 1970) und II (1971), Edoardo Vitta, Diritto<br />

internazionale privato (Turin 1972/75), und Haroldo Valladao, Direito internacional privado 2 I<br />

(Rio de Janeiro 1974) und II (1978) verwiesen.<br />

3 Vgl. Piombo 1345.<br />

4 Zur persönlichen Erfahrung und der Bedeutung der deutschen Universität für Goldschmidt,<br />

siehe Werner Goldschmidt, Justicia y verdad (Buenos Aires 1978) 524–554.


72 (2008)<br />

in memoriam werner goldschmidt<br />

603<br />

versidad del Salvador (bis 1984), sowie am Instituto del Servicio Exterior, an<br />

dem argentinische Diplomaten ausgebildet werden. Aus seiner Lehrtätigkeit<br />

im Ausland ist sein Kurs an der Akademie für Internationales Recht in Den<br />

Haag aus dem Jahr 1972 hervorzuheben. 5<br />

III. Die allgemeine Bedeutung von<br />

Goldschmidts Werk in Argentinien<br />

Bis zur Ankunft Goldschmidts in Argentinien war das argentinische IPR<br />

von zwei Faktoren geprägt: Zum einen vom dominierenden Einfl uss der<br />

französischen Lehre, mit ihrer Dreiteilung des Gegenstands der Materie und<br />

ihrer methodologischen Konfusion als Folge des Einschlusses des Fremdenrechts<br />

in ein klar wohnsitzorientiertes System; zum anderen von dem Fehlen<br />

einer organischen und systematischen Behandlung der Probleme des Allgemeinen<br />

Teils der Disziplin, was zu einer unverbundenen Aneinanderreihung<br />

der Themen führte. Hinzu kam eine deutliche Schwierigkeit bei der<br />

Aufnahme derjenigen Gebiete des öffentlichen Rechts, welche die Methodologie<br />

des IPR zur Lösung bestimmter Aspekte der eigenen Problematik<br />

benutzten. 6<br />

Die physische und intellektuelle Präsenz Goldschmidts bewirkte eine<br />

Neuformulierung der Thematik des IPR und gab den argentinischen Juristen<br />

eine Ausarbeitung der Lehre an die Hand, die den Besonderheiten der<br />

Disziplin gerecht wurde 7 . Die privatrechtlichen Fälle mit ausländischen Elementen<br />

konnten nun auf Grundlage eines solide strukturierten Allgemeinen<br />

Teils und eines rigorosen methodischen Schemas behandelt werden, das<br />

nicht nur normative, sondern auch soziologische und axiologische Aspekte<br />

einbezog. Durch die Arbeiten Goldschmidts wurden zudem diverse, den<br />

argentinischen Autoren bis dahin praktisch unbekannte Fragestellungen<br />

aufgeworfen, so beispielsweise die räumliche und zeitliche Dimension des<br />

5 Siehe Werner Goldschmidt, Transactions between States and public fi rms and foreign private<br />

fi rms, A methodological study: Rec. des Cours 136 (1972-II) 201–329 (zitiert: Transactions).<br />

6 Vgl. Piombo 1345. Siehe auch Goldschmidt, Droit international latino-américain (oben<br />

N. 2) 87–90 (enthält eine Abhandlung der geschichtlichen Entwicklung der Ideen im argentinischen<br />

IPR.<br />

7 Vgl. Piombo 1345. Siehe auch die »Conclusiones de las Jornadas de derecho internacional<br />

privado en homenaje al profesor doctor Werner Goldschmidt« [Schlussfolgerungen der Tagung<br />

über IPR zu Ehren von Professor Doktor Goldschmidt] (Mar del Plata 1982), abgedr. in:<br />

Alicia Perugini de Paz y Geuse, Jornadas de derecho internacional en homenaje a Werner Goldschmidt:<br />

La ley (1984-A) 1007–1009, und in: Miguel Angel Ciuro Caldani, Jornadas de derecho<br />

internacional en homenaje al doctor Werner Goldschmidt: Gaceta del notariado 1983, 131–<br />

135.


604 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />

IPR, der Gegenstand des Tatbestands der indirekten Norm, die Änderung<br />

der Anknüpfung (confl it mobile) und die Vorfrage. 8<br />

Das wissenschaftliche Schaffen Goldschmidts unterteilt sich in zwei Phasen:<br />

9 Die erste begann mit »La consecuencia jurídica de la norma del derecho<br />

internacional privado« (1935) 10 und gipfelte in dem Buch »Sistema y fi losofía<br />

del derecho internacional privado« (1952–1954) 11 . In der wissenschaftlichen<br />

Tradition Deutschlands bietet Goldschmidt hier eine normologische Systematisierung<br />

der allgemeinen Probleme des IPR. 12 In der zweiten Etappe<br />

sind vor allem die beiden Werke »La ciencia de la justicia: dikelogía« (1958) 13<br />

und »Introducción fi losófi ca al derecho« (1973) 14 von Bedeutung. Obwohl<br />

bereits die ersten beiden Jahrzehnte in Goldschmidts Schaffen deutliche philosophische<br />

<strong>Inhalt</strong>e aufweisen, zeigt die zweite Phase den lateinamerikanischen<br />

Einfl uss bei der Suche nach der Wahrheit, in diesem Fall verstanden<br />

als ein objektiver, aber von den veränderlichen Lebensrealitäten geprägter<br />

Bezugspunkt 15 . Mit der Idee der Verteilung von Macht und Ohnmacht –<br />

d. h. das, was das Sein begünstigt oder benachteiligt (und bei den Lebewesen<br />

das, was das Leben begünstigt oder benachteiligt) – formulierte Goldschmidt<br />

die grundlegende Idee, die es ihm ermöglicht, die drei juristischen Dimensionen<br />

(die normologische, die soziologische und die dikelogische) zu integrieren;<br />

diese Integration basiert auf der systematischen Entwicklung der<br />

8 Vgl. Piombo 1345.<br />

9 Vgl. Ciuro Caldani 833; Alicia Perugini, Desarrollo histórico de la obra jusprivatista internacional<br />

de Werner Goldschmidt Lange (Homenaje en su 70 aniversario): Rev. Esp. Der. Int.<br />

32 (1980) 143–150.<br />

10 Werner Goldschmidt, La consecuencia jurídica de la norma del derecho internacional<br />

privado (Barcelona 1935) (zitiert: Consecuencia).<br />

11 Werner Goldschmidt, Sistema y fi losofía del derecho internacional privado I (Barcelona<br />

1948), II (1949), bespr. von Gerhard Kegel, RabelsZ 15 (1949/50) 166–173 und RabelsZ 17<br />

(1952) 300–302, Adolf Schnitzer, Schweizerische Juristen-Zeitung 45 (1949) 95, E. J. Cohn, J.<br />

Comp. Legisl. 31 (1949) 120, Mariano Aguilar Navarro, Rev. Esp. Der. Int. 2 (1949) 1039–1047<br />

und Rev. Esp. Der. Int. 3 (1950) 229–230, J. Kunz, ÖZöffR 2 (1950) 385–386 und ÖZöffR<br />

3 (1951) 284–285, Kurt Lipstein, Int. L. Q. 4 (1951) 147, R. H. Graveson, Mod. L. Rev. 14 (1951)<br />

102. Die 2. Aufl . <strong>dieses</strong> Werkes von Goldschmidt erschien in Buenos Aires 1952 (I) und 1954 (II<br />

und III). Das Werk bietet eine komplette Darstellung des spanischen IPR auf der Grundlage<br />

des normologischen Systems: Seine Philosphie ist das Naturrecht und die Gerechtigkeit wird<br />

als die Achtung der Seinsart des Anderen konzipiert. Für eine Zusammenfassung seiner »Philosophie«<br />

in deutscher Sprache siehe Werner Goldschmidt, Die philosophischen Grundlagen des<br />

internationalen Privatrechts, in: FS Martin Wolff (Tübingen 1952) 203–223.<br />

12 Vgl. Miguel Ángel Ciuro Caldani, Aspectos fi losófi cos del derecho internacional privado<br />

de nuestro tiempo: Jur. Arg. (1994-I) 878–879.<br />

13 Werner Goldschmidt, La ciencia de la justicia: dikelogía (Buenos Aires 1958); 2. Aufl .<br />

(1986). Für eine Darstellung in deutscher Sprache, siehe Werner Goldschmidt, Die Lehre von<br />

der Gerechtigkeit (Dikelogie): ÖZöffR 22 (1971) 1–32.<br />

14 Werner Goldschmidt, Introducción fi losófi ca al derecho-La teoría trialista del mundo<br />

jurídico y sus horizontes 4 (Buenos Aires 1973).<br />

15 Vgl. Ciuro Caldani 833.


72 (2008)<br />

in memoriam werner goldschmidt<br />

605<br />

von ihm so genannten »trialistischen Theorie der juristischen Welt« 16 . Auf<br />

ihr baut sein erstmals 1970 veröffentlichtes Hauptwerk »Derecho internacional<br />

privado« auf. 17<br />

Die Anwendung der Dreidimensionalität auf das IPR erfordert, jedes<br />

Thema unter den drei genannten Gesichtspunkten darzustellen, die durch<br />

den dritten, also den visuellen dikelogischen Gesichtspunkt, miteinander<br />

verbunden werden. Der normologische Aspekt umfasst den <strong>Inhalt</strong> der Normen<br />

einschließlich ihrer Interpretation und Selbstintegration, die durch<br />

Analogie oder den Rekurs auf allgemeine positive Ordnungsprinzipien erfolgt.<br />

Der soziologische Teil enthält die gerichtliche und administrative<br />

Rechtsprechung sowie die Sitten und Gebräuche der Einwohner, die sich<br />

beispielsweise in typischen oder standardisierten Vertragsformen niederschlagen,<br />

daneben aber auch die Lehre, wenn sie unter dem Gesichtspunkt<br />

ihrer sozialen Auswirkungen betrachtet wird. Der dikelogische Teil schließlich<br />

widmet sich der Normenkritik, den Lösungen für dikelogische Fragen<br />

und der Entwicklung gerechter Normen 18 . Die Reihenfolge der Darstellung<br />

der drei Aspekte in einem abstrakten Zusammenhang ist – wie in den Werken<br />

Goldschmidts – normologisch, soziologisch und schließlich dikelogisch.<br />

Für den Gesetzgeber dagegen gilt eine andere Reihenfolge der Aspekte,<br />

nämlich soziologisch, dikelogisch und schließlich normologisch 19 . In seinem<br />

»Derecho internacional privado« kommen so beide Strömungen von Goldschmidts<br />

Denken – das Internationale Privatrecht und die Philosophie – zusammen.<br />

Im Bewusstsein der Unmöglichkeit, alle Beiträge Goldschmidts auf dem<br />

Gebiet des IPR darzustellen, beschränken wir uns auf diejenigen, die wir<br />

für fundamental halten: Das normologische System, das die allgemeine, auf<br />

der logischen Präzision beruhende Norm des IPR zum Ausgangspunkt für<br />

die Systematik <strong>dieses</strong> Bereichs der Rechtswelt macht; die Rechtsbrauchtheorie,<br />

die der Anwendung des ausländischen Rechts in positiver Achtung<br />

seiner Seinsweise und seiner Besonderheiten ein Fundament verleiht; die<br />

16 Vgl. Ciuro Caldani 833.<br />

17 Werner Goldschmidt, Derecho internacional privado, Basado en la teoría trialista del<br />

mundo jurídico [IPR, Auf der Grundlage der trialistischen Theorie der juristischen Welt]<br />

(Buenos Aires) 1. Aufl . 1970; 2. Aufl . 1974, bespr. von Piombo (oben N. *); 3. Aufl . – mit dem<br />

Untertitel »Derecho de la tolerancia« – 1977, bespr. von Jürgen Samtleben, RabelsZ 37 (1973)<br />

802–808, Henri Batiffol, Rev. crit. d. i.p. 67 (1978) 236–238; 4. Aufl . 1982; 5. Aufl . 1985;<br />

6. Aufl . 1988 – verantwortet von Miguel Angel Ciuro Candani; 7. Aufl . 1990; 8. Aufl . 1992;<br />

9. Aufl . 2002.<br />

18 Vgl. Goldschmidt (vorige Note) 1. Aufl ., Prólogo Punkt I.2 (in den verschiedenen Aufl agen<br />

wieder abgedruckt). Siehe auch Werner Goldschmidt, Semblanza del trialismo, En memoria<br />

de su vigésimo aniversario: El derecho 113 (1985) 733–739. Für eine Analyse der trialistischen<br />

Theorie der juristischen Welt in englischer Sprache siehe Goldschmidt, Transactions (oben<br />

N. 5) 222–232.<br />

19 Vgl. Goldschmidt (oben N. 17) 1. Aufl ., Prólogo Punkt I.2.


606 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />

Eingliederung des ausländischen Rechts als allgemein bekannte Tatsache in<br />

die Beweisseite der Rechtsbeziehung mit ausländischen Elementen; die<br />

Lehre von der vorhersehbaren Gesetzesumgehung ( fraude a la expectativa) als<br />

Maßnahme zum Schutz des staatlichen Gesetzes angesichts von Machenschaften<br />

zum Zweck einer künftigen Regelverletzung; eine Philosophie, die<br />

der Anwendung des ausländischen Rechts ein radikal antichauvinistisches<br />

und universalistisches ideologisches Fundament gab und den Weg für die<br />

strukturierte Eingliederung der internationalen Zusammenarbeit in allen<br />

ihren Aspekten ebnete; und schließlich sein Beitrag zur Vereinheitlichung<br />

und zur Kodifi zierung des Internationalen Privatrechts in Argentinien 20 .<br />

IV. Der bewusste und radikale Gebrauch<br />

der normologischen Methode als Darstellungsmethode<br />

Die Arbeiten Goldschmidts im Bereich des IPR gingen von der Analyse<br />

der Kollisionsnorm als Grundlage der Systematik des IPR aus. Unter Berufung<br />

auf das normologische System des Strafrechts 21 betont Goldschmidt die<br />

Struktur der Rechtsnorm, die die »logische und neutrale Erfassung einer<br />

beabsichtigten Verteilung bildet« 22 . Jede Norm besteht als solche aus zwei<br />

Teilen: Im ersten Teil beschreibt die Norm die soziale Situation, die eine<br />

Verteilung verlangt (Tatbestand); im zweiten Teil dagegen entwirft sie deren<br />

Lösung (Rechtsfolge). Der Tatbestand der Norm des IPR beschreibt den<br />

privatrechtlichen Fall mit ausländischen Elementen (den Sachverhalt), während<br />

die Rechtsfolge die Lösung verdeutlicht. Die Differenzierung der Normen<br />

des IPR erfolgt entsprechend der Territorialität bzw. Extraterritorialität<br />

23 ihrer Rechtsfolgen. Die Rechtsfolge beruht auf unterschiedlichen Methoden,<br />

je nachdem, ob sie territorial oder extraterritorial ist. Bei territorialen<br />

Lösungen beantwortet die Rechtsfolge unmittelbar die im Tatbestand umrissene<br />

Frage (direkte Methode) 24 . Die direkte Methode, die im Allgemeinen<br />

bei den Normen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts zur Anwendung<br />

kommt, wird auch von den Normen des Fremdenrechts und des<br />

konventionellen Einheitsprivatrechts verwendet 25 . Bei extraterritorialen Lösungen<br />

dagegen geht die Rechtsfolge die vom Tatbestand umrissene Frage<br />

nicht an, sondern beschränkt sich darauf, festzustellen, welches Recht das<br />

20 Wir folgen teilweise der Aufzählung bei Horacio Piombo, Homenaje a Werner Goldschmidt<br />

[Antrittsrede als Inhaber des Lehrstuhls für Internationales Privatrecht an der Universiät<br />

La Plata, 1. 10. 1997] (unveröffentlicht).<br />

21 Vgl. Goldschmidt, Consecuencia (oben N. 10) 28.<br />

22 Vgl. Goldschmidt Nr. 6.<br />

23 Vgl. Goldschmidt Nr. 7.<br />

24 Vgl. Goldschmidt Nr. 8.<br />

25 Vgl. Goldschmidt Nr. 9.


72 (2008)<br />

in memoriam werner goldschmidt<br />

607<br />

Problem lösen muss (indirekte Methode). Die Norm des IPR (oder der Kollisionsnorm)<br />

ist also eine »indirekte Norm« 26 . Dies ist die Folge der Anwendung<br />

der indirekten Methode 27 , die ihrerseits, je nach Umständen, eine Ergänzung<br />

durch Hilfsmethoden 28 erfordert.<br />

Die indirekte Norm umfasst wie jede Rechtsnorm einen Tatbestand und<br />

eine Rechtsfolge; beide Teile müssen Goldschmidt zufolge in positive und<br />

negative Merkmale aufgegliedert werden. Die positiven Merkmale des Tatbestands<br />

beschreiben einen Aspekt eines privatrechtlichen Falls mit ausländischen<br />

Elementen (analytische Methode); sie werden als »positiv« bezeichnet,<br />

da ihr Vorhandensein notwendig ist, damit die Norm anwendbar ist.<br />

Zunächst ist festzustellen, aus welcher Rechtsordnung wir die Defi nition der<br />

Begriffe, die die direkte Methode benutzt, ableiten müssen. Hierbei handelt<br />

es sich um das sogenannte Qualifi kationsproblem. Dann müssen wir den<br />

Tatbestand der indirekten Norm erklären, d. h. mit aller Klarheit defi nieren,<br />

auf welchen sozialen Bereich (auf welche Aspekte) er sich bezieht. Dies wird<br />

als Vorfrageproblem bezeichnet. Das negative Merkmal des Tatbestandes<br />

bezieht sich auf die sogenannte Gesetzesumgehung; es wird als »negativ«<br />

bezeichnet, da die Inexistenz der Gesetzesumgehung die notwendige Bedingung<br />

dafür ist, dass die Rechtsnorm normal wirken kann, d. h. die<br />

Rechtsfolge eintritt. (Im argentinischen Recht beispielsweise, wo sich das<br />

Erbrecht nach dem letzten Wohnsitz des Erblassers richtet, würde im Fall<br />

26 Goldschmidt führte den Begriff der »indirekten Norm« 1935 in seiner Monographie »La<br />

consecuencia jurídica« (oben N. 10) 14, ein.<br />

27 Siehe Goldschmidt Nr. 8, 10, 88–89.<br />

28 Die Hilfsmethoden umfassen die analytisch-analoge und die richterlich-synthetische<br />

Methode. Die Analyse der Kontroverse des IPR wird unter »analoger« Anwendung der »analytischen«<br />

Kategorien des Zivilrechts durchgeführt. Will man also feststellen, ob ein Vertrag<br />

gültig oder nichtig ist, so untersucht man die Befähigung der Parteien nach einem Recht<br />

(beispielsweise dem Recht des Wohnsitzes), die Form des Geschäfts nach einem anderen (beispielsweise<br />

dem Recht am Ort der Vertragsunterzeichnung) und die intrinsische Gültigkeit<br />

nach einem dritten Recht (beispielsweise dem nationalen Recht der jeweiligen Parteien). Die<br />

analytisch-analoge Methode zielt auf die Lösung des Falles und richtet sich in erster Linie an<br />

den Gesetzgeber. Aber da kein nationaler oder internationaler Gesetzgeber in der Lage ist, die<br />

Unstimmigkeiten zu überschauen, zu denen die analytische Methode führen kann, sind wir<br />

gezwungen, eine dritte Methode anzuwenden, die die Adaptation oder Synthese ermöglicht.<br />

Im IPR kann der Gesetzgeber diese Synthese nicht a priori bieten, sie ist a posteriori die Aufgabe<br />

des Richters. Goldschmidt präsentierte die Unterscheidung zwischen den drei Methoden<br />

(indirekt, analytisch-analog, richterlich-synthetisch) in seinem Artikel »Derecho internacional<br />

privado y derecho comparado«: Información jurídica 45 (1947) 84–86. Später sprach<br />

Goldschmidt von »konstitutiven Methoden«, weil sie dem Gesetzgeber und dem Richter Lösungen<br />

für privatrechtliche Fälle mit ausländischen Elementen bieten, während die »normologische<br />

Methode« – die sich auf die Darstellung bezieht – für den Wissenschaftler gilt. Vgl.<br />

Goldschmidt (oben N. 17) 1. Aufl . Nr. 10. Vgl. auch Perugini (oben N. 9) 146. Die richterlichsynthetische<br />

Methode für die Lösung der Fälle wurde in Art. 9 (unten im Text bei N. 40) der<br />

Interamerikanischen Konvention über allgemeine Normen des IPR (Convención Interamericana<br />

sobre Normas Generales de Derecho Internacional Privado) aufgenommen.


608 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />

einer Gesetzesumgehung nicht das am letzten, sondern das am vorletzten<br />

Wohnsitz geltende Recht angewendet.) Die Rechtsfolge hat zwei positive<br />

Merkmale (sie wurden in Analogie zu den Merkmalen des Tatbestands so<br />

genannt): die Anknüpfung und das Angeknüpfte. Die Anknüpfung enthält<br />

die Umstände des Falls, dank derer wir das anwendbare Recht identifi zieren<br />

können, beispielsweise den letzten Wohnsitz des Erblassers oder die Lage der<br />

Immobilie; hier spricht man auch vom »Anknüpfungspunkt«. Das Angeknüpfte<br />

ist das mit Hilfe des Anknüpfungspunktes identifi zierte anwendbare<br />

Recht. Dabei stellen sich zwei sukzessive Hauptfragen: Welcher Teil des<br />

ausländischen Rechts – sein Privatrecht oder sein Internationales Privatrecht<br />

(seine Kollisionsnormen) – ist anwendbar? Und mit welchem Konzept wenden<br />

wir in unserem Land Teile einer ausländischen Rechtsordnung an, wenden<br />

wir sie als »Tatsache« oder als »Recht« an? Das erste Problen (der »Umfang«<br />

des anzuwendenden Rechts) ist unter dem Begriff der Rück- und<br />

Weiterverweisung (renvoi) bekannt. Das zweite Problem (die »Erklärung«<br />

der Anwendung des ausländischen Rechts) führt zum Thema seiner Ermittlung<br />

im Prozess, was von Amts wegen geschehen kann oder durch das Vorbringen<br />

und Beweisen seitens der Parteien. Das negative Merkmal der<br />

Rechtsfolge schließlich betrifft den ordre public, da wir das anwendbare ausländische<br />

Recht zurückweisen werden, wenn wir zu der Auffassung gelangen,<br />

dass die Lösung, die es uns in dem jeweiligen Fall bietet, gegen unveräußerliche<br />

Rechtsgrundsätze des Forums verstößt 29 . Die folgende Grafi k<br />

verdeutlicht die Struktur der indirekten Norm Goldschmidts:<br />

Indirekte<br />

Norm<br />

Tatbestand<br />

Rechtsfolge<br />

Diese Systematisierung der Darstellung des IPR ist keine konstitutive<br />

Methode der Materie, denn sie bietet keine Lösungen. Die systematisierende<br />

Methode ist eine »Darstellungsmethode« für die Wissenschaft, die angibt,<br />

wie die Probleme entsprechend einem bestimmten Kriterium geordnet wer-<br />

29 Siehe Goldschmidt Nr. 86 ff., 87, 95.<br />

positive<br />

Merkmale<br />

negative<br />

Merkmale<br />

positive<br />

Merkmale<br />

negative<br />

Merkmale<br />

Qualifikationen<br />

Vorfrage<br />

Gesetzesumgehung<br />

Anknüpfungspunkte<br />

Rückverweisung<br />

Anwendung des<br />

ausländischen Rechts<br />

ordre public


72 (2008)<br />

in memoriam werner goldschmidt<br />

609<br />

den müssen 30 . Da die Wissenschaft die Wirklichkeit logisch und neutral erfasst<br />

und die logische und neutrale Erfassung der Rechtsrealität durch die<br />

Norm erfolgt, muss die systematisierende Methode des IPR von der internationalprivatrechtlichen<br />

Norm ausgehen. Dies ist die »normologische Konzeption<br />

des Internationalen Privatrechts«, die darin besteht, die Strukturanalyse<br />

des IPR (oder der indirekten Norm) zum Ausgangspunkt für die<br />

Wissenschaft vom IPR zu machen 31 .<br />

V. Die Theorie des ausländischen Rechtsbrauchs<br />

Der zweite Beitrag Goldschmidts ist die Darlegung und Verifi zierung der<br />

Theorie des ausländischen Rechtsbrauchs 32 . Die Rechtsbrauchtheorie taucht<br />

in der Rechtsfolge der indirekten Norm neben der Rück- und Weiterverweisung<br />

(renvoi) auf. Unbestritten gilt es als unvereinbar mit dem Völkerrecht,<br />

dass ein Land versucht, in einem anderen Recht zu setzen. Hingegen<br />

bestehen keine Einwände dagegen, dass »die Norm den ausländischen<br />

Rechtsbrauch verlangt, d. h. den lokalen Richter anweist, einen Rechtsstreit<br />

so zu entscheiden, wie er im Ursprungsland der Norm entschieden würde;<br />

sie zeigt eine Tatsache und nicht ein Recht an, da sie von dem Richter die<br />

Verifi zierung eines Wahrscheinlichkeitsurteils verlangt, nicht jedoch die<br />

Anwendung von Rechtsnormen.« 33<br />

Die Rechtsbrauchtheorie bestimmt die Seinsweise des Rechts bezüglich<br />

der Gerechtigkeit 34 ; die Gerechtigkeit beruht im IPR auf der »positiven<br />

Achtung des ausländischen Rechts« (uns den anderen gegenüber so zu verhalten,<br />

wie wir möchten, dass sie sich uns gegenüber verhalten) 35 . Sobald ein<br />

Fall (oder eines seiner Elemente) als ausländisch charakterisiert wurde, muss<br />

diese Achtung zum Tragen kommen; dabei muss es sich um eine positive<br />

30 Vgl. Goldschmidt Nr. 19.<br />

31 Vgl. Goldschmidt Nr. 19. Für eine frühe Entwicklung dieser These in französischer Sprache<br />

siehe Werner Goldschmidt, La conception normologique en droit international privé: Nouv.<br />

Rev. d. i.p. 7 (1940) 16–41.<br />

32 Goldschmidt entwickelt diese Theorie in »La consecuencia jurídica« (oben N. 10) 9 ff. Für<br />

eine deutschsprachige Fassung <strong>dieses</strong> Gesichtspunkts siehe Goldschmidt, Zur ontologisch-logischen<br />

Erfassung des internationalen Privatrechts: ÖZöffR 4 (1952) 121–133. Siehe auch<br />

Goldschmidt, Gestación, quintaesencia y recepción de la teoría del uso jurídico extranjero: La<br />

ley (1985-E) 716–722 (zitiert: Gestación). Albert Ehrenzweig, Private International Law (Leiden<br />

1967) 193, schreibt <strong>dieses</strong> Konzept irrtümlich Kegel zu, obwohl Kegel seinen Ursprung<br />

korrekt angibt. Vgl. Gerhard Kegel, Internationales Privatrecht, Ein Studienbuch 1 (München<br />

1960) 162. Ehrenzweig berichtigt seinen Irrtum in dem Werk »Psychoanalytic Jurisprudence,<br />

On Ethics Aethetics, and ›Law‹ on Crime Tort and Procedure« (Leiden 1971) 141 N. 67, was<br />

Goldschmidt anerkennt.<br />

33 Vgl. Goldschmidt, Consecuencia (oben N. 10) 12.<br />

34 Vgl. Goldschmidt Nr. 142.<br />

35 Vgl. Goldschmidt Nr. 17.


610 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />

Achtung handeln, d. h. das ausländische Recht ist so anzuwenden, wie es in<br />

jenem Land angewendet würde. Darin besteht die so genannte Rechtsbrauchtheorie,<br />

deren <strong>Inhalt</strong> Goldschmidt folgendermaßen formuliert:<br />

»Wenn ausländisches Recht als auf einen Rechtsstreit anwendbar deklariert<br />

wird, muss es grundsätzlich so gehandhabt werden, wie es mit dem größtmöglichen<br />

Grad erreichbarer Wahrscheinlichkeit der Richter des Landes<br />

tun würde, dessen Recht als anwendbar erklärt wurde; als Bezugspunkt<br />

muss ein Richter genommen werden, vor dem der Rechtsstreit verhandelt<br />

würde, wenn er sich in dem entsprechenden Land ergeben hätte.« 36<br />

Damit ist es für Goldschmidt ein virtueller Unterschied, ob eigenes Recht<br />

oder ausländisches Recht »angewendet« wird: Wir wenden das eigene Recht<br />

an und arbeiten mit ihm; aber das ausländische Recht beobachten wir, ahmen<br />

es nach oder imitieren es. Während die eigene Rechtswelt dreidimensional<br />

ist, reduziert sich das ausländische Recht auf eine einzige Dimension,<br />

die soziologische. Denn die Rechtsnormen erscheinen nur in ihrer richterlichen,<br />

administrativen etc. Soziologisierung, womit der Aspekt der Gerechtigkeit<br />

eliminiert wird und erst mit der Kontrolle des ordre public wieder<br />

zurückkehrt 37 .<br />

Goldschmidt begreift die Theorie des ausländischen Rechtsbrauchs als<br />

eine korrekte Form der Rückverweisung, denn mit dieser Theorie gelangt<br />

man zu ähnlichen Resultaten wie mit denen der »tesis de la referencia máxima«<br />

38 , verwickelt sich jedoch nicht in das berühmte internationale Pingpong<br />

bzw. den Teufelskreis, der dann entsteht, wenn beide beteiligten Länder<br />

die Gesamtverweisung (total renvoi) praktizieren, da sich die Gesetzgebungen<br />

der beiden Länder ad infi nitum aufeinander beziehen können.<br />

Demgegenüber können sich zwei Richter nicht endlos gegenseitig anrufen,<br />

denn es ist ihnen nicht erlaubt, die Rechtsgewährung zu verweigern 39 .<br />

Mit der Rechtsbrauchtheorie erklärt Goldschmidt schließlich die sogenannte<br />

prozessrechtliche Untergeordnetheit des ausländischen Rechts, ein<br />

Thema, das wir im nächsten Abschnitt aufgreifen werden, der sich mit der<br />

Theorie der »allgemein bekannten Tatsache« beschäftigt.<br />

Der ausländische Rechtsbrauch wurde in Art. 2 der Interamerikanischen<br />

Konvention über allgemeine Normen des Internationalen Privatrechts (CI-<br />

DIP-II) aufgenommen, die 1979 in Montevideo unterzeichnet wurde. Die<br />

Vorschrift bestimmt, dass »die Richter und Behörden der Unterzeichner-<br />

36 Siehe Goldschmidt Nr. 142.<br />

37 Siehe Goldschmidt Nr. 142.<br />

38 Mit diesem Begriff bezeichnet Goldschmidt die Theorie, die in dem berühmten Forgo-<br />

Fall in der französischen Rechtsprechung begründet wurde und derzufolge das IPR des Richters<br />

das ausländische IPR als anwendbar defi niert und danach dasjenige, das <strong>dieses</strong> für anwendbar<br />

erklärt, das wiederum ein IPR sein kann oder ein Privatrecht usw.; dieser Mechanismus<br />

ist in der deutschen Lehre als »Gesamtverweisung« bekannt.<br />

39 Vgl. Goldschmidt, Consecuencia (oben N. 10) 41; Goldschmidt Nr. 144.


72 (2008)<br />

in memoriam werner goldschmidt<br />

611<br />

staaten verpfl ichtet sind, das ausländische Recht so anzuwenden, wie es die<br />

Richter des Staates tun würden, dessen Recht anwendbar ist, unbeschadet<br />

des Rechts der Parteien, die Existenz und den <strong>Inhalt</strong> des angeführten ausländischen<br />

Rechts vorzubringen und zu beweisen« 40 . Der ausländische<br />

Rechtsbrauch wurde so zu einem in Lateinamerika allgemein anerkannten<br />

Prinzip 41 .<br />

VI. Die Theorie der allgemein bekannten Tatsache<br />

Eine der wichtigsten Aussagen der Rechtsbrauchtheorie besteht darin,<br />

dass sie das ausländische Recht nicht als eine normative Ordnung begreift,<br />

sondern als eine »Tatsache«, nämlich die Tatsache des wahrscheinlichen Ur-<br />

40 Siehe die offi zielle Publikation der OAS: Serie sobre tratados, Nr. 54, OEA/Ser. B/45<br />

(SEPF), Washington 1979 (spanisch/englisch/portugiesisch/französisch) – gültig zwischen<br />

Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Ekuador, Guatemala, Mexiko, Paraguay, Peru, Uruguay<br />

und Venezuela. Vgl. Gonzalo Parra Aranguren, Recent Developments of Confl ict of Laws Conventions<br />

in Latin America: Rec. des Cours 164 (1979-III) 145–146. Vgl. auch Jürgen Samtleben,<br />

Die Interamerikanischen Spezialkonferenzen für Internationales Privatrecht: RabelsZ 44<br />

(1980) 257–320 (284–288); Tatiana B. De Maekelt, General Rules of Private International Law<br />

in the Americas-New Approach: Rec. des Cours 177 (1982-IV) 157 (305–309). Für Liliana<br />

Rapallini, Temática de derecho internacional privado 3 (La Plata 1998) 86–87, dagegen nimmt<br />

Art. 2 das ausländische Recht als »echt« – wenn auch ein ausländisches – an, entsprechend der<br />

Konzeption von Rabel und Wolff. Tatsächlich erklärt der Artikel nicht, ob das ausländische<br />

Recht als Tatsache oder Recht angewendet wird; obzwar nicht zu bezweifeln ist, dass für<br />

Goldschmidt das wahrscheinliche Urteil eines ausländischen Richters eine »Tatsache« darstellt,<br />

ist es nicht weniger sicher, dass die Urteile – ursprünglich Rechtsakte – auch Recht<br />

schaffen und entsprechend als Recht auf andere Fälle anwendbar sind; damit bestehen Gründe<br />

für Zweifel. Siehe auch unten N. 74.<br />

41 Vgl. Gonzalo Parra Aranguren, General Course of Private International Law, Selected<br />

Problems: Rec. des Cours 210 (1988-III) 74 N. 131 (er macht darauf aufmerksam, dass bei der<br />

Diskussion über Art. 2 der CIDIP-II der brasilianische Delegierte Haroldo Valladão seine<br />

Streichung beantragte, da er »überfl üssig« sei, weil bei diesem Thema Konsens bestehe; infolge<br />

der Beharrlichkeit der Delegierten Argentiniens (Werner Goldschmidt) und Paraguays<br />

(Ramón Silva Alonso) konnte sich diese Position aber nicht durchsetzen). Unter den modernen<br />

Texten sei das IPR Venezuelas erwähnt; es bestimmt, dass das ausländische Recht wie in<br />

seinem Ursprungsland anzuwenden ist, vorausgesetzt, es werden die Ziele der venezolanischen<br />

Kollisionsnormen eingehalten; Art. 2, abgedr. in: Gaceta Ofi cial de la República de Venezuela<br />

Nr. 36.511 vom 6. 8. 1998. Siehe Gonzalo Parra Aranguren, The Venezuelan Act on Private<br />

International Law: Yb. P. I. L. 1 (1991) 108; Eugenio Hernández-Bretón, Nueva Ley venezolana<br />

del derecho internacional privado, in: Libro homenaje a Gonzalo Parra Aranguren II (Caracas<br />

2001) 56. Allerdings wird die Auffassung vertreten, dass Art. 2 bei der Regelung der Anwendung<br />

des ausländischen Rechts die »Rechtsthese« vertritt (es also nicht als »Tatsache« behandelt).<br />

Vgl. Tatiana B. De Maekelt, Nueva Ley venezolana del derecho internacional privado, in:<br />

Libro homenaje a Gonzalo Parra Aranguren (diese Note) 100. Auf Grund des Textes und der<br />

Tatsache, dass seine Verfasser Anhänger der Lehrmeinung Goldschmidts sind, bleibt festzuhalten,<br />

dass der letzte Entwurf eines Kodex des IPR in Argentinien ohne Zögern der Rechtsbrauchtheorie<br />

folgt (Art. 11). Siehe unten N. 70.


612 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />

teils des ausländischen Richters. Aber das ausländische Recht ist nicht irgendeine<br />

Tatsache, sondern eine »allgemein bekannte Tatsache«; dies bedeutet<br />

nicht, dass es sich um eine Tatsache handelt, die aller Welt bekannt ist,<br />

sondern um eine Tatsache, die jeder zuverlässig nachprüfen kann. Als eine<br />

solche allgemein bekannte Tatsache kann sie vom Richter in Betracht gezogen<br />

werden, unabhängig davon, ob die Parteien sie vorbringen und alle<br />

Beweise vorlegen, die ihnen opportun erscheinen 42 . Damit versucht Goldschmidt,<br />

die traditionelle Anknüpfung zwischen der Auffasung des ausländischen<br />

Rechts als einer Tatsache und seiner Unterordnung als dispositives<br />

Prinzip (indem es von den Parteien vorgebracht und bewiesen werden muss)<br />

im Prozess zu überwinden, indem er allgemein bekannte Tatsachen als Ausnahmen<br />

von diesem Prinzip erklärt 43 .<br />

Entsprechend der These von Gattari 44 , die Goldschmidt übernimmt 45 ,<br />

kann die allgemeine Bekanntheit unmittelbar, mittelbar, kausal oder entfernt<br />

sein. Wenn der für den Fall zuständige Richter über die ausländische<br />

Gesetzgebung und Rechtsprechung zu dem strittigen Punkt Zugang hat,<br />

erhält sein Urteil einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad. Fehlen ihm einige<br />

dieser Elemente, vermindert sich der Wahrscheinlichkeitsgrad. Aber selbst<br />

wenn er über keines der Elemente verfügt, könnte er auf ein Recht zurückgreifen,<br />

das mit dem, das er nachahmen soll, verwandt ist (beispielweise auf<br />

das französische oder schweizerische Recht, wenn ihm keine Informationen<br />

über das äthiopische Recht zugänglich sind); und nur in letzter Instanz darf<br />

er die lex fori anwenden, denn angesichts der Einheit der Menschheit existiert<br />

eine – wenn auch noch so geringe – Wahrscheinlichkeit, dass das lokale<br />

mit dem ausländischen Recht übereinstimmt.<br />

VII. Die Lehre von der zu erwartenden Gesetzesumgehung<br />

In der Struktur der indirekten Norm Goldschmidts bezieht sich die Gesetzesumgehung<br />

auf das zweite positive Merkmal des Tatbestands, also auf<br />

42 Vgl. Goldschmidt, Consecuencia (oben N. 10) 12 ff. Goldschmidt Nr. 145–146. In drei<br />

Aufsätzen von 1965 und 1966 schrieb sich allerdings Mauro Cappelletti diese Theorie zu, die<br />

er »teoria della probabilità« nannte, was eine heftige Reaktion Goldschmidts hervorrief. Vgl.<br />

Mauro Cappelletti, Las sentencias y las normas extranjeras en el proceso civil [Aus dem Italienischen<br />

übertragen von Santiago Sentís Melendo] (Buenos Aires 1968) Nr. 58; und die Antwort<br />

von Goldschmidt, Gestación (oben N. 32) 720–721. Das Werk Cappelletis war in Argentinien<br />

nicht direkt zugänglich. Die Urheberschaft Goldschmidts wird anerkannt von Carlos Gattari,<br />

La ley extranjera como hecho notorio: El derecho 36 (1971) 913 ff.; Samtleben (oben N. 17)<br />

806 ff.; sowie in seinem späteren Werk Mauro Cappelletti, Processo e ideologie (Bologna 1969)<br />

470 N. 25.<br />

43 Siehe Goldschmidt Nr. 146.<br />

44 Siehe Gattari (oben N. 42) 913 ff.<br />

45 Siehe Goldschmidt Nr. 146.


72 (2008)<br />

in memoriam werner goldschmidt<br />

613<br />

den den Anknüpfungspunkten zu Grunde liegenden Sachverhalt. Die Gesetzesumgehung<br />

kennzeichnet sich durch eine betrügerische Manipulation.<br />

Sehr scharfsinnig sagt Goldschmidt, dass »die Gesetzesumgehung in dem<br />

Versuch der Parteien besteht, die Beziehung von Ursache und Folge [die der<br />

Gesetzgeber zur Grundlage für seine Regelung macht] in eine Beziehung<br />

von Mittel und Zweck zu verwandeln« (Beispiel: Für den Gesetzgeber fungiert<br />

die Tatsache, dass die Ehe in einem Land mit Scheidungsrecht geschlossen<br />

wurde, als »Ursache« dafür, die Aufl ösbarkeit dem Gesetz des<br />

Ortes der Eheschließung zu unterstellen, wobei diese Regel die »Folge« darstellt;<br />

die Parteien, die den »Zweck« verfolgen, einer Gesetzgebung mit<br />

Scheidungsmöglichkeit zu unterliegen, benutzen das »Mittel«, die Ehe in<br />

einem Land zu schließen, das über die entsprechende Gesetzgebung verfügt)<br />

46 . Ein anderer, im argentinischen Schrifttum aus didaktischen Gründen<br />

sehr populärer Satz Goldschmidts charakterisiert die Gesetzesumgehung<br />

als »den Versuch der Parteien, in einem Land entsprechend der Gesetzgebung<br />

eines anderen Landes zu leben, die ihnen das erlaubt, was die Gesetzgebung<br />

des ersteren ihnen verbietet« 47 .<br />

Der wichtigste Beitrag Goldschmidts auf diesem Gebiet ist jedoch die<br />

Auffassung, dass es sich bei der zu erwartenden Gesetzesumgehung tatsächlich<br />

um einen Fall von Gesetzesumgehung handelt; damit soll das Gesetz<br />

eines Staates vor Machenschaften geschützt werden, die auf eine »künftige«<br />

Verletzung seiner Regeln abzielen 48 . Die zu erwartende Gesetzesumgehung<br />

manipuliert die Tatsachen, nicht weil die in dem Moment ehrliche Handlung<br />

unmittelbare Konsequenzen hätte, die vermieden werden sollen, sondern<br />

weil man fürchtet, dass sich in Zukunft derartige Folgen ergeben<br />

könnten, die man deshalb vorausschauend abzuwenden sucht. Das klassische<br />

Beispiel dafür sind Paare, die vor Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 23.515 49 , das<br />

die Ehescheidung ermöglicht, in Argentinien lebten, aber in Mexiko heirateten,<br />

um sich später gegebenenfalls scheiden lassen zu können 50 . Für Goldschmidt<br />

muss eine im Kontext einer zu erwartenden Gesetzesumgehung in<br />

Mexiko geschlossene Ehe als in Argentinien geschlossen gelten (und folglich<br />

unaufl öslich sein) 51 .<br />

Nicht weniger wichtig ist Goldschmidts Charakterisierung der typischen<br />

Indizien für die betrügerische Absicht: Eines ist die »räumliche Expansion«<br />

der Handlungen: Die Parteien tauchen in einem Land auf, manchmal auch<br />

nur durch Vertreter, in dem sie ihr Auftreten nicht rechtfertigen können.<br />

46 Vgl. Goldschmidt Nr. 120.<br />

47 Vgl. Goldschmidt Nr. 120.<br />

48 Vgl. Piombo 1347.<br />

49 Boletín Ofi cial de la República Argentina vom 12. 6. 1987.<br />

50 Vgl. Goldschmidt Nr. 128.<br />

51 Vgl. Goldschmidt Nr. 126, 128, 254. Siehe auch Werner Goldschmidt, Matrimonio celebrado<br />

por poder y con fraude a la expectativa: El derecho 80 (1979) 242 ff.


614 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />

Das andere ist die »zeitliche Kontraktion« (die Parteien handeln mit großer<br />

Schnelligkeit) 52 .<br />

VIII. Das Toleranzrecht<br />

Goldschmidt legte seine kosmopolitische, humanistische und essentiell<br />

optimistische Philosophie des IPR 1977 im Vorwort zur dritten Aufl age<br />

seiner Abhandlung dar. 53<br />

Für Goldschmidt unterscheidet sich das IPR von anderen Disziplinen, die<br />

ebenfalls Fälle mit ausländischen Elementen behandeln, durch seinen spezifi<br />

schen Wert, der in der positiven Achtung des ausländischen Rechts liegt<br />

und dessen Nachahmung bedeutet (Rechtsbrauchtheorie) 54 . Dieser Wert<br />

schlägt sich notwendigerweise in »indirekten Normen« nieder, also Normen,<br />

die für gemischte Fälle keine Lösung anbieten, sondern sich auf die<br />

Feststellung beschränken, dass entweder das nationale oder ausländische<br />

Recht anwendbar ist 55 . Allerdings ist dabei zu beachten, dass der Wert der<br />

positiven Achtung des ausländischen Rechts nur dann zulässig ist, wenn es<br />

hinsichtlich seines Zwecks oder seiner Mittel dem nationalen Recht nicht<br />

widerspricht 56 . Wenn man die positive Achtung des ausländischen Rechts –<br />

begrenzt durch den internationalen ordre public – als Konzept der Toleranz<br />

defi niert, so kann man die Auffassung vertreten, dass das IPR als Recht der<br />

Exterritorialität des ausländischen Privatrechts das »Toleranzrecht« darstellt<br />

57 . In der dritten und den folgenden Aufl agen seines »Derecho internacional<br />

privado« fasst Goldschmidt die Disziplin dreidimensional auf als das<br />

Recht, das gemischte privatrechtliche Fälle mit positiver Toleranz und infolgedessen<br />

indirekt löst.<br />

Humanismus, Universalismus und Optimismus durchdringen das gesamte<br />

Werk Goldschmidts. Sein Humanismus ist deutlich in seiner Dikelogie<br />

präsent, aber auch dort, wo er die Grundprinzipien des internationalen<br />

Rechts der Menschenrechte zum <strong>Inhalt</strong> des ordre public zählt 58 oder die Ein-<br />

52 3 Siehe Goldschmidt Nr. 120. Vgl. Antonio Boggiano, Derecho internacional privado I (Buenos<br />

Aires 1991) 483.<br />

53 Goldschmidt (oben N. 17) 3. Aufl . Prólogo (in den verschiedenen Aufl agen wieder abgedruckt).<br />

54 Vgl. Goldschmidt (oben N. 17) 3. Aufl . Prólogo Punkt I.1.<br />

55 Andere Disziplinen – wie etwa das Fremdenrecht, das Internationale Prozessrecht, das<br />

Einheitsrecht etc. – benutzen dagegen die direkte Methode. In dem Maße, wie sie darauf<br />

abzielen, die nationalen Interessen zu begünstigen oder andere Länder einer Region oder der<br />

Welt zu integrieren, basieren sie auf einer Intoleranz gegenüber dem Ausländischen. Vgl.<br />

Goldschmidt (oben N. 17) 3. Aufl . Prólogo Punkt II.<br />

56 Vgl. Goldschmidt (oben N. 17) 3. Aufl . Prólogo Punkt I.2.<br />

57 Vgl. Goldschmidt (oben N. 17) 3. Aufl . Prólogo Punkt I.2.<br />

58 Beispielsweise wenn er vorschlägt, mittels des ordre public (Art. 14 Abschnitt. 2 argenti-


72 (2008)<br />

in memoriam werner goldschmidt<br />

615<br />

richtung eines »Notgerichtsstands« vorschlägt, durch den die argentinischen<br />

Gerichte die Kompetenz an sich ziehen, wenn es unmöglich ist, ein Verfahren<br />

im Ausland einzuleiten, oder wenn nicht verlangt werden kann, dass es<br />

dort begonnen wird, vorausgesetzt, der Fall bietet eine ausreichende Beziehung<br />

zum Forum im Hinblick auf die Verteidigungsmöglichkeiten im Prozess<br />

59 . Sein Kosmopolitismus ist spürbar in seiner Rechtsbrauchtheorie,<br />

wenn er fordert, dass die wahrscheinliche Lösung des Falls in der ausländischen<br />

Gemeinschaft gesucht werden muss »indem wir uns ihr tamquam<br />

cadaver (mit Kadavergehorsam) unterwerfen« 60 ; und mehr noch in seiner<br />

Verteidigung der lex causae bei der Qualifi zierung der Tatbestandsmerkmale<br />

der indirekten Norm 61 ; weiterhin bei der eingeschränkten Konzeption des<br />

ordre public, die eine gebührende Entfaltung der Exterritorialität des ausländischen<br />

Privatrechts und die gebührende Anerkennung ausländischer Urteile<br />

und Entscheidungen ermöglicht 62 . Sein Optimismus schließlich fi ndet<br />

seinen Ausdruck in dem von ihm erreichten Gleichgewicht zwischen allgemeinen<br />

(philosophischen) Konstruktionen und dem positiven Recht 63 sowie<br />

in seinem Bemühen und seiner Hingabe als Dozent, die sich in der Überzeugungskraft<br />

seines Denkens, der Bildung einer auf seinen Lehren basierenden<br />

juristischen Schule und den 50 Jahren juristischer Lehrtätigkeit zeigt.<br />

Diese sieht Goldschmidt nicht in erster Linie als fachliche Herausforderung<br />

an, sondern als mit der Natur des Rechts selbst zusammenhängend, die ihrerseits<br />

mit dem Schicksal der menschlichen Natur verwandt ist 64 .<br />

nisches ZGB) eine nach dem ausländischen Ort der Eheschließung nichtige Ehe – beispielsweise<br />

zwischen Personen verschiedener Rasse oder Religion – zu korrigieren. Vgl. Goldschmidt<br />

Nr. 154a (S. 252).<br />

59 Angewendet vom Obersten Gerichtshof Argentiniens im Fall Emilia Cavura de Vlasof v.<br />

Alejandro Vlasof vom 21. 3. 1960, Fallos de la Corte Suprema de Justicia de la Nación 246:87<br />

(1960), Jur. Arg. (1960-III) 216 ff., mit Anmerkung von Werner Goldschmidt, La jurisdicción<br />

internacional argentina en materia matrimonial y las Naciones Unidas: La ley 98 (1960) 287–<br />

294.<br />

60 Vgl. Goldschmidt Nr. 142.<br />

61 Siehe Goldschmidt Nr. 106.<br />

62 Siehe Goldschmidt Nr. 16, 154, 367; ders., El orden público internacional (O. P. I.) en el<br />

derecho internacional privado (D. I.Pr.): El derecho 109 (1984) 889–894.<br />

63 Vgl. Batiffol (oben N. 17) 237.<br />

64 Vgl. Perugini de Paz y Geuse (oben N. 7) 1006–1007. Siehe auch Miguel Ángel Ciuro Caldani,<br />

El científi co y el técnico del derecho, Werner Goldschmidt, modelo de científi co del<br />

derecho: Boletín del Centro de investigaciones de fi losofía jurídica y fi losofía social de la<br />

Universidad Nacional de Rosario 23 (1998) 31 ff.


616 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />

IX. Die Vereinheitlichung und Kodifi zierung<br />

des Internationalen Privatrechts<br />

Ein letzter Punkt, auf den wir sehr kurz eingehen möchten, umfasst<br />

Goldschmidts Beitrag zur Kodifi zierung. Er hat immer die Notwendigkeit<br />

eines einheitlichen Gesetzes für das IPR betont, um Argentinien am amerikanischen<br />

und am globalen Integrationsprozess zu beteiligen, der logischerweise<br />

einer juristischen Harmonisierung bedarf 65 . Im Bewusstsein der<br />

Schwierigkeit dieser Aufgabe schlug Goldschmidt auch konkrete Maßnahmen<br />

zu ihrer Überwindung vor. Ohne das Ziel eines Einheitsgesetzes aufzugeben,<br />

hielt er es für einfacher, die »Grundlagen für ein Modellgesetz« zu<br />

fi nden, das die bestehenden Abkommen zwischen den Unterzeichnerstaaten<br />

in Kraft lässt und in dem die folgenden, unverzichtbaren Leitlinien enthalten<br />

sind: der Wohnsitz als prinzipielle Anknüpfung, die Rettung der Einheit<br />

des Falls vor der Aufspaltung sowie die Achtung des ausländischen Elements<br />

66 . Bezüglich des internen Rechts forderte Goldschmidt angesichts der<br />

Verstreutheit der Normen des IPR im normativen Chaos Argentiniens seine<br />

Kodifi zierung 67 .<br />

Sein »Vorentwurf für die Grundlagen eines Einheitsgesetzes (oder eines<br />

Einheitsabkommens oder eines Modellgesetzes) für das Internationale Privatrecht«<br />

(»Anteproyecto de bases de una ley uniforme [o de un convenio<br />

unifi cador normal o de una ley tipo] de Derecho Internacional Privado«)<br />

von 1969 68 und sein »Entwurf für ein Gesetzbuch des Internationalen Privatrechts«<br />

(»Proyecto de Código de Derecho Internacional Privado«) von<br />

1974 69 (dessen allgemeine Merkmale mit denen des Einheitsgesetzes übereinstimmen),<br />

haben die Arbeit der Interamerikanischen Spezialkonferenzen<br />

zum Internationalen Privatrecht stark beeinfl usst. Diese Spezialkonferenzen<br />

werden von der Organisation Amerikanischer Staaten etwa alle sechs Jahre<br />

durchgeführt und haben verschiedene Konventionen, Protokolle, Modellgesetze<br />

und Einheitsdokumente hervorgebracht. In jüngerer Zeit wurde ein<br />

65 Vgl. Alejandro Menicocci, Werner Goldschmidt y la codifi cación del derecho internacional<br />

privado: Investigación y docencia 15 (1990) 23–33.<br />

66 Vgl. Menicocci (vorige Note) 26.<br />

67 1955 veröffentlichte Goldschmidt eine Arbeit, in der er den Wunsch ausdrückte, das<br />

argentinische Internationale Privatrecht zu kodifi zieren und zu aktualisieren. Darin ist auch<br />

ein Kodifi kationsentwurfs enthalten. Vgl. Werner Goldschmidt, Reforma del Derecho Internacional<br />

Privado argentino: Rev. Fac. Tucumán 12 (1955) 169–213. Siehe auch Menicocci (oben<br />

N. 65) 26–27.<br />

68 Veröffentlicht bei Werner Goldschmidt, Estudios iusprivatistas internacionales (Rosario<br />

1969) 163 ff.<br />

69 Mit Mehrheit gebilligt am 2. 12. 1974 von der durch die Entscheidung 425/74 des Justizministeriums<br />

eingesetzten Kommission; veröffentlicht in: Gaceta del notariado 65 (1975)<br />

93–126; erneut abgedr. bei: Alexander Makarov, Quellen des Internationalen Privatrechts 3 (Tübingen<br />

1978) 40 ff., und bei Goldschmidt S. 668–691.


72 (2008)<br />

in memoriam werner goldschmidt<br />

617<br />

Entwurf für ein Gesetzbuch des IPR von verschiedenen Lehrstuhlinhabern<br />

der argentinischen Universitäten vorbereitet und am 14. Mai 2003 70 dem<br />

Ministerium für Justiz, Sicherheit und Menschenrechte vorgelegt. All dies<br />

legt beredtes Zeugnis ab von der in Goldschmidts Entwürfen enthaltenen<br />

Weisheit 71 .<br />

X. Nachwort<br />

Zwei Jahrzehnte nach dem Tod von Werner Goldschmidt kann nicht mit<br />

Sicherheit behauptet werden, dass die Theorie der Dreidimensionalität weiterhin<br />

als die vorherrschende Schule des Internationalen Privatrechts in Argentinien<br />

anzusehen ist, oder dass die Mehrheit der zeitgenössischen Autoren<br />

seinen Lehrmeinungen folgen würde 72 .<br />

Tatsache ist, dass Goldschmidts Auffassungen von führenden Wissenschaftlern<br />

aus Argentinien und dem Ausland stark angegriffen wurden. So<br />

kritisiert beispielsweise Diego Fernández Arroyo von der Universidad<br />

Complutense in Madrid die exzessive Starrheit der Struktur Goldschmidts,<br />

die – zusammen mit ihrem übertriebenen Einfl uss auf die Lehrmeinung in<br />

Argentinien – die Entwicklung anderer und neuerer Lehrmeinungen behindert<br />

habe. Der an der Universität Buenos Aires lehrende Antonio Boggiano<br />

griff in erster Linie das Monopol der Wahlmethode (der indirekten Norm)<br />

an, das die schöpferischen Methoden (der materiellen Normen) und die<br />

Selbstbeschränkung (der Polizeinormen) vernachlässige, die bei der Lösung<br />

eines internationalprivatrechtlichen Falles zu beachten sein könnten; weiterhin<br />

kritisierte er den Ausschluss der Themen der internationalen Zuständigkeit<br />

und der Anerkennung ausländischer Urteile vom Gegenstand des IPR 73 .<br />

Alberto Juan Pardo – seinerzeit Professor der Universität von Buenos Aires<br />

– hat die Fehler der Rechtsbrauchtheorie aufgezeigt, speziell die Prämisse,<br />

70 Beendet durch die Entscheidung 191/02 der vom Ministerium für Justiz und Menschenrechte<br />

eingesetzten Kommission, verlängert durch die Entscheidung 144/02 des Ministeriums<br />

für Justiz, Sicherheit und Menschenrechte. Neben anderen Vorschlägen Goldschmidts<br />

übernimmt der neue Kodifi kationsentwurf die Qualifi kation der Anknüpfungspunkte durch<br />

die lex fori und der übrigen von der Kollisionsnorm verwendeten Merkmale durch die lex<br />

causae (Art. 6), den Rechtsbrauch (Art. 11), seine Konzeption des ordre public als eine Gesamtheit<br />

von Prinzipien (Art. 14), den Notgerichtsstand (Art. 18) und die Einheit der Erbfolge<br />

(Art. 119) und des Konkurses (Art. 124).<br />

71 Siehe Menicocci (oben N. 65) 30–31.<br />

72 Ein Grund dafür ist der wachsende Einfl uss des Methodenpluralismus, der von Boggiano<br />

in Argentinien eingeführt wurde. Vgl. Antonio Boggiano, Del viejo al nuevo derecho internacional<br />

privado, Mediante la cooperación de las organizaciones internacionales (Buenos<br />

Aires 1981) 73 ff.<br />

73 Vgl. Boggiano I (oben N. 52) 82, 167–178. Mit einem ähnlichen Gedankengang: Diego<br />

Fernández Arroyo, Derecho internacional privado, Una mirada actual sobre sus elementos esenciales<br />

(Córdoba 1998) 28–39, 87–91.


618 mario j. oyarzábal RabelsZ<br />

auf der sie basiert (dass die ausländischen Gesetze ihren juristischen Wert<br />

verlieren, wenn sie exterritorialisiert werden) 74 .<br />

Diese Kritiken haben ihre Berechtigung, und in vielen Fällen teilen wir<br />

sie 75 . Gleichzeitig macht die umfangreiche Literatur zu Goldschmidts Werk<br />

seine Bedeutung deutlich. In Argentinien berufen sich selbst seine Kritiker<br />

in größerem oder geringerem Umfang auf seine Lehren, und es gibt nur<br />

wenige, die zu Recht von sich behaupten können, nicht seine Schüler zu<br />

sein 76 .<br />

Summary<br />

Werner Goldschmidt’s Private International Law: In Memoriam<br />

This article pays tribute to German-Argentine Private International Law<br />

Professor Werner Goldschmidt on the twentieth anniversary of his death.<br />

Born and educated in Germany, Goldschmidt dedicated most of his professional<br />

life to teaching, research and writing in Argentina, where he had a<br />

very strong and long-lasting infl uence which extended throughout Latin-<br />

America<br />

His world-renowned court-like doctrine (teoría del uso jurídico) – according<br />

to which confl ict rules mandate courts not to apply foreign law but<br />

rather to imitate the fact of the probable judgment of the foreign court – leads<br />

the way in many if not most of the region’s domestic PIL systems and has<br />

74 Vgl. Alberto Juan Pardo, Derecho internacional privado, Parte general (Buenos Aires<br />

1976) 245–250; er beruft sich auf die Kritik von Dimitrios Evrigenis, L’Application d’un droit<br />

étranger-Contribution à la théorie générale du droit international privé (Salonique 1956)<br />

(Original in griechischer Sprache; französische Zusammenfassung von Phocion Francescakis, in:<br />

Rev. crit. d. i.p. 1957, 526 ff., 531–532); sie wurde von Adolfo Miaja de la Muela, Derecho internacional<br />

privado-Parte general I (Madrid 1970) 345 ff. aufgenommen und vertieft. Goldschmidt<br />

versucht, sie in seinem Aufsatz zu widerlegen: Goldschmidt, Jacques Maury et les aspects<br />

philosophiques du droit international privé, in: Mélanges offerts à Jacques Maury (Paris<br />

1960) 157–160. Der »ausländische Rechtsbrauch« ist die These Goldschmidts, die am meisten<br />

Aufmerksamkeit – und die stärkste Kritik – in der ausländischen Lehrmeinung erregt hat. Vgl.<br />

neben der bereits genannten Literatur die Einwände von Jacques Maury, Règles générales des<br />

confl its de lois: Rec. des Cours 57 (1936-III) 389–391; Henri Batiffol, Aspects philosophiques<br />

du droit international privé (Paris 1956) 111–112.<br />

75 Eine kritische Analyse des Werks von Goldschmidt überschreitet die Grenzen eines<br />

Aufsatzes zu Ehren des Autors und würde auch teilweise seiner Absicht widersprechen.<br />

76 Vgl. beispielsweise Antonio Boggiano, La doble nacionalidad en derecho internacional<br />

privado (Buenos Aires 1973) (übernimmt die Dreidimensionalität als Darstellungsmethode);<br />

Boggiano (oben N. 52) I 78 (nennt Goldschmidt »meinen Lehrmeister«), 443–495 (geht bei der<br />

Darstellung der allgemeinen Probleme des internationalen Rechts von der Struktur der Kollisionsnorm<br />

aus), 477–482 (ersetzt bei der Defi nition und Anwendung des ausländischen<br />

Rechts die Rückverweisung durch den ausländischen Rechtsbrauch).


72 (2008)<br />

in memoriam werner goldschmidt<br />

619<br />

ultimately been incorporated in the Inter-American Convention on General<br />

Rules of Private International Law (CIDIP-II).<br />

Other contributions of Goldschmidt to Confl icts theory include his Normological<br />

Method – beginning always with the analysis of the norms and its<br />

orders – which forms part of his Tridimensional Conception, a doctrine of<br />

Philosophy of Law assuming that when we analyze the juridical world we<br />

ought to take into consideration its normological dimension together with<br />

its sociological and its dikelogical ones. Also, Goldschmidt’s active promotion<br />

of both codifi cation and the »positive tolerance« of foreign law is to a<br />

large extent responsible for the slow but tangible erosion of traditional territorialism<br />

in Latin-American Private International Law in the last few decades.<br />

Goldschmidt’s doctrines have not been exempt from criticism either in<br />

Argentina or abroad. Nonetheless, the extensive literature addressing these<br />

theories is testimony to a creative genius upon which this article sheds further<br />

light.


Literatur<br />

I. Buchbesprechungen<br />

Mestmäcker, Ernst-Joachim: Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union.<br />

Beiträge zu Recht, Theorie und Politik der europäischen Integration. 2.<br />

ergänzte Aufl . – (Baden-Baden:) Nomos (2006). 800 S. (Wirtschaftsrecht<br />

und Wirtschaftspolitik. Bd. 184.)<br />

Wirtschaft und Verfassung sind in der Europäischen Union aufs Engste verbunden.<br />

Den Verfassungscharakter des Primärrechts sieht Mestmäcker besonders<br />

in der »Transformation völkerrechtlicher Pfl ichten der Mitgliedstaaten in subjektive<br />

Rechte der Bürger, die gerichtlich durchsetzbar sind« (van Gend & Loos;<br />

S. 79, 92 f., 173, 513, 559, 561 f.), begründet. Für die Wirtschaftsverfassung der<br />

Europäischen Gemeinschaft kennzeichnend sind die Privatautonomie, wie sie<br />

den Grundfreiheiten zugrunde liegt, sowie die offene Marktwirtschaft und das<br />

System des unverfälschten Wettbewerbs, die besonders durch das EG-Wettbewerbsrecht<br />

geschützt werden. Hier kommen die von Franz Böhm und Walter<br />

Eucken gelegten ordnungstheoretischen Grundlagen der Gemeinschaft zum<br />

Vorschein (290, 560 f.). Damit ist zugleich der Grund gelegt für eine Privatrechtsgesellschaft<br />

(Böhm), denn »eine Gesellschaft [wird] im gleichen Maße zur<br />

Privatrechtsgesellschaft, in dem an die Stelle von Privilegien, Vorrechten oder<br />

staatlicher Planung das Prinzip der Handlungsfreiheit tritt« (169). Die Ordnung<br />

entwickelt sich hier aus einem System zweckunabhängiger allgemeiner Regeln<br />

(spontane Ordnung im Sinne v. Hayeks), nicht durch Organisation oder eine<br />

planvolle Lenkung (123) oder eine »mit Bewusstsein vorgenommene Regulierung«<br />

(121 f., 291). Kennzeichen der Gemeinschaft ist dementsprechend eine<br />

institutionelle und indirekte (im Gegensatz zur personellen und direkten) Rahmensetzung,<br />

wie sie dem »Recht in der offenen Gesellschaft« (168–175) entspricht.<br />

Zu diesem Rahmen gehört in einer offenen Marktwirtschaft zentral das<br />

Wettbewerbsrecht als Kartellrecht, besonders aber auch als Beschränkung staatlicher<br />

Marktintervention. Freilich: »Eine Rechtsordnung, die Freiheitsrechte<br />

garantiert, setzt [. . .] die Bereitschaft voraus, die in Zukunft anhand seiner Regeln<br />

zu treffenden Entscheidungen zu akzeptieren, obwohl der Ausgang für alle<br />

ungewiss ist. Der ›Schleier der Unwissenheit‹ ( John Rawls) erweist sich auch<br />

empirisch als eine wichtige Bedingung der Rechtsetzung und der Lösung von<br />

Interessenkonfl ikten anhand von Rechtsregeln.« (172 f.). Eben diese Bereitschaft,<br />

die Ergebnisse der Freiheitsverfassung zu akzeptieren, ist das Verdienst<br />

der Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft. Sie scheint jedoch abzunehmen<br />

und einem größeren Vertrauen in staatliche Wirtschaftspolitik zu weichen.<br />

Dahinter steht die »durch nichts gerechtfertigte Annahme, dass Politiker<br />

oder Beamte besser als Unternehmen in der Lage sind, unter Bedingungen der<br />

Unwissenheit zu planen« (172).<br />

RabelsZ Bd. 72 (2008) S. 620–661<br />

© 2008 Mohr Siebeck – ISSN 0033-7250


72 (2008)<br />

literatur<br />

621<br />

Der Band versammelt eine Vielzahl von Einzelbeiträgen, von denen die<br />

meisten aus den Jahren 1993–2005 stammen, einige (zum Kartellrecht) aber aus<br />

den Jahren 1965–1968. Sie betreffen ganz überwiegend Grundfragen der europäischen<br />

Einigung und des EG-Kartellrechts, auf die auch Spezialfragen, etwa<br />

zum Urheber- und Medienrecht, zurückgeführt werden. Kennzeichen der Beiträge<br />

ist es, dass Mestmäcker auch scheinbare Einzelfragen im Rahmen der Verfassung<br />

von Gemeinschaft und Wirtschaft sieht: So zum Beispiel wenn er die<br />

»Beschäftigungspolitik als neue Aufgabe der Europäischen Union« (310–326) in<br />

ihrer Bedeutung für »Soziale Marktwirtschaft und Europäisierung des Rechts«<br />

(288–309) auslotet oder die »Daseinsvorsorge« (100–115 sowie 116–132; auch<br />

94 f.) in ihren Implikationen würdigt. Der Sinn fürs Prinzipielle, für die Auswirkungen<br />

punktueller Änderungen auf das Gesamtsystem, eröffnet weitsichtige<br />

Perspektiven. Was die Einzelbeiträge zu einem Ganzen vereint, was sie von<br />

dem jeweiligen Anlass emanzipiert und was zugleich ihre Halbwertzeit deutlich<br />

erhöht, das ist ihre rechtsphilosophische und ordnungspolitische Grundlegung.<br />

»Seit 40 Jahren sucht Europa in seinen organisierten Teilen nach seiner Identität.<br />

Diese Zeit entspricht recht genau dem Teil meines Lebens, in dem ich das<br />

Glück hatte, wissenschaftlich arbeiten zu können«, schreibt Mestmäcker 1997.<br />

Wir haben das Glück, dass er diese Arbeit fortführt und weiterhin an der Gestaltung<br />

des (Europa-)Rechts mitwirkt. Für jeden, der an den Grundlagen des<br />

Gemeinschaftsrechts und des Wirtschafts- und Privatrechts interessiert ist, ist<br />

der Band eine wahre Fundgrube.<br />

Bochum Karl Riesenhuber<br />

Francq, Stéphanie: L’applicabilité du droit communautaire dérivé au regard des<br />

méthodes du droit international privé. (Zugl.: Louvain, Univ., Diss.). – Bruxelles:<br />

Bruylant; Paris: LGDJ 2005. XIV, 722 S. (Bibliothèque de la Faculté<br />

de droit de l’Université catholique de Louvain. 46.)<br />

Wie wird der räumliche Anwendungsbereich einer Norm bestimmt? Das<br />

Internationale Privatrecht stellt zur Beantwortung dieser Frage im Wesentlichen<br />

zwei Methoden zur Verfügung: die auf die mittelalterliche Statutentheorie zurückgehende<br />

unilaterale Methode einerseits und die von Friedrich Carl v. Savigny<br />

im 19. Jahrhundert begründete multilaterale Methode andererseits. 1 Beide Methoden<br />

unterscheiden sich fundamental. Während der Unilateralismus bei der<br />

Norm ansetzt und durch Auslegung ermittelt, ob sie auf einen bestimmten Lebenssachverhalt<br />

räumlich Anwendung fi nden will, ist für den Multilateralismus<br />

1 Zum historischen Hintergrund von Unilateralismus und Multilateralismus, insbesondere<br />

zur Statutentheorie und zur Kollisionsrechtslehre von Friedrich Carl v. Savigny, siehe Rudolf<br />

de Nova, Historical and Comparative Introduction to Confl ict of Laws: Rec. des Cours 118<br />

(1966) 433 (443–448, 453–464); Gerhard Kegel/Klaus Schurig, Internationales Privatrecht 9<br />

(2004) 166–168 und 181–185; Friedrich K. Juenger, A Page of History: Mercer L. Rev. 35 (1984)<br />

419 (424–430, 448–454). Siehe auch Symeon C. Symeonides, General Report, in: Private International<br />

Law at the End of the 20 th Century: Progress or Regress?, hrsg. von dems. (1998) 3<br />

(9–21).


622 literatur RabelsZ<br />

der Lebenssachverhalt der Ausgangspunkt. Dieser wird mit Hilfe von Kollisionsnormen<br />

einer bestimmten Rechtsordnung und damit einer bestimmten<br />

Norm zugeordnet, die dann unabhängig von ihrem Anwendungswillen anzuwenden<br />

ist.<br />

In Europa dominiert bei der Bestimmung des räumlichen Anwendungsbereichs<br />

einer Norm seit dem 19. Jahrhundert – nach herrschender Auffassung –<br />

die zuletzt beschriebene multilaterale Methode. Dem Unilateralismus wird<br />

demgegenüber lediglich eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Mit der hier zu<br />

besprechenden Arbeit macht sich Stéphanie Francq daran, <strong>dieses</strong> Bild von der<br />

»multilateralen« Festung Europas zu widerlegen – ein Anliegen, das zwar zunächst<br />

überrascht, aber bei näherer Betrachtung seine Berechtigung hat. Denn<br />

Francq widmet sich Normen, die bislang noch nicht unter dem Gesichtspunkt<br />

der kollisionsrechtlichen Dialektik von Unilateralismus und Multilateralismus<br />

untersucht worden sind: den Normen des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts.<br />

Ausgehend von der Beobachtung, dass zahlreiche Verordnungen und<br />

Richtlinien ihren räumlichen Anwendungsbereich selbst bestimmen, stellt sie<br />

die Frage, wie sich das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht insgesamt zu den<br />

beiden oben beschriebenen kollisionsrechtlichen Methoden verhält. Sie betrachtet<br />

die einschlägigen Regelungsakte damit nicht nur aus einer vollkommen<br />

neuen Perspektive, sondern beleuchtet darüber hinaus eine bislang kaum beachtete<br />

Schnittstelle zwischen Gemeinschaftsrecht und Kollisionsrecht. Durch die<br />

ausführliche Beschäftigung mit Grundfragen kollisionsrechtlicher Methodik im<br />

Kontext des Gemeinschaftsrechts leistet sie gleichzeitig einen bedeutenden Beitrag<br />

zur aktuellen Diskussion über die Zukunft des Kollisionsrechts in Europa.<br />

Die Arbeit von Francq gliedert sich in eine Einleitung (S. 5–65) und drei<br />

Hauptteile (67–652). In der Einleitung, die den Leser sofort in ihren Bann zieht,<br />

stellt sie zunächst das Anliegen ihrer Arbeit dar. Sie beginnt, indem sie drei<br />

Vorschriften aus unterschiedlichen Bereichen des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts<br />

im Wortlaut wiedergibt und die Frage stellt, was diesen Bestimmungen<br />

gemein ist. Der Leser erkennt sofort: Alle drei Vorschriften bestimmen die<br />

Voraussetzungen, unter denen sie räumlich Anwendung fi nden. Francq nimmt<br />

diese Beobachtung zum Ausgangspunkt für die provokative These, dass das<br />

gesamte sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht seinen räumlichen Anwendungsbereich<br />

selbst bestimmt und damit aus der Sicht kollisionsrechtlicher Methodik<br />

einem unilateralen Ansatz folgt. Bevor sie dieser These im Einzelnen nachgeht,<br />

ordnet sie ihr Thema jedoch in den größeren systematischen und methodischen<br />

Zusammenhang ein: Auf nur wenigen Seiten spannt sie souverän den Bogen<br />

von der Bestimmung des Anwendungsbereichs von Normen im Allgemeinen<br />

(7–14) über die Bestimmung des räumlichen Anwendungsbereichs von Normen<br />

des Privatrechts (15–42) zur Bestimmung des räumlichen Anwendungsbereichs<br />

von Normen des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts (42–65). Dabei geht sie<br />

insbesondere auf die für ihre Untersuchung wichtigen Aspekte des Unilateralismus<br />

sowie des Multilateralismus ein und weist auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten<br />

einerseits sowie Unvereinbarkeiten und Überschneidungen andererseits<br />

hin. Sie betont, dass sich beide Methoden zur Bestimmung des räumlichen<br />

Anwendungsbereichs von Normen zwar theoretisch ausschließen, in der Praxis<br />

häufi g jedoch harmonisch nebeneinander existieren. Als prominenteste Bei-


72 (2008)<br />

literatur<br />

623<br />

spiele nennt sie international zwingende Normen (lois de police), die von der<br />

multilateralen Methode anerkannt werden, obwohl sie ihren räumlichen Anwendungsbereich<br />

im Sinne des Unilateralismus selbst bestimmen.<br />

Im ersten und zweiten Hauptteil (67–475) macht sich Francq dann an den<br />

Nachweis ihrer These und untersucht das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht<br />

aus dem Blickwinkel kollisionsrechtlicher Methodik. Minutiös und unter umfassender<br />

Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur arbeitet sie die<br />

einschlägigen Akte des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts auf den Gebieten<br />

des Wettbewerbsrechts (69–176), des Transportrechts (177–273), des Verbraucherrechts<br />

(281–363), des Arbeitsrechts sowie des Handelsvertreterrechts (365–<br />

419) auf und untersucht, wie diese die Anwendbarkeit der einschlägigen Normen<br />

bestimmen. Dabei geht sie im ersten Hauptteil zunächst auf die einschlägigen<br />

Verordnungen und damit auf die Rechtsakte mit unmittelbarer Geltung<br />

ein (67–273). Im zweiten Hauptteil wendet sie sich den relevanten Richtlinien<br />

und damit den lediglich mittelbar geltenden Rechtsakten zu (275–475). Nach<br />

genauer und präziser Auswertung des in seiner Masse schier überwältigenden<br />

Materials kommt sie zu einem ebenso überraschenden wie eindeutigen Ergebnis:<br />

Alle Verordnungen und Richtlinien des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts<br />

bestimmen ihren Anwendungsbereich – explizit oder implizit – selbst,<br />

und zwar unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Regelungsinhalte und Regelungsziele.<br />

Das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht folgt damit – aus der Sicht<br />

kollisionsrechtlicher Methodik – einem unilateralen Ansatz.<br />

Francq lässt es allerdings nicht bei diesem – rein positiven Befund – bewenden.<br />

Vielmehr bemüht sie sich im dritten und letzten Hauptteil (477–652) um<br />

eine Erklärung des beobachteten Phänomens. Dabei untersucht sie zunächst, ob<br />

sich die Dominanz des Unilateralismus im sekundären Gemeinschaftsprivatrecht<br />

aus dem (europarechtlichen) Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung<br />

oder der (kollisionsrechtlichen) Theorie der Eingriffsnormen ergibt. Beides<br />

verneint sie jedoch: Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gebe lediglich<br />

den Rahmen vor, in dem sich das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht<br />

im Hinblick auf seinen räumlichen Anwendungsbereich zu bewegen habe, mache<br />

aber keine Vorgaben hinsichtlich seiner methodischen Bestimmmung (481–<br />

536). Die kollisionsrechtliche Theorie der Eingriffsnormen könne nicht erklären,<br />

dass die Bestimmungen des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts, selbst<br />

wenn sie räumlich Anwendung fänden, durch Parteivereinbarung abbedungen<br />

werden könnten (537–576). Francq stellt deshalb die These auf, dass lediglich die<br />

Normqualität des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts und damit der Anspruch<br />

des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts auf normative Geltung die<br />

Dominanz des Unilateralismus erklären könne (577–587). Das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht<br />

sei als System von Normen zu verstehen, das sich an<br />

Rechtssubjekte wende und von diesen Gefolgschaft verlange. Es müsse deshalb<br />

notwendigerweise auch seinen eigenen räumlichen Anwendungsbereich bestimmen.<br />

Die zu beobachtende Dominanz des Unilateralismus ergebe sich folglich<br />

daraus, dass sich das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht als (partielles)<br />

unilaterales Kollisionsrechtssystem darstelle, wie es von namhaften »Unilateralisten«,<br />

insbesondere Rolando Quadri bereits seit langer Zeit gefordert werde<br />

(588–599).


624 literatur RabelsZ<br />

Aber auch mit der Erklärung des im ersten und zweiten Hauptteil beobachteten<br />

Phänomens bleibt die Autorin nicht stehen. Sie geht erneut einen Schritt<br />

weiter, indem sie sich bemüht, sowohl das Phänomen als auch ihre Erklärung<br />

normativ zu rechtfertigen. Kritisch setzt sie sich zu diesem Zweck mit dem<br />

Unilateralismus im Allgemeinen und dem Unilateralismus des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts<br />

im Besonderen auseinander und versucht, die Argumente<br />

zu widerlegen, die gegen die unilaterale Methode klassischerweise ins<br />

Feld geführt werden (600–621). Ausführlich legt sie dar, dass weder das angeblich<br />

fehlende Bewusstsein des Gesetzgebers für den räumlichen Anwendungsbereich<br />

einer Norm, noch die notwendige Auffangfunktion der lex fori<br />

in Fällen, in denen kein Recht Anwendung beansprucht, den Unilateralismus<br />

des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts treffen können (601–609). Ebenso<br />

ausführlich begründet sie, dass sich der Unilateralismus nicht deswegen in innere<br />

Widersprüche verwickelt, weil er in Fällen, in denen nur eine Norm<br />

Anwendung beansprucht (»unechte« Konfl ikte), im Kern eine multilaterale<br />

Kollisionsnorm zur Anwendung bringt (609–613). Probleme erkennt die Autorin<br />

im Unilateralismus lediglich insofern, als er Fälle nicht lösen kann, in<br />

denen mehrere Normen Anwendung beanspruchen (»echte« Konfl ikte), und<br />

insofern, als er die lex fori durch die Etablierung eines Anwendungsvorrangs<br />

bevorzugt (614–621). Da sie beide Probleme allerdings im Kontext des sekundären<br />

Gemeinschaftsprivatrechts für lösbar hält, begrüßt sie den im ersten und<br />

zweiten Hauptteil gefundenen Trend zum Unilateralismus und die damit einhergehende<br />

Entwicklung eines (partiellen) unilateralen Kollisionsrechtssystems.<br />

Die Arbeit von Francq stellt sich insgesamt als beeindruckende Analyse des<br />

sekundären Gemeinschaftsprivatrechts unter dem Gesichtspunkt kollisionsrechtlicher<br />

Methodik dar. Mit ebenso großer sprachlicher Brillianz wie inhaltlicher<br />

Überzeugungskraft weist sie nach, dass die wesentlichen Akte des sekundären<br />

Gemeinschaftsprivatrechts – entweder ausdrücklich oder konkludent –<br />

ihren Anwendungsbereich selbst bestimmen, und zeigt damit, dass der räumliche<br />

Anwendungsbereich europäischer Normen nicht nur mit Hilfe der multilateral<br />

ausgerichteten Kollisionsnormen Savigny’scher Prägung ermittelt werden, sondern<br />

auch mit Hilfe des unilateralen Ansatzes. Nicht ganz überzeugen können<br />

ihre Ausführungen allerdings dort, wo sie über diesen positiven Befund hinausgeht.<br />

Im Hinblick auf ihre »Erklärung« für das beobachtete Phänomen fällt<br />

zunächst auf, dass es sich nicht wirklich um eine Erklärung handelt, die Aufschluss<br />

über die Hintergründe und Ursachen der unilateralen Tendenz des sekundären<br />

Gemeinschaftsprivatrechts geben würde. Dass sich das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht<br />

als (partielles) unilaterales System im Sinne von Quadri<br />

darstellt, ist vielmehr eine Deutung, die nur dann überzeugt, wenn man den<br />

Unilateralismus als kollisionsrechtliche Methode anerkennt, wenn man also davon<br />

ausgeht, dass Normen aufgrund ihrer Normqualität stets ihren eigenen<br />

räumlichen Anwendungsbereich bestimmen. Tut man dies nicht, ist der Hinweis<br />

auf die Normqualität des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts nicht geeignet,<br />

Aufschluss darüber zu geben, warum Richtlinien und Verordnungen auf<br />

dem Gebiet des Privatrechts ihren räumlichen Anwendungsbereich selbst bestimmen.<br />

Ihre »Erklärung« läuft damit »ins Leere«.


72 (2008)<br />

literatur<br />

625<br />

Aber nicht nur die »Erklärung« der unilateralen Tendenz des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts<br />

an sich, auch der Versuch einer normativen Rechtfertigung<br />

des Unilateralismus kann nicht voll umfassend überzeugen. Ausschlaggebend<br />

dafür ist, dass sich die Autorin hier lediglich mit den »klassischen« – theoretischen<br />

– Argumenten gegen den Unilateralismus beschäftigt und mit großer<br />

Akribie und argumentativer Ausführlichkeit darlegt, warum sie sowohl im Allgemeinen<br />

als auch im Kontext des sekundären Gemeinschaftsprivatrechts nur<br />

bedingte Überzeugungskraft haben. Auf zwei für die Praxis entscheidende<br />

Punkte geht sie allerdings nicht ein: Zunächst lässt sie unerwähnt, dass ein unilateraler<br />

Ansatz mit erheblichen praktischen Schwierigkeiten und deshalb mit<br />

immensen Kosten einhergeht. Ein Gericht, das mit der Lösung eines grenzüberschreitenden<br />

Sachverhalts befasst ist, muss nämlich alle in Betracht kommenden<br />

Rechtsordnungen nach ihrem Anwendungswillen »absuchen« und – falls es an<br />

dahingehenden ausdrücklichen Regelungen fehlt – jede möglicherweise einschlägige<br />

ausländische Norm unter Berücksichtigung ihres Regelungsinhalts<br />

und ihres Regelungszwecks auf ihren Anwendungswillen hin auslegen. Unabhängig<br />

davon, dass Gerichte regelmäßig weder über die dafür erforderliche –<br />

rechtvergleichende – Ausbildung noch über die notwendigen Ressourcen verfügen,<br />

dürfte klar sein, dass ein derartiger Ansatz die Rechtsermittlungs- und<br />

die Rechtsanwendungskosten zu Lasten der Parteien und des Steuerzahlers in<br />

nahezu unermessliche Höhe treibt. 2 Damit einher geht ein zweites Problem, das<br />

Francq in ihrer Arbeit nicht behandelt, nämlich die jedem unilateralen Ansatz<br />

innewohnende Tendenz zum »Heimwärtsstreben« und damit zur Bevorzugung<br />

der lex fori. Zwar setzt sie sich ausführlich mit der Bevorzugung der lex fori<br />

durch den Unilateralismus auseinander, die dadurch entsteht, dass dem Anwendungswillen<br />

der lex fori stets Vorrang eingeräumt wird (616–620). Außen vor<br />

lässt sie allerdings, dass die Bevorzugung der lex fori nicht nur ausdrückliches<br />

Programm des Unilateralismus ist, sondern in vielen Fällen auch ungewollte<br />

Folge. Denn die Verpfl ichtung zur aufwendigen Ermittlung des Anwendungswillens<br />

aller möglicherweise einschlägigen Normen, an deren Ende die Anwendung<br />

einer ausländischen, dem Gericht unbekannten Vorschrift stehen kann,<br />

wird vor dem Hintergrund der in die Kenntnis des eigenen Rechts getätigten<br />

spezifi schen Investitionen häufi g dazu führen, dass Gerichte eine »Abkürzung«<br />

nehmen und leichtfertig auf den Anwendungswillen der ihnen bekannten lex<br />

fori schließen. 3 Dass dies kein übertriebener Pessimismus ist, zeigt sich eindrucksvoll<br />

am Beispiel der USA: Hier tendieren Richter in Bundesstaaten, die<br />

unilateralen Ansätzen wie beispielsweise der governmental interest analysis oder<br />

anderen Ansätzen der American Confl ict of Laws Revolution folgen, besonders häu-<br />

2 Siehe dazu auch Giesela Rühl, Methods and Approaches in Choice of Law, An Economic<br />

Perspective: Berkeley J. Int. L. 24 (2006) 801 (824–825).<br />

3 Siehe dazu auch Nita Ghei/Francesco Parisi, Adverse Selection and Moral Hazard in Forum<br />

Shopping, Confl ict Laws as Spontaneous Order: Cardozo L. Rev. 25 (2004) 1367 (1376);<br />

Andrew T. Guzman, Choice of Law: New Foundations: Geo. L. J. 90 (2002) 883 (896–897)<br />

und Rühl (vorige Note) 828–829.


626 literatur RabelsZ<br />

fi g zur Anwendung der lex fori. 4 Ob ein unilateraler Ansatz vor diesem Hintergrund<br />

trotzdem normativ überzeugen kann, erscheint zweifelhaft. 5<br />

Insgesamt können die zuletzt genannten Schwächen die Bedeutung der Arbeit<br />

allerdings nicht schmälern. Die ausführliche und präzise Analyse der einschlägigen<br />

Verordnungen und Richtlinien, die Francq vornimmt, erweist sich<br />

unabhängig von der Überzeugungskraft der von ihr angebotenen Erklärung<br />

und Rechtfertigung des Unilateralismus als Meilenstein für das sekundäre Gemeinschaftsprivatrecht<br />

und das europäische Kollisionsrecht. Vieles, was über<br />

Unilateralismus und Multilateralismus in Europa bislang geschrieben wurde,<br />

wird aufgrund der Erkennnisse von Francq überdacht und neu geordnet werden<br />

müssen. Darüber hinaus werden viele Fragen, die sich aus ihren Erkenntnissen<br />

ergeben, zu beantworten sein. Geklärt werden muss etwa, wie sich der Vormarsch<br />

des Unilateralismus im sekundären Gemeinschaftsprivatrecht zum Multilateralismus<br />

des im Werden begriffenen Gemeinschaftskollisionsrechts, insbesondere<br />

der Verordnungen zur Vereinheitlichung des Kollisionsrechts der vertraglichen<br />

und außervertraglichen Schuldverhältnisse (»Rom I« und »Rom II«)<br />

verhält. Stellt sich der hier zu betrachtende Trend als widersprüchlich dar? 6<br />

Muss die Rolle multilateraler Kollisionsnormen in Europa grundsätzlich überdacht<br />

werden? 7 Welchen Platz sollten Unilateralismus und Multilateralismus im<br />

Europäischen Binnenmarkt einnehmen? Sollten beide Methoden nebeneinander<br />

bestehen? 8 Oder gebührt einer Methode, namentlich dem Unilateralismus,<br />

der Vorrang? 9 Die Arbeit von Stéphanie Francq legt die Notwendigkeit zur Diskussion<br />

dieser und anderer Fragen eindrucksvoll dar und gibt wertvolle Anregungen<br />

für ihre Beantwortung. Bei der in den nächsten Jahren erforderlichen<br />

Neubetrachtung kollisionsrechtlicher Methodik im europäischen Kontext, insbesondere<br />

bei der genaueren Auslotung der möglichen Anwendungsbereiche<br />

von Unilateralismus und Multilateralismus, wird das hier besprochene Buch<br />

deshalb Ausgangspunkt und Referenzpunkt zugleich sein.<br />

Hamburg/Florenz Giesela Rühl<br />

4 Vergleiche nur die Studien von Patrick J. Borchers, The Choice-of-Law Revolution, An<br />

Empirical Study: Wash. & Lee L. Rev. 49 (1992) 357 (370–375); Michael E. Solimine, An Economic<br />

and Empirical Analysis of Choice of Law: Ga. L. Rev. 24 (1989) 49 (85, 87–88).<br />

5 Ähnlich, wenn auch nur angedeutet, Simon Schwarz, Buchbesprechung: Stéphanie<br />

Francq, L’applicabilité du droit communautaire derivé au régard des methodes du droit international<br />

privé: ZEuP 2008, 218.<br />

6 So Francq S. 453, 598.<br />

7 So Francq S. 453, 479, 599, 645.<br />

8 So die Andeutung von Francq S. 446–475, 646.<br />

9 So Francq im Hinblick auf die Verordnungen auf dem Gebiet der vertraglichen und außervertraglichen<br />

Schuldverhältnisse (»Rom I« und »Rom II«), die sie nur auf den nicht harmonisierten<br />

Bereich des Privatrechts anwenden will (S. 650).


72 (2008)<br />

literatur<br />

627<br />

Pontier, Jannet A./Edwige Burg: EU Principles on Jurisdiction and Recognition<br />

and Enforcement of Judgments in Civil and Commercial Matters according<br />

to the case law of the European Court of Justice. – The Hague: T. M. C. Asser<br />

Press (2004). X, 269 S.<br />

Gerade bei der autonomen Auslegung des europäischen Zivilprozessrechts<br />

nimmt der Europäische Gerichtshof (EuGH) gern auf Prinzipien Bezug. Es liegt<br />

daher nahe, diese zu analysieren. Das hier anzuzeigende Werk bietet eine solche<br />

Analyse anhand von 118 bis zum 1. Januar 2004 ergangenen Luxemburger Entscheidungen<br />

zum Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen<br />

(EuGVÜ).<br />

Ähnlich wie der EuGH sehen die Autorinnen dabei von der Berücksichtigung<br />

juristischer Literatur fast vollständig ab – <strong>dieses</strong> mag mit dem Selbstverständnis<br />

eines Höchstgerichts vereinbar sein, ist bei einem rechtswissenschaftlichen<br />

Text aber doch zumindest überraschend; das Nachdenken über die gerade<br />

etwa dem Zuständigkeitsrecht zugrunde liegenden Wertungen hat ja nicht<br />

erst gestern begonnen. Natürlich ist es kaum möglich, die europaweit erschienene<br />

Literatur zum Europarecht zu berücksichtigen; wer kennt <strong>dieses</strong> Dilemma<br />

nicht? Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass die Autorinnen des vorliegenden<br />

Bandes keinerlei Literatur zum EuGVÜ konsultiert haben und ihre Schlüsse aus<br />

der Rechtsprechung des EuGH sozusagen auf amateur-originalgeniehafte Weise<br />

gezogen haben. Daher würde es wissenschaftliche Redlichkeit gebieten, diese<br />

Literatur auch zu zitieren, auch und gerade um den nationalen Hintergrund<br />

der Autorinnen offenzulegen – niemand schreibt ja »rein europäisch«, jeder ist<br />

mehr oder weniger stark von einer oder mehreren Rechtstraditionen beeinfl usst<br />

– und das sollte man auch offenlegen. In der Tat hätte ein deutscher Jurist das<br />

im vorliegenden Werk errichtete Prinzipiengebäude auch in manchem Punkt<br />

anders gestaltet – gerade deshalb wäre es interessant zu erfahren, auf welchem<br />

Hintergrund es entwickelt wurde und ob und inwiefern einzelne Prinzipien so<br />

vom EuGH aus einer bestimmten Rechtstradition gewonnen oder erst von den<br />

Verfasserinnen aufgrund ihrer Vorprägung so in der Judikatur erkannt wurden.<br />

Aus Sicht unseres Rechtskreises stellt sich diese Frage deutlich etwa bei dem<br />

wohl aus dem romanischen Rechtsdenken 1 stammenden Zugang, die prozessualen<br />

Rechte des Beklagten als »Rights of the Defence« zu formulieren. Durch<br />

seine »reine« Beschränkung auf die Rechtsprechung des EuGH suggeriert das<br />

Buch freilich, »ganz autonom-europäisch« zu sein, also sozusagen die zur autonomen<br />

Auslegung durch den EuGH passende Wissenschaft darzustellen. Ja –<br />

dazu gäbe es manches zu sagen, doch nicht an dieser Stelle, weil auch das zu<br />

rezensierende Buch diesen Gedanken nicht formuliert.<br />

Literaturzitate fi nden sich freilich im ersten Kapitel der Arbeit (»The Method<br />

of Interpretation used by the Court of Justice: The Model of Principles«, S. 5–<br />

15); dort bezieht sich die Arbeit indes kaum auf europäische Autoren, vielmehr<br />

wird zur Fundierung der angewandten Methode fast ausschließlich auf die USamerikanische<br />

Rechtstheorie und hier vor allem auf Dworkin abgehoben (Alexy<br />

1 Siehe dazu rechtsvergleichend etwa Habscheid, Introduzione al diritto processuale civile<br />

comparato (1985) 151 ff.


628 literatur RabelsZ<br />

darf sich immerhin einer Erwähnung in N. 21 erfreuen). Hier kann und soll<br />

nicht refl ektiert werden, ob diese Rechtstheorie überhaupt oder in concreto der<br />

Sache gerecht wird. Die von den Autorinnen gewählte Herangehensweise ist es<br />

in diesem Zusammenhang kaum. Die Rechtsdogmatik (und diese ist Gegenstand<br />

des Buches) mag manchem bisweilen etwas wenig glamourös erscheinen;<br />

daraus resultiert dann nicht selten das Bemühen, dogmatische Werke mit aus<br />

Nachbardisziplinen geborgten »Grundlagen«-<strong>Inhalt</strong>en zu »verhübschen«, meistens<br />

am Anfang der jeweiligen Werke; früher diente hier eher die Rechtsgeschichte<br />

als Fundus, heute eher Theorie und ökonomische Analyse. Wer aus<br />

solchen Disziplinen wirklich »Grundlegendes« für die Dogmatik zu gewinnen<br />

vermag, verdient höchsten Respekt; die anderen – etwa die Verfasserinnen des<br />

vorliegenden Werks – sollten sich nicht durch vorangestellte »Theorieteile« dafür<br />

entschuldigen müssen, dass sie dann anschließend »nur« Jurisprudenz betreiben.<br />

Die von den Autorinnen vorgenommene »reine Judikaturanalyse« hat dann<br />

freilich einen erheblichen Vorteil: Gerade die überaus enge Einschränkung des<br />

Anschauungsgegenstandes – nämlich auf den Text der Begründung von EuGH-<br />

Entscheidungen – dient da und dort einem Gewinn von Klarheit. Gerade weil<br />

nur die Judikatur des EuGH dargestellt wird, und dabei auch kein Versuch unternommen<br />

wird, deren Argumente zu kritisieren, mit anderen Auffassungen<br />

zu kontrastieren oder sie weiterzuentwickeln, werden die vom EuGH herangezogenen<br />

Topoi zum Teil sehr klar dargestellt, und zwar auch und gerade (aber<br />

nicht nur!) in ihrer teilweise nicht zu übersehenden Leerformelhaftigkeit; ob<br />

<strong>dieses</strong> von den Autorinnen so bewusst bezweckt war, oder ob sie ihre Methode<br />

im Wesentlichen schon für die ganze angesichts des EuGVÜ mögliche Dogmatik<br />

halten, wird allerdings nicht recht klar; zum Teil hofft man Ersteres, zum<br />

Teil befürchtet man Letzteres.<br />

Ein typisches Beispiel stellt etwa die Diskussion des Prinzips »the defendant’s<br />

right to be heard in an appropriate court« dar; hier wird zunächst auf etwa zwei<br />

Seiten dargelegt, dass dieser »appropriate court« »ideally« jener im Wohnsitzstaat<br />

sei (55–57); auf S. 123 f. wird dann auf die Frage eingegangen, ob und inwiefern<br />

daraus folgt, dass Ausnahmen vom Grundsatz des Art. 2 eng auszulegen sind. In<br />

der Tat spielt <strong>dieses</strong> Argument in der Rechtsprechung des EuGH ja bisweilen<br />

eine Rolle, 2 aber eben nicht immer. Die Grundlagen und damit im Zusammenhang<br />

die (unklare) Tragweite <strong>dieses</strong> Grundsatzes stellen ein durchaus nicht nebensächliches<br />

Problem des europäischen Zivilprozessrechts dar. Dies wird anhand<br />

der Darstellung aber keineswegs klar – diese stellt die Judikatur des EuGH<br />

als ebenso konsistent dar, wie es der Gerichtshof selbst tut. Damit wird eine<br />

wesentliche Chance einer Judikaturanalyse vertan: Statt nüchtern Glanz und<br />

Elend der Rechtsprechung zu analysieren und damit konsistente Regeln ebenso<br />

zu identifi zieren wie Bruchlinien und Unklarheiten, wird hier versucht, ein<br />

möglichst klares »System« der Prinzipien des EuGH abzubilden, und zwar auch<br />

dort, wo die Rechtsprechung ein solches (vielleicht noch) nicht ausreichend klar<br />

hergibt.<br />

Auffällig ist die geringe Aufmerksamkeit, welche das Werk den Sachverhalten<br />

2 Vgl z. B. EuGH 20. 1. 2005, Rs. C-27/02 (Petra Engler ./. Janus Versand), Slg. 2005, I-<br />

481, Tz. 42 f.


72 (2008)<br />

literatur<br />

629<br />

und den Ergebnissen der Entscheidungen schenkt; schon in der Einleitung (2)<br />

wird bemerkt: »Our focus has not been the ultimate outcomes of the Court’s<br />

decisions, but rather on the argumentation on which they are based.« In der Tat<br />

wird hier nicht der differenzierte Umgang mit dem Entscheidungsmaterial gepfl<br />

egt, wie man ihn aus der angloamerikanischen Literatur kennt. Gerade das<br />

Gewicht der einzelnen Argumente für den »outcome« im Einzelfall und dessen<br />

Besonderheiten werden kaum abgewogen; wo sich ein Argument im Entscheidungstext<br />

fi ndet, wird es hier i.d.R. für relevant gehalten, ohne dass eine konkrete<br />

Beziehung zum im Einzelfall, aber auch allgemein mit Blick auf die Leitlinienfunktion<br />

der Rechtsprechung des EuGH angestrebten Ergebnis hergestellt<br />

wird. Damit bleibt auch einiges von der Anschaulichkeit und Lebensnähe, welche<br />

die Judikatur des EuGH in ihren Sternstunden auszeichnet, auf der Strecke.<br />

Insgesamt geht es den Autorinnen schließlich doch eher um eine Art Dogmatik<br />

des EuGVÜ und nicht bloß um eine Prinzipienanalyse anhand von Entscheidungstexten;<br />

damit wird aber eben wieder die Frage virulent, wie solches auf so<br />

schmaler Anschauungsgrundlage glücken soll. Eine ernsthafte Prinzipienlehre<br />

des europäischen Internationalen Prozessrechts sollte doch z. B. auf dessen Genese,<br />

die allgemeinen Grundsätze von Europarecht im engeren (dazu kurz S. 23)<br />

und weiteren Sinne (Europäische Menschensrechtskonvention und Europäischer<br />

Gerichtshof für Menschenrechte!), die zugrunde liegenden nationalen<br />

Traditionen und Entwicklungen und auch auf den Beitrag von nationalen Gerichten<br />

und schließlich der Rechtswissenschaft Bedacht nehmen; all das geschieht<br />

hier nicht. Das Vertrauen der Autorinnen in die Aussagekraft ihrer Ergebnisse<br />

ist freilich dennoch erheblich: Sie erarbeiten nicht weniger als ein (im<br />

Anhang gar noch tabellarisch dargestelltes) System von Prinzipien, das durchaus<br />

Anspruch auf eine gewisse Vollständigkeit und innerhalb dieser auf Konsistenz<br />

zu erheben scheint: Da gibt es »The Most General Principle« (»Legal Protection<br />

of Persons established in the Community«) und vier »Main Principles« (»Free<br />

Movement of Judgments«; »Rights of the Defence«; »Legal Certainty«; »Disputes<br />

in an Appropriate Court«), die sich wiederum in insgesamt (je nach Zählweise)<br />

etwa 30 »Sub-Principles« zergliedern. Die Gefahr, dass auf Grundlage<br />

solchen Ehrgeizes bei der Formulierung von Prinzipien schließlich »immanente<br />

Teleologien« oder dergleichen an die Stelle des eigentlich geltenden positiven<br />

Rechts treten könnten, ist unverkennbar.<br />

An mangelndem Selbstbewusstsein leiden die Autorinnen nicht. Mit Blick<br />

auf die EuGVVO wird die Bedeutung des Werks im Vorwort von ihnen selbst<br />

folgendermaßen beschrieben: »It constitutes a catalogue of arguments that will<br />

be employed by the Court to justify its interpretation of the provisions of the<br />

new regulation. As such, this book will be of great value to practitioners in international<br />

law as well as to academics and students alike.« Wahrscheinlich<br />

stimmt das sogar. Gerade dem deutschsprachigen Publikum ist das Werk durchaus<br />

zu empfehlen: Bei manchem Beitrag von Autoren unseres Rechtskreises<br />

möchte man mehr Aufmerksamkeit für die Aussagen des EuGH einmahnen –<br />

daran mangelt es Pontier und Burg gewiss nicht.<br />

Ingesamt ist zu konstatieren: Für den kundigen Leser, der die Begrenztheit<br />

des Ansatzes versteht, handelt es sich um ein sehr nützliches Werk, weil sich<br />

darin die autonom-prinzipiellen Argumentationsmuster des EuGH übersicht-


630 literatur RabelsZ<br />

lich dargestellt fi nden; ob und inwiefern diese Prinzipien dann auch wirklich<br />

»gelten« und was sie genau besagen, vermag ein solcher Leser dann durch Lektüre<br />

der einschlägigen Rechtsprechung zu überprüfen. Das Werk lädt dazu ein,<br />

die »Klassiker« aus Luxemburg wieder einmal zur Hand zu nehmen; jene, welche<br />

dies unterlassen, kann es jedoch durchaus in die Irre führen. Das Buch wäre<br />

sympathischer, würde es diese seine inhaltliche Beschränktheit deutlich refl ektieren<br />

– dann könnte man unbeschwerter sagen: »Sehr interessant, dass jemand<br />

die Judikatur einmal aus diesem Blickwinkel dargestellt hat!«<br />

Zürich Paul Oberhammer<br />

Reithmann, Christoph/Dieter Martiny (Hrsg.): Internationales Vertragsrecht. Das<br />

internationale Privatrecht der Schuldverträge. Bearb. von Carsten Dageförde<br />

u. a. 6. völlig neubearbeitete und wesentlich erweiterte Aufl . – Köln: O.<br />

Schmidt (2004). XCIX, 2480 S.<br />

Das von Reithmann und Martiny herausgegebene Kompendium zum Internationalen<br />

Vertragsrecht gehört nicht erst seit dieser Aufl age zur Standardliteratur.<br />

Die in den vergangenen Jahren erfolgten Gesetzesnovellen sowie die Entwicklung<br />

des Richterrechts unter Einbeziehung des Schrifttums haben zu einer erheblich<br />

erweiterten und völlig neubearbeiteten Aufl age geführt. Angesichts der<br />

vielfachen Veränderungen ist es nicht überraschend, dass der Umfang wiederum,<br />

diesmal um 25%, angewachsen ist. Die Arbeit konnte dabei auf neue Schultern<br />

verteilt werden. So sind in den Bearbeiterkreis Freitag, Göthel, Häusleschmidt<br />

und Obergfell aufgenommen worden.<br />

Entgegen dem Buchtitel fi ndet der Leser nicht nur Antworten auf Fragestellungen<br />

aus dem Kernbereich des Internationalen Vertragsrechts. Vielmehr bietet<br />

das Werk gleichermaßen eine wertvolle Hilfestellung bei Streitfragen zum<br />

Vollmachtsstatut, Internationalen Bereicherungs-, Familien- und Gesellschafts-<br />

sowie Insolvenzrecht. Dies stellt aus Praktikersicht ein Desiderat dar, fehlt es<br />

doch – hierauf wird im Vorwort zutreffend hingewiesen – beispielsweise an<br />

einer komprimierten Darstellung etwa derjenigen Schranken, denen verheiratete<br />

und jugendliche Personen unterliegen bzw. der Restriktionen der Vertretungsmacht<br />

in Bezug auf Handelsgesellschaften.<br />

Die Bearbeiterinnen und die Autoren haben auch bei der jüngsten Aufl age<br />

die überbordende Judikatur und Literatur systematisch aufbereitet und »auf den<br />

Punkt gebracht«. Bei der 6. Aufl age ist damit erneut der Spagat geglückt zwischen<br />

einer Darstellung, die einerseits breit angelegt wird, andererseits an neuralgischen<br />

Stellen den nötigen Tiefgang sowie dogmatische Schärfe aufweist.<br />

Dabei wird der Praxisbezug nie aus den Augen verloren. Dies illustrieren die<br />

Hinweise am Ende eines jeden größeren Abschnittes. Als pars pro toto mag<br />

überdies der Beitrag von Hausmann dienen, welcher Gerichts- und Schiedsklauseln<br />

betrifft. Denn gerade in Anbetracht der Quellenvielfalt – zu nennen sind<br />

unmittelbar wirkende Rechtsakte wie die Brüssel-I-Verordnung 1 , Staatsverträ-<br />

1 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerken-


72 (2008)<br />

literatur<br />

631<br />

ge bis hin zum nationalen Recht – bringt die Gestaltung von Formularabreden<br />

auf diesem Feld erhebliche Schwierigkeiten mit sich.<br />

Im Einzelnen: Die ersten beiden Teile aus der Feder von Martiny sind der<br />

Bestimmung des Vertragsstatuts sowie seiner Reichweite gewidmet. Er streicht<br />

die unterschiedliche Reichweite der Parteiautonomie vor staatlichen Gerichten<br />

kraft Art. 27 I EGBGB sowie innerhalb der Schiedsgerichtsbarkeit nach Maßgabe<br />

von § 1051 I 1 ZPO heraus (S. 82, Rz. 71). Die Frage, ob die zuerst genannte<br />

Norm die kollisionsrechtliche Wahl etwa der UNIDROIT oder Lando Principles<br />

erlaubt, ist seit jeher umstritten und angesichts der Vergemeinschaftung des<br />

Römischen Schuldvertragsübereinkommens (EVÜ) 2 von aktueller Brisanz.<br />

Wie gekonnt auf der einen Seite den Bedürfnissen eines Praktikers sowie<br />

dem wissenschaftlichen Anspruch Rechnung getragen wird, zeigt Martiny (etwa<br />

auf S. 272, Rz. 283), indem er eine Parallele zum Europäischen Zivilverfahrensrecht<br />

zieht. Denn in der Tat wird man schwerlich Aussagen des Europäischen<br />

Gerichtshofs (EuGH) 3 in der Rechtssache Tacconi zu Art. 5 Nr. 1 und 3 Brüssel-<br />

I-Verordnung für die Qualifi kation »vorvertraglicher« Schuldverhältnisse im<br />

Internationalen Privatrecht unberücksichtigt lassen können. Die Rom-II-Verordnung<br />

4 zeigt jedenfalls, dass sich der europäische Gesetzgeber auch im Kollisionsrecht<br />

vom Grundsatz her gegen eine vertragliche Einordnung derartiger<br />

Ansprüche entschieden hat.<br />

Infolge der IPR-Reform im Jahre 1999 wurden nunmehr im dritten Teil<br />

über die außervertraglichen Schuldverhältnisse die Artt. 38 ff. EGBGB ausführlich<br />

kommentiert. Verantwortlich zeichnet auch insofern Martiny. Seine Ausführungen<br />

zur ungerechtfertigten Bereicherung sowie zur Geschäftsführung<br />

ohne Auftrag in grenzüberschreitenden Sachverhalten dürften selbst nach Inkrafttreten<br />

der Rom-II-Verordnung von Relevanz bleiben. Dies betrifft zum<br />

einen Lücken des Sekundärrechtsakts, welche es in sachlicher Hinsicht weiterhin<br />

notwendig machen, dass jeder Mitgliedstaat eigene Anknüpfungsregeln<br />

vorsieht. Zum anderen mag sich der Rückgriff auf diese Kollisionsnormen ergeben,<br />

sofern die Rom-II-Verordnung nicht gegenüber Dänemark in Stellung gebracht<br />

werden darf – ein solcher Ansatz stünde allerdings im Widerspruch zur<br />

effet utile des Gemeinschaftsrechts – und der deutsche Gesetzgeber ebenso davon<br />

absehen sollte, das bisherige Anknüpfungsmodell im EGBGB »freiwillig«<br />

an deren Artikel anzupassen.<br />

Der als Bearbeiter neu hinzugekommene Freitag befasst sich im anschließenden<br />

Kapitel mit allgemeinen Grundsätzen der Berücksichtigung international<br />

zwingender Normen. Aktualität erlangt seine Aussage, dass allein der transformierte<br />

gemeinschaftsrechtliche Mindeststandard mit Hilfe eines supranationalen<br />

Eingriffsbefehls durchgesetzt wird, nicht hingegen das darüber hinausge-<br />

nung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 22. 12. 2000,<br />

ABl. 2001 L 12/1.<br />

2 Römisches EWG-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende<br />

Recht vom 19. 6. 1980, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 C 27/34.<br />

3 EuGH 17. 09. 2002 – Rs. C-334/00 (Tacconi), Slg. 2002, I-7357.<br />

4 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende<br />

Recht (»Rom II«) vom 11. 7. 2007, ABl. L 188/40.


632 literatur RabelsZ<br />

hende strengere nationale Recht (S. 390, Rz. 417). Diese Differenzierung hat<br />

unlängst der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Anlassstreit vorgenommen,<br />

welcher Umsetzungsnormen zur Verbraucherkreditrichtlinie betraf 5 . Allerdings<br />

ist dieser Entscheidung zu entnehmen, dass die Hinweisnorm in Art. 34 EGBGB<br />

es jedenfalls nicht a priori ausschließt – wie Freitag es annimmt (S. 377 f., Rz. 405;<br />

S. 417 Rz. 440) –, Verbraucherschutzbestimmungen einen Eingriffscharakter<br />

zuzumessen. Die Aussage bezüglich des Bereicherungsverbotes in § 55 VVG<br />

(S. 432, Rz. 459) ist zumindest missverständlich, als nach Lesart des BGH kein<br />

allgemeines Bereicherungsverbot im Versicherungsvertragsgesetz (VVG) besteht<br />

und sich ein solches auch nicht dem § 55 VVG entnehmen lässt 6 . Überzeugend<br />

erscheint es, wenn Freitag (S. 444, Rz. 469) aus Art. 10 II EGV und dem<br />

darin verankerten Prinzip der Gemeinschaftstreue ableitet, es bestehe eine Anwendungspfl<br />

icht in Bezug auf die Eingriffsnormen anderer Mitgliedstaaten, zumindest<br />

innerhalb des Anwendungsbereichs der Brüssel-I-Verordnung bzw. des<br />

EuGVÜ 7 . Gerade die aktuelle Fassung von Art. 8 Rom-II-Verordnung, wonach<br />

scheinbar allein die Durchsetzung inländischer Eingriffsnormen zulässig ist,<br />

wirft somit Zweifel hinsichtlich der Primärrechtskonformität bzw. zumindest<br />

die Frage auf, ob es einem Gericht wegen des in Zukunft abschließenden Anknüpfungssystems<br />

tatsächlich verwehrt sein soll, die Eingriffsnorm eines anderen<br />

Mitgliedstaates zu beachten.<br />

Gewohnt souverän kommentiert Thode im nachfolgenden Abschnitt das Internationale<br />

Devisenrecht. Lesenswert sind ebenso die Ausführungen von<br />

Reithmann zum Problemkreis der Substitution (S. 538 ff., Rz. 665 ff.). Besondere<br />

Brisanz erfährt <strong>dieses</strong> Thema angesichts der aktuellen Reform des Gesellschaftsrechts<br />

in der Schweiz sowie des Regierungsentwurfs vom 23. 5. 2007 zur Modernisierung<br />

des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (Mo-<br />

MiG) 8 . Trotz anderslautender Stimmen im Schrifttum 9 verdient die Aussage<br />

von Martiny Zustimmung, wonach in den Anwendungsbereich von Art. 29a<br />

EGBGB allein Verbraucherverträge im Umfang der jeweiligen Harmonisierungsmaßnahme<br />

fallen (S. 692 f., Rz. 836). Dies ist insofern von zunehmender<br />

Praxisrelevanz, da sich der deutsche Gesetzgeber etwa im Zuge der Transformation<br />

der Fernabsatzrichtlinie II 10 dafür entschieden hat, den persönlichen<br />

Schutzbereich vom Grundsatz her auf sämtliche Versicherungsnehmer (mit<br />

Ausnahme von Verträgen über ein Großrisiko im Sinne des Art. 10 I 2 EGVVG)<br />

5 BGH 13. 12. 2005, NJW 2006, 762 (763 f.).<br />

6 BGH 17. 12. 1997, BGHZ 137, 318 (318 ff.); im reformierten VVG wird »auf ein zwingendes<br />

allgemeines versicherungsrechtliches Bereicherungsverbot [. . .] wie bisher verzichtet«,<br />

Begründung BT-Drucks. 16/3945.<br />

7 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher<br />

Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. 9. 1968, konsolidierte Fassung,<br />

ABl. 1998 C 27/1.<br />

8 BT-Drucks. 16/6140 vom 25. 7. 2007.<br />

9 Palandt (-Heldrich), Bürgerliches Gesetzbuch 66 (2007) Art. 29a EGBGB Rz. 3, 6.<br />

10 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. 9. 2002<br />

über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der RL<br />

90/619/EWG des Rates und zur Änderung der RL 97/7/EG und 98/27/EG (Finanzdienstleistungs-RL),<br />

ABl. L 271/16.


72 (2008)<br />

literatur<br />

633<br />

zu erstrecken, mithin die Vorgaben überschießend umzusetzen. Artikel 29a<br />

EGBGB stellt hingegen angesichts seines Wortlautes sowie der systematischen<br />

Stellung allein eine Sonderanknüpfung zum Schutze des Verbrauchers dar, soll<br />

aber kollisionsrechtlich nicht etwa den »professionellen« Kleingewerbetreibenden<br />

als Versicherungsnehmer nach Art. 29a I, IV Nr. 5 EGBGB privilegieren.<br />

Methodisch überzeugt es ferner, dass Martiny eine Analogie von Art. 29a IV<br />

EGBGB etwa im Hinblick auf die Haustürwiderrufs- oder Verbraucherkreditrichtlinie<br />

ablehnt. Denn in der Tat kann schwerlich im Nachgang zur Erweiterung<br />

des Anhanges in Abs. 4 insofern noch von einer unbewussten Regelungslücke<br />

ausgegangen werden. Für diese Ansicht lässt sich ebenso die aktuelle<br />

Entscheidung des BGH zur Frage des Eingriffsbefehls von Umsetzungsvorschriften<br />

der Verbraucherkreditrichtlinie ins Feld führen 11 .<br />

Von Praxisrelevanz dürften die Ausführungen von Merkt zum Unternehmenskauf<br />

sein (S. 700, Rz. 845). Dies betrifft etwa die in Rechtsprechung und<br />

im Schrifttum umstrittene Frage, ob die Ortsform auch das eigentliche Verfügungsgeschäft<br />

beherrscht (S. 718, Rz. 879). Merkt verweist zu Recht darauf, dass<br />

es sich verbietet, eine Substitution der notariellen Beurkundung per se abzulehnen,<br />

vielmehr die Gleichwertigkeit anhand des konkreten Einzelfalles zu prüfen<br />

ist (S. 720, Rz. 880). Angesichts der Vorgaben des Primärrechts mag man sich<br />

ohnehin fragen, ob und inwieweit jedenfalls innerhalb des Binnenmarktes im<br />

Zweifel ein Gebot zur Substitution besteht.<br />

Gerade das Internationale Gesellschaftsrecht ist im Lichte der Judikatur des<br />

EuGH einem erheblichen Wandel unterworfen. Limmer geht bei seinen Ausführungen<br />

zum Vertragsstatut des Grundstückskaufes überzeugend davon aus, dass<br />

sich die Frage der Rechtsfähigkeit ausländischer juristischer Personen zwar bislang<br />

nach dem Personalstatut beurteilt hat, welches die herrschende Meinung<br />

anhand des tatsächlichen Sitzes der Hauptverwaltung ermittelte, nunmehr allerdings<br />

eine Hinwendung zur Gründungstheorie angezeigt ist (S. 755, Rz. 951).<br />

Dies gilt zumindest für innerhalb des Binnenmarkts gegründete Gesellschaften.<br />

Limmer verweist dabei in der Fußnote 4 auf die umfangreichen Ausführungen<br />

von Hausmann (S. 1627 ff., Rz. 2272 ff.). Dies mag als Beleg dafür dienen, dass<br />

die Partien innerhalb <strong>dieses</strong> umfassenden Kompendiums miteinander verzahnt<br />

sind. Für den Praktiker von erheblichem Nutzen dürften überdies die Länderübersichten<br />

zum Grundstückskauf sein (S. 800 ff., Rz. 1013 ff.).<br />

Kenntnisreich versteht es Mankowski, die verschiedenen Spielarten grenzüberschreitender<br />

Timesharing-Verträge darzustellen. Den Ansatz, die Regelung<br />

in Art. 29a III EGBGB zu beschränken (S. 856, Rz. 1091; S. 857, Rz. 1094;<br />

S. 858 f., Rz. 1096), begrüßt der Rezensent ausdrücklich. Auf das Dilemma,<br />

dass Art. 29a I und III EGBGB ihrem Wortlaut nach keinen Günstigkeitsvergleich<br />

vorsehen – dies indes wohl nicht mit den Vorgaben des Gemeinschaftsrechtes<br />

im Einklang stehen und Sinn und Zweck entsprechen dürfte – macht<br />

Mankowski zu Recht aufmerksam (S. 860, Rz. 1100).<br />

Für viele Leser mögen die Ausführungen von Thode zur Frage, ob die Durchsetzung<br />

der Regeln zur Honorarordnung für Architekten und Ingenieure<br />

(HOAI) mit dem Primärrecht vereinbar sind, als visionär erscheinen. Gerade<br />

11 BGH 13. 12. 2005 (oben N. 5).


634 literatur RabelsZ<br />

aktuelle Entwicklungen – wie etwa beim Erfolgshonorar – zeigen allerdings,<br />

dass in der Tat traditionsreiche Bastionen geschleift werden. So verdeutlicht die<br />

Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Cipolla 12 zu der Mindestgrenze in<br />

der italienischen Anwaltsgebührenordnung, dass Regeln, welche in die Dienstleistungsfreiheit<br />

eingreifen, zunächst einmal der Rechtfertigung bedürfen und<br />

der Verhältnismäßigkeitskontrolle unterliegen. Thode weist daher zu Recht darauf<br />

hin, dass deutsche Spruchkörper die ungeklärte Frage zur Durchsetzung der<br />

HOAI dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen sollten.<br />

Die Ausführungen von Dageförde zum Leasingvertrag sind von hohem praktischen<br />

Wert. Unklar erscheint, ob und inwieweit die Vergemeinschaftung des<br />

Römischen Schuldvertragsübereinkommens bei der objektiven Anknüpfung<br />

des Leasingvertrages (dazu S. 906, Rz. 1154) zu einer veränderten Rechtslage<br />

führen wird. Dies betrifft ebenso die Ausführungen von Martiny zur Bürgschaft<br />

unter Rückgriff auf Art. 28 V EGBGB (S. 930, Rz. 1184). Denn es erscheint<br />

nicht ausgeschlossen, dass der Sekundärrechtsgeber die Ausweichklausel streicht<br />

und für bestimmte Vertragstypen Sonderregeln vorsieht.<br />

Schnyder versteht es, Licht ins Dunkel des Internationalen Versicherungsvertragsrechtes<br />

zu bringen. Es bleibt abzuwarten, ob der europäische Gesetzgeber<br />

den Mut fi ndet, die Rechtsquellenvielfalt zu beseitigen und die Rom-I-Verordnung<br />

als alleiniges Anknüpfungssystem vorzusehen. Jedenfalls werden im Zuge<br />

der VVG-Reform 13 einige Schutzvorschriften für die Inhaber von Grundpfandrechten<br />

wie § 102 VVG (S. 1029, Rz. 1359) entfallen und mithin zukünftig<br />

nicht mehr zum Kreis der Eingriffsnormen zählen.<br />

Die 6. Aufl age hat gegenüber der Voraufl age zu einem vermehrten Umfang<br />

von 550 Seiten geführt. Einen maßgeblichen Anteil daran hat die detailreiche<br />

Kommentierung des Rechts der Transportverträge von Mankowski. Die Ausführungen<br />

von Hiestand zum Kartellrecht (S. 1262 ff., Rz. 1755 ff.) im Rahmen<br />

des Lizenzvertrages dürften auch nach Inkrafttreten der Rom-II-Verordnung<br />

im Ergebnis weiter von Relevanz bleiben. Zwar sieht der Gemeinschaftsgesetzgeber<br />

in Art. 6 III <strong>dieses</strong> Sekundärrechtsakts eine Sonderanknüpfung vor. Dennoch<br />

bleibt die Durchsetzung von international zwingenden Bestimmungen<br />

der lex fori jedenfalls in Bezug auf das behördliche Kartellrecht auch zukünftig<br />

zulässig. Lesenswert sind die Ausführungen von Obergfell zur Frage, ob und<br />

inwieweit bei Verlagsverträgen, insbesondere aus dem Bereich des Urhebervertragsrechtes,<br />

Eingriffsnormen durchzusetzen sind. Sie zieht dabei eine Parallele<br />

zur Diskussion im Bereich des Internationalen Verbraucherschutzrechtes. Anders<br />

als Obergfell (S. 1300 f., Rz. 1811) geht allerdings der BGH in seiner aktuellen<br />

Entscheidung zur Eingriffsqualität von Transformationsnormen zur<br />

Verbraucherkreditrichtlinie nicht von einem strikten Verbot aus, Verbraucherschutzvorschriften<br />

abseits des Art. 29 EGBGB als Eingriffsnormen durchzusetzen<br />

14 . Dies gilt jedenfalls für den Fall, dass ein Vertragstyp nicht dem sachlichen<br />

Anwendungsbereich dieser Sonderanknüpfung unterfällt.<br />

Zu Recht differenziert Göthel bei Kooperationsverträgen im Lichte der aktu-<br />

12 EuGH 5. 12. 2006 – Rs. C-94/04 (Cipolla), Slg. 2006, I-11421 ff.<br />

13 BGBl. 2007 I 2631.<br />

14 BGH 13. 12. 2005 (oben N. 5) 763.


72 (2008)<br />

literatur<br />

635<br />

ellen Entwicklungen im Internationalen Gesellschaftsrecht danach, ob eine Gesellschaft<br />

in einem Mitglied- bzw. Drittstaat gegründet wurde. Er weist zutreffend<br />

darauf hin, dass die Judikatur des EuGH jedenfalls nicht dazu zwingt,<br />

Gesellschaften gegenüber, die wirksam in einem Drittstaat gegründet wurden,<br />

von der Sitztheorie abzuweichen. Etwas anderes gilt allein dann, wenn – wie im<br />

Verhältnis zu den USA durch den deutsch-amerikanischen Freundschafts-,<br />

Handels- und Schifffahrtsvertrag vom 29. 10. 1954 15 – die Gründungstheorie<br />

festgeschrieben ist (S. 1423, Rz. 1958, Fußnote 5). Die Bedeutung einer Ausweichklausel<br />

in Art. 28 V EGBGB wird im Abschnitt über die akzessorische<br />

Anknüpfung von Kooperationsverträgen deutlich (S. 1446, Rz. 2016). Es bleibt<br />

zu hoffen, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber in der Rom-I-Verordnung an dieser<br />

Korrekturmöglichkeit festhält.<br />

Häusleschmidt befasst sich eingehend mit der Entscheidung des EuGH vom<br />

9. 11. 2000 in der Rechtssache Ingmar 16 (S. 1462 ff., Rz. 2034 f.) und beleuchtet<br />

die Auswirkungen für das Recht der Handelsvertreter-Verträge. Mankowski<br />

geht im Abschnitt über Anwaltsverträge auf die Frage ein, ob die Restriktionen<br />

der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) zum Erfolgshonorar international<br />

zwingend sind (1525, Rz. 2117). Ebenso behandelt er die Frage, ob etwa ein<br />

Erfolgshonorar nach Maßgabe eines ausländischen Rechts gegen den deutschen<br />

ordre public im Sinne des Art. 6 EGBGB verstoßen kann (S. 1527, Rz. 2122).<br />

Angesichts der aktuellen rechtspolitischen Diskussion im Nachgang zur Entscheidung<br />

des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) 17 erscheint derzeit unklar,<br />

ob und inwieweit das Verbot eines Erfolgshonorars Eingriffscharakter hat und<br />

sogar einen Ausschnitt des ordre public bildet. Überdies muss das Urteil des Gerichtshofs<br />

in der Rechtssache Cipolla 18 in den Blick genommen werden.<br />

Für den Leser von großem Nutzen ist die Aufbereitung der Judikatur des<br />

EuGH zum Internationalen Gesellschaftsrecht. Hausmann widmet dieser richterrechtlichen<br />

Entwicklung einen eigenen Abschnitt. Er spricht sich im Ergebnis<br />

für ein gespaltenes Gesellschaftskollisionsrecht aus (S. 1639 f., Rz. 2284 f.).<br />

Gleichermaßen befürworten unterinstanzliche Gerichte in jüngster Vergangenheit<br />

teils eine solche Zweispurigkeit 19 . Der BGH hat hierzu noch nicht abschließend<br />

Stellung bezogen. Nicht verhehlen mag der Rezensent, dass er einer einheitlichen<br />

Anknüpfung wie jüngst auch der Referentenentwurf zum Internationalen<br />

Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen den<br />

Vorzug einräumt. Von besonderem Wert für die Praxis sind überdies die Angaben<br />

zur gesetzlichen Vertretung von Handelsgesellschaften und deren Nachweis<br />

im ausländischen Recht, nunmehr unter Einschluss von Kanada (S. 1651 ff.,<br />

Rz. 2292 ff.).<br />

Aufgenommen wurde ebenso die Europäische Insolvenzverordnung sowie<br />

das am 20. 3. 2003 in Kraft getretene autonome Internationale Insolvenzrecht in<br />

den §§ 335 ff. InsO. Hinzuweisen ist hinsichtlich der Insolvenzanfechtung auf<br />

15 BGBl. 1956 II 487.<br />

16 EuGH 9. 11. 2000 – Rs. C-381/98 (Ingmar), Slg. 2000, I-9305 = NJW 2001, 2007 f.<br />

17 BVerfG 12. 12. 2006, NJW 2007, 979.<br />

18 EuGH 5. 12. 2006 (oben N. 12).<br />

19 OLG Hamburg 30. 3. 2007, DB 2007, 1245.


636 literatur RabelsZ<br />

die schwierige Abgrenzung der Brüssel-I-Verordnung von dem zuvor genannten<br />

Sekundärrechtsakt (S. 1845 f., Rz. 2628 f.), wie die Vorlage des BGH vom<br />

21. 6. 2007 an den EuGH belegt 20 .<br />

Anlass für umfangreiche Veränderungen waren ferner der Erlass der Brüssel-<br />

I-Verordnung sowie die Neufassung der §§ 1025 ff. ZPO. Zu Recht weist Hausmann<br />

darauf hin, dass eine <strong>Inhalt</strong>skontrolle einer Gerichtsstandsvereinbarung<br />

bei Verbraucherverträgen nicht durch Art. 23 V in Verbindung mit Art. 17<br />

Brüssel-I-Verordnung gesperrt wird. Vielmehr ist neben den besonderen Pro-<br />

und Derogationsschranken als weiteres Schutzinstrument die Richtlinie über<br />

missbräuchliche Klauseln bzw. deren Umsetzung in den jeweiligen Mitgliedstaaten<br />

zu beachten (S. 2043, Rz. 2958). Hingegen stößt die These von Hausmann,<br />

§ 1051 ZPO gehe als speziellere Kollisionsnorm für Schiedsverfahren den<br />

allgemeinen Vorschriften der Artt. 27 ff. EGBGB vor, auf Bedenken. Unklar<br />

bleibt bereits die Aussage, der sachliche Anwendungsbereich jener Sonderkollisionsnorm<br />

sei im Wesentlichen »auf schuldvertragliche Streitigkeiten und damit<br />

zusammenhängende Ansprüche aus gesetzlichen Schuldverhältnissen beschränkt«<br />

(S. 2404, Rz. 3511). So führt Hausmann an anderer Stelle aus, dass<br />

etwa ebenso kartellrechtliche Streitigkeiten schiedsfähig seien (S. 2373,<br />

Rz. 3465). Dies wirft beispielsweise die Frage auf, ob auch insoweit uneingeschränkte<br />

Rechtswahlfreiheit besteht. Entsprechende Zweifelsfragen ergeben<br />

sich in sachen- und erbrechtlichen Konstellationen. Die Rom-II-Verordnung<br />

jedenfalls lässt nach ihrer letzten Fassung – dies verdeutlich der Erwägungsgrund<br />

Nr. 8 – keinen Zweifel daran, dass die Kollisionsnomen gleichermaßen<br />

innerhalb der Schiedsgerichtsbarkeit eingreifen. Angesichts des Anwendungsvorranges<br />

vermag § 1051 ZPO das Gemeinschaftsrecht zumindest auf diesem<br />

Gebiet zukünftig nicht zu überspielen.<br />

Die Brisanz der Ausführungen von Hausmann wird bei der Durchsetzung<br />

international zwingender Normen sowie in Bezug auf etwaige Rechtswahlschranken<br />

in Verbraucherverträgen deutlich (S. 2406, Rz. 3115 f.). Hausmann<br />

sieht zwar formal keine Bindung des Schiedsgerichtes an Eingriffsnormen der<br />

lex fori. Angesichts der Pfl icht des Schiedsgerichtes, die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung<br />

seines Schiedsspruches sicherzustellen, plädiert er allerdings<br />

dafür, jene gleichwohl heranzuziehen. Für den Verbraucherschutz hält er eine<br />

Analogie zu Art. 29 I EGBGB für vorzugswürdig. Dies zeigt allerdings die methodischen<br />

Brüche. Konsequenterweise müssten gleichermaßen die kollisionsrechtlichen<br />

Regelungsgebote in den Verbraucherschutzrichtlinien bzw. ihre<br />

Transformation in Art. 29a EGBGB entsprechend herangezogen werden. Ebenso<br />

erscheint es naheliegend, dass die Ingmar-Doktrin Schiedsgerichte dazu<br />

zwingt, Handelsvertretern entgegen dem kraft § 1051 I 1 ZPO vereinbarten<br />

Statut kollisionsrechtlich einen gewissen Mindestschutz zu gewähren 21 .<br />

Summa summarum ist auch die 6. Aufl age dringend jedem als Pfl ichtlektüre<br />

zu empfehlen, der sich in der Praxis mit den Fallstricken grenzüberschreitender<br />

20 BGH 21. 6. 2007, WM 2007, 1582.<br />

21 Siehe in weiterem Zusammenhang OLG München 17. 5. 2006, IPRax 2007, 322 mit<br />

Aufsatz Rühl, Die Wirksamkeit von Gerichtsstands- und Schiedsvereinbarungen im Lichte<br />

der Ingmar-Entscheidung des EuGH: ebd. 294–302.


72 (2008)<br />

literatur<br />

637<br />

Schuldverträge befasst. Dank der klaren Diktion, wertvoller Praxistipps sowie<br />

seinem wissenschaftlichen Tiefgang ist das Werk ein wertvoller Kompass auf<br />

dem stürmischen Meer des Internationalen Vertragsrechts.<br />

Bielefeld Ansgar Staudinger<br />

Schärtl, Christoph: Das Spiegelbildprinzip im Rechtsverkehr mit ausländischen<br />

Staatenverbindungen. Unter besonderer Berücksichtigung des deutsch-amerikanischen<br />

Rechtsverkehrs. (Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 2004/2005.)<br />

– (Tübingen:) Mohr Siebeck (2005). XVI, 298 S. (Studien zum ausländischen<br />

und internationalen Privatrecht. 145.)<br />

Ausländische Urteile werden im Inland grundsätzlich nur anerkannt, wenn<br />

die ausländischen Gerichte aus Sicht des inländischen Staates international zur<br />

Entscheidung des Rechtsstreits berufen waren. Eine Prüfung dieser sog. Anerkennungszuständigkeit<br />

erübrigt sich lediglich, soweit das internationale Zuständigkeitsrecht<br />

des Urteils- und des Anerkennungsstaates harmonisiert wurden,<br />

wie es etwa für die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft weitgehend<br />

durch die Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung<br />

(EuGVO) 1 geschehen ist 2 . Im Übrigen folgt das deutsche autonome Recht bei<br />

der Anerkennungszuständigkeit, vorbehaltlich staatsvertraglicher Bestimmungen,<br />

dem sog. Spiegelbildprinzip. Eine ausländische Entscheidung wird nach<br />

§ 328 I Nr. 1 ZPO nicht anerkannt, »wenn die Gerichte des Staates, dem das<br />

ausländische Gericht angehört, nach den deutschen Gesetzen nicht zuständig<br />

sind«. Positiv gewendet besteht eine Anerkennungszuständigkeit, wenn das<br />

fremde Gericht bei spiegelbildlicher Anwendung der deutschen Zuständigkeitsregeln<br />

international entscheidungszuständig gewesen wäre.<br />

Das Spiegelbildprinzip greift auf die territorialen Anknüpfungspunkte der<br />

inländischen Zuständigkeitsnormen zurück. Etwa ist in spiegelbildlicher – sowie<br />

analoger oder doppelfunktionaler – Anwendung 3 des § 23 ZPO das ausländische<br />

Gericht international anerkennungszuständig, wenn sich Vermögensgegenstände<br />

des Beklagten im ausländischen Territorium befanden. Steht die Anerkennung<br />

eines Urteils einer ausländischen Staatenverbindung im Raum, so<br />

stellt sich die Frage, ob diese territorialen Anknüpfungspunkte in Bezug auf die<br />

Staatenverbindung oder in Bezug auf den Einzelstaat erfüllt sein müssen. So hatte<br />

der Bundesgerichtshof (BGH) in seinem Urteil vom 29. 4. 1999 4 zu klären, ob<br />

es für die Anerkennungszuständigkeit eines amerikanischen Bundesgerichts in<br />

Wisconsin (USA) nach §§ 328 I Nr. 1, 23 ZPO ausreicht, dass der Beklagte ein<br />

Grundstück in Illinois (USA) besitzt. Die Antwort auf die Frage nach dem richtigen<br />

Bezugspunkt des Spiegelbildprinzips bei ausländischen Staatenverbin-<br />

1 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die<br />

Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom<br />

22. 12. 2000, ABl. EG 2001 L 12/1, berichtigt: ABl. EG 2001 L 307/28.<br />

2 Siehe deshalb Art. 35 III EuGVO.<br />

3 Siehe nur BGH 2. 7. 1991, BGHZ 115, 90 (91 f.).<br />

4 BGH 29. 4. 1999, BGHZ 141, 286.


638 literatur RabelsZ<br />

dungen hängt von der Auslegung der Wendung »[. . .] Staat, dem das ausländische<br />

Gericht angehört« in § 328 I Nr. 1 ZPO ab, also konkret in dem vom<br />

Bundesgerichtshof zu entscheidenden Fall davon, ob man die USA als Staat<br />

i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO ansieht (dann bestünde eine Anerkennungszuständigkeit)<br />

oder deren Bundesstaaten (dann bestünde keine Anerkennungszuständigkeit).<br />

Christoph Schärtl geht dieser Auslegungsfrage in seiner von Herbert Roth betreuten<br />

Regensburger Dissertation unter besonderer Berücksichtigung des<br />

deutsch-amerikanischen Rechtsverkehrs nach und entwickelt einen neuen Ansatz<br />

zur Bestimmung des Begriffes »Staat« in § 328 I Nr. 1 ZPO. Diese Untersuchung<br />

ist durchaus gerechtfertigt. Der Bundesgerichtshof hatte seinerzeit nur<br />

festgestellt, dass jedenfalls ein amerikanisches Bundesgericht anerkennungszuständig<br />

ist, wenn bei spiegelbildlicher Anwendung des deutschen Zuständigkeitsrechts<br />

irgendein Gericht innerhalb der gesamten USA zuständig ist 5 , hatte<br />

dies aber für die Staatengerichte offengelassen 6 .<br />

I. Im ersten der beiden Hauptteile (S. 9–114) untersucht Schärtl abstrakt, unter<br />

welchen Umständen Staatenverbindungen bzw. deren Einzelstaaten »Staat«<br />

i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO sind. Hierzu gibt Schärtl zunächst einen Überblick über<br />

die rechtspolitischen und rechtlichen Grundlagen des Spiegelbildprinzips (9 ff.).<br />

Dabei betont er vor allem den Zweck des Spiegelbildprinzips, den Beklagten vor<br />

– aus Sicht des Inlands – exorbitanten Gerichtsständen zu schützen. Das Spiegelbildsprinzip<br />

sorge dafür, dass nur ausländische Entscheidungen anerkannt und<br />

vollstreckt werden, die im Ergebnis auf einer den inländischen Maßstäben vergleichbaren<br />

internationalen Zuständigkeitsordnung basieren; die inländischen<br />

Vorstellungen über eine gerechte Abgrenzung der Jurisdiktionssphären werden<br />

durchgesetzt (22).<br />

Sodann erläutert Schärtl ausführlich die bisherigen Lösungen zur Auslegung<br />

des Staatsbegriffs in § 328 I Nr. 1 ZPO (37 ff.). Nach einer Ansicht sei die Untergliederung<br />

einer Staatenverbindung in einzelne Bundesstaaten aus anerkennungsrechtlicher<br />

Sicht stets unbedeutend, jedenfalls soweit die Staatenverbindung<br />

Völkerrechtssubjekt ist. Demgegenüber seien andere der Auffassung, dass<br />

der Einzelstaat der maßgebliche Bezugspunkt beim Spiegelbildprinzip sein<br />

kann, etwa wenn die Organisationshoheit über das Gerichtssystem oder die<br />

Regelungsbefugnis für das internationale Anerkennungs- und Vollstreckungsrecht<br />

beim Einzelstaat liegt oder jeder Einzelstaat sein eigenes Kollisions-, Verfahrens-<br />

oder Sachrecht besitzt. Dies werde unter anderem damit begründet,<br />

dass auch Art. 4 III EGBGB für Zwecke des Kollisionsrechts einen Durchgriff<br />

auf die einzelnen Teilrechtsordnungen eines Mehrrechtsstaates zulasse. Zudem<br />

seien in einigen Staatenverbindungen die Einzelstaaten, wie etwa die amerikanischen<br />

Bundesstaaten, derart verselbständigt, dass auch für Zwecke der Gegenseitigkeit<br />

nach § 328 I Nr. 5 ZPO oder § 110 II Nr. 1 ZPO a. F. auf den jeweiligen<br />

Einzelstaat abgestellt werden müsse.<br />

Schärtl kommt zu dem Ergebnis, dass keine der bisher vertretenen Lösungen<br />

überzeugt (104 f.). Vielmehr leitet er vor allem aus der Entstehungsgeschichte<br />

5 BGH 29. 4. 1999 (vorige Note) 289.<br />

6 BGH 29. 4. 1999 (oben N. 4) 292.


72 (2008)<br />

literatur<br />

639<br />

des § 328 I Nr. 1 ZPO ab, dass Staat im Sinne des Spiegelbildprinzips grundsätzlich<br />

diejenigen Gerichte zusammenfasst, die ihre Rechtsprechungsfunktion von<br />

einem gemeinsamen Souverän ableiten (106 f.). Bei Staatenverbindungen könne<br />

deshalb, je nach verfassungsrechtlicher Ausgestaltung, Bezugspunkt des Spiegelbildprinzips<br />

sowohl die Staatenverbindung als auch der Einzelstaat sein.<br />

1. Schärtl betont zunächst, dass das Spiegelbildprinzip historisch im engen<br />

Zusammenhang mit der Herausbildung souveräner Staaten nach dem Zerfall<br />

des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zu sehen sei (63 f., 65 f.).<br />

Dessen Aufl ösung habe zu einer Verlagerung der Rechtsprechungssouveränität<br />

vom Kaiser auf den Partikularstaat geführt (64). Nicht mehr der Kaiser, von<br />

dem abgeleitet die Lehnsherren ihre Rechtsprechungsgewalt ausgeübt hätten<br />

(53 f.), sondern der Einzelstaat sei Souverän für die Rechtsprechung geworden;<br />

verschiedene Souveränitätssphären seien entstanden. Während im Heiligen Römischen<br />

Reich Deutscher Nation Urteile der deutschen Schwesterstaaten<br />

grundsätzlich wechselseitig anerkannt worden seien (54 f.), sei dies nach 1803<br />

nicht mehr ohne Weiteres geschehen (56 f.); es habe nunmehr eines inländischen<br />

Transformationsaktes bedurft, durch welchen die innerstaatliche Souveränitätssphäre<br />

geöffnet wird (58, 64). Die Regeln über die Anerkennungszuständigkeit<br />

– und damit auch das Spiegelbildprinzip, das im 19. Jahrhundert seinen Weg<br />

in zahlreiche deutsche Prozessordnungen gefunden habe (61 ff.) – seien vor<br />

allem dazu bestimmt gewesen, die Souveränitätssphären abzugrenzen (65). So<br />

habe Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775–1833), der Erfi nder des Spiegelbildprinzips<br />

(57 ff.), das Spiegelbildprinzip weniger aus Gründen des Beklagtenschutzes<br />

vorgeschlagen, sondern vielmehr, weil die Anwendung der ausländischen<br />

Zuständigkeitsregeln die innerstaatliche Souveränität gefährde; allein<br />

das Spiegelbildprinzip gewährleiste, dass dem Urteilsstaat die gleichen Entscheidungsbefugnisse<br />

eingeräumt werden, die auch der inländische Gesetzgeber für<br />

sich in Anspruch nimmt (59 f.). Vor diesem Hintergrund könne aus historischer<br />

Sicht »Staat« i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO nur eine solche Souveränitätssphäre nach<br />

damaligem Verständnis sein, d. h. ein Zusammenschluss von Gerichten, die –<br />

wie im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation die deutschen Schwesterstaaten<br />

– einen Rechtsprechungssouverän teilen (66).<br />

Aber unabhängig von diesen historischen Erwägungen verwirft Schärtl die<br />

bisherigen Ansätze. So könne insbesondere die Ansicht nicht überzeugen, dass<br />

jede fremde Staatenverbindung mit Völkerrechtssubjektivität »Staat« i. S. d. § 328<br />

I Nr. 1 ZPO sei (68 ff.). Völkerrechtssubjekte könnten auch Gebilde sein, die als<br />

Staat i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO von vornherein ausscheiden. Etwa fehle internationalen<br />

Organisationen trotz ihrer Völkerrechtssubjektivität eine territoriale<br />

Zusammengehörigkeit, die nach dem Wortlaut des § 328 I Nr. 1 ZPO erforderlich<br />

sei. Auch Art. 4 III EGBGB und dessen kollisionsrechtlicher Durchgriff auf<br />

die Teilrechtsordnung könne nicht begründen, dass maßgeblicher Bezugspunkt<br />

bei ausländischen Staatenverbindungen der Einzelstaat sei (73 ff.). Artikel 4 III<br />

EGBGB verfolge als Hilfskollisionsnorm völlig andere Zwecke als das anerkennungsrechtliche<br />

Spiegelbildprinzip, das verschiedene Jurisdiktionssphären abgrenzen<br />

möchte. Zudem könne nicht auf den Staatsbegriff in § 328 I Nr. 5 ZPO<br />

oder § 110 II Nr. 1 ZPO a. F. zurückgegriffen werden, weil das Gegenseitigkeitserfordernis<br />

einen anderen Zweck als das Spiegelbildprinzip verfolge, näm-


640 literatur RabelsZ<br />

lich auf den ausländischen Staat Druck ausüben möchte, inländische Urteile<br />

anzuerkennen bzw. deutschen Staatsbürgern keine Sicherheitsleistungspfl icht<br />

aufzuerlegen (80, 83 f.).<br />

Außerdem will Schärtl nicht danach differenzieren, ob die Staatenverbindung<br />

oder der Einzelstaat die Regelungsbefugnis für die Anerkennung ausländischer<br />

Urteile habe (87 f.). § 328 I Nr. 1 ZPO stelle allein auf das deutsche Recht ab,<br />

nicht auf das Recht des Urteilsstaates; zudem könne es bei der Frage der Anerkennungszuständigkeit,<br />

die das ausländische Erkenntnisverfahren betrifft, nicht<br />

auf das nachgelagerte ausländische Vollstreckungsverfahren ankommen. Abzulehnen<br />

sei auch das Abgrenzungskriterium, ob die Organisationshoheit über das<br />

Gerichtssystem beim Einzelstaat oder beim Staatenverbund liegt (91 ff.); die<br />

Verwendung <strong>dieses</strong> Kriteriums übersähe, dass gerade in föderal untergliederten<br />

Staaten die Gerichtsgewalt, etwa in Deutschland je nach Instanz, auf verschiedene<br />

Träger verteilt sein kann, die jedoch nicht zwangsläufi g unterschiedliche<br />

Jurisdiktionssphären bilden.<br />

Ferner könne für einen »Staat« i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO nicht maßgeblich<br />

sein, ob für alle Gerichte des Staatengebildes ein einheitliches Sach-, Verfahrens-<br />

oder Kollisionsrecht gelte (93 ff.). Auch Staaten mit unterschiedlichen<br />

Sachrechten könnten eine Jurisdiktionssphäre darstellen; zudem sei es für den<br />

Zweck des Spiegelbildprinzips, den Beklagten vor – aus deutscher Sicht – exorbitanten<br />

Gerichtsständen zu schützen, unerheblich, welches Sachrecht das Gericht<br />

anwendet (96). Auch ein einheitliches Verfahrensrecht ist nach Schärtl für<br />

den Staatsbegriff in § 328 I Nr. 1 ZPO irrelevant, da auch in einer einheitlichen<br />

Jurisdiktionssphäre wie Deutschland unterschiedliche Verfahrensrechte – etwa<br />

in den verschiedenen Gerichtszweigen – gelten könnten (98). Schließlich sei<br />

auch ein einheitliches Kollisionsrecht kein taugliches Abgrenzungskriterium<br />

(101 ff.). Die internationale Zuständigkeit habe zwar Refl exwirkung für das<br />

anwendbare Kollisionsrecht; es sei aber nicht Aufgabe der Anerkennungszuständigkeit,<br />

die Anwendung des richtigen Kollisionsrechts zu gewährleisten, sodass<br />

umgekehrt auch die Aufteilung in unterschiedliche Kollisionsrechtssphären<br />

nicht zu einer Aufteilung der Jurisdiktionssphären führen könne.<br />

2. Da die bisher vertretenen Lösungen zur Bestimmung des maßgeblichen<br />

Bezugspunktes in § 328 I Nr. 1 ZPO bei ausländischen Staatenverbindungen als<br />

untauglich empfunden werden, schlägt Schärtl eine »historisch-verfassungsstrukturorientierte<br />

Auslegung« des § 328 I Nr. 1 ZPO vor (105 ff.). Wie insbesondere<br />

die Entstehungsgeschichte gezeigt habe, beschreibe »Staat« i. S. d. § 328 I Nr. 1<br />

ZPO alle diejenigen Gerichte, die ihre Rechtsprechungsfunktion von einem gemeinsamen<br />

Souverän ableiten; die verfassungsrechtliche Strukturentscheidung<br />

der betreffenden Staatenverbindung müsse deshalb ermittelt werden (108 f.).<br />

Allerdings soll ein gemeinsamer Souverän, auf den die ausländischen Gerichte<br />

ihre Rechtsprechungsgewalt gründen, der grundsätzliche, nicht aber der<br />

einzige Faktor sein. Da es sich bei der Auslegung des § 328 I Nr. 1 ZPO um eine<br />

Wertungsfrage handele, die deutsche Vorstellungen berücksichtigen müsse, bedürfe<br />

es zusätzlich einer wertenden Betrachtung des ausländischen Gerichtssystems<br />

(109). Die einzelstaatlichen Gerichtssysteme könnten derart verselbständigt<br />

sein, dass aus deutscher Sicht trotz der Ableitung der Rechtsprechungssouveränität<br />

von einem gemeinsamen Souverän der Einzelstaat als eigene


72 (2008)<br />

literatur<br />

641<br />

Jurisdiktionssphäre betrachtet werden müsse. Zur Beantwortung dieser Wertungsfrage<br />

gibt Schärtl dem Rechtsanwender einige Kriterien an die Hand<br />

(111 ff.). Etwa könne von Bedeutung sein, ob der ausländische Verfassungs- und<br />

Gesetzgeber einen einheitlichen Instanzenzug geschaffen hat oder ob bei getrennten<br />

Gerichtssystemen konkurrierende Zuständigkeiten oder wechselseitige<br />

Pfl ichten zur Anerkennung bestehen. Ferner könne zu berücksichtigen<br />

sein, wie die Aufteilung der Rechtsprechungsaufgaben zwischen Staatenverbindung<br />

und Einzelstaaten historisch entstanden ist.<br />

II. Im zweiten Hauptteil der Arbeit (115–271) wendet Schärtl sodann seine<br />

»historisch-verfassungsstrukturorientierte Auslegung« des § 328 I Nr. 1 ZPO auf<br />

den deutsch-amerikanischen Rechtsverkehr an, um seine Lösung auf ihre<br />

»Richtigkeit und Handhabbarkeit« (7) zu überprüfen. Er kommt zu dem Schluss,<br />

dass sowohl für die Bundesgerichte als auch für die Staatengerichte allein die<br />

USA und nicht die Bundesstaaten »Staat« i. S. d. § 328 I Nr. 1 ZPO sind. Damit<br />

besteht eine Anerkennungszuständigkeit bei US-amerikanischen Urteilen nach<br />

Schärtl, wenn die Gerichte irgendeines Bundesstaates in den Vereinigten Staaten<br />

nach den spiegelbildlich angewendeten deutschen Zuständigkeitsregeln zuständig<br />

gewesen wären. Schärtl bestätigt damit im Ergebnis nicht nur die eingangs<br />

geschilderte Lösung des Bundesgerichtshofs für Urteile der Bundesgerichte,<br />

sondern lässt dieselben Maßstäbe auch für Urteile der Staatengerichte gelten.<br />

1. Schärtl untersucht zunächst in einem ersten Abschnitt, von welchem Souverän<br />

die amerikanischen Bundesgerichte und die einzelstaatlichen Gerichte<br />

ihre Rechtsprechungsgewalt ableiten. Hierzu wird der staatsorganisatorische<br />

Aufbau der USA als Bundesstaat dargestellt (118 ff.) und insbesondere die Stellung<br />

der amerikanischen Einzelstaaten im Verfassungsgefüge der USA analysiert<br />

(122 ff.). Schärtl legt dar, dass die amerikanischen Bundesstaaten und die<br />

Bundeszentralgewalt zwei voneinander zu trennende Ebenen eines gemeinsamen,<br />

vom amerikanischen Volk in seiner Gesamtheit abgeleiteten Gewaltenteilungssystems<br />

bilden, sodass die amerikanischen Bundes- oder Staatengerichte<br />

ihre Rechtsprechungsgewalt auf einen gemeinsamen Souverän zurückführen.<br />

Aus anerkennungsrechtlicher Sicht stellten die USA deshalb grundsätzlich eine<br />

einheitliche Jurisdiktionssphäre dar (161).<br />

2. Allerdings reicht ein gemeinsamer Rechtsprechungssouverän allein, wie<br />

bereits berichtet, nach Schärtls »historisch-verfassungsstrukturorientierter Auslegung«<br />

für eine nach § 328 I Nr. 1 ZPO »staatstaugliche« Staatenverbindung<br />

nicht aus. Die einzelstaatlichen Gerichtssysteme dürfen nicht derart verselbständigt<br />

sein, dass sie nach wertender Betrachtung als von der Bundesgerichtsbarkeit<br />

unabhängige Jurisdiktionssphäre anzusehen sind.<br />

Schärtl kommt zu dem Ergebnis, dass die Gerichtssysteme der US-Bundesstaaten<br />

nicht ausreichend verselbständigt sind, um sie als eigenständige Jurisdiktionssphäre<br />

anzusehen (269). Die Unterscheidungen zwischen den Gerichtssystemen<br />

in den USA seien Bausteine eines komplexen Gewaltenteilungssystems.<br />

So erhebe etwa die Tatsache, dass die Bundesgerichte nach der sog. Erie-Klaxon-<br />

Doktrin 7 unter Umständen das jeweilige Recht des Sitzstaates anwenden, die<br />

7 Basierend auf Erie Railroad v. Tompkins, 304 U. S. 64 (1938) und Klaxon Co v. Stentor<br />

Electric Mfg Co, 313 U. S. 487 (1941).


642 literatur RabelsZ<br />

Einzelstaaten nicht zu selbständigen Jurisdiktionssphären. Diese Doktrin folge<br />

nicht aus Souveränitätserwägungen, sondern setze lediglich das amerikanische<br />

Gewaltenteilungssystem um und schütze die bundesstaatlichen Gesetzgebungskompetenzen<br />

(217 f.). Auch die Verteilung der personal jurisdiction auf die verschiedenen<br />

Bundesstaaten führe nicht zu selbständigen Jurisdiktionssphären.<br />

Die Verteilung der Rechtsprechungsgewalt diene lediglich dazu, eine gewisse<br />

Nähe zwischen Gericht und Rechtsstreit zu gewährleisten und folge aus dem<br />

verfassungsrechtlichen due-process-Gebot (240 ff.). Des Weiteren ergäben sich<br />

aus dem Erfordernis einer Anerkennung der Entscheidungen aus anderen Einzelstaaten<br />

keine unabhängigen Gerichtssysteme. Der sog. Full-Faith and Credit<br />

Clause des Art. IV § 1 der US-Verfassung gewährleiste vielmehr, dass Entscheidungen<br />

grundsätzlich bundesweit anerkannt würden und sorge für eine einheitliche<br />

Rechtsanwendung (253 ff.). Schließlich sieht Schärtl auch in der aus dem<br />

XI th Amendment hergeleiteten doctrine of sovereign immunities keinen Grund für<br />

die Herausbildung unterschiedlicher Jurisdiktionssphären (263 f.). Zwar dürften<br />

dieser Doktrin zufolge die Bundes- und Einzelstaatengerichte nicht über<br />

Rechtsstreitigkeiten gegen die Regierungen der Einzelstaaten entscheiden; diese<br />

Immunität diene aber dazu, die lokale Selbstverwaltungsautonomie möglichst<br />

weitgehend zu erhalten.<br />

III. Schärtls Buch ist fl üssig geschrieben und klar gegliedert. Auf Grundlage<br />

seiner »historisch-verfassungsstrukturorientierten Auslegung« des § 328 I Nr. 1<br />

ZPO entwickelt er ein in sich geschlossenes und facettenreiches Gedankengebilde<br />

8 . Sein Lösungsansatz zum deutschen Internationalen Anerkennungsrecht<br />

ermöglicht es Schärtl, sich vertieft mit deutscher Verfassungsgeschichte und dem<br />

amerikanischen Verfassungs- und Verfahrensrecht auseinanderzusetzen. Das<br />

Buch überzeugt hier durch seine Tiefgründigkeit und Liebe zum Detail.<br />

Allerdings möchte der Rezensent einige praktische Bedenken gegen Schärtls<br />

Lösung nicht verhehlen, die sich selbst dann ergeben, wenn man durch eine<br />

Betonung der historischen Auslegung 9 wie Schärtl die verfassungsrechtliche Perspektive<br />

einer – womöglich dem Beklagtenschutz gerechter werdenden – funktionalen<br />

Betrachtungsweise 10 vorzieht. So mag man insbesondere Zweifel haben,<br />

ob der deutsche Anerkennungsrichter die Mühen umfassender verfassungs-<br />

und verfahrensvergleichender Studien auf sich nehmen wird, die Schärtls<br />

»historisch-verfassungsstrukturorientierte Auslegung« von ihm fordert. Ein<br />

kurzer Blick in das ausländische Verfassungs- und Verfahrensrecht genügt hier<br />

nicht, zumal Schärtl selbst gut 150 Seiten seiner Arbeit der Anwendung seiner<br />

Lösung auf die USA widmet. Hinzu kommt, dass sein Ansatz auch reichlich<br />

Argumentationsspielraum für die Parteien im Einzelfall eröffnet. Die von Schärtl<br />

favorisierten wertenden Abgrenzungskriterien (gemeinsamer Rechtsprechungssouverän,<br />

Verselbständigung der Jurisdiktionssphären) können, eine entspre-<br />

8 Siehe auch die positive Rezension von Arnold, Rev. int. dr. comp. 2007, 219 f.<br />

9 Deren Gewicht traditionell als gering eingestuft wird, siehe nur Vogenauer, Die Auslegung<br />

von Gesetzen in England und auf dem Kontinent I (2001) 115 ff.<br />

10 Vgl. auch Stein/Jonas (-H. Roth), Kommentar zur Zivilprozessordnung 22 V: §§ 328–510b<br />

(2006) § 328 ZPO Rz. 77; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht 4 (2006) Rz. 906 mit<br />

N. 5.


72 (2008)<br />

literatur<br />

643<br />

chende Argumentation vorausgesetzt, zu vertretbaren Ergebnissen in die eine<br />

oder in die andere Richtung führen – anders als die bisher vorgeschlagenen eher<br />

starren Abgrenzungskriterien. Schärtl hat zwar umfassende Vorarbeiten für die<br />

USA geleistet, dennoch bleiben Staatenverbindungen (z. B. Australien, Indien,<br />

Kanada, die Russische Föderation, die Schweiz oder das Vereinigte Königreich),<br />

für die – sollte sich Schärtls Ansatz durchsetzen – ähnlich tiefschürfende und<br />

umfangreiche verfassungs- und verfahrensrechtsrechtsvergleichende Untersuchungen<br />

vonnöten wären. Dennoch sei das Buch nicht nur dem am Internationalen<br />

Zivilverfahrensrecht, sondern vor allem auch dem am vergleichenden<br />

Verfassungs- und Verfahrensrecht interessierten Leser zur Lektüre empfohlen.<br />

Hamburg Anatol Dutta<br />

Bösch, Harald: Liechtensteinisches Stiftungsrecht. – Bern: Stämpfl i; Wien: Manz<br />

2005. XXXV, 880 S.<br />

I. Das liechtensteinische Stiftungsrecht spielt eine bedeutende Rolle. Obwohl<br />

Liechtenstein nur gut 30.000 Einwohner zählt, gibt es dort mehr als 51.000<br />

Stiftungen (in Deutschland bestehen derzeit gerade einmal 13.000 rechtsfähige<br />

Stiftungen). Die Stiftung ist damit die zahlenmäßig dominierende Rechtsform<br />

im liechtensteinischen Recht und eines der »Lieblingskinder« des Berufszweigs<br />

der liechtensteinischen Treuhänder. Der »Siegeszug« der liechtensteinischen<br />

Stiftung ist im Ausland nicht unbemerkt geblieben: Viele liechtensteinische<br />

Stifter kommen aus dem Ausland, der »Wettbewerb der Rechtsordnungen« hat<br />

Österreich bewogen, im Jahre 1993 das liechtensteinische »Erfolgsmodell« zum<br />

Vorbild für die österreichische Privatstiftung zu nehmen 1 . Eine entsprechende<br />

Reforminitiative in der Schweiz (Parlamentsinitiative Schiesser) hat eine beachtliche<br />

Diskussion über die Vorzüge und Nachteile des liechtensteinischen<br />

Stiftungsrechts entfacht; im Ergebnis haben sich aber weitgehend die Kritiker<br />

durchsetzen können, die eine »Ver-Liechtensteinisierung« des schweizerischen<br />

Stiftungsrechts ablehnen 2 .<br />

In der deutschen Debatte um die Reform des Stiftungszivilrechts, die auch<br />

nach dem Stiftungsreformgesetz von 2002, das im Wesentlichen den Status quo<br />

beibehalten hat, in der Wissenschaft anhält, spielen die liechtensteinischen Erfahrungen<br />

bislang keine große Rolle. Sofern Liechtenstein überhaupt erwähnt<br />

wird, überwiegen die skeptischen Stimmen. Manche Berichte, insbesondere aus<br />

den Medien, legen nahe, dass liechtensteinische Stiftungen vor allem als Instrument<br />

zur Steuerhinterziehung oder Geldwäsche dienen. Andererseits gibt es<br />

1 Näher zur Entstehungsgeschichte der österreichischen Privatstiftung Helbich, Die österreichische<br />

Privatstiftung – eine Erfolgsstory?, in: Privatstiftungen, Gestaltungsmöglichkeiten<br />

in der Praxis, hrsg. von Gassner/Göth/Gröhs/Lang (2000) 1 (3 ff.).<br />

2 Näher zur Stiftungsrechtsreform in der Schweiz Jakob, Das neue Stiftungsrecht der<br />

Schweiz: RIW 2005, 669 ff.


644 literatur RabelsZ<br />

Anzeichen, dass sich liechtensteinische juristische Personen mit deutschem Verwaltungssitz<br />

»vom Außenseiter zum Liebling« entwickeln könnten 3 .<br />

Trotz dieser großen praktischen Bedeutung und kontroversen Bewertung<br />

fehlte es bislang an einer grundlegenden wissenschaftlichen Darstellung des<br />

liechtensteinischen Stiftungsrechts. Diese Lücke wird nunmehr durch das Werk<br />

von Harald Bösch, Rechtsanwalt in Bregenz und mit der liechtensteinischen Stiftungspraxis<br />

bestens vertraut, geschlossen.<br />

II. Die Untersuchung ist in 12 Kapitel unterteilt.<br />

1. Nach einer Einführung in das Thema und einer Darlegung des Ganges der<br />

Untersuchung (S. 1–15) entwickelt der Autor in den ersten beiden Kapiteln eine<br />

Grundlage des liechtensteinischen Organisationsrechts.<br />

Das 1. Kapitel zeichnet die Entstehungsgeschichte des liechtensteinischen<br />

Personen- und Gesellschaftsrechts (PGR) nach und stellt den Aufbau <strong>dieses</strong><br />

Gesetzes vor (16–62). Die Entstehungsgeschichte belegt insbesondere die persönliche<br />

Verbindung der Redakteure zum schweizerischen Recht und die wirtschaftspolitische<br />

Motivation des historischen Gesetzgebers, ausländisches Kapital<br />

nach Liechtenstein zu locken.<br />

Das 2. Kapitel, das einen der Glanz- und Schwerpunkte der Arbeit darstellt,<br />

enthält eine methodische Grundlegung des liechtensteinischen Stiftungsrechts<br />

(63–182). Während die wohl herrschende liechtensteinische Meinung die Eigenständigkeit<br />

des liechtensteinischen Rechts betont, legt der Verfasser in einer<br />

eindrucksvollen, historisch ausgreifenden Analyse dar, dass das schweizerische<br />

Stiftungsrecht bis in die Formulierungen hinein das Vorbild für das liechtensteinische<br />

Stiftungsrecht gewesen ist. Der Autor stellt daher mit Recht die (in der<br />

Rezeptionsdiskussion) wohlbekannte Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit<br />

die schweizerische Rechtsprechung und Literatur (als partiell rezipierte Rechtsordnung)<br />

zur Auslegung des liechtensteinischen Stiftungsrechts herangezogen<br />

werden kann. Der Verfasser arbeitet allerdings auch die Unterschiede heraus,<br />

welche die Redakteure des liechtensteinischen Stiftungsrechts in bewusster Abkehr<br />

vom schweizerischen Vorbild eingearbeitet haben. Dabei handelt es sich<br />

insbesondere um die Einführung von Widerrufs- und Änderungsvorbehalten,<br />

aber auch um die Beschränkung »wirtschaftlicher Zwecke« und Zulässigkeit von<br />

»voraussetzungslosen Familienunterhaltsstiftungen«. Auf dieser Basis kommt der<br />

Verfasser zu dem überzeugenden Zwischenergebnis, das schweizerische Stiftungsrecht<br />

könne in behutsamer Form zur Auslegung des liechtensteinischen<br />

Stiftungsrechts herangezogen werden (152–159). Gleichzeitig taucht hier erstmals<br />

ein Leitmotiv auf, das sich durch die gesamte Arbeit zieht, nämlich die<br />

Fragen, inwiefern sich eine Stiftung durch das Fehlen körperschaftlicher Struk-<br />

3 So der Titel eines Aufsatzes von Rehm, Vom Außenseiter zum Liebling?, Liechtensteinische<br />

Gesellschaften mit deutschem Verwaltungssitz als unternehmerische Gestaltungsoption:<br />

Der Konzern 2006, 166 ff., der zugleich eine Besprechung der BGH-Entscheidung vom<br />

19. 9. 2005 (Az. II ZR 372/03) enthält, in welcher der BGH die vom EuGH zur Niederlassungsfreiheit<br />

(Artt. 43, 48 EGV) entwickelten Grundsätze der Entscheidungen Centros, Überseering<br />

und Inspire Art auf die entsprechenden Grundfreiheiten des EWR-Abkommens (Artt.<br />

31, 34 EWRA) übertragen hat, so dass er »im Ergebnis den Weg für liechtensteinische Gesellschaften<br />

in Deutschland freigeräumt hat« (so Rehm [diese Note] 175).


72 (2008)<br />

literatur<br />

645<br />

turen defi niert und welche Konsequenzen es vor diesem Hintergrund hat, dass<br />

das liechtensteinische Stiftungsrecht dem Stifter das Recht einräumt, sich den<br />

freien Widerruf und/oder die freie Zweckänderung vorzubehalten.<br />

Sodann geht der Verfasser auf die zahlreichen globalen Verweisungen des<br />

PGR ein (159–182). Das Stiftungsrecht verweist unter anderem auf die allgemeinen<br />

Vorschriften über die Verbandsperson, die vereinsrechtlichen Bestimmungen<br />

und das Gesetz über das Treuunternehmen (TrUG). Durch diese schon<br />

von Gschnitzer kritisierte »unglückliche Liebe, ja Sucht zu Verweisungen« im<br />

PGR im Allgemeinen und dem Stiftungsrecht im Besonderen ergeben sich<br />

Rechtsunsicherheiten, wie der Verfasser anhand mehrerer Beispiele aus der<br />

Rechtsprechung illustriert.<br />

Instruktiv sind hier insbesondere die Entscheidungen des liechtensteinischen<br />

Obersten Gerichtshofs (OGH) zwischen den späten achtziger Jahren und den<br />

späten neunziger Jahren (in der Amtszeit des damaligen Präsidenten Karl Kohlegger),<br />

in denen der OGH – mit Verweis auf die Privatautonomie des Stifters –<br />

eine nahezu uferlose Gestaltungsfreiheit des Stifters anerkannt hat, die sich nicht<br />

immer ohne weiteres mit den gesetzlichen Regelungen vereinbaren ließ.<br />

Eines der Beispiele ist die Anforderung an die Bestimmtheit des Stiftungszwecks:<br />

Art. 552 I PGR verlangt einen »bestimmten Stiftungszweck«. Die<br />

schweizerische herrschende Lehre legt die entsprechende Formulierung des Art<br />

80 ZGB mit Verweis auf den Stiftungsbegriff dahingehend aus, der Zweck müsse<br />

hinreichend bestimmt sein. Die liechtensteinische Rechtsprechung hat Ende<br />

der achtziger Jahre <strong>dieses</strong> Ergebnis abgelehnt und dies unter anderem mit einem<br />

Rückgriff auf Vorschriften des TrUG begründet, auf die mangels einer eindeutigen<br />

Regelung in den stiftungsrechtlichen Bestimmungen des PGR zurückzugreifen<br />

sei 4 . Die methodische Kritik des Verfassers an der »gedankenlosen Verallgemeinerung«<br />

(Rabel) der Verweisungsvorschriften überzeugt ebenso, wie<br />

die rechtspolitische Forderung nach Abhilfe durch ein Einschreiten des liechtensteinischen<br />

Gesetzgebers.<br />

2. Nach dieser methodischen Grundlegung wendet sich der Verfasser dem<br />

liechtensteinischen Stiftungsrecht zu. Das 3. Kapitel behandelt seiner Überschrift<br />

nach die »Begriffsmerkmale der selbständigen liechtensteinischen Stiftung«<br />

(183–249). Der Autor stellt eingangs die These auf, der Stiftungsbegriff<br />

sei »das entscheidende Kriterium für die Zulässigkeit atypischer Gestaltungen«,<br />

indem er eine »Grenzlinie zwischen zulässigem und unzulässigem Stiftungsgebilde«<br />

darstelle, welche der Typus »eben nicht zu leisten vermag« (S. 183). Anschließend<br />

macht der Verfasser als Begriffselemente den Stiftungszweck, das<br />

Stiftungsvermögen und die Stiftungsorganisation aus.<br />

Ein Schwerpunkt <strong>dieses</strong> Abschnitts ist die (bereits angesprochene) Frage, inwieweit<br />

der Stiftungszweck in der Stiftungsurkunde bestimmt bezeichnet sein<br />

muss. Der Verfasser setzt sich eingehend und kritisch mit der (bereits angesprochenen)<br />

Entscheidungspraxis des liechtensteinischen OGH zwischen den späten<br />

achtziger Jahren und den späten neunziger Jahren auseinander, in der auch unbestimmte<br />

Formulierungen wie »die Verwaltung von eigenem Vermögen und<br />

dessen Mehrung, die Vornahme aller Rechtsgeschäfte, die im Interesse der Stif-<br />

4 Fürstentum Liechtenstein (FL) OGH 26. 1. 1988, 3C 96/86–36, LES 1990, 107.


646 literatur RabelsZ<br />

tung liegen und geeignet sind, das Vermögen derselben zu mehren sowie die<br />

Verteilung des Stiftungsertrags« als hinreichend bestimmter Stiftungszweck angesehen<br />

wurden. Der Autor gelangt mit durchweg plausiblen Argumenten zum<br />

Ergebnis, dass diese Entscheidungspraxis nicht haltbar ist (202–227). Dies wird<br />

auch durch die neue Rechtsprechung des liechtensteinischen OGH unterstützt,<br />

die mittlerweile ebenfalls erhöhte Anforderungen an die Bestimmtheit des Stiftungszwecks<br />

stellt 5 . Die Folgefrage, inwieweit es die Privatautonomie des Stifters<br />

erlaubt, die Elemente des Stiftungsbegriffs zu ändern, und »atypische Stiftungen«<br />

zu schaffen, spart der Verfasser für spätere Kapitel auf.<br />

Stattdessen geht er im 4. Kapitel auf die »gesetzlichen Stiftungstypen« des<br />

liechtensteinischen Rechts ein (250–300). Das Hauptaugenmerk liegt hier auf<br />

der »reinen Familienstiftung«, die in der Praxis die am weitaus häufi gsten vertretene<br />

Stiftungsform ist, und sich dadurch auszeichnet, dass sie (im Gegensatz<br />

zur »normalen Stiftung«) von der Registeraufsicht und Eintragungspfl icht befreit<br />

ist. Auch hier besteht Uneinigkeit, inwieweit der Stiftungszweck einer Familienstiftung<br />

die zu unterstützende Familie bestimmen muss. Der Autor belegt<br />

in überzeugender Weise, dass der Verzicht auf die Registeraufsicht und die Eintragungspfl<br />

icht sich nur begründen lässt, wenn der Stiftungszweck und die Destinatäre<br />

eindeutig bestimmbar sind.<br />

Das 5. Kapitel möchte »rechtliche Konsequenzen der gesetzlichen Typenbildung«<br />

aufzeigen (301–459) und handelt ausführlich drei Problemkreise des<br />

liechtensteinischen Stiftungsrechts ab, nämlich die Problematik der »Hinterlegung«<br />

der Stiftungsurkunde, der Stiftungsaufsicht sowie der Aufl ösung der Stiftung.<br />

Die Kritik des Autors, die Regelungen zur Hinterlegung seien schlichtweg<br />

unvollkommen, überzeugt. In der Tat scheinen diese Regeln in erster Linie<br />

daraufhin abzuzielen, eine Stiftung mit anonymem Stifter und anonymen privaten<br />

Destinatären zu ermöglichen. Dies ist bedenklich, denn es liegt auf der<br />

Hand, dass eine solche »anonymisierte« Stiftung zur Benachteiligung etwaiger<br />

Gläubiger genutzt werden kann und darüber hinaus sogar der Geldwäsche dienen<br />

kann.<br />

3. In den folgenden vier Kapiteln geht es schließlich um die (schon angesprochene)<br />

Frage korporativer Stiftungen. Mit Recht begreift der Autor diese Fragestellung<br />

als ein Problem der Privatautonomie des Stifters und ihrer Grenzen.<br />

Das 6. Kapitel beginnt daher mit der Darstellung der »Stiftungsrechtliche[n]<br />

Privatautonomie und ihre[n] Grenzen« (459–505). Zu beachten ist hierbei die<br />

bewusst liberale Grundhaltung des liechtensteinischen Rechts, das der Privatautonomie<br />

durchweg einen sehr hohen Stellenwert einräumt. Dies geht so weit,<br />

dass in der Rechtsprechung des liechtensteinischen OGH davon die Rede ist,<br />

der Stifterfreiheit sei der Vorrang vor dem zwingenden Recht einzuräumen,<br />

was paradox anmutet und von Bösch mit Recht schon in früheren Beiträgen<br />

kritisiert worden ist. Der Autor verweist damit auch auf die entsprechende Diskussion<br />

in Deutschland zur Begrenzung der Stifterfreiheit bei »stiftungsfremden«<br />

Zwecken und vor der »Degenerierung der Stiftung zur Quasi-Einmann-<br />

GmbH«. Als Grenzen macht er (mit Recht) die »Widerrechtlichkeit und Unsittlichkeit<br />

des Zwecks und des Gegenstandes« aus. Darüber hinaus plädiert der<br />

5 FL OGH 17. 7. 2003–1 CG 2002.262.55.


72 (2008)<br />

literatur<br />

647<br />

Autor für »stiftungsimmanente Grenzen« der Privatautonomie des Stifters, die<br />

der Autor aus dem »Stiftungsbegriff« entnehmen möchte, wobei er sich in guter<br />

Gesellschaft mit der wohl herrschenden deutschen Lehre befi ndet 6 . Konsequenterweise<br />

sieht der Autor daher in der Möglichkeit des Stifters, sich im liechtensteinischen<br />

Stiftungsrecht den Widerruf oder die Zweckänderung (ohne besonderen<br />

Grund) vorzubehalten, den »Sündenfall« des liechtensteinischen Stiftungsrechts<br />

(482).<br />

Ehe das 8. Kapitel diese Überlegungen weiterführt, wendet das 7. Kapitel<br />

(»Stiftungsbeteiligte und Rechtsschutz«, 505–604) den Blick zu den Rechten<br />

der »Stiftungsbeteiligten« und »Stiftungsinteressierten«. Anders als viele andere<br />

Rechtsordnungen enthält das liechtensteinische Stiftungsrecht vergleichsweise<br />

ausführliche gesetzliche Bestimmungen, in denen den »Beteiligten« der Stiftung<br />

diverse Kontroll-, Informations- und Anhörungsrechte eingeräumt sind. Umstritten<br />

ist jedoch die Reichweite dieser Rechte. Dies gilt sowohl hinsichtlich<br />

der Rechte selbst (da unklar ist, ob und gegebenenfalls inwieweit neben den<br />

Vorschriften des PGR auch die einschlägigen Vorschriften des TrUG auf Stiftungen<br />

anzuwenden sind), als auch hinsichtlich des Personenkreises, der diese<br />

Rechte geltend machen kann. Der Autor spricht sich hier mit überzeugenden<br />

Gründen für eine differenzierende Lösung aus und unterscheidet danach, welche<br />

Interessen (potentielle) »Beteiligte« und »Interessierte« wahrnehmen können.<br />

Diese Überlegungen sind nicht nur für die Auslegung des liechtensteinischen<br />

Stiftungsrechts interessant, sondern lassen sich auch als übergeordnete<br />

Prinzipien für das deutsche Stiftungsrecht fruchtbar machen. Dort ist die Frage<br />

bislang nicht geregelt, welche Rechte die Destinatäre und andere »stiftungsinteressierte«<br />

Personen haben. In der Literatur wird diese Frage jedoch zunehmend<br />

kontrovers diskutiert 7 .<br />

Das 8. Kapitel (»Stifter und Stifterrechte«, 605–666) wendet den Blick zurück<br />

zur Rechtsposition des Stifters. Der Autor zeigt auf, dass sich ein liechtensteinischer<br />

Stifter sehr weitgehende Rechte einräumen kann. Zu nennen sind in<br />

diesem Zusammenhang insbesondere das Recht, eine »Stiftung für den Stifter«<br />

zu errichten, bei der sich der Stifter selbst als Destinatär einsetzt (613 ff.), die<br />

bereits angesprochenen Widerrufs- und Änderungsvorbehalte hinsichtlich des<br />

Stiftungszwecks nach Art. 559 IV PGR (S. 616 ff.) und die von der Rechtsprechung<br />

anerkannte Möglichkeit des Stifters, sich die Stellung eines »obersten<br />

Stiftungsorgans« einzuräumen. Der Autor steht diesen weitgehenden Gestaltungsmöglichkeiten<br />

– wie bereits ausgeführt – eher kritisch gegenüber. Außerdem<br />

diskutiert der Autor, inwieweit der Stifter Dritten das Recht einräumen<br />

kann, die Geschicke der Stiftung zu bestimmen (Zweckänderung, Organisati-<br />

6 Siehe Münchener Kommentar zum BGB 5 (-Reuter) (2006) § 85 BGB Rz. 1 ff. (zitiert:<br />

Münch. Komm. BGB [-Reuter]); Jeß, Das Verhältnis des lebenden Stifters zur Stiftung (1991)<br />

passim; Jakob, Schutz der Stiftung (2006) 523 ff.<br />

7 Eher zurückhaltend Schwintek, Vorstandskontrolle in rechtsfähigen Stiftungen bürgerlichen<br />

Rechts (2001) 311 ff. Jakob (vorige Note) 346 f. Für vergleichsweise weitgehende Kontroll-<br />

und Klagerechte (potentieller) Destinatäre hingegen Reuter, Die Haftung des Stiftungsvorstandes<br />

gegenüber der Stiftung, Dritten und dem Fiskus, in: Non Profi t Law Yearbook<br />

2002 (erschienen 2003) 157 (172 ff.), sowie Thymm, Das Kontrollproblem der Stiftung und die<br />

Rechtsstellung der Destinatäre (2007).


648 literatur RabelsZ<br />

onsänderung, Bestimmung des Begünstigten, 629 ff.). Schließlich geht der Autor<br />

auf die in der neueren Rechtsprechung thematisierte Frage ein, ob und gegebenenfalls<br />

inwieweit die »Stifterrechte« abtretbar sind (646 ff.). Nachdem die<br />

Rechtsprechung hier ursprünglich sehr großzügig war, hat sie in einem neueren<br />

Urteil nunmehr die »Stifterrechte« pauschal als höchstpersönliche, nicht übertragbare<br />

Rechte eingeordnet. Der Autor spricht sich – unter Rückgriff auf dogmatische<br />

Erwägungen im schweizerischen Recht – mit Recht für eine differenzierende<br />

Lösung aus: Es bestünden keine Bedenken, durch die Satzung Dritten<br />

Nominierungs-, Zustimmungs-, Veto- oder andere Eingriffsrechte »mit geringer<br />

Eingriffstiefe« zu übertragen.<br />

Das 9. Kapitel (»Körperschaftlich beherrschbare Stiftung«, 667–733) ist eines<br />

der weiteren Herzstücke der Arbeit. Der Autor beschränkt sich hier nicht nur<br />

auf eine theoretische Analyse, sondern verdeutlicht durch Beispiele, warum er<br />

die Widerrufs- und Änderungsvorbehalte hinsichtlich des Stiftungszwecks nach<br />

Art. 559 IV PGR für missbrauchsanfällig hält. Hierdurch erlange der Stifter das<br />

Recht, über das Stiftungsvermögen weiterhin wie über sein eigenes Vermögen<br />

zu verfügen, weil er die Stiftung jederzeit zu einer Stiftung für den Stifter machen<br />

könne, in dem er die Satzung und Beistatuten der Stiftung entsprechend<br />

ändere (667 ff.). Die »körperschaftliche Beherrschbarkeit« einer solchen Stiftung<br />

zeige sich nicht schon dadurch, dass sie auf einem Zusammenschluss von Personen<br />

(Quasi-Mitgliedern) beruhe, sondern dadurch, dass der Stifter (wie die<br />

Mitglieder eines Verbandes) berechtigt sei, den ursprünglich angestrebten<br />

Zweck (auch zu seinem eigenen wirtschaftlichen Vorteil) immer wieder abzuändern.<br />

Diese Besonderheit entspreche dem »körperschaftlichen Selbstbestimmungsrecht«,<br />

das »eigentlich das grundlegende Unterscheidungskriterium<br />

zur Körperschaft« darstellt. Da der liechtensteinische Gesetzgeber diesen Widerspruch<br />

bewusst in Kauf genommen habe, sei diese Rechtslage trotz der damit<br />

verbundenen dogmatischen Verwerfungen hinzunehmen (670 ff.). Im Folgenden<br />

zeigt der Autor anhand konkreter Beispiele aus der liechtensteinischen<br />

Rechtsprechung zur Stiftung und (der mit dieser insoweit vergleichbaren) Anstalt<br />

die (gewollten?) Unzulänglichkeiten des liechtensteinischen Zwangsvollstreckungsrechts,<br />

die es – in Kombination mit der bereits geschilderten Anonymität<br />

des Stiftungsrechts – einem Schuldner leicht machen, durch Übertragung<br />

seines Vermögens auf eine liechtensteinische Stiftung den Zugriff seiner Gläubiger<br />

auf <strong>dieses</strong> Vermögen erheblich zu erschweren, wenn nicht gar unmöglich<br />

zu machen (672 ff.). Auch eigne sich die »jederzeit beherrsch- und aufl ösbare<br />

Stiftung hervorragend für Geldwäschereizwecke«, zumal sie in der Praxis treuhänderisch<br />

errichtet und verwaltet werde (689 f.). Die liechtensteinische Kautelarpraxis<br />

müsse sich fragen lassen, warum sie »körperschaftlich beherrschbare<br />

Stiftungen« propagiere, obwohl sowohl die Abtretbarkeit der »Stifterrechte« als<br />

auch die »Anonymität« der liechtensteinischen Stiftung bei richtiger Anwendung<br />

des liechtensteinischen Rechts (wie nunmehr auch die neue Rechtsprechung<br />

des liechtensteinischen OGH aufgezeigt habe) nicht in dem Ausmaße<br />

möglich sei, wie es in der Kautelarpraxis angestrebt werde.<br />

4. Das 10. und 11. Kapitel thematisieren besondere Fragestellungen. Das 10.<br />

Kapitel widmet sich »Sonderfragen der treuhänderischen Stiftungserrichtung<br />

und -verwaltung« (733–772). Hier werden nochmals die Besonderheiten des


72 (2008)<br />

literatur<br />

649<br />

liechtensteinischen Stiftungsrechts deutlich: Die vom Stifter erwünschte Anonymität<br />

führt dazu, dass die treuhänderische Gründung durch einen liechtensteinischen<br />

Treuhänder zum Regelfall geworden ist. Hieraus ergibt sich wiederum<br />

eine Vielzahl spannender Fragen, die der Autor in überzeugender Manier<br />

aufwirft und beantwortet. Das 11. Kapitel diskutiert das »Stiftungsrechtsreformvorhaben<br />

der liechtensteinischen Regierung« (773–804) und hält <strong>dieses</strong> in wesentlichen<br />

Punkten für unzureichend, um die aufgezeigten Defi zite zu beheben.<br />

5. Das Schlusskapitel enthält eine leserfreundliche Zusammenfassung der<br />

wichtigsten Thesen und einen Ausblick (805–832). Im Annex fi ndet sich eine<br />

Synopse der einschlägigen Regeln des PGR und des schweizerischen ZGB.<br />

III. Wenn man die Untersuchung nochmals zusammenfassend würdigt, so<br />

sind insbesondere drei Leistungen des Autors hervorzuheben.<br />

(1) Einmal gelingt es dem Autor, eine lebendige und hochinteressante Studie<br />

der Entwicklung des liechtensteinischen Stiftungsrechts und der Art und Weise,<br />

wie sich die merkantile Erwägung, durch die Stiftungsform ausländisches Kapital<br />

anzuziehen, in der Gesetzgebung und Rechtsprechung niedergeschlagen hat.<br />

Dabei ist besonders hervorzuheben, dass der Autor auch Interna aus der Stiftungspraxis<br />

darstellt, die aus der Lektüre des Gesetzestexts nicht erkennbar<br />

sind.<br />

(2) Zweitens zeigt Bösch in überzeugender Weise auf, dass sich zumindest<br />

manche bedenklich anmutende Auswüchse des liechtensteinischen Stiftungsrechts<br />

schon de lege lata korrigieren lassen.<br />

(3) Schließlich ist die Diskussion über die Möglichkeiten und Gefahren »korporativer<br />

Stiftungen« auch für die aktuelle deutsche Debatte von großem Interesse,<br />

denn sie zeigt die Erfahrungen und Probleme mit derartigen Gebilden auf<br />

und regt an zu überdenken, in welchen Fällen solche »korporativen Elemente«<br />

eine diskutable Gestaltungsoption darstellen und in welchen Fällen sie für Missbräuche<br />

anfällig sind.<br />

IV. Was die (zuletzt) angesprochenen »korporativen Stiftungen« betrifft, tendiert<br />

der Rezensent allerdings zu einer anderen Auffassung als der Autor. Bösch<br />

sieht einen »Missbrauch« wohl schon darin, dass die Stiftungsform wegen<br />

Art. 559 IV PGR sich entgegen dem traditionellen Stiftungsbegriff »körperschaftlich«<br />

modifi zieren lässt, weil sich nach dieser Vorschrift der Stifter den<br />

Widerruf und die vorbehaltlose Zweckänderung vorbehalten darf. Hiermit befi<br />

ndet er sich in guter Gesellschaft, denn nach ganz überwiegender deutscher<br />

stiftungsrechtlicher Ansicht besteht ein »Verbot korporativer Elemente im Stiftungsrecht«,<br />

das derartige Zweckänderungen nur erlauben soll, wenn hierfür<br />

ein »wichtiger Grund« im Sinne eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage eintritt 8 .<br />

Indessen legen es die vom Autor selbst angeführten Beispiele des Missbrauchs<br />

nahe, diesen Standpunkt zu überprüfen. Dabei spricht einiges für eine differenzierte<br />

Betrachtungsweise:<br />

Der eigentliche Missbrauch scheint dem Rezensenten vor allem darin zu liegen,<br />

dass das liechtensteinische Stiftungsrecht ausländische Gläubiger des Stifters<br />

(wie Pfl ichtteilsberechtigte, Unterhaltsberechtigte oder den Fiskus) in ekla-<br />

8 Siehe Münch. Komm. BGB (-Reuter) § 85 BGB Rz. 1 ff.; Jeß passim; Jakob, Schutz der<br />

Stiftung 523 ff. (alle oben N. 6).


650 literatur RabelsZ<br />

tanter Weise benachteiligt. Dies liegt einmal an der Intransparenz, die es ermöglicht,<br />

»geheime Stiftungen« zu errichten, bei denen weder der wirkliche<br />

Stifter noch der wirkliche Destinatär erkennbar sind, und zum anderen daran,<br />

dass Liechtenstein bisher insoweit mit den meisten Staaten keine ausreichenden<br />

Rechtshilfeabkommen abgeschlossen hat.<br />

Zweifelhaft erscheint es dem Rezensenten hingegen, ob ein Missbrauch<br />

schon dann anzunehmen ist, wenn sich die »korporativen Elemente« darauf beschränken,<br />

dass der Stifter zwischen mehreren gemeinnützigen Zwecken mehr<br />

oder minder frei wählen kann (z. B. den Zweck einer Stiftung von Stipendien<br />

für Musikstudenten in Entwicklungshilfe ändern darf). Sofern der Stiftung keine<br />

Zuwendungen im Hinblick auf ihren ursprünglichen Zweck gemacht worden<br />

sind, ist nicht recht ersichtlich, warum hier ein »Missbrauch« vorliegen soll,<br />

denn die Interessen der potentiellen Destinatäre an der Aufrechterhaltung eines<br />

bestimmten Förderprogramms verdienen keinen rechtlichen Schutz. Die Bedenken<br />

an der »korporativen« Ausgestaltung lassen sich in diesen Fällen daher<br />

nicht mit den »Missbrauchs«-Erwägungen rechtfertigen, sondern allein mit dem<br />

formaleren Argument, dass die vorbehaltlose Änderung eines (fremdnützigen)<br />

Zwecks in einen anderen (fremdnützigen) Zweck traditionellerweise im Stiftungsrecht<br />

nicht üblich ist und dass eine solche Flexibilität auch durch die Wahl<br />

einer »Stiftungs-Körperschaft« (z. B. einen Verein) erreicht werden könnte. Ob<br />

deswegen jedoch eine trennscharfe Abgrenzung von Stiftung und Körperschaft<br />

zwingend geboten ist, lässt sich gleichwohl bezweifeln, da derselbe (gemeinnützige)<br />

Zweck sich ebenso gut durch eine Stiftung wie durch einen Verein fördern<br />

lässt und in der Praxis offenbar bisweilen ein gewisser Bedarf für »Mischformen«<br />

(wie zum Beispiel im Fall der Bürgerstiftung) besteht. Auch die Reform des<br />

schweizerischen Stiftungsrechts von 2005 hat die Möglichkeiten zur Zweckänderung<br />

behutsam erweitert 9 .<br />

Diskutabel ist schließlich, ob man in der Möglichkeit der »Stiftung für den<br />

Stifter« generell einen Missbrauch sehen sollte. Zutreffend ist, dass eine solche<br />

»Stiftung« einen »eigennützigen Charakter« erhält, der dem traditionellen Stiftungsrecht<br />

fremd ist. Aus diesem Grunde kann man die »Stiftung für den Stifter«<br />

kritisieren. Fraglich ist jedoch, ob ein solcher Funktionswandel der Stiftung<br />

hin zu einem »eigennützigen« Gebilde schon per se als »missbräuchlich« anzusehen<br />

ist. Einen solchen Missbrauch kann man darin sehen, dass eine »Stiftung für<br />

den Stifter« ein Vermögen gegen den Zugriff der Gläubiger immunisiert. Dieser<br />

Gefahr lässt sich aber auch dadurch begegnen, dass man die Anfechtungsrechte<br />

der Gläubiger entsprechend ausweitet. So zeigt die Diskussion um die<br />

österreichische Privatstiftung (die auch die »Stiftung für den Stifter« kennt),<br />

dass man bei einer entsprechenden Interpretation durchaus die Gläubiger schützen<br />

kann 10 .<br />

9 Näher zur Stiftungsrechtsreform in der Schweiz Jakob, Das neue Stiftungsrecht der<br />

Schweiz (oben N. 2) 669 ff.<br />

10 Siehe jüngst OGH 26. 4. 2006–3 Ob 217/05s, JBL 2007, 110 ff., wonach Gläubiger des<br />

Stifters einer österreichischen Privatstiftung dessen satzungsmäßig vorbehaltenes Änderungsrecht<br />

pfänden und ausüben können und damit im Ergebnis Zugriff auf das Stiftungsvermögen<br />

erhalten.


72 (2008)<br />

literatur<br />

651<br />

V. Summa summarum ist die Arbeit von Bösch ein großer Gewinn für die<br />

Wissenschaft, weil es sich hierbei um eine fundierte Grundlagenarbeit im besten<br />

Sinne des Wortes handelt, die reichhaltiges Anschauungsmaterial zur liechtensteinischen<br />

Stiftungspraxis bietet und die deutsche Diskussion zu den Destinatärsrechten<br />

und der Zulässigkeit »korporativer« Stiftungen bereichert.<br />

Hamburg Thomas v. Hippel<br />

Choosing Genes for Future Children. Regulating Preimplantation Genetic Diagnosis.<br />

Human Genome Research Project. Principal Investigator: Mark Henaghan.<br />

– Dunedin, N. Z.: Human Genome Research Project 2006. 370 S.<br />

Anzuzeigen ist der erste Band eines Forschungsprojektes über Genome, welches<br />

von der Juristischen Fakultät der University of Otago, der südlichsten Universität<br />

der Welt gesteuert wurde. Ein Forscherkollektiv von den Inseln im Südpazifi<br />

k hat sich umfassend mit der Wahl von Genen für künftige Kinder befasst.<br />

Dabei wurden auch Fachleute aus dem Vereinigten Königreich und den USA<br />

herangezogen.<br />

Beim Lesen der Reports trifft man schon auf der ersten Seite auf ein Zitat von<br />

Jürgen Habermas, der die Präimplantationsdiagnostik als das Streben nach genetischer<br />

Optimierung bezeichnet hat. Diese Suche nach einem gesünderen Organismus<br />

entstamme derselben Haltung wie die eugenische Praxis. Dieses Zitat<br />

macht einen neugierig, denn offensichtlich sollen in dem Bericht nicht alle Präimplantationstechniken<br />

verworfen werden. Ein gutes Beispiel für den anderen<br />

Standpunkt liefert der Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages:<br />

»Chancen und Risiken der Gentechnologie« (1987). Als dieser Bericht<br />

der Presse vorgestellt wurde, war der Saal des Bundestags für Presseäußerungen<br />

nur relativ schwach besetzt. Der Vorsitzende, ein Mitglied und späterer Staatssekretär<br />

der SPD, las einem scheinbar ermüdeten Publikum die Empfehlungen<br />

der Kommission vor. Diese gingen auch dahin, dass der somatische Gentransfer<br />

zulässig sein solle, gentechnische Eingriffe in die Keimbahn des Menschen sollten<br />

jedoch aus kategorischen Gründen strafrechtlich verboten werden. Aus dem<br />

Zuschauerraum meldete sich ein Reporter der »Süddeutschen Zeitung« und<br />

fragte, wie es denn im folgenden Fall stehen würde: In einer Familie sei Schwerhörigkeit<br />

erblich. Nun gebe es eine Möglichkeit, durch einen gentechnischen<br />

Eingriff in die Keimbahnzellen die Schwerhörigkeit zu beseitigen. Sollte <strong>dieses</strong><br />

etwa verboten werden? Die Antworten des Vorsitzenden und einzelner Kommissionsmitglieder<br />

waren unbefriedigend. Der neben mir sitzende Soziologe<br />

hielt <strong>dieses</strong> Verbot für verfassungswidrig, ich sogar für menschenrechtswidrig.<br />

Die hier vorgelegte Untersuchung beginnt mit den wesentlichen Ergebnissen,<br />

geht dann zurück zu den klinischen Möglichkeiten, erörtert die Perspektiven<br />

aus der Sicht der Maori, um schließlich die ethischen Fragen ebenso umfassend<br />

wie die juristischen und regulatorischen Besonderheiten zu erörtern. Was<br />

das Rechtliche angeht, so ist selbstverständlich vom heimischen Recht auszugehen,<br />

insbesondere ist nach einer Reihe von Richtlinien der sog. Human Assisted<br />

Reproductive Technology Act 2004 (HART Act) erlassen worden. Dieses


652 literatur RabelsZ<br />

Gesetz verwirft nicht die Präimplantationsdiagnostik, sondern greift sie durch<br />

zwei Kommissionen auf. Die eine stellt Richtlinien auf, um das Gesetz anzuwenden<br />

oder Neuentwicklungen einzubeziehen. Die andere befasst sich mit<br />

jedem einzelnen vorgelegten Fall und erlaubt ihn oder lehnt ihn ab. Bei dieser<br />

Gelegenheit muss die außerordentliche Offenheit gelobt werden, mit der schon<br />

zu Beginn des Buches die Zwangssterilisation in den USA, die Tuskegee Syphilis<br />

Study (1932–1974) – bei welcher den Teilnehmern der Syphilis-Studie das zwischenzeitlich<br />

erfundene Penicillin vorenthalten wurde – erwähnt wird, sowie<br />

der Cartwright Report (1988), bei dem es um die Voraussetzungen der klinischen<br />

Forschung und die Einrichtung von Ethikkommissionen ging. Dennoch kommt<br />

der Report zu dem Ergebnis, dass man die Problematik mit sympathetic detachment<br />

betrachten solle. Der von der deutschen Enquete-Kommission eingenommene<br />

kategorische Standpunkt wird also nicht übernommen.<br />

Dem exzellenten Bericht über die Problematik der Präimplantationsdiagnostik<br />

im angloamerikanischen Bereich ist eigentlich nur noch hinzuzufügen, dass<br />

man sich gewünscht hätte, dass auch das kontinentaleuropäische Recht und die<br />

japanische bzw. südkoreanische Sicht der Dinge eingefl ossen wären. Vielleicht<br />

ist dies noch nachzuholen. Allerdings ist im Bericht über das Recht Europas die<br />

Entscheidung der Cour de Cassation im Fall Perruche behandelt worden. Wenn es<br />

dort heißt, dass die französischen Gerichte dem public-policy-Argument gegen<br />

den Anspruch des Kindes aus wrongful life nicht gefolgt seien, so ist das durchaus<br />

richtig, wenn auch die Fußnoten auf S. 353 etwas durcheinandergeraten sind<br />

und nicht der Senat, sondern das Parlament in Frankreich das entscheidende<br />

Gesetzgebungsgremium ist. Was den ordre public angeht (vgl. S. 271), so ist jedoch<br />

in der ungewöhnlich ausführlichen Begründung von Pierre Sargos davon<br />

nicht die Rede.<br />

Ziehen wir die Summe, so handelt es sich um ein hoch interessantes, aber<br />

auch hoch spekulatives Werk zu den Problemen der Präimplantationsdiagnostik,<br />

ihrem Vollzug und ihrer Wertung. Der Einfl uss dieser Technik auf die<br />

Gesellschaft insbesondere in der Zukunft soll im nächsten Bericht folgen, auf<br />

den man durchaus gespannt sein darf. Innerhalb der selbst gesetzten Grenzen<br />

ein rundum lobenswertes Buch.<br />

Göttingen Erwin Deutsch<br />

Watson, Alan: The Shame of American Legal Education. – Belgrad: Dosije<br />

2005. 227 S.<br />

Alan Watsons Verriss der amerikanischen Juristenausbildung ist für deutsche<br />

Leser gleich mehrfach interessant. Nicht nur gewährt er, gleichsam ex negativo,<br />

einen handfesten Eindruck von der amerikanischen Juristenausbildung, das<br />

Buch ist auch erkennbar von einem kontinentalen Ideal der Juristenausbildung<br />

getrieben. Erstaunlich in Zeiten, in denen deutsche Jurastudenten in Scharen<br />

und wie magisch von den US-amerikanischen Law Schools angezogen scheinen.<br />

Deutsche Pilger, die Watsons schonungslose Kritik zur Hand nehmen, werden<br />

um einen gewissen Schock nicht umhinkommen, denn Schonung hat Watson in


72 (2008)<br />

literatur<br />

653<br />

der Tat nicht walten lassen. Der Verfasser liefert das, was man früher »starken<br />

Tobak« nannte. Das Buch ist nichts weniger als ein Verriss des gesamten Systems<br />

der amerikanischen Juristenausbildung, mit deutlichen Worten und, bisweilen,<br />

großem Zorn.<br />

Wie kam es dazu? Man hat keineswegs den Ausfall eines akademischen Außenseiters<br />

vor sich. Alan Watson gehört weltweit zu den angesehensten Romanisten.<br />

Sein Lehrer David Daube, dessen Werk und Person sich Watson bis heute<br />

stark verbunden und verpfl ichtet fühlt, gehörte zu den originellsten und vielseitigsten<br />

romanistischen Schriftstellern des vergangenen Jahrhunderts und darf<br />

wohl zu Meistern des Faches vom Format eines Ernst Rabel, Paul Koschaker oder<br />

Ludwig Mitteis gezählt werden. 1 In diese Reihe gehört Alan Watson schon aufgrund<br />

seines breiten, rechtshistorisch-rechtsvergleichenden Zugriffs. Damit hat<br />

er seit den siebziger Jahren die romanistische Forschung intensiv bereichert, bisweilen<br />

auch intensiv beunruhigt, etwa mit seinen dezidierten, rechtstheoretisch<br />

orientierten Thesen zu den Mechanismen historischer Rechtstransfers und zur<br />

Evolution des Rechts. 2 Umso bemerkenswerter ist, dass in den USA trotz wiederholter<br />

Bemühungen kein Verlag bereit war, Watsons Kritik zu veröffentlichen.<br />

So ist das Werk zunächst in Belgrad erschienen, in eher bescheidener Ausstattung.<br />

Erst die (nur unwesentlich veränderte) »zweite Aufl age« konnte Watson<br />

in den USA platzieren, in nicht weniger bescheidener Ausstattung und in einem<br />

Verlag mit durchaus überschaubarem Renommee 3 . Von einer dem Ruf des Autors<br />

angemessenen Publikation ist der mit nicht wenigen Druckfehlern versehene<br />

Text nicht nur haptisch weit entfernt. Was aber macht das Buch so brisant?<br />

Alan Watsons Buch ist in neun Kapitel aufgeteilt, die auf den ersten Blick<br />

recht lose miteinander verknüpft sind. Darin werden gleichwohl alle tragenden<br />

Säulen der amerikanischen Juristenausbildung attackiert: Das Curriculum<br />

(S. 27 ff., 127 ff.), die Unterrichtsmethode (59 ff. und passim), die Stellung der<br />

mächtigen Dekane (98 ff.), die Berufungspraxis (100 f.), das System der von Studenten<br />

geleiteten »Law Reviews« (93 ff.), die einfl ussreichen Rankings (53 ff.),<br />

die Casebooks, die den Alltag amerikanischer Jurastudenten prägen (87 ff.), und<br />

schließlich sogar die wissenschaftliche Qualität der amerikanischen Rechtsprofessoren<br />

(131 ff.). Und doch geht es bei diesem kraftvollen Rundumschlag im<br />

Kern um einen wiederkehrenden Topos. Es ist der Vorwurf, amerikanische Jurastudenten<br />

lernten nicht das Recht, ja hätten nach drei Jahren Law School nicht<br />

den blassesten Schimmer vom Recht (12, 23, 36 und passim). »Was aber ist das<br />

Recht?« wird nicht nur der Rechtstheoretiker sofort fragen. Und hier liegt bereits<br />

die Problematik von Watsons Kritik. Denn die These des Verfassers ist genuin<br />

rechtstheoretisch. Die Studierenden lernten nichts über das Recht, weil sie<br />

nichts über die tragenden Prinzipien und Konzepte des Rechts lernten (siehe<br />

nur 36). Dass aber das Recht von solch tragenden (und also erlernbaren!) Prin-<br />

1 Siehe die wunderbare Hommage von Carmichael, Ideas and the Man: Remembering<br />

David Daube (2004).<br />

2 Watson, Legal Transplants, An Approach to Comparative Law (1974); ders., Society and<br />

Legal Change (1977); siehe auch ders., Legal Change Sources of Law and Legal Culture: U.<br />

Penn. L. Rev. 131 (1983) 1121 ff.; ders., Roman Law and English Law, Two Patterns of Legal<br />

Development: Loyola L. Rev. 32 (1990) 247 ff.<br />

3 Lake Mary, Fla.: Vandeplas Publ. 2006.


654 literatur RabelsZ<br />

zipien und Konzepten durchzogen sei, ist bereits keine kleine Prämisse. Von<br />

einer langen Tradition innerhalb der amerikanischen Rechtswissenschaft wird<br />

sie vehement bestritten. Seit Oliver Wendell Holmes’ legendärem »the life of the<br />

law has not been logic, it has been experience« 4 über die Ernüchterungen des<br />

Legal Realism bis hin zu den Entzauberungen der Critical-Legal-Studies-Bewegung<br />

erschienen die vermeintlichen Prinzipien des Rechts als bloße Nebelbomben,<br />

mal geworfen von lebensfremden Naivlingen, mal von böswilligen Verteidigern<br />

des Status quo. 5 Auch die heute wohl führende Theorie der Rechtsökonomen<br />

um den vielseitigen Richard Posner glaubt an ganz andere »Prinzipien« im<br />

Recht. 6<br />

Noch wichtiger erscheint, dass es gerade der von Watson attackierten case<br />

method, nach der seit über einem Jahrhundert an allen Law Schools gelehrt wird,<br />

um nichts anderes ging, als eben die tragenden Prinzipien eines Rechtsgebietes<br />

anhand konkreter obergerichtlicher Entscheidungen aufzufi nden. Gerade dies<br />

hat ihr vernichtende und nachhaltige Kritik eingetragen, immer entlang des<br />

Holmesschen Antagonismus von »logic« und »experience«. 7 Insoweit könnte<br />

man Watsons Pamphlet leicht einer langen Reihe von Verrissen der case method<br />

zuordnen, in denen die Lebensfremdheit, aber auch die Rigidität dieser Unterrichtsmethode<br />

gnadenlos angeprangert wurden. 8 Doch Watsons Kritik geht<br />

gleichsam in die Gegenrichtung. Für ihn fehlt es bei der case method an dem Blick<br />

auf jene Strukturen, die das ganze Rechtsgebiet durchziehen, und nicht nur den<br />

konkreten Fall. Sein Vorbild ist insoweit erkennbar die kontinentale Methode<br />

des Rechtsunterrichts, wo in Vorlesungen das Rechtsgebiet in toto präsentiert<br />

wird, von oben nach unten statt von unten, dem Fall, nach oben, zu den »Prinzipien«.<br />

Nach Watson wird das Recht nur auf dem ersteren Weg verstanden.<br />

Dass es um ein solch hermeneutisches Projekt geht, zeigt Watsons zweiter<br />

wesentlicher Kritikpunkt. Er betrifft den Mangel an Rechtsvergleichung, vor<br />

allem aber an Rechtsgeschichte im amerikanischen Curriculum. Amerikanische<br />

Jurastudenten wüssten nichts darüber, wie eine Regelung in anderen Rechtskreisen<br />

ausfällt und nichts über ihre historische Genese. Warum aber müssen die<br />

Studenten davon etwas wissen? Watsons Argument entpuppt sich auch hier als<br />

ein rechtstheoretisches. Nicht sosehr die Frage wie, sondern die Frage warum in<br />

anderen Ländern und in der Geschichte anders verfahren wurde, ist für Watson<br />

entscheidend. Die Jurastudenten verstünden das Recht besser, wenn sie seine<br />

4 So die berühmte Passage aus Holmes, The Common Law (1881) 5.<br />

5 Siehe nur Llewellyn, Some Realism About Realism, Responding to Dean Pound: Harv.<br />

L. Rev. 44 (1931) 1222 ff.; Duncan Kennedy, Form and Substance in Private Law Adjudication:<br />

Harv. L. Rev. 89 (1976) 1685 ff. Eine wertungsfreudige, aber darum sehr lesbare Geschichte<br />

der amerikanischen Rechtswissenschaft, die sich dieser besonderen Tradition intensiv widmet,<br />

liefert Duxbury, Patterns of American Jurisprudence (1995).<br />

6 Siehe vor allem Posner, The Economics of Justice (1981).<br />

7 Dazu grundlegend LaPiana, Logic and Experience, The Origin of Modern American<br />

Legal Education (1994); siehe auch R. Stevens, Law School, Legal Education in America from<br />

the 1850s to the 1980s (1983).<br />

8 Siehe nur die »klassischen« Bestseller von Turow, One L (1977) und Osborn, The Paper<br />

Chase (1971); legendär auch Duncan Kennedy, Legal Education and the Reproduction of Hierarchy<br />

(2004) und dazu meine Rezension in: Krit. Justiz 39 (2006) 395 ff.


72 (2008)<br />

literatur<br />

655<br />

Vorgeschichte kennen. Dies aber bedeutet, dass es gewisse rechtstheoretische<br />

Gesetze geben muss, die auf das Recht generell, zu allen Zeiten und überall<br />

wirken – sonst wäre rechtshistorische oder rechtsvergleichende Erkenntnis nur<br />

ein intellektuelles Glasperlenspiel. Und so lautet Watsons Credo wiederholt:<br />

»[T]he standard approach misrepresents the way law is, how it develops, and its<br />

relation to society« (36). Was aber ist Recht, wie »entwickelt« es sich, was ist<br />

genau sein »Verhältnis« zu »der« Gesellschaft? Watson führt an keiner Stelle seine<br />

rechtstheoretischen Prämissen aus. Seine zahlreichen rechtshistorischen Exkurse,<br />

in denen er immer wieder in meisterlicher Dichte vor allem die römischen<br />

Wurzeln heutiger Rechtsinstitute skizziert, bleiben daher merkwürdig apodiktisch.<br />

Denn die Gründe, die er für das Fortleben oder den Untergang einer<br />

Regelung, für die nützliche oder nutzlose soziale Funktion einer Norm gibt,<br />

stehen unüberprüfbar am Ende dieser Passagen. »[U]nderstanding the nature of<br />

law and how it operates« (42) bleibt so ein unerfülltes rechtstheoretisches Unternehmen,<br />

bei dem den Studierenden auch in den USA nicht die Erkenntnis einfach<br />

ex machina ins Gesicht springen wird.<br />

Die sicher schärfste Kritik fi ndet sich freilich dort, wo Watson die amerikanische<br />

Professorenschaft an sich attackiert. Hier speist sich seine Ablehnung aus<br />

recht unterschiedlichen Argumenten, von denen nicht alle offengelegt werden.<br />

Ist schon die mit großer Überzeugung vorgetragene Spekulation des Verfassers,<br />

in den USA enthalte der Wunsch auf eine akademische Karriere ein gerüttelt<br />

Maß an gepfl egter Faulheit (49 f.), rational wenig nachprüfbar, erzeugen vor<br />

allem die direkten Angriffe auf Kollegen gemischte Gefühle. Watson hat sich<br />

»Three Celebrated American Legal Scholars« (131 ff.) ausgesucht, in denen er die<br />

Grundübel der amerikanischen Juristenausbildung personifi ziert sieht. Dass diese<br />

Wissenschaftler überhaupt diskutiert werden, dass ihnen gar Beifall und Gefolgschaft<br />

zuteil werden, sei nichts als Ausdruck der »poverty of American legal<br />

education« (131). Immerhin: »Their weaknesses are apparent« (ebd.). Trotz<br />

<strong>dieses</strong> Evidenzappells handelt es sich um den längsten Abschnitt des Buches.<br />

Und die Schwächen der Attackierten sind so offensichtlich nicht. Ein Artikel<br />

des 1977 verstorbenen Romanisten A. Arthur Schiller aus dem Jahr 1929 dient<br />

einem seitenlangen Elaborat über die handwerklichen Schwächen und den kreativen<br />

Umgang mit Quellen, die dann von unzähligen Professoren übernommen<br />

worden seien. Ohne Zugang zu den Quellen aber bleibt das Elaborat eine<br />

Sache für Spezialisten. Der Leser bleibt indes ratlos. Dasselbe gilt für die beiden<br />

anderen »celebrated scholars«, Morton Horwitz und Duncan Kennedy, ihres Zeichens<br />

rechtshistorisch orientierte Hauptvertreter der Critical Legal Studies, und<br />

also scharfe und nachhaltige Kritik in den USA gewohnt. Watsons Attacken<br />

oszillieren hier zwischen Petitessen und ohne Quellenvergleich recht haltlosen<br />

Richtigkeitsanrufungen. Kennedys in der Tat hochgerühmter Artikel von 1979 9<br />

ist eben nicht einfach »obviously wrong« (157), sondern enthält einen im besonderen<br />

Kontext der sechziger und siebziger Jahre zu würdigenden Versuch. 10<br />

9 Duncan Kennedy, The Structure of Blackstone’s Commentaries: Buffalo L. Rev. 28<br />

(1979) 205 ff.<br />

10 Siehe dazu Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik, Critical Legal Studies etc., in:<br />

Neue Theorien des Rechts, hrsg. von Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (2006) 97 ff.


656 literatur RabelsZ<br />

Ohne die tektonischen Veränderungen innerhalb der amerikanischen Rechtswissenschaft<br />

dieser Zeit ist er kaum zu verstehen. Das hätte gerade dem Rechtshistoriker<br />

Watson einer Erwähnung wert sein sollen.<br />

Ob der Leser aus dem Buch Gewinn ziehen wird, hängt davon ab, was er<br />

sucht. Natürlich kann man sich dem Charme eines »angry old man« nicht ganz<br />

entziehen, der mit beeindruckender Sachkenntnis, fühlbarer Leidenschaft und<br />

glaubhafter Empörung schreibt. Aber vieles bleibt in Watsons Kritik Unterstellung,<br />

vor allem rechtstheoretisch. Insofern ergibt man sich gern der entwaffnenden<br />

Chuzpe, mit der der Verfasser Montaigne zitiert: »I speak the truth, not<br />

so much as I wish but as much as I dare; and I dare a little the more as I grow<br />

older« (19) – und fragt hinterher doch, was sie denn sei, die Wahrheit.<br />

Cambridge, Mass. Viktor Winkler<br />

Sunstein, Cass R.: Laws of Fear. Beyond the Precautionary Principle. – (Cambridge:)<br />

Cambridge University Press (2005). XII, 234 S. 1<br />

Das Vorsorgeprinzip greift um sich. Nicht zuletzt die Europäische Union<br />

(EU) fördert zunehmend seine Geltung. 2 Die Annahme dahinter lautet, dass<br />

mehr und früher einsetzende Vorsorge eine sichere Welt schafft, in der technische<br />

Risiken beherrschbar, Fortschritt kontrollierbar und Entwicklungen<br />

vorhersehbar sind. Recht verspricht Sicherheit. Dass <strong>dieses</strong> Versprechen kaum<br />

einlösbar ist, zeigt nicht nur die Hilfl osigkeit der Politik, sondern gerade auch<br />

die Ratlosigkeit des Rechts angesichts naturwissenschaftlicher Entwicklungen<br />

– wie BSE, Vogelgrippe – oder technischer wie der des Internets: Staatliche<br />

Regulierung ist und bleibt fundamentalem Nichtwissen und beständiger Wissensveränderung<br />

ausgesetzt. Je mehr Wissensstrukturen netzwerkähnlich ausgeprägt<br />

sind, umso weniger sind Veränderungen vorhersehbar. Es darf indes bezweifelt<br />

werden, ob der Ansatz »Je weniger Wissen, umso eher staatliche Legitimation<br />

zum präventiven Eingriff«, der dem Vorsorgeprinzip zugrunde liegt,<br />

tatsächlich eine rechtliche Lösung zum Umgang mit Unsicherheiten bietet. Dagegen<br />

spricht schon aus tatsächlicher Sicht, dass mit dem Ausschluss von Risiken<br />

auch die Chancen negiert werden. Und auch das Recht verlangt in der Multipolarität<br />

des Grundrechtsschutzes mehrseitige Interessenwahrung statt einseitiger<br />

Betonung des Schutzgedankens.<br />

Das jüngste Buch von Cass R. Sunstein, einem Hauptrepräsentanten der amerikanischen<br />

Behavioral Law and Economics-Bewegung, thematisiert diese Zweifel<br />

am Einsatz des Vorsorgeprinzips aus einer besonderen Perspektive: Er untersucht<br />

aus einer ökonomisch, vor allem aber aus einer verhaltenswissenschaftlich<br />

informierten Sichtweise, welche Wirkungen das Vorsorgeprinzip kurz- und<br />

1 Die deutsche Ausgabe ist erschienen unter dem Titel: Cass R. Sunstein: Gesetze der<br />

Angst. Jenseits des Vorsorgeprinzips. Aus dem Amerikanischen von Robin Celikates und Eva<br />

Engels. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. 343 S.<br />

2 Siehe nur die Mitteilung der Europäischen Kommission, Die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips<br />

vom 2. 2. 2000, KOM (2000) 1 endg.


72 (2008)<br />

literatur<br />

657<br />

mittelfristig entfaltet und warum es trotzdem so attraktiv erscheint. Im Wesentlichen<br />

nutzt er dazu Erkenntnisse aus der von Daniel Kahneman und Amos Tversky<br />

begründeten Risikowahrnehmungslehre (Prospect Theory) 3 .<br />

Das vorliegende Buch baut auf einer Reihe von Aufsätzen und Working Papers<br />

auf, die in den letzten Jahren veröffentlicht worden sind, ohne sich jedoch<br />

in deren Einzelanalyse zu verfangen oder diese lediglich zu wiederholen. Sunsteins<br />

Grundthese formuliert einmal mehr, dass unsere soziale, technische und<br />

rechtliche Welt voller Risiken ist: Unbekannte und unüberschaubare, höchstens<br />

erahnte, vor allem aber komplex vernetzte Gefahrenpotentiale lauerten allenthalben.<br />

Dies wecke Ängste, auf die der Staat durch Einsatz des Vorsorgeprinzips<br />

reagiere – seinerseits in diesen Ängsten befangen. Damit sei der staatliche Einsatz<br />

eine Reaktion auf verschiedene verhaltenswissenschaftlich belegte Mechanismen<br />

der menschlichen Wahrnehmung und Verarbeitung von Risiken. Das<br />

Vorsorgeprinzip sei im Wesentlichen ein »Gesetz der Angst«, bei dem eine Reihe<br />

von Effekten der Risikowahrnehmung einseitig greife. Sunstein sieht einen<br />

Hauptgrund für die fehlerhafte Wahrnehmung der Risiken in der gruppendynamisch<br />

vorangetriebenen Realisierung des sog. Probability Effects: Laien und<br />

Experten gewichteten Ereignisse unterschiedlich und ermittelten dadurch verschiedene<br />

subjektive Wahrscheinlichkeiten. Darauf bauten jeweils verschiedene<br />

Einschätzungen von Welt und Bedrohung auf. 4<br />

Allerdings, so Sunstein weiter, werde generell übersehen, dass mit der Konzentration<br />

auf die Verhinderung eines Risikos andere Risiken vernachlässigt<br />

würden und neue entstünden. Die Beherrschung der Risikosituation durch<br />

Angst führe dazu, dass diese und andere Wirkungen des Vorsorgeprinzips ausgeblendet<br />

würden. Damit lehnt Sunstein das Vorsorgeprinzip nicht generell ab.<br />

Er gesteht ihm durchaus eine Berechtigung zu, allerdings nur unter den eingeschränkten<br />

Bedingungen (etwa irreversibles Katastrophenpotential).<br />

Mindestens ebenso viel Raum wie der Kritik am Vorsorgeprinzip gibt Sunstein<br />

anderen Zugängen zum Umgang mit Nichtwissens-Entscheidungen, die er<br />

im zweiten Teil seines Buches erläutert. Dabei greift er insbesondere 5 auf seine<br />

Vorstellung eines »Libertarian Paternalism« zurück: Die Letztentscheidung verbleibt<br />

beim Privaten. Der Staat beeinfl usst aber dessen Entscheidung. Haftungsregeln<br />

oder staatlich gesetzte Anker, an denen sich die private Entscheidung<br />

orientiert, werden als Beispiele für solche Formen zurückgenommener staatlicher<br />

Intervention genannt.<br />

Sunsteins Kritik am Vorsorgeprinzip trifft in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung.<br />

Die Objektivierbarkeit von Entscheidungen hängt wesentlich davon ab,<br />

3 Kahnemann/Tversky, Prospect Theory, An Analysis of Decision under Risk: Econometrica<br />

47 (1979) No. 2, S. 263–291; dies., Advances in Prospect Theory, in: Choices, Values and<br />

Frames, hrsg. von dens. (2000) 44–66 (bespr. von Engel, RabelsZ 67 [2003] 781–786).<br />

4 Der Probability Effect ist vermutlich eher eine Anhäufung verschiedener einzelner Phänomene<br />

der Risikowahrnehmung, unter anderem der Availability- und Recognition-Heuristik.<br />

Sunstein rückt damit fast schon in die Nähe kulturtheoretischer Interpretationen zur Nichtwissens-Problematik.<br />

5 Er setzt sich außerdem vor allem mit den Möglichkeiten einer deliberativ geprägten<br />

Kosten-Nutzen-Analyse und ihren Grenzen und Möglichkeiten in einem demokratischen<br />

Rechtsstaat auseinander.


658 literatur RabelsZ<br />

dass ihre subjektiven Beschränkungen deutlich gemacht werden. Hier können<br />

verhaltenswissenschaftliche Ansätze die Konkretisierung rechtlicher Tatbestandsmerkmale<br />

bereichern. Einer der besonderen Vorzüge des Buches liegt in<br />

dieser Transferleistung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Vorschläge<br />

zu einem reformierten Vorsorgeprinzip und von Alternativen dazu bleiben<br />

indes vage. Was Irreversibilität der Folgen bedeutet und wann sie anzunehmen<br />

ist, bleibt offen. Was eine Katastrophe ausmacht, wird höchstens in Ansätzen<br />

erkennbar. Es geht Sunstein wohl weniger um die Intensität von Eingriffen<br />

für Einzelne als um eine vergleichende Einschätzung von Massenphänomenen.<br />

Leider fehlt Sunsteins Ansatz ein differenzierendes Bild des Nichtwissens. Er<br />

geht ersichtlich davon aus, dass die Wissens- und Entscheidungsgrundlage durch<br />

mehr Wissen stets verbessert wird. Gewissheit ist für ihn immer herstellbar,<br />

wenigstens aber eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit. Dabei ist es genau das<br />

Fehlen gesicherter Wahrscheinlichkeiten, das überhaupt erst den Probability<br />

Neglect entstehen lässt. In der Folge bleibt im Unklaren, ob es stets objektivierter<br />

Wahrscheinlichkeiten als Rechtfertigungsgrundlage des Staates bedarf. Und<br />

auch die Konsequenzen von Sunsteins Kritik bleiben offen: Wer ermittelt solche<br />

Wahrscheinlichkeiten? Wer legt darauf aufbauende Schwellenwerte fest? Ist die<br />

Schwelle immer gleich hoch?<br />

Es bedarf keiner verhaltenswissenschaftlichen Analyse, um zu erkennen, dass<br />

Kennzeichnungspfl ichten, wie sie etwa die Novel-Food-Verordnung 6 kennt, weniger<br />

eingreifend sind als ein Verbot solcher Nahrungsmittel oder ihre vollständige<br />

Erlaubnis. 7 Solche Kennzeichnungspfl ichten belassen – im Sinne von Sunsteins<br />

»Libertarian Paternalism« – dem Verbraucher die Entscheidung. Aber die<br />

»Laws of Fear« ergreifen nicht nur die Wahrnehmung der bestehenden Handlungsalternativen<br />

auf der Verbraucher-, sondern bereits auf der staatlichen Ebene.<br />

Sie betreffen also schon die Zielsetzung staatlichen Handelns. Darauf geht<br />

Sunstein nicht ein. Zudem bleibt der Konfl ikt ungelöst, ob ein staatlicher Einfl<br />

uss auf die Entscheidung des Privaten tatsächlich ein milderes Mittel darstellt.<br />

Das gilt erst recht, wenn man, wie Sunstein, einer transparenten Offenlegung<br />

der Risiken eher kritisch gegenübersteht. So sind Rechtsschutzmöglichkeiten<br />

beschränkt, weil schon die Eingriffsqualität fraglich ist: Worin besteht der Eingriff,<br />

wenn der Staat mit Information oder objektivierbaren Hinweisen agiert?<br />

Für den europäischen Juristen sind Sunsteins Überlegungen in ihrer Allgemeinheit<br />

nicht immer hilfreich, kennen doch das deutsche und das europäische<br />

Recht verschiedenste Intensitätsgrade des Vorsorgeprinzips, auf die »Laws of<br />

Fear« nicht differenziert eingeht. Die Kritik trifft daher nicht immer. Dennoch<br />

leistet Sunstein einen wegweisenden Beitrag zum Vorsorgeprinzip. Schon seine<br />

analytische Schärfe und die Einbindung der verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse<br />

machen das Buch lesenswert. Darüber hinaus leistet es einer Analyse<br />

von Entscheidungen unter Bedingungen des Nichtwissens wertvolle Hilfestellung:<br />

Das grundlegende Problem wird konturiert, eine zentrale Lösung des<br />

Rechts – Anwendung des Vorsorgeprinzips – aus einer gänzlich anderen Per-<br />

6 Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. 1.<br />

1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten, ABl. L 43/1.<br />

7 Dieses Beispiel ist nicht dem Buch entnommen.


72 (2008)<br />

eingegangene bücher<br />

659<br />

spektive beleuchtet und schließlich werden Alternativen erörtert. Das Buch<br />

könnte damit eine fällige Diskussion um die herausgehobene Stellung des Vorsorgeprinzips<br />

in Gang setzen, ohne sich an alten Frontlinien aufzureiben. Denn<br />

– und im begründeten Hinweis darauf liegt der besondere Wert von »Laws of<br />

Fear« – das Vorsorgeprinzip vermag die ihm zugedachten Verheißungen von<br />

Sicherheit, Berechenbarkeit und Gestaltbarkeit der Zukunft nicht zu erfüllen.<br />

Daher gilt nach der Lektüre: Vorsicht vor dem Vorsorgeprinzip!<br />

Freiburg Indra Spiecker genannt Döhmann<br />

II. Eingegangene Bücher<br />

(Spätere Besprechung vorbehalten)<br />

Common Frame of Reference and Existing EC Contract Law. Reiner Schulze<br />

(Ed.). – (Munich:) Sellier European Law Publishers (2008). XI, 356 S.<br />

Forum Shopping in the European Judicial Area. Ed. by Pascal de Vareilles-Sommières.<br />

– Oxford and Portland, Ore.: Hart 2007. XIV, 242 S. (Studies of the<br />

Oxford Institute of European and Comparative Law. Vol. 7.)<br />

Handkommentar zum Schweizer Privatrecht. Hrsg.: Marc Amstutz, Peter Breitschmid<br />

u. a. – Schlussredaktion der englischen Gesetzesfassung ZGB: Stephen<br />

V. Berti, Craig Hilton. – (Zürich, Basel, Genf:) Schulthess 2007. XLVI, 3672 S.<br />

Hoffman, Scott L.: The Law of Business of International Project Finance. 3. ed.<br />

– (Cambridge:) Cambrige Univ. Press (2008). XLIX, 474 S.<br />

Huber, Stefan: Entwicklung transnationaler Modellregeln für Zivilverfahren am<br />

Beispiel der Dokumentenvorlage. (Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 2007.) –<br />

(Tübingen:) Mohr Siebeck (2008). XXVII, 517 S. (Studien zum ausländischen<br />

und internationalen Privatrecht. 197.)<br />

International Encyclopedia of Comparative Law. Vol. 7, P. 1.2.: Contracts in<br />

General. Chief ed. Arthur T. von Mehren. – Tübingen: Mohr Siebeck; Leiden,<br />

Boston: Nijhoff (2008).<br />

Kuckein, Mathias: Die ›Berücksichtigung‹ von Eingriffsnormen im deutschen<br />

und englischen internationalen Vertragsrecht. (Zugl.: Passau, Univ., Diss.,<br />

2007.) – (Tübingen:) Mohr Siebeck (2008). XXII, 321 S. (Studien zum ausländischen<br />

und internationalen Privatrecht. 198.)<br />

Pinheiro, Luís de Lima: Direito internacional privado. Vol. 1: Introdução de direito<br />

de confl itos. Parte geral. 2. ed. refundida. – (Coimbra:) Almedina<br />

(2008). 618 S.<br />

Precedent and the law. Reports to the XVIIth Congress, International Academy<br />

of Comparative Law, Utrecht, 16–22 July 2006. Ed. by Ewoud Hondius. –<br />

Bruxelles: Bruylant 2007. XVII, 517 S.<br />

La Règlement communautaire »Rome II« sur la loi applicable aux obligations<br />

non-contracutuelles. Sous la direction de Sabine Corneloup et Natalie Joubert.<br />

Actes du colloque du 20 septembre 2007 – Dijon. – Paris: Litec [2008]. 231<br />

S. (Université de Bourgogne – CNRS – Travaux du Centre de recherche sur<br />

le droit des marchés et des investissements internationaux. Année 2008,<br />

Vol. 31.)


660 mitarbeiter <strong>dieses</strong> heftes<br />

RabelsZ<br />

Varga, Csaba: Transition? To Rule of Law? Constitutionalism and Transitional<br />

Justice Challenged in Central & Eastern Europe. – Pomáz: Kráter Mühely<br />

Egyesület (2007). 289 S. (PoLíSz Series. 6.)<br />

Wilhelmi, Theresa: Das Weltrechtsprinzip im internationalen Privat- und Strafrecht.<br />

Zugleich eine Untersuchung zu Parallelitäten, Divergenzen und Interdependenzen<br />

von internationalem Privatrecht und internationalem Strafrecht.<br />

(Zugl.: Trier, Univ., Diss., 2007.) – Frankfurt a. M., Berlin, Bern usw.:<br />

P. Lang (2007). XXXV, 462 S. (Studien zum vergleichenden und internationalen<br />

Recht. Bd. 147.)<br />

Mitarbeiter <strong>dieses</strong> <strong>Heftes</strong><br />

Deutsch, Dr. iur., Dr. iur. h.c. mult., Dres. med. h. c. Erwin, M.C.L. (Columbia/N.Y.),<br />

em. Professor an der Universität Göttingen, Höltystr. 8, D-37085<br />

Göttingen<br />

Dutta, Dr. Anatol, M.Jur. (Oxon.), Referent am Institut<br />

Gelter, Dr. Dr. Martin, Assistent an der Wirtschaftsuniversität Wien, Institut<br />

für Zivil- und Unternehmensrecht, Althanstr. 39–45, A-1090 Wien<br />

Grechenig, Dr. Kristoffel, Assistent an der Universität St. Gallen, Bodanstr.<br />

4, Ch-9000 St. Gallen<br />

Hippel, Privatdozent Dr. Thomas v., Referent am Institut; zur Zeit Lehrstuhlvertreter<br />

an der TU Dresden<br />

Meyer, Dr. Olaf, M.St. (Oxon.), Research Fellow am Zentrum für Europäische<br />

Rechtspolitik (ZERP) an der Universität Bremen, Universitätsallee<br />

GW 1, D-28359 Bremen<br />

Oberhammer, Dr. Paul, Professor an der Universität Zürich, Rämistr. 74/9,<br />

CH-8001 Zürich<br />

Oyarzábal, Mario, LL.M. (Harvard), Professor an der Universität La Plata,<br />

Arenales 3178, 1425 Buenos Aires, Argentina<br />

Riesenhuber, Dr. Karl, M.C.J., Professor an der Ruhr-Universität Bochum,<br />

D-44780 Bochum<br />

Rohe, Dr. Mathias, M.A., Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg,<br />

Schillerstr. 1, D-91054 Erlangen; Richter am OLG Nürnberg a.D., Vorsitzender<br />

der Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht<br />

Rühl, Giesela, LL.M. (Berkeley), Referentin am Institut und Max Weber Fellow,<br />

Europäisches Hochschulinstitut, Via delle Fontanelle 10, I-50014 San<br />

Domenico di Fiesole<br />

Spiecker genannt Döhmann, Dr. Indra, LL.M. (Georgetown), Professorin an<br />

der Universität Karlsruhe, Fasanengarten 5, D-76131 Karlsruhe; Wiss. Mitarbeiterin<br />

am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern,<br />

Abt. Recht, Kurt-Schumacher-Str. 10, D-53113 Bonn<br />

Staudinger, Dr. Ansgar, Professor an der Universität Bielefeld, Universitätsstr.<br />

25, D-33615 Bielefeld<br />

Winkler, Viktor, LL.M. Candidate, Harvard Law School, 1563 Massachusetts<br />

Avenue, Cambridge, MA 02138

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