Individuation in der Individualisierung - ex-cathedra

Individuation in der Individualisierung
Bedingungen und Formen jugendlicher Religiosität
Schriftliche Hausarbeit im Rahmen
der Ersten Staatsprüfung für das
Lehramt für die Sekundarstufe II
dem
Staatlichen Prüfungsamt Köln
vorgelegt von
Iris Schmeink
Berichterstatter:
Prof. Dr. Gottfried Bitter CSSp
Bonn 1996

Inhalt
1Einleitung...............................................................................................4
2Individualisierung
...................................................................................................................8
2.1Begriffsgeschichte...............................................................................................8
2.2Die Risikogesellschaft: Das Individualisierungstheorem nach Ulrich Beck.....14
2.2.1Der Konflikt der zwei Modernen............................................................ 14
2.2.2Die Welt-Risikogesellschaft....................................................................16
2.2.3Individualisierung als riskante Chance................................................... 17
2.2.3.1Individualisierende sozialkulturelle Entwicklungen...................17
2.2.3.1.1Der „Fahrstuhleffekt“...................................................17
2.2.3.1.2Mobilität...................................................................... 18
2.2.3.1.3Ausbildung...................................................................18
2.2.3.2Die drei Dimensionen des Individualisierungsprozesses............19
2.2.3.3Konkretisierung: Von Individualisierung betroffene Bereiche...20
2.2.3.3.1Individualisierung sozialer Ungleichheit..................... 20
2.2.3.3.2Individualisierung als Arbeitsmarktindividualisierung....
21
2.2.3.3.3Individualisierung als Freisetzung aus Geschlechtslagen
und Familien.............................................................................. 22
2.2.4Zusammenfassung: Die Seite des Individuums...................................... 25
3Religion und Moderne........................................................................ 27
3.1Begriffliche Klärung..........................................................................................27
3.2Traditionsgefährdung, Traditionsbrüche - Traditionsabbruch?.........................31
3.2.1Die bürgerliche Industriegesellschaft als Amalgam von Tradition und
Modernität
.........................................................................................................................31
3.2.2Vervollständigung der Modernisierung - Wandel des religiösen Feldes....
33
3.2.3Religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart.....................................36
3.2.3.1Ausweitung und Pluralisierung des religiösen Feldes................ 37
3.2.3.2Gründe für die neue Sensibilität für das Religiöse..................... 39
3.2.3.3Analogie und Differenz soziologischer und theologischer Rede
von Religion.......................................................................................... 43
3.3Fazit: Traditionsbrüche - aber kein Traditionsabbruch..................................... 45
4Jugend.................................................................................................. 47
4.1Strukturwandel der Jugendphase.......................................................................47
4.2Veränderte Sozialisationsbedingungen im Strukturwandel der Jugendphase...50
4.2.1Verschulung und Bildungsparadox......................................................... 50
4.2.2Veränderte Familienstrukturen - veränderte Familienfunktion...............52
4.2.3Gleichaltrigenorientierung als typisches Jugendphänomen.................... 53
4.2.4Jugendliche leben im ‘Hier und Jetzt’.....................................................54
4.2.5Jugend ist liberalisierte, permissive und auf Autonomie zielende Erziehungs-
jugend..................................................................................................55
4.2.6Jugendliche Alltagswelten sind medial kolonialisiert.............................56
4.2.7Jugend ist politikabstinent.......................................................................57
4.3Jugendkulturelle Lebensmilieus........................................................................58
4.3.1Religiös-Spirituelle................................................................................. 58
4.3.2Kritisch-Engagierte................................................................................. 59

4.3.3Körper- und Action-Orientierte...............................................................60
4.3.4Manieristisch-Postalternative..................................................................60
4.3.5Institutionell-integrierte...........................................................................61
4.3.6Milieu- und Szenenvermischungen.........................................................62
4.4Jugend und ihr Verhältnis zu Religion und den christlichen Kirchen...............62
4.4.1Das Verhältnis der Jugendlichen zu den christlichen Kirchen................62
4.4.2Individualisierung von Religiosität......................................................... 64
4.4.3Jugendliche Religiositätsstile..................................................................66
4.4.3.1Religiosität der institutionell-integrierten Jugendlichen.............66
4.4.3.2Der subkulturelle Religiositätsstil.............................................. 67
4.4.3.3Der gegenkulturelle, selbstreferentielle Religiositätsstil............ 68
4.4.3.4Der christlich-prophetische Religiösitätsstil kritisch-engagierter
Jugendlicher...........................................................................................68
5Individuation....................................................................................... 70
5.1Die Konsequenzen der Individualisierung für das Individuum.........................73
5.1.1Die Chancenseite der Individualisierung................................................ 74
5.1.2Die Risikenseite der Individualisierung.................................................. 75
5.1.3Riskante Chancen: Identität als Patchworkidentität................................77
5.2Identität als (religions-)pädagogischer Leitbegriff?.......................................... 79
5.2.1Weiterdenken der Metapher des Patchworks..........................................79
5.2.2Wählen-Können als vorrangige Alltagskompetenz: Einige Irrwege.......81
5.2.3Auf dem Weg zu einem religionspädagogischen Identitätsverständnis:
Identität in universaler Solidarität...................................................................84
5.2.3.1Pädagogisches Handeln als intersubjektives Beziehungshandeln..
84
5.2.3.2Die religiöse bzw. theologische Dimension pädagogischen Handelns.......................................................................................................86
5.2.4Identität und Fragment............................................................................ 89
6Zusammenfassung und Ausblick....................................................... 90
7Literatur...............................................................................................95

1 Einleitung
Dieser Arbeit geht es darum, der komplizierten Situation heutiger Jugendlicher in der
Bundesrepublik Deutschland 1 aus religionspädagogischer Perspektive näher zu kom-
men. Nicht selten erleben wir eine gewisse Hilflosigkeit gerade in der religionspäd-
agogischen und pastoralen Praxis Arbeitender gegenüber scheinbar diffuser werden-
den Formen jugendlicher Religiosität. Diese Arbeit wird sich um eine differenzierte
Wahrnehmung und Darstellung jugendlicher Religiosität bemühen, ohne sich aber
mit einer Kategorisierung jugendlicher (Religions-)Typen von „institutionell-inte-
griert“ bis „christlich-prophetisch“ zu begnügen. Viel wichtiger ist in diesem Zusam-
menhang der soziale Bedingungsrahmen, in dem Jugendliche aufwachsen und in dem
sich (religiöse) Identitätssuche abspielt.
Das erste Leitinteresse dieser Arbeit wird daher sein, den Wandel jugendlicher Le-
bensformen (nicht nur, aber insbesondere im Bezug auf Religion) nicht als defizitär
durch die Behauptung von Auflösungsprozessen zu beschreiben, sondern den Struk-
turwandel der Jugendphase und damit auch jugendlicher Religiosität als Stück ganz
normaler Modernität zu analysieren, als Folge der Entwicklungsdynamik und der
Struktureigenschaften der Moderne, die heute an einem Wende-, wenn nicht End-
punkt angelangt zu sein scheint.
Dies bedeutet nicht, die Risiken und Gefahren der radikalisierten Modernisie-
rungsprozesse unserer Gesellschaft ignorieren oder relativieren zu wollen. Vielmehr
soll die Ambivalenz dieser Prozesse sowohl aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive
als auch im Blick auf das Individuum wahrgenommen werden.
Fragt man heute nach den Bedingungen des Aufwachsens in entfaltet modernen Ge-
sellschaften, so ist es insbesondere Ulrich Beck, der 1986 mit seinem Beitrag zu der
bis zu diesem Zeitpunkt selten gewordenen Gattung makrosoziologischer 2 Zeitdiag-
1 Schon an dieser Stelle ergibt sich das große Problem der unterschiedlichen Lebenssituationen in der
„alten“ Bundesrepublik gegenüber denen der Menschen in den neuen Ländern. Das dieser Arbeit zugrundliegende
Verständnis von Individualisierung nach Ulrich Beck entstand 1986 - also vor der Vereinigung.
Es würde den Möglichkeitsrahmen dieser Arbeit sprengen, genau auf die Unterschiede in
Ost- und Westdeutschland einzugehen. Die hier dargelegte Analyse kann in vollständiger Weise nur
für die „alte“ Bundesrepublik Geltung beanspruchen. Ulrich Beck hat das vereinigte Deutschland als
das „Deutschland der zwei Modernen“ charakterisiert. Anders als in Westdeutschland, wo die von ihm
beschriebenen Prozesse „reflexiver Modernisierung“ (vgl. Kap. 2.2.1 dieser Arbeit) bereits ihre volle
Wirkung entfalten, beobachtet Beck in Ostdeutschland (wie auch und vor allem in den ethnischen und
nationalen Konflikten Osteuropas) viele Phänomene „einfacher Modernisierung. Vgl. Beck (1991)
193.
2 Makrosoziologisch insofern, als Beck eine Entwicklungsdynamik (nämlich Individualisierung) als
Grundlage der Analyse unterschiedlicher Veränderungstendenzen herausarbeitet, die die gesamte Gesellschaft
der Bundesrepublik betreffen, wobei er aber gleichzeitig versucht, durch die Einnahme auch
der Perspektive des Individuums den Mikro-Makro-Dualismus in der Soziologie zu überwinden. Vgl.
Treibel 228.

nosen mit dem Theorem der Risikogesellschaft eine inzwischen wohl unhintergehba-
re Analyse der beschleunigten Entwicklungsdynamik unserer Gesellschaft geliefert
hat.
Der Terminus Risikogesellschaft ist in zwei Dimensionen zu verstehen, nämlich in
der Dimension der Risiken der Zivilisation, also den gesundheitlichen, psychischen
und sozialen Folgen ökologischer Unvernunft; und den Risiken einer zunehmend ent-
traditionalisierten Gesellschaft, die für das Subjekt in der (Post-)Moderne Verunsi-
cherungen, neue Kompetenzanforderungen, aber auch neue Chancen bedeuten. Becks
Entwurf vereinigt also - so könnte man massiv vereinfachend sagen - zwei Theore-
me.
Das eine ist das der Zivilisationsgefährdungen in der Welt-Risikogesellschaft selbst,
welche er als neuen Typus von Gesellschaft in der fortgeschrittenen Moderne charak-
terisiert. Zu den Folgeproblemen der technisch-ökonomischen Entwicklung gehört
zuallererst das Anwachsen einerseits durch den Menschen selbst verursachter, aber
andererseits von ihm kaum noch kalkulier- oder vermeidbarer Risiken, die nicht
mehr innerhalb nationalstaatlicher Grenzen und schon gar nicht individuell lösbar
sind.
Das zweite Theorem ist das der Individualisierung als die andere Seite der Risikoge-
sellschaft. Insbesondere Ulrich Beck ist es, der der humanwissenschaftlichen Diskus-
sion um das Individuum eine neue Qualität verschafft. Nicht weil er vom Individuum
her argumentiert - sein Blick nimmt ja die makrosoziologische Perspektive ein -, son-
dern weil er eine differenzierte Analyse jener gesellschaftlichen Bedingungen liefert,
die zu einer bis dahin nicht gekannten Freisetzung des Individuums in der entfalteten
Moderne geführt haben. Individualisierung als Freisetzung des Menschen aus tradi-
tionalen, klassen- und milieuspezifischen Bindungen bedeutet zunächst Befreiung
von Zwängen und damit mehr Freiheit in der Gestaltung der eigenen Biographie. Das
ist die Chancenseite der Individualisierung: selbst über das eigene Leben entscheiden
zu dürfen. Die Gefahrenseite aber ist, entscheiden zu müssen, also unter einem Wahl-
zwang zu stehen und damit auch dem erhöhten Risiko ausgesetzt zu sein, sich falsch
zu entscheiden, Chancen nicht wahrzunehmen und an wichtigen Lebensstationen zu
scheitern. Auch dieses Scheitern wird individualisiert, liegt also in der Verant-
wortung des einzelnen, selbst wenn es auch gesellschaftsstrukturell begründbar wäre
(z.B. Massenarbeitslosigkeit). Im Vordergrund steht nämlich die Botschaft: Der ein-
zelne Mensch ist mit Chancen ausgestattet wie in keiner Generation vor ihm; er muß
sie nur nutzen. Aus den erhöhten Möglichkeiten wird so schnell der Imperativ: „Dir

stehen alle Wege offen, mach was daraus!“. Wer dennoch scheitert, hat eben den fal-
schen Weg gewählt, ist also selbst schuld.
Genau diese Ambivalenz gilt es in den Blick zu nehmen, die „riskanten Chancen“
(Heiner Keupp) des Individuums. Es ist gerade dieser Ambivalenzcharakter, der die
enorme Anschlußfähigkeit des Individualisierungstheorems ausmacht; weder wird
einseitig allseitiger Verfall bejammert, noch massiver Fortschrittsglauben forciert.
Aus diesem Grund gehört die Diagnose von der Individualisierung inzwischen zum
humanwissenschaftlichen Mainstream und wird auch in der Jugendforschung weitge-
hend einhellig akzeptiert.
Diese Vergewisserung um die von Beck so eindrucksvoll charakterisierten Verände-
rungsprozesse ist insofern wichtig, als der in der Jugendforschung der letzten zehn
Jahre diagnostizierte Strukturwandel der Jugendphase ein Reflex und zugleich Motor
des sozialen Wandels in der entfalteten Moderne ist. Nur vor diesem Hintergrund
läßt sich die gegenwärtige Situation Jugendlicher in unserer Gesellschaft begreifen.
Den Strukturwandel der Jugendphase bezeichnet der Jugendforscher Walter Horn-
stein als „grundsätzlichen Wandel und Einschnitt in der Geschichte der Jugend“ 3 ;
dazu gehören Prozesse der Diversifizierung von Lebenslagen und Pluralisierung von
Lebensstilen, die eine Veränderung der gesellschaftlichen Funktion, der soziostruktu-
rellen Ausprägung sowie der individuell-biographischen Bedeutung der Jugendphase
mit sich bringen. Ich werde bei der Analyse der Jugendsituation den mit dem Indivi-
dualisierungstheorem anskizzierten Bedingungsrahmen weiter ausdifferenzieren, in-
dem ich die veränderten Sozialisationsbedingungen heutiger Jugendlicher zu charak-
terisieren versuche, wobei ich einige strukturelle Trends der Jugendphase (Verschu-
lung, veränderte Familienstrukturen, Gleichaltrigenorientierung, Gegenwartsorientie-
rung, Verselbständigung, Mediatisierung, Politikabstinenz) herausarbeite. Erst dann
sollen die vielfältigen Formen der Jugendkultur durch ihre Kategorisierung in ju-
gendkulturelle Lebensmilieus (Religiös-Spirituelle, Kritisch-Engagierte, Körper- und
Action-Orientierte, Manieristisch-Postalternative) näher bestimmt werden.
Zum zweiten ist diese makrosoziologische Vergewisserung wichtig, um die Verände-
rungs- und Umbruchsprozesse im Bereich von Christentum und (kirchlich verfaßter)
Religiosität zu verstehen, die sich natürlich auch in den Formen jugendlicher Religio-
sität niederschlagen. Auch hier wird zu zeigen sein, daß die mitunter eigenwilligen
Formen Jugendlicher, mit Religion und ihrer Symbolik umzugehen oder auch eben
gerade nicht mehr umzugehen, nicht primär als Auflösungserscheinungen zu be-
3 Hornstein (1988) 71.

schreiben sind, als Traditionsabbruch, sondern als Wandel, der strukturell erklärbar
ist. Dies ist natürlich zunächst eine weitgehend neutrale Wahrnehmung, zu der man
sich auch wertend stellen darf und muß (auch eine riskante Chance...).
Diese Wertung wird sich vor allem darin zeigen, wie man die Folgen der Individuali-
sierung für den einzelnen Menschen bewertet. Postmoderne DenkerInnen aller Hu-
manwissenschaften sprechen bereits vom Ende des Subjekts, von der Unmöglichkeit
des Anspruchs auf eine kohärente Identität. Es wird zu fragen sein, welchen Stand-
punkt man aus religionspädagogischer Perspektive in der Diskussion einnehmen
kann, ob die Individualisierung in moderne Selbstentfaltung oder postmoderne Auflö-
sung des Selbst 4 führt.
Genau hier liegen dann auch die neuen Herausforderungen für die Praxis: Was kön-
nen religionspädagogische BegleiterInnen bieten? Gibt es eine Kultur des Mitfindens
oder neuen Erbauens von Identität? Es gilt zu prüfen, ob vor dem Hintergrund dieser
soziologischen Analyse ein religionspädagogisches Verständnis von Identität zu ent-
wickeln ist, das den ambivalenten Bedingungsfaktoren des Aufwachsens heute ge-
recht wird.
4 Vgl. Helsper 73.

2 Individualisierung
2.1 Begriffsgeschichte
Individualisierung ist ein Phänomen, das unsere gegenwärtige Gesellschaft wie kaum
ein anderes prägt. Es beginnt spätestens mit dem Übergang in die Neuzeit. Die stei-
gende Komplexität der Gesellschaft und vor allem die im Laufe ihrer historischen
Entwicklung zunehmende Differenzierung (Arbeitsteilung, Milieubildung) zeigen
sich insbesondere daran, daß die ökonomische Produktion aus dem familialen Zu-
sammenleben getrennt wird und daß das Erziehungssystem und die Sozialisationsbe-
dingungen aus religiösen Legitimationszusammenhängen gelöst werden. Diese Diffe-
renzierung der Gesellschaft bringt auf der Seite des Individuums eine gesteigerte Dif-
ferenzierung von Rollen mit sich, an den einzelnen/die einzelne werden neue Anfor-
derungen gestellt. Identität wird nicht mehr qua Geburtsstand zugewiesen, sondern
muß vom Individuum selbständig und selbsttätig erworben werden. 5
In ihrer Dissertation über ‘Individualisierung’ als Topos der Soziologie arbeitet die
Soziologin Nicola Ebers dessen ideengeschichtliche Wurzeln heraus. 6 Individualität,
Selbstwert und Autonomie als Basis des modernen, universalistischen Menschenbil-
des haben ihren Anfang in antiken griechischen Mythen, in griechischer Dichtung
und Philosophie, wo bereits erste Schritte zur Vorstellung von einer reflexiven
Selbstvergewisserung des Menschen zu entdecken sind. So entwickelte Platon eine
Philosophie der Individualität, wobei er als Ideal in der Polis ein Gleichgewicht zwi-
schen individueller Freiheit und Gruppenkontrolle vorsah, die Polis gewährt somit
als „gesellschaftlicher Raum die Bewährung und Subjektwerdung des Menschen“. 7
Eine stärker individuumzentrierte Sichtweise findet sich bei Aristoteles, der die Ge-
meinschaft als Funktion des Individuums betrachtet. Es ist der einzelne, der - wenn
auch als ‘zoon politikon’ - die Geschichte gestaltet.
Neben der griechischen Kultur sind es vor allem Christentum, Renaissance und Auf-
klärung, die zum modernen individualisierten Menschenbild führen.
Im jüdisch-christlichen Denken steht das Individuum im Vordergrund, weil die Ein-
maligkeit des Menschen und sein freier Wille betont werden (was in der Reformation
noch affirmiert wird durch die Betonung einer direkten Beziehung zu Gott, indem die
Kirche als heilsgeschichtliche Vermittlungsinstanz in den Hintergrund tritt). In der
5 Vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 13.
6 Ich beziehe mich hier insbes. auf Ebers 34-46. Vgl. dazu auch Wahl 23-92.
7 Ebers 34.

jüdisch-christlichen Tradition ist Jahwe nicht nur der Gott des Volkes Israel, sondern
er spricht auch und vor allem jeweils den persönlichen Glauben des einzelnen Men-
schen - etwa Abraham oder Hiob - an. „Es ist das Interesse Gottes für das Heil und
den Glauben jedes einzelnen Menschen und zwar unabhängig von seiner Zugehörig-
keit zu einem bestimmten sozialen Verband, was das universalistisch wirkende Spe-
zifikum der christlichen Gottesvorstellung ausgemacht hat.“ 8 Insofern kommt der jü-
disch-christlichen Tradition entscheidende Bedeutung für die Individualisierungs-
und Rationalisierungsprozesse der Neuzeit zu. 9
Wurden bis zur Renaissance Individuen als Teile einer Kollektivität gesehen, so ver-
festigen Renaissance und Aufklärung die Zielvorstellung von der Autonomie des In-
dividuums, die so eindrucksvoll in Kants berühmtem Satz „Aufklärung ist der Aus-
gang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ 10 auf den Punkt
gebracht wird. Ihre praktische Erfüllung fand diese Vorstellung erst im 19. Jahrhun-
dert. Vor allem war es die geistige Strömung des Liberalismus, die den Gedanken
vom Wert der freien Persönlichkeit als einer von der Tradition losgelösten Individua-
lität entwickelte. Sie verstand die Menschen nicht mehr als aufgrund von Tradition
oder Religion miteinander verbundene, sondern als aus freien Stücken in Kollektiven
zusammengeschlossene Individuen. Klaus Wahl stellt fest, daß sich gesellschaftsre-
volutionär jeweils solche Menschenbilder durchgesetzt haben, die den neuen sozialen
Verhältnissen angemessen sind 11 : Vor allem der Aufstieg des ‘Dritten Standes’ und
die industrielle Revolution führen zu einer Universalisierung und Demokratisierung
des modernen Menschenbildes für die gesamte Menschheit, wie es sich etwa in der
Forumulierung der Menschenrechte als dessen politisch-ethische Subsumierung nie-
derschlägt. 12
Wahl diagnostiziert das moderne Menschenbild eines selbstbewußten, autonomen In-
dividuums als den Mythos der Moderne. Das Subjekt (und mit ihm Fortschritt, Liebe
und die liebesbegründete Familie) wird zur Inklusionsformel par excellence, aber bei
der Realisierung dieses Anspruchs entstehen notwendigerweise vor allem wegen der
Knappheit der Ressourcen Konflikte: „Inklusionsformeln treffen auf eine Exklusions-
realität“. 13
8 Kaufmann (1988) 68 (Hervorh. im Original).
9 Vgl. ebd. 67.
10 Kant, Werke VI, 53.
11 Vgl. Wahl 58.
12 Vgl. auch Ebers 36f. Ebers weist mit Recht darauf hin, daß diese Universalisierung zunächst Privileg
der Männer bleibt. Vgl. ebd. 37.
13 Wahl 159 (Hervorh. im Original). Dies ist ein zentraler Satz für die Wahlsche These von der „Modernisierungsfalle“.
Sie besagt, daß die Versprechungen, die mit dem modernen universalistischen
Menschenbild als dessen Ressourcen entstanden (Fortschritt in Wissenschaft, Technik, Recht und Ge-

Das moderne Menschenbild bestimmt auch die inzwischen so genannte soziologische
Klassik, die die strukturellen gesellschaftlichen Wandlungen im Übergang zur Mo-
derne immer wieder auch als Individualisierungsprozeß beschreibt. Schon von Be-
ginn an haben die soziologischen Gründerväter eine Ambivalenz des Individualisie-
rungsprozesses gesehen, daß nämlich Individualisierung nicht nur einen Zuwachs an
Freiheit, sondern auch die Gefährdung gemeinschaftsstützender Integrationsmecha-
nismen bedeutet. Sie sahen die Lösung dieser Problematik aber auch und gerade bei
den Individuen selbst: Ihr autonomes, moralisches und verantwortungsbewußtes
Handeln könne das Risiko der Dissozierung durch Prozesse gesellschaftlicher Diffe-
renzierung ausbalancieren. 14 Als Beispiel mögen hier die Arbeiten Emile Durkheims
genügen, der den Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung (als Hauptmotor gesell-
schaftlicher Differenzierung) und fortschreitender Individualisierung untersucht hat.
Er stellt fest, daß ein Zusammenhalt der Gesellschaft nur möglich sei, wenn ein Kol-
lektivbewußtsein über sozialisatorische Prozesse im Bewußtsein des Individuums
verankert werden könne. Durch neue Prozesse gesellschaftlicher Integration, gestützt
vor allem durch soziale Institutionen, muß das labile Verhältnis von Individuum und
Gesellschaft stets stabilisiert werden, um Anomie, Orientierungslosigkeit und Ent-
wurzelung zu verhindern. 15 Deutlicher noch als Durkheim analysiert Weber die ambi-
valenten Wirkungen des Zusammenspiels von Rationalisierung und Individualisie-
rung: Im abendländischen Rationalisierungsprozeß unterwerfen instrumentelle Ver-
nunft und kalkulierendes Denken alle Lebensbereiche einer Entzauberung der Welt.
Bei der diesen Prozeß begleitenden Individualisierung arbeitet Weber weniger den
Zuwachs an individueller Freiheit heraus, sondern die vom einzelnen verinnerlichte,
vom sozialen Kontext unabhängige Selbstkontrolle (protestantische Ethik, Zeitdis-
ziplin, Bedürfnisunterdrückung, Befriedigungsaufschub, puritanische Arbeitsmoral).
Hier sieht er die Gefahr der Unterdrückung des einzelnen durch das „stahlharte Ge-
häuse der Hörigkeit“ 16 , wodurch der einzelne trotz oder gerade wegen der Individua-
lisierung durch die gesellschaftlichen Strukturen erdrückt zu werden drohe. 17
Unter den Vertretern der soziologischen Klassik widmet Nicola Ebers Georg Simmel
die größte Aufmerksamkeit, insbesondere weil er unter diesen am deutlichsten die
Wechselwirkung und Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft betont. 18 Mit
sellschaft), nicht oder nur unbefriedigend eingehalten werden können, weil die Ressourcen nicht reichen,
um für alle Menschen den universellen Anspruch auf Selbstverwirklichung und Autonomie zu
erfüllen.
14 Brose/Hildenbrand 14.
15 Vgl. Ebers 39; Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 11f.
16 Keupp (1994) 336.
17 Vgl. Ebers 40; Keupp (1994) 336.
18 Ebers 30.

Lohmann charakterisiert sie Simmels Soziologie als „zögernde Begrüssung der Mo-
derne“. 19 Ihm galten die Lebensformen und die psychischen Haltungen der Menschen
in Großstädten als die typischen Erscheinungsweisen der Moderne, wo Bevölke-
rungswachstum, Arbeitsteilung, Funktionalisierung, Spezialisierung und die Ausbrei-
tung der Geldwirtschaft als die entscheidenden Bedingungen der Modernisierung ih-
ren Ort haben. 20 Eine wesentliche Folge dieser Prozesse ist die Veränderung der Qua-
lität der Vergesellschaftung: „In der Großstadt tritt der Mensch am deutlichsten aus
der Einbettung in eine bestimmte soziale Gruppe heraus und gerät in sich kreuzende
soziale Kreise, d.h. in das Einflußfeld einer Vielzahl von Bevölkerungsgruppen.“ 21
Der Mensch wandelt sich zum Rollenträger und wird durch die Kombination dieser
Rollen als Individuum bestimmt. 22 Dies ist die entscheidende Bedingung für die Indi-
vidualisierung: Der Mensch wird gezwungen, sich mit konfligierenden Normen und
Werten auseinanderzusetzen und wird sich damit auch seiner selbst bewußt: „Je man-
nigfaltigere Gruppeninteressen sich in uns treffen und zum Austrag kommen wollen,
um so entschiedender wird das Ich sich seiner Einheit bewußt.“ 23 Dies ist die Chan-
censeite der Individualisierung: die Möglichkeit der Ausbildung individueller Frei-
heit. Die Auflösung des Traditionalen ist die Bedingung der Möglichkeit, in der Nut-
zung der gewachsenen Handlungsoptionen den nicht vergesellschafteten Persön-
lichkeitsanteil zur Geltung zu bringen. Andererseits beginnt die Rationalisierung der
Gesellschaft, Individualität zu beschneiden: Vor allem das Geld als Kennzeichen und
Motor gesellschaftlicher Differenzierung verändert alle Bereiche des sozialen Le-
bens. Zwar setzt es die Menschen aus traditionalen Bindungen und Abhängigkeiten
frei, die durch das Geld bestimmte Individualität bleibt aber leer: Geld „ermöglicht
Freiheit von etwas, doch aufgrund seiner Charakterlosigkeit und Indifferenz führt es
so gut wie nie zu einer positiven Bestimmung des autonomen Individuums.“ 24 Die
Diagnose der Individualisierung führt Simmel also nicht zur Glorifizierung des mün-
digen Subjekts im Sinne der Aufklärung, sondern sie muß in ihrer Bewertung ambi-
valent bleiben. Die großstädtische Individualität deutet Simmel als „Steigerung des
Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und inne-
rer Eindrücke hervorgeht.“ 25 Der Mangel an positiver Bestimmung drängt den Men-
schen in immer neue Anstrengungen, wenigstens kurzfristige Befriedigung in vorü-
19 Lohmann 543; zit. n. Ebers 150.
20 Vgl. Kaufmann (1993) 28; vgl. Ebers 150.
21 Kaufmann (1993) 28.
22 Ebers 151.
23 Simmel (1923) 313; zit. n. Kaufmann (1993) 28f.
24 Ebers 152.
25 Simmel (1957) 228; zit. n. Kaufmann 29.

ergehenden Aktivitäten zu suchen. Die Folge können Entfremdungserscheinungen,
Halt-, Rast- und Ratlosigkeit sein. Gerade weil der freigesetzten Individualität die po-
sitive Füllung fehlt, kann sich der einzelne Mensch als auswechselbar empfinden,
was natürlich wiederum erst unter den Bedingungen der Individualisierung - als
Chance und als Zwang zur Ausbildung einer eigenen Identität - als Problem erfahren
wird. Simmel begrüßt also einerseits die sich mit der Moderne ausbildenden Mög-
lichkeiten zur Individuierung, andererseits übersieht er nicht die vielfältigen Bedro-
hungspotentiale. Autonomie und Anomie bleiben gleichermaßen möglich, weil die
Modernisierungsprozesse zwar einerseits Bedingung für die Ausbildung von Indivi-
dualität sind, diese aber gleichzeitig bedrohen. 26
Die Ambivalenz der Modernisierungsprozesse hat sich spätestens seit diesen Analy-
sen der soziologischen Klassik als roter Faden durch die humanwissenschaftliche De-
batte gezogen und wurde ein zentraler Topos der Kritischen Theorie. Vor allem die
Erfahrung des Faschismus hat das aufklärerische Ideal des mündigen Subjekts frag-
würdig erscheinen lassen. In der praktischen Umsetzung bürgerlicher Ideale habe
sich gezeigt, daß diese nicht zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern zur
total verwalteten Welt und zum Untergang des Individuums führen. 27
„Jeder deutsche bürgerliche Charakter drückte trotz seiner Abweichung und gerade in ihr dasselbe
aus: Die Härte der Konkurrenzgesellschaft. [...] Jeder solche Fortschritt der Individuation aber ist
auf Kosten der Individualität gegangen, in deren Namen er erfolgte, und hat von ihm nichts übriggelassen
als den Entschluß, nichts als den je eigenen Zweck zu verfolgen.“ 28
Damit wird das Postulat des autonomen Subjekts zu einer Leerfomel, übrig bleibt ein
„subjektloses Subjekt“ 29 , dessen Individualität eine zwanghaft inszenierte ist. Diese
hektische Suche des modernen Subjekts nach seinem Selbst ist gerade das Gegenteil
von Autonomie; die Lösung sieht Adorno in einem „Ende des Identitätszwangs“. 30
Norbert Elias untersucht im Zuge seiner Analyse des Zivilisationsprozesses auch des-
sen Folgen für die Individuen. Hierbei hebt er besonders hervor, daß die Prozesse
ökonomischer, räumlicher und sozialer Differenzierung bewirken, daß die Komplexi-
tät der wechselseitigen Angewiesenheiten und funktionalen Abhängigkeiten steigt 31 :
„Das Verhalten von immer mehr Menschen muß aufeinander abgestimmt, das Gewe-
be der Aktionen immer genauer und straffer durchorganisiert sein, damit die einzelne
Handlung darin ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt. Der einzelne wird gezwungen,
26 Vgl. Ebers 153; vgl. Kaufmann 29.
27 Preglau 213.
28 Adorno/Horkheimer, 184f.; zit. n. Brose/Hildenbrand 14.
29 Adorno (1970) 35; zit. n. Keupp (1989) 51.
30 Adorno (1966) 275; zit. n. Keupp (1989) 52.
31 Vgl. Ebers 257.

sein Verhalten immer differenzierter, immer gleichmäßiger und stabiler zu regulie-
ren.“ 32 Die durch die Enttraditionalisierung verminderten äußeren Zwänge, unter de-
nen das Individuum steht, werden ersetzt durch innere Zwänge, d.h. beständige
Selbstkontrolle, in der Terminologie Elias’ „Langsicht“ und „Selbstzwang“. Auch
hier wird deutlich, daß mit der gesellschaftlichen Differenzierung und Individualisie-
rung die Anforderungen an das Individuum nicht abnehmen, sondern massiv zuneh-
men. 33
Für Jürgen Habermas ist das Kennzeichen der Moderne die Notwendigkeit der
Selbstreflexion. Der einzelne Mensch muß normative Vorgaben und letztlich auch
seine Identität aus sich selbst zu schöpfen in der Lage sein. Dies ist eine Anforde-
rung, die die Gesellschaft an das Individuum heranträgt. Der moderne Individualis-
mus ist ein institutioneller Individualismus; den wachsenden Freiheitsgraden der Le-
benswelt in der Wahrnehmung des einzelnen steht deren Kolonialisierung durch das
System gegenüber. Individuen sind jeweils selbst für die Erzeugung sozial-integrier-
ter Lebensformen verantwortlich und geraten dadurch in einen „Zustand riskanter
Selbststeuerung“. 34 Um beurteilen zu können, ob Individualisierung eher als Chance
oder eher als Gefährdung zu begreifen ist, muß immer wieder neu untersucht werden,
ob die Möglichkeiten der Individualisierung unter den je konkreten Lebensbedingun-
gen des einzelnen Menschen auch tatsächlich genutzt werden können. 35
Auch in der Systemtheorie Niklas Luhmanns ist Individualisierung ein zentraler To-
pos. Ideologiekritisch hebt er hervor, daß Autonomie und Selbstverwirklichung weni-
ger das Resultat sozialer Bewegungen sind als vielmehr strukturelle Konsequenzen
der gesellschaftlichen Differenzierung. 36 Die gesellschaftliche Anforderung, Indivi-
dualität selbst herzustellen, geht aber nicht gleichzeitig mit deren selbstverständlicher
Erfüllung einher. Es ist im Gegenteil wahrscheinlicher, daß der Zwang zur Einzigar-
tigkeit in der massenhaften Anfertigung und Nachahmung gesellschaftlich produzier-
ter Standardidentitäten mündet 37 ; damit bliebe dieser Anspruch letztlich uneinlösbar.
Zusammenfassend hält Ebers in ihrem Aufriß der Geschichte des Individualisie-
rungskonzepts fest, daß fast alle entsprechenden Theorien und Theoreme den Wandel
der Schichtenrelationen untersuchen. 38 Dies ist auch der Ausgangspunkt des Beck-
32 Elias 316f; zit. n. Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 17.
33 Vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 17.
34 Ebers 41. Vgl. auch Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 18-20.
35 Vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 20.
36 Vgl. ebd. 18.
37 Vgl. Ebers 41.
38 Ebers 41f.; als prominente Beispiele nennt sie Geigers „Klassengesellschaft im Schmelztiegel“,
Schelskys „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ und schließlich Schulzes Konzept der Erlebnisgesellschaft,
wonach Gesellschaft heute nicht mehr als geschichtet, sondern als aus Sozialmilieus zusam-

schen Individualisierungskonzepts, das er erstmals in einem Vortrag auf einem So-
ziologenkongreß zum Thema soziale Ungleichheit entwickelt. 39 Seinem Konzept gel-
ten die folgenden ausführlichen Überlegungen.
2.2 Die Risikogesellschaft: Das Individualisierungstheorem nach Ulrich Beck
Ulrich Beck schließt grundsätzlich an die Grundthese der soziologischen Klassik an,
daß die Gesellschaft im Laufe ihrer Entwicklung immer komplexer wird und sich
dies in zunehmender Differenzierung ausdrückt. Er setzt die damit verbundenen Indi-
vidualisierungsschübe - also die prinzipielle Freisetzung der Gesellschaftsmitglieder
aus vormodernen Bindungen und Zwängen - voraus, um für die bundesrepublikani-
sche Gesellschaft eine Radikalisierung dieser oben beschriebenen Tendenzen feststel-
len zu können. Sie besteht aus neuerlichen Individualisierungsschüben seit den 50er
Jahren in der Bundesrepublik, eine Diagnose, die wohl ähnlich auch für andere west-
europäische Gesellschaften und etwa die nordamerikanische Gesellschaft Geltung be-
anspruchen darf.
2.2.1 Der Konflikt der zwei Modernen
Ein wichtiger Hintergrund für das Verständnis der Beckschen Argumentation ist das
Konzept des Konflikts der zwei Modernen. Beck geht davon aus, daß die klassische
Industriegesellschaft ein Produkt einfacher - halbierter - Modernisierung war, ein
Prozeß der Rationalisierung der Tradition. In einem zweiten Modernisierungsschub
mit dem Übergang von der klassischen Industriegesellschaft zur industriellen Risiko-
gesellschaft entsteht eine Zäsur, die eine neue Gesellschaftsform erzeugt, welche aber
durchaus in der Kontinuität der Moderne steht. 40 Die Moderne wendet sich auf sich
selbst und modernisiert dabei ihre eigenen Grundlagen. Mit anderen Worten: Sie
wird selbstreflexiv; es wird nicht mehr wie im Übergang zur Industriegesellschaft die
Tradition modernisiert, sondern die Moderne wird sich selbst zur Tradition:
„Ähnlich wie im 19. Jahrhundert Modernisierung die ständisch verknöcherte Agrargesellschaft aufgelöst
und das Strukturbild der Industriegesellschaft herausgeschält hat, löst Modernisierung heute
die Konturen der Industriegesellschaft auf, und in der Kontinuität der Moderne entsteht eine andere
gesellschaftliche Gestalt.“ 41
mengesetzt zu beschreiben ist (vgl. Schulze (1993a) 17).
39 Vgl. Beck (1983).
40 Vgl. Beck (1986) 13.
41 Ebd. 14.

Wenn das Projekt der Moderne darin besteht, daß die mit der Geburt festgelegten Be-
schränkungen aufgehoben werden und allen Menschen gleichermaßen durch eigene
Entscheidung und Leistung Zugang zu sozialen Positionen gewährt wird 42 , so muß
man feststellen, daß dies für die moderne Industriegesellschaft nur in eingeschränk-
tem Maße gilt: Sie war bis in die Nachkriegsepoche hinein nur zur Hälfte modern,
etwa im Sinne von Marktverflechtung, Universalisierung des Lohnarbeiterstatus und
damit arbeitsmarktbezogener Mobilität, zum anderen Teil blieb eine an der überkom-
menen Tradition orientierte bäuerlich-handwerkliche Produktions- und Lebensweise
weiterhin selbstverständlich gültig. Ebenso deutlich wird dies am Beispiel der Fami-
lie: Zwar läßt sich im Zuge der Industrialisierung ein Umbau der traditionalen Fami-
lienformen beobachten, andererseits blieb der Determinsimus des Geschlechts in Zu-
ordnung zur Arbeits- (Mann) oder Familienwelt (Frau) traditional 43 , ja mußte es so-
gar bleiben, weil die Universalisierung der Lohnarbeit diese Form familialer Arbeits-
teilung gerade voraussetzte. Die angeblichen vormodernen Reste sind also gar nicht
unbedingt Relikte einer noch nicht modernisierten Tradition, sondern gehörten zum
festen Bestand der klassischen Industriegesellschaft. 44 Dieser Widerspruch zwischen
dem modernen Selbstentfaltungsanspruch und den realen industriegesellschaftlichen
Einschränkungen desselben bedeutet, daß die industriegesellschaftliche Moderne ihre
Gegenmoderne bereits eingebaut hatte. Die fortschreitende Universalisierung dieses
Anspruchs geschieht erst im Prozeß reflexiver Modernisierung, der durch die Be-
wußtwerdung dieser Widersprüchlichkeit vorangetrieben wird. Erst in diesem Prozeß
werden die in der Industriegesellschaft konstitutiv enthaltenen Bauelemente der Tra-
ditionalität brüchig und aufgehoben. 45
Dieser Wandlungsprozeß wird nun in zwei Argumentationslinien entfaltet. Zum ei-
nen thematisiert Beck das Verhältnis zwischen der traditional-industriegesellschaftli-
chen Logik der Reichtumsverteilung gegenüber der zukünftig sich abzeichnenden
Logik der Risikoverteilung (Kap. 2.1) sowie zum zweiten das eigentliche Individuali-
sierungstheorem, das sich auf die Individualisierung der Lebenslagen und Lebenswe-
ge der Menschen und die Individualisierung der Institutionen der klassischen Indus-
triegesellschaft bezieht (Kap. 2.2) bzw. kürzer gewendet: die Risiken der Zivilisation
und die Risiken der Enttraditionalisierung.
42 Vgl. ebd. 8.
43 Vgl. dazu Gabriel 77. Gabriel übernimmt das Modell des Gegeneinanders von halbierter und entfalteter
Moderne, um es auf Christentum und Kirche anzuwenden (Vgl. Kap. 3.2 dieser Arbeit).
44 Vgl. Beck (1986) 19.118.
45 Vgl. ebd. 19. Vgl. zum gesamten Gedankengang auch Beck (1991).

2.2.2 Die Welt-Risikogesellschaft
Werfen wir zunächst einen Blick in Ulrich Becks makrosoziologische Analyse der
Bundesrepublik Deutschland als Risikogesellschaft. Die Risikogesellschaft ist ein
neuer Typus der Gesellschaft in der reflexiven bzw. „fortgeschrittenen Moderne“. 46
Geht es klassischerweise in der Moderne „um die Nutzbarmachung der Natur, um die
Herauslösung der Menschen aus traditionalen Zwängen“, so geht es jetzt um die
„Folgeprobleme der technisch-ökonomischen Entwicklung“. 47
„Der Modernisierungsprozeß wird ‘reflexiv’, sich selbst zum Thema und Problem. Fragen der Entwicklung
und des Einsatzes von Technologien (im Bereich von Natur, Gesellschaft und Persönlichkeit)
werden überlagert durch Fragen der politischen und wissenschaftlichen ‘Handhabung’
- Verwaltung, Aufdeckung, Einbeziehung, Vermeidung, Verschleierung - der Risiken aktuell oder
potentiell einzusetzender Technologien im Hinblick auf besonders zu definierende Relevanzhorizonte.
Das Versprechen auf Sicherheit wächst mit den Risiken und muß gegen eine wachsame und
kritische Öffentlichkeit durch kosmetische oder wirkliche Eingriffe in die technisch-ökonomische
Entwicklung immer wieder bekräftigt werden.“ 48
Je größer der industrielle Reichtum, desto größer sind die Risiken. Diese Risiken ge-
hen einher mit der gesellschaftlichen, wohlfahrtsstaatlich vorangetriebenen Produk-
tion von Reichtum. Die Verteilungsprobleme der (industriellen) Mangelgesellschaft
werden überlagert durch die Probleme die aus der Produktion wissenschaftlich-tech-
nischer Risiken entstehen. Die neuen Risiken haben moderne Ursachen 49 , sie sind
keine äußeren Bedrohungen, sondern durch die industrielle Entwicklung produziert
und in ihren Auswirkungen global. Waren die Gefahren der vorindustriellen Hoch-
kulturen noch Naturkatastrophen und Seuchen, die im Wesentlichen außerhalb der
Einflußnahme der Betroffenen standen, so ist die klassische Industriegesellschaft
schon stärker von durch Menschen produzierten Risiken wie Unfällen geprägt, die
aber prinzipiell kalkulier- und vermeidbar bleiben. Die industrielle Risikogesellschaft
jedoch steht vor Selbstgefährdungen und künstlichen Katastrophen, die weder inner-
halb nationalstaatlicher Grenzen und schon gar nicht individuell lösbar sind. 50 Die
Risikogesellschaft ist eine weltweite „Katastrophengesellschaft. In ihr droht der Aus-
nahme- zum Normalzustand zu werden.“ 51 Die Gegenwartsprobleme wie atomare
Verseuchung, Umweltverschmutzung, Ozonloch, Genmanipulation sind universale,
globale Gefährdungen, es gibt niemanden, der nicht betroffen ist, allenfalls Noch-
46 Beck (1986) 25.
47 Ebd. 26.
48 Ebd.
49 Vgl. ebd. 29.
50 Vgl. Beck (1988) 121.
51 Beck (1986) 105 (Hervorh. im Original).

Nicht-Betroffene bzw. Mehr- bzw. Weniger-Betroffene. 52 Damit wird der Umgang
mit Angst und Unsicherheit biographisch und politisch zu einer „zivilisatorischen
Schlüsselqualifikation“. 53 Die Anerkennung der Unkalkulierbarkeit der Risiken
zwingt die Gesellschaft zudem zur Selbstreflexion auf die Grundlagen des gesell-
schaftlichen Zusammenlebens. Mit einigem Recht stellt der Fundamentaltheologe
Hans-Joachim Höhn fest, daß Becks Analyse als eine Prognose zu begreifen ist, die
ihr Nicht-Eintreffen bewirken will 54 , allerdings verbreitet Beck nicht gerade großen
Optimismus darüber, daß dies noch gelingen kann.
So spannend diese erste Dimension der „Risikogesellschaft“ ist, wir müssen sie ver-
lassen, weil für diese Arbeit die zweite Dimension, in der das Theorem der neuen
Qualität der Individualisierung entwickelt wird, der relevantere ist.
2.2.3 Individualisierung als riskante Chance
Neben die globalen Gefährdungen der Weltrisikogesellschaft treten weitere Risiken
und Unsicherheiten, die erstere zumindest in der individuellen und sozialen Wahr-
nehmung überlagern. Es sind dies jene gesellschaftlich, biographisch und kulturell
bestimmten Unsicherheiten, die Beck unter der Kategorie „Individualisierung“ zu-
sammenfaßt. Gemeint ist die Freisetzung der Menschen aus den Sozialformen der in-
dustriellen Gesellschaft, nämlich v.a. aus Klassen und Schichten, Familie und ge-
schlechtsbezogenen Rollenzuweisungen. 55
2.2.3.1 Individualisierende sozialkulturelle Entwicklungen
Vornehmlich durch drei sozialkulturelle Entwicklungen erreicht die bundesrepublika-
nische Gesellschaft eine historisch neue Qualität der Individualisierung: den soge-
nannten „Fahrstuhleffekt“, die gestiegene soziale und geographische Mobilität sowie
die Bildungsexpansion.
2.2.3.1.1 Der „Fahrstuhleffekt“
52 Vgl. Treibel 232; Beck (1991) 187; Beck (1986) 59f. Ein nicht unwesentlicher psychologischer
Grund für den Erfolg des Buches „Risikogesellschaft“ weit über wissenschaftliche Kreise hinaus mag
sein Erscheinungsdatum sein. 1986 war das Jahr der Tschernobyl-Katastrophe. Ein solcher lokaler
„Störfall“, wie die Katastrophe gern euphemistisch-verharmlosend bezeichnet wurde, der sich in der
Ukraine ereignet, ist ein gutes Beispiel für die Bedrohungen, die in der Risikogesellschaft zu globalen
Gefährdungen werden können, wenn sie außer Kontrolle geraten.
53 Beck (1986) 102.
54 Vgl. Höhn (1994) 26.
55 Vgl. Beck (1986) 115.

Die erste Entwicklung ist der sogenannte „Fahrstuhleffekt“ 56 . Bei konstanten sozialen
Ungleichheitsrelationen ist der materielle Lebensstandard durch die Vervielfachung
der Reallöhne gestiegen. Zusammen mit einer Verkürzung der Wochen- und Le-
bensarbeitszeit sowie einer gestiegenen Lebenserwartung ermöglicht dies einen grö-
ßeren materiellen wie zeitlichen Spielraum der Entfaltung individueller Vorlieben in
Freizeit, Konsum und Lebensführung. Die Überschneidungszonen gruppenspezifi-
scher Lebensräume wachsen, ehemalige
„‘Klassenwelten’ [...] werden unkenntlich oder aufgehoben. An ihre Stelle treten ungleiche Konsumstile
(in Einrichtung, Kleidung, Massenmedien, persönlicher Inszenierung usw.), die aber - bei
aller demonstrativer Unterschiedlichkeit - die klassenkulturellen Attribute abgelegt haben.“ 57
2.2.3.1.2 Mobilität
Die zweite Veränderung ist die gestiegene soziale und geographische Mobilität. 58 Da-
hinter verbergen sich die Wandlung der Berufsstruktur, die Expansion des Dienst-
leistungssektors als Bedingungsfaktoren für die gestiegenen sozialen Aufstiegschan-
cen auch für Angehörige von Arbeiterfamilien sowie die wachsende Partizipation
von Frauen am Arbeitsmarkt. Dies bedeutet, daß immer mehr Menschen zum Bei-
spiel aus Arbeits- oder Ausbildungsplatzgründen ihren angestammten Ort und damit
bisherige Beziehungsnetze verlassen.
„Soziale Mobilität - wie im übrigen auch geographische Mobilität, ja selbst die alltägliche Mobilität
zwischen Familie und Arbeitsplatz - wirbelt die Lebenswege und Lebenslagen der Menschen
durcheinander. Mit all diesen Arten von Mobilitätsvorgängen und insbesondere in ihrer Summe
sind immer wieder Individualisierungsschübe relativ zu Familien-, Nachbarschafts-, Kollegen-, Berufs-
und Betriebsbindungen sowie Bindungen an eine bestimmte regionale Kultur und Landschaft
verbunden. Die Lebenswege der Menschen verselbständigen sich gegenüber den Bedingungen und
Bindungen, aus denen sie stammen oder die sie neu eingehen, und gewinnen diesen gegenüber eine
Eigenrealität, die sie überhaupt erst als ein persönliches Schicksal erlebbar machen.“ 59
2.2.3.1.3 Ausbildung
Drittens schließlich behandelt Beck die individualisierenden Effekte der Bildungsex-
pansion. 60 Anders als beim „Fahrstuhleffekt“ haben sich im Zuge der gestiegenen Zu-
gangsmöglichkeiten zu höherer Bildung die Relationen sozialer Ungleichheit massiv
verändert. Dadurch wird der eigene Ausbildungsweg - wenn nicht Lebensweg - zum
Resultat eigener Leistung und ist nicht länger Ausdruck von Klassen- und Milieuzu-
gehörigkeit. Der Massenkonsum höherer Bildung bedeutet wiederum ein Stück Ab-
56 Beck (1986) 124.
57 Ebd. 125 (Hervorh. im Original).
58 Vgl. ebd. 125-127.
59 Ebd. (Hervorh. im Original).
60 Vgl. ebd. 127-130.

schied aus den Bindungen und Vorgaben des Herkunftsmilieus. Mit dem längeren
Verbleib in Institutionen des Bildungssystems werden Jugendliche und junge Er-
wachsene anstelle von traditionalen Orientierungen, Denkweisen und Lebensstilen
mit universalistischen Lehr- und Lernbedingungen, Wissensinhalten und Sprachfor-
men konfrontiert. Dies ermöglicht zum einen ein gewisses Maß an Selbstfindungs-
und Reflexionsprozessen; andererseits wird Bildung in Institutionen vermittelt, die
auf Selektion und Qualifikation angelegt sind, was individuelle Aufstiegsorientierung
erfordert und fördert. Institutionenvermittelte und somit formalisierte Bildungspro-
zesse sind nur durch „das individualisierende Nadelöhr“ 61 von Bildungszertifikaten
zu absolvieren, was wiederum einen individualisierenden Effekt hat: nämlich inso-
fern als diese Zertifikate eine Bedingung für den Zugang zu individualisierten Bil-
dungspatenten und Arbeitsmarktkarrieren sind. 62
2.2.3.2 Die drei Dimensionen des Individualisierungsprozesses
Das oben beschriebene sozialstrukturelle Bedingungsgeflecht der Individualisie-
rungsthese wird im Verlauf des zweiten Kapitels der „Risikogesellschaft“ präzisiert.
Danach vollzieht sich Individualisierung in drei Dimensionen:
„Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler
Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge („Freisetzungsdimension“), Verlust von traditionalen
Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen („Entzauberungsdimension“)
und - womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt
wird - eine neue Art der sozialen Einbindung („Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension“).“ 63
Zu den Freisetzungen und dem Verlust traditionaler Sicherheiten ist schon einiges
gesagt worden. Die ausdrückliche Hinzufügung der dritten Dimension bewahrt je-
doch vor einem massiven Mißverständnis 64 der Individualisierungsdiagnose. Indivi-
dualisierung bedeutet nicht völlige Autonomie des Individuums oder Beliebigkeit
von Entscheidungen, sondern sie geht immer mit einer neuen Standardisierung ein-
her. „Genauer gesagt: eben die Medien, die eine Individualisierung bewirken, bewir-
ken auch eine Standardisierung.“ 65 An die Stelle der traditionalen Bindungen und
Versorgungsbezüge treten Zwänge des Arbeitsmarktes und des Konsums, „sekundä-
re Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen prägen und ihn ge-
61 Ebd. 129.
62 Ein höherer Bildungsabschluß bedeutet freilich nicht automatisch das Erreichen einer entsprechenden
sozialen Position. Die zahlenmäßige Nivellierung etwa von Frauen und Männern bei höheren Bildungsabschlüssen
hat nicht zu einem gleichen Anteil an der Erwerbsarbeit und schon gar nicht zu vergleichbaren
sozialen Positionen geführt. Vom Bildungsparadox wird später noch die Rede sein.
63 Beck (1986) 206.
64 Vgl. dazu auch Beck/Beck-Gernsheim (1993) 180-183.
65 Beck (1986) 210 (Hervorh. im Original).

genläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewußtseinsform durchsetzt,
zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten machen.“ 66 Zu
dieser Aufzählung hinzuzufügen sind noch die standardisierenden Bedingungen des
Bildungs- und Ausbildungssystems. 67
2.2.3.3 Konkretisierung: Von Individualisierung betroffene Bereiche
Der obige Gedankengang - also die Skizzierung eines sozialstrukturellen Bedin-
gungsgeflechts für den neuen Individualisierungsschub in der bundesrepublikani-
schen Gesellschaft sowie die drei Dimensionen dieser Individualisierung - läßt sich
in Bezug auf drei von Beck besonders ausführlich behandelte Bereiche des Lebens
konkretisieren: erstens die Individualisierung sozialer Ungleichheit, zweitens Indivi-
dualisierung als Arbeitsmarktindividualisierung und drittens schließlich die Indivi-
dualisierung innerhalb von Kleinfamilien und in den Geschlechtslagen.
2.2.3.3.1 Individualisierung sozialer Ungleichheit
Wie oben bereits angedeutet, ist der Ausgangspunkt bei der Entfaltung des Beck-
schen Individualisierungstheorems die soziale Frage. Ist im Zuge wohlfahrtsstaatli-
cher Sicherungssysteme und gesamtgesellschaftlich gestiegener Wirtschaftskraft die
Frage nach sozialer Ungleichheit noch aktuell und relevant? Beck beantwortet diese
Frage mit einem eindeutigen Ja. Wie bei der Darstellung des „Fahrstuhleffekts“ be-
reits angesprochen, ist die Struktur sozialer Ungleichheit in der Bundesrepublik in
den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten stabil geblieben. Zwar haben sich die Le-
bensbedingungen der Menschen in dem Sinne gewandelt, daß der materielle Lebens-
standard insgesamt gestiegen ist, doch sind die Verteilungsrelationen sozialer Un-
gleichheit zwischen den gesellschaftlichen Großgruppen gleich geblieben. Gleichzei-
tig ist die soziale Frage in den Hintergrund getreten; Beck spricht in diesem Zusam-
menhang von einer „sozialen Entschärfung von Ungleichheitsrelationen.“ 68 Als
Gründe für diese Entwicklung nennt Beck folgende gesamtgesellschaftliche Verände-
rungen:
· Verschiebungen im Niveau von Bildung und Einkommen
· Wegschmelzen subkultureller Klassenidentitäten
· Enttraditionalisierung „ständisch“ eingefärbter Klassenlagen
66 Ebd. 211 (Hervorh. im Original).
67 Ebd. 211.
68 Beck (1984) 485.

· Prozesse der Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Le-
benswegen 69
Dies zusammen bewirkt, daß das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten
unterlaufen und in Frage gestellt wird, da in der persönlichen Wahrnehmung der
Menschen die Bindung an soziale Klassen, Schichten oder Milieus in den Hinter-
grund tritt. 70 Der strukturell erleichterte Zugang zu höherer Bildung und damit die
prinzipielle Möglichkeit eines jeden Menschen, seinen sozialen Status und seine ge-
sellschaftliche Position selbst zu bestimmen sowie die sozialstaatlichen Sicherungs-
systeme, die die Existenzrisiken der einzelnen verringern, erschweren die Wahrneh-
mung der weiterhin bestehenden und auch neu hinzutretenden Ungleichheitsrelatio-
nen. Und vor allem: Sie erschweren die Identifizierung persönlichen Scheiterns als
mögliches Produkt gesellschaftsstruktureller Probleme. Das bedeutet: Wer also trotz
der prinzipiellen Chance, das Herkunftsmilieu zu verlassen und den gesellschaftli-
chen Status zu verbessern, scheitert, dem wird dieses Scheitern persönlich zuge-
schrieben. Beck macht dies am Beispiel der Arbeitslosigkeit deutlich. Rückblickend
für das Jahrzehnt vor Erscheinen der „Risikogesellschaft“ (1986) stellt er fest, daß
die Arbeitslosenzahlen zwar konstant geblieben sind, nicht aber die registrierten Fälle
und betroffenen Personen. Mit der absoluten Zahl lassen sich nämlich nicht die be-
troffenen Fälle beschreiben, sie gibt zum Beispiel nicht das Anwachsen von wieder-
holter oder Dauerarbeitslosigkeit wieder und schon gar nicht die Fälle von nicht re-
gistrierter Arbeitslosigkeit, also etwa Frauen, die sich wegen sinkender Arbeitsmarkt-
chancen in die Hausfrauenexistenz flüchten oder Personen, die gar nicht erst in den
Arbeitsmarkt hineinkommen, worunter besonders viele Jugendliche sind. Individuali-
sierung und Verschärfung sozialer Ungleichheit greifen hier also ineinander: System-
probleme wandeln sich in der gesellschaftlichen und persönlichen Wahrnehmung in
persönliches Versagen und werden damit politisch entschärft. Beck nennt dies die
„neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft“. 71 Gesellschaftliche Krisen
erscheinen als individuelle und können in ihrer Gesellschaftlichkeit nur noch sehr be-
dingt und vermittelt wahrgenommen werden. 72
2.2.3.3.2 Individualisierung als Arbeitsmarktindividualisierung
Vergleichbare Prozesse lassen sich auch anhand des Arbeitsmarkts illustrieren. Der
Eintritt in den Arbeitsmarkt fördert Individualisierung, indem er Mobilitätssteigerung
69 Beck (1983) 36.
70 Vgl. ebd. 36.
71 Beck (1986) 118.
72 Vgl. ebd. 117f.

vorantreibt. Wie bereits in Kap. 2.3.1 dargestellt, fördert die geographische Mobilität
- also v.a. Ortswechsel durch Arbeitsplatz - die Verselbständigung gegenüber dem
Herkunftsmilieu. Der Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin müssen sich selbst als
Akteur und Organisator des eigenen Lebenswegs sehen. Die Arbeitsmarktmobilität
erfaßt den einzelnen kontinuierlich als einzelnen. 73 Hinzu kommen Konkurrenzbezie-
hungen am Arbeitsmarkt, die den einzelnen Menschen aufgrund der Bedrohung indi-
vidueller Austauschbarkeit immer wieder neu zur Inszenierung der individuellen Be-
sonderheit zwingen. Das heißt, selbst in homogenen Lebenslagen greifen Prozesse
der Vereinzelung. 74
Der Arbeitsmarkt befördert aber auch gleichzeitig Standardisierungen und Homoge-
nisierungen von Lebenswegen und Biographiemustern. Weil die Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen vom Arbeitsmarkt abhängig sind, sind sie auch abhängig von Bil-
dung, Konsum, arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen, Infrastruktureinrich-
tungen usf.; durch diese Abhängigkeiten wird der je individuelle Lebenslauf institu-
tionell kanalisiert. Wachsende Individualisierungschancen können also konterkariert
werden durch entindividualisierende Prozesse. 75 Daß dies auch Jugendliche betrifft,
bedarf kaum eigener Hervorhebung: Die Arbeitsmarktabhängigkeit beginnt ja bereits
in der Schulzeit. Die Art der dort erworbenen Qualifikation bestimmt bereits zu ei-
nem wesentlichen Teil die späteren Arbeitsmarktchancen.
So kann Beck folgern: „Gerade Individualisierung bedeutet also Institutionalsierung,
institutionelle Prägung, und damit: politische Gestaltbarkeit von Lebensläufen und
Lebenslagen.“ 76
2.2.3.3.3 Individualisierung als Freisetzung aus Geschlechtslagen und Familien
Individualisierungsprozesse entfalten sich auch gegenüber und innerhalb der Klein-
familie sowie in den Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und zwar quer zu
den Freisetzungen aus dem oben dargestellten System sozialer Ungleichheit. 77 Hier
greift Beck wieder auf seine Ausgangshypothese vom Konflikt der zwei Modernen
zurück. Die universal gedachten Prinzipien der Moderne - individuelle Freiheit und
Gleichheit jenseits der Beschränkungen qua Geburt bleiben in der halbierten Moder-
ne auch nur der Hälfte der Bevölkerung vorbehalten, nämlich ihrem männlichen Teil.
Daß auch dies kein traditionales Relikt ist, sondern Produkt und Fundament der In-
73 Vgl. Beck (1983) 46. Vgl. Ebers 300.
74 Vgl. Beck (1983) 46f.; Beck nennt dies „Individualisierung unter Gleichen“ (ebd. 46).
75 Vgl. Beck (1986) 119; Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 15; Ebers 302.
76 Beck (1986) 212.
77 Vgl. ebd. 178.

dustriegesellschaft, belegt Beck damit, daß die industriegesellschaftlichen Strukturen
der Erwerbsarbeit die innerfamiliale Arbeitsteilung voraussetzen. 78 Es muß jemand
zu Hause bleiben, um Hausarbeit und Kindererziehung zu gewährleisten.
Die halbierte Geltung der universalistischen Prinzipien der Moderne - Beck spricht in
diesem Zusammenhang von „ständische[n] Geschlechtsschicksale[n]“ 79 wurde im
Zuge höherer Bildungsqualifikationen, steigender weiblicher Erwerbstätigkeit und
vor allem eines allgemeinen Bewußtseinswandels immer fragwürdiger; sie mußte es
werden, da den Frauen ihre besondere Beschränkung auf die „Insularexistenz“ 80 der
Kleinfamilie um so deutlicher hervortreten mußte, als ihre Männer aus zugewiesenen
Rollenmustern freigesetzt wurden. Beck illustriert diese Freisetzung der Frauen aus
den Vorgaben ihres modernen weiblichen Ständeschicksals an einer Reihe von empi-
rischen Fakten. 81 So führt die Verlängerung der Lebenserwartung zu einer Freiset-
zung der Frauen aus der Beschränkung auf die mutterrollengebundenen Lebenspha-
sen. Eine weitere Herauslösung aus dieser Bindung ermöglichen Empfängnisverhü-
tung und gesetzliche Regelungen der Abtreibung, wodurch Frauen sich und ihre Se-
xualität auch unabhängig von der Mutterrolle, der stärksten Anbindung an die Frau-
enrolle, ausleben können. Die Umstrukturierung der Hausarbeit als isolierte Arbeitse-
xistenz innerhalb der Kleinfamilie sowie etwas später die technische Rationalisierung
der Hausarbeit lassen diese immer unattraktiver werden, weil sie nur noch der unbe-
zahlte Restbestand der innerhalb einer Gesellschaft anfallenden Arbeit zu sein
scheint. Darüber hinaus verliert im Zuge angeglichener Bildungschancen die Aus-
grenzung aus der Erwerbsarbeit für die Frauen ihre Evidenz. Frauen können, wollen
und müssen am Erwerbsarbeitsmarkt teilnehmen; Selbstverwirklichung im Sinne
ökonomischer Unabhängigkeit ist ja nicht nur eine moderne Chance, sondern auch
ein moderner Imperativ.
Insgesamt bedeutet dies, daß erst in dieser zweiten Modernisierungsphase auch Frau-
en in den damit verbundenen Individualisierungsprozeß einbezogen sind. Sie werden
damit aus der Familienbindung und -versorgung herausgelöst; auch für sie erfolgt ein
Übergang von zugewiesenen zu erworbenen Rollen. 82
Daß die mit diesen Entwicklungen verbundenen Selbstverwirklichungsansprüche auf
dem Arbeitsmarkt nicht eingelöst werden, muß hier einschränkend betont werden:
Der rechtlichen Gleichstellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt entspricht nicht
78 Vgl. ebd. 179.
79 Ebd. 178.
80 Ebd. 182.
81 Ebd. 182f; Ebers 305.
82 Vgl. Ebers 306. Vgl. zu diesem Komplex auch die Arbeiten von Elisabeth Beck-Gernsheim; hier
insbes. Beck-Gernsheim (1983).

eine tatsächliche Gleichstellung. Hier greifen also auch die Mechanismen der Wahl-
schen „Modernisierungsfalle“. Frauen sind nach wie vor am Arbeitsmarkt und insbe-
sondere in Führungsschichten unterrepräsentiert. Vor dem Hintergrund der Massen-
arbeitslosigkeit sind Frauen zwar freigesetzt von der Eheversorgung, aber nicht unbe-
dingt frei zu autonomer Existenzsicherung. Dies wird zusätzlich verstärkt durch die
weiterhin bestehende Rückbindung der Frauen an die Mutterschaft. Während der
Schwangerschaft, Stillzeit und weiterer Verantwortung für ihre Kinder bleiben Frau-
en vom Erwerbsarbeitsmarkt ausgeschlossen. Kinder werden damit Hindernisse im
arbeitsmarktbezogenen Selbstverwirklichungsprozeß, andererseits aber auch das Ver-
sprechen auf Selbstverwirklichung in der Erzieherinnenrolle als bewußte Entschei-
dung gegen ökonomische Eigenständigkeit und damit auch gegen die Zwänge des
Arbeitsmarkts. 83
Entscheidend an dieser Beobachtung ist die Feststellung, daß die tatsächliche Kon-
stanz der Ungleichheiten in den Geschlechtslagen und deren teilweise Verschärfung
eben nicht schon dadurch aufgehoben wird, daß man sich ihrer bewußt wird. Die tat-
sächliche, weiterhin bestehende Ausgrenzung von Frauen aus dem Arbeitsmarkt er-
scheint als individuelle Entscheidung und nicht als Folge struktureller Bedingungen.
Und in der Tat: Eigentlich ist ja alles offen; es kann ausgehandelt werden, wer wann
welche Hausarbeiten erledigt, wer die Kinder versorgt, wer für den Lebensunterhalt
zuständig ist. Es wird ja auch bei einer durch die oben geschilderten Prozesse ermög-
lichten Pluralisierung der Privatheitsformen - traditionale Kleinfamilie, Ein-Eltern-
Familie, Ehe ohne Trauschein, Wochenendehe usf. - immer mehr zu einer Entschei-
dungssache, ja, es wird unmöglich, sich nicht zu entscheiden. 84 Der Individualisie-
rungsprozeß erfaßt nun auch die Familien, mit der Folge, daß Familienformen sich
wandeln.
„Es entsteht der Typus der ‘Verhandlungsfamilie auf Zeit’, in der sich verselbständigende Individuallagen
ein widerspruchsvolles Zweckbündnis zum geregelten Emotionalitätsaustausch auf Widerruf
eingehen.“ 85
„Geregelter Emotionalitätsaustausch“, diese typisch Becksche Formulierung, ver-
weist darauf, daß die Ansprüche an Partner- und Elternschaft steigen, freilich ohne
daß diese realiter eingeholt werden können. Die Individualisierung, die die Lagen
von Männern und Frauen auseinandertreibt, treibt sie zugleich in die Partnerschaft hi-
nein. „Mit der Ausdünnung der Traditionen wachsen die Verheißungen der Partner-
83 Vgl. Beck (1986) 184.
84 Vgl. ebd. 190.
85 Ebd. 118.

schaft.“ 86 Die Suche nach Liebe und Intimität als Basis der modernen Familie bleibt
nun endgültig deren letztes Fundament, ein Zufluchtsort in der individualisierten Ge-
sellschaft. Dieser hohe Anspruch macht sie zugleich brüchig, erfordert er doch letzt-
lich eine austauschbare Partnerschaft, denn die Motivation nicht nur der Heirat, son-
dern auch der Trennung ist die Liebe bzw. im zweiten Fall die doch nicht oder nicht
mehr erfüllte Liebe. 87
Wenn die Erwartungen an die Partnerschaft doch nur unvollkommen ihre Erfüllung
finden können, so wird letztlich das Kind zur einzig „verbliebenen unaufkündbaren
und unaustauschbaren Primärbeziehung“. 88 Die Partnerschaft ist austauschbar, das
Kind bleibt als Garant einer „anachronistischen Sozialerfahrung [...], die mit dem In-
dividualisierungsprozeß gerade unwahrscheinlich und herbeigesehnt wird.“ 89
2.2.4 Zusammenfassung: Die Seite des Individuums
Die entscheidende Pointe des Individualisierungstheorems liegt in der Konsequenz
der Individualisierung für den einzelnen Menschen, nämlich für seine Biographie im
Wesentlichen selbst verantwortlich zu sein. Das freigesetzte Individuum kann nicht
nur, sondern muß über Lebenslauf und -planung selbst entscheiden. Dies ist kein Wi-
derspruch zur Standardisierungsthese. Auch da, wo von wirklicher Entscheidung kei-
ne Rede sein kann, weil entweder das subjektive Bewußtsein oder Entscheidungsal-
ternativen fehlen, ist das Individuum für die Konsequenzen der von ihm selbst oder
durch Zwänge getroffenen Entscheidungen verantwortlich. 90 In diesem Zusammen-
hang führt Beck den Terminus der „Bastelbiographie“ 91 ein. Der bzw. die einzelne
stellt sich also aus lebensgeschichtlichen und institutionellen Vorgaben, diese gleich-
sam als Versatzstücke verwendend, seine bzw. ihre Biographie selbst her. 92
„In der individualisierten Gesellschaft muß der einzelne entsprechend bei Strafe seiner permanenten
Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf
seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen.“
93
86 Ebd. (Hervorh. im Original).
87 Vgl. Ebers 310.
88 Beck (1986) 193 (Hervorh. im Original).
89 Ebd. 193 (Hervorh. im Original).
90 Vgl. ebd. 216f.
91 Ebd. 217. Beck entlehnt diesen Terminus von Gross, P.: Bastelmentalität: Ein „postmoderner“
Schwebezustand. In: Schmid, Th. (Hrsg.): Das pfeifende Schwein. Berlin 1985, S. 63-84.
92 Lenz schlägt vor, die drei von Beck genannten Dimensionen von Individualisierung noch um die
„Biographisierungs- und Zuschreibungsdimension“ ergänzen, um genau jenen ambivalenten Prozeß
von selbständig entwickelter und institutionell zugewiesener Biographie terminologisch zu fassen. Vgl.
Lenz (1994) 14f.
93 Beck (1986) 217.

So für seine Biographie selbst verantwortlich gemacht, muß der einzelne Mensch
jede Folge der Entscheidungen seines Lebens individuell verarbeiten, also auch das
Scheitern. Dies ist die personale Seite der ‘Risikogesellschaft’. 94
Noch einmal zur Zusammenfassung: Individualisierung bedeutet für den einzelnen
einerseits einen Zuwachs an Wahlmöglichkeiten, andererseits auch Wahlzwang und
ein erhöhtes Risiko, sich falsch zu entscheiden, Chancen nicht zu erkennen oder
wahrzunehmen, an wichtigen Lebensstationen zu scheitern usw., wobei auch das
Scheitern individualisiert wird, d.h. die Verantwortung dafür dem bzw. der einzelnen
zugeschrieben wird.
Es ist, wie Lenz richtig feststellt, eine Stärke der Individualisierungsthese, daß weder
einseitig allseitiger Verfall bejammert, noch naiver Fortschrittsglauben forciert wird,
sondern der Ambivalenzcharakter dieser umgreifenden gesellschaftlichen Erschei-
nung mit ihren Auswirkungen für das Individuum herausgearbeitet wird. 95 Dies
macht die enorme Anschlußfähigkeit des Individualisierungstheorems aus, das daher
auch in der Jugendforschung weitgehend einhellig - wenngleich in Uneinigkeit in be-
zug auf seine Konsequenzen für das Individuum - rezipiert wird.
Allerdings liegt hier auch seine Schwäche. Beck blendet die subjektive Seite des In-
dividualisierungsprozesses systematisch aus. Den Aspekt des subjektiven Bewußt-
seins, der Personwerdung und der individuellen Emanzipation berücksichtigt er nur
insofern, als daß er die Bedingungen dafür untersucht, nicht aber deren konkrete Ver-
arbeitung durch die einzelnen Menschen. 96 Individualisierung bleibt bei Beck - ganz
in der traditionellen Blickrichtung der soziologischen Klassiker - eine soziologische
bzw. gesellschaftstheoretische Kategorie. Es bleibt dabei offen, wie die Individuen
unter individualisierten Bedingungen nun tatsächlich denken, fühlen und handeln, ob
es ihnen gelingt, eine kohärente Identität auszubilden bzw. als autonome Individuen
mit den gesellschaftlichen Zwängen umzugehen oder ob sie den Rückzug ins Private
vorziehen. 97 Für die Frage der Individuation in der Individualisierung konzentriert
Beck seine Analyse also vornehmlich auf deren Bedingungsrahmen.
94 Vgl. ebd. 218.
95 Vgl. Lenz (1994) 15.
96 Vgl. Beck (1986) 206f.
97 Vgl. zu dieser Kritik Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 16.

3 Religion und Moderne
Bei oberflächlicher Betrachtung ist man geneigt zu behaupten, daß die Bedeutung
von Religion und Religiosität, insbesondere des Christentums und der christlichen
Kirchen, im Zuge der Modernisierung stetig sinkt, es also einen direkt proportionalen
Zusammenhang zwischen Modernisierung einerseits und Säkularisierung andererseits
gibt. Diese Annahme bedarf einer zweifachen Differenzierung und damit der Korrek-
tur.
Die eine Differenzierung setzt bei dem bereits bei der Vorstellung des Individualisie-
rungstheorems dargestellten Konzept des Konflikts der zwei Modernen an. Für die
Frage nach dem Geltungsanspruch insbesondere kirchlich verfaßter Religiosität heißt
dies wahrzunehmen, daß unter den Bedingungen eingeschränkter Modernität in den
klassischen Industriegesellschaften durch die Versäulung der Sozialstruktur und die
damit verbundene Entstehung kirchlicher Milieus die Folgen der Modernisierung für
die Kirchen und die Angehörigen der konfessionellen Milieus abgefedert werden
konnten. Mehr dazu im zweiten Abschnitt dieses Kapitels (3.2).
Während die erste Differenzierung Modernisierung und Religiosität weiterhin gleich-
sam als Gegenpole ansieht, wird bei einem zweiten Schritt der Differenzierung deut-
lich, daß der Modernisierungsprozeß zwar zu einer epochalen Umstrukturierung des
religiösen Feldes vor allem auf Kosten kirchlich verfaßter Religiosität führt, die aber
nicht nur eine Auflösungserscheinung darstellt, sondern im Gegenteil zeigt, daß dem
Modernisierungsprozeß Elemente innewohnen, die geradezu religionsproduktiv sind.
Mit anderen Worten: Modernisierung macht Religion nicht überflüssig, sondern ins-
besondere ihre Probleme und Widersprüche scheinen geradezu nach Formen religiö-
ser Bewältigung zu verlangen. Hiermit beschäftigt sich der dritte Abschnitt dieses
Kapitels (3.3).
Zunächst bedarf es aber einer Bestimmung der Begriffe innerhalb des religiösen Fel-
des, nämlich Religion, Religiosität und Christianität (3.1).
3.1 Begriffliche Klärung
In einer sehr allgemeinen Form können wir unter Religion ein System kognitiver, af-
fektiver und operativer Deutungs-, Wertungs- und Handlungsversuche verstehen, in

denen Menschen aus einer erfahrenen, erhofften, geglaubten Beziehung zu einer letz-
ten Sinn-Mitte ihr Leben und ihre Welt gestalten. 98
Waldenfels differenziert beim Verständnis von Religion zwei Aspekte. 99 Im christ-
lich-abendländischen Verständnis erscheint Religion als Verhaltensbegriff bzw. Tu-
gendhaltung, nämlich wie bei Thomas von Aquin als die vom Menschen Gott ge-
schuldete Grundhaltung. Religion ordnet den Menschen hin auf den Gott seines
Heils; somit ist Religion definiert als Beziehung zu Gott und zwar nicht allein als
bloße neutrale oder negative Beziehung, sondern Religion ist die erlösende, erlö-
sungssuchende und -findende Beziehung zu Gott. Diese Definition ist eine theologi-
sche Begriffsbestimmung von Religion, aus der Gott und die damit zusammenhän-
gende Theozentrik nicht auszuklammern sind. 100 Als zweiten Aspekt des Religions-
verständnisses nennt Waldenfels das Verständnis von Religion als Organisations-
und Systembegriff. Unter Religion wird hier ein Lehrsystem verstanden, ein Sammel-
begriff für die Anhänger dieses Systems sowie der Ausdruck für die Summe religiö-
ser Handlungen.
Alle Religionsbegriffe lassen sich in der Frage des intentionalen Gegenstandes der
Religion mit Seckler auf drei Interpretationsmodelle zurückführen.
(A) gottbezogenes Verhalten
Hier erscheint Religion als (vernünftige) Gottesverehrung, als Umgang mit dem Hei-
ligen als Zugang zu Gott bzw. dem Göttlichen und zwar im theistischen, polytheisti-
schen oder phänomenologischen Sinn. 101 Problematisch an einem solchen Religions-
verständnis kann die Überbetonung der theologischen Seite gegenüber der anthropo-
logischen Vermittlung werden, mit der Konsequenz, daß die Menschen ihr Heil wo-
anders suchen. 102
(B) offenes Transzendenzverhalten
Wird Religion hier bestimmt über den Transzendenzbezug, so bleibt das Woraufhin
des Transzendenzverhaltens prinzipiell diffus, was sich in der Vermeidung des Wor-
tes Gott zeigt. Wegen seiner Offenheit hinsichtlich des Transzendenzbezuges ist es
das gegenwärtig wohl wirkmächtigste Modell des Umgangs mit und Verständnisses
von Religion. Religion wird hier nicht zwingend als Bejahung Gottes verstanden, ja,
sie kommt sogar zunehmend ohne Gott aus. Waldenfels charakterisiert dieses Modell
98 Vgl. Bitter 130 in Anlehnung an diverse religionswissenschaftliche, fundamentaltheologische, philosophische
und religionssoziologische Begriffsbestimmungen (Schlette, Schaeffler, Waldenfels, Kaufmann,
Gabriel).
99 Vgl. Waldenfels (1996) 78 sowie Waldenfels (1994) 23.
100 Vgl. Seckler 179-182. Zu den Schwierigkeiten dieses normativen, theozentrischen Religionsverständnisses
vgl. ebd. 186-188.
101 Vgl. ebd. 192.
102 Vgl. Waldenfels (1996) 85f.

als zwischen kritischer Skepsis und Hoffnung schwankend. 103 War das erste Modell
ein klar theistisches, so befindet sich dieses in einer Ambivalenzstellung zwischen
theistischen und anthropologischen Bestimmungen von Religion. 104
(C) menschenbezogenes Modell
Unter diese Charakterisierung lassen sich alle Begriffsbestimmungen subsumieren,
die Religion allein auf die Frage nach dem Menschen und seiner Selbstverwirkli-
chung reduzieren, so etwa humanistisch-atheistische und funktionale gesellschafts-
theoretische Religionstheorien ebenso wie Religionsformen im heutigen Geflecht re-
ligiöser Neuansätze (z.B. humanistische oder ökologische ‘Religion’, New Age). 105
Dieser Ansatz verweist auf Defizite des Christentums und seiner Verkündigung vor
allem im bezug auf die Identitätsproblematik des Menschen. Waldenfels kritisiert
diese Perspektive aber als einseitig insofern, als sich die umfassende Suche nach Sinn
und Heil, Ganzheit, Integrität und Identität sich leicht in die Verfolgung partieller
Ziele wie Gesundheit, Leistung, seelische Harmonie oder politischer Anliegen ver-
flüchtigt. 106
Alle Modelle betonen nach Seckler je einen wichtigen Aspekt im Religionsproblem:
Modell C betont, daß die Frage nach dem Ursprung und Wesen der Religion eine an-
thropologische Strukturfrage ist; Modell B betont den Aspekt des Transzendierens;
Modell A verweist darauf, daß die letzte Bestimmung des Menschen allein in der
göttlichen Tiefe und himmlischen Andersheit liegt. 107 Secklers anthropo-theologi-
scher Religionsbegriff will die Anliegen aller drei Interpretationsmodelle wahren und
in sich aufnehmen: Nach christlicher Auffassung schließen sich Theozentrik und An-
thropologie nicht aus, sondern „verbinden und erhellen sich im göttlich-menschliche
Geschehen der Religion.“ 108 Wenn man sagt, daß es in der Religion ganz und radikal
und in letzter Hinsicht um den Menschen geht, so ist mit dieser dreifachen Attributie-
rung des Menschenbezugs auch auf den Überstieg in die Theonomie verwiesen. 109
Dieser theologische Religionsbegriff ist für die im folgenden anstehende religionsso-
ziologische Analyse nur bedingt brauchbar, weil er auf dem Gottesbezug insistiert.
Was demgegenüber jedoch in der alltäglichen (aber auch in der religionssoziologi-
schen) Wahrnehmung als Religion bzw. deren funktionales Äquivalent erscheint, er-
füllt dieses Kriterium nur teilweise. Ich werde mich im folgenden an die eingangs
103 Vgl. ebd. 86.
104 Vgl. Seckler 192f.
105 Vgl. ebd. 193.
106 Vgl. Waldenfels (1996) 86.
107 Vgl. Seckler 193.
108 Ebd. 192.
109 Vgl. ebd.

dargestellte, allgemeinere Begriffsbestimmung von Religion als Beziehung zu einer
Sinn-Mitte halten, wobei allerdings bei differenzierter Beobachtung religiöse Phäno-
mene der Gegenwart sich durchaus jeweils auch den von Seckler unterschiedenen In-
terpretationsmodellen von Religion zuordnen lassen, insbesondere dann, wenn man
den Funktionsaspekt von Religion in den Vordergrund stellt.
Dieses Religionsverständnis ist auch mit der Begriffsbestimmung Karl Gabriels kom-
patibel, dessen Analysen Basis des folgenden Kapitels sein werden. Gabriel geht in
Anlehnung an Bourdieu und Matthes davon aus, daß es ein religiöses Feld gibt, in
dem unterschiedliche Akteure um eine gültige Definition von Religion und die Aus-
gestaltung religiöser Rollen ringen. Im religiösen Feld geht es um die symbolische
Manipulation des Verhaltens sowie um Orientierung angesichts menschlicher Erfah-
rungen in der Welt, aus denen ein Transzendenzbedürfnis herausscheint. 110
Entsprechend der allgemeinen Definition von Religion ist Religiosität die konkrete
Auswirkung von Religion in einer Kultur oder in der individuellen Biographie. Reli-
giosität ist somit zeit-, situations- und personengebunden; sie äußert sich in der je
konkret wahrgenommenen Differenz zwischen erfahrener Unheilssituation und der
Sehnsucht nach Heil. Diese Definition begreift Religiosität als universales anthropo-
logisches Phänomen, als allgemeines Bedürfnis nach Transzendenz. 111
In Anlehnung an die beiden Begriffsbestimmungen von Religion und Religiosität
kann Christianität als die „Religiosität der Christusgläubigen“ bezeichnet werden.
Die gesuchte Beziehung zu einer letzten Sinn-Mitte ist für die jüdisch-christliche
Glaubenstradition die Hoffnung auf die letzte Lebenserfüllung als Gottes Gnadenge-
schenk, die sich religiös in einem Handeln äußert, das sich aus einer Hoffnung
speist, die sich auf dem unbedingtem Willen Gottes zur Gemeinschaft mit den Men-
schen gründet und die sich in Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi verkör-
pert und sich durch seinen Geist in der Kirche und in der Welt auswirkt. 112
110 Vgl. Gabriel (1993) 28.
111 Vgl. Bitter 130.
112 Vgl. ebd.

3.2 Traditionsgefährdung, Traditionsbrüche - Traditionsabbruch?
Der obige Versuch einer Klärung der Begriffe konnte nicht darüber hinwegtäuschen,
daß letztlich kein Konsens darüber zu erreichen ist, was Religion sei. Offensichtlich
sind alle Definitionsversuche bestimmt von der Perspektive der Wahrnehmung, von
der etwa abhängt, ob man Religion substantiell oder funktional begreifen will und -
will man den Begriff substantiell füllen - welche inhaltlichen Bestimmungen hinzu-
gehören bzw. - will man ihn funktional bestimmen - welche Funktionen (Systemer-
halt, Identitätsstiftung...) man der Religion zuschreibt. Trotz der Aporien, in die letzt-
lich jede Bestimmung von Religion aus einer Perspektive heraus im Blickwinkel der
jeweils anderen Perspektive führen muß 113 , ist es möglich, mit unserer allgemeinen
Annäherung an den Begriff im Rücken eine Diagnose des religiösen Feldes für die
Bundesrepublik Deutschland zu wagen. Dabei wird sich zeigen, daß Religion und
Religiosität im Laufe des Modernisierungsprozesses immer weniger gleichzusetzen
sind mit der institutionellen Verfaßtheit innerhalb der christlichen Kirchen. Gleich-
wohl gilt es wahrzunehmen, daß der gegenwärtige Wandel sich vor dem Hintergrund
zweier christlicher, volkskirchlicher Systeme abspielt, in denen die kirchlich verfaßte
Religion nach wie vor - und sei es als Folie für Distanzierungen - eine zentrale Stel-
lung einnimmt. Daher wird auch die folgende Analyse insofern in gewisser Abhän-
gigkeit von der Christentumsgeschichte stehen, als sie beobachtet, wie sich das reli-
giöse Feld vom christlichen Monopol (bzw. genauer: einem kirchlichen Duopol) hin
zu einem immer diffuser und unbestimmter werdenden Konglomerat von Deutungs-
und Sinnangeboten ausdifferenziert.
3.2.1 Die bürgerliche Industriegesellschaft als Amalgam von Tradition und
Modernität
In Anlehnung an Becks Konzept der zwei Modernen geht auch Karl Gabriel davon
aus, daß wir es bei den klassischen Industriegesellschaften mit einem Gesellschaftsty-
pus eingeschränkter Modernität zu tun haben. 114 Das bedeutet für unseren Zusam-
menhang, daß sich die Gesellschaft zwar in viele Teilsysteme ausdifferenziert hat
und vor allem durch die Etablierung eines souveränen Staates die Religion und mit-
hin auch die Kirche als politische Kraft keine weitreichende Geltung mehr beanspru-
chen konnte. Andererseits hat aber quer zur Differenzierung eine Versäulung der So-
113 Vgl. dazu Kaufmann (1989) 15-19.48-69.
114 Vgl. Gabriel (1992) 76ff.

zialstruktur stattgefunden. Innerhalb der Säulen entstanden abgegrenzte, große Mi-
lieus, von denen aus die gesamte soziale Wirklichkeit im Rahmen eines einheitlichen
Deutungssystems gesehen werden konnte. Der und die Einzelne waren somit in ge-
wisser Hinsicht vor als negativ empfundenen Folgen der Modernisierung - z.B. Un-
durchschaubarkeit, Orientierungsverlust - geschützt. 115 Die katholische Kirche ist ein
Musterbeispiel für solche ‘Säulen’ geworden, indem sie konfessionell geprägte Son-
derinstanzen für alle relevanten Lebensbereiche geschaffen hat, so daß für das Indivi-
duum wenig Anlaß bestand, mit Menschen außerhalb des Milieus in Kontakt zu tre-
ten. Man konnte „von der Wiege bis zur Bahre“ 116 sein Leben ausschließlich im ka-
tholischen Milieu verbringen. Damit konnte die Wucht des Modernisierungsprozes-
ses mit seinen anomischen, entwurzelnden Wirkungen für den einzelnen abgefangen
werden, indem seine religiöse Prägung weiterhin fraglos durch seine Gemeinschaft
garantiert werden konnte. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, daß sich die katholi-
sche Kirche unter den Bedingungen der Modernisierung stabil behaupten konnte. 117
Auf diese Weise mündete der kirchliche Widerstand gegen die traditionsgefährdende
Aufklärung letztlich in einen Rückzug hinter klare (Milieu-)grenzen. Der Traditions-
bestand konnte - katholischerseits legitimiert durch die Neuscholastik 118 - also durch
Ausgrenzung der Modernisierungsfolgen gewahrt werden.
Mit der Versäulung ist auch eine Verkirchlichung des Christentums einhergegan-
gen 119 : Der Begriff Verkirchlichung meint eine zunehmende Konzentration der christ-
lichen Sinnelemente auf den Handlungszusammenhang der Kirche und ihrer Organi-
sation 120 , d.h., daß die christlichen Sinngehalte nicht mehr universell und überall ver-
mittelt, sondern an die Kirche als ihren spezifischen Ort gebunden waren. Dort aber
konnten sie dann über das konfessionelle Milieu wiederum universelle Geltung bean-
spruchen, womit das Leben für das einzelne Mitglied des Milieus weitergehen konnte
wie bisher. 121
115 Vgl. Gabriel (1988) 94f.
116 Klöcker (1991).
117 Vgl. Mette 26.
118 Vgl. Wiedenhofer 56-58 sowie Gabriel (1992) 88-87.
119 Vgl. dazu auch Kaufmann (1979a) sowie Kaufmann (1989) 27.73 u.ö.
120 Vgl. Mette 25.
121 Vgl. Gabriel (1988) 96.

3.2.2 Vervollständigung der Modernisierung - Wandel des religiösen Feldes
Die Zeit vom Beginn der Bundesrepublik bis 1968 nennt Gabriel eine Zeit der „Re-
naissance und Stabilität“ 122 . Zwar bedeuteten der zweite Weltkrieg und der National-
sozialismus einen tiefen Einschnitt in das Religionssystem, vor allem durch die Auf-
lösung konfessionell geschlossener Siedlungsgebiete, doch konnten sich die beiden
großen Kirchen als gesellschaftlich hochwirksame Kräfte reetablieren, nicht zuletzt,
weil sie als am wenigsten durch den Nationalsozialismus kompromittiert galten und
daher für fähig erachtet wurden, das entstandene Werte-Vakuum wieder zu füllen.
Religion ist in diesem Zusammenhang institutionell verfaßte, kirchlich-christliche
und explizite Religion. Religiosität und Kirchlichkeit fallen zusammen, was sich
etwa an den hohen Kirchenbesuchszahlen ablesen läßt. Die Einbindung der Men-
schen in die konfessionellen Milieus ist weitgehend stabil. Das hohe Ansehen der
Kirchen in dieser Zeit wurde auch politisch manifest in entsprechenden staaskirchen-
rechtlichen Regelungen wie dem staatlichen Einzug der Kirchensteuer, der grundge-
setzlichen Verankerung des Religionsunterrichts als schulisches Pflichtfach oder der
staatlichen Förderung der kirchlichen Sozialarbeit. 123
In der folgenden Phase der „Enttraditionalisierung und Transformation“ 124 löst sich
die Einheit von Volksreligiosität und kirchlich verfaßter Religiosität auf. Der Werte-
wandlungsschub in Richtung persönlicher und gesellschaftlicher Selbstentfaltung
schlägt sich darin nieder, daß die kirchlich-explizite Religiosität einen großen Teil ih-
rer Integrationskraft einbüßt. Immer mehr Menschen rücken ab von kirchlichen Ver-
haltenserwartungen und Glaubensvorgaben. Die konfessionellen Milieus verblassen
mit der Folge, daß die Kirchenbesuchszahlen drastisch zurückgehen, was ein Indika-
tor dafür sein mag, daß sich die individuelle Religiosität nicht mehr an der Einbin-
dung in einen institutionellen Rahmen messen läßt, sondern sich zu einer „‘Fleckerl-
teppichreligiosität’ mit individuellen Strickmustern“ 125 entwickelt. Religion wird also
unbestimmter 126 , unsichtbarer (Luckmann), hintergründiger. 127
Dieser Trend setzt sich auch in den 80er Jahren fort, wenn auch in verringertem Aus-
maß und in mäßigerer Geschwindigkeit. Zwar nehmen etwa die Kirchenaustrittszah-
len nicht mehr in dem Maße zu wie seit Ende der sechziger Jahre, doch auch diese
gemäßigte Geschwindigkeit ist auf lange Sicht problematisch, nicht zuletzt deshalb,
122 Gabriel (1992) 47.
123 Vgl. ebd. 47-52.
124 Ebd. 52.
125 Ebd. 60.
126 Vgl. Kaufmann (1989) 57f.59.83.
127 Vgl. zu diesem Abschnitt Gabriel (1992) 52-60.

weil gerade unter Jugendlichen die Austrittsbereitschaft besonders hoch ist. Weiter-
hin sinkt die Bereitschaft zur Annahme kirchlicher Glaubens- und Verhaltenserwar-
tungen. So hat etwa die große Mehrheit der Bevölkerung (88%) das Empfinden, Le-
benssinn nicht einfach übernehmen zu können, sondern dem Leben selbst einen Sinn
geben zu müssen. 128 Das religiöse Feld ist ein Bild widersprüchlicher Vielfalt: Auf
der einen Seite steht eine stetig schrumpfende Minderheit nahe an kirchlich verfaßter
Religiosität; auf der anderen Seite steht der wachsende Anteil derer, die Formen
kirchlich verfaßter Religiosität fallweise in Anspruch nehmen, gleichsam als „Be-
gleitmusik für die selbstkomponierten Religiositätsmuster“ 129 . Damit entsteht ein
Hintergrund, vor dem sich Phänomene frei flottierender Religiosität etablieren kön-
nen wie lebenspraktisch orientierte magische Religiositäts- bzw. Kultformen, esote-
risch-ganzheitlich religiöse Symbolisierungen (z.B. New-Age-Bewegung) etc.
Gleichzeitig läßt das Verblassen des allgemeinen, bis in die 60er Jahre zu einem gu-
ten Teil kirchlich mitgeprägten Wertekonsens den Ruf nach ‘Zivilreligion’ laut wer-
den, um einen sakralisierten Minimalkonsens im gesellschaftlichen und politischen
Leben reetablieren zu können.
Die hier dargestellte Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg - das deutete sich in
diesem kurzen Abriß bereits an - hat ihre Wurzeln in dem tiefgreifenden Modernisie-
rungsschub in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, durch den sich - abgesehen
von der retardierenden Phase vom Kriegsende bis in die 60er Jahre - der bis dahin
strukturprägende Typus eingeschränkter Modernität auflöst. In unübersehbarer An-
lehnung an Beck formuliert Karl Gabriel:
„Die neue Gesellschaftsformation thematisiert sich und ihre Modernität auf eine veränderte, nämlich
ambivalente und reflexive Weise: Mit dem Zerfall der traditionalen Hälfte der bürgerlich-modernen
Industriegesellschaft trifft der Modernisierungsprozeß immer seltener auf seinen klassischen
Widerpart, die Tradition, sondern immer stärker auf sich selbst. Bisher tragende Frontlinien
brechen damit zusammen und neue tun sich auf. In dieser Dimension beginnt sich die radikalisierte,
entfaltete Moderne als Postmoderne zu begreifen und zu thematisieren.“ 130
Die bereits bei Beck beschriebenen Auflösungsprozesse greift Gabriel als Folie für
die Analyse des Christentums im Umbruch zur Postmoderne auf: Erstens die Auflö-
sung des traditionalen Sektors der klassischen Industriegesellschaft, also die Erobe-
rung auch des handwerklich-bäuerlichen Sektors durch die industrialisierte Konsum-
dynamik, zweitens das Abschmelzen der Milieus und drittens die Enttraditionalisie-
128 Vgl. ebd. 62 nach 1982 veröffentlichten Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften
(ALLBUS).
129 Gabriel (1992) 63.
130 Ebd. 122; vgl. dazu auch ebd. 139-141.

ung von Familie, Arbeit und Lebenslauf. 131 Diese Prozesse faßt Gabriel anschließend
mit den Modernisierungsaspekten struktureller und funktionaler Differenzierung und
kultureller Pluralisierung unter dem Aspekt der Individualisierung zusammen. Er
folgt dem Beckschen Individualisierungsbegriff, indem er ihn als mehrdimensionale
Bestimmung der gesellschaftlichen Realität begreift, wobei er deutlich an die drei Di-
mensionen (Freisetzungsdimension, Entzauberungsdimension und Reintegrationsdi-
mension) anschließt. 132 Auch bei Gabriel deuten sich die Folgen für Individuation
und Identitätsbildung an: „An die Stelle des schlichten Modells der Übernahme eines
Musters von Identität und Lebenslauf tritt die Perspektive der lebenslangen Arbeit an
der eigenen Biographie und der Suche nach Sinn und Identität.“ 133
Bei der Deutung dieser Umbruchsprozesse für die christliche Religion ist es vor die-
sem Hintergrund sinnvoll, vom Konzept der Individualisierung her auch die Phäno-
mene des Traditionsbruchs im religiös-kirchlichen Bereich zu erschließen, der wie
der Individualisierungsprozeß insgesamt ein komplexes mehrdimensionales Gesche-
hen ist. Wurde eine Dimension der Individualisierung als Herauslösung aus histo-
risch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen begriffen, so gehört dazu natürlich
auch die Freisetzung aus überkommenen religiösen Bindungen. Die Auflösung etwa
der bäuerlichen und klein-handwerklichen Lebens- und Produktionsformen bedeutet
demnach nicht nur Freisetzung aus sozialen Bindungen, sondern auch aus den sie le-
gitimierenden religiösen Bindungen. Gleiches gilt für die Freisetzungsprozesse in Fa-
milien- und Arbeitsbezügen. 134
Mit diesen Freisetzungsprozesssen ist ein Plausibilitätsverlust der von ihnen getrage-
nen religiösen Deutungsmuster verbunden. Und auch hier gilt: Freisetzung ist nicht
nur Freiheitszuwachs, sondern auch ein möglicherweise schmerzlicher Verlust, näm-
lich die Entzauberung bisher geltender religiöser Welt- und Lebensdeutungen, wel-
che ihrer universalen, weitgehend unhinterfragten Geltung beraubt werden und von
der und dem einzelnen nur noch als eine Wahlmöglichkeit unter vielen wahrgenom-
men werden. Dies betrifft um so nachhaltiger gerade jene Gruppen, die am stärksten
in geschlossene konfessionelle Milieus eingebunden waren: Familienfrauen, im kon-
fessionellen Milieu sozialisierte Jugendliche, traditionell orientierte Arbeiterinnen
und Arbeiter sowie die Landbevölkerung. 135
131 Vgl. ebd. 123-130.
132 Vgl. ebd. 138.
133 Ebd. 141.
134 Vgl. ebd. 143.
135 Vgl. ebd. 143 auf der Grundlage von Allensbach-Untersuchungen der zweiten Hälfte der achtziger
Jahre.

Daß Prozesse der Individualisierung auch homogenisierende Wirkungen haben, zeigt
sich in der Verringerung konfessioneller Differenzen sowie der Verringerung der Un-
terschiede in den religiösen Bindungen zwischen sozialen Schichten. Dieser Prozeß
wird massenmedial affirmiert, so daß in der ‘öffentlichen Meinung’ die konfessionel-
len Identitäten und Unterschiede zugunsten einer diffusen Christlichkeit und synkre-
tistischen Religiosität immer weniger wahrgenommen werden. 136
Zur dem mehrdimensionalen Prozeß religiöser Individualisierung gehört auch das
Phänomen religiöser Subjektivierung. Der normative Anspruch von Individualität,
Selbstwert, Selbstverwirklichung und Identität betrifft in besonderem Maße die reli-
giöse Dimension: Die prinzipielle Entscheidungsoffenheit in Fragen von Normen,
Werten, Lebensgestaltung etc. schließt zwangsläufig religiöse Entscheidungen mit
ein und damit den Anspruch, die christliche Tradition der individuellen Verarbeitung
unterzuordnen. Dies muß zwangsläufig die institutionelle Vermittlung religiöser Tra-
ditionen in Frage stellen und damit auch die Institutionen selbst. Interessanterweise
fällt der Legitimationsverlust der kirchlichen Institutionen zusammen mit dem Ende
eines Prozesses, der zunächst gerade der Anlaß für die Institutionalisierung bzw. Ver-
kirchlichung des Christentums war. 137 Die christlichen Kirchen haben ihre Monopol-
stellung für das religiöse Feld verloren. Hier zeigt sich, daß der Prozeß religiöser In-
dividualisierung wechselseitig eng mit einem Prozeß religiöser Pluralisierung ver-
bunden ist. Der und die einzelne treffen auf eine historisch neue Vielfalt religiöser
Formen, die nur noch begrenzt vom verfaßten Christentum dominiert wird. Zum ers-
tem Mal in der modernen Religionsgeschichte erreicht der Pluralismus die Ebene des
Individuums. Religiöse Prägung ist immer weniger institutionenabhängig, sondern
hat zunehmend entscheidungsoffenere, selbst herzustellende biographische Anteile. 138
Religion als Bestandteil der ‘Bastel-Biographie’ ist demnach auch ‘Bastel-Religion’.
3.2.3 Religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart
Bisher wurden in diesem Kapitel hauptsächlich Auflösungsprozesse innerhalb des re-
ligiösen Feldes beschrieben. Das hängt damit zusammen, daß meine bisherige Blick-
richtung auf den Wandel des Christentums zielte. Daraus bleibt festzuhalten, daß ge-
sellschaftliche Differenzierung und Spezialisierung das Christentum und die christli-
chen Kirchen nach und nach zu einem Sektor neben anderen haben werden lassen,
136 Vgl. ebd. 144.
137 Vgl. 145f.
138 Vgl. ebd. 150.

womit das Christentum als Religion und noch deutlicher die Kirchen als Institutionen
mit dem Anspruch, die Werte und Normen einer Gesellschaft sowie des Individuums
zu liefern, nicht mehr akzeptiert werden. Vielmehr sind Fragen der religiösen und
weltanschaulichen Prägung, Werte, Lebensgestaltung, moralische Entscheidungen
usf. immer mehr zur Sache des und der einzelnen geworden, wobei unklar bleibt,
nach welchen Kriterien solche Prägungen und Entscheidungen sich eigentlich voll-
ziehen sollen. Der religiös-weltanschauliche Pluralismus, der ja auch innerkirchlich
zum Tragen kommt, wird zum Problem, wenn aus der Sicht des einzelnen Menschen
alles gleich-gültig erscheinen muß. Die individualisierte Identitäts-Patchworkerin ist
gezwungen, unablässig zwischen verschiedenen sozialen Subsystemen hin und her zu
pendeln. Diese Lage macht es ihr schwer, sich auf Dauer an Werte und Normen zu
binden, die universale Geltung beanspruchen. 139 Auch die Umkehrung gilt: Läßt sie
sich auf eine solch umfassende Bindung ein, scheint sie in Widersprüche mit anderen
Subsystembindungen zu geraten.
Soviel zu den differenzierungsbedingten Auflösungsprozessen innerhalb des religiö-
sen Feldes. Die andere Seite des Wandels des religiösen Feldes aber ist dessen enor-
me Ausweitung und Pluralisierung.
3.2.3.1 Ausweitung und Pluralisierung des religiösen Feldes
Schon ein Blick in den Anzeigenteil der Zeitungen und Zeitschriften, insbesondere
der Stadtmagazine, fördert eine beispiellose Vielfalt religiöser bzw. parareligiöser
Angebote zu Tage, die schwerlich auf einen Nenner zu bringen sind. Hier tummeln
sich therapeutische Angebote jenseits der klassischen Psychotherapie, die teils deut-
lich, teils verborgen an religiöse Traditionen anknüpfen, neben meist explizit religiös
genannten Angeboten, die sich aus vorwiegend ostasiatischen Traditionen speisen,
aber mit den fernöstlichen Religionen keinesfalls identisch sind, sondern - vermischt
mit marktwirtschaftlicher Kommerzialisierung - jeweils eine bunte Mischung ver-
schiedenster Elemente und Methoden anbieten, die sich vor allem auf die spirituelle
Entwicklung des einzelnen richten. Hinzu kommen die vielfältigen Gruppen, die auf
‘Alte Weistümer’ zurückgreifen wie indianische Kulturen, Schamanismus, das alte
Ägypten, germanische und keltische Elemente usf. Auch hier gilt, daß diese Gruppen
bzw. ihre Angebote nicht den jeweiligen historischen Traditionen entsprechen, son-
dern daß die traditionellen Elemente so zusammengestellt werden, wie sie gerade
139 Vgl. dazu auch Hoheisel 17.

dem Ziel der Selbstentfaltung, der Bewußtseinserweiterung oder der Absetzung ge-
gen die Anmaßungen des Christentums oder der industriellen Zweckrationalität ent-
sprechen. Dieser kurze Überblick nimmt nicht für sich in Anspruch, repräsentativ
oder gar vollständig zu sein; eine genauere Analyse des religiösen Marktes ist hier
gar nicht angestrebt. 140 Vielmehr zeigt dieser oberflächliche Blick, daß es in unserer
Gesellschaft ein Bedürfnis nach religiösen Formen, nach Mythos und Magie zu ge-
ben scheint. Religion ist im Zuge der Aufklärung und Moderne nicht zurückgegan-
gen, aber ihre Ausdrucksformen haben sich gewandelt. Das christliche Monopol auf
Religion ist zerbrochen, doch vielfältige neue religiöse Phänomene sind hinzugekom-
men. Modernisierung vollzieht sich also nicht auf Kosten des Religiösen, sondern
vielmehr scheint sie selbst religionsproduktiv zu sein.
In einer Zeit, in der die Schattenseiten und Risiken der Modernisierung und damit
auch des Fortschritts immer offensichtlicher und auch (entgegen dem aufklärerisch-
modernen Anspruch) immer weniger kontrollierbar werden, muß die neuzeitliche
Wissenschaftsgläubigkeit elementaren Zweifeln an der Zukunftsfähigkeit hochmo-
dernisierter Gesellschaften weichen. Dies ist ein idealer Boden für den Rückgriff auf
archaische, naturverbundene Kulturen. In den Mythen der Vergangenheit hofft man
das zurückzugewinnen, was der Moderne abgeht, nämlich eine Leben, Denken und
Handeln in all seinen Dimensionen integrierende ‘kosmische Gesamtorientierung’. 141
Zum Doppelgesicht der Moderne gehört einerseits die massenhafte Abkehr von Reli-
gion, also die Säkularisierung der Kultur, andererseits aber wird diese Säkularisie-
rung periodisch von der Wiederkehr des Religiösen eingeholt. So hat bereits die Ro-
mantik gegen die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung protestiert und wollte
sich rückbesinnen auf religiöse Traditionen und Bindungen. Neu ist aber, daß der ge-
genwärtige Trend der Wiederkehr des Religiösen weitgehend am Christentum vor-
beiführt. Selbst die Negativbindung an das Christentum ist verlorengegangen: Die
neue religiöse Vielfalt ist kaum als erklärte Absetzbewegung vom Christentum zu be-
schreiben; es handelt sich vielmehr um eine Mischkultur, die sich aus vorwiegend au-
ßer- und vorchristlichen Traditionen speist. Johann Baptist Metz hat diesen Trend
„religionsförmige Gotteskrise“ 142 genannt, worunter er die zeitweise Öffnung gegen-
über religiösen Fragen ohne dauerhafte Bindung an Gott oder gar eine bestimmte
Dogmatik oder Ethik versteht. 143 Die neuen Phänomene im religiösen Feld sind also
nach der Secklerschen Kategorisierung hauptsächlich unter die Modelle B und C zu
140 Einen guten Überblick gibt hier Hoheisel 21-31.
141 Vgl. Höhn (1994) 13.
142 Metz 77.
143 Vgl. zu diesem Abschnitt Höhn (1994) 14-16.

fassen: offenes Transzendenzverhalten oder - dies gilt im stärkeren Maße für die the-
rapeutisch orientierten Gruppen - menschenbezogenes Verhalten (vgl. Kap. 2.1 dieser
Arbeit).
3.2.3.2 Gründe für die neue Sensibilität für das Religiöse
Was sind nun die Gründe für diese Entwicklung, für die neue Sensibilität für das Re-
ligiöse oder anders gewendet: was sind die religionsproduktiven Tendenzen der Mo-
derne? Am ausführlichsten hat sich Hans-Joachim Höhn (1994) aus theologischer
Perspektive dieser Problematik gewidmet. Die Ausführungen in diesem Kapitel stüt-
zen sich in weiten Teilen auf seine Arbeit. Das neu erwachte Interesse an Religion
führt er - ähnlich wie auch Karl Gabriel 144 - auf soziale Tendenzen der Risikogesell-
schaft zurück.
Die Moderne lebt wesentlich von den Impulsen der Aufklärung, als deren wesentli-
ches Merkmal die Herauslösung des Menschen (zumindest des Mannes) aus einem
blinden Natur- und Geschichtszusammenhang zu nennen ist: Mittels Vernunft strebt
der aufgeklärte Mensch danach, sein Wissen über die Naturgesetze zu erweitern und
dieses Wissen dann zur Weltgestaltung auszunutzen. Dies verweist auf das aufkläre-
rische Subjektmodell: Das Subjekt als Träger des Fortschritts erstrebt das Bessere des
Wirklichen, die nach dem Willen des autonomen Subjekts gemachte Natur. Tatsäch-
lich hat die Aufklärung durch die Überwindung naturwüchsiger Zwänge und meta-
physisch begründeter Machtstrukturen eine gesellschaftliche und politische Befreiung
des Subjekts erreicht. Doch auch hier müssen wieder die Ambivalenzen des Fort-
schritts wahrgenommen werden: Mit der Loslösung aus feudalen Fesseln ist auch ein
Verlust kultureller und religiöser Bande, also auch von Halt und Sinn, verbunden.
„Das Vernunftsubjekt ist nun ermächtigt, aber auch verurteilt, den Sinn seines Lebens, die Maßstäbe
seines Handelns und das Telos der Kultur mit den Mitteln der Vernunft zu bestimmen. Ungewißheit
und Offenheit werden zu einem Dauerzustand gesellschaftlicher Institutionen. Die soziale
Existenz wird zum Experiment, dessen Risiken insofern kalkulierbar bleiben sollen, als die Versuchsanordnungen
von der Vernunft überwacht werden.“ 145
Doch genau auf der Grenze der Risikokalkulation zeigt sich die Krisenanfälligkeit
heutiger Kultur. Die neue Qualität von Gefährdungen in der Welt-Risikogesellschaft
wurde bereits ausführlich dargestellt: Die Risiken unserer Zeit sind nicht „nur“ dro-
hende Naturkatastrophen oder die zur Zeit der Industrialisierung noch neuen Tech-
nikkatastrophen, die in gewissem Maße begrenz- oder beherrschbar sind, sondern bei
144 Vgl. Gabriel (1992) 157-162.
145 Höhn (1994) 20f.

ihnen handelt es sich um einerseits durch den Menschen selbst verursachte Risiken,
die andererseits von ihm kaum noch kalkulier- oder vermeidbar sind. Der Versuch
der Naturbeherrschung durch Technik führt also zur Schaffung neuer Gefährdungen
durch die technischen Errungenschaften selbst. Die Anerkennung der Unkalkulier-
barkeit der Risiken zwingt die Gesellschaft zur Selbstreflexion auf die Grundlage des
gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Katastrophe läßt sich nur verhindern - so
nun die These Höhns - wenn die Moderne in einem solchen reflexiven Prozeß er-
kennt, daß sie auf andere Kräfte als die eigenen angewiesen ist. 146
Welche Rolle spielt nun Religion in der Risikogesellschaft? Zwar hat die Religion
viele der ihr zugeschriebenen bzw. von ihr beanspruchten Funktionen im Differenzie-
rungsprozeß an andere Instanzen abgeben müssen, etwa die der universalen Welter-
klärung oder Normierung, 147 aber eine Funktion bleibt und erscheint in neuer Quali-
tät, nämlich die Funktion der Kontingenzbewältigung, welche in der Risikogesell-
schaft immer notwendiger zu werden scheint. Unter Kontingenz wird gemeinhin die
Modalität eines Sachverhaltes verstanden, der weder unmöglich noch notwendig ist;
der so, wie er war, ist oder sein wird, sein kann, aber auch anders möglich ist. Kon-
tingent ist also etwas, das nicht aus sich selbst heraus existiert und stets mit dem
Nicht-Sein rechnen muß. Damit ist es zufällig und nicht kalkulierbar, d.h. letztlich ist
Risikobewußtsein nichts anderes als Kontingenzbewußtsein. 148
Der mittelalterliche Mensch hatte vor allem Angst vor Ereignissen in der natürlichen
Natur; der moderne Risikomensch muß mit der Angst vor der vergesellschafteten Na-
tur leben. Beiden gleich ist die Unabschließbarkeit und Ungesichertheit menschlicher
Weltgestaltung. Es bleibt auch am Ende der Moderne Unverfügbares übrig, nur sind
die Kontingenzerfahrungen aus dem Bereich der vom Menschen in vormoderner Zeit
unabhängigen Natur in den Bereich der vom Menschen abhängigen Natur transferiert
worden, einer Natur allerdings, von der der Mensch trotz aller Instrumentalisierungs-
versuche weiterhin selbst abhängig ist. 149
Die Risikogesellschaft ist insofern religionsproduktiv, als sie die Gesellschaft wie
auch den einzelnen Menschen vor neue letzte Fragen stellt:
146 Vgl. ebd. 43.
147 Vgl. zu den Funktionen v.a. die Ausführungen Kaufmanns zu den Funktionen die Religion zugeschrieben
werden bzw. die von ihr postuliert werden: Affektbindung und Angstbewältigung, Identitätsstiftung,
Kontingenzbewältigung, Gemeinschaftsbildung bzw. soziale Kohäsion, Welterklärung, Weltdistanzierung
und Protest gegen einen als ungerecht oder unmoralisch erfahrenen Gesellschaftszustand.
Heute gibt es keine Instanz mehr, die alle diese Funktionen gleichzeitig erfüllen könnte. Vgl.
Kaufmann (1988) 84-87.
148 Vgl. Höhn (1994) 28f.
149 Vgl. ebd. 33.

„Was macht man, wenn nichts mehr zu machen ist, d.h. wenn keine Art von ‘Machen’ noch weiterführt?
Was geschieht, wenn man nicht mehr weiter weiß, d.h. wenn keine Art von ‘Wissen’ mehr
weiterhilft? Wie begegnet man sinnvoll Ereignissen, denen kein Sinn abzugewinnen ist? Wie kann
man mit dem leben, das einem das Leben zu nehmen droht?“ 150
Die andere Seite der Risikogesellschaft ist - so hatten wir festgestellt - die Individua-
lisierung. Auch hier steht der Mensch vor verheißungsvollen Chancen, die sich bei
näherem Hinsehen als ambivalent erweisen. Für das Individuum scheint prinzipiell
alles offen, jeder Mensch kann selbst über seinen Lebensweg entscheiden, die Tradi-
tion ist ihm hier kein Hindernis - aber auch keine Hilfe. Wenn er scheitert, können
dafür keine äußeren Begrenzungen verantwortlich gemacht werden, auch wenn sol-
che tatsächlich bestehen. Es kann zu einer permanenten Überforderung werden, alle
wichtigen Entscheidungen selbst treffen zu müssen, ohne fraglose, universell gültige
Kriterien hierfür zu besitzen. Der einzelne Mensch muß die Erfahrung bewältigen,
daß die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten nicht nur Entscheidungsdilemmata
mit sich bringen, sondern ihre Umsetzung doch wieder auf Grenzen trifft, seien es
strukturelle, z.B. arbeitsmarktbedingte Hindernisse, seien es Grenzen, die der persön-
liche soziale Kontext setzt, etwa die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben oder
seien es schließlich persönliche Kompetenzgrenzen. Die so erfahrene „Kluft zwi-
schen dem neu eröffneten Horizont von Möglichkeiten und den eigenen persönlichen
Handlungspotentialen“ 151 ist insofern religionsproduktiv, als auch dies letztlich eine
Kontingenzerfahrung ist. Sie stellt den einzelnen vor eine Situation, die mit alltägli-
chen Mitteln nicht mehr zu bewältigen ist und den Rückgriff auf außeralltägliche
Mittel nötig zu machen scheint.
Das alte Sprichwort „Not lehrt beten“ drängt sich hier geradezu auf. Man könnte
also ein wenig voreilig behaupten, daß die Moderne so, wie sie mit Religionskritik
einhergeht, umgekehrt nach der Wahrnehmung, daß sie in die Risikogesellschaft ge-
führt hat, zwangsläufig grundsätzlich in Frage zu stellen ist. Damit wäre die Religi-
onskritik als Kritik der Moderne an der Religion durch Kritik der Religion an der
Moderne widerlegt. Liegen dann fundamentalistische Bestrebungen des Rückzugs in
die vormoderne Tradition und der völligen Ablehnung und Ausgrenzung alles Mo-
dernen nicht auf der Hand? Für solche Reaktionen scheinen jedenfalls gerade diejeni-
gen besonders ansprechbar zu sein, die sich zu den Benachteiligten im Modernisie-
rungsprozeß zählen und im religiösen Traditionalismus und Konservatismus Schutz
und Sicherheit suchen. 152 Auch die religiösen Phänomene, die um das Individuum
150 Ebd. 34.
151 Gabriel (1992) 159.
152 Vgl. ebd. 155.

kreisen, v.a. parareligiöse therapeutische Angebote und das Feld der Esoterik-Bewe-
gungen lassen sich als Reaktion auf die neuen Unverfügbarkeiten der individualisier-
ten Risikogesellschaft begreifen. Sie versprechen Halt im Erlebnisstrom, aber meist
ohne eine religiöse Letztentscheidung, die ja als Freiheitsverlust verstanden werden
könnte, zu fordern. Auch die Formen von „Zivilreligion“, die angesichts des Funkti-
onsverlustes des Christentums hinsichtlich einer universalen Normierung der Gesell-
schaft einen neuen sakralisierten Wertekonsens schaffen wollen, sind ein Versuch,
die unvermeidlichen Zumutungen, die angesichts der Individualisierung und des
Scheiterns politischen Krisenmanagements auf den Einzelnen zukommen, zu bewäl-
tigen. 153 Karl Gabriel schreibt der gestiegenen Thematisierung des Selbst in der indi-
vidualisierten Gesellschaft religiöse Qualitäten zu. Religion erscheint brauchbar als
Möglichkeit der Angst- und Lebensbewältigung. Wer dabei helfen kann - Therapeut
oder Seelsorger - erscheint als „der geeignete Fährmann zu den Tiefen verschütteter,
aber freilegbarer, authentischer religiöser Erfahrung.“ 154
Alle diese Formen sind Versuche, Kontingenz zu bewältigen, doch erweisen sie sich
bei genauerem Hinsehen als aporetisch. Ihnen gemeinsam ist eine gewisse Fluchtten-
denz. Durch Konzentration auf eines - sei es die Partnerbeziehung, sei es die ‘reine
Lehre’ oder sei es die Rebirthing-Gruppe - wird versucht, die strukturellen Zumutun-
gen aus dem Gesichtsfeld des einzelnen herauszudrängen, doch bewältigt sind sie da-
mit nicht. Diese Versuche der Kontingenzbewältigung kritisiert Höhn wie vor ihm
Franz Xaver Kaufmann als Kontingenzverwaltung. 155 Religion fungiert hier allein als
Reparaturbetrieb zum Ausgleich psychischer und sozialer Schäden, bleibt aber im
Ganzen wirkungslos und damit systemstabilisierend. 156 Sie ist regressiv, indem sie
fundamentalistisch der Affirmierung unreflektierter Traditionsbestände dient, indem
im Fall der para-psychotherapeutischen Religionsformen nur auf die Modellierung
des eigenen Selbst zielt oder indem sie als Zivilreligion „von Krisen der Unregierbar-
keit und Sozialisationsverweigerung bedrohte Gesellschaften stabilisieren soll.“ 157 So
verstanden ist Religion nicht zu den notwendigen Korrekturen der industriellen Zivi-
lisation in der Lage.
„Aber nur mit entsprechenden Korrekturen ist diese Kultur zukunftsfähig, wie ebenso nur eine solche
Religiosität Zukunft hat, die Anregungen zu diesen Korrekturen geben kann.“ 158
153 Vgl. Höhn (1994) 36.
154 Gabriel (1992) 158.
155 Vgl. Höhn (1994) 36 sowie Kaufmann (1979b) 96. Vgl. auch Peukert (1982) 85.
156 Vgl. Höhn (1994) 36, hier als Kritik an der Zivilreligion.
157 Peukert (1982) 98.
158 Höhn (1994) 37.

Genau hier setzt Höhn nun an: Es ist notwendig, ein vernunftgemäßes - nicht zweck-
rationales! - Verhältnis zu den Unverfügbarkeiten menschlichen Lebens zu bekom-
men, d.h. die Menschen müssen die Unverfügbarkeit anerkennen und sich vom Aus-
dehnungsstreben menschlicher Verfügungsmacht unabhängig machen. 159 Das bedeu-
tet: Es ist nicht möglich, sich den Modernisierungsrisiken dadurch zu entziehen, daß
man das ‘Andere’ der Vernunft wieder über das Risiko herrschen läßt. Zur Bewälti-
gung der Kontingenzen am Ende der Moderne ist nur eine solche Religion fähig, die
in der Lage ist, das Anspruchsniveau der Moderne zu erfüllen. 160
Religionsproduktiv sind aber die durch die Zivilisationsrisiken neu erfahrenen Kon-
tingenzen nicht nur im Hinblick auf quietistische oder kompensatorische Religions-
formen, sondern - so Karl Gabriel 161 - auch in dem Sinne, daß auch innerhalb des aus-
differenzierten Feldes christlicher Religion Strömungen entstehen, die auf die Folge-
probleme und Aporien fortgeschrittener Modernisierung reagieren. Der Rückgriff auf
die prophetische Tradition des Christentums knüpft an eine weitere der von Kauf-
mann unterschiedenen Funktionen von Religion an, nämlich die Distanzierung von
gegebenen Sozialverhältnissen, die sich als Protest gegen einen als unmoralisch oder
ungerecht erfahrenen Gesellschaftszustand formiert. 162 Dieser Protest richtet sich auf
die neuen Gefährdungen der Welt-Risikogesellschaft als Ideologiekritik des Fort-
schrittsglaubens, der die Lebensgrundlagen der Menschen zu zerstören droht. Er ist
ebenso ideologiekritischer Widerstand gegen die Ambivalenzen der Selbstentfal-
tungsversprechen und -imperative. Gabriel wie Höhn sehen die jüdisch-christliche
Religion in der Lage, auf diese Probleme mit dem prophetischen Appell zu antwor-
ten, den bisherigen Entwicklungsverlauf als aporetisch zu erkennen und neue Formen
des Zusammenlebens zu finden, die dem Überleben der Menschheit eine Chance ge-
ben und in Formen intersubjektiver Anerkennung die soziokulturellen Voraussetzun-
gen zu schaffen für die Verwirklichung von Selbstbestimmung, Autonomie und Sub-
jektivität.
3.2.3.3 Analogie und Differenz soziologischer und theologischer Rede von Religion
In einer kritischen Auseinandersetzung mit der neu entdeckten Funktion der Religion
als Kontingenzbewältigung in der Systemtheorie Niklas Luhmanns arbeitet Hans-
159 Vgl. ebd. 32.
160 Vgl. ebd. 27.
161 Vgl. Gabriel (1992) 160-162.
162 Kaufmann (1989) 85.

Joachim Höhn sowohl Gemeinsamkeiten als auch Differenzen soziologischer und
theologischer Zeitdiagnose und Rede von Religion heraus. 163 Es ist richtig, daß Reli-
gion in Verbindung mit der Erfahrung von Komplexität und Kontingenz gebracht
wird. Ihre Funktion erweist sich eben vor allem im Bewußtsein der Ungesichertheit
menschlicher Existenz, womit es auch kaum strittig sein dürfte, daß eine wesentliche
Aufgabe religiös inspirierten Handelns in der Sorge um Menschen in Krisensituatio-
nen besteht. Das Modell der auf Kontingenzbewältigung zugespitzten Funktionsbe-
stimmung von Religion kommt auch dem Bemühen der Theologie entgegen, die
Auslebung der christlichen Botschaft nicht nur einseitig auf die individuelle Daseins-
problematik zu reduzieren, sondern verstärkt ihre gesellschaftliche Dimension zum
Thema zu machen.
Allerdings widerspricht es dem christlichen Selbstverständnis, allein für die Weiter-
verarbeitung der Restbestände ungelöster Komplexitätsreduktion zuständig zu sein.
Das hieße ja, daß der Zeitpunkt, wann Religion gesellschaftlich relevant wird, nicht
nach ihren eigenen, sondern nach gesellschaftlich vordefinierten Kriterien bestimmt
wird, womit sie nichts anderes wird, als das, was oben bereits an den quietistischen
und kompensatorischen Religionsformen kritisiert wurde, nämlich systemstabilisie-
rend und -legitimierend. Sie bleibt damit Agent bloßer Kontingenzverwaltung und
von der konstruktiven Kritik des Systems ausgeschlossen. Es gibt grundsätzlich zwei
Möglichkeiten, mit Komplexität und Kontingenz umzugehen: Die eine ist, durch
Konzentration auf bestimmte Merkmale der Umwelt wenigstens einen Teil zu be-
herrschen; die zweite Möglichkeit besteht darin, eine indifferente Haltung einzuneh-
men, also die Kontingenz nicht mehr bewältigen, sondern nur noch ertragen zu wol-
len. Der christliche Glaube ist aber eine Alternative zu beidem, indem er offen ist für
die Komplexität, ohne gleich die Weltformel angeben zu wollen, aber auch nicht vor
der Komplexität kapituliert. Der glaubende Mensch weiß um die Kontingenz alles
Positiven wie alles Negativen. Die christlichen Kontingenzformeln vertrösten nicht
auf das Jenseits, sondern jede diesseitige Erfahrung von Sinn und Glück darf bereits
als Realsymbol endgültiger Vollendung menschlicher Existenz verstanden werden.
Damit ist der glaubende Mensch fähig zur Freude am Positiven, ohne sein Herz daran
zu hängen, und er ist fähig zum Widerstand gegen das Negative, das gegen die Sinn-
und Heilszusage Gottes keine Macht besitzt. Dem Menschen wird nichts Großartiges
vorenthalten und nichts an Vergeblichkeit erspart. Der christliche Realismus hat die
Möglichkeit des Scheiterns stets im Blick, ohne zu resignieren, womit Christinnen

und Christen zu entschiedenem und doch gelassenem Engagement für eine humane
Gesellschaft befähigt und aufgerufen sind.
Mit Höhn ist auch der Luhmannschen Funktionszuschreibung von Religion als zu-
sätzliches Verfahren der Komplexitätsreduktion zu widersprechen. Der Glaube liegt
dem Gesamtkomplex voraus. Außerhalb des Glaubens droht das Kontingenzgesetz
jeden Versuch der Sinnkonstitution zu unterlaufen 164 , im Glauben gilt: Grundlage je-
der Gemeinschaftsbildung ist der voraussetzungslose Wille Gottes zur Gemeinschaft
mit den Menschen. Dies ist der Maßstab jeglicher Verhaltensorientierung und nicht
der Selbstbehauptungswille von Systemen und Subjekten. Eine solche Orientierung
zielt auf eine Lebenswelt, in der die unbedingte gegenseitige Anerkennung aller Be-
teiligten die Bedingung des eigenen freien Selbst-Seins ist.
3.3 Fazit: Traditionsbrüche - aber kein Traditionsabbruch
Rekapitulieren wir noch einmal die oben dargestellte Entwicklung, so zeigt sich, daß
die Auflösung der Versäulung und damit der konfessionellen Milieus zumindest mit
Traditionsbrüchen einhergeht. Doch führt diese Entwicklung unweigerlich in einen
Traditionsabbruch? Gabriel verneint diese Frage entschieden. Für ihn ist Religion
nicht an ihr Ende gelangt, sondern sie ist in einem Wandel begriffen, der seine struk-
turellen Gründe im Abschmelzen der Milieus und in der Auflösung traditionaler Le-
bensformen hat. Traditionsbrüche sind also eine - zumindest soziologisch - erklärba-
re, nicht zu vermeidende Tatsache.
Daß Traditionsbrüche aber nicht notwendig auch einen Traditionsabbruch bedeuten,
sondern gerade zu den Grundvoraussetzungen der Kontinuität und Identität religiöser
und christlicher Glaubensüberlieferung gehören, ist aber auch theologisch zu behaup-
ten. Siegfried Wiedenhofer schließt in diesem Zusammenhang an das Konzept der
‘Dialektik der Hierophanie’ an. Die Identität religiöser Überlieferungen besteht gera-
de nicht in dem starren Festhalten an unveränderlicher Tradition. Jedem religiösen
Glauben liegt die dialektische Erfahrung zugrunde, daß das Göttliche einerseits in-
mitten und vermittels der Welt und Geschichte begegnet und daß es andererseits
nicht die Welt ist. Daraus folgt notwendig eine diskontinuierliche Identität von reli-
giösen Überlieferungen. Alles, was wir über das Göttliche zum Ausdruck bringen
können, hat demnach ebenso notwendig Zeichencharakter, so wie der Glaube ein
Auslegungs- und Bezeugungsvorgang ist, der das Zeichenhafte nie prinzipiell über-
164 Dies gilt schon allein deshalb, weil in der Systemtheorie Sinn nichts anderes ist als eine beliebige
Regel der Erkenntnisverarbeitung und Erfassung und Vereinfachung von Komplexität.

schreiten kann. Das bedeutet aber, daß diese Zeichen ständiger Erneuerung bedürfen,
nicht zuletzt um verstanden zu werden. Dieses Bewußtmachen der Differenz zwi-
schen dem Göttlichen und den Erscheinungen der irdischen Welt muß damit nicht
nur in ein kritisches Bewußtsein gegenüber allem Weltlichen und in die Revolte ge-
gen jede Verabsolutierung und Vergöttlichung weltlicher Erscheinungen münden,
sondern auch in die selbstkritische Einsicht, daß auch das religiöse Bewußtsein und
die religiösen Institutionen Teil der irdischen, endlichen Welt bleiben. 165
Diese Einsicht soll zeigen, daß das Festhalten an Traditionen kein Selbstzweck ist,
sondern diese nur dann ihren Sinn haben, wenn sie in der Welt und damit in den kon-
kreten Lebensbezügen der Menschen als plausibel begriffen und empfunden werden
können.
165 Vgl. zu diesen Ausführungen Wiedenhofer 59f.

4 Jugend
Das Individualisierungstheorem, das dieser Arbeit zugrunde liegt, hat auch in die Ju-
gendsoziologie Eingang gefunden und ist im Zusammenhang mit der These vom
Strukturwandel der Jugendphase zu sehen. Ausgehend von dieser These (4.1) werde
ich im folgenden einige soziokulturelle Trends der Jugendphase (4.2) vorstellen,
gleichsam als Folie für die Darstellung jugendkultureller Lebensmilieus (4.3) und ju-
gendlicher Religiositätsstile (4.4).
4.1 Strukturwandel der Jugendphase
Der sogenannte Strukturwandel der Jugendphase ist zugleich Reflex und Motor des
oben (v.a. Kap. 1) beschriebenen sozialen Wandels. Ohne auf alle Positionen inner-
halb der jugend- und gesamtsoziologischen Diskussion 166 eingehen zu können, sollen
im folgenden einige Merkmale dieses Strukturwandels skizziert werden.
Im Grunde ist auch der Strukturwandel der Jugendphase ein Prozeß reflexiver Mo-
dernisierung. Der erste Modernisierungsschub, der in die klassische Industriegesell-
schaft führt, ist die Grundlage für die Entstehung von Jugend als eigenständiger Le-
bensabschnitt. Mit der Entstehung des industriegesellschaftlichen Wirtschaftssystems
ist ein Qualifizierungsbedarf entstanden, der die Entstehung einer von der Erwerbsar-
beit weitgehend freigestellten Lebenslaufphase begründet, die ganz im Zeichen der
Ausbildung steht. Und erst der industriegesellschaftlich erzeugte Reichtum ermög-
licht diese Freistellung vom Broterwerb. 167 Damit ist für die Jugendlichen ein Frei-
raum zum experimentellen Erproben von Handlungsmöglichkeiten entstanden. In-
zwischen hat die Ausdifferenzierung einer eigenständigen Jugendphase alle sozialen
Schichten erfaßt. Immer längere Ausbildungswege befördern eine immer längere
Freisetzung von der Erwerbsarbeit. Dies begünstigt die Gleichaltrigenorientierung
der Jugendlichen und infolgedessen auch die Ausprägung eigener jugendkultureller
Muster, die auch auf die nachfolgenden Generationen ihre Wirkung haben. Jugend-
lichkeit wird zu einem gesamtgesellschaftlichen Ideal; Jugend ist nicht mehr nur eine
Lebensphase, sondern ein Habitus, eine Einstellung auch Erwachsener zum Leben.
Es ist insofern bedeutsam, daß der Soziologe Gerhard Schulze das Alter neben dem
Bildungsgrad als Hauptkriterium der von ihm ausgemachten neuen Milieusegmentie-
rung unter den Bedingungen der Individualisierung ansetzt und daß die Altersgrenze
166 Vgl. dazu zusammenfassend Hornstein (1988) 71-79.
167 Vgl. Gabriel (1994) 54.

nicht etwa beim Eintritt in das Erwerbsleben liegt, sondern bei einem Lebensalter
von 40 Jahren. 168 Eine Haltung der Spontaneität, des Wählens, Ausprobierens, Ver-
änderns - zunächst Merkmale allein des Jugendalters - sind nicht mehr Durchgangs-
stadium, sondern Entwicklungsziel. Damit sind jugendtypische soziale Stile auch
weit jenseits einer Altersgrenze von 25 Jahren immer noch normal. 169 Dies steht na-
türlich im Zusammenhang mit der bereits beschriebenen Entstrukturierung des Er-
wachsenenalters unter den Bedingungen der Individualisierung 170 : „Verheiratet sein,
Kinder haben, Eigentum bilden: All dies zählt nicht mehr mit gleicher Selbstver-
ständlichkeit zum Erwachsenenleben wie früher.“ 171
Wir stellen also fest, daß der Jugendbegriff einerseits erweitert wird, insofern als Ju-
gend nicht nur als vorübergehende Lebensphase angesehen wird, sondern als allge-
meiner Habitus, andererseits aber der Begriff gleichzeitig fragwürdig wird. Mit dem
Verschwimmen der Zielperspektive Erwachsensein verschwimmt auch das Aufga-
benprofil der Jugendphase. Wenn das, was die Jugendphase ausmacht, auch das Er-
wachsenenleben prägt, was ist dann noch jugendspezifisch? Der Übergang vom Ju-
gendlichen zum Erwachsenen erscheint angesichts der Tatsache, daß auch das Er-
wachsenenalter von immer neuen Übergängen (Berufswechsel, Scheidung, neue part-
nerschaftliche Bindung, Midlife-Crisis, Eintritt ins Rentenalter...) geprägt ist, immer
weniger als der entscheidende Entwicklungsschritt, die Jugend somit auch immer
weniger als die Übergangsphase: „Jugend als individuelle Übergangszeit verliert hier
ihren Ausnahmestatus - Übergänge werden zur Normalität des Lebens zu jeder
Zeit.“ 172 Jugendspezifisch scheint allein, daß die Zwänge und Risiken der Individuali-
sierung und der scheinbar unbegrenzten Freiheit Jugendliche in noch stärkerem Maße
betreffen als Erwachsene. 173
168 Seine Kultursoziologie der „Erlebnisgesellschaft“ möchte Gerhard Schulze ausdrücklich als Anschlußthese
an das Becksche Individualisierungstheorem verstanden wissen. Er knüpft an Beck an, indem
er neue Gemeinsamkeiten unter den Bedingungen der Individualisierung herausarbeitet. Während
bei Beck der Schwerpunkt seiner soziologischen Analyse auf den Auflösungserscheinungen der gesellschaftlichen
Milieustruktur liegt, beschreibt Schulze die Bildung neuer sozialer Milieus und sog. alltagsästhetischer
Schemata. Die Orientierungsprobleme des Individuums in der multi-optionalen Erlebnisgesellschaft
evozieren nach Schulze ein ästhetisches Anlehnungsbedürfnis von Menschen an andere
Menschen mit ähnlichen Bedürfnissen, Vorlieben und Problemen. Der einzelne Mensch sehnt sich
nach Fixpunkten im Erlebnisstrom, die er in der Zugehörigkeit zu Erlebnisgemeinschaften sucht: sozialen
Milieus und Szenen, die sich wiederum durch Nähe und Distanz zu bestimmten alltagsästhetischen
Schemata (bestimmte überindividuelle Denkmuster, Handlungen, Geschmackspräferenzen innerhalb
einer Gruppe von Individuen mit ähnlichen Präferenzen) beschreiben lassen. Die äußeren Bestimmungskriterien
der Milieus sind vor allem Alter und Bildung. Vgl. Schulze (1993).
169 Vgl. Schulze (1993a) 369.
170 Vgl. Beck (1986) 205 ff.
171 Schulze (1993a) 369.
172 Schweitzer 79 (Hervorh. im Original).
173 Vgl. etwa die Untersuchungen Hurrelmanns, die zeigen, daß die Jugendlichen statistisch zur Gruppe
mit den höchsten gesundheitlichen Risiken gehören. Vgl. Hurrelmann (1990).

Es ist also insgesamt von einem „grundsätzlichen Wandel und Einschnitt in der Ge-
schichte der Jugend“ 174 auszugehen. Dazu gehören Prozesse der Diversifizierung von
Lebenslagen und Pluralisierung von Lebensstilen, die eine Veränderung der gesell-
schaftlichen Funktion, der soziostrukturellen Ausprägung sowie der individuell-bio-
graphischen Bedeutung der Jugendphase mit sich bringen. Es gibt keine Standardab-
folge von Übergangsereignissen wie Schulentlassung, Ausbildungsbeginn und Be-
rufseinstieg, Auszug aus dem Elternhaus und Familiengründung mehr. Die klassische
Reihenfolge des Ablaufs der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben ist individuell
verschieden geworden. 175
„In ihrer allgemeinsten Form besagt die These vom ‘Strukturwandel’ der Jugend, daß sich gegenwärtig
nicht nur einzelne Verhaltensweisen, Orientierungsmuster und Einstellungen der Jugendlichen
wandeln, sondern daß innere Qualität, Zuschnitt und Aufgabenstruktur des Jugendalters, das,
was Jugend historisch-gesellschaftlich war, sich in unseren Tagen auflöst, d.h. daß die Kategorie
Jugend selbst (nicht nur Verhaltensweisen der Jugendlichen) fragwürdig geworden ist und zur Disposition
steht.“ 176
Mit Hornstein 177 lassen sich drei Ebenen von Widersprüchen charakterisieren: Auf
der rechtlichen Ebene steht der Volljährigkeit mit 18 Jahren, d.h. der rechtlichen, kul-
turellen und politischen Selbständigkeit Jugendlicher, die Ausdehnung der Ausbil-
dungsphase mit der daraus folgenden Verlängerung der ökonomischen Abhängigkeit
von elterlichen oder sozialstaatlichen Zuwendungen gegenüber. Auf der Ebene der
Sinnhaftigkeit der Jugendphase widerspricht der enormen Ausweitung der Phase die
durch deren Entstrukturierung bedingte Aushöhlung und die Zerstörung des inneren
Gehalts der Jugendphase. Auf der politischen Ebene schließlich korrespondiert mit
der durch gezielte politische Maßnahmen wie Ausbildungsbeihilfen erreichte einheit-
liche, politisch garantierte, sozialstaatlich abgesicherte Lebensphase Jugend einer-
seits mit dem Abnehmen des expliziten Interesses an Jugendlichen andererseits, de-
nen kein eigenständiger, konstruktiver Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung
abverlangt wird.
Soweit die allgemeine Charakterisierung des Strukturwandels. Im folgenden werden
einige strukturelle Trends der Jugendphase, die den Strukturwandel näher differen-
zieren, vorgestellt. Ich beziehe mich hierbei auf die ausführliche Darstellung von
Ferchhoff 178 , der in 23 Thesen die veränderten Sozialisationsbedingungen von Ju-
gendlichen aufgezeigt hat, von denen ich einige nun zusammenfassend vorstellen
werde.
174 Hornstein (1988) 71.
175 Vgl. dazu Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 22.
176 Hornstein (1988) 71.
177 Hornstein (1985) 327 f.
178 Ferchhoff 107-142.

4.2 Veränderte Sozialisationsbedingungen im Strukturwandel der Jugendphase
4.2.1 Verschulung und Bildungsparadox
Durch den weitgehend von der sozialen Herkunft unabhängigen Zugang zu Bildungs-
einrichtungen sind an die Stelle der Erwerbsarbeit Schule und kognitive Ausbildung
als wesentlicher Erfahrungsbereich Jugendlicher getreten. Kinder und Jugendliche
befinden sich immer früher (Kindergarten, Vorschule) und immer länger in Institutio-
nen der Schule und Ausbildung, so daß man sagen kann, daß der Bildungs- und Lern-
aspekt zu „einem zentralen Merkmal für das Verständnis der Jugendphase
geworden“ 179 ist: Es ist zur primären ‘Aufgabe’ der Jugend geworden, in der Schule
möglichst gute Bildungstitel zu erwerben. Die Tatsache, daß der Alltag Jugendlicher
zu einem guten Teil von der Schule geprägt ist, führt dazu, daß diese zu einer Kristal-
lisationsmöglichkeit zur Ausbildung einer Schüler- und Jugendkultur wird. 180 Die
Verschulung hat Konsequenzen für jugendliche Orientierungen. Schule und arbeits-
weltferne, theoretische Ausbildungsinstitutionen betonen vorrangig die kognitive
Seite von Lernen und Erfahrung. Schule bietet zwar viele intellektuelle und soziale
Anregungen (die jedoch weitgehend abstrakt bleiben), aber wenig Verantwortungser-
lebnisse, wenig Solidaritätserfahrungen zugunsten einer weitgehend individualisti-
schen Leistungsmoral. 181 Hauptsächlich das „individuelle Leistungsverhalten ent-
scheidet über die Position in der Hierarchie von Belohnungen im Schulsystem.“ 182
Erfolg wie Versagen sind persönlich zuschreibbar. 183
Baethge geht sogar soweit zu sagen, daß die fehlende Erfahrung der Arbeitswelt mit
ihrer sozialen Nützlichkeit und ihrem biographischen Ernst die Gefahr mit sich
bringt, daß Jugendliche nicht mehr lernen, kollektive Probleme gemeinsam und soli-
darisch zu lösen. 184
Es bleibt festzuhalten, daß das Arbeitsleben nicht die jugendliche Lebenswelt prägt,
sondern Zukunftsperspektive bleibt. Gleichwohl haben Jugendliche einen hohen An-
spruch an den Beruf, der nicht nur den Lebensunterhalt, sondern auch Lebensqualität
179 Ebd. 109.
180 Gabriel (1991) 756.
181 Vgl. Melzer/Hurrelmann (1990) 45.
182 Ebd.
183 Vgl. die Ausführungen Ulrich Becks zu den individualisierenden Effekten der Bildungsexpansion in
Beck (1986) 127-130 sowie Kap. 2 2.3.1 dieser Arbeit.
184 Baethge 309ff.

und Sinn garantieren soll. Diese Ansprüche werden aber massiv eingeschränkt durch
die Enge auf dem Arbeitsmarkt und die diesen prägende Konkurrenz.
An dieser Stelle ist auch auf das sogenannte Bildungs- bzw. Qualifikationsparadox
hinzuweisen. Der Erwerb von Bildungstiteln ist zwar die Voraussetzung für die Er-
füllung von Berufswünschen, der massenhafte Zugang zu diesen Qualifikationen und
die Arbeitsmarktsituation entwerten diese aber gleichzeitig, so daß Bildungstitel
nicht automatisch die Garantie für gute Berufschancen sind. Verlierer im Bildungs-
system sind die Haupt- und Sonderschüler und -schülerinnen, deren Abschlüsse
durch den großen Abstand zur Masse der vorläufigen Bildungsgewinner völlig ent-
wertet und mitunter sozial diskriminiert sind. 185 Doch auch unter der angeblichen
geistigen Elite unter den Jugendlichen, den Schülerinnen und Schülern an Gymnasien
ist das Vertrauen in die Mobilität und Offenheit des Ausbildungssystems und des Ar-
beitsmarkts gesunken. Insgesamt orientieren sich Jugendliche im Vergleich zu den
Jugendlichen der Nachkriegsgeneration wieder stärker an einer sicheren Basisversor-
gung anstelle von hohen materiellen Entlohnungen. 186
Der Vollständigkeit halber sei eingestanden, daß die obigen Ausführungen zur ver-
schulten und arbeitsfernen Jugend eine gewisse Vereinfachungstendenz aufweisen.
Nach wie vor befinden sich viele Jugendliche im dualen Ausbildungssystem und ha-
ben damit Teil am Erwerbsleben, wenn auch nur zum Teil mit entsprechenden Ein-
stel- lungschancen. 187
Schon an dieser Stelle zeigen sich wieder die Ambivalenzen des Individualisierungs-
prozesses. Die hohen Freiheitsgrade des Handelns und Entscheidens in bezug auf die
Planung von Beruf und Ausbildung „bürden den Heranwachsenden ein hohes Maß
an Selbstverantwortung und damit auch klare Visionen der Erfüllung und des Versa-
gens auf.“ 188 Die Erfüllung der Versprechung auf durch Bildungsqualifikationen zu
erreichende Positionen stößt an Grenzen auf dem Arbeitsmarkt. Immer mehr Jugend-
liche müssen die Erfahrung der Begrenztheit der Selbstentfaltung machen oder be-
fürchten. 189 Der Jugendforscher Thomas Olk bringt diese Ambivalenz auf den Punkt:
„Eine immer frühere und intensivere Beteiligung von Jugendlichen an den gesellschaftlichen Lebens-
und Erfahrungsbereichen wie Konsum, Medien und Sexualität steht einer immer weiteren
Exkursion Jugendlicher aus dem Beschäftigungssystem, in dem die Grundlage für die ökonomische
Unabhängigkeit gelegt werden kann, gegenüber.“ 190
185 Vgl. Ferchhoff 111f. sowie Lenz (1994) 22f.
186 Vgl. Fend 250.
187 Vgl. Ferchhoff 118.
188 Vgl. Fend 298.
189 Vgl. Keupp (1990) 20.
190 Olk 55.

4.2.2 Veränderte Familienstrukturen - veränderte Familienfunktion
Auch im Bereich der Familie lassen sich Entnormierungs- und Entstrukturierungsten-
denzen erkennen, was sich vor allem an der Pluralität von Familienformen (binuklea-
re Familien, Ein-Eltern-Familien, Ein-Kind-Familien etc.) ablesen läßt. Familie hat
sich „von der relativ festen und ein Leben lang währenden Institution zur Verhand-
lungssache auf Zeit“ 191 entwickelt. Das geht mit einem veränderten familialen Bin-
nenklima einher. Zum einen hat sich im Zuge des Bedeutungsverlustes überkomme-
ner geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen die Partnerbeziehung zwischen den El-
tern gewandelt, aber ebenso auch das Eltern-Kind-Verhältnis. Die Binnenverhältnisse
müssen in der Familie immer neu ausgehandelt werden. Zudem hat sich das Eltern-
Kind-Verhältnis zunehmend emotionalisiert. Nicht Autorität, sondern Partnerschaft-
lichkeit ist die Basis der Verhandlungsfamilie. Kinder werden als Persönlichkeiten
mit eigenen Interessen und Bedürfnissen anerkannt. Die vornehmliche Erziehungs-
aufgabe der Eltern ist dabei, auf die hohen Freiheitsgrade des Handelns bei gleichzei-
tiger Vermeidung von Restriktionen und Entscheidungszwängen vorzubereiten. 192
Dieser Anspruch steht allerdings im Kontrast zur oft unausgesprochenen Funktion
von Kindern als Sinnstiftung für das Leben ihrer Eltern. Kinder und Jugendliche be-
kommen für die Eltern „immer mehr psychosoziale und emotionale Nutzenfunktio-
nen“ 193 , sie „sollen Ehen und Beziehungen zusammenhalten, romantische Glücksan-
sprüche einlösen und nicht erfüllte Aufstiegshoffnungen der Eltern erfüllen“. 194 Das
kann dazu führen, daß statt der Selbständigkeit primär die Aufrechterhaltung der Bin-
dung geförddert wird; Eltern müssen also versuchen, „den ‘richtigen’ Rhythmus des
Selbständigwerdenlassens zu finden.“ 195
Trotz der Emotionalisierung des Eltern-Kind-Verhältnisses vollziehen sich die Ablö-
sungsprozesse vom Elternhaus immer früher. Die Familie verliert nach und nach für
die älter werdenden Kinder ihre Erziehungs- und Kontrollfunktion, bei gleichzeitiger
längerer ökonomischen Abhängigkeit von den Eltern. Das typische Modell, „die all-
tagspragmatische Koexistenz, so lange wie möglich im Elternhaus zu leben und zu-
gleich dennoch ohne elterliche Kontrolle selbständig zu sein“ 196 , scheint das Modell
des Generationenkonflikts abzulösen.
191 Ferchhoff 127. Vgl. auch Beck (1986) 208f.
192 Vgl. Schröder 31.
193 Ferchhoff 128.
194 Ebd.
195 Ferchhoff/Olk (1988) 21. Vgl. dazu auch Beck (1986) 193f.
196 Ferchhoff 126.

Die frühe Ablösung von den Eltern wird auch forciert durch frühe Partizipation an
der Erwachsenenwelt v.a. durch Konsum (vgl. dazu auch Abschnitt 4.2.4) und Me-
dien. Insbesondere durch Medienkonsum werden künstliche Welten v.a. des Fernse-
hens in die jugendliche Alltagswelt getragen. Dadurch gelangen außerfamiliale So-
zialisationsprozesse in die Familie, ein weiterer Faktor der Relativierung der Eltern-
rolle. 197
4.2.3 Gleichaltrigenorientierung als typisches Jugendphänomen
Die extreme Zunahme der Zugehörigkeit Jugendlicher zu Cliquen seit den 60er Jah-
ren 198 ist wohl Folge der beiden oben analysierten Phänomene. Durch die längere
Verweildauer Jugendlicher und junger Erwachsener im Bildungssystem verschiebt
sich die Integration in altersheterogene Gruppen im Berufsleben biographisch nach
hinten. Ebenso wird die Gleichaltrigenorientierung forciert durch frühere Ablösungs-
prozesse von elterlichen Weisungen. Die Funktion der Peer-Group ist, Schutzraum
zu sein, in dem Jugendliche Erfahrungen und Erlebnisse der Geborgenheit, Wärme,
Sicherheit, Zusammengehörigkeit und Solidarität mit Gleichaltrigen machen können.
Dabei liegt der besondere Reiz informeller Gruppen darin, daß sie ohne institutionali-
sierte Organisationsformen auskommen. Die Cliquen werden stärker als die Einbin-
dungen in Familie, Schule, Verein und Verband als „jugendspezifische und selbstso-
zialisatorische Freiräume“ 199 wahrgenommen. Die Peer-Group als Clique ist aber
dennoch nicht ohne Zwänge, häufig sind Cliquen von Aufnahmeriten, Rivalitäten un-
tereinander und Abhängigkeit von Wortführern geprägt. 200 Trotzdem ist die Clique
nicht der einzige Ort, an dem sich Gleichaltrige (neben der Schule natürlich) zusam-
menfinden. Im Jugendalter steigt gleichzeitig auch die Zugehörigkeit zu formellen
Gruppen, allen voran die Sportvereine, aber auch Verbände. Jugendliche haben im
Vergleich zu den 50er Jahren ein ausgeprägteres Netzwerk informeller und formeller
Kontakte zu Gleichaltrigen. 201 Auch hier zeigt sich wieder die Pluralität jugendlicher
Lebenslagen, eine Vereins- oder Verbandsgruppe kann sich aus Angehörigen ver-
schiedenster anderer formeller und informeller Gruppen zusammensetzen.
197 Vgl. Schröder 30.
198 Allerbeck/Hoag haben in einer empirischen Untersuchung ermittelt, daß gegenüber 16,2 % 1962 Jugendliche
1983 bereits zu 56,7 % die Zugehörigkeit zu einer Clique angeben. Vgl. Allerbeck/Hoag
(1985), 40.
199 Ferchhoff 129.
200 Vgl. ebd.
201 Vgl. Schröder 33 u. 118f.

Neben Cliquen und Gruppen gehört aber auch die Teilhabe an Erotik und Sexualität
zur jugendlichen Gleichaltrigenorientierung. Jugendliche haben immer früher sexuel-
le Kontakte, die weitgehend toleriert und akzeptiert und damit weitgehend selbstver-
ständlicher Bestandteil jugendlichen Alltags geworden sind. 202
4.2.4 Jugendliche leben im ‘Hier und Jetzt’
Jugend ist, so wurde bereits festgestellt, infolge des Strukturwandels der Jugendphase
nicht mehr primär Reifungs- und Übergangsphase zur Vorbereitung auf das Erwach-
senenleben, sondern hat sich zu einer eigenen, als bereichernd und lustvoll empfun-
denen, Lebensphase entwickelt. Das traditionelle Muster von Anstrengung, Verzicht
und Gratifikationsaufschub hat seine Plausibilität verloren, weil die Zukunft unge-
wiß, nicht vorgeplant und offen ist. 203 Die grundsätzliche Offenheit, scheinbar alles
erreichen zu können einerseits, aber auch das diffuse Wissen darum, daß diese Frei-
heit arbeitsmarktstrukturell eingeschränkt werden wird, führt Jugendliche zu einer
verstärkten Orientierung auf das ‘Hier und Jetzt’. Verstärkt durch die für breite
Schichten gestiegene Konsumkraft Jugendlicher ist der Bedürfnisaufschub auch nicht
mehr nötig. Jugendliche werden durch ihr hohes, von Eltern und Großeltern sowie
Nebenjobs gespeistes, finanzielles Potential zu einer höchst wichtigen Zielgruppe
kommerzieller Freizeit- und Konsumanbieter. Die Partizipation am Massenkonsum
ist für Jugendliche ein Muß geworden.
„[...] das schnelle, grenzenlose, aber auch gezielte Konsumieren des ‘richtigen’ Produkts zur ‘richtigen’
Zeit [...] gehört zum Ritual der Zugehörigkeit, des ‘In-Seins’, das vor allem in Gleichaltrigenszenen
herausgebildet, definitionsmächtig festgezurrt und auch kontrolliert wird.“ 204
Hier zeigt sich erneut eine Falle: Einerseits wächst die jugendliche Autonomie durch
frühe Partizipation an der (erwachsenen) Konsumwelt, andererseits wird Konsum
zum Zwang, was ein besonderes Konfliktpotential für die Jugendlichen mit sich
bringt, deren Familie die gehobenen Konsumansprüche nicht finanzieren kann.
Diese Problematik steht auch mit dem bereits oben (4.2.1) angesprochenen Qualifi-
kationsparadox und verlängerten Ausbildungszeiten im Zusammenhang. Die frühe
Beteiligung am Massenkonsum setzt Ansprüche, die aus eigener Kraft von den Ju-
gendlichen möglicherweise gar nicht erfüllt werden können. Es muß von den Jugend-
lichen als Widerspruch erfahren werden, daß sie zwar immer früher am Konsum teil-
202 Vgl. Ferchhoff 130f.
203 Vgl. ebd. 119 sowie Gabriel (1991), 757.
204 Ferchhoff 123f.

haben können, aber immer später ökonomisch von den Eltern unabhängig werden.
Der Widerspruch besteht darin, daß die individualisierte Gesellschaft „der Jugend ei-
nen historisch in diesem Maße noch nie dagewesenen Zeitraum ohne die Notwendig-
keit von Erwerbsarbeit gewährt und sie aber gleichzeitig und heftig als mündige Kon-
sumenten umwirbt.“ 205
4.2.5 Jugend ist liberalisierte, permissive und auf Autonomie zielende Erzie-
hungs- jugend
Zu den vielen bereits angesprochenen Pluralismen gesellt sich auch ein Pluralismus
der Erziehungsstile. Statt fester Lern- und Erziehungsstile zeigt sich ein Trend zur
Förderung stärkerer Autonomie der Kinder und Jugendlichen. Das Erziehungsziel
heißt Selbstverwirklichung. Dieser insgesamt positive Prozeß der Aufwertung Ju-
gendlicher zu Subjekten im Verhältnis zu den Erziehungsinstanzen bringt aber auch
eine Aufweichung der Ziele mit sich. ‘Selbstverwirklichung’ allein bleibt unkonkret.
Im Verhalten von Eltern, Lehrern, Seelsorgern, Jugend- und Sozialarbeitern zeigt
sich oft Inkonsequenz in den Zielen als falsch verstandene Liberalität, die alles zu-
läßt, oder mit Ferchhoff gesprochen: Ein
„allzu bequemer Gestus liberal-permissiver Grundhaltungen (bspw. ein kaum oder nie ‘Nein-sagen-können’)
kann ebenso - wie eine permanente, ozeanische und grenzenlose Verstehensbereitschaft,
ohne tiefe Zuneigung, ohne wirklich-wahrhaftiges Vertrauen und ohne echte Geborgenheit -
dazu führen, daß Jugendliche sich von der Gleichgültigkeit oder der penetrant-anbiedernden und
geheuchelten Zuneigung und Liebe oder der einschmeichelnden Pädagogisierung und Therapeutisierung
der Erwachsenen abgestoßen fühlen.“ 206
Die erzieherische Unsicherheit und Ratlosigkeit ist ein Überforderungssymptom der
Erziehungsinstanzen in der Pluralität.
Lernprozesse vollziehen sich im Übrigen nicht mehr einseitig von Alt nach Jung,
sondern in einem Prozeß „gegenseitiger Beeinflussung“. 207 Dies hat drei Gründe. Ju-
gendliche lernen in der Schule mehr Neues, das ihre Eltern nicht wissen, wodurch sie
im familialen Kontext als gleichberechtigte Partner anerkannt werden 208 , und sie ha-
ben insbesondere im Medien- und Computerbereich häufig sogar Experten- und
Lehrmeisterfunktion gegenüber den Älteren. 209 Gerade letzteres führt dazu, daß Ju-
gendliche zunehmend zu Trendsettern werden, ein ‘Mythos Jugend’ bildet sich he-
205 Keupp (1990) 25.
206 Ferchhoff 131.
207 Ebd. 120.
208 Jugendliche fordern bzw. haben ein Mitspracherecht bei der Erziehung schon deshalb, weil sie ihre
Rechte und Pflichten ebenso wie ihre Erzieherinnen und Erzieher kennen. Erziehungsansprüche müssen
daher stets legitimiert werden. Vgl. Fuchs 349.
209 Vgl. Ferchhoff 121.

aus, so daß Jugendlichkeit nicht nur Frage des Alters, sondern auch eine Lebenshal-
tung für Erwachsene ist, „ein Habitus, wie er zumeist medial und jugendkulturell
ausbuchstabiert und allmählich die Grenzen der Altersklassen aufweichend, auch von
den älteren Generationen übernommen wird“ 210 , was ja bereits als ein Aspekt der
Aufweichung des Jugendbegriffs beschrieben wurde.
4.2.6 Jugendliche Alltagswelten sind medial kolonialisiert
Das Freizeitverhalten Jugendlicher wird stark vom Medienkonsum (nicht selten im
eigenen Gerätepark - Fernseher, Stereoanlage, Walkman, Computer mit Internetzu-
gang) geprägt. Sie erhalten dadurch einen technisch unproblematischen Zugang zu ei-
nem riesigen Feld von Informationen, Stoffen, Biographien. Fuchs deutet dies aus-
schließlich positiv, indem er herausstellt, daß diese Vielfalt Anregungen, Vorbilder
und Material für persönliche Entscheidungen und für die Persönlichkeitsentwicklung
geben. 211
Verstärker Medienkonsum führt aber auch zu veränderten Formen der Wahrneh-
mung. Sehen, Hören und Sprechen drängen das Lesen und Schreiben zurück. 212 Pri-
märerfahrungen in der Natur, im eigenen Alltag, in kommunikativer Begegnung neh-
men ab zugunsten von medial vermittelten Erfahrungen aus zweiter und dritter
Hand. 213 So kann es zu Realitätsverwischungen kommen, zur Verwechslung von me-
dialer Fiktion und Wirklichkeit, bis dahin, daß audiovisuelle Medien zum Ersatz für
das wirkliche Leben werden. 214 Beck führt das Fernsehen als Beispiel für die Doppel-
struktur der Individualisierung als Freisetzung und (Re-)Standardisierung an. Das
Fernsehen löst die Menschen einerseits aus traditional geprägten Wahrnehmungszu-
sammenhängen heraus, doch bringt es sie andererseits in dieselbe Situation: „Sie
konsumieren institutionell fabrizierte Fernsehprogramme, und zwar von Honolulu bis
Singapur.“ 215 Insofern bestärkt das Fernsehen einen Trend standardisierter Vereinze-
lung. Jeder und jede sitzen allein vor dem Fernsehen, aber alle konsumieren Ver-
gleichbares.
„Wir führen medienvermittelt eine Art räumlich soziale Doppelexistenz. Wir sind zugleich hier
und ganz woanders, für uns selbst alleine und doch lauschen wir dem gleichen Konzert der New
210 Ebd. 122.
211 Vgl. Fuchs 351.
212 Vgl. Ferchhoff 134.
213 Vgl. ebd. 135.
214 Vgl. ebd.
215 Beck (1986) 213.

Yorker Philharmonie oder sind, während wir hier isoliert zu Abend essen, alle dort teilnehmende
Beobachter grausamer Bürgerkriegsszenen im Libanon.“ 216
Der verstärkte Medienkonsum Jugendlicher läßt einen nicht unbedeutenden Abstand
gerade zu pädagogisierenden Instanzen entstehen. Jugendarbeiterinnen und -arbeiter,
Lehrerinnen und Lehrer und andere pädagogisch Tätige haben häufig kein Verständ-
nis für diese Erfahrungswelten. Sie haben vielfach keinen Zugang zu den auf Jugend-
liche abgestellten audiovisuellen Medien, v.a. Videoclips mit schnellen Schnitten,
Computerspiele etc., weil sie in anderen (wohl häufig intellektuellen, primär kogniti-
ven) Wahrnehmungswelten leben.
4.2.7 Jugend ist politikabstinent
Die Beteiligung in politischen Großorganisationen, v.a. den Jugendorganisationen
der Parteien und Gewerkschaften, scheint für viele Jugendliche ihre Plausibilität ver-
loren zu haben. Jugendliche entwickeln diesen Organisationen gegenüber „eine
gleichgültige oder bestenfalls wohlwollend-distanzierte Haltung“. 217 Diese Politikfer-
ne, aber auch die Abkehr von Kirchen, Verbänden und Vereinen hängt wohl damit
zusammen, daß Jugendliche keine dauerhaften Bindungen, kein längerfristiges Enga-
gement und Verpflichtungen eingehen wollen. 218 Politisches Engagement, zumal in
ritualisierter, scheinbar alltagsferner Gremienarbeit, wird als für das eigene Leben
folgenlos empfunden, weil es für individuelle Bedürfnisse keinen oder wenig Raum
läßt. 219
„Insgesamt gesehen scheint heute der größte Teil der Jugendlichen, sofern er sich nicht in neuen
Fundamentalismen ergeht, politisch desengagiert und entpolitisiert und sich in die vielen kleinen,
nicht immer nur wärmespendenden idyllischen, vor allem besitzindividualistischen und konkurrenzbezogenen
Nischen des Privaten mit starren, aber stets ambivalenten Individualisierungsoptionen
zurückzuziehen.“ 220
Vielleicht hängt diese Politikverdrossenheit auch mit einer durch die kaum noch kon-
trollierbaren Risiken, v.a. durch die sich anbahnende ökologische Katastrophe verur-
sachten Hoffnungslosigkeit zusammen, im Kleinen noch etwas zu bewirken. Ein he-
donistisches Verbleiben im ‘Hier und Jetzt’ scheint angesichts krisenhafter Zuspit-
216 Ebd.
217 Baethge/Pelull (1993), 23 (im Rahmen einer Untersuchung des Verhältnisses von Jugendlichen zu
Gewerkschaften innerhalb einer internationalen Vergleichsstudie zum Thema Arbeit und Interessenvertretung
bei Jugendlichen). Die mangelnde Beteiligung Jugendlicher an Gewerkschaften mag aber
wohl primär mit ihrer Arbeitsferne zusammenhängen.
218 Vgl. Ferchhoff 141.
219 Vgl. ebd.
220 Ebd. 142.

zung weltweiter Probleme, an denen - so könnte man meinen - ohnehin nichts zu än-
dern ist, die bessere Alternative zu sein.
4.3 Jugendkulturelle Lebensmilieus
Nachdem im vorigen Abschnitt einige Trends, die die Sozialisationsbedingungen ei-
nes großen Teils der Jugendlichen umreißen, dargestellt wurden, sollen nun fünf ju-
gendkulturelle Lebensmilieus dargestellt werden, um der Differenzierung, Pluralisie-
rung und Individualisierung jugendlicher Lebenslagen und Stile Rechnung zu tragen.
Diese Typologie wird der Vielzahl von Jugendkulturen natürlich nur zum Teil ge-
recht; eine gewisse Oberflächlichkeit bringt jeder Versuch einer - dennoch notwendi-
gen - wissenschaftlichen Systematisierung mit sich. Die folgende Darstellung hat das
Ziel, typische Interpretations- und Ausdrucksmuster jugendlicher Sinn- und Identi-
tätsmuster nachzuzeichnen. Sie stützt sich erneut auf Ferchhoffs Darstellung. 221
4.3.1 Religiös-Spirituelle
Infolge der Enttraditionalisierung der christlichen Lehren und ihres Plausibilitätsver-
lusts als quasi automatisch qua Erziehung und (milieuspezifischer) Sozialisation ist
Religion mehr und mehr zur Privatsache geworden. 222 Auch hier also geht es für den
einzelnen/die einzelne darum, (religiöse) Orientierung selbst zu inszenieren. Insge-
samt ist das Verhältnis zur Religion offen geworden. Gepaart mit dem Mißtrauen vor
konventionellen institutionalisierten „Absolutheitsansprüchen und schlüsselfertigen
Sinngebäuden“ 223 führt dies nicht selten zu einem regelrechten Synkretismus, wobei
in den hochgradig differenzierten religiös-spirituellen Szenen Anleihen aus allen
möglichen religiösen und parareligiösen Mustern gemacht werden, eine Bricolage
also aus christlichen Elementen zusammen mit Astrologie, fernöstlichen Religionen,
Okkultismus, Satanismus, New-Age-Kulturen u.s.w. 224 Bei den meisten Strömungen
herrscht motivational die Suche nach tragenden Bindungen, Lebenssinnstiftung, Ver-
läßlichkeit, Geborgenheit und Beheimatung vor. 225 Die beiden Extreme der verschie-
denen Strömungen sind der zahlenmäßig kleine Anteil fundamentalistischer Gruppie-
rungen christlicher und nicht-christlicher Provenienz, die, in Schwarz-Weiß-Schablo-
221 Ebd. 143-168.
222 Vgl. hierzu die ausführlichere Darstellung zu Jugend und Religion in diesem Teil (4.4) sowie zu
Religion und Moderne im vorigen Teil (3) dieser Arbeit.
223 Ferchhoff 146.
224 Vgl. ebd. 147.
225 Vgl. ebd.

nen denkend, einfache und eindeutige Heilsgewißheiten versprechen 226 sowie der
wachsende Anteil derer, die jenseits der Suche nach Sinndeutung in den Anleihen aus
religiösen Kulturen und parareligiösen Angeboten v.a. das Erlebnis und den Rausch
suchen, vielfach gepaart mit dem Hunger nach anderen Intensiverlebnissen, die einen
momentanen ‘Thrill’ verschaffen, wie schnelles Fahren, S-Bahn-Surfen und Risiko-
und Extrem-Sportarten. 227
4.3.2 Kritisch-Engagierte
Unter dieser Kategorie lassen sich all jene Jugendliche fassen, die angesichts der Ri-
siken der modernen Gesellschaft, v.a. der ökologischen Bedrohung, eine Gegenkultur
schaffen wollen. Wenn Ferchhoff auch kritisiert, daß es häufig moralisierende und
vereinfachende Lebenssichten sind, die Jugendliche (und nicht nur die) nach einfa-
chen Lebensstilen in einer mitunter diktatorisch anmutenden Betroffenheitskultur su-
chen lassen 228 , so finden sich gerade hier auch konstruktive gesellschafts-erneuernde
Potentiale. Dies zeigt sich zum Beispiel in der pragmatischen Position zur Technik.
Hatten sich die Väter und Mütter dieser Szenen noch häufig durch eine pauschale
Technikangst bzw. -feindlichkeit ausgezeichnet, die die übersteigerte Fortschritts-
gläubigkeit kritisierte, so halten nun auch moderne Computertechniken ihren Einzug,
die unter realistischer Einschätzung ihrer Chancen und Grenzen problemlösend ein-
zusetzen versucht werden.
„Diese Jugendlichen praktizieren innovative und diskussionswürdige Antworten auf die Zukunftsgefährdungen
und gerieren insofern das Gegenteil von Melancholie, Verzweiflung und Resignation:
nämlich die Hoffnung, daß es trotz aller Widrigkeiten und quälenden Fragen nach dem ‘Sinn
des Lebens’ und den vielen Lebensbedrohungen uns dennoch gelingt, die dramatischen und keineswegs
zu verharmlosenden Zukunftsgefahren anzupacken und vielleicht auch, eben mit Pragmatik
und Lebenskunst zu lösen.“ 229
Gegenkulturell ist diese Szene insofern, als Jugendliche dort entgegen der Gefahr der
Auflösung von Identität in der Individualisierung sowie den hoffnungslos anmuten-
den politischen und ökologischen Problemen der modernen Gesellschaft sowohl für
sich selbst nach Selbstverwirklichung als auch insgesamt nach einem Lebenssinn su-
chen.
226 Vgl. ebd. 146.
227 Vgl. ebd. 150f.
228 Vgl. ebd. 152f.
229 Ebd. 153f.

4.3.3 Körper- und Action-Orientierte
In diesen Szenen sammeln sich vornehmlich Jugendliche aus proletarischen bzw.
subproletarischen Milieus. Sie haben verglichen mit den anderen Szenen die kürzes-
ten Schulkarrieren, meist in Haupt- und Sonderschulen. 230 Gerade in diesem Lebens-
milieu befinden sich die Individualisierungsverliererinnen und -verlierer, die ihre an-
geblichen Chancen nicht nutzen konnten, und sich in einem engmaschigen Kumpel-
netz den festen Platz suchen, den sie in der Gesellschaft nicht erhalten haben (z.B.
wegen ihrer geringen Chance, einen sicheren und befriedigenden Arbeitsplatz zu fin-
den). Kennzeichen der sich hier bildenden Cliquen sind Disziplin, Härte, Mut, Treue
und sogenannte Männlichkeitsrituale, so daß sich Mädchen ihren Status meist nur
durch Unterordnung sichern können. 231 Viele dieser Gruppen zeichnen sich durch
eine wachsende Gewaltbereitschaft gegen Außenstehende sowie zwischen den
‘Gangs’ aus. Es handelt sich hierbei um Rocker, Moped- bzw. Motorrad-Gangs,
Punks, Ausländer-Gangs, Skinheads, Rechtsradikale, linke Red-Skins, z. T. linke Au-
tonome.
4.3.4 Manieristisch-Postalternative
Bei dieser Gruppe, die in den 80er Jahren als sog. ‘Yuppies’ (Young Urban Profes-
sionals) zu dem jugendkulturellen Trend ausgerufen wurde 232 , handelt es sich „i.d.R.
um kaufkräftige und hedonistisch orientierte jugendkulturelle Strömungen, denen vor
allem Mode, Medien, Konsum und Vergnügen am Herzen liegen.“ 233 Ihre extrem
hohe Kaufkraft ermöglicht es ihnen, sich auch in ökonomischen Krisenzeiten die
‘Welt des schönen Scheins’ zu kaufen; mit modischer Bekleidung, Frisuren, Acces-
soires wollen sie sich aus der Masse hervorheben. Sie haben eine positive, egozentri-
sche Einstellung zum Leben, sind kommunikativ, kontaktfreudig und unterneh-
mungslustig 234 , eine Unternehmungslust, die allerdings nur das eigene individuelle
Leben betrifft. Politische Teilhabe, Solidarität und Verzicht werden demonstrativ ab-
gelehnt. 235 Hier greift also der Individualisierungsschub in die als egoistisch und un-
solidarisch kritisierte Richtung, indem überindividueller Sinn, für den sich Engage-
ment und die Zurücknahme kurzfristiger Bedürfnisse lohnen könnten, als unerreich-
230 Vgl. ebd. 155.
231 Vgl. ebd. 154f.
232 Vgl. ebd. 157.
233 Ebd.
234 Vgl. ebd. 158.
235 Vgl. ebd. 159.

ar geleugnet wird. So entstehen zwar unnachahmliche, aber in sich inkonsistente,
brüchige Individualitäten.
4.3.5 Institutionell-integrierte
Der Anteil der von Ferchhoff sogenannten institutionell-integrierten Jugendlichen ist
der weitaus größte unter den beschriebenen Szenen. 236 Sie orientieren sich stark an
erwachsenen Vorbildern und Wertesystemen, sind im oben beschriebenen Sinne
pragmatisch familienorientiert, d.h. haben bei gewisser Selbständigkeit eine enge
emotionale Familienbindung und nutzen die Vorteile des familialen Schutzraums
(materielle Versorgung, Unterkunft, Verpflegung) möglichst lange. 237 Für diese Ju-
gendlichen sind - neben bzw. vermischt mit dem kleinen, überwiegend gleichge-
schlechtlichen Freundeskreis, in dem sie Geborgenheit suchen - Vereine, Verbände
sowie kirchliche und politische Gruppen ein wichtiger Teil des Freizeitlebens. 238
Ebenso unkompliziert wie ihr Verhältnis zu den Eltern gestaltet sich in der Regel ihr
Schulalltag. Sie bezeichnen sich selbst als normal und fallen nach außen nicht wie
viele Jugendliche der oben beschriebenen Szenen durch abweichendes Verhalten
auf. 239 Einschränkend zu diesem positiven Bild muß jedoch festgehalten werden, daß
diese Normalität fragil bleibt. 240 Das wohlgeformte Netzwerk informeller und formel-
ler sowie institutioneller Gruppen und Orientierung - also zum Beispiel Clique, Ver-
band, Familie, Schule - dient dazu, „den sich einfach stellenden Lebens- und Leis-
tungsanforderungen, den Entwertungen allgemeiner und beruflicher Bildungsbemü-
hungen, den Statusbedrohungen sowie den gesellschaftlichen Herausforderungen und
auch Zumutungen zugleich gerecht zu werden.“ 241 Gerade die institutionellen Einbin-
dungen werden dabei oft strategisch berechnet (also ohne echte Identifikation), man
läßt sich soweit auf die Anforderungen der Erwachsenenwelt ein, wie unbedingt nö-
tig. So zeigt sich ein merkwürdiges Paradox: Diese Jugendlichen sind am offensten
für pädagogische Einflußnahme, z.B. der Jugendarbeit, brauchen aber echte Lebens-
hilfe aufgrund ihrer Normalität am wenigsten. 242
236 Vgl. ebd. 164; Bezeichnung in Anlehnung an Becker, H./Eigenbrodt, J./May, M.: Pfadfinderheim,
Teestube, Straßenleben. Jugendliche Cliquen und ihre Sozialräume. Frankfurt a.M. 1984.
237 Vgl. Ferchhoff 164.
238 Vgl. ebd. 165.
239 Vgl. ebd.
240 Ebd. 165.
241 Ebd.
242 Ebd. 166.

4.3.6 Milieu- und Szenenvermischungen
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß diese grobe fünfteilige Klassifizierung ihre
Grenzen hat. Einerseits muß innerhalb jeder Klasse eine weitere Binnendifferenzie-
rung vorgenommen werden, andererseits finden sich auch zwischen den einzelnen
Szenen starke Vermischungen. Die heutigen Jugendkulturen sind insgesamt - der ge-
samtgesellschaftlichen Tendenz zur Bastelbiographie entsprechend - durchlässiger
und „scheinen nicht mehr in der ganzen identitätsbezogenen Tiefe des Subjekts ver-
ankert zu sein“ 243 , d.h. aktuelle jugendkulturelle Orientierungen sind oft zeitlich be-
grenzt und können immer wieder gewechselt werden, weil eine längere Identifikation
mit einer Gruppe oder Sache nicht möglich oder nötig erscheint. Gleichwohl fordern
jugendkulturelle Szenen für die Dauer der Zugehörigkeit eine gewisse Bereitschaft
zur Identifikation mit der entsprechenden Gruppe, z.B. im Habitus, in Sprache, Klei-
dung und anderen Ausdrucksformen. 244
4.4 Jugend und ihr Verhältnis zu Religion und den christlichen Kirchen
Wie beim Verhältnis von Religion und Modernität stehen wir auch beim Verhältnis
von Jugend zur Religion und den christlichen Kirchen vor einem ambivalenten Bild.
Die Jugendlichen entfernen sich immer weiter von den Kirchen und von verkirchlich-
ter Religiosität; gleichzeitig scheinen sie - forciert durch ihre massenmediale Präsen-
tation - Vorreiter einer Renaissance des Religiösen zu sein. Religion befindet sich als
kirchliche im Zerfall, als außerkirchliche im neuen Aufbruch. 245 Doch wie auch bei
der vorschnellen Säkularisierungsthese überhaupt, ist auch hier die Frage berechtigt,
ob die Entchristlichung der Jugend tatsächlich so fortgeschritten ist, und ob die Zu-
nahme sub- und gegenkultureller, v.a. sektiererisch-okkulter Religionsformen unter
Jugendlichen wirklich so bedrohlich ist.
4.4.1 Das Verhältnis der Jugendlichen zu den christlichen Kirchen
Im Zusammenhang mit der These vom Strukturwandel der Jugendphase wurde be-
reits festgestellt, daß die Betrachtung der Jugend als eigenständige Lebensphase eng
mit der Entstehung der industriegesellschaftlichen Moderne verbunden ist und damit
243 Ebd. 167.
244 Vgl. ebd.
245 Vgl. Drehsen 49.

zugleich in eine Zeit fällt, in der auch das kirchliche Feld sich epochal zu wandeln
beginnt. Die moderne Religionskritik gehört zu den Grundpfeilern des Souveränitäts-
anspruchs des modernen Staates, der Religion als sein Fundament oder seine Legiti-
mation nicht mehr braucht. Der Kirche bei der Sozialisation und Erziehung der Ju-
gend von Staats wegen einen privilegierten Platz einzuräumen, stand nicht zur Debat-
te. Sie mußte sich also den Zugang zur Jugend erst erkämpfen. Die als Folge der in-
dustriegesellschaftlichen Versäulung der Gesellschaft entstandenen konfessionellen
Milieus boten einen idealen Raum für die „Herstellung einer eigenen Jugend“. 246 Die
Kirche stand zunächst der industriekapitalistischen Freisetzung der Jugend skeptisch
gegenüber, die als eigenständige soziale Gruppe nicht mehr so fraglos in die traditio-
nalen vertikalen Autoritätslinien in Familie und Gesellschaft eingebunden war. Gera-
de die deutsche Jugendbewegung um die Jahrhundertwende forcierte diese Verselb-
ständigung der Jugend gegenüber erwachsenen Autoritäten.
Doch gerade am Jugendphänomen zeigt sich der doppelte Kursus des Modernisie-
rungsprozesses. Die Jugendbewegung erhielt bald ihren katholischen Flügel, „der mit
der bündischen Jugend die Überhöhung des Natur- und Gemeinschaftserlebnisses
teilte, gleichzeitig aber die Orientierungen der Jugendbewegung spezifisch umform-
te.“ 247 Die kirchliche Jugend, die bald ein zentraler Teil der kirchlichen Milieus wur-
de, blieb von Anfang an in der Regie der Erwachsenen und des Klerus. Wie für die
klassische Industriegesellschaft insgesamt, gilt auch für die kirchliche Jugend die Di-
agnose einer eingeschränkten Modernität. Die Herstellung einer eigenen Kirchenju-
gend hielt diese gleichsam in einer Anstrengung inszenierter Gegenmodernität von
den „Gefahren des Glaubensabfalls oder der sittlichen beziehungsweise sexuellen
Versuchung“ fern. 248
Doch mit der Auflösung der (konfessionellen) Milieus erodierte auch die fraglose
Einbindung der Jugend in eine erwachsenenzentrierte religiöse Sozialisation und Er-
ziehung. Wir hatten bereits festgestellt, daß gerade die Verkirchlichung und Institu-
tionalisierung von Religion unter den Bedingungen fortgeschrittener Modernisierung
immer weniger plausibel erscheint. Die Akzeptanz einer Institution und der von ihr
getragenen Inhalte, Ausdrucksformen und Traditionen wird zu einem Akt bewußter
Entscheidung des und der Einzelnen.
„Das Tradieren wird - sofern Prozesse des Einladens und Hinführens gelingen, zu einem aktiven,
partizipatorischen und meist nur zeitweiligen Mittun, dem nicht die Vorstellung von der lebenslang
246 Gabriel (1994) 56.
247 Ebd. 57.
248 Ebd. 58.

unauflöslichen Schicksalsgemeinschaft, sondern der der aufkündbaren Wahlvergemeinschaftung
zugrundeliegt.“ 249
Dies gilt erst recht für die Jugendlichen. Sie entziehen sich mehrheitlich jeder univer-
salen weltanschaulichen Vereinnahmung, so daß ihre Anfälligkeit für lebenstotalitä-
re, strikt auf Gehorsam angelegte Entwürfe von Sekten oder politischen Gruppierun-
gen weit geringer ist, als die massenmediale Präsentation solcher Phänomene glauben
macht. 250
4.4.2 Individualisierung von Religiosität
Religion wird nicht mehr entlang der herkömmlichen Autoritätslinien von Familie,
Kirche und Staat vermittelt, sondern als Auswahl von Sinndeutungen, Symbolen und
Ritualen. 251 Dies führt, wie bereits gezeigt, zu einer Individualisierung religiöser Er-
fahrung und mithin auch religiöser Prägung. Religionsvermittlung ist also nicht mehr
traditional geprägt und wie selbstverständlich durch die kirchlichen Institutionen ge-
tragen, sondern Konstruktion des Individuums je nach seinen mehr oder minder zu-
fälligen Kontakten mit religiösen Angeboten. So kann es, wenn jeder und jede Ein-
zelne selbst für die Art der eigenen religiösen Orientierung zuständig ist, nicht wun-
dern, daß die individuelle Religion stark synkretistischen Charakter annimmt. Es ist
einsichtig, daß nach der Freisetzung des Individuums aus traditionalen Bindungen
Glaubensvermittlung oder -bewahrung über eine dauerhafte Bindung an die Instituti-
on nicht mehr ohne weiteres plausibel gemacht werden kann. 252 Insbesondere Jugend-
liche entziehen sich einer als fremdbestimmt empfundenen religiösen Praxis, die mit
ihrem Leben nichts zu tun hat, und fühlen sich mit dieser Begründung der Kirche
häufig nicht zugehörig. 253 Vor allem gegenüber kirchlich dogmatisierten Formulie-
rungen zeigen sie deutliche Ablehnung. So fällt es ihnen mehrheitlich leichter, Sät-
zen, die ‘Leben’ und ‘Natur’ in einen allgemeinen religiösen Ordnungszusammen-
hang setzen, zuzustimmen als dogmatisierten Formulierungen wie ‘Gott der sich in
Jesus Christus zu erkennen gegeben hat’. 254
Insgesamt zeigen Jugendliche mehrheitlich eine starke Entfremdung von der Kirche
als Institution, nicht zuletzt deshalb, weil sie als Repräsentantin der Erwachsenenkul-
249 Feige (1994) 81.
250 Vgl. ebd.
251 Vgl. Gabriel (1994) 64.
252 Vgl. Feige (1994) 81.
253 Vgl. ebd. 82.
254 Vgl. Feige (1993) 545. Vgl. dazu auch Lukatis/Lukatis.

tur gesehen wird. 255 Zinnecker zeigt durch einen Vergleich von empirisch-quantitati-
ven Jugendstudien, daß die sozial-integrierende Kraft der Kirchen seit den 50er Jah-
ren abgenommen hat, wobei insbesondere die 70er Jahre einen signifikanten Wandel
in diese Richtung mit sich brachten. 256 Seit den 50er Jahren haben sich die Zahlen der
Jugendlichen, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, und derer, die einer kirchli-
chen Jugendgruppe angehören, halbiert. 257 Der Religionsunterricht wird zwar in der
letzten Shell-Studie noch von 12 % der befragten Jugendlichen als Lieblingsfach ge-
nannt, steht aber insgesamt am Ende der Beliebtheitsskala der schulischen Unter-
richtsfächer. 258 Die Mitarbeit in der Kirche rangiert unter den Möglichkeiten, „was je-
der von uns für eine bessere Gesellschaft tun könnte“, weit hinten und gilt als genau-
so unwichtig wie die Mitarbeit in politischen Parteien. 259 Die Zahl der Jugendlichen,
die ihr Christentum in der Kirche verankert sehen, ist nach den Untersuchungen
Schmidtchens seit 1975 auf die Hälfte gesunken: „Das institutionelle Christentum
geht zurück, unbehauste Religiosität dringt vor.“ 260
Dies bedeutet aber keineswegs, daß Jugendliche sich als areligiös bezeichnen. 261 Vie-
le Jugendliche bezeichnen sich als religiös, aber nicht unbedingt als christlich. Der
Maßstab für eine positive Bewertung des Christentums ist dessen Beitrag zur Lösung
wichtiger Alltagsprobleme. 262
Die Shell-Studien der Jahre 1985 und 1992 zeigen stabile bzw. leicht ansteigende
Zahlen zur Betpraxis Jugendlicher und zu deren Glauben an ein Leben nach dem
Tod. 263 Das Interesse an Spiritualität und Transzendenz von Ich und Alltagswelt ist
also nicht rückläufig. 264
Um ein realistisches Bild der Religiosität Jugendlicher zu erhalten, muß nun nach
dieser Betrachtung grundsätzlicher Tendenzen der Individualisierung, Privatisierung
und Entinstitutionalisierung der Religiosität eine stärkere Differenzierung nach ju-
gendlichen Religiositätsstilen unternommen werden. Ich orientiere mich hierbei an
der Kategorisierung von Karl Gabriel 265 , weil sie in engem Bezug zur dargestellten
255 Vgl. Gabriel (1994) 64.
256 Vgl. Zinnecker 115.
257 Vgl. ebd. 116.
258 Vgl. ebd. 117.
259 Vgl. ebd. 118 sowie Jugendwerk der Deutschen Shell (1985) 187f. 288f.
260 Schmidtchen (1993) 165f. (Zitat S. 165).
261 Vgl. dazu Feige (1993) 82 sowie Lukatis/Lukatis 119.
262 Feige (1993) 547.
263 14% der akirchlichen bzw. nicht konfessionell gebundenen Jugendlichen beten und 40% glauben an
ein Weiterleben nach dem Tod. Vgl. Zinnecker 119 aufgrund von Berechnungen nach der Shell-Jugendstudie
1992. Vgl. auch Eiben 94.
264 Vgl. Zinnecker 119.
265 Gabriel (1994) 66-68.

Differenzierung jugendkultureller Szenen nach Wilfried Ferchhoff steht und darüber
hinaus mit den von Heiner Barz 266 unterschiedenen Teilgruppen kompatibel ist.
4.4.3 Jugendliche Religiositätsstile
4.4.3.1 Religiosität der institutionell-integrierten Jugendlichen
Die institutionell-integrierten Jugendlichen zeichnen sich aus durch eine pragmatisch
lockere bis enge Familienorientierung. Unter diesen Familienorientierten 267 finden
sich viele Jugendliche, die offen sind für Formen kirchengebundener Religiosität. 268
Sie sind ansprechbar für Probleme und soziale Bezüge sowie für die Frage nach dem
Sinn des Lebens, auf die durchaus Antworten aus christlich-religiösem Kontext ge-
sucht werden. 269 Sie organisieren sich gern in Familiengruppe, Nachbarschaft, und
gemeindlichen Gruppen 270 , dem traditionalen Kontrollnetz also, weshalb Zinnecker
bei ihnen eine „retardierte Modernität“ 271 diagnostiziert, verstärkt durch eine gewisse
biographische Verspätung, vor allem wegen der späteren emotionalen und auch öko-
nomischen Ablösung vom Elternhaus. Die meisten der institutionell-integrierten Ju-
gendlichen - vorrangig die, die sich regelmäßig in kirchlichen (Verbands-)Gruppen
organisieren, besuchen Gymnasium oder Universität, während Haupt- und Realschü-
ler mehrheitlich keiner formellen Organisation angehören. 272 Man muß also festhal-
ten, daß die kirchlich aktive Jugend mehrheitlich einer sozialen Bildungselite ange-
266 Vgl. Barz (1992b) 29-32. Während die bisher meist zugrundegelegten Ergebnisse der Shell-Studien
und die auch noch anzusprechende Werte-Studie von Schmidtchen quantitative Untersuchungen
sind, so legt Barz eine qualitative Studie vor, in der er insgesamt 86 Jugendliche (davon 62 aus der alten
Bundesrepublik) untersucht hat. Bei der Auswahl der Befragten unterscheidet er sechs von ihm
bzw. den Auftraggebern vorher festgelegte Teilgruppen: Jugendliche ohne offen religiöse Praxis, die
religiös desinteressiert sind, solche die zwar keine offen religiöse Praxis haben, aber religiös interessiert
sind, Okkultismusnahe und New-Age-Nahe (beide zusammen unter dem Begriff „Häretiker“ zusammengefaßt)
sowie Kirchennahe mit missionarisch-biblischer Orientierung und ebensolche mit politisch-diakonischer
Orientierung.
267 Bei Lenz (1988) werden die von Ferchhoff sogenannten institutionell-integrierten Jugendlichen familienzentriert
genannt. Vgl. Lenz (1988) 155-214.
268 Vgl. Zinnecker 129, Gabriel (1994) 66.
269 Bei den Gesprächsauswertungen von Barz über den Sinn des Lebens sieht ein großer Teil der kirchennahen
Jugendlichen mit politisch-diakonischer Orientierung Gott als Identitätsstütze; Selbstverwirklichung
und Sinnfindung vollzieht sich über den je selbstgewählten Bezug auf Bibel, Gott und Jesus.
Vgl. Barz (1993b) 91. Die missionarisch-biblisch orientierten kirchennahen Jugendlichen betrachten
das christliche Identifikationsangebot als Entlastung und Lebensleitfaden, Religion gilt als Garant
von Lebenssinn. Vgl. ebd. 90.
270 Die kirchennahen Jugendlichen in der Untersuchung von Barz nennen ebenfalls die Eltern als wichtige
bis sehr wichtige Bezugspersonen, ebenso Freunde und die christliche Jugendgruppe. Vgl. ebd.
96f.
271 Zinnecker 129.
272 Vgl. ebd. 130.

hört. 273 Auch in der Werte-Studie von Schmidtchen finden sich zum Religiositätsstil
der institutionell-integrierten Jugendlichen vergleichbare Ergebnisse. 274 Schmidtchen
hat aber einen anderen Ausgangspunkt, wenn er fragt: „Wie stehen junge Christen im
Leben?“ 275 Für junge Christinnen und Christen weist er nach, daß diese sich mit ihren
Anliegen und Ansichten in kirchlichen Gruppen gut aufgehoben und ernstgenommen
fühlen, mit ihren Eltern zufriedener sind, in Vereinen auch außerhalb der Kirche akti-
ver sind und insgesamt eine bessere soziale Einbindung haben, die „wie von Spiritua-
lität getragen“ 276 wirkt. Sie zeigen eine höhere Normenkonformität und haben weni-
ger Brüche in der Sozialisation, weil - so nimmt Schmidtchen an - die christlichen
Familien eine höhere Stabilität aufweisen. 277 Insgesamt zeichnen sie sich durch grö-
ßeres persönliches Zukunftsvertrauen aus, eine höhere Berufsorientierung und ein po-
sitiveres Lebensgefühl, womit sie bessere Chancen für eine gelungene Persönlich-
keitsentwicklung haben. Man muß allerdings kritisch anmerken, daß diese Merkmale
zum großen Teil auch für das Gesamt der institutionell-integrierten Jugendlichen gel-
ten, auch wenn man nicht wie Schmidtchen nach christlich sozialisierten und nicht
christlich sozialisierten Jugendlichen unterscheidet. Offensichtlich ist es vor allem
das familiale Klima, die Intensität der Beziehung zu den Eltern und die Einbindung
in soziale Netzwerke, die eine größere Ansprechbarkeit für die Angebote christlicher
Lebensorientierung mit sich bringen.
4.4.3.2 Der subkulturelle Religiositätsstil
Diese Art von Religiosität muß aus der Perspektive eines weiteren Religionsbegriffs
gesehen werden. Religion wird hier subjektiv umgedeutet und hat keinen Bezug zur
Institution Kirche. 278
Der Rückgriff dieser Jugendlichen auf religiöse Symbole und Rituale ist eine Art
Protest gegen die Erwachsenenkultur. Sie erleben einerseits den Alltag als weitge-
hend säkularisiert, Religion, die Erfahrung von Tod und Endlichkeit werden ausge-
blendet, ebenso wie magische Elemente und intensives Gefühlserleben. Andererseits
ist das komplette Feld des Religiösen freigegeben für private und informelle Zwecke,
so daß viele Jugendliche eine je individuelle Bricolage aus unterschiedlichen kultu-
rellen und religiösen Elementen zu neuartigen, eigenwilligen, privaten Deutungen zu-
273 Vgl. ebd.
274 Vgl. Schmidtchen (1993) 168-172.
275 Ebd. 168.
276 Ebd. 170.
277 Ebd. 172.
278 Vgl. Zinnecker 136.

sammenstellen. 279 Zu den Elementen dieser subkulturellen Religiosität gehören ok-
kulte Praktiken unter Verwendung von Todessymbolen. Vieles spricht dafür, daß das
okkulte Experimentieren Teil der identitätsbildenden Auseinandersetzung Jugendli-
cher mit der sozialen Realität ist und die Voraussetzung für ein kritisches Verständ-
nis mit der Transzendenzqualität der z.B. in spiritistischen Sitzungen gemachten Er-
fahrungen ist. 280 Es handelt sich letztlich weniger um eine Art Jugendreligion, son-
dern eher um eine Jugendkultur, in der Todesgedanken und die Erfahrung von Sinn-
losigkeit symbolisch ausagiert werden. Religiöse Elemente werden zwar spielerisch
verwendet, ein konsistenter Sinn wird hier aber nicht gesucht. 281
4.4.3.3 Der gegenkulturelle, selbstreferentielle Religiositätsstil
Hier geht es um Religiositätsstile aus dem Bereich der Neuen Religiösen Bewegun-
gen und des New Age. Es handelt sich hier nicht um ein typisches Jugendphänomen,
sondern dieses Feld rekrutiert sich zum größten Teil aus Frauen zwischen 30 und 50
Jahren. 282 Jugendliche, die hieran teilhaben, stammen meist aus bildungspriviligierten
Milieus mit verlängertem Jugendmoratorium. 283 Ihr Zugang zur Religiosität ergibt
sich aus dem gestiegenen Anspruch auf Ich-Bezug und Selbstreflexivität, sie wollen
das Alltags-Ich durchbrechen und der rational geprägten westlichen Zivilisation kul-
turelle Gegenentwürfe gegenüberstellen, wobei insbesondere auf fernöstliche Lebens-
und Glaubenstraditionen zurückgegriffen wird. 284
4.4.3.4 Der christlich-prophetische Religiösitätsstil kritisch-engagierter Jugendlicher
Ein Teil der Aktivitäten der kritisch-engagierten Jugendlichen enthält christlich-pro-
phetische Motive und Varianten. 285 Diese Jugendlichen wollen die Trennung von Re-
ligion und Politik überwinden und „eine gesellschaftskritische politische Praxis aus
dem christlichen Glauben heraus begründen.“ 286 In Ostdeutschland zeigen sich unter
kirchlich gebundenen Jugendlichen häufig gesellschaftskritische und nonkonforme
Lebensentwürfe, während unter den westdeutschen Kirchengebundenen die private
279 Vgl. ebd. 137 sowie Gabriel (1994) 66.
280 Vgl. Feige (1993) 553.
281 Vgl. ebd. 553f.
282 Vgl. ebd. 551.
283 Vgl. Zinnecker 139.
284 Vgl. ebd. sowie Gabriel (1994) 67.
285 Vgl. ebd. 67.
286 Ebd. 68.

Religiosität der Familienzentrierten vorherrscht. 287 Es spricht aber einiges dafür, daß
sich die Minderheit kritisch-engagierter Christen und Christinnen vornehmlich in den
kirchlichen Jugendverbänden innerhalb der Dachverbände BDKJ und aej findet. 288
287 Vgl. Eiben 99f.
288 Vgl. Gabriel (1994) 68.

5 Individuation
Am Anfang dieses Kapitels muß eine gewisse Verlegenheit stehen, die sich aus dem
Titel dieser Arbeit ergibt: Individuation in der Individualisierung. Der Grund für die-
se Formulierung ist zunächst ein ganz einfacher: Sie enthält ein schönes Wortspiel,
eine Figur Etymologica. Dahinter steht, daß diese Arbeit sich der Frage stellt, wie
sich unter den Bedingungen der Individualisierung die „Vision wahren, gelingenden
Menschseins zur allmählichen und den eigenen individuellen Möglichkeiten entspre-
chenden Ausprägung“ 289 bringen läßt.
Dies verweist auf die Frage nach der Ausbildung von Identität. Worin besteht nun
der Zusammenhang zwischen Individualität und Identität? Unter Identität versteht
man gemeinhin Nämlichkeit, Einheitlichkeit, Sichselbstgleichheit, d.h. ein Gegen-
stand ein Sachverhalt oder ein Einzelwesen ist in allen Zusammenhängen immer der-
bzw. dasselbe. Individualität verweist auf das, was einen Gegenstand, Sachverhalt
oder Einzelwesen von anderen unterscheidet, also auf unverwechselbare, einmalige
Züge. 290 Auf Personen angewendet treten hierbei Innen- und Außenperspektive ausei-
nander. Eine Person kann in der Wahrnehmung anderer durchaus als identisch oder
individuiert erscheinen, sich selbst aber als zerrissen - also nicht identisch - oder als
nicht einmalig, sondern als von (zugeschriebenen) Rollen bestimmt und damit als
nicht individuiert erfahren. Für die Außenzuschreibung von Identität genügt die
Wahrnehmung einer konsistenten körperlichen Erscheinung, eine gewisse Kohärenz
im Lebenslauf sowie Verhaltenskonsistenz, also die Zurechenbarkeit des Verhaltens
zu einem als einheitlich wahrgenommenen Muster. Dabei kann es für die Wahrneh-
mung eines Menschen als ‘identisch’ genügen, wenn er eine soziale Rolle so erfüllt,
daß man ihn in seinem Handeln als denselben wiedererkennt. Als individuell wird
eine Person von anderen wahrgenommen über bestimmte einmalige Körpermerkmale
(Statur, Daumenabdruck, Gesichtszüge etc.), die individuelle Verortung innerhalb ei-
nes bestimmten sozialen Beziehungsnetzes sowie die Besonderheit bestimmter Ver-
haltensweisen, Orientierungen, Äußerungen, Geschmacksvorlieben etc. 291 Aus der
Außenperspektive lassen sich Individualität und Identität klar unterscheiden. Eine
Person kann z.B. eine deutliche Verhaltenskonsistenz aufweisen, also Identität, ohne
aber eine besondere Individualität erkennen zu lassen, indem sie etwa eine bestimmte
Rolle („typischer Lehrer“) erfüllt. Umgekehrt kann eine Person sich dadurch als indi-
289 Bitter/Englert 351.
290 Vgl. Nunner-Winkler (1985) 466.
291 Vgl. ebd. 466f.

viduell auszeichnen, daß sie gerade keine ‘identische’ Konsistenz im Verhalten auf-
weist. 292
In der Binnenperspektive des Individuums fallen Identität und Individualität tenden-
ziell zusammen. Dies wird deutlich, wenn man die entwicklungspsychologische Dif-
ferenzierung des Identitätsbegriffs in natürliche Identität, Rollenidentität und Ich-
Identität nachvollzieht. Die natürliche Identität eines Kindes besteht darin, daß es
sich allmählich als ein von der unmittelbaren Bezugsperson unterschiedenes und ge-
trenntes Wesen erfährt. Sie wird abgelöst von der Rollenidentität, in der das Kind
wenige fundamentale Rollen erkennt, v.a. seine Zugehörigkeit zu einem Geschlecht
und einer Generation. Damit wäre Identitätsbildung vornehmlich ein Prozeß der So-
zialisation als Einfinden in eine bestimmte soziale Rolle, als das Finden des eigenen
Ortes innerhalb sozialer Beziehungen. Um aber Ich-Identität zu erlangen, muß die
Rollen-Identität in Frage gestellt werden. Es tritt das Bedürfnis nach Individualität
hervor, also die Fähigkeit wahrnehmen zu können, daß ich es bin, die fühlt, wahr-
nimmt, denkt und handelt. Individualität aus der Binnenperspektive des Individuums
ist die Bestimmung seiner selbst als unverwechselbar, unaustauschbar, unersetzlich
und einzigartig. 293 Identitätsbildung als Herausbildung einer Ich-Identität vollzieht
sich also im Zusammenspiel von Individuation und Sozialisation bzw. Erziehung.
Wenn also im Titel dieser Arbeit von Individuation die Rede ist, so ist das eine ge-
wisse Verkürzung meines Anliegens, die sich allein der Freude am Wortspiel ver-
dankt. Das eigentliche Anliegen ist die Frage nach den Chancen und Grenzen der He-
rausbildung individuierter Identität als allmähliche Wahrnehmung und Entwicklung
von Bedürfnissen, Wünschen, Fähigkeiten, Zielen, aber auch Beschränkungen und
Grenzen.
Die Ambivalenz der Individualisierung scheint den religionspädagogischen An-
spruch, die Menschwerdung des einzelnen zu begleiten, zu bestätigen. Individuation
und Identitätsbildung als wichtigste Entwicklungsaufgabe des Jugendalters stehen in
nahezu allen Konzepten nicht nur kirchlicher Jugendarbeit 294 an zentraler Stelle; vor
292 Vgl. ebd. 468.
293 Vgl. ebd. 467f. Nunner-Winkler verwendet allerdings den Begriff der Ich-Identität nicht.
294 Vgl. dazu etwa den richtungsweisenden Beschluß der Würzburger Synode „Ziele und Aufgaben
kirchlicher Jugendarbeit“ (1975), durch den der induktive Ansatz (kirchlicher) Jugendarbeit Einzug in
lehramtliche Dokumente zur Jugendarbeit gehalten hat. In den anthropologischen Ansatz fließen mit
einer Analyse „gesellschaftlicher und psychosozialer Bedingungen heutiger Jugendarbeit“ (Kap. 2) humanwissenschaftliche
Erkenntnisse ein, wobei dieser mit theologischen Sichtweisen verbunden wird.
Der Identitätsbegriff ist die entscheidende Leitkategorie des Synodenbeschlusses: „Der Mensch verfolgt
das Ziel, sich selbst zu verwirklichen. Er nennt dieses Ziel Glück, Liebe, Friede, Freude, Heil -
und selbst im Scheitern läßt er nicht von diesem Ziel. Die Suche nach diesem Ziel prägt sich beim jungen
Menschen besonders darin aus, daß er nach Herkunft, Ziel und Sinn seines Lebens fragt, sein per-

dem Hintergrund der sich verschärfenden Individualisierung wohl mit immer größe-
rem Recht. Der einzelne steht vor der Aufgabe - wie Ulrich Beck es formuliert - „sich
selbst als Handlungszentrum, Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf,
seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen.“ 295 Mehr noch:
Für die Zwecke des eigenen Überlebens muß der einzelne ein „ichzentriertes Welt-
bild“ 296 entwickeln.
Dies ist der Ansatzpunkt für die erste Kritik an der Perspektive des Individuums: In-
dividualisierung wird oft mißverstanden als Individualismus, der Solidarität und En-
gagement ausschließt und nur das private, auf den einzelnen Menschen selbst bezo-
gene kleine Glück im Blick hat. Letztlich wird hier Individualisierung gleichgesetzt
mit Individualismus und Egoismus. Die ausführliche Darstellung der Individualisie-
rungsdiagnose nach Ulrich Beck hat aber gerade gezeigt, daß dieses Mißverständnis
ausgeschlossen ist: Der Zwang zur Selbstreferenz ist ein strukturell erzeugter, dem
man nicht entkommen kann. Die Individualisierung von Lebenslagen, Biographie-
mustern und Entscheidungen, mithin also auch religiöser Entscheidungen, darf nicht
den einzelnen angelastet werden. Es kann hier also nicht darum gehen, den Jugendli-
chen, die ja im Mittelpunkt meiner Überlegungen stehen, ihre Devianz von ehedem
unhinterfragten Verhaltensorientierungen und Normen vorzuwerfen. Es ist nicht das
Zuviel an Individualität, das in der Kritik stehen soll, sondern es geht vielmehr um
die Frage, wie angesichts der identitätsgefährdenden Folgen der Individualisierung
Jugendliche bei ihrem prekären Bemühen, eine individuierte Identität auszubilden,
unterstützt werden können. 297
sönliches, unverwechselbares Selbst, seine Identität sucht, sich nach Glück sehnt und von seinen Mitmenschen
angenommen sein möchte. Hier muß eine kirchliche Jugendarbeit ansetzten. Sie muß den
jungen Menschen erleben lassen, daß gerade der christliche Glaube mehr als alle anderen weltanschaulichen
Angebote den Weg zu Selbstverwirklichung freimacht und somit auf seine Frage nach Sinn,
Glück und Identität antwortet, die immer auch die Frage nach dem Gluck, dem Heil und der Identität
aller einschließen muß.“ Synodenbeschluß „Ziele und Aufgaben kirchlicher Jugendarbeit“ 294 (Hervorh.
von mir).
295 Beck (1986) 217.
296 Ebd. (Hervorh. im Original).
297 Vgl. Mette 187.

5.1 Die Konsequenzen der Individualisierung für das Individuum
Der Ambivalenz der Individualisierungsprozesse entspricht eine Ambivalenz ihrer
Interpretationen im Hinblick auf die Auswirkungen auf das Individuum, insbesondere
auf die Möglichkeiten der Herausbildung individuierter Identität. 298 Die Identitätsfra-
gen lauten: „Wer bin ich? Wer will ich sein? Was wollen die anderen, das ich sei?“
Diese Fragen weisen die möglicherweise vom einzelnen als identitätsgefährdend
wahrgenommene Spannung zwischen Individualität (im Sinne von Einzigartigkeit
und Einmaligkeit) und sozialer Rolle auf.
Werfen wir noch einmal einen Blick auf die drei von Beck unterschiedenen Dimen-
sionen der Individualisierung. Die ‘Freisetzungsdimension’ betont die Seite der er-
höhten Chance zur Identitätsbildung. Freisetzung bedeutet: Mehr Gestaltungsspiel-
raum und weniger Vorgaben ermöglichen es dem und der einzelnen, sich selbst zum
Konstrukteur seiner bzw. ihrer Identität zu machen. Doch gleichzeitig wird die Iden-
titätsbildung durch zwei Faktoren erschwert. Mit dem Blick auf die zweite Dimensi-
on, die Entzauberungsdimension, wird deutlich, daß der Wegfall von ehedem durch
Tradition bestimmten Identitätsvorgaben auch einen Verlust bedeutet. Woher nimmt
der bzw. die einzelne die Kriterien für die Wahl, wenn scheinbar alles möglich ist?
Und die Einbeziehung der dritten Dimension der Analyse Becks zeigt, daß eben die
Faktoren, die Individualisierung bewirken, Individuation erschweren. Die Vorgaben
etwa des Bildungssystems und des Arbeitsmarkts setzen - wie wir gesehen haben -
dem scheinbaren anything goes seine Grenzen: „Der Zuwachs an Individualisierung-
schancen wird also durch Prozesse der Entindividualisierung, durch die Verbreitung
subjektiver Gefühle individueller Ersetzbarkeit und Austauschbarkeit, begleitet und
konterkariert.“ 299
Für eine weitere Klärung der Frage nach den Auswirkungen der Individualisierung
auf den einzelnen und die einzelne muß noch einmal tiefer in die Ambivalenz des In-
dividualisierungsprozesses eingestiegen werden, das „widersprüchliche Doppelge-
sicht von Freiheit und Abhängigkeit“ 300 . In der jugendsoziologischen Debatte werden
die beiden Pole der Individualisierung, die Beck und Beck-Gernsheim als „riskante
Freiheiten“ 301 zusammendenken, anhand der Positionen von Werner Fuchs und Mar-
298 Wenn im folgenden von Identität die Rede ist, meine ich die oben definierte Ich-Identität bzw. individuierte
Identität als Zusammenspiel von Sozialisation und Individuation.
299 Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 20.
300 Lenz (1994) 14.
301 So lautet der Titel eines von den beiden Autoren herausgegebenen Sammelbandes. Vgl. Beck/Beck-
Gernsheim (1994).

tin Baethge deutlich, die jeweils eine Seite - Fuchs die Chancenseite, Baethge die
Riskenseite - herausstellen. 302
5.1.1 Die Chancenseite der Individualisierung
Werner Fuchs’ Hauptthese zu den Auswirkungen der Individualisierungsprozesse auf
den einzelnen und die einzelne lautet:
„Jugend als Vorbereitungszeit zum Erwachsenendasein wird überlagert und durchsetzt von Formen,
mindestens: Möglichkeiten eines Lebens aus eigener Verantwortung und eigenem Recht.“ 303
Fuchs deutet Individualisierung vorrangig als Vorgang der Freisetzung, Emanzipati-
on und gestiegener Autonomie von Jugendlichen. Er geht davon aus, daß die bereits
dargestellte Erweiterung von Wahl- und Handlungsmöglichkeiten mit der Verwirkli-
chung eines individuierten, selbstverantworteten Lebensstils einhergeht:
„Mit sich selbst gehen Jugendliche zugleich sensibler und anspruchsvoller um. Ihre Identitätsvorstellungen
und Lebensentwürfe arbeiten sie sorgsamer und differenzierter aus. In Auseinandersetzungen
über Wertvorstellungen, über Lebensstile, über Erwartungen an Arbeit, Verdienst und Lebensstandard
wollen sie von den Älteren als gleichberechtigte Gesprächspartner akzeptiert werden,
mit eigenem Entscheidungsanteil. [...] Stärker als frühere Jugendliche fassen Jugendliche heute ihre
Lebensführung als gegenwärtig begründete Existenzform auf, nicht nur - oder gar überhaupt nicht -
als Vorbereitung aufs spätere Erwachsensein.“ 304
Er geht also davon aus, daß das Jugendalter stärker noch als früher eine Zeit ist, in
der Jugendliche einen Freiraum haben, um ihre Identität zu bilden. So deutet er die
Verlängerung der Schul- und Ausbildungszeiten als „Zeitgewinn für die Persönlich-
keitsentwicklung und die in diesem Alter anstehende Selbstsozialisation“ und als
Chance für eine „reichere und stabilere Ausbildung der Persönlichkeit vor Beginn der
Arbeitsbiographie“. 305 Ähnlich positiv deutet er auch den biographisch früheren Zu-
gang Jugendlicher zum Waren- und Medienkonsum. Durch das frühe Hineinwachsen
in die Rolle des Konsumenten haben sie die Möglichkeit, „die freie Entscheidung im
Hinblick auf den Erwerb von Waren zu probieren“ 306 . Die gestiegene Medienvielfalt
eröffne ihnen einen „unproblematischen Zugang zu einem riesigen Feld von Stoffen,
Informationen, Werten, Biographien und Dramatisierungen, [...] aus dem sie Anre-
gungen, Vorbilder und Material für persönliche Entscheidungen und für Entscheidun-
gen im Hinblick auf die eigene Persönlichkeit gewinnen können.“ 307 Zu vergleichba-
302 Vgl. zu der Gegenüberstellung der beiden Positionen auch Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung
23-27.
303 Fuchs 340.
304 Ebd.
305 Ebd. 344.
306 Ebd. 351 (Hervorh. im Original).
307 Ebd. 351.

en Schlüssen kommt Fuchs bei der früheren Selbständigkeit Jugendlicher beim Rei-
sen, den früheren Erfahrungen mit Sexualität sowie dem Auszug aus dem Elternhaus
vor der ökonomischen Unabhängigkeit von den Eltern.
Die Ambivalenz des Strukturwandels der Jugendphase geht bei Fuchs weitgehend
verloren, wenn er den Funktionsverlust der Jugendphase als Vorbereitung auf das Er-
wachsenenleben allein unter dem Aspekt der erweiterten Optionen behandelt. Und
genau diese Erweiterung der Optionen versteht Fuchs als ausschließlich positiv für
den Prozeß der Identitätsbildung. Bei der Überbetonung der gestiegenen Wahl- und
Handlungsmöglichkeiten geht aber die dritte Dimension der Individualisierung, näm-
lich die Restandardisierung, verloren. Die insbesondere von Beck geltend gemachten
Resultate der neueren Forschung zur sozialen Ungleichheit zeigen demgegenüber,
daß die Optionsvielfalt immer als widersprüchlich zu begreifen ist und daß deren
Chancen nicht von allen Jugendlichen gleichermaßen wahrgenommen werden kön-
nen. 308
Wichtiger noch ist, daß er auch die zweite Dimension der Individualisierung nicht im
Blick hat: den Verlust von Halt durch das Fehlen orientierunggebender Bindungen.
5.1.2 Die Risikenseite der Individualisierung
Der andere Pol in der Debatte wird besonders pointiert von Martin Baethge vertreten.
Baethge stellt im Anschluß an Beck eine „Tendenz zu einer doppelten Individualisie-
rung“ fest, was bedeutet, „daß sich im Zuge der Ausdifferenzierung von Lebensbe-
dingungen und Lebenslagen in bürgerlichen Gesellschaften ehemals klassen- bzw.
schichtenspezifische Sozialisationsmuster auflösen und individualisieren“ und daß
sich Inhalt und Formen der Sozialisation verändern, „die im Zuge fortschreitender
Verselbständigung der Sozialisation dieser Altersphase [der Jugend, I.S.] und ihrer
Herauslösung aus den unmittelbaren Arbeitsprozessen immer mehr Momente indivi-
dualistischer Identitätsbildung annehmen und immer mehr Momente kollektiver
Identitätsbildung verlieren.“ 309 Doch dieser Paradigmenwechsel im Zusammenspiel
von Sozialisation und Individuation zugunsten letzterer führt nach Baethge nicht in
die Erfüllung des aufklärerischen Traums vom freien, selbstbewußten und gebildeten
Individuum, sondern kann tendenziell zur „endgültigen Vernichtung von Individuali-
308 Vgl. dazu Kap. 2.2.3 dieser Arbeit sowie auch Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 24f.
309 Alle Zitate Baethge 301(Hervorh. im Original).

tät“ 310 beitragen. An seinem Hauptargument, das an der durch die Verlängerung der
Ausbildungsphase bedingten Ferne der Jugendlichen von der Arbeitswelt ansetzt, ist
ein gutes Beispiel dafür, wie ein und dasselbe soziale Phänomen von Fuchs und Ba-
ethge völlig entgegengesetzt bewertet wird. Nach Baethges Ansicht hat die längere
Verweildauer im Schulsystem wenig positive Folgen für eine gelungene Identitätsbil-
dung, vor allem deshalb, weil in der Schule ein „Typus rezeptiver Tätigkeit und pra-
xisentzogener Lernprozesse“ 311 vorherrscht, womit immer mehr Jugendliche der
Möglichkeit enthoben sind,
„Arbeit und Beruf als geeignete Basis der Identitätsbildung zu erleben und dementsprechend im
positiven Sinne lebensperspektivisch wirksame Arbeits- und Berufsorientierungen aufzubauen, die
verhaltenssteuernd wirken könnten und um die es sinnvoll und lohnend erschiene, die eigenen Lebensaktivitäten
zu organisieren.“ 312
Der Bedeutungsverlust der Arbeit als identitätsstiftender Faktor für Jugendliche be-
fördert individuelle Identitätsmuster anstelle von kollektiven. Baethge befürchtet, daß
dadurch anstelle von arbeits- und lebensweltlicher Gemeinschafts- und Solidaritätser-
fahrungen eine individualistische Leistungsmoral gefördert wird, die im Falle ihres
Versagens letztlich in Vereinsamung und Vereinzelung führt, womit er Individuali-
sierung im Gegensatz zu Fuchs nicht als Chance zu Autonomie, sondern als Gefahr
der Schwächung des Subjekts begreift.
Dieser Ansatz mag zunächst als gelungenes Korrektiv für den von Fuchs als Chance
zu größerer Autonomie gefeierten Wegfall von traditionalen Bindungen verstanden
werden. In der Tat ist ja der Freiheitsgewinn gleichzeitig mit Verlusten verbunden, in
Baethges Argumentation als Verlust von solidarischen Klassenbindungen. Allerdings
ist seine Argumentation insofern einseitig, als sie die Arbeitswelt idealisiert und die
realen Erfahrungen der Unter- und Überordnungsverhältnisse in der Arbeitswelt zwar
nicht als positive bzw. politisch zu begrüßende, aber doch für die Identitätsbildung
allein förderliche Erfahrungen begreift. 313
310 Ebd.
311 Ebd. 305.
312 Ebd. 309.
313 Vgl. zu dieser Kritik auch Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung 27.

5.1.3 Riskante Chancen: Identität als Patchworkidentität
Beide oben dargestellte Positionen begreifen Identitätsbildung als für die Jugendpha-
se vorrangig anstehende Aufgabe. Fuchs kommt nach einer Analyse der durch die In-
dividualisierung sich für den einzelnen Jugendlichen ergebenden Chancen zu der
Schlußfolgerung, daß der und die einzelne heute wachsende Möglichkeiten haben,
eine individuierte Identität auszubilden; Baethge hingegen betont, daß Identitätsbil-
dung unter den Bedingungen gestiegener Wahlmöglichkeiten (wobei er v.a. den
Zwang zur Wahl herausstellt) zu einem immer wichtigeren Projekt wird. Der Adoles-
zenz kommt nach Baethge eine höhere normative Bedeutung in ihrer Zielsetzung -
der Herausbildung einer Ich-Identität - zu.
Festzuhalten bleibt: Identitätsbildung gerät als Anspruch, Anregung und Aufforde-
rung an den einzelnen Jugendlichen immer mehr in den Vordergrund, gleichzeitig
wird sie zu einem immer anspruchsvolleren Projekt.
Die gegenwärtige Entwicklung scheint nahe zu legen, daß eine gefestigte Ich-Identi-
tät kaum noch erreichbar ist und der pathogene Grenzfall multipler Identitäten, also
das Vorhandensein mehrerer Persönlichkeiten innerhalb desselben Individuums, zum
Normalfall geworden ist. 314 Jedenfalls scheint vor dem Hintergrund der Individuali-
sierung das schon klassisch gewordene Modell der Ich-Identität von Erik Erikson ins
Wanken geraten zu sein. Nach Eriksons Modell, das acht Phasen, in denen jeweils
eine für die weitere Entwicklung wichtige psychosoziale Krise durchlebt werden
muß, unterscheidet, ist in der fünften Phase, der Adoleszenz, das Konfliktpaar „Iden-
tität“ versus „Identitätsdiffusion“ zu lösen. 315 Die alten Kindheitsidentifikationen rei-
chen nicht mehr. Die entscheidende Leistung der Adoleszenz besteht darin, „daß die
in der Kindheit gesammelten Ich-Werte in die Ich-Identität münden“. 316 Unter dem
„Gefühl der Ich-Identität“ versteht er „das angesammelte Vertrauen darauf, daß der
Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit
entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psy-
chologie) aufrechtzuerhalten.“ 317 Die Adoleszenzkrise ist erst dann erfolgreich abge-
schlossen, wenn der Jugendliche das „Gefühl im eigenen Körper zu Hause zu sein,
ein Gefühl, ‘zu wissen, wohin man geht’, und eine innere Überzeugtheit von der anti-
314 Vgl. Keupp (1988) 137.
315 Erikson (1995) 106ff.
316 Ebd. 107.
317 Ebd. 107.

zipierten Bestätigung durch die, auf die es ankommt“ 318 gewonnen hat. Er begreift die
Adoleszenz als psychosoziales Moratorium,
„währenddessen der Mensch durch freies Rollen-Experimentieren sich in irgendeinem Sektor der
Gesellschaft seinen Platz sucht, eine Nische, die fest umrissen und doch wie einzig für ihn gemacht
ist. Dadurch gewinnt der junge Erwachsene das sichere Gefühl innerer und sozialer Kontinuität,
das die Brücke bildet zwischen dem, was er als Kind war, und dem, was er nunmehr im Begriff ist
zu werden; eine Brücke, die zugleich das Bild, in dem er sich selbst wahrnimmt, mit dem Bild verbindet,
unter dem er von seiner Gruppe, seiner Sozietät erkannt wird.“ 319
Die Ich-Identität des Menschen, die sich am Ende der Adoleszenz herausgebildet ha-
ben sollte, setzt sich also zusammen aus seinem Selbstbild, seinen Zielen und Idealen
und aus dem realen und gewünschten Bild der anderen von diesem Menschen. 320
Der Sozialpsychologe Heiner Keupp kritisiert an diesem Identitätskonzept, daß es ei-
gentlich nie für alle Jugendlichen gültig, sondern ein idealtypisch formuliertes Mo-
dell bürgerlicher Sozialisation war und unter den gegenwärtigen sozialen Bedingun-
gen für alle Jugendlichen immer weniger passend geworden ist. Für eine wachsende
Zahl junger Menschen zeichnet sich kein Ende des Moratoriums ab; und ein Morato-
rium, das nie endet, ist keines. Weiterhin scheint es fraglich, ob es überhaupt noch
gelingen kann, die ‘inneren Besitzstände’ angesichts einer sich in wachsendem Tem-
po verändernden Wirklichkeit zu wahren. 321 Eine solche Argumentation verlangt
nicht notwendig den Abschied vom Identitätskonzept, sondern fragt nach Denkalter-
nativen, die sich gegenwärtig nur in Metaphern abzeichnen. Von Beck kennen wir ja
bereits den von P. Gross entlehnten Begriff der „Bastel-Biographie“. Der moderne
Mensch erscheint hier als Produzent individueller Lebenscollagen; aus vorhandenen
Lebens- und Sinnelementen ‘bastelt’ er sich seine eigene lebbare Konstruktion. 322
Eine kompatible, aber vielleicht noch passendere Metapher führt Heiner Keupp mit
dem Begriff der „Patchworkidentität“ 323 ein. Postmodernen Konzepten, die in der
Bastelmentalität das Ende des Subjekts sehen, erteilt er eine klare Absage, enthalte
diese doch durchaus auch „den Zug des souveränen kreativen Produzenten, der zwar
die Welt nicht neu erschafft, aber in seiner Welt zu Hause ist.“ 324 Die Patchwork-Me-
tapher scheint mir deshalb so überzeugend zu sein, weil sie sowohl auf den klassi-
schen Identitätsbegriff als auch auf die gegenwärtigen Erscheinungsformen von Iden-
tität anwendbar ist. Die klassischen Patchworkmuster zeichnen sich durch geometri-
318 Erikson (1970) 170
319 Ebd. 137.
320 Vgl. Röhr-Sendlmeier 32.
321 Vgl. Keupp (1988) 141.
322 Vgl. ebd. 145, ebenfalls in Anlehnung an P. Gross: Bastelmentalität: ein „postmoderner“ Schwebezustand.
In: T. Schmid (Hrsg.): Das pfeifende Schwein. Berlin 1985.
323 Keupp (1988) 146.
324 Ebd. 145.

sche Muster in sich wiederholender Gleichförmigkeit und entsprechend durchstruktu-
rierte Harmonie aus, d.h. sie entsprechen Vorgaben, die mit wenig individuellen Zu-
gaben nachgestaltet werden. Neuere Patchworkarbeiten, die sogenannten ‘Crazy-
Quilts’ hingegen sind von überraschenden, wilden Verknüpfungen von Formen und
Farben gekennzeichnet. Sie lassen auf den ersten Blick wenig Kohärenz erkennen,
wohl aber ein hohes schöpferisches Potential. Übertragen auf den Identitätsbegriff
könnte man sagen, daß Identität gegenwärtig etwas von einem ‘Crazy-Quilt’ hat.
Keupp möchte damit nicht von Zerfall oder Verlust der ‘Mitte’ sprechen, denn eine
innere Kohärenz sei der Patchwork-identität keineswegs abhanden gekommen 325 , im
Gegenteil: Unter Rückgriff auf neuere sozialepidemiologische Untersuchungen weist
er darauf hin, daß ein Gefühl innerer Kohärenz eine entscheidende Bedingung für
psychische und körperliche Gesundheit ist, sich aber nur dann ausbilden kann, wenn
der einzelne auf ein fixes Koordinatensystem von Normen und Sinnorientierungen
zurückgreifen kann. 326 Die Patchwork-Metapher läutet also weder das Ende des hand-
lungsfähigen Subjekts ein, weil die Zusammenstellung des individuellen Musters
durchaus ein kreativer Akt ist, noch ist sie die Wiederauferstehung des ‘heroischen
Subjekts’, das seine Identität in einem Akt der Selbstbehauptung auf Kosten der Sub-
jekthaftigkeit anderer ausbildet. Denn Kohärenz
„entsteht aus der gelungenen Verknüpfung einer Person mit anderen, aus den dadurch möglichen
Solidaritätspotentialen. [...] Das wiederum erfordert Subjekte, die ihr Leben nicht als dauerhaften
olympischen Wettbewerb begreifen und leben müssen, in dem andere nur als zu besiegende Konkurrenten
wahrgenommen werden können.“ 327
5.2 Identität als (religions-)pädagogischer Leitbegriff?
5.2.1 Weiterdenken der Metapher des Patchworks
Mit der Patchwork-Metapher scheint der Identitätsbegriff gerettet zu sein: Nicht vom
Begriff haben wir uns getrennt, sondern von seiner einseitigen inhaltlichen Füllung in
der Rezeption des Eriksonschen Modells. Doch es liegt in der Eigenart von Meta-
phern, daß sie gegenüber ihrem Bezugspunkt uneindeutig bleiben. Patchworkidentität
bedeutet, daß der und die einzelne aus verschiedensten Versatzstücken eine individu-
elle Kombination zusammenstellen. Ob eine Patchworkidentität aber eine solche ist,
durch die sich der einzelne Mensch als mündiges, handlungsfähiges Subjekt erfährt,
325 Vgl. ebd. 146.
326 Vgl. ebd.
327 Ebd. ebd.

ist damit nicht geklärt. Woher kommen diese Versatzstücke? Welches sind die Krite-
rien, nach denen der und die einzelne diese Versatzstücke kombinieren? Wie gelingt
es, innerhalb dieser Versatzstücke die notwendige Kohärenz herzustellen? Denken
wir die Metapher noch ein wenig weiter: Vergleicht man Identität mit einem Crazy-
Quilt, so drängt sich die Frage auf, wie viele Kombinationen von Identitätsbausteinen
möglich sind und ob ihre Zusammenstellung beliebig ist. Für einen Crazy-Quilt gilt
jedenfalls nicht völlige Beliebigkeit. Es ist zwar vieles möglich, aber nicht alles.
Nicht alle Stoffe passen zueinander, manche Farben harmonieren miteinander, man-
che nicht. Es gibt zwar beim Crazy-Quilt mehr Kombinationsmöglichkeiten als bei
klassischen Quilts, aber es bleiben Grenzen. Einen Crazy-Quilt als Komposition -
d.h. als etwas von jemandem Geschaffenes - begreifen zu können, ist nur möglich,
wenn nicht völlig beliebig Stoffe und Farben, so wie sie gerade kommen, aneinander-
genäht werden. Auch wo sie mit der Überlieferung brechen, brauchen sie sie, um sich
davon zu unterscheiden. Einen guten Quilt nähen zu können, setzt voraus, daß man
viel über Stoffe weiß, daß man Farben harmonisch komponieren kann (auch wenn
man die Harmoniegesetze bricht, muß man sie kennen, um damit spielen zu können)
und vor allem setzt es voraus, daß man nähen gelernt hat. Patchworken können ist
also ein voraussetzungsvoller Prozeß, und man muß dafür lernen. Dies verweist da-
rauf, daß man andere braucht, die einen bei diesem Prozeß begleiten und auch anlei-
ten. Und will man nicht nur klassische Muster nacharbeiten können, so müssen dieje-
nigen, die beim Lernen helfen, die ‘Patchworklehrerinnen und -lehrer’, auch zulas-
sen, daß ihre Schülerinnen und Schüler sich im Verlauf dieses Prozesses verselbstän-
digen und von ihnen lösen. Es handelt sich also um einen Prozeß von Erziehung und
Bildung, um einen pädagogischen Prozeß.
Will man Identität als pädagogisches Handlungsziel begreifen, muß man die im Bild
genannten Aspekte berücksichtigen. Dieses Ziel kann nicht darin bestehen, daß Iden-
tität etwas direkt vermittelbares ist; dieses wäre keine individuierte Identität, sondern
allenfalls eine vom einzelnen angenommene Rollenidentität. Identität kann weder
eingleisig vom ‘Lehrer’ zum ‘Schüler’ vermittelt werden, noch kann sie vom einzel-
nen allein hergestellt werden. Das Finden von Identität wie von Sinn und Orientie-
rung ist kein eingleisiger, sondern ein kommunikativer Prozeß. 328 Pädagogisches Han-
deln muß im Anbieten von Räumen kommunikativer Identitätsfindung bestehen. Es
kann nicht hinter die Bedingungen der Individualisierung und Enttraditionalisierung
zurücktreten, sondern muß wahrnehmen, daß institutionell vermittelte Identifikatio-

nen und individuelle Lebensgeschichten auseinandertreten und daß daraus Chancen
und Risiken erwachsen.
5.2.2 Wählen-Können als vorrangige Alltagskompetenz: Einige Irrwege
Der mit der Individualisierung geschaffene Zwang zur Wahl ermöglicht bewußtere
und reflektiertere Formen persönlicher Identität, aber er birgt auch Gefährdungen.
Selbst wenn die Patchworkidentität nicht in einer beliebigen und unselbständigen
Kompilation geheimer Interessen diverser Identitätsanbieter aufgeht, so führt der
Zwang zur Wahl aus den Identitätsangeboten vor allem da, wo der einzelne auf sich
selbst angewiesen ist, dazu, daß Entscheidungen erst am Ende eines langen Weges
des persönlichen Abwägens stehen, daß Entscheidungen aufgeschoben bzw. vorläufi-
ge Entscheidungen getroffen werden. 329 Die daraus resultierende Indifferenz in bezug
auf die eigene Lebensgestaltung ist oft weniger Zeichen der Bequemlichkeit, sondern
der Überforderung. Entscheidungen über persönliche Wertorientierungen in der
Schwebe zu halten ist oft eine „subjektiv sinnvolle Anwort auf eine Gesamtsituation,
die in ihrer Komplexität für den einzelnen nicht mehr auflösbar zu sein scheint.“ 330
Doch den gesellschaftsstrukturell erzeugten Zwängen der Individualisierung, also
auch dem Zwang, sich zu entscheiden, kann man nicht entkommen. Für diese Situati-
on scheint der Satz Martin Bubers erstaunlich treffend zu sein: „[...] gäbe es einen
Teufel, so wäre es nicht der sich gegen Gott, sondern der sich in Ewigkeit nicht ent-
scheidet.“ 331
Für den einzelnen tun sich hier zwei Verlockungen auf, mit der Freiheit und dem
Zwang des Entscheidens umzugehen, die Franz-Xaver Kaufmann in seiner Vorlesung
anläßlich der ihm verliehenen Ehrendoktorwürde der Katholisch-Theologischen Fa-
kultät Bochum unterscheidet: die Versuchung, entweder ganz in den gegenwärtigen
Möglichkeiten aufzugehen oder aber sich ganz auf sich selbst zurückzuziehen, also
ein Leben zu führen, das man ganz allein kontrollieren kann. 332
Die erste Verlockung taucht bei Keupp als die „Erzählung von der allseits konsumie-
renden Person oder vom leeren Selbst, das sich füllen läßt“ 333 auf. Keupp stellt fest,
daß in einer gesellschaftlichen Situation, in der der einzelne vor der individuellen
Aufgabe steht, die eigene Wirklichkeit aus den Fragmenten erodierender Vorgaben
329 Vgl. Simon 5.
330 Ebd. 6.
331 Martin Buber: Ich und Du. Heidelberg 1974, S. 64 [zit. n. Kaufmann (1993) 43].
332 Vgl. Kaufmann 43.
333 Keupp (1996) 8.

zu konstituieren, ihm dennoch gleichsam als Bausätze für den Identitätsbastler Identi-
tätsfigurationen bereitstehen, die dem einzelnen diese Aufgabe zu erleichtern vorge-
ben. 334 Diese Identitätsfigurationen nennt Keupp unter Verwendung der Begrifflich-
keit der narrativen Psychologie ‘Erzählungen’. Die genannte Erzählung vom leeren
Selbst, das sich füllen läßt, singt das Lob der Multiphrenie, das Zauberwort heißt
„Pluralitätskompetenz“, die es zu erringen gälte. Es geht in dieser Erzählung darum,
so viel wie möglich in das eigene Selbst zu integrieren. Unter Bezug auf den nord-
amerikanischen Sozialpsychologen Kenneth Gergen, den er als herausragenden Ver-
treter dieser Erzählung anführt, faßt er ihre Botschaft zusammen: „Je mehr Ichs es
gibt, um so mehr Bewußtsein kann repräsentiert werden. Je mehr Bewußtsein exis-
tiert, um so mehr Komplexität kann bewältigt werden.“ 335 Gerade die mentalen Dis-
soziationsphänomene in der Jugend-Szene deutet Gerken als bewußtes Überschreiten
der Grenze der Ich-Festigkeit, ohne daß dies ein pathologischer Zustand sein müsse.
Vielmehr sieht er in der Multiphrenie eine Herausforderung und Chance für das kom-
mende Markt-Management und verkündet beifällig den multiphrenen Konsumenten
von morgen. 336
Auch die zweite der oben genannten Verlockungen gehört zu den von Keupp ausge-
machten Identitätserzählungen: die „Erzählung vom monologischen und sich selbst
kontrollierenden Subjekt“ oder vom „psychologisch befreiten Menschen“. 337 Sie be-
steht in der Ermutigung, sich selbst zu finden und dabei letztlich nur sich selbst zu
vertrauen. Sie läßt aber offen, woher der einzelne aber die Fähigkeit zu dieser mono-
logischen Selbstregulierung nimmt, wenn er alle anderen Instanzen außer dem eige-
nen Inneren als identitätsstörend ausgrenzt. 338
Beide Erzählungen faßt Keupp gemeinsam mit ähnlichen - etwa der „Erzählung von
der allseits fitten Person“, die schwimmend im Erlebnisstrom, statt in die Tiefe zu
gehen und eine reflektierte Persönlichkeit zu werden, jede Festlegung vermeidet - als
„liberalistische Interpretation von Identität“ 339 zusammen, für die die freie Entfaltung
der individuellen Kräfte als einzige Bedingung für das persönliche Glück und zur
Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt erscheinen. Gemeinschaftliche Beziehungen
gelten hier als prinzipiell freiheitseinschränkend. Dies gibt den sozial Privilegierten
und Stärkeren, aber eben nur diesen, durchaus die Möglichkeit zum Aufbau einer
starken Identität.
334 Vgl. ebd. 6.
335 Ebd. 8.
336 Vgl. ebd. 9.
337 Ebd. 16.
338 Vgl. ebd. 17f.
339 Ebd. 18.

Zu den von Kaufmann genannten beiden Verlockungen läßt sich noch eine dritte hin-
zufügen, die Keupp die „Erzählung vom fundamentalistischen Selbst“ 340 nennt. Um
in der Multi-Options-Gesellschaft nicht in der Beliebigkeit unterzugehen, werden
hier unhintergehbare Wahrheiten formuliert, die durch keine historische Dynamik re-
lativiert werden können. Hierzu gehören sowohl nationalistische als auch religiös-
fundamentalistische Diskurse, die Identität als Kollektividentität retten wollen. Sie
setzen auf unverrückbare Behausungen, in denen man sein gesichertes Fundament
finden könne. „Hier wird ein fundamentalistisches Selbst konstruiert, das ‘Wir-Ge-
fühle aktiviert durch den Appell an ethnisch-nationale oder konfessionell-fundamen-
talistische Identitätskonstruktionen, an patriarchalische Geschlechtsordnungen und
den Ausschluß und die Feindschaft gegenüber ‘fremden’ Identitäten’. Die hierüber
versprochene Orientierungssicherheit erkauft sich das Individuum durch den Verlust
reflexiver Individualität.“ 341
Alle diese Erzählungen grenzen den und die andere aus. Die fundamentalistische
muß das tun, weil alles Fremde die eigene überindividuelle Kollektividentität gefähr-
det, die monologische, weil sie jede Form der Intersubjektivität als Beschränkung der
eigenen Individualität erlebt. Beides sind Arten der Selbstverwirklichung - im Kol-
lektiv bzw. als Individuum - als Selbstbehauptung. Was dabei herausfällt, ist die Di-
mension des bzw. der anderen, v.a. derjenigen, die an diesen Identitätsverheißungen
scheitern. Ausgegrenzt wird die „Erzählung vom beschädigten Leben“ 342 : Die mono-
logischen und die fundamentalistischen Erzählungen ignorieren, daß gesellschaftliche
Fremdbestimmung, die Enteignung von Alltagskompetenzen, die Zerstörung
menschlicher Gestaltungsräume, die wachsenden ökologischen Krisen durch indivi-
duelle Anstrengungen nicht überwunden werden können, sondern nur durch geeigne-
te Strukturreformen. 343 Aber genau diese Erzählung der Demoralisierung des einzel-
nen Menschen angesichts der individuell erlebten Unmöglichkeit der Gestaltung des
Lebensraums ist ein notwendiges Korrektiv zu der ideologischen Beschwörung der
ungeahnten Chancen, die angeblich jeder und jede von uns hat.
Alle genannten ‘Irrwege’ der Findung entscheidungsfähiger Identität für den Einzel-
menschen erweisen sich als prekär, insofern sie identitätsstiftend immer nur auf Kos-
ten anderer sein können. Eine pädagogische Praxis der Identitätsbegleitung muß sich
340 Ebd. 18f.
341 Ebd. 23; Zitat im Zitat: Lohauß, Peter: Moderne Identität und Gesellschaft. Theorien und Konzep-
te. Opladen 1995, S. 223.
342 Keupp (1996) 27.
343 Vgl. ebd. 28.

von diesen Irrwegen absetzen. Für eine solche Praxis scheinen mir die grundlegenden
Überlegungen Norbert Mettes zu einer Religionspädagogik der „Identität in universa-
ler Solidarität“ richtungsweisend zu sein, auf die ich im folgenden Bezug nehme.
5.2.3 Auf dem Weg zu einem religionspädagogischen Identitätsverständnis:
Identität in universaler Solidarität
Die in den oben referierten Identitätserzählungen fehlende Dimension des anderen
steht bei Norbert Mette im Vordergrund seiner Überlegungen, und zwar in doppelter
Weise: zum einen, was sein Verständnis pädagogischen Handelns betrifft und zum
anderen in bezug auf die inhaltliche Füllung des Identitätsbegriffs.
5.2.3.1 Pädagogisches Handeln als intersubjektives Beziehungshandeln
Pädagogisches Handeln ist vorrangig Beziehungslernen. 344 Im pädagogischen Han-
deln helfen Menschen anderen Menschen, sich in und mit der Welt hervorzubringen
und gemeinsames Leben auf Zukunft hin zu ermöglichen. 345 In dieser Formulierung
sind zwei wichtige Aspekte des hier zu entwickelnden Identitätskonzepts erhalten:
die individuelle Dimension des Sich-Selbst-Hervorbringens und die soziale Dimensi-
on, die darauf verweist, daß dieses Selbst-Werden nur mit anderen geht und auch die
Ermöglichung zukünftigen Lebens im Blick haben muß.
Versteht man pädagogisches Handeln als Beziehungslernen, so stellt dies das päda-
gogische Gefälle zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, Meistern und
Jüngern in Frage. Vielmehr muß pädagogisches Handeln in der von der gegenseitigen
Anerkennung als gleichwertig und gleichberechtigt getragenen Interaktion aller Be-
teiligten bestehen. 346
„Nur indem das Subjekt nicht als freies bzw. frei zu werdendes dem anderen abstrakt gegenübergestellt
wird und von ihm abgegrenzt wird, was unweigerlich in einem Prozeß der Selbstbehauptung
durch Machtsteigerung resultiert, sondern indem sie sich gegenseitig jeweils auf die Freiheit des
anderen hin öffnen und so Freiheit kommunikativ realisieren, wird gemeinsames Leben auf Zukunft
hin möglich.“ 347
Eine solche Bestimmung des Selbstwerdens erteilt den oben dargestellten Identitäts-
erzählungen eine deutliche Absage. Es kann beim Prozeß der Ausbildung von Identi-
tät weder darum gehen, diese monologisch zu realisieren, noch sie durch eine aufge-
344 Vgl. Mette 108.
345 Vgl. ebd. sowie Peukert (1987a) 24.
346 Vgl. Mette 108.
347 Ebd. 114.

zwungene gemeinsame Kollektividentität unter Ausgrenzung alles Fremden gewalt-
sam zu sichern. Vielmehr realisiert sich Identität erst in Kommunikation. Für ein pä-
dagogische Handeln im Hinblick auf die Anregung, Ermöglichung und Begleitung
dieses Prozesses bedeutet dies, daß die Entwicklung der Heranwachsenden so zu för-
dern ist, daß sie zu eigener Handlungsfähigkeit, Selbständigkeit und Selbstverantwor-
tung fähig sind und bleiben und daß ihnen diese Fähigkeit von Anfang an zugespro-
chen werden. 348
Exkurs: Über die Notwendigkeit intergenerationellen Lernens
Gerade im Hinblick auf die Dynamik des Individualisierungsprozesses wird deutlich,
daß pädagogisches Handeln nicht eingleisig verlaufen kann, sondern in einem Prozeß
intergenerationellen Lernens. Wir hatten bereits gesehen, daß sich im Zuge des Strukturwandels
der Jugendphase das Generationenverhältnis grundlegend geändert hat.
Nicht nur insofern, als der Generationenkonflikt nicht mehr so explosiv ausgetragen
wird, sich auf Jahre hin verstreut, und die Jugendlichen einen pragmatischen Umgang
mit ihren Eltern bevorzugen 349 , sondern auch auf grundsätzlicher Ebene stellt sich die
Frage nach dem Generationenverhältnis auf neue Weise. Gerade in Zeiten rascher
Wandlungen und des immer wahrscheinlicher werdenden Umschlagens des modernen
Fortschrittsdenkens in die globale Katastrophe sowie der Brisanz der persönlichen
Lebensgestaltung angesichts der Entstandardisierung von Lebensläufen (eben
nicht nur der Jugendlichen, sondern auch der Erwachsenen), „nimmt die durch Erfahrung
und Lebensreife begründete Überordnung der Generationen ab zugunsten einer
Solidarität gegenüber gleichen Lebensproblemen, die unter anderem durch Lernen
von allen lebenden Generationen gelöst werden müssen.“ 350 Gerade etwa im Experimentieren
mit Lebensstilen und alternativen Lebensformen in den Jugendszenen, im
Umgang mit Medien und neuen Techniken haben Jugendliche manchmal mehr Erfahrungen
als Erwachsene. Auch von daher muß das Generationenverhälntis neu
überdacht werden. Karl Ernst Nipkow spricht in diesem Zusammenhang von einer
„Reformulierung der Erziehungsfrage“:
„Angesichts der Beschleunigung des sozialen Wandels, durch die sich die Lebensprobleme schneller
verändern, als Lernprogramme nachwachsen können, und angesichts der Asymmetrie, durch die
die Jugendlichen schneller Brücken abbrechen und neuen Werten folgen, als die Erwachsenen sich
mitverändern, kann Erziehung nicht nur Weitergabe der Kultur an die Jugend sein oder ein undialektischer
Prozeß der Sozialisation als bloßer Eingliederung der Jugend. Sie wird immer mehr zu
einer Aufgabe generationenübergreifenden Lernens.“ 351
Pädagogische Praxis hat also in diesem Zusammenhang dreierlei zu bedenken:
1. Sie muß die Genese von Subjekten ermöglichen.
2. Sie muß die sozialen Gefährdungen dieses Projekts wahrnehmen.
3. Sie muß die kommunikativen Rahmenbedingungen dieses Projekts in ihrem Han-
deln schaffen.
348 Vgl. ebd. 116.
349 Vgl. Böhnisch/Münchmeier 121.
350 Giesecke 75.
351 Nipkow 251 (Hervorh. im Original).

Im Anschluß an Helmut Peukert nennt Mette den Kern einer solchen Praxis „Ethik
intersubjektiver Kreativität“. 352 Die freie Anerkennung des anderen in seiner Freiheit
heißt zu wollen, daß er er selbst werden kann, aber nicht in einem monologischen
Prozeß, sondern im Modus intersubjektiv reflektierter Selbstbestimmung, der sich
der (Wieder-)Herstellung und Erhaltung der dafür notwendigen sozialen und kommu-
nikativen Rahmenbedingungen verpflichtet weiß. 353
5.2.3.2 Die religiöse bzw. theologische Dimension pädagogischen Handelns
Unter Berufung auf Jürgen Habermas weist Mette darauf hin, daß wir Begriffe wie
Moralität, Sittlichkeit, Freiheit und Emanzipation nicht wirklich verstehen können,
ohne uns die Substanz des heilsgeschichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Prove-
nienz anzueignen. 354 Solche Traditionen können, wie wir gesehen haben, nicht länger
als verpflichtend vorgegeben werden, sondern müssen in kritischer Auseinanderset-
zung angeeignet werden können. Wollen sich Erziehung und Bildung nicht auf die
unkritische Übernahme vorgegebener Orientierungsangebote und die Anpassung an
bestehende Verhältnisse verkürzen lassen, stellt sich aber die Frage, woher sie das
Potential zur schöpferischen Transformation bisheriger Lebensverhältnisse nehmen
sollen. Dies verweist auf die Frage nach Überlieferung, nach Tradition. Erneut inspi-
riert von Peukert entwickelt Mette ein Verständnis von Tradition, das diese nicht auf
den Verweis auf abgeschlossene Überlieferungsbestände verkürzt, sondern sie als
„produktive Antitraditionen“ begreift, in denen Verheißungen aufgehoben sind, deren
Einlösung noch zu erwarten und erhoffen ist. 355 So verstanden können Traditionen
„neu - schöpferisch innovierend - zu denken, zu lernen und zu tun geben.“
Die Grenzprobleme der Praxis intersubjektiver Kreativität verweisen auf eine religiö-
se und theologisch zu bestimmende Dimension freiheits- und identitätsermöglichen-
den pädagogischen Handelns. Es kann vergeblich sein, weil nicht vorweggenommen
werden kann, wie der andere mit seiner Freiheit umgeht, und es kann schmerzliche
Erfahrungen mit sich bringen, wenn es auch die im Blick hat, die an dem Versuch,
unbedingt solidarisch zu handeln, gescheitert und zugrundegegangen sind. 356
Eine explizit theologische Dimension gewinnt die bewußte Wahrnehmung dieser
Grenzprobleme dadurch,
352 Mette 114ff; vgl. auch Peukert (1987a).
353 Vgl. Peukert (1987b) 80.
354 Mette 117 n. Habermas, Jürgen: Metaphysik nach Kant. In: ders.: Nachmetaphysisches Denken.
Frankfurt a. M. 1988, 18-34, hier: 23.
355 Vgl. Mette 118f. sowie Peukert (1987a)16.
356 Vgl. Mette 121.

„daß aus der Erinnerung und Verheißung einer absolut befreienden Freiheit - biblisch gesprochen:
österlichen Lebens - heraus die Kraft und Zuversicht erwachsen, solidarisch gegen die Widersprüche
der eigenen Lebenssituation anzugehen und weder zynischer Selbstbehauptung noch apathischer
Resignation das letzte Wort der Geschichte zu lassen.“ 357
Das heißt natürlich nicht, daß eine religionspädagogische Praxis unmittelbare Lösun-
gen für die Gesamtheit menschlicher Problematiken anzubieten hätte, sondern sie
muß selbst diesen Problemhorizont noch einmal theologisch hinterfragen, wenn es
denn richtig ist, daß sich religionspädagogisches Handeln aus einem gemeinsamen -
theologisch reflektierten - leidenschaftlichen Interesse an der Freiheit des Menschen
speist. 358
Ein solcher Anspruch verlangt nach einer theologischen Bestimmung von Freiheit
und Befreiung, wonach christliches Handeln nichts anderes „als freiheitsstiftendes
und -begründendes Handeln“ 359 sein kann, wobei Mette sechs Dimensionen unter-
scheidet: 360
1. Theologische Dimension: Der jüdische und der christliche Glaube haben ihren
Ausgangspunkt in den grundlegenden Erfahrungen der Befreiung aufgrund Gottes
Handeln in der Geschichte.
2. Anthropologische Dimension: Der biblische Gedanke von der Befreiung zur Frei-
heit (Gal 5,1) als von Gott gewollter Bestimmung des Menschen entbindet diesen
zugleich vom Zwang und der Last, diese selbst herstellen zu müssen - und ich möch-
te hinzufügen: von der Last, Identität als Einheitlichkeit und Konstanz im Selbst aus
sich heraus allein herstellen zu müssen.
3. Soziale Dimension: Das Geschenk der Freiheit ist zugleich auch eine Aufgabe, die
darin besteht, Freiheit nicht allein für sich zu realisieren, sondern zugleich die Bedin-
gungen für die Freiheit anderer zu schaffen und zu erhalten, Freiheit also kommuni-
kativ zu realisieren.
4. Politische Dimension: Die unbedingte Zuwendung Gottes zu den Menschen for-
dert zugleich auch eine alltägliche Praxis, die den Gedanken der Freiheit universal
bezeugt und sich gegen alle Formen psychischer und sozialer Entmündigung von
Menschen einsetzt.
5. Ekklesiologische Dimension: Ein solches Freiheitsverständnis verlangt nach einer
Weise des solidarischen Miteinander- und Füreinander-Daseins, in der die in Jesus
Christus angebrochene und noch umfassend zu realisierende Befreiung bereits in der
eigenen akuten Lebenswelt realsymbolisch vergegenwärtigt wird.
357 Ebd. 124.
358 Vgl. ebd. 129f.
359 Ebd. 132.
360 Vgl. zum folgenden ebd. 133.

6. Eschatologische Dimension: Das christliche Freiheitsverständnis versteht Freiheit
immer als Fragment auf Zukunft hin, dessen Vollgestalt erst verheißen ist.
Eine christlich orientierte Erziehung und Bildung und damit religionspädagogisches
Handeln aus diesem Freiheitsverständnis heraus muß darin bestehen, Heranwachsen-
de „so mit den Verheißungen des Reiches Gottes in Berührung kommen zu lassen,
daß sie Vertrauen und Zuversicht gewinnen, sich in ihrem Leben auf den eröffneten
Weg der Freiheit einzulassen und sich für ihn einzusetzen.“ 361 Dies bedeutet für den
religionspädagogisch begleiteten Bildungsprozeß, daß Heranwachsende (und nicht
nur sie) die Erfahrung unbedingter Bejahung und Anerkennung machen können müs-
sen.
Mette bringt ein solches religionspädagogisches Verständnis auf die Formel „Identi-
tät in universaler Solidarität“ in der die individuelle und die soziale Dimension der
Identitätsbildung zusammengeführt werden. Eine so konzipierte religiöse Erziehung
dient der Identitätsbildung insofern, als menschliche Identität dann zu ihrer adäqua-
ten Bestimmung kommt, wenn der Mensch sich auf die befreiende und erlösende
Wirklichkeit Gottes einläßt. Dabei geht es nicht um die Herausbildung einer Identität,
die allein auf den eigenen Vorteil bedacht ist, sondern die dazu ermutigt, im Umgang
mit anderen sich in seiner Unverwechselbarkeit zu erkunden und zu erproben. 362 Zum
zweiten enthält diese Formel auch die Aufforderung zur Wahrnehmung der gesell-
schaftsstrukturellen Dimension eines solchen Handelns: Das Bekenntnis zum Gott
Jesu Christi schließt ausdrücklich die entschiedene Parteinahme zugunsten der Sub-
jektwerdung aller Menschen ein:
„Nur wo das Ich [...] sich an den Anderen, mit den Anderen, für Andere - womit sowohl die Lebenden,
fern und nah, als auch die Toten, insbesondere die Besiegten und Opfer, gemeint sind - erfährt
und bewährt, kommt es zu sich selbst und weiß es um seine wahre Tiefe - bis in die religiöse Dimension
hinein, vermag es also authentisch Ich zu sagen.“ 363
Dies setzt voraus, sich den anderen nicht länger nur imaginär vorzustellen, sondern
konkret in seinem So-Sein wahrzunehmen, ohne Fremdheit überspielen oder nivellie-
ren zu wollen. Nur so ist Individuation möglich: als Erfahrung der eigenen Einmalig-
keit, die mir vom anderen her zugesprochen wird, und nicht von mir dem anderen
(gewaltsam) abgerungen. 364
361 Ebd. 139.
362 Vgl. ebd. 139f.
363 Ebd. 141.
364 Vgl. ebd. 141f.

5.2.4 Identität und Fragment
Ein solches Verständnis individuierter Identität wehrt sich gegen die verkürzte Re-
zeption aufklärerischer Subjektmodelle, wie sie Adorno und Horkheimer in der „Dia-
lektik der Aufklärung“ kritisiert haben, gegen ein Subjektpathos, das notwendig die
Objektivierung anderer zugunsten der eigenen Selbstbehauptung erfordert. Und es
wehrt sich ebenso gegen den Versuch, in postmoderner Attitüde das Ende des Sub-
jekts zu verkünden.
Vor allem aber befreit es den einzelnen vom Identitätszwang, dem Zwang zur Insze-
nierung der eigenen Individualität und dem Zwang, Identitätsbrüche, Scheitern und
Versagen - sei es aus eigener Schuld oder aus sozialer Beschränkung - nicht leugnen
oder überspielen zu müssen, sondern das Fragmentarische der eigenen Identität anzu-
erkennen. Die christliche Tradition ermöglicht es, Geschichten vom beschädigten Le-
ben zu erzählen, weil sie selber auch eine Geschichte vom beschädigten Leben ist.
Henning Luther hat in seinen Überlegungen zur gegenwärtigen Problematik des Iden-
titätsbegriffs darauf hingewiesen, daß eine in sich geschlossene dauerhafte Ich-Identi-
tät, wie sie in der Rezeption Eriksons gedacht war, theologisch nicht als innerweltlich
erreichbares Ziel gedacht werden kann 365 , was aber nicht heißt, diesen Anspruch auf-
geben zu müssen. Es gilt aber anzuerkennen, daß individuell wie intersubjektiv ge-
rierte Identität notwendig Fragment bleiben muß und darf. Das eigentümlich Christli-
che liegt darin, davor zu bewahren, Fragmentarität zu leugnen. So ist das Leben Jesu
durch dessen gewaltsame Kreuzigung konstitutiv als fragmentarisches zusehen. Dies
wird nicht durch den Auferstehungsglauben ungeschehen gemacht, denn in ihm wird
der Gekreuzigte geglaubt. „Ostern korrigiert nicht Karfreitag, sondern bewahrt ihn,
indem es die Sicht auf Karfreitag neu macht.“ 366
Die Orientierung am gekreuzigten Christus bewahrt vor den sich als immer unmögli-
cher erweisenden Selbsterlösungsversuchen, ein Gedanke, den Wolfgang Deresch
1985 bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum zum Thema ‘Jugendar-
beit und Identität’ folgendermaßen formuliert:
„Indem Gott am Kreuz auf alle Allmacht verzichtet und die Niedrigkeit des ohnmächtig Leidenden
übernimmt, befreit der den Glauben vom Zwang, das schwache Selbst durch ein omnipotentes
Selbstideal stabilisieren zu müssen, gibt er Narziß die Kraft der Liebe zum anderen.“ 367
365 Vgl. Luther 165.
366 Vgl. ebd. 173.
367 Deresch 166.

6 Zusammenfassung und Ausblick
In dieser Arbeit wurde versucht, das vielschichtige soziale Bedingungsgeflecht des
Aufwachsens Jugendlicher heute herauszuarbeiten. Dabei war die Becksche Indivi-
dualisierungsdiagnose das erkenntnisleitende Prinzip. Es ist deutlich geworden, daß
Individualisierung nicht nur, aber auch und gerade für die Jugendphase ein ambiva-
lenter Prozeß ist, den der in dieser Arbeit so häufig zitierte Jugendforscher Wilfried
Ferchhoff so zusammenfaßt: „Die individualisierte Gesellschaft produziert Zuwächse
und Ansprüche (Autonomie, Selbstentfaltung, Sinnerfüllung, Gerechtigkeit) und er-
schwert gleichzeitig ihre Verwirklichung.“ 368 Diese Zuwächse und Ansprüche bergen
also nicht nur neue Chancen zur Selbstverwirklichung, sondern sie können auch als
Last empfunden werden, insofern Selbstverwirklichung zu einem strukturellen
Zwang wird. Die Verheißung auf Autonomie wird problematisch und paradox, wenn
der und die einzelne mangels traditionaler Vorgaben seine bzw. ihre Individualität
und Identität in einer „vorbildlosen Eigenverantwortung“ 369 selbst stets selbstinsze-
nierend unter Beweis stellen müssen. Die Paradoxie ist eine zweifache, insofern die
Verheißungen der Individualisierung auf eine selbstverantwortete Identitätsfindung
zugleich auch Zwänge sind und darüber hinaus ihre Verwirklichung stets gefährdet
ist. Der gesellschaftliche Umbruch zur entfalteten Moderne hat zur Folge, daß der
einzelne Mensch mehr Möglichkeiten für ein eigenes, selbstgestaltetes und -verant-
wortetes Leben hat und selbst bestimmen kann, wer und wie er sein möchte. Es steht
in seiner individuellen Entscheidung, welchen Werten er folgt und ob seine Lebens-
führung überhaupt ein normatives Fundament hat. In jedem Fall jedoch ist Orientie-
rung in einer Gesellschaft der scheinbar ins Unendliche gesteigerten Optionen eine je
individuell zu erbringende Leistung und selbst der Rückgriff auf Traditionen, auf
Werte der ‘guten,alten Zeit’ ist eine eigene Entscheidung, die nicht vom Zwang zur
Selbstverantwortung befreit. Es ist nicht möglich, den Zumutungen der Pluralität zu
entkommen. So hat Karl Gabriel eindrücklich gezeigt, daß etwa der religiöse - und
ich möchte hinzufügen: auch der politische - Fundamentalismus mit seinem Versuch,
dem angeblichen Werteverfall und den Orientierungsschwierigkeiten in der Multi-
Options-Gesellschaft durch Verpflichtung eines Kollektivs auf überkommene, vom
einzelnen nicht zu hinterfragende Werte und Normen zu wehren, den Prozeß der Plu-
ralisierung nicht aufhält oder gar umkehrt, sondern gegen seine eigene Intention noch
verstärkt, weil die fundamentalistische Negation des Individualismus zwangsläufig
368 Ferchhoff 12.
369 Ebd.

Gegenreaktionen hervorrufen muß. 370 Aber auch das andere Extrem des expressiven
Individualismus, der nur die individuelle Seite der Selbstverwirklichung und Identi-
tätsbildung im Blick hat, muß in Aporien führen. Hier wird Identitätsfindung zu ei-
nem Selbstzweck. Es wird versucht, Identität allein durch Inszenierung der eigenen
Individualität zu finden. Dies mündet in die hektische Suche nach Identität, die jeden
Versuch, sich auf etwas ganz einzulassen, im Keim ersticken muß, weil sie ja die ei-
gene Individualität gefährden könnte. Die stete Jagd nach Neuem, um dem Leben ei-
nen individuellen Sinn zu geben, kann letztlich nur Sinnleere bedeuten, denn sie rich-
tet sich ja nicht wirklich auf Sinn oder Wahrheit bzw. auf konkrete Inhalte, sondern
das Motiv dieser Suche ist das bewußte Streben nach Besonderung. Hier erscheint
mir der Hinweis Gertrud Nunner-Winklers als zutreffend, daß Identität und Indivi-
dualität eben keine Selbstzwecke, sondern gleichsam Nebenprodukte eines sachli-
chen Engagements für etwas sind, das der einzelne als wahr und wertvoll erkannt
hat. 371
Franz-Xaver Kaufmann warnt davor, den unhintergehbaren Zwang zur Selbstrefe-
renz als Selbstreverenz mißzuverstehen. Selbstreverenz scheitert
„sowohl an der Unumgänglichkeit der Mitmenschen als auch an der unhintergehbaren Abhängigkeit
der individuellen Existenz von Lebensbedingungen außerhalb ihrer Kontrolle, welche nicht
selten ein Scheitern aller biographischen Entwürfe bewirken. ‘Selbstverwirklichung’ als letzter
Wert wird notwendigerweise zur Selbsttäuschung, da sie den Gegebenheiten des Lebens nicht genügend
Rechnung trägt.“ 372
Kaufmann plädiert dagegen für ein bescheidenderes Verständnis von Selbstverwirkli-
chung und Identität als das fortgesetzte Bemühen, die vielfältigen Anforderungen der
Umwelt an den einzelnen Menschen mit den Vorstellungen, Wünschen und Ansprü-
chen über und an sich selbst in Einklang zu bringen. Selbstreferenz als Selbstreve-
renz, als Beschränkung der Identitätsbemühungen allein auf die eigene Person ist
nicht ausreichend, um für das je individuelle Leben sinnhafte Deutungsmöglichkeiten
und Orientierung zu gewinnen: „Wer sich selbst zum letzten Maßstab seiner Hand-
lungen macht, schließt damit die Ausrichtung an etwas Größerem aus, an dem er sich
aufrichten könnte.“ 373
In den Überlegungen dieser Arbeit war viel von der drohenden Verunmöglichung
von individuierter Identität und von kritischen Anfragen an das Identitätskonzept und
den Subjektbegriff überhaupt die Rede. Vor allem die postmoderne Kritik am - aber
370 Gabriel (1992) 155.179 u.ö.
371 Nunner-Winkler (1987) 94.
372 Kaufmann (1993) 42.
373 Ebd.

auch bereits die Anfragen der Kritischen Theorie an den - Subjektbegriff zielen auf
die Allmachtsphantasien, die das aufklärerische Subjektmodell hervorgebracht hat.
Subjekt-Sein bedeutet demnach, sich alles andere zum Objekt zu machen und von
daher die eigene Subjektivität auf Kosten anderer zu entwickeln. Das hieße, daß Sub-
jektwerdung sich damit vor allem als Selbstbehauptung und damit letztlich als
Kampf aller gegen alle vollzieht. Doch ist diese Kritik schon ausreichend, um auf den
Begriff ganz zu verzichten? Sie zielt doch eigentlich auf eine Verkürzung des Sub-
jektbegriffs, der nämlich das Subjekt-Sein des und der anderen zugunsten der je eige-
nen Subjektentfaltung ignoriert. Die Ausführungen insbesondere im letzten Kapitel
dieser Arbeit (Kap. 5) bemühten sich um ein Verständnis von Identität, das Subjekt-
haftigkeit und Individualitiät des je einen gerade an der Ermöglichung von Subjekt-
haftigkeit und Individualität des je anderen bemißt.
Der Verzicht auf das Identitätskonzept und den Subjektbegriff scheint letztlich in
eine Handlungs- und Gestaltungsunfähigkeit des einzelnen Menschen hineinzufüh-
ren. Damit wird der Anspruch auf die Veränderung von Sozialverhältnissen, die die
Identität vieler einzelner zugunsten der Identität einiger weniger oder der Kollektivi-
dentität eines sozialen Systems gefährden, aufgegeben, weil beides für umöglich ge-
halten wird: sowohl die Veränderung der Sozialverhältnisse als auch die Ausbildung
einer kohärenten Identität. Damit verschließt sich der Verzicht auf den Subjektbegriff
genau dem, was er an der Überinterpretation von Subjektivität als Selbstbehauptung
kritisiert, nämlich der Möglichkeit von Solidarität und Engagement.
Der Verzicht auf den Identitäts- bzw. Subjektbegriff kann aber vor allem - und das ist
für die hier eingenommene religionspädagogische Perspektive bedeutsam - aus theo-
logischen Gründen nicht hingenommen werden:
„Gegen alle Weltbezüge, in denen faktisch der einzelne immer nur fragmentarisch zu sich kommen
kann, hält der kritische Weltabstand der christlichen Religion mit dem Gedanken der persönlichen
Gottesbeziehung kontrafaktisch an der Perspektive einer in den Augen Gottes individuierten (unverwechselbaren,
einmaligen) Subjektivität des einzelnen fest.“ 374
In der unbedingten Zuwendung eines personalen Gottes an jeden personalen, einzel-
nen Menschen, von der wir glaubend ausgehen können, ist also das Festhalten an Un-
verwechselbarkeit und Einmaligkeit bereits vorgegeben. Diese Art von Individualität
ist mehr als die Übernahme einer Rollenidentität im Prozeß der Sozialisation und sie
ist auch mehr als Identität im Sinne eines Selbstbewußtseins, das sich aus eigener
Selbstbespiegelung ergibt. Sie erfordert ein Gegenüber, das weder das Individuum
374 Luther 30.

selbst, noch die anderen ist, aber von beiden Momente enthält: die Vertrautheit des
Selbstgesprächs (Nähe, Liebe, Gnade) sowie auch die Infragestellung durch andere
(Distanz, Kritik, Gericht). Vom Glauben her nennen wir dieses Gegenüber Gott. Das
Gespräch mit diesem Gegenüber ist Gebet; insofern ist Religion Generator von Iden-
tität. 375
Nun zielt diese Leistung von Religion nicht allein auf den einzelnen als einzelnen,
sondern Identitätsbildung bzw. Individuation durch den Glauben schließt auch immer
schon die Perspektive des und der anderen mit ein. Ich werde an dieser Stelle nicht
noch einmal den Aufriß des von Norbert Mette im Anschluß an Helmut Peukert ent-
wickelten religionspädagogischen Verständnisses von Identität als ‘Identität in uni-
versaler Solidarität’ wiederholen; hier sei auf das 5. Kapitel dieser Arbeit (insbes.
5.2.3) verwiesen. Dieser Formel geht es darum, daß menschliche Identität immer nur
im Einlassen auf das ganz andere - auf Gott - und im Einlassen auf andere Menschen
möglich ist. Erst im Umgang mit dem anderen kann sich der einzelne Mensch in sei-
ner Unverwechselbarkeit entdecken und erproben.
Ein solches theologisch und religionspädagogisch fundiertes Identitätsverständnis,
das sich zudem der vollen Bandbreite der gesellschaftlichen Entwicklungen stellt,
wehrt sich sowohl gegen die Verkürzung von Identität auf einen monologischen Pro-
zeß der Wahrung des eigenen Selbst gegenüber allem Fremden, als auch gegen die
generelle Aufgabe des Anspruchs auf Identität. Es verschließt sich aber nicht der Er-
fahrung der Brüchigkeit und steten Gefährdung von Identität durch persönliche Un-
zulänglichkeiten oder gesellschaftsstrukturelle Beschränkungen. Patchworkidentitä-
ten, fragmentarische und gebrochene Identitäten, Identitäten also, die nicht so recht
ins Bild passen, die verwirren, dürfen nicht als Defizite wahrgenommen werden; die
christliche Tradition ermöglicht es, auch Geschichten ‘vom beschädigten Leben’ zu
erzählen, das Fragmentarische anzuerkennen. Sie ermöglicht es aber auch, die Fehl-
formen der Individualisierung, etwa Utilitarismus oder expressiven Individualismus,
zu erkennen und anzuklagen. Franz-Xaver Kaufmann erinnert in diesem Zusammen-
hang an die Tradition der Askese: Der Glaube an Gott gibt auch Kraft zur Distanzie-
rung, die gerade in der Multi-Options-Gesellschaft die Voraussetzung für Autonomie
bildet; Selbstfindung ist - so Kaufmann - immer ein asketischer Prozeß, nämlich zu
lernen, etwas sein-lassen zu können. Die Symboltradition des Christentums erlaubt
es, aus der Anerkennung der Endlichkeit Freiheit zu gewinnen. 376 Nur so können die
375 Vgl. ebd. 71f.
376 Vgl. Kaufmann (1993) 44-46.

Chancen der Individualisierung wahrgenommen werden: Machen wir uns auf den
Weg zu einem solidarischen, kooperativen Individualismus, der weiß, daß die Vo-
raussetzung für die eigene Anerkennung die Anerkennung des und der anderen ist!

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Meta-Erzählungen zu den eigenwilligen Geschichten vom aufrechten Gang.
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Handelns“ der DGVT vom 25.02.-01.03.1996 (unveröffentliches Typoskript)
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Ich versichere, daß ich die schriftliche Hausarbeit - einschließlich beigefügter Zeich-
nungen, Kartenskizzen und Darstellungen - selbständig verfaßt und keine anderen als
die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen der Arbeit, die
dem Wortlaut oder dem Sinne nach anderen Werken entnommen sind, habe ich in je-
dem einzelnen Fall deutlich als Entlehnung kenntlich gemacht. 377
Bonn, 16.11.1996
(Iris Schmeink)
377 STAATLICHES PRÜFUNGSAMT für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen Köln/Außenstelle
Bonn: o.T. [Merkblatt zur Zulassung und zur schriftlichen Hausarbeit]. Köln/Bonn o.J., S. 1.