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Ansaetze zur Mathematisierung der Elektrodynamik - Josef Leisen

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Ansätze <strong>zur</strong> <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong><br />

<strong>Josef</strong> <strong>Leisen</strong>, Universität Mainz<br />

1. Wissenschaftshistorische Perspektiven <strong>der</strong> <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> im 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

2. Elementargesetze als Ansatz <strong>zur</strong> <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong><br />

2.1. Das Biot-Savartsche, das Ampère und das Graßmannsche Elementargesetz<br />

2.2. Elementargesetze und Feldtheorie<br />

2.3. Der wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Status <strong>der</strong><br />

Elementargesetze<br />

2.4. Wilhelm Webers Grundgesetz für bewegte Ladungen<br />

3. Potentiale als Ansatz einer <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong><br />

3.1. Franz Ernst Neumanns Wechselwirkungspotenzial für Ströme<br />

3.2. Retardierte Potentiale und das Ausbreitungsproblem<br />

4. Die <strong>Mathematisierung</strong> Faradayscher Grundgedanken<br />

4.1. Die Maxwellsche Theorie des elektromagnetischen Feldes<br />

4.2. Heinrich Hertz und die Ausbreitung elektrischer Wirkungen<br />

5. Anmerkungen<br />

1. Wissenschaftshistorische Perspektiven <strong>der</strong> <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong><br />

im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

Im Jahre 1820 entdeckte Oersted die Wechselwirkung zwischen einem Magneten und einem<br />

stromdurchflossenen Leiter. Im Jahre 1831 entdeckte Faraday die elektromagnetische<br />

Induktion das Problem <strong>der</strong> Ausbreitung elektromagnetischer Wirkungen wurde von Riemann<br />

1858 bzw. von Maxwell um 1870 in Angriff genommen.<br />

Zwar könnte man die drei Stationen dazu verwenden, um die Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong><br />

<strong>Elektrodynamik</strong> in eine Frühphase, eine mittlere Phase und in eine Spätphase einzuteilen,<br />

jedoch ist es historiographisch sinnvoller das Bild von zwei parallelen, inhaltlich und formal<br />

vernetzten Strängen, die eine ‘konvergente Entwicklung‘ 1 zeigen, zu verwenden. Die<br />

Benennung <strong>der</strong> beiden Stränge mit den Vokabeln ‘ Fernwirkungstheorie und<br />

Nahewirkungstheorie wäre allerdings zu grobschlächtig, zu undifferenziert, weil sie die<br />

inhaltliche und formale Vernetzung unzulässig verwischt. Die Einteilung bezieht sich<br />

1 Vgl. KAISER, S. 13 f und 5. 185—186. Im gleichen Sinne, allerdings undifferenzierter, äußert sich<br />

WIECHERT, S. 49.: “Die neuere Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> scheint zu zeigen, dass die Theorie sich erst<br />

durch die Vereinigung bei<strong>der</strong> Wege befriedigend gestalten läßt.“<br />

1


vielmehr interpretatorisch auf unterschiedliche Sehweisen die Anschauung und die<br />

Darstellung des Übertragungsmechanismus 2 sowie die Verbindung <strong>zur</strong> Lichttheorie,<br />

Leitungstheorie, Äthertheorie und Magnetismustheorie betreffend. Berührsteilen und<br />

Verbindungslinien <strong>der</strong> verschiedenen Sehweisen lohnen einer beson<strong>der</strong>en Untersuchung und<br />

erlauben eine grobe inhaltliche und zeitliche Glie<strong>der</strong>ung in Entwicklungsabschnitte. Beispiele<br />

<strong>der</strong> inhaltlichen und formalen Vernetzung sind:<br />

– Die Beziehungen <strong>der</strong> Elementargesetze untereinan<strong>der</strong> und ihre Einordnung in den<br />

Formalismus einer Feldtheorie<br />

– Die Vermittlung zwischen dem Neumannschen Potential und den Vorstellungen Faradays.<br />

– Die Vermittlung zwischen dem Riemannschen Konzept des retardierten Potentials und<br />

den hertzschen Wellengleichungen.<br />

Eine Arbeit, welche die inhaltliche und formale Vernetzung auf zeigt, trägt zum<br />

wissenschaftshistorischen Verständnis bei, darf sich aber nicht darauf beschränken. 3<br />

In einer wissenschaftshistorischen Arbeit muss ganz entscheidend auch die historische<br />

Vernetzung untersucht werden. Diese umfasst wissenschaftsphilosphische,<br />

wissenschaftstheoretische, metaphysische und nicht zuletzt sehr persönliche historische<br />

Urteile. Vieles aus <strong>der</strong> historischen Tagesdiskussion ist in <strong>der</strong> heutigen Physik in<br />

Vergessenheit geraten. Das kann aber kein Kriterium für historische Wirksamkeit jener<br />

Diskussionsgegenstände sein.<br />

Es kristallisieren sich drei stark diskutierte Ansätze einer <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Elektrodynamik</strong> im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t heraus.<br />

– Der Ansatz einer <strong>Mathematisierung</strong> über Elementargesetze.<br />

– Der Ansatz einer Mathematisierurig über Potentiale.<br />

– Der Ansatz einer <strong>Mathematisierung</strong> Faradayscher Grundgedanken.<br />

Die historische Analyse zeigt, dass sich keiner <strong>der</strong> drei Ansätze unabhängig voneinan<strong>der</strong><br />

entwickelt hat, son<strong>der</strong>n eher zeitlich versetzt und als unvollständig zu bezeichnen sind. Die<br />

Ansätze lassen sich im bestimmten Rahmen gegenseitig einan<strong>der</strong> integrieren. Die<br />

Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> kann in dem Sinne als konvergent<br />

bezeichnet werden, wie eine zunehmend formale und inhaltliche Vernetzung stattfindet. Aber<br />

nicht nur formal auch interpretatorisch findet eine konvergente Entwicklung statt. 4 Die<br />

2 Vgl. MAXWELL (1883), S. VII.<br />

“So sah, Beispiel, F a a d a y in seinem geistigen Auge überall da Kraftlinien den Raum durchdringen, wo die<br />

Mathematiker in die Ferne wirkende Kraftcentren supponirten, und. wo Diese nichts als die Abstände zwischen<br />

den Kraftcentren bemerkten, war für Jenen ein Zwischenmedium vorhanden. F a r a d a y suchte die Ursache <strong>der</strong><br />

Erscheinungen in Actionen, die im Zwischenmedium vor sich gehen sollten, die Mathematiker dagegen gaben<br />

sich da mit zufrieden, dass sie sie in einer Fernwirkung auf die elektrischen Fluida entdeckten.“<br />

3 Die Monographien von WIECHERT (1899) und von REIPP und SOMMER- FELD (1901) sind Beispiele von<br />

Arbeiten, welche die inhaltliche, formale und nur sehr beschränkt auch die historische Vernetzung aufzeigen, Sie<br />

sind ihrerseits heute schon selbst historische Dokumente.<br />

4 Vgl. KAISER, S.185.<br />

“Offensichtlich war gerade die Geschichte <strong>der</strong> 1ektrodyna keine Folge von paradigmagesteuerten Theorien,<br />

son<strong>der</strong>n eine konvergente Entwicklung <strong>der</strong> Physik <strong>der</strong> Stromelemente o<strong>der</strong> bewegter geladener Teilchen und <strong>der</strong><br />

Feldtheorie, hin <strong>zur</strong> klassischen <strong>Elektrodynamik</strong>, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Feldstandpunkt und <strong>der</strong> Teilchenaspekt vereinigt<br />

sind, ohne dass sich jedoch die Existenz geladener Teilchen aus <strong>der</strong> Theorie selbst ergab.“<br />

Vgl. auch WIECHERT, S. 49.<br />

In dieser Arbeit soll weniger die interpretatorisch konvergente Entwicklung als vielmehr die formal inhaltlich<br />

konvergente Entwicklung im Vor<strong>der</strong>grund stehen.<br />

2


Motoren dieser Entwicklung waren wesentlich die Bevorzugung einer mathematischen<br />

Theorienbildung im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t und das Gespür für das formale und<br />

wissenschaftstheoretische Detail.<br />

Kein Physiker, <strong>der</strong> am Anfang des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts eine <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong><br />

Elektrizitätslehre in Angriff nehmen wollte, kam an dem paradigmatischen Vorbildcharakter<br />

<strong>der</strong> newtonschen Mechanik vorbei, die seit dem Erscheinen <strong>der</strong> Prinzipia im Jahre 1687 eine<br />

Phase <strong>der</strong> Konsolidierung 5 insbeson<strong>der</strong>e durch die französischen Mathematiker und Physiker<br />

erfahren hatte. Durch Arbeiten von D‘ALEMBERT (1717—1783), LAGRANGE (1736—<br />

1813), LAPLACE (1749— 1827) und. LEGRENDRE (1752—1823) hatte sie den Charakter<br />

eines deduktiven Systems angenommen. So stellt die Einführung äußerst allgemeiner<br />

Prinzipien (Variationsprinzip von d‘Alembert 1743; Prinzip <strong>der</strong> kleinsten Wirkung von<br />

Lagrange 1760), die Einführung tragfähiger Begriffe, wie den des Potentials 6 (Lagrange 1773)<br />

und die Bereitstellung eines grundlegenden mathematischen Formalismus (Gleichung von<br />

Laplace 1783) das Hauptmerkmal <strong>der</strong> Konsolidierungsphase <strong>der</strong> Newtonschen Mechanik dar,<br />

in Verbindung mit <strong>der</strong> fruchtbaren Anwendung in. <strong>der</strong> Himmelsmechanik.<br />

Die Geschichte <strong>der</strong> Elektrizitätslehre und des Magnetismus weist aus, dass die anfängliche<br />

<strong>Mathematisierung</strong>‚ insbeson<strong>der</strong>e die Formulierung <strong>der</strong> anfänglichen Grundgesetze, auch das<br />

Werk französischer Physiker war wie die Namen André Marie AMPÈRE (1775—1836),<br />

Jean Baptiste BIOT (1774—1862), Felix SAVART (1791—1841), Simeon Denis POISSON<br />

(1781—1840) und Charles Augustin COULOMB (1736—1806) ausweisen.<br />

Übertragen nun diese Physiker den ausgefeilten, abstrakten mathematischen Apparat ihrer<br />

Kollegen in <strong>der</strong> Anfangsphase <strong>der</strong> <strong>Mathematisierung</strong> auf die Elektrizität und den<br />

Magnetismus? Nun, die Anfänge <strong>der</strong> <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong> Elektrostatik, des Magnetismus<br />

und <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> gestalten sich mathematisch bescheidener und newtonischer, von<br />

Elementargesetzen ausgehend. Die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong> drei Gebiete<br />

Elektrostatik, Magnetismus und <strong>Elektrodynamik</strong> 7 gestaltet sich durchaus ähnlich aber zeitlich<br />

verschoben und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. So ist die Phasenverschiebung<br />

zwischen <strong>der</strong> Entdeckung sowie <strong>der</strong> Erforschung beobachtbarer Erscheinungen und ihrer<br />

<strong>Mathematisierung</strong> im Falle des Magnetismus größer als im Fall <strong>der</strong> Elektrostatik und dauert<br />

im Fall <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> nur einige Monate, genauer vom Juli 1820, dem<br />

Entdeckungsdatum OERSTEDS (1777—1851) bis zum Oktober 1820, den<br />

Akademievorträgen von Biot, Ampère und Savart. Außerdem müsste in diesem<br />

Zusammenhang berücksichtigt werden, inwieweit es sich hierbei um die Erstellung von<br />

Gesetzen in mathematischer Form handelt o<strong>der</strong> um die Entwicklung einer mathematisierten<br />

Theorie. So wurden die von Coulomb um 1785 in enger Anlehnung an das Newtonsche<br />

Gravitationsgesetz experimentell bestätigten Kraftgesetze für elektrische Ladungen und<br />

magnetische Pole allgemein anerkannt. 8 Die Entwicklung einer Theorie im Fall <strong>der</strong><br />

Elektrostatik gelang erst Poisson im 1811.<br />

5 Vgl. TRICKER (1), S. 9.<br />

6 Die Idee des Potentials stammt von Lagrange 1773. Vgl. TRICKER (1), S. 10.<br />

7 Zur Geschichte <strong>der</strong> elektrischen und <strong>der</strong> magnetischen Kraftgesetze vgl. WHITTAKER, S. 57—60.<br />

8 Vgl. TRICKER, (1) 12f. Vgl. auch WHITTACKER, S. 60.<br />

Poisson gelang es, das 30 Jahre lang ungelöste Problem zu lösen, wie die Oberflächenverteilung von Ladungen<br />

auf gegenüberstehenden Kugeln aussieht.<br />

3


“Damit verwandelte sich die Elektrostatik praktisch über Nacht von einem ziemlich<br />

verschwommenen qualitativen Gebiet in eine mathematische Lehre von beträchtlicher<br />

Komplexität.“ 9<br />

“Poisson leistete dem Magnetismus ähnliche Dienste wie ein paar Jahre zuvor <strong>der</strong><br />

Elektrostatik. Im Jahre 1824 veröffentlichte er in den Memoires de L‘academie des Sciences<br />

de Paris eine Theorie des Magnetismus, die ebenso weit entwickelt war wie jene, die er<br />

bereits für die Elektrostatik geschaffen hatte.“ 10<br />

Parallel dazu entwickelte Ampère eine Theorie des Magnetismus, die unter dem Stichwort<br />

‘Molekularstromhypothese‘ bekannt ist und von <strong>der</strong> Annahme bewegter Elektrizität in<br />

Magneten ausgeht.<br />

Zunächst überrascht die angeblich unnewtonsche Hypothesenbildung bei einem Verfechter<br />

des newtonschen Hypothesenverdikts. 11 Die ampèreschen Arbeiten zum Magnetismus können<br />

aber nur mit seinen elektrodynamischen Arbeiten als Gesamtwerk beurteilt werden.<br />

Damit die in <strong>der</strong> Gravitationstheorie entwickelten mathematischen Formalismen im<br />

universalistischen Sinn auf die Elektrizität und den Magnetismus und. in die <strong>Elektrodynamik</strong><br />

übertragen werden können, ist eine Unabhängigkeit <strong>der</strong> Theorie von Hypothesen über die<br />

Natur <strong>der</strong> Elektrizität bzw. des Magnetismus, sowie den Fortpflanzungs- und<br />

Übertragungsmechanismus elektrischer und magnetischer Erscheinungen eine notwendige<br />

Voraussetzung. 12 Am Anfang des 19. Jahr hun<strong>der</strong>te bestand eine üppige Hypothesenvielfalt,<br />

die eine Übertragung des ausgefeilten mathematischen Formalismus in diesem Stadium noch<br />

verhin<strong>der</strong>te. Durch den Hypothesenstreit, man denke nur an den zwischen den Dualisten und<br />

Unitaristen, sind die Kräfte <strong>der</strong> Physiker stark gebunden worden. Was die Vielfalt <strong>der</strong><br />

Meinungen, Hypothesen und Vermutungen über die Einheit <strong>der</strong> Naturkräfte im Anfang des<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>ts betrifft, etwa den Zusammenhang zwischen Licht und Elektrizität, so<br />

überrascht diese, stellt sich nämlich im Verlauf <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> eine<br />

zunehmend kritischere, ja fast schon überkritische Haltung ein. Die weitere Entwicklung <strong>der</strong><br />

<strong>Elektrodynamik</strong> ist nach ihrer Anfangsphase im wesentlichen geprägt durch eine<br />

empiristische Haltung und eine mathematisch strukturierte Theorienbildung eng begrenzter<br />

Aufgabengebiete und <strong>der</strong>en formale und inhaltliche Vernetzung. Dabei wird aber “eine<br />

wissenschaftstheoretische Feinfühligkeit deutlich, die man in <strong>der</strong> Physik des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

nicht von vorneherein vermuten würde.“ 13<br />

Die Vielfalt <strong>der</strong> im folgenden Kapitel behandelten Elementargesetze und <strong>der</strong>en Vernetzung<br />

entspringt größtenteils ‘wissenschaftstheoretischer Feinfühligkeit‘ hinsichtlich formaler<br />

Bedenken. 14 Die unkonventionellen Gedanken Faradays gewinnen in dem Augenblick<br />

9 Vgl. TRICKER, S. 13.<br />

10 Vgl. TRICKER, S. 15<br />

11 Vgl. KAISER, S. 24<br />

12 Ein Beispiel für Schwierigkeiten, die sich aus einer zu engen Bindung <strong>der</strong> Theorie an Hypothesen ergeben<br />

stellt die Webersche Theorie dar. Weil die webersche Theorie fundamental auf dem dualen<br />

Leitungsmechanismus beruhte ist das Induktionsgesetz bei Verzicht auf den Leitungsmechanismus in <strong>der</strong><br />

weberschen Theorie nicht mehr ableitbar. Vgl. KAISER, S.122 und WHITTAKER, S. 204f.<br />

13 Vgl. KAISER, S. 75 und S. 151<br />

14 Das schließt die Beziehungen zum Energieerhaltungssatz mit ein.<br />

4


Beachtung, da eine <strong>Mathematisierung</strong> gelingt und da sie in die Vernetzung mit einbezogen<br />

werden können.<br />

2. Elementargesetze als Ansatz <strong>zur</strong> <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong><br />

2.1 Das Biot-Savartsche, das Ampèresche und das Graßmannsche Elementargesetz<br />

Am 21. Juli 1820 entdeckte Oersted die Wechselwirkung eines elektrischen Stromes mit<br />

einem Magneten. Für die Erstellung von Kraftgesetzen lag es nun nahe, wollte man dem<br />

Vorbild des newtonschen Gravitationsgesetzes und des coulombschen Gesetzes folgen, den<br />

Stromkreis in Stromelemente zu unterteilen und ein Kraftgesetz für die Wechselwirkung eines<br />

Magneten mit einem Stromelement bzw. für die Wechselwirkung zweier Stromelemente<br />

verschiedener Stromkreise untereinan<strong>der</strong> aufstellen. Die experimentell messbare Kraft eines<br />

Magneten auf einen geschlossenen Stromkreis, bzw. zweier geschlossener Stromkreis<br />

aufeinan<strong>der</strong> errechnet sich dann durch Integration über die Stromkreise.<br />

Die erste Methode schlugen Biot und Savart ein; die zweite Methode wurde von Ampère<br />

durchgeführt, auf den die Entdeckung <strong>der</strong> magnetischen Wechselwirkung zweier<br />

geschlossener Stromkreise <strong>zur</strong>ückgeht. 15 Die von Biot und. Savart benutzte Apparatur ist in<br />

<strong>der</strong> Fig.1 abgebildet. 16 Damit ermittelten Sie, dass die Wirkung eines geraden (unendlich<br />

langen) Leiters auf einen Magnetpol umgekehrt proportional zum Abstand des Magnetpols<br />

vom Leiter ist. 17<br />

15 Vgl. BIOT, Tafel XI sowie TRICKER, S. 157<br />

16 Vgl. BIOT, S. 189f.<br />

17 Dass die Entdeckung dieser Wechselwirkung nicht aus dem oerstedtschen Versuch ableitbar ist, son<strong>der</strong>n eine<br />

eigenständige Entdeckung darstellt, geht aus <strong>der</strong> Tatsache hervor, dass Eisen von einem Magneten angezogen<br />

wird, aber Eisen untereinan<strong>der</strong> nicht magnetisch wechselwirkt. Darüber hinaus ist diese Entdeckung für die<br />

ampèresche Auffassung von <strong>der</strong> Natur des Magnetismus und die Priorität <strong>der</strong> Elektrizität vor dem Magnetismus<br />

grundlegende Bedeutung<br />

5


In Anlehnung an Laplace gingen sie die Frage nach <strong>der</strong> Kraftwirkung eines Magneten auf ein<br />

Stromelement an, indem <strong>der</strong> Stromkreis in Gedanken in kleine Schnitte zerlegt wurde, wobei<br />

sich die experimentell überprüfte Gesamtwirkung durch Integration ergibt. 18 Biot und Savart<br />

setzten ein 1/r 2 -Gesetz mit einem winkelabhängigen Proportionalitätsfaktor sinα als<br />

Elementarge setz an. Sie hatten nämlich in Experimenten nach <strong>der</strong> Fig. 2 festgestellt, dass sich<br />

die Kraft auf einen geneigten Draht wie <strong>der</strong> Tangens des halben Neigungswinkels verhält 19 ,<br />

so dass das vollständige Gesetz <strong>der</strong> Kraft eines Magnetpols auf einen Strom durchflossenen<br />

Leiter unter dem Neigungswinkel α in elektromagnetischen Einheiten lautet:<br />

F= i/d*tanα/2. 20 Für die Wechselwirkung zwischen einem Stromelement und einem<br />

Magnetpol gilt dann wegen 21<br />

Führten Biot und. Savart ausschließlich Experimente über die Wechselwirkung eines<br />

Magneten mit einem Strom durchflossenen Leiter durch, so behandelte Ampère die<br />

Wechselwirkung zwischen zwei Strom durchflossenen Leitern, Dieser Entscheidung Ampères<br />

liegt eine theoretische Konzeption zugrunde, nämlich die Anbindung <strong>der</strong> elektrischen<br />

Erscheinungen in ihrer <strong>Mathematisierung</strong> an die Fernwirkungstheorie Newtons und die<br />

18 “Dann wird das Gesetz, so dargestellt, darauf hinauskommen, dass die Gesamtwirkung des<br />

Verbindungsdrahtes auf irgendein magnetisches, südliches o<strong>der</strong> nördliches, Element sich umgekehrt wie <strong>der</strong><br />

geradlinige Abstand dieses Elements vom Draht verhält.“ Vgl. BIOT, S. 170.<br />

19 Ursprünglich hatten Biot und Savart eine Proportionalität zum Neigungswinkel behauptet. Hieran übte<br />

Ampère Kritik in Bezug auf die 1. Auflage des Biotschen Werkes. In <strong>der</strong> 3. Auflage, welcher <strong>der</strong> deutschen<br />

Übersetzung von Fechner zugrunde liegt, ist <strong>der</strong> Fehler korrigiert. Vgl. hierzu TRICKER (1), S. 39 ff. Im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Messgenauigkeit war eine Entscheidung gar nicht so einfach.<br />

20 Vgl. BIOT, S. 194<br />

21 Zur Integration siehe TRICKER, S. 41.<br />

6


Zurückführung <strong>der</strong> Eigenschaften eines Magneten auf elektrische Ströme. 22 Durch diese<br />

Entscheidung wird Ampère zu <strong>der</strong> Annahme einer Wechselwirkung zwischen elementaren<br />

Stromelementen geführt; denn in <strong>der</strong> newtonschen Theorie werden die Kräfte als elementar,<br />

als nicht weiter analysierbar aufgefasst. In enger Anlehnung an Newton sollen die Kräfte in<br />

<strong>der</strong> Verbindungslinie <strong>der</strong> Stromelemente wirken und dem Prinzip von Actio und. Reactio<br />

genügen. Die Entscheidung für diese Grundannahmen erweist sich für den Fall <strong>der</strong><br />

elektromagnetischen Wechselwirkung als für den Gesamtaufbau <strong>der</strong> Theorie folgenreich.<br />

Es ist beachtlich welcher Präzision Ampère den Ansatz konsequent entwickelt und an die<br />

Experimente angleicht und wie darauf fußend eine umfassende Theorie des Magnetismus<br />

entwickelt. Den vier ampèreschen Grundexperimenten kommt dabei eine entscheidende<br />

Rolle zu. Schon in <strong>der</strong> experimentellen Grundidee bildet das ampèresche Vorgehen <strong>zur</strong><br />

mathematischen Durchdringung eine qualitativ höhere Stufe dar als die biot-savartschen<br />

Experimente, Bei Ampère treten Gleichgewichtsexperimente an die Stelle <strong>der</strong> bisher<br />

verwendeten Schwingungsexperimente. 23<br />

Die von Ampère verwendete Apparatur ist in den folgenden Figuren abgebildet. 24<br />

Das 1. Experiment zeigt, dass die Wirkung eines Stromes in dem absoluten Wert unverän<strong>der</strong>t<br />

bleibt, wenn die Stromrichtung umgekehrt wird.<br />

22 Vgl. Ampère in TRICKER, S. 212.<br />

“Sind die Eigenschaften eines Magneten aber nur auf elektrische Ströme <strong>zur</strong>ückzuführen, die die Teilchen des<br />

Magneten umkreisen, so muß man etwas über diese Ströme wissen, um zu definiten Schlußfolgerungen<br />

bezüglich <strong>der</strong> Wirkung eines leitenden Drahtes auf diese Ströme zu kommen.“<br />

23 Ampère beschreibt selbst die Vorteile seiner Methode, nämlich die <strong>der</strong> direkten Berechnung <strong>der</strong><br />

Wechselwirkung zwischen zwei Stromelementen unter <strong>der</strong> Bedingung, dass die experimentell fest gestellten<br />

Gleichgewichte für alle Formen und Ausdehnungen nicht gestört werden. Vgl. Ampère in TRICKER, S. 209-<br />

211.<br />

24 Entnommen aus TRECKER, S. 214, 216, 222, 226. Zu den vier ampèreschen Experimenten vgl. auch REIFF<br />

und SOMMERFELD, S.11, KAISER, S. 26-33 und TRICKER, S. 62-68.<br />

7


Das 2. Experiment zeigt, dass ein in Zickzacklinie ausgebildeter Draht, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Geraden<br />

nur wenig abweicht, dieselbe Wirkung hat wie ein in <strong>der</strong> äußeren Form gleichlanger gera<strong>der</strong><br />

Draht. Zwei aufeinan<strong>der</strong> senkrecht stehende Stromelemente üben folglich keine Kräfte<br />

aufeinan<strong>der</strong> aus.<br />

Das 3. Experiment zeigt, dass ein nur um die Drehachse beweglicher kreisförmiger Leiter von<br />

einem beliebigen geschlossenen Strom kreis nicht in Rotation versetzt wird. Damit ist die<br />

Wirkung eines beliebigen geschlossenen Stromes auf ein Stromelement senkrecht zu diesem<br />

gezeigt.<br />

8


Im 4. Experiment wird gezeigt, dass die Wirkung zweier Stromelemente aufeinan<strong>der</strong><br />

unverän<strong>der</strong>t bleibt, wenn die Elemente bei gleich bleibendem Strom und ähnlicher relativer<br />

Lage im selben Verhältnis geän<strong>der</strong>t werden wie ihre Entfernung. M.a.W. das<br />

Wechselwirkungsgesetz darf nicht von <strong>der</strong> Dimension einer Länge abhängen.<br />

Anlage und Auswahl <strong>der</strong> vier Experimente sind im Hinblick auf die darauf entwickelte<br />

Theorie bestechend und lassen in ihrer Eleganz auf genialen Scharfsinn schließen. Sie<br />

erweisen sich für die von Ampère entwickelte Theorie als notwendig und hinreichend. 25<br />

Ampères Vorgehen schließt allerdings aus, dass Stromelemente Drehmomente aufeinan<strong>der</strong><br />

ausüben; ein Punkt, <strong>der</strong> von den Kritikern aufgenommen wird. 26<br />

“Ich werde nun erläutern, wie man aus diesen Gleichgewichtszuständen streng die Formel<br />

herleiten kann, mit <strong>der</strong> ich die Wechselwirkung zwischen zwei Elementen eines Voltaschen<br />

Stromes beschrieben habe. Dabei werde ich zeigen, dass dies die einzige Kraft ist, die mit<br />

allen experimentellen Tatsachen in Einklang ist und. entlang <strong>der</strong> geraden Verbindungslinie<br />

<strong>der</strong> Mittelpunkte wirkt.“ 27<br />

25 Vgl. TRECKER, S. 213. Ampère zitiert nach TRICKER, S. 213.<br />

“Die verschiedenden Gleichgewichtszustände, die ich durch präzise Versuche festgestellt habe, liefern die<br />

Gesetze, die direkt zu dem mathematischen Ausdruck für die kraft führen, die zwei Elemente stromführen<strong>der</strong><br />

Drähte aufeinan<strong>der</strong> ausüben.“<br />

Vgl. TRICKER, S. 228. Ampère zitiert nach TRICKER, S. 228.<br />

“Ich werde nun erläutern, wie man aus diesen Gleichgewichtszuständen streng die Formel herleiten kann, mit <strong>der</strong><br />

ich die Wechselwirkung zwischen zwei Elementen eines VOLTAschen Stromes beschrieben habe. D werde ich<br />

zeigen, daß dies die einzige Kraft ist, die mit allen exppimentellen Tatsachen in Einklang ist und entlang <strong>der</strong><br />

geraden Verbindungslinie <strong>der</strong> Mittelpunkte wirkt.“<br />

Vgl. dazu auch TRICKER, S. 66 und REIFF und SOMMERFELD, S. 13<br />

26 Vgl. TRICKER, S. 65.<br />

27 Zitiert nach TRICKER, S. 228.<br />

9


Es sei r die Entfernung <strong>der</strong> Stromelemente ds und ds‘. δ bzw. δ‘ ihre Winkel zu r und ω <strong>der</strong><br />

Winkel, <strong>der</strong> beiden Ebenen (ds, r) und (ds‘, r). Aus den Erfahrungstatsachen 1 und 2 folgert<br />

Ampère die allgemeine Form des Wechelwirkungsgesetzes zwischen Stromelementen: 28<br />

wobei n und k<br />

zunächst noch unbekannte Zahlen sind. Ampère führte den Winkels zwischen ds und ds‘ ein<br />

und ging zu den partiellen Differentialquotienten (Richtungskosinussen) über. Dadurch erhielt<br />

er die Form:<br />

Indem er das 3. Experiment in die Argumentation einbringt, erhält er die Beziehung 1-n-2k=0<br />

und aus einer Dimensionsbetrachtung aufgrund des vierten Experimentes ermittelt er n=2 und<br />

k=-172, so dass das ampèresche Gesetz die Form annimmt: 29<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> mittels Ele— mentargesetze das 1 von<br />

Hermann Günther GRASSMANNN (1809-1877) aufgestellte Wechselwirkungsgesetz als<br />

Alternative zum ampèreschen Grundgesetz zu erwähnen. Der Inhalt <strong>der</strong> graßmannschen<br />

Arbeit wird dem Titel ‘Neue Theorie <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong>‘ nicht gerecht, handelt es sich<br />

einerseits um formale Einwände, an<strong>der</strong>erseits um mehr metaphysische, die allgemeinen<br />

Voraussetzungen betreffenden Einwände. 30 In keinem Fall geht Graßmann über die<br />

28 “Die Betrachtung <strong>der</strong> verschiedenen Anziehungen und Abstoßungen, die in <strong>der</strong> Natur beobachtet werden,<br />

führten mich zu <strong>der</strong> Annahme, daß die Kraft, nach <strong>der</strong> ich suchte, sich irgendwie umgekehrt zu dem Abstand<br />

verhält.“ zitiert nach TRICKER, S. 230.<br />

Zur Ableitung <strong>der</strong> Formel siehe auch KAISER, S.27-33 und WHITTAKER, S. 85. “Diese Ableitung ist<br />

diskutiert und stellenweise verschärft von J. Liouville, …“ Vgl. REIFF und SOMMERFELD, S. 11, Anm. 8.<br />

29 Vgl. dazu die Anmerkung von R.A.R. TRICKER, S. 240.<br />

“Wahrscheinlich fand Ampère diese Schlußkette nicht, bevor er seine Abhandlung geschrieben hatte. Sie wird<br />

nur in einer Anmerkung am Ende <strong>der</strong> Abhandlung angegeben. Er fand diese Methode, nachdem er sich mit<br />

ähnlichen Schlußfolgerungen auseinan<strong>der</strong>gesetzt hatt, die LAPLACE aus einigen Experimenten von BIOT<br />

gezogen hatte.“ Vgl. TRICKER, S. 132.<br />

30 Vgl. TRICKER, S. 132<br />

10


ampéreschen Grundideen hinaus, so dass ihre historische Wirksamkeit auf die<br />

Tagesdiskussion beschränkt blieb. 31 Die historische Rolle Graßmanns ist weniger im Beitrag<br />

genialer, neuer Ideen zu finden, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Eröffnung einer Diskussion über die<br />

Voraussetzungen <strong>der</strong> newtonschen Physik in <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> und ihrer Analogien, die<br />

eine Erschütterung ihrer paradigmatischen Rolle <strong>zur</strong> Folge hatte. Er kann gewissermaßen als<br />

Vertreter einer Folge von ins beson<strong>der</strong>e deutschen Physikern gesehen werden, 32 die durch ihre<br />

kritische, rationale Haltung wesentlich <strong>zur</strong> Klärung <strong>der</strong> inneren Vernetzung und <strong>zur</strong> geistigen<br />

Durchdringung <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> beigetragen haben, wenn sie auch selbst wesentliche<br />

Zusammenhänge, wie im Fall Graßmanns nicht bemerkt haben. 33<br />

Gegen die ampèresche Form des Wechselwirkungsgesetzes wandte Graßmann ein, dass<br />

Ampère die formale Anlehnung an das Newtonsche Gravitationsgesetz durch die apriorische<br />

Annahme <strong>der</strong> Wirkung in <strong>der</strong> Verbindungslinie und <strong>der</strong> Verwendung des<br />

Wechselwirkungsaxioms grundlos zu weit treibe, wo doch Stromelemente auch eine Richtung<br />

also Vektorcharakter haben. Ein weiterer Einwand richtete sich gegen den komplizierten<br />

ampèreschen Winkelanteil, <strong>der</strong> darüber hinaus in einer bestimmten geometrischen Anordnung<br />

<strong>der</strong> Stromelemente zueinan<strong>der</strong> verschwindet. 34 Graßmanns Elementargesetz lautet:<br />

, wobei n die Normale zu <strong>der</strong> Ebene (r,<br />

ds) ist. Damit steht die Kraft senkrecht auf n und auf ds‘. Das Wechselwirkungsprinzip ist<br />

damit verletzt. Das graßmannsche Elementargesetz lässt des Weiteren die von Ampère<br />

ausgeschlossenen Drehungen von Stromelementen zu, so etwa wenn beide Elemente in einer<br />

Ebene liegen. 35 Das formale Produkt Masse mal Winkelbeschleunigung ergibt dann eine<br />

Bewegungsgleichung, in <strong>der</strong> Graßmann die wahre Analogie zum Newtonschen<br />

31 Die Bedeutung Graßmanns für die Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> ist in <strong>der</strong> Einführung <strong>der</strong> Vektoranalysis<br />

zu suchen.<br />

32 Hier ist beson<strong>der</strong>s die Königsberger Schule zu nennen.<br />

33 Vgl. WIECHERT, S. 26.<br />

34 Vgl. Graßmann in TRICKER S. 269.<br />

3. Schon die verwickelte Gestalt dieser Formel muß einen Verdacht gegen sie erregen. Dieser Verdacht muß<br />

noch gesteigert werden, wenn man sie anzuwenden versucht. Betrachtet man z. B. den einfachsten Fall, daß<br />

beide Stromteile parallel, also ε = 0, α = β seien, so geht <strong>der</strong> AMPÈREsche Ausdruck über in<br />

ab/r 2 *(2 — 3 cos 2 α ), (1*)<br />

woraus hervorgeht, daß wenn cos 2 α gleich 2/3 o<strong>der</strong>, was auf dasselbe hinauskommt, wenn cos 2 α gleich 1/3 ist,<br />

d. h., wenn <strong>der</strong> Mittelpunkt des angehobenen Elementes auf einer Kegeloberfläche liegt, <strong>der</strong>en Spitze in dem<br />

anziehenden Element und <strong>der</strong>en Winkel an <strong>der</strong> Spitze zum Cosinus 1/3 hat, keine Einwirkung erfolgt, innerhalb<br />

<strong>der</strong>selben Abstoßung, außerhalb Anziehung stattfindet. Dieses Ergebnis hat in <strong>der</strong> Tat zu wenig<br />

Wahrscheinlichkeit, als daß man nicht gegen die Annahme, aus welcher es hervorgeht, einen Verdacht schöpfen<br />

sollte, so sehr dieselbe auch dem Scheine nach durch die Analogie aller übrigen Kräfte vertreten sein mag. Dazu<br />

kommt, daß die Anwendung jener Analogie auf unser Gebiet als eine wenig begründete erscheint. Denn bei allen<br />

an<strong>der</strong>en Kräften sind es ursprünglich punktartige Elemente, d. h. Elemente ohne bestimmte Richtungen, welche<br />

aufeinan<strong>der</strong> wirken, und bei diesen läßt sich die Notwendigkeit <strong>der</strong> gegenseitigen Wirkung längs ihrer<br />

Verbindungslinie sogar a priori ableiten; was berechtigt uns aber, dieses Analogie auf ein ganz fremdartiges<br />

Gebiet, auf welchem die Elemente mit bestimmten Richtungen begabt sind, zu übertragen? Auch spricht die<br />

Formel selbst, welche keineswegs etwa <strong>der</strong> Formel für die Anziehung durch Gravitation ähnlich ist, es deutlich<br />

genug aus, daß die Analogie in dieser Weise nicht stattfindet.<br />

35 REIFF und SOMMERFELD, S. 21.<br />

11


Bewegungsgesetz sieht und nicht in <strong>der</strong> ampèreschen Auffassung <strong>der</strong> Beschleunigung von<br />

Massen in <strong>der</strong> Verbindungslinie. 36<br />

Über das Graßmannsche Grundgesetz schreibt WIECHERT:<br />

“Dieses Gesetz wurde 1845 von Graßmann durch Anwendung <strong>der</strong> Ampère Formel auf<br />

geschlossene Stromkreise gewonnen. 1868 gelangte R e y n a r d zu ihm, indem er die<br />

Beobachtungen selbst in ähnlicher Weise wie A m p r e verwerthete, jedoch von <strong>der</strong><br />

Voraussetzung ausging, dass die elementaren Kräfte, durch das Zwischenmedium übermittelt,<br />

auf den Elementen senkrecht stehen müssten. 1875 fand es C 1 a u s i u s als Folgerung seines<br />

elektrodynamischen Grundgesetzes. — Den Zusammenhang mit <strong>der</strong> magnetischen Kraft<br />

scheinen alle diese Forscher nicht bemerkt zu haben.“ 37<br />

R, Reift und A. Sommerfeld schreiben 1902:<br />

„Vom Standpunkte <strong>der</strong> heutigen Elektronentheorie würde man unter den elektrodynamischen<br />

Gesetzen dem Graßmann‘schen, unter den Grundgesetzen dem Clausis‘schen den Vorzug<br />

geben, nachdem man beide Gesetze noch durch die von Gauß postulierte und von Maxwell<br />

realisierte konstruierbare Vorstellung von <strong>der</strong> zeitlichen Ausbreitung <strong>der</strong> elektrischen<br />

Wirkungen ergänzt bat.“ 38<br />

Dies relativiert ein wenig die oben gemachte .Behauptung über die historische Wirksamkeit.<br />

<strong>der</strong> Rolle Graßmanns.<br />

Keines <strong>der</strong> drei Elementargesetzte berücksichtigt die zweite Wurzel <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong>,<br />

nämlich die Induktionserscheinungen Faradays. Die Entdeckung <strong>der</strong> Induktion 1831 liegt<br />

nach <strong>der</strong> Aufstellung des ampèreschen und des biot-savartschen Gesetzes, aber vor <strong>der</strong><br />

Aufstellung des graßmannschen Gesetzes 1845.<br />

2.2 Elementargesetze und. Feldtheorie<br />

Im Folgenden werden die Beziehungen <strong>der</strong> Elementargesetze untereinan<strong>der</strong> und ihre<br />

Einordnung in die Systematik <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong>, also die Vernetzung mit <strong>der</strong> Feldtheorie<br />

untersucht.<br />

In <strong>der</strong> integrierten Form, in Anwendung auf geschlossene Stromkreise, führen die<br />

Elementargesetze von Ampère, Biot-Savart und Graßmann zu demselben Ergebnis:<br />

wobei die vektorielle Darstellung <strong>der</strong> Feldtheorie gewählt wurde. Ampère selbst gibt eine<br />

Reihe von Umformungen an und führt einen <strong>zur</strong> heutigen magnetischen Feldstärke<br />

proportionalen Vektor D‚ ‘Directrice‘ genannt, ein, den er aber als bloße Rechnungsgröße<br />

auffasst. Von einem Feldstandpunkt kann bei Ampère nicht die Rede sein.<br />

36 REIFF und SOMMERFELD, S. 21 und KAISER, S. 59. Man beachte die Verbindung <strong>zur</strong><br />

‘Ausdehnungslehre‘ Graßmanns von 1844.<br />

37 WIECHERT, S.26 wie Anm. 36<br />

38 REIFF und SOMMERFELD, S. 62<br />

12


Bei einer entsprechend gewählten geometrischen Anordnung <strong>der</strong> Leiterelemente ergibt sich<br />

aus dem Ampère Gesetz für die x-Komponente <strong>der</strong> Gesamtwirkung des integrierten<br />

Stromkreises s auf ds’<br />

λ, µ, ν sind die Winkel von ds‘ mit den Koordinatenachsen. Den Vektor D mit den<br />

Koordinatenachsen<br />

nennt Ampère ‘Directrice’. Im Vektorkalkül gilt:<br />

Letzteres bringt die bekannte Drei-Finger-Regel, sowie den Inhalt des 2. und 3. Ampère<br />

Grundexperimentes zum Ausdruck.<br />

Für die Gesamtkraft eines Stromkreises s auf eine Stromelement ds’ welches vom Strom i‘<br />

durchflossen wird, ergibt sich in vektorieller Schreibweise<br />

Letzteres ist aber das über den Stromkreis s integrierte Biot-Savartsche Gesetz. 39 In <strong>der</strong><br />

analytischen Form leitete Ampère selbst das Biot-Savartsche Gesetz her. 40<br />

Der Zusammenhang mit dem Graßmannschen Gesetz lässt sich nun leicht ziehen. Dazu geht<br />

man zum Differential <strong>der</strong> ‘Directrice‘ über.<br />

39 Bemerkung <strong>zur</strong> Namensgebung: Das ursprüngliche Biot-Savartsche Gesetz bezieht sich auf die<br />

Wechselwirkung eines Stromelementes mit einem Magnetpol. Nach <strong>der</strong> Ampèreschen Auffassung von <strong>der</strong><br />

Zurückführung des Magnetismus auf Ströme lässt sich das Biot-Savartsche Gesetz auch auf Stromelemente<br />

ausdehnen. Dabei wird einem Stromelement die magnetische Feldstärke i‘ds’xB/r 3 zugesprochen. Als<br />

Komplement Umkehrung, des Biot-Savart Gesetzes wird in <strong>der</strong> älteren Literatur die Kraftformel F=i‘ds‘xB<br />

bezeichnet.<br />

40 Zur Identität Formel von Ampère und BiotSavart bei <strong>der</strong> Integration über einen vollständigen Stromkreis<br />

siehe: TRICKER, S. 78-81 ‚ KAISER, S. 34-36 und WHITTAKER, S. 86-87.<br />

Vgl. auch REIFF und SOMMERFELD, S.14 und. 17f. und WIECHERT, S. 22-25.<br />

Das Biot-Savartsche Gesetz lässt sich auch aus den experimentellen Ergebnissen Ampères ableiten. Vgl. dazu<br />

TRICKER, S. 81-86.<br />

13


also und das Graßmann Gesetz lautet<br />

das Ampère Gesetz übergeht.<br />

, welches in integrierter Form in<br />

„Graßmann verteilt also, ohne es übrigens selbst auszusprechen, die von Ampère abgeleitete<br />

Integralwirkung eines geschlossenen Stromes in naheliegen<strong>der</strong> Weise auf die einzelnen<br />

Elemente des geschlossenen Stromes. Daß das Graßmannsche Gesetz für geschlossene<br />

Ströme zu de Ergebnis wie das Ampère führen muß, ist auf Grund <strong>der</strong> vorigen Formeln<br />

einleuchtend.“ 41<br />

In <strong>der</strong> integrierten und experimentell überprüfbaren Form sind die drei genannten<br />

Elementargesetze identisch. In <strong>der</strong> nicht integrierten Form weichen sie, abgesehen vom<br />

Wechselwirkungsprinzip, erheblich voneinan<strong>der</strong> ab.<br />

Zur Einordnung des Ampère Gesetzes in die Terminologie <strong>der</strong> Feldtheorie betrachte man<br />

noch einmal die Ampèresche Directrice D =(A, B, C) 42 mit<br />

Der Vektor hängt nur von dem Integrationsweg, also <strong>der</strong> geschlossenen Strombahn s und dem<br />

Ort des Elementes ds‘ ab, auf welches <strong>der</strong> Stromkreis s einwirkt. 43<br />

Wegen und usw. lässt sich D auch schreiben als<br />

usw.<br />

41 REIFF und SOMMERFELD, S. 23.<br />

Dieser Ampèresche Vektor D darf nicht mit dem Maxwellschen Vektor D <strong>der</strong> dielektrischen Verschiebung<br />

verwechselt werden.<br />

42 So lautet die x-Komponente für die Kraft zweier Stromelemente nach Ampère<br />

Der Biot-Savartsche Ausdruck umfasst nur den letzten Term. Bei <strong>der</strong> Integration über den Stromkreis s<br />

verschwindet <strong>der</strong> 1. Term. Siehe da TRICKER, S. 79f.<br />

43 Vgl. REIFF und SOMMERFELD, S. 14.<br />

“In den Größen A, B, C sind die Zähler <strong>der</strong> Integralelemente die (mit Vorzeichen gerechnet) doppelten<br />

Projektionen <strong>der</strong> durch die Elemente des geschlossenen Stromes und die Radienvektoren r bestimmten Dreiecke<br />

auf die Koordinatenebenen. Für ungeschlossene Ströme o<strong>der</strong> Stromelemente kommt <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Direktrix bei<br />

Ampère nicht vor.“<br />

14


Nach dem Vektorkalkül lässt sich dann bzw. die magnetische Feldstärke B=iD schreiben als<br />

B = rotA, wobei A bekanntlich ein Vektorpotential ist . 44<br />

Beim Übergang zu beliebigen Stromverteilungen erhält man. die Gleichungen<br />

44<br />

und<br />

Zunächst betrachte man nur die Wechselwirkung zwischen zwei Stromelementen. Die Integranden <strong>der</strong><br />

ampèreschen Direktrix lauten dann:<br />

dB ist <strong>der</strong> Beitrag des Stromelementes ds zum magnetischen Feld im Koordinatenursprung. Durch Vertauschung<br />

<strong>der</strong> Rolle von Integrationspunkt und Aufpunkt erhält man durch Integration die bekannte Formel B = rot A.<br />

Mittels <strong>der</strong> Ampèreschen Methode des ‘Äquivalenten magnetischen Blattes‘ lässt sich B als Gradient einer<br />

skalaren Potentialfunktion nämlich des Raumwinkels ω schreiben, wenn das Feld auf Drähte beschränkt bleibt<br />

und außerhalb <strong>der</strong> stromführenden Leiter betrachtet wird. Zum ‘Äquivalenten magnetischen Blatt‘ Vg1.<br />

TRICKER, S. 86.<br />

Zur obigen Ableitung vgl. auch TRICKER, S. 92-94 und HELMHOLTZ, S. 336.<br />

15


Bekanntlich sind Vektorpotentiale nicht eindeutig bestimmt, da sie durch Terme<br />

verschwinden<strong>der</strong> Rotation, etwa den Gradienten einer Funktion ergänzt werden können. In<br />

Analogie zum skalaren Potential <strong>der</strong> Elektrostatik ist die Poissongleichung<br />

erfüllt.<br />

Also gilt , weil div A = 0 ist. 45<br />

rot B = 4πj ist bis auf die Verschiebungsstromdichte die 1. Maxwellsche Gleichung. Es gilt<br />

außerdem div B = 0, was die Quellenfreiheit also den Inhalt <strong>der</strong> 4. Maxwelschen Gleichung<br />

wie<strong>der</strong>gibt. Damit lässt sich das Ampère Gesetz vollständig in den heutigen Aufbau <strong>der</strong><br />

<strong>Elektrodynamik</strong> in <strong>der</strong> Terminologie einer Feldtheorie integrieren. 46<br />

In dem Augenblick, da das Ampère Gesetz in <strong>der</strong> Biot-Savartschen Fassung für<br />

ungeschlossene Ströme als gültig angesehen wird, muss die 1. Maxwellsche Gleichung um<br />

den Verschiebungsstrom ergänzt werden, um die Konsistenz mit <strong>der</strong><br />

Kontinuitätsgleichung zu wahren. M.a.W. das Ampère Gesetz muss immer dann um<br />

ergänzt werden, wenn ungeschlossene Ströme (dielektrische Polarisationen) im Spiel<br />

sind. Es ist das Verdienst Maxwells, diesen Sachverhalt erkannt zu haben. 47 Solange man sich<br />

auf geschlossene Ströme beschränkt, sind die Vorteile einer Feldtheorie nicht offensichtlich.<br />

“Wobei die Möglichkeit, das Ampère Gesetz für Stromelemente, das ja ein<br />

Fernwirkungsgesetz ist, in <strong>der</strong> Terminologie einer Feldtheorie zu formulieren, sich genau an<br />

<strong>der</strong> Stelle eröffnet, wo das Ampère Elementargesetz <strong>zur</strong> Anwendung auf geschlossene Ströme<br />

integriert wird ...“ 48<br />

2.3 Der wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Status <strong>der</strong><br />

Elementargesetze<br />

Vor einer Überinterpretation <strong>der</strong> formalen und inhaltlichen Vernetzung <strong>der</strong> Elementargesetze<br />

untereinan<strong>der</strong> und mit <strong>der</strong> Feldtheorie muss hinsichtlich ihres wissenschaftshistorischen<br />

Status gewarnt werden. Der Horizont <strong>der</strong> inneren Vernetzung hatte sich um die Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

wende völlig gelichtet wie die Monographien von Wiechert (1899) und. Reiff und.<br />

45 Für geschlossene Stromsysteme ist div j = 0 und damit auch<br />

46 Vgl. KAISER, S. 41<br />

47 Vgl. WIECHERT, S. 27<br />

Diese Argumentationsrichtung soll lediglich den Zusammenhang mit <strong>der</strong> Feldtheorie aufzeigen und ist nicht die<br />

von Maxwell selbst, auch wenn er die Kontinuitätsgleichung im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Einführung des<br />

Verschiebungsstromes angibt. Zur Maxwellschen Erweiterung des Ampèreschen Gesetzes vgl. KAISER, S. 144.<br />

“Die Erweiterung <strong>der</strong> auf dem Ampèreschen Gesetzes basierenden Theorien durch Maxwell war also keine<br />

Folge einer Konsistenzbetrachtung im Hinblick auf ältere Theorien, sie war einfach bedingt durch die<br />

Interpretation <strong>der</strong> zeitlichen Verän<strong>der</strong>ung des Verschiebungsfeldes als Strom.“<br />

48 Vgl. KAISER, S. 41<br />

16


Sommerfeld (1902) bekunden. Dem war allerdings eine lange Phase des allmählichen<br />

rationalen Herantastens vorangegangen. Um den historischen Status und die historische<br />

Wirksamkeit <strong>der</strong> Elementargesetze adäquat einzuschätzen, müssen die<br />

wissenschaftsphilosophischen, wissenschaftstheoretischen und physikalischen Argumente <strong>der</strong><br />

Tagesdiskussion mit in Betracht gezogen werden, d.h. die historische Vernetzung muss<br />

untersucht werden.<br />

Wenn das Ampère Gesetz in den heutigen Physiklehrbüchern kaum noch erwähnt wird., so ist<br />

das ein Zeichen dafür, wie die heutige Darstellung <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> als<br />

Nahwirkungstheorie von ihren fernwirkungstheoretischen Wurzeln befreit wurde, obwohl wie<br />

bereits gezeigt <strong>der</strong> Unterschied des ampèreschen Ansatzes zu dem Maxwells in. <strong>der</strong><br />

Beschränkung auf stationäre Ströme begründet ist und weniger im formalen Gegensatz<br />

zwischen Fernwirkungstheorie und Nahewirkungstheorie. Die Geringschätzung ampèrescher<br />

Ideen durch Vernachlässigung ist erst ein Kind mo<strong>der</strong>ner Zeiten, wie Zitate zeigen.<br />

“Die experimentelle Forschung, durch die Ampère die Gesetze <strong>der</strong> mechanischen zwischen<br />

elektrischen Strömen aufgestellt hat, ist eine <strong>der</strong> faszinierensten Leistungen <strong>der</strong><br />

Naturwissenschaften. Das Ganze, Theorie und Experiment, scheint erwachsen und. in voller<br />

Stärke dem Gehirn des ‘N <strong>der</strong> Elektrizität‘ entsprungen zu sein. Es ist vollendet in <strong>der</strong> Form<br />

und von unangreifbarer Genauigkeit. Es wird. in einer Formel zusammengefaßt, aus <strong>der</strong> alle<br />

Phänomene ab geleitet werden können. Diese Formel muß immer die grundlegende Formel<br />

<strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> bleiben.“ 49<br />

Dass das Ampère Gesetz den zweiten Pfeiler <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong>, nämlich die Induktion,<br />

nicht berücksichtigt, ist historisch dadurch bedingt, dass diese erst 1831 von FARADAY<br />

(1791-1867) entdeckt wurde, während die Ampère Gesetze in den frühen zwanziger Jahren<br />

aufgestellt wurden.<br />

Ampère <strong>der</strong> sich in seiner Wissenschaftsphilosophie sehr eng an Newton anlehnte, war damit<br />

zufrieden, die mathematischen Gesetze zu formulieren und eine ‘Erklärung‘<br />

<strong>zur</strong>ückzustellen. 50 Insgesamt war seine Grundhaltung streng empirisch. 51<br />

49 Maxwell zitiert nach KAISER, S. 49f.<br />

Vgl. auch die Äußerungen Oliver Heavisides, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Integration des ampèreschen Gesetzes dessen<br />

eigentlichen Wert sah und nicht in dem Grundgesetz selber. Vgl. KAISER, S. 33.<br />

50 Ampère zitiert nach TRICKER, S. 208<br />

Das gleiche gilt für die Formel, mit <strong>der</strong> ich die elektro- dynamische Wirkung beschrieben habe. Welchen<br />

physikalischen Ursachen die durch diese Wirkung hervorgerufenen Erscheinungen auch zugeschrieben werden<br />

mögen, die von mir aufgestellte Formel wird immer die wahre Beschreibung <strong>der</strong> Wirklichkeit bleiben. Sollte<br />

diese Formel später einmal mit Hilfe von Überlegungen hergeleitet werden, durch die viele an<strong>der</strong>e<br />

Erscheinungen erklärt wurden, so würde auf diesem Gebiet <strong>der</strong> Physik ein weiterer Fortschritt erzielt worden<br />

sein. Solche Überlegungen sind zum Beispiel die Annahme einer Kraft, die dem reziproken Abstandsquadrat<br />

proportional ist; Überlegungen, bei denen <strong>der</strong> Abstand zwischen den wechsel- wirkenden Teilchen<br />

unberücksichtigt bleibt, o<strong>der</strong> eine Erklärung <strong>der</strong> beobachteten Erscheinungen durch Schwingungen einer<br />

Flüssigkeit im Raum. Diese Untersuchungen, mit denen ich mich, obwohl ich ihre Wichtigkeit vollkommen<br />

anerkenne, nicht weiter beschäftigen werde, werden nichts am Ergebnis meiner Arbeiten än<strong>der</strong>n. Denn die<br />

Hypothese, die eventuell anerkannt wird, muß stets mit <strong>der</strong> Formel übereinstimmen, die die Wirklichkeit<br />

vollständig beschreibt, um nicht in einen Wi<strong>der</strong>spruch <strong>zur</strong> Wirklichkeit zu geraten.<br />

51 Ampère zitiert nach TRICKER, S. 205.<br />

„Zuerst muß man die Tatsachen beobachten und dabei die Versuchsbedingungen so oft wie möglich an<strong>der</strong>n.<br />

Dies muß von exakten Messungen begleitet sein, um so allgemeine, nur auf Erfahrungen beruhende Gesetze her<br />

zuleiten. Daraus muß man dann, unabhängig von allen Annahmen über die Natur <strong>der</strong> die Erscheinung hervor- ruf<br />

enden Kräfte, einen mathematischen Ausdruck für diese Kräfte herleiten, also die Formel herleiten, durch die die<br />

17


Dabei kommt Ampère nicht ohne Hypothesenbildung aus, wie die<br />

‘Molekularstromhypothese‘ zeigt. Der von Ampère angeführte Grund dafür ist, dass er mit<br />

diesem Schema weit mehr Erscheinungen erklären kann als mit <strong>der</strong> Annahme isolierter<br />

Magnetpole. 52<br />

Wiechert stellt es gewissermaßen als Kuriosum hin, dass Ampère obwohl er den Begriff<br />

‘Directrice‘ prägte <strong>der</strong> Eigenständigkeit <strong>der</strong> magnetischen Kräfte o<strong>der</strong> des magnetischen<br />

Feldes ablenkte.<br />

“Angesichts dieser schönen För<strong>der</strong>ung unserer Erkenntnis ist es sehr bemerkenswerth, dass<br />

gerade die Untersuchungen Ampère in hohem Masse dazu beigetragen haben, die<br />

Aufmerksamkeit von dem heute für den ganzen Auffassungskreis so bedeutsamen Vektor <strong>der</strong><br />

magnetischen Kraft abzulenken.“ 53<br />

Was die Diskussion des wissenschaftstheoretischen Status <strong>der</strong> Elementargesetze betrifft, so<br />

lässt sich nachweisen, dass damit eine Aufweichung <strong>der</strong> paradigmatischen Rolle <strong>der</strong><br />

Newtonschen Physik und ihrer Grundlagen einherging. In diesem Punkt kommt <strong>der</strong><br />

Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> eine historisch bedeutsame Rolle zu. 54<br />

Was den Realitätsgehalt des Grundgesetzes betrifft, war Ampère <strong>der</strong> Meinung, “ ... die von<br />

mit aufgestellte Formel wird immer die wahre Beschreibung <strong>der</strong> Wirklichkeit bleiben“ 55 ,<br />

obwohl er um den Modellcharakter wusste.<br />

“Mit solchen Strömen kann man aber nicht experimentieren. Die Wirkung von Strömen, die<br />

meßbare Effekte hervorrufen, ist eine Summe über die infinitesimalen Wirkungen dieser<br />

Elemente.“ 56<br />

Graßmann. hingegen hegte eine gewisse Hoffnung <strong>zur</strong> experimentellen Überprüfung.<br />

“Möchte es bald einem geübteren Physiker gelingen, alle die Hin<strong>der</strong>nisse hinweg<strong>zur</strong>äumen,<br />

welche jenem entscheidenden Versuche, den ich vorher anführte, im Wege zu stehen<br />

scheinen.“ 57<br />

Kräfte beschrieben werden. Auf diesem Weg ging NEWTON vor. Diesen Zugang machten sich im allgemeinen<br />

die Gelehrten Frankreichs zu eigen, denen die ungeheuren Fortschritte <strong>der</strong> letzten Zeit in <strong>der</strong> Physik zu<br />

verdanken sind. Auf ähnliche Weise habe ich mich von dieser Methode bei allen meinen Untersuchungen <strong>der</strong><br />

elektrodynamischen Erscheinungen leiten lassen. Ich verließ mich bei <strong>der</strong> Formulierung <strong>der</strong> Gesetze dieser<br />

Erscheinungen aus schließlich auf Experimente. Aus diesen Gesetzen leitete ich dann die Formel her, die allein<br />

die diese Erscheinungen beruht.“<br />

52 In seiner quantitativen Theorie des Magnetismus kann Ampère zeigen, dass sich das Coulomsche Gesetz für<br />

Magnetpole durch die Wechselwirkung zweier Solenoide interpretieren lässt und ableiten lässt.<br />

REIFF und SOMMERFELD, S. 17: “Aus den letzteren Ergebnissen folgt die Berechtigung <strong>der</strong> Amp Auffassung<br />

des Magnetismus, wonach ein Magnet nichts an<strong>der</strong>es als ein System undndlich kleiner elektrischer Ströme<br />

(Molekularströme) o<strong>der</strong> ein Solenoid. ist.“<br />

Vgl. auch WHITTAKER, S. 88.<br />

53 WIECHERT, S.34. Zur historischen Wirksamkeit vgl. auch KAISER, S.37.<br />

Die Relativitätstheorie bestätigt im Grunde nachträglich die Ampèresche Auffassung für den Fall stationärer<br />

Ströme, wo magnetische Fel<strong>der</strong> immer wegtransformierbar sind.<br />

54 Ihre Rolle für die Entwicklung <strong>der</strong> Relativitätstheorie sei hier nur erwähnt.<br />

55 Ampère zitiert nach TRICKER, S. 208f<br />

56 Ampère zitiert nach TRICKER, S. 192<br />

57 Graßmann zitiert nach TRICKER, S. 284<br />

18


Im Rahmen <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> Gültigkeit des Wechselwirkungsprinzips bei den<br />

Elementargesetzen w implizit die Frage nach <strong>der</strong> Allgemeingültigkeit <strong>der</strong> Newtonschen<br />

Physik mitdiskutiert. Im Ampère Gesetz ist das Wechselwirkungsgesetz erfüllt, wie die<br />

Symmetrie des Gesetzes in den Größen ds und ds‘ zeigt. Diese Symmetrie bricht genau an.<br />

<strong>der</strong> Stelle auseinan<strong>der</strong>, wo bei <strong>der</strong> Anwendung auf geschlossene Stromkreise integriert wird. 58<br />

Beim Biot-Savartschen Gesetz ist das Wechselwirkungsprinzip nicht erfüllt wie folgende<br />

Zeichnung zeigt.<br />

ds übt nach dem Biot-Savartschen Gesetz auf<br />

ds‘ keine Kraft aus, während da‘ auf da die Kraft F ausübt.<br />

Im Graßmannschen Gesetz ist das Wechselwirkungsprinzip ebenfalls nicht erfüllt. Reiff und<br />

Sommerfeld. schreiben:<br />

“Übrigens lässt sich eine Verletzung des Wechselwirkungsgesetzes sofort rechtfertigen, wenn<br />

man. sich auf den Standpunkt <strong>der</strong> Feldtheorie stellt, wonach es sich im vorliegenden Fall<br />

nicht um die direkte Wirkung zweier räumlich getrennter Elemente, son<strong>der</strong>n um eine durch<br />

das Zwischenmedium vermittelte Wirkung handelt.“ 59<br />

Bis Vorstellungen dieser entwickelt und anerkannt werden, vergeht allerdings noch ein<br />

Zeitraum von zwanzig Jahren.<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> engen Anlehnung an die Newtonsche Physik schreibt F. Rosenberger:<br />

“Stromelemente aber haben den Begriff einer gewissen Lunge und noch mehr einer gewissen<br />

Richtung in sich und. sind darum niemals mit blossen Punkten zu identificieren. Das aber<br />

giebt dem Begriff ihrer Verbindungslinie etwas Unbestimmtes und die Annahme ihrer<br />

Wechselwirkung nach dieser Richtung erhält, auch wenn man statt <strong>der</strong> Elemente ihre<br />

Mittelpunkte setzt, als Hypothese wenig Klarheit. Diejenige Annahme aber, welche später am<br />

meisten Bedenken erregte, und die am meisten von <strong>der</strong> Newton‘schen Physik abzuweichen<br />

schien, war d von <strong>der</strong> Transversalität <strong>der</strong> Wirkung eines Stromes auf ein Stromelement. Man<br />

hat darum seit jener Zeit immer versucht, diese Annahme als eine fundamentale zu vermeiden<br />

und direkt von <strong>der</strong> Wirkung des Stromes auf die <strong>der</strong> Elemente <strong>zur</strong>ückzugehen, ist aber dabei<br />

erst recht auf noch nicht aufgeklärte Wi<strong>der</strong>sprüche gekommen.“<br />

“Merkwürdigerweise wurde bald nach <strong>der</strong> Zeit, wo die elektrodynamischen Kräfte viele neue<br />

Betrachtungen über die Wirkungsweise <strong>der</strong> Kräfte veranlassten, <strong>der</strong> Kraftbegriff aus <strong>der</strong><br />

Reihe <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Messung physikalischer Größen nöthigen Fundamentalgrößen<br />

herausgedrängt, und noch wun<strong>der</strong>barer geschah das durch Mathematiker, die immer am<br />

festesten an den Anschauungen ihres Fachgenossen Newton gehalten hatten und auch noch<br />

daran festhielten.“ 60<br />

58 Vgl. KAISER, S. 35 und S. 41<br />

59 REIFF und SOMMERFELDS, S. 21<br />

60 ROSENBERGER, S. 68<br />

19


“Damit nickte trotz allen (<strong>der</strong> die Newtonsche Physik noch umgab die Zeit immer näher, wo<br />

die Idee <strong>der</strong> primitiven Kräfte bei <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> 1 immer mehr in den Hintergrund und<br />

die Annahme primitiver Bewegungen immer stärker in den Vor<strong>der</strong>grund zu treten begann.“ 61<br />

Die Relativierung <strong>der</strong> Newtonschen Physik zielt einmal auf die Entwicklung einer<br />

Potentialtheorie und zum an<strong>der</strong>en auf die Entwicklung von Feldvorstellungen ab. Erstere ist<br />

vor allen Dingen das Werk deutscher Mathematiker, letztere das Werk Faradays und<br />

Maxwells. Durch Wilhelm Weber sollte noch einmal <strong>der</strong> Versuch einer engen Anlehnung an<br />

die Newtonschen Massenpunktgesetze unternommen werden.<br />

2.4 Wilhelm Webers Grundgesetz für bewegte Ladungen<br />

Im Zusammenhang mit den Grundgesetzen ist das Webersche Gesetz zu nennen. Dem<br />

Vorbild Newtons und Coulombs folgend wollte Wilhelm WEBER (1804-1890) ein<br />

Punktgesetz aufstellen, mit dem er die elektrostatischen, elektrodynamischen und.<br />

elektrokinetischen Wirkungen aus dem augenblicklichen Ort und Bewegungszustand <strong>der</strong><br />

Ladungen ableitete.<br />

Das webersche Gesetz integrierte so das Coulomb und das Ampère Gesetz. Die<br />

Untersuchungen Webers reichen in das Jahr 1846 <strong>zur</strong>ück 62 und das Webersche Gesetz in <strong>der</strong><br />

Form von 1852 für die Kraft zwischen den in den Stromelementen ids und i‘ds‘ bewegten<br />

Gesamtladungen Q und Q‘ lautet<br />

‚ wobei die Wechselwirkung in <strong>der</strong><br />

Verbindungslinie erfolgt (c = Lichtgeschwindigkeit). 63<br />

Das Webersche Gesetz enthält also keine Absolutgeschwindigkeiten, son<strong>der</strong>n relative<br />

Abstandsgeschwindigkeiten. Dem Weberschen Gesetz liegt ein heute als falsch erkannter, auf<br />

Gustav Theodor Fechner <strong>zur</strong>ückgehen<strong>der</strong>, dualer Leitungsmechanismus zugrunde. 64<br />

Die Ableitung des Weberechen Gesetzes lässt sich folgen<strong>der</strong>maßen rekonstruieren. 65 Das<br />

Ampère Gesetz lässt sich schreiben als 66<br />

61 ROSENBERGER, S. 70<br />

62 Wilhelm Weber: Elektrodynamische Mal3bestimmungen. Ueber ein allgemeines Grundgesetz <strong>der</strong> elektrischen<br />

Wirkung (1846). In: Ders. Werke. Bd. 3. Berlin 1893. S. 25-214. Hier insbes. S. 132ff<br />

63 Das Auftreten <strong>der</strong> Lichtgeschwindigkeit wird erst von Riemann und Maxwell verwertet. Die Zeitkoordinaten<br />

werden den Raumkoordinaten als gleichberechtigt zugeordnet.<br />

64 Weber zitiert nach KAISER, S. 92<br />

Zur Schwierigkeit <strong>der</strong> Kraftübertragung beim dualen Leitungsmechanismus und <strong>zur</strong> Problematik <strong>der</strong> zugrund<br />

experimentellen Erfahrungen vgl. HEUT und SOMMERPELD, S. 37f<br />

65 Vgl. WHITTAKER, S. 201 f, Vgl. TRICKER (2), S. 79-81, Vgl. MAXWELL (1873), § 846—860, Vgl.<br />

REIFF und SOMMERFELD, S. 37-39<br />

20


, i sei ein Strom, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Menge λ<br />

positiver und negativer Elektrizität besteht, die sich mit <strong>der</strong> entgegen gesetzten<br />

Geschwindigkeit u bewegt. Darin ist i=2λu. Entsprechend ist i‘=2λ’u’.<br />

Die Wechselwirkungen des einen Stromes mit denen des an<strong>der</strong>en Stromes werden jeweils<br />

einzeln betrachtet (vier Kombinationen) und addiert. Für die Abstandsgeschwindigkeiten <strong>der</strong><br />

positiven Ladungen gilt<br />

Addition und Vergleich mit dem Ampère Gesetz liefert<br />

.<br />

Durch Addition des Coulombanteils und unter Verwendung <strong>der</strong> elektrostatischen Einheiten<br />

erhält man das Webersche Gesetz. 67<br />

“Man kann das Webersche Gesetz ansehen als eine Formel, in <strong>der</strong> die Wirkung zweier<br />

elektrischen Massen aufeinan<strong>der</strong> dargestellt wird durch eine Reihe, die nach den zeitlichen<br />

Differentialquotienten des die Massen verbindenden Fahrstrahls fortschreitet und in <strong>der</strong> die<br />

ersten Glie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Erfahrung bestimmt sind. Da indessen bereits die ersten Glie<strong>der</strong><br />

hinreichen, um die elektrodynamischen und elektrokinetischen Wirkungen vollständig<br />

wie<strong>der</strong>zugeben, so hat man von <strong>der</strong> möglichen Hinzufügung unbekannter höherer Glie<strong>der</strong><br />

abgesehen; vielmehr nahm Weber für sein Gesetz in Anspruch, daß es in <strong>der</strong> angegebenen<br />

Form genau und für alle Fälle gültig sei. Dem gegenüber möge erwähnt werden, daß<br />

Helmholtz gelegentlich bemerkt hat, ein von ihm gegen das Webersche Gesetz erhobener<br />

Einwand, auf den wir unten zu sprechen kommen, werde hinfällig, wenn man dem<br />

66<br />

67 Zu den verschiedenen Maßsystemen vgl. REIFF und. SOMMERFELD, S. 34-36<br />

21


Weberschen Gesetz noch ein geeignetes Glied mit dem dritten Differentialquotienten des<br />

Fahrstrahls nach <strong>der</strong> Zeit hinzufügt. Das Webersche Gesetz ist Gegenstand vielfacher<br />

Diskussion gewesen.“ 68<br />

So wurde insbeson<strong>der</strong>e die Beziehung zum Energieerhaltungssatz stark diskutiert. 69<br />

Was die historische Wirksamkeit <strong>der</strong> Weberschen Theorie betrifft, so hat sie Emil Wiechert<br />

als ‘epochemachend‘ 70 bezeichnet. Maxwell bezeichnet sie 1855 als eine<br />

“ausgesprochenermaassen physikalische Theorie <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong>. Diesselbe ist so<br />

elegant mathematisch durchdacht und so gänzlich verschieden von allem in dieser<br />

Abhandlung Gebrachten, dass ich ihre Grundannahmen ebenfalls hier an führen möchte. …<br />

Aus diesen Grundannahmen können die von Ampère für die Wechselwirkung <strong>der</strong> Stromleiter,<br />

sowie die von Neumann und an<strong>der</strong>en für die Induktionswirkungen aufgestellten Gesetze<br />

abgeleitet werden. Diesselben sind daher die Grundlage einer wirklichen physikalischen<br />

Theorie, welche die Bedingungen für eine solche vielleicht besser erfüllen, als irgend eine<br />

an<strong>der</strong>e bisher aufgestellte Theorie, und welche von einem Forscher aufgestellt wurden,<br />

dessen Experimentaluntersuchungen eine breite Grundlage seiner mathematischen<br />

Speculationen bilden.“ 71<br />

Die Webersche Theorie stellte sich, obgleich es ihr gelang, die Wechselwirkungsgesetze und<br />

die Induktion abzuleiten, als Sackgasse heraus. 72 Sie wird unbrauchbar, wenn sich <strong>der</strong><br />

elektrische Strom nicht in gleiche Mengen positiver und negativer Elektrizität mit<br />

entgegengesetzter Geschwindigkeit zerlegen lässt. 73 Die Webersche Theorie ist aber die erste,<br />

welche elektrodynamische Erscheinungen auf abstands- und geschwindigkeitsabhängige<br />

Kräfte <strong>zur</strong>ückführt und somit als erste Elektronentheorie bezeichnet werden darf. 74 Der Idee<br />

<strong>der</strong> formalen Angleichung an die Newtonsche Mechanik entsprechend steckt implizit die<br />

For<strong>der</strong>ung nach galileiinvarianter Formulierung dahinter. Das Scheitern <strong>der</strong> Weberschen<br />

Theorie bewirkte damit gleichzeitig eine Relativierung <strong>der</strong> paradigmatischen Rolle <strong>der</strong><br />

Newtonschen Physik. 75<br />

3. Potentiale als Ansatz einer <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong><br />

3.1 Franz Ernst NEUMANNS (1798-1895) Wechselwirkungspotential für Ströme<br />

Die 1831 von Faraday gemachte Entdeckung <strong>der</strong> Induktion erfor<strong>der</strong>te die theoretische und.<br />

mathematische Anbindung des Induktionsgesetzes an die bekannten elektrodynamischen<br />

68 REIFF und SOMMERFELD, S. 40<br />

69 REIFF und SOMMERFELD, S. 40f<br />

70 WIECHERT, S. 49<br />

71 MAXWELL (1895), S. 71<br />

72 Zur Ableitung des Induktionsgesetzes aus <strong>der</strong> Weberschen Theorie vgl. KAISER, S. 93-99, MAXWELL<br />

(1873), § 856—860‚ WHITTAKER, S. 204-205, TRICKER (2), S. 81-82<br />

73 Vgl. WHITTAKER, S. 205‚ TRICKER, S. 82‚ KAISER, S. 113<br />

74 Vgl. WHITTAKER, S. 203<br />

75 Vgl. KAISER, S. 149<br />

22


Gesetze. Den Arbeiten P. E. Neumanns 76 von 1845 bzw. 1847 kommt für die <strong>Elektrodynamik</strong><br />

dieselbe Bedeutung zu wie den Arbeiten von Poisson von 1811 bzw. 1824 hinsichtlich <strong>der</strong><br />

Elektrostatik bzw. des Magnetismus. Neumann zeigte, zum einen, dass sich die<br />

elektrodynamischen Wechselwirkungen aus einem elektrodynamischen Potential ableiten<br />

lassen und zum an<strong>der</strong>en, dass sich das Induktionsgesetz in einfacher Weise mit Hilfe dieses<br />

Potenzials darstellen lässt.<br />

Die historische Rolle, die F. E .Neumann dabei zugeschrieben werden kann liegt nun darin,<br />

dass ihm durch die weitsichtige Verknüpfung <strong>der</strong> Faradayschen Entdeckungen und <strong>der</strong><br />

Lenzschen Regel mit dem Ohmschen Gesetz, mit dem Ampère Gesetz und mit dem<br />

Energieprinzip ne synthetische Integration bislang isolierter Elemente in eine Theorie gelang<br />

bei klarer und präziser Abgrenzung des wissenschaftstheoretischen Status. 77<br />

Vor näheren Auswirkungen sollte die historische und WissenschaftlichE Ausgangssituation<br />

für F.E. Neumann skizziert werden. Kurz nach <strong>der</strong> Entdeckung <strong>der</strong> Induktion im Jahre 1831<br />

hatte E. LENZ (1804-1865) 1834 die nach ihm benannte Regel formuliert:<br />

Die Richtung des induzierten Stromes ist <strong>der</strong>jenigen entgegengesetzt, die ein Strom haben<br />

müsste, wenn die vorhandene Bewegung durch elektrodynamische Einwirkung des<br />

induzierenden Systems erzeugt werden sollte. Die Formulierung <strong>der</strong> Lenzschen Regel<br />

beschränkt sich auf die Induktion durch Bewegung und umfasst noch nicht die<br />

Magnetoinduktion. Erstere aber “bot die Handhabe <strong>zur</strong> mathematischen Behandlung <strong>der</strong><br />

Erscheinungen.“ 78<br />

Das nach Georg Simon OHM (1789-1845) benannte Gesetz, welches den Zusammenhang<br />

zwischen elektromotorischer Kraft (Potentialdifferenz) und Stromstärke herstellt, war <strong>der</strong><br />

Entdeckung <strong>der</strong> Induktion noch vorausgegangen und stellt <strong>zur</strong> <strong>Mathematisierung</strong> <strong>der</strong><br />

Induktionsgesetze eine wichtige Vorarbeit dar.<br />

Hinsichtlich des Energieprinzips leistete F. E. Neumann einen eigenen für die weitere<br />

Entwicklung sehr wesentlichen Beitrag, indem er dasselbe <strong>zur</strong> Ableitung <strong>der</strong> Potentiale in die<br />

theoretische Argumentation <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> einführte. Schließlich griff Hermann<br />

HELMHOLTZ (1821-1894) in seiner Arbeit ‘Über die Erhaltung <strong>der</strong> Kraft‘ 79 von 1847 die<br />

Neumannschen Ideen auf. Weniger die Tatsache, dass jemand um 1845 die Krafterhaltung im<br />

Munde führte ist historisch bedeutsam 80 , son<strong>der</strong>n die Vorstellung über den<br />

wissenschaftstheoretischen und formalinhaltlichen Status des Energieprinzips im<br />

Theoriegefüge. Insofern müssen die Neumannschen Vorstellungen als weitsichtig bezeichnet<br />

werden.<br />

Neumann benutzte das Energieprinzip einmal beim Nachweis, dass die elektrodynamische<br />

Wirkung zweier geschlossener Ströme aufeinan<strong>der</strong> aus einem Potential ableitbar ist und zum<br />

an<strong>der</strong>en bei <strong>der</strong> Ableitung <strong>der</strong> induzierten Spannung aus <strong>der</strong> zeitlichen Verän<strong>der</strong>ung dieses<br />

Potentials.<br />

76 F. E. Neumann: vgl. Literatur<br />

77 Vgl. KAISER, S. 74<br />

78 REIFF und SOMMERFELD, S. 24<br />

79 Hermann Helmholtz: Über die Erhaltung <strong>der</strong> Kraft. (1847) Leipzig: Engelmann 1889. (Ostwald‘s Klassiker<br />

<strong>der</strong> exakten Wissenschaften 1)<br />

80<br />

23


Neumann leitete nu nicht aus dem Ampèreschen Wechselwirkungsgesetzt das<br />

Wechselwirkungspotential ab, son<strong>der</strong>n zeigte umgekehrt, dass die Variation bzw. die<br />

Differentiation dieses Potentials zu den bekannten Wechselwirkungen zwischen Strömen<br />

führte.<br />

In stark verkürzter und mo<strong>der</strong>ner Schreibweise lässt sich die Neumannsche Ableitung<br />

folgen<strong>der</strong>maßen rekonstruieren. 81<br />

F sei die Wechselwirkungskraft des geschlossenen Stromkreises s auf ein Element ds‘. Die<br />

Arbeit δA bei einer virtuellen Verrückung gegen diese Kraft ist - δA.<br />

(δr‘ ist von s‘ unabhängig)<br />

Für die gesamte virtuelle Arbeit erhält man durch Integration, an schließen<strong>der</strong> Umformung<br />

und partieller Integration<br />

Die gesamte mechanische Arbeit, die gegen die auf die Stromleiter wirkenden<br />

elektrodynamischen Kräfte zu leisten ist, wenn diese Leiter auf beliebigem Wege und. mit<br />

beliebiger Geschwindigkeit 82 aus unendlicher Entfernung in die Endlage versetzt werden,<br />

beträgt<br />

, wobei das Vektorpotential des Stromkreises s‘ ist.<br />

Damit ist das Neumannsche Potential <strong>zur</strong> Terminologie <strong>der</strong> Feldtheorie in Beziehung gesetzt.<br />

Eine Erweiterung <strong>der</strong> Neumannschen Ableitung auf nicht lineare, ausgedehnte Ströme ist<br />

möglich.<br />

Die zweite bedeutsame Ableitung Neumanns, nämlich die Ableitung des Induktionsgesetzes<br />

lässt sich folgen<strong>der</strong>maßen durchführen.<br />

Beim Übergang auf Flächenstromdichten und mittels des Satzes von Stoke lässt sich das<br />

Potenzial schreiben als<br />

Das Induktionsgesetz in <strong>der</strong> 2. Maxwellschen Gleichung lautet<br />

‚ so dass .<br />

Die ahistorische Darstellung <strong>der</strong> Neumannschen Ableitung zeigt die formale und inhaltliche<br />

Vernetzung mit <strong>der</strong> Terminologie <strong>der</strong> Feldtheorie, aber sie verdeckt die entscheidenden<br />

Stationen <strong>der</strong> theoretischen Argumentation und die mühevolle Kleinarbeit. Die<br />

Neumannschen Arbeiten selbst sind mühsam zu lesen. Eine gut lesbare, die<br />

81<br />

82<br />

24


Argumentationskette wie<strong>der</strong>gebende Darstellung, findet man in <strong>der</strong> Arbeit von Reiff und<br />

Sommerfeld. 83<br />

Über den Gültigkeitsbereich seiner Gesetze war sich P. E. Neumann vollständig im klaren.<br />

“Die folgenden Untersuchungen über diesen Strom (den Induktionsstrom) setzen voraus, dass<br />

die inducierende Ursache, d. i. die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> magnetischen o<strong>der</strong> elektrodynamischen<br />

Resultante, mit einer Geschwindigkeit eintrete, welche als klein in Beziehung auf die<br />

Fortpflanzungsgeschwindigkeit <strong>der</strong> Elektrizität angesehen werden kann. Ohne diese<br />

Voraussetzung kann man nicht die inducierten elektrischen Ströme als im stationären Zustand<br />

befindlich ansehen und die Ohmschen Gesetze darauf anwenden. Ausgeschlossen von den<br />

hier folgenden Betrachtungen sind also z.B. die durch elektrische Entladungen inducierten<br />

Ströme.“ 84<br />

Abgesehen vom Zusammenhang zwischen dem Neumannschen Potential und <strong>der</strong><br />

feldtheoretischen Darstellung, lässt sich zwischen dem Neumannschen Potenzial und den<br />

Vorstellungen von Faradays Kraftlinien vermitteln. Das Neumannsche Potenzial ist <strong>der</strong><br />

Kraftlinienzahl proportional, und die im Stromkreis induzierte elektromotorische Kraft ist<br />

proportional <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kraftlinienzahl. Neumann selbst hat diese Vermittlung<br />

natürlich nicht thematisiert. Dazu war seine methodologische und spekulative Enthaltsamkeit<br />

hinsichtlich <strong>der</strong> Hypothesenbildung zu groß. Schließlich ist er einer <strong>der</strong> Hauptvertreter <strong>der</strong><br />

Königsberger Schule. 85<br />

Die Theorien <strong>der</strong> Elektrostatik, des Magnetismus und, wie gezeigt des Elektromagnetismus,<br />

enthielten Elemente einer Feldtheorie‚ soweit sie ein ortsabhängiges Potenzial als<br />

grundlegende Größe benutzten, aber die Potenzialfunktion diente nur <strong>der</strong> Aufsummation <strong>der</strong><br />

Einzelbeiträge <strong>der</strong> Ladungen bzw. Magnetpole o<strong>der</strong> Stromelemente. 86 Das Potential stellt in<br />

dieser Interpretation eine Rechnungsgröße dar, ohne dem Raum selbst physikalische<br />

Eigenschaften zuzuschreiben. 87<br />

Die innere Beziehung zwischen Potential bzw. Fernwirkungstheorie und Feldtheorie wird<br />

außerdem in <strong>der</strong> Berechnung <strong>der</strong> Feldenergien bzw. <strong>der</strong> Wechselwirkungsenergien sichtbar. 88<br />

3.2 Retardierte Potentiale und. das Ausbreitungsproblem<br />

Während Wilhelm Weber konsequent den Fernwirkungsstandpunkt einnahm und auf<br />

Untersuchungen <strong>der</strong> Vermittlung <strong>der</strong> Fernwirkungen verzichtete, so wurde die Frage nach <strong>der</strong><br />

Ausbreitung elektrodynamischer Wirkungen von Carl Friedrich GAUSS (1777-1855) und<br />

Bernhard RIEMANN (1826-1866 ) ‚ Carl NEUMANN ( ) und Enrico BETTI<br />

(1823-1892) als dringlich angesehen.<br />

In einem Brief an Weber schrieb Gauß im Jahre 1845:<br />

“Ich würde ohne Zweifel meine Untersuchungen längst bekannt gemacht haben, hätte nicht<br />

<strong>zur</strong> Zeit, wo ich sie abbrach, das gefehlt; was ich wie den eigentlichen Schlußstein betrachtet<br />

hatte nämlich die Ableitung <strong>der</strong> Zusatzkräfte (die zu <strong>der</strong> gegenseitigen Wirkung ruhen<strong>der</strong><br />

83<br />

84<br />

85<br />

86<br />

87<br />

88<br />

25


Elektnizitätstheile noch hinzukommen, wenn sie in gegenseitiger Bewegung sind) aus <strong>der</strong><br />

nicht instantanen, son<strong>der</strong>n (auf ähnliche Weise wie beim Licht) in <strong>der</strong> Zeit sich<br />

fortpflanzen<strong>der</strong> Wirkung. Mir hatte dies damals nicht gelingen wollen; ich verliess aber, so<br />

viel ich mich erinnere, die Untersuchung damals doch nicht ganz ohne Hoffnung, dass dies<br />

später vielleicht gelingen könnte, obwohl - erinnere ich mich recht - mit <strong>der</strong> subjektiven<br />

Überzeugung, dass es vorher nöthig sei, sich von <strong>der</strong> Art, wie die Fortpflanzung geschieht<br />

eine konstruirbare Vorstellung zu machen.“ 89<br />

Gauß selbst hatte 1835 ein Grundgesetz formuliert, da Maxwell zeigte, die<br />

Induktionserscheinungen nicht richtig wie<strong>der</strong>gibt und das Energieprinzip verletzt.<br />

Relativgeschwindigkeit darstellt.<br />

‚ wobei u das Quadrat <strong>der</strong><br />

So brachte Riemann 1858 in einer kurzen, eingereichten, aber vor <strong>der</strong> Veröffentlichung<br />

wie<strong>der</strong> <strong>zur</strong>ückgezogenen und 1867 posthum veröffentlichten Arbeit, das Konzept des<br />

retardierten Potentials in die Diskussion. 90 Damit kann die augenblickliche<br />

elektromagnetische Wirkung auf eine zeitlich <strong>zur</strong>ückliegende Ursache <strong>zur</strong>ückgeführt werden.<br />

Die Retardierung r-r’/c ist gerade die Zeit, welche die Wirkung <strong>zur</strong> Ausbreitung vom<br />

Quellpunkt r‘ zum Aufpunkt r braucht. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache,<br />

dass Riemann von <strong>der</strong> Analogie, in manchen Formulierungen sogar von <strong>der</strong> Identität <strong>der</strong><br />

Lichtausbreitung und <strong>der</strong> Ausbreitung elektrischer Störungen ausging. 91 Die<br />

wissenschaftshistorische Bedeutung des Konzepts des retardierten Potentials liegt in <strong>der</strong><br />

Einleitung einer konvergenten Entwicklung <strong>der</strong> Beschreibungsmöglichkeit durch Fel<strong>der</strong> o<strong>der</strong><br />

Potentiale. 92<br />

“Das Interesse <strong>der</strong> Riemannschen Theorie beruht einerseits in dem letztgenannten Ergebnis,<br />

welches Riemann als Vorläufer Maxwell kennzeichnet, an<strong>der</strong>erseits darin, daß die neuere<br />

Elektronentheorie in gewissem Sinne zu <strong>der</strong> Riemann‘schen Form des Elementarpotentials<br />

<strong>zur</strong>ückführt.“ 93<br />

Riemann bestimmte das skalare Potential einer bewegten elektrischen Ladungsverteilung als<br />

Lösung einer Differentialgleichung, <strong>der</strong> heute so genannten inhomogenen Wellengleichung,<br />

die <strong>der</strong> Poissongleichung <strong>der</strong> Potentialtheorie nachgebildet war. 94<br />

(Licht)geschwindigkeit).<br />

, (ρ = Ladungsdichte in P(x,y,z), α =<br />

Diese Gleichung stellt eine lokale Beziehung zwischen <strong>der</strong> Ladung in irgendeinem Punkt und<br />

<strong>der</strong> Potentialfunktion in dessen Umgebung dar, wobei im Gegensatz <strong>zur</strong> Poissongleichung die<br />

zeitliche Ausbreitung elektrischer Wirkungen noch mit beschrieben wird. 95<br />

89<br />

90<br />

91<br />

92<br />

93<br />

94<br />

26


Es ist wissenschaftshistorisch interessant, dass Riemann bei <strong>der</strong> Ableitung <strong>der</strong><br />

Wellengleichung das Variationsprinzip benutzt, eine Methode, die später in <strong>der</strong><br />

Relativitätstheorie ein fruchtbares Strukturelement darstellt. 96<br />

Als Lösung <strong>der</strong> inhomogenen Wellengleichung gibt Riemann. das retardierte Potential einer<br />

punktförmigen Gesamtladung -f(t) an:<br />

, wobei t‘=t - r/α und r(t,t‘) die Entfernung des Aufpunktes <strong>zur</strong> Zeit t<br />

vom Orte <strong>der</strong> Punktladung f <strong>zur</strong> Zeit t‘ bedeutet.<br />

Die Unvollständigkeit des Riemannschen Ansatzes ist u. a. durch die explizite Beschränkung<br />

auf skalare Potentiale, durch Verzicht auf das Vektorpotential bedingt, eine Lücke, die 1867<br />

von Ludvig Valentin Lorenz (1829—1891) geschlossen wurde. 97 Gedanken Riemanns<br />

wurden um 1900 von Lienard und Wiechert fortgeführt, <strong>der</strong>en Potential als<br />

Funktion <strong>der</strong> retardierten Zeit aufgefasst wird. 98<br />

Der Gedanke <strong>der</strong> Retardierung wurde Enrico Betti und Carl Neumann 1867 aufgegriffen und<br />

weitergeführt. Carl Neumann lehnte allerdings einen Zusammenhang mit <strong>der</strong> Theorie des<br />

Lichtes strikt ab. Trotz allem blieb, wie Maxwell bemerkte, die Frage des<br />

Übertragungsmechanismus offen. Die von Gauß gefor<strong>der</strong>te ‘konstruirbare Vorstellung‘ <strong>der</strong><br />

Fortpflanzung wurde mit dem Konzept des retardierten Potentials nicht geliefert. Die Lösung<br />

dieses Problems ist Maxwell zu verdanken.<br />

Weniger spekulativ und weittragend ist ein Grundgesetz von Riemann, das er in seinen<br />

Vorlesungen vortrug. 99<br />

Ausgehend vom Wechselwirkungspotential 100<br />

kann Riemann mittels des Variationsprinzips 101 (erweiterter Satz<br />

von Lagrange) das Webersche Potential 102<br />

und nochmaliger Anwendung des<br />

Variationsprinzips das Webersche Gesetz 103 ableiten. Riemann gibt ein eigenes Potential<br />

zweier bewegter elektrisch er Ladungen an 104<br />

95<br />

96<br />

97<br />

98<br />

99<br />

100<br />

101<br />

102<br />

103<br />

104<br />

27


‚ wobei das<br />

Quadrat <strong>der</strong> Relativgeschwindigkeiten darstellt und leitet ein eigenes Grundgesetz her. 105<br />

In integrierter Form ist im Riemannschen Fall die Laplace-Gleichung erfüllt 106 , während<br />

Webers Hypothese “bei dem vorliegenden Problem auf eine complicirtere<br />

Differentialgleichung.“ 107 Außerdem kann Riemann die Bewegungsgleichungen <strong>der</strong><br />

Ladungen angeben und zeigen, dass Webers Gesetz und sein eigener Ansatz mit dem<br />

Ampèreschen Gesetz in Einklang stehen. 108<br />

Es bleibt noch eine Bemerkung hinsichtlich <strong>der</strong> Zukunftsträchtigkeit einer <strong>Mathematisierung</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> mittels Potentiale tragen.<br />

Die Potentialtheorie stand seinerzeit bis etwa 1875 in außerordentlich hohem Ansehen. Es<br />

wurde deutlich, dass sich zwischen <strong>der</strong> Potentialtheorie und den Vorstellungen Faradays<br />

durchaus vermitteln lässt. Eben so lässt sich zwischen dem Konzept des retardierten Potentials<br />

und den Hertzschen Wellengleichungen vermitteln. Die Potentialtheorie beinhaltet somit<br />

Elemente einer Feldtheorie und ermöglicht eine konvergente Entwicklung.<br />

Heinrich HERTZ (1857-1894), <strong>der</strong> die Maxwellsche Theorie von “rudimentären Begriffen<br />

physikalischer Natur“‚ etwa dem <strong>der</strong> dielektrischen Verschiebung im freien Äther befreien<br />

wollte, schrieb:<br />

“Als eine rudimentäre Erscheinung mathematischer Natur nenne ich das Vorherrschen des<br />

Vectorpotentiales in den Grundgleichungen. Bei dem Aufbau <strong>der</strong> neuen Theorie (gemeint ist<br />

die Maxwellsche. J.L.) dienten die Potentiale als Gerüst, indem durch ihre Einführung die<br />

unstetig an einzelnen Punkten auftretenden Fernkräfte ersetzt werden durch Größen, welche<br />

in jedem Punkte des Raumes nur durch die Zustände <strong>der</strong> benachbarten Punkte bedingt sind.<br />

Nachdem wir aber gelernt haben, die Kräfte (gemeint sind die Feldstärken. J.L.) selber als<br />

Größen <strong>der</strong> letzteren Art anzusehen, hat ihr Ersatz durch Potentiale nur dann einen Zweck,<br />

wenn damit ein mathematischer Vortheil erreicht wird, Und ein solcher scheint mir mit <strong>der</strong><br />

Einführung des Vectorpotentials in die Grundgleichungen nicht verbunden, in welchen man<br />

ohnehin erwarten darf, Beziehungen zwischen Grössen <strong>der</strong> physikalischen Beobachtung, nicht<br />

zwischen Rechnungsgrössen zu finden.“ 109<br />

Das leitet über zu einer an<strong>der</strong>en Sehweise, nämlich <strong>der</strong> Faradayschen, und <strong>der</strong>en<br />

<strong>Mathematisierung</strong>. Hertz‘ Anliegen ist als eine stärkere Physikalisierung zu verstehen. In <strong>der</strong><br />

Tat zeigt sich, dass hinsichtlich des Ausbreitungsproblems bei <strong>der</strong> Entwicklung vom Potential<br />

über das retardierte Potential die zeitliche Ausbreitung hineingesteckt werden muss.<br />

Demgegenüber ergibt sich die zeitliche Ausbreitung in <strong>der</strong> Feldtheorie als physikalische<br />

Interpretation, ganz im Sinne von Hertz.<br />

105<br />

106<br />

107<br />

108<br />

109<br />

.<br />

28


Literatur:<br />

BIOT, Jean Baptiste: Lehrbuch <strong>der</strong> Experimental-Physik o<strong>der</strong> Erfahrungs-Naturlehre. Zweite<br />

Auflage <strong>der</strong> deutschen Bearbeitung von Gustav Theodor Fechner. 5 Bde. Hier Bd. IV. 1816.<br />

Leipzig: Leopold Voß 1829. VIII, 488 S.<br />

HELMHOLTZ, Hermann: Vorlesungen über <strong>Elektrodynamik</strong> und Theorie des Magnetismus.<br />

Hrsg. von Otto Krigar-Menzel und Max Laue. Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1907. X, 406<br />

S. (Vorlesungen über Theoretische Physik. 4)<br />

HERTZ, Heinrich: Untersuchungen über die Ausbreitung <strong>der</strong> elektrischen Kraft. 2. Auflage.<br />

Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1894. VIII, 294 S. (Gesammelte Werke. 2)<br />

KAISER, Walter: Theorien <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong> im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Hildesheim: Gerstenberg<br />

1981. IX, 218 S. (Arbor scientarium. Beiträge <strong>zur</strong> Wissenschaftsgeschichte. 8)<br />

MAXWELL, James Clerk: A Treatise on Electricity and Magnetism. 2 Bde.<br />

Oxford: 1873. New York: Dover Publications 1954.<br />

MAXWELL, James Clerk: Über Faradays Kraftlinien. Hrsg. von Ludwig<br />

Boltzmann. Leipzig: Wilhelm Engelmann 1895. 130 S. (Ostwald‘s Klassiker <strong>der</strong> exakten<br />

Naturwissenschaften. 69)<br />

MAXWELL, James Clerk: Lehrbuch <strong>der</strong> Electricität und des Magnetismus. Autorisierte<br />

deutsche Übersetzung von B. Weinstein. 2 Bde. Berlin: Julius Springer 1883. Hier Bd. 1.<br />

NEUMANN, Franz Ernst: Die mathematischen Gesetze <strong>der</strong> inducirten elektrischen Ströme.<br />

Leipzig: Wilhelm Engelmann 1889. 96 S. (Ostwald‘s Klassiker <strong>der</strong> exakten<br />

Naturwissenschaften. 10)<br />

NEUMANN, Franz: Über ein allgemeines Prinzip <strong>der</strong> mathematischen Theorie inducirter<br />

elektrischer Ströme. Leipzig: Wilhelm Engelmann 1892. 96 S. (Ostwald‘s Klassiker <strong>der</strong><br />

exakten Naturwissenschaften. 36)<br />

REIFF, R. und A. SOMMERFELD: Standpunkt <strong>der</strong> Fernwirkung. Die Elementargesetze. In:<br />

Encyklopädie <strong>der</strong> mathematischen Wissenschaften. Bd. V, Teil 2. Physik. Leipzig 1904-1922.<br />

RIEMANN, Bernhard: Schwere, Elektrizität und Magnetismus. Nach den Vorlesungen von<br />

Bernhard Riemann bearbeitet von Karl Hattendorff. 2. Ausgabe. Hannover: Carl Rümpler<br />

1876. 358 S.<br />

ROSENBERGER, Ferdinand: Die mo<strong>der</strong>ne Entwicklung <strong>der</strong> elektrischen Prinzipien. Fünf<br />

Vorträge. Leipzig: Johann .Ambrosius Barth 1898. 170 S.<br />

ROSENBERGER, Ferdinand: Die Geschichte <strong>der</strong> Physik in Grundzügen mit syncronistischen<br />

Tabellen <strong>der</strong> Mathematik, <strong>der</strong> Chemie und beschreibenden Naturwissenschaften sowie <strong>der</strong><br />

allgemeinen Geschichte. Dritter Teil. Geschichte <strong>der</strong> Physik in den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren.<br />

Braunschweig: Friedrich Vieweg 1887. 826 S.<br />

TRICKER, R.A.R.: Frühe <strong>Elektrodynamik</strong>. Das erste Stromgesetz. Braunschweig: Vieweg<br />

1974. 287 S. (Wissenschaftliche Taschenbücher. 96)<br />

29


TRICKER, R,A.R,: Die Beiträge von Faraday und. Maxwell <strong>zur</strong> <strong>Elektrodynamik</strong>.<br />

Braunschweig: Vieweg 1974. 330 S. (Wissenschaftliche Taschenbücher. 95)<br />

WIECHERT, Emil: Grundlagen <strong>der</strong> <strong>Elektrodynamik</strong>. Zusammen mit: David Hilbert:<br />

Grundlagen <strong>der</strong> Geometrie. Festschrift <strong>zur</strong> Feier <strong>der</strong> Enthüllung des Gauss-Weber Denkmals<br />

in Göttingen. Leipzig: B.G. Teubner 1899. 112 S.<br />

WHITTAKER, Edmund: A History of the theories of aether and electricity. 2 Vol. Bd. 1. The<br />

classical theories. 2. Auflage. London usw. 1951.<br />

30

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