Was ist der Mensch?
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
WOLFHART PANNENBERG<br />
<strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
Die Anthropologie <strong>der</strong> Gegenwart<br />
im Lichte <strong>der</strong> Theologie<br />
Siebte Auflage<br />
V&R<br />
VANDENHOECK & RUPRECHT<br />
IN GÖTTINGEN<br />
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
ISBN Print: 9783525331873 — ISBN E-Book: 9783647331874
WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
Wolfhart Pannenberg<br />
Geb. 1928 in Stettin. Studium <strong>der</strong> Theologie in Berlin,<br />
Göttingen, Basel und Heidelberg. Promotion 1953, Habilitation<br />
1955. Von 1955 bis 1958 Dozent für Systematische<br />
Theologie in Heidelberg, dann bis 1961 Prof.<br />
an <strong>der</strong> Kirchl. Hochschule Wuppertal. Seit 1961 o.Prof.<br />
in Mainz, von 1967 ab in München<br />
Wissenschaflliche Veröffentlichungen: „Die Prädestinationslehre<br />
des Duns Skotus u 1954, „Offenbarung als<br />
Geschichte“ (Hrsg.) 4. Aufl. 1970, „Grundzüge <strong>der</strong><br />
Chr<strong>ist</strong>ologie“ (1964), 2. Aufl. 1966, Grundfragen systematischer<br />
Theologie, 2. Auflage 1971. Gottesgedanke<br />
und menschliche Freiheit. 1972.<br />
Meiner Frau<br />
CIP-Kurztitelaufnahme <strong>der</strong> Deutschen Bibliothek<br />
Pannenberg, Wolßart:<br />
<strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>? : Die Anthropologie <strong>der</strong> Gegenwart im Lichte<br />
<strong>der</strong> Theologie / Wolfhart Pannenberg. - 7. Aufl. - Göttingen :<br />
Vandenhoeck und Ruprecht, 1985.<br />
(Kleine Vandenhoeck-Reihe; 1139)<br />
ISBN 3-525-33187-8<br />
NE:GT<br />
Kleine Vandenhoeck-Reihe 1139<br />
7. Auflage 1985-32.-35. Tausend<br />
Umschlag: Hans Dieter Ullrich. - © Vandenhoeck & Ruprecht,<br />
Göttingen 1962. - Printed in Germany. - Ohne ausdrückliche<br />
Genehmigung des Verlages <strong>ist</strong> es nicht gestattet, das Buch o<strong>der</strong><br />
Teile daraus auf foto- o<strong>der</strong> akustomechanischem Wege zu vervielfältigen.<br />
- Gesamtherstellung: Hubert 6c Co., Göttingen.<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
VORWORT<br />
Die elf Vorträge dieses Bandes sind erwachsen aus Vorlesungen<br />
über theologische Anthropologie, die ich 1959/60 in Wuppertal<br />
und 1961 in Wuppertal und Mainz vorgetragen habe. Es<br />
handelte sich dabei um die Aufgabe einer theologischen Verarbeitung<br />
<strong>der</strong> verschiedenartigen anthropologischen Forschungen <strong>der</strong><br />
Gegenwart hinsichtlich ihrer Methoden und Resultate. Einige<br />
Themen aus diesen Vorlesungen wurden zu einer Sen<strong>der</strong>eihe des<br />
NDR zusammengestellt und bearbeitet, die im Winter 1961/62<br />
gesendet worden <strong>ist</strong>. Die Vorträge erscheinen hier so gut wie<br />
unverän<strong>der</strong>t. Die beigegebenen Anmerkungen, die äußerst knapp<br />
gehalten werden mußten, verdeutlichen kritische o<strong>der</strong> zustimmende<br />
Bezugnahmen im Text auf bestimmte Arbeiten. Daneben<br />
stehen einige wenige Hinweise auf einführende Literatur.<br />
VORWORT ZUR 3. AUFLAGE<br />
Für die Neuauflage wurde <strong>der</strong> Anmerkungsteil etwas erweitert,<br />
um die Beziehungen zur soziologischen und tiefenpsychologischen<br />
Forschung deutlicher hervortreten zu lassen, das Verhältnis <strong>der</strong><br />
theologischen Perspektive zur verhaltensanthropologischen Deutung<br />
<strong>der</strong> „Weltoffenheit“ des <strong>Mensch</strong>en genauer zu bestimmen und<br />
die methodischen Voraussetzungen meiner Betrachtungsweise noch<br />
besser kenntlich zu machen. Alle Zusätze sind in eckige Klammern<br />
gesetzt.<br />
Mainz, im Oktober 1967<br />
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W.P.
WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
INHALT<br />
1. Weltoffenheit und Gottoffenheit 5<br />
2. Daseinsbewältigung mit Phantasie 13<br />
3. Sicherung statt Vertrauen? 22<br />
4. Hoffnung über den Tod hinaus 31<br />
5. Die Ichhaftigkeit und die Bestimmung des <strong>Mensch</strong>en 40<br />
6. Zeit, Ewigkeit, Gericht 49<br />
7. Person in Gesellschaft 58<br />
8. Recht durch Liebe 67<br />
9. Der Gesellschaftsprozeß 77<br />
10. Tradition und Revolution 86<br />
11. Der <strong>Mensch</strong> als Geschichte 95<br />
Anmerkungen 104<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
1. WELTOFFENHEIT UND GOTTOFFENHEIT<br />
Wir leben in einem Zeitalter <strong>der</strong> Anthropologie. Eine umfassende<br />
Wissenschaft vom <strong>Mensch</strong>en <strong>ist</strong> ein Hauptziel <strong>der</strong> ge<strong>ist</strong>igen Bestrebungen<br />
<strong>der</strong> Gegenwart. Eine ganze Anzahl wissenschaftlicher<br />
Forschungszweige haben sich dazu vereinigt. Gerade ihre je beson<strong>der</strong>e<br />
Problematik hat sie in dieser Frage in oft unerwartete<br />
Berührung mit an<strong>der</strong>n Forschungen gebracht. Biologen und<br />
Philosophen, Jur<strong>ist</strong>en und Soziologen, Psychologen, Mediziner und<br />
Theologen haben in <strong>der</strong> Frage nach dem <strong>Mensch</strong>en verwandte<br />
Einsichten und zum Teil auch eine gemeinsame Sprache gefunden.<br />
Die spezialisierten Methoden scheinen vor unsern Augen zur<br />
Überwindung ihrer eigenen Zersplitterung beizutragen, indem<br />
sich ein neues, umfassendes Verständnis des <strong>Mensch</strong>en herausbildet.<br />
Die mit dem <strong>Mensch</strong>en beschäftigten Wissenschaften sind heute<br />
auf dem besten Wege, im allgemeinen Bewußtsein den Platz einzunehmen,<br />
den in früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten die Metaphysik innehatte.<br />
Darin äußert sich <strong>der</strong> tiefgreifende Wandel, den das Bewußtsein<br />
<strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>en in <strong>der</strong> Neuzeit erfahren hat: Der <strong>Mensch</strong> will<br />
sich nicht mehr in eine Ordnung <strong>der</strong> Welt, <strong>der</strong> Natur, einfügen,<br />
son<strong>der</strong>n er will über die Welt herrschen. Die Metaphysik hatte<br />
umgekehrt seit ihren Anfängen in <strong>der</strong> griechischen Philosophie<br />
dem <strong>Mensch</strong>en seinen Platz im Kosmos, in <strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong><br />
Gesamtheit alles Seienden, angewiesen. Ihren charakter<strong>ist</strong>ischen<br />
Ausdruck hat diese Haltung in <strong>der</strong> Auffassung des <strong>Mensch</strong>en<br />
als Mikrokosmos gefunden: Der <strong>Mensch</strong> galt als die Welt im<br />
Kleinen; denn er hat an allen Schichten des Kosmos Anteil, am<br />
körperlichen, wie am seelischen und ge<strong>ist</strong>igen Sein. Darin liegt<br />
für diese Auffassung die Beson<strong>der</strong>heit des <strong>Mensch</strong>en unter allen<br />
Wesen. Aber <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>ist</strong> hier ganz von <strong>der</strong> Welt her verstanden,<br />
dazu bestimmt, ihren Aufbau in seinem Dasein abzubilden.<br />
Das <strong>ist</strong> ein Gedanke, <strong>der</strong> weit in die religionsgeschichtliche<br />
Vorzeit zurückreicht, aber von <strong>der</strong> griechischen Metaphysik<br />
<strong>ist</strong> er beson<strong>der</strong>s klar ausgebildet worden. Heute <strong>ist</strong> die alte Auffassung<br />
des <strong>Mensch</strong>en als Mikrokosmos uns so fremd geworden<br />
wie das antike Bild des Kosmos selbst, wie die Vorstellung von<br />
Himmelssphären, die um die Erde kreisen. Heute erschiene es als<br />
sinnlos, wollte jemand irgendein Bild von einer alles umfassenden<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
und unverän<strong>der</strong>lichen kosmischen Ordnung ein für allemal festlegen.<br />
Schon eine <strong>der</strong>artige Zielsetzung wäre <strong>der</strong> Arbeitsweise neuzeitlicher<br />
Naturwissenschaft und Technik entgegengesetzt. Weltbil<strong>der</strong><br />
sind heute nur noch Modelle <strong>der</strong> Natur, die <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> im<br />
Dienste seiner technischen Naturbeherrschung entwirft und wie<strong>der</strong><br />
verwirft. Die Welt <strong>ist</strong> kein Zuhause mehr für den <strong>Mensch</strong>en,<br />
son<strong>der</strong>n nur noch Material für seine umgestaltende Tätigkeit. Der<br />
Erfolg dieser Bemühungen, <strong>der</strong> früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten unvorstellbar<br />
war, zeigt, daß die in ihnen wirksame Lebenshaltung<br />
zumindest teilweise wirklichkeitsgerecht <strong>ist</strong>.<br />
Angesichts dieser Situation, angesichts <strong>der</strong> gestaltenden Freiheit<br />
des <strong>Mensch</strong>en gegenüber <strong>der</strong> Welt, erhebt sich heute mit beson<strong>der</strong>er<br />
Dringlichkeit die Frage, wer denn <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> selbst <strong>ist</strong>.<br />
Die <strong>Mensch</strong>heit hat den alten Halt an festen Ordnungen verloren,<br />
seien es nun die Ordnungen des Kosmos o<strong>der</strong> die angeblich<br />
den Kosmos abbildende Ordnung <strong>der</strong> Gesellschaft. Die Ge<strong>ist</strong>esgeschichte<br />
<strong>der</strong> Neuzeit <strong>ist</strong> von Pascal bis in die Gegenwart gezeichnet<br />
durch das Erschrecken vor <strong>der</strong> schrankenlosen Freiheit des<br />
mo<strong>der</strong>nen <strong>Mensch</strong>en. Sind wir nicht so weit gelangt, das Leben<br />
auf dieser Erde und die <strong>Mensch</strong>heit selbst vernichten zu können?<br />
Die Ex<strong>ist</strong>enzphilosophie hat diese Situation des ins Nichts hinausgreifenden,<br />
schöpferischen <strong>Mensch</strong>en so beschrieben, daß nur noch<br />
die Entscheidung des <strong>Mensch</strong>en selbst entscheidet, wer o<strong>der</strong> was<br />
<strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> eigentlich <strong>ist</strong>. In solcher Zuspitzung <strong>ist</strong> die ex<strong>ist</strong>enzial<strong>ist</strong>ische<br />
These freilich allzu abstrakt. Wo ein <strong>Mensch</strong> schöpferische<br />
Entscheidungen trifft, da bleiben sie immer auf die biologischen<br />
und soziologisch-geschichtlichen Bedingungen seiner Situation<br />
bezogen, auf die eigene Lebensgeschiente wie auf den Ge<strong>ist</strong><br />
seiner Zeit. Und das gilt gerade auch von den kritischen Entscheidungen,<br />
in denen jemand sich abstößt von allem, was er vorfindet.<br />
Aber in <strong>der</strong> Tat <strong>ist</strong> heute die Frage, was <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>ist</strong>, nicht<br />
mehr aus <strong>der</strong> Welt zu beantworten, son<strong>der</strong>n auf den <strong>Mensch</strong>en<br />
selbst zurückgeschlagen. Dadurch <strong>ist</strong> die Wissenschaft vom <strong>Mensch</strong>en<br />
zu einer noch nie dagewesenen Bedeutung aufgestiegen.<br />
In <strong>der</strong> Anthropologie heißt die von <strong>der</strong> Neuzeit entdeckte eigentümliche<br />
Freiheit des <strong>Mensch</strong>en, über alle vorfindliche Regelung<br />
seines Daseins hinauszufragen und hinwegzuschreiten, seine „Weltoffenheit<br />
“1 . Dieser Ausdruck soll mit einem Wort den Grundzug<br />
angeben, <strong>der</strong> den <strong>Mensch</strong>en zum <strong>Mensch</strong>en macht, ihn vom<br />
Tier unterscheidet und ihn über die außermenschliche Natur<br />
überhaupt hinaushebt. Recht verstanden läuft dieser Ausdruck<br />
nämlich nicht darauf hinaus, den <strong>Mensch</strong>en einseitig von <strong>der</strong><br />
außermenschlichen Natur her zu charakterisieren. <strong>Was</strong> aber <strong>ist</strong><br />
mit „Weltoffenheit“ gemeint?<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
Zunächst geht es hier allerdings um den Unterschied von <strong>Mensch</strong><br />
und Tier. Man sagt, <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> hat Welt, während jede Tierart<br />
auf eine erblich festgelegte, arttypische Umwelt beschränkt <strong>ist</strong>.<br />
Nach allem, was wir wissen, nehmen Tiere ihre Umgebung nicht<br />
in <strong>der</strong> reichen Fülle wahr, in <strong>der</strong> sie uns erscheint. Tiere bemerken<br />
von ihrer Umgebung nur das, was für ihre Art triebwichtig <strong>ist</strong>.<br />
Alles übrige dringt gar nicht in ihr Bewußtsein. Die Weite o<strong>der</strong><br />
Enge, Einfachheit o<strong>der</strong> Kompliziertheit <strong>der</strong> Umwelt <strong>ist</strong> natürlich<br />
bei den einzelnen Tierarten sehr verschieden. Aber von allen gilt,<br />
daß ihr Verhalten umweltgebunden <strong>ist</strong>. Bestimmte Merkmale <strong>der</strong><br />
Umgebung wirken wie Signale und lösen ein Verhalten aus, das in<br />
seinem Grundbestand nicht erst erlernt zu werden braucht, son<strong>der</strong>n<br />
angeboren <strong>ist</strong>. Auf die Wahrnehmung solcher Merkmale sind<br />
die Sinnesorgane <strong>der</strong> Tiere spezialisiert, und wenn sie auftreten,<br />
so erfolgt die im Instinkt vorgesehene Reaktion.<br />
Bei gewissen primitiven Arten besteht die Umwelt nur aus sehr<br />
wenigen Merkmalen. So hat, um ein einfaches Beispiel zu nennen,<br />
die Zecke nur drei Sinne: Lichtsinn, Geruchssinn, Temperatursinn.<br />
Mit Hilfe des Lichtsinns ihrer Haut findet sie den Weg auf<br />
einen Ast. Geruchs- und Temperatursinn melden ihr, wenn ein<br />
warmblütiges Tier sich unter dem Ast befindet. Auf dieses Signal<br />
hin läßt sich die Zecke fallen, um dem Tier das Blut abzusaugen.<br />
Das <strong>ist</strong> die Umwelt <strong>der</strong> Zecke. Augen, Ohren und Geschmack<br />
besitzt sie nicht. Sie bedarf ihrer auch nicht.<br />
Die Umwelt <strong>der</strong> Zecke <strong>ist</strong> natürlich ein beson<strong>der</strong>s einfaches<br />
Beispiel. Die Umwelt <strong>der</strong> me<strong>ist</strong>en Tierarten <strong>ist</strong> sehr viel komplizierter.<br />
Aber gemeinsam scheint allen Tierarten zu sein, daß sie<br />
nur einen Ausschnitt <strong>der</strong> unserem Wissen zugänglichen Welt<br />
kennen, bestimmte Merkmale, die für die Art triebwichtig sind,<br />
auf die ihre Sinnesorgane spezialisiert sind und auf die sie instinktiv<br />
reagieren. Auch wo das instinktive Verhalten elastischer<br />
<strong>ist</strong>, erleben Tiere von <strong>der</strong> Welt nur das, was sie eigentlich schon<br />
vorher kennen, in den erblichen Formen ihrer Wahrnehmung<br />
und ihres Verhaltens, ganz ähnlich, wie sich Kant das menschliche<br />
Erkennen vorgestellt hat. Gerade <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>ist</strong> aber nicht<br />
auf eine bestimmte Umwelt für sein Erleben und Verhalten beschränkt.<br />
Wo bei <strong>Mensch</strong>en so etwas wie eine Umwelt erscheint,<br />
da handelt es sich um Einrichtungen seiner Kultur, nicht um<br />
angeborene Schranken. So <strong>ist</strong> zwar <strong>der</strong> Wald für den Jäger<br />
etwas an<strong>der</strong>es als für den Holzfäller o<strong>der</strong> für den sonntäglichen<br />
Ausflügler. Aber die Weise, wie <strong>der</strong> Jäger den Wald erlebt, <strong>ist</strong><br />
nicht durch seine biologische Organisation festgelegt, son<strong>der</strong>n<br />
hängt mit seinem Beruf zusammen, den er gewählt hat, und an<br />
dessen Stelle er auch einen an<strong>der</strong>n hätte wählen können. Sobald<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
er Ingenieur wird, erlebt auch er den Wald aus dem Blickwinkel<br />
des Sonntagsausflüglers. Der <strong>Mensch</strong> bleibt auch als Jäger offen<br />
für an<strong>der</strong>e Möglichkeiten des <strong>Mensch</strong>seins. Das <strong>ist</strong> beim Tier<br />
an<strong>der</strong>s. Tiere kennen nur ihre angeborene Umwelt.<br />
Der <strong>Mensch</strong> <strong>ist</strong> nicht umweltgebunden, son<strong>der</strong>n weltoffen. Das<br />
heißt: Er kann immer neue und neuartige Erfahrungen machen,<br />
und seine Möglichkeiten, auf die wahrgenommene Wirklichkeit<br />
zu antworten, sind nahezu unbegrenzt wandelbar. Das entspricht<br />
bis in Einzelheiten hinein dem Beson<strong>der</strong>en <strong>der</strong> menschlichen<br />
Leiblichkeit. So sind unsere Organe im Vergleich zu denen <strong>der</strong><br />
Tiere kaum spezialisiert, dafür aber — wie etwa die Hand — erstaunlich<br />
vielseitig. Der <strong>Mensch</strong> kommt im Vergleich zu an<strong>der</strong>n<br />
Säugetieren viel zu früh und unfertig zur Welt, und er bleibt für<br />
eine lange Jugendzeit bildsam. Die Antriebe <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>en richten<br />
sich nicht von Geburt an eindeutig auf bestimmte Merkmale,<br />
son<strong>der</strong>n sind verhältnismäßig unbestimmt. Sie werden erst durch<br />
individuelle Wahl und Gewohnheit sowie durch Erziehung und<br />
Sitte eindeutiger ausgeprägt. Das bedeutet: Die tierisches Verhalten<br />
steuernden Instinkte sind beim <strong>Mensch</strong>en weitgehend<br />
zurückgebildet, nur noch in Resten vorhanden. Dies hat nun<br />
sehr einschneidende Folgen für das Ganze unserer Daseinserfahrung<br />
und unseres Verhaltens: Weil die Richtung seiner Antriebe<br />
nicht von vornherein festliegt, darum <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Blick des <strong>Mensch</strong>en<br />
auf die Wirklichkeit eigentümlich offen. Wer von einem klar<br />
bestimmten Trieb ganz beherrscht wird, <strong>der</strong> blickt nicht mehr<br />
rechts noch links, son<strong>der</strong>n schaut nur nach den Merkmalen aus,<br />
die das Erstrebte ankündigen. Das normale Verhalten des <strong>Mensch</strong>en<br />
<strong>ist</strong> das nicht. Vielmehr erfährt er die Dinge als etwas für sich,<br />
das er erst nachträglich in seine Pläne einordnen wird. Und weil<br />
er die Dinge so in D<strong>ist</strong>anz sich gegenüber hat, darum sieht er auch<br />
nicht nur eine Seite, son<strong>der</strong>n viele Seiten, viele Eigenschaften an<br />
ihnen, viele Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen. Erst <strong>der</strong><br />
<strong>Mensch</strong> erfährt überhaupt in diesem genauen Sinne des Wortes<br />
Gegenstände, wie selbständig ihm gegenüberstehende, fremdartige<br />
und staunenerregende Wesen. Es <strong>ist</strong> spezifisch menschlich, neugierig<br />
bei den Dingen zu verweilen, von ihrer Seltsamkeit uird<br />
Eigenart in gleichsam atemlosem Interesse benommen zu sein.<br />
Die Dinge sind dem <strong>Mensch</strong>en gerade nicht, wie Heidegger gemeint<br />
hat, ursprünglich zuhanden 2 . Solche natürliche Vertrautheit<br />
mit <strong>der</strong> Umgebung <strong>ist</strong> nur den Tieren beschieden, soviel<br />
auch romantische Schwärmerei nach einem solchen Zustand sich<br />
sehnen mag! Erst nachträglich, indem er sich eine Kulturwelt, eine<br />
künstliche Welt, aufbaut, macht <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> sich seine Umgebung<br />
so zurecht, daß sie ihm zuhanden wird. Ursprünglich und immer<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
wie<strong>der</strong> aber <strong>ist</strong> er so benommen von <strong>der</strong> aufregenden Fremdheit<br />
<strong>der</strong> Dinge um ihn her, daß er von ihnen her sich selbst mit ganz<br />
an<strong>der</strong>en Augen, wie ein fremdes Wesen, betrachten lernt. Erst<br />
von <strong>der</strong> Welt her erfährt <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> sich selbst, indem er seinen<br />
eigenen Leib in bestimmten Zusammenhängen mit den an<strong>der</strong>n<br />
Dingen vorfindet. Darum <strong>ist</strong> die Erforschung <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Weg,<br />
den <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> einschlagen muß, um seine Bedürfnisse kennenzulernen<br />
und um sich darüber klarzuwerden, worauf er selbst<br />
eigentlich hinaus will. Nur auf dem Umweg über die Welterfahrung<br />
vermag er seine zunächst richtungslosen Antriebe zu<br />
orientieren, legt er sich Interessen und Bedürfnisse zu. Und mit<br />
fortschreiten<strong>der</strong> Erfahrung werden die Bedürfnisse selbst verwandelt.<br />
Nur auf diesem mühevollen Weg kann <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> versuchen,<br />
Klarheit über sich selbst zu gewinnen.<br />
Man versteht, wie die Griechen dazu kamen, die Frage nach dem<br />
<strong>Mensch</strong>en vom Kosmos her zu beantworten. Aber freilich vermag<br />
die Welt nie, eine endgültige Antwort auf die Frage des <strong>Mensch</strong>en<br />
nach seiner Bestimmung zu geben. Das <strong>ist</strong> schon in <strong>der</strong> Antike da<br />
und dort gefühlt worden. Mit unwi<strong>der</strong>stehlicher Gewalt jedoch<br />
hat sich dem neuzeitlichen <strong>Mensch</strong>en die Erfahrung aufgedrängt,<br />
daß er über jeden Horizont, <strong>der</strong> sich ihm auftut, immer noch<br />
hinausfragen kann, so daß sich geradezu durch ihn, den <strong>Mensch</strong>en,<br />
erst entscheidet, was aus <strong>der</strong> Welt werden soll.<br />
Damit wird nun aber die Frage nach dem genauen Sinn des<br />
Wortes „Weltoffenheit“ dringend. Wofür <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> da<br />
eigentlich offen? Die Antwort muß gewiß zunächst lauten: Er <strong>ist</strong><br />
offen für immer neue Dinge, frische Erfahrungen, während die<br />
Tiere nur für eine beschränkte und arttypisch festliegende Anzahl<br />
von Merkmalen offen sind. Hier erhebt sich nun aber erst das<br />
eigentliche Problem: Ist etwa die Welt für den <strong>Mensch</strong>en das,<br />
was den Tieren ihre Umwelt <strong>ist</strong>? Ist er angelegt auf die Welt,<br />
auf sie hin geöffnet? Meint das <strong>der</strong> Ausdruck Weltoffenheit? Es<br />
liegt von seinem Wortlaut her sehr nahe, ihn so mißzuverstehen.<br />
Dann wäre unsere Welt nur eine riesenhafte und sehr komplizierte<br />
Umwelt. Das Verhältnis <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>en zur Welt wäre nicht<br />
grundsätzlich von dem <strong>der</strong> Tiere zu ihrer Umwelt verschieden.<br />
Der festbegrenzte Kosmos des antiken Denkens war in <strong>der</strong> Tat<br />
ein <strong>der</strong>artiges Gehäuse für den <strong>Mensch</strong>en. Aber insofern hat man<br />
damals eben den tieferen Unterschied des <strong>Mensch</strong>en von allen<br />
Tieren noch nicht verstanden. Die Weltoffenheit, die die mo<strong>der</strong>ne<br />
Anthropologie im Blick hat, <strong>ist</strong> nicht nur dem Grade nach,<br />
son<strong>der</strong>n grundsätzlich von tierischer Umweltgebundenheit verschieden.<br />
Darum kann es sich hier nicht nur um eine Offenheit<br />
für die Welt handeln. Son<strong>der</strong>n Weltoffenheit muß heißen: Der<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
<strong>Mensch</strong> <strong>ist</strong> ganz und gar ins Offene gewiesen. Er <strong>ist</strong> über jede<br />
Erfahrung, über jede gegebene Situation hinaus immer noch weiter<br />
offen. Er <strong>ist</strong> offen auch über die Welt hinaus, nämlich über sein<br />
jeweiliges Bild von <strong>der</strong> Welt; aber auch über jedes mögliche Weltbild<br />
hinaus und über das Suchen nach Weltbil<strong>der</strong>n überhaupt,<br />
so unerläßlich es <strong>ist</strong>, bleibt er offen im Fragen und Suchen.<br />
Solche Offenheit über die Welt hinaus <strong>ist</strong> sogar Bedingung <strong>der</strong><br />
Welterfahrung selbst. Drängte unsere Bestimmung uns nicht über<br />
die Welt hinaus, dann würden wir nicht, auch ohne konkreten<br />
Anlaß, immer weiter suchen.<br />
Hat die Offenheit des <strong>Mensch</strong>en über die Naturwelt hinaus dann<br />
vielleicht den Sinn, daß er nur an seiner eigenen Schöpfung Genüge<br />
finden kann, indem er die Naturwelt in eine künstliche Welt<br />
verwandelt? Ist <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> bestimmt zur Kultur? Diese Meinung<br />
scheint heute verbreitet zu sein 8 . Aber auch bei ihren eigenen<br />
Gebilden finden die <strong>Mensch</strong>en keine dauernde Ruhe. Sie wandeln<br />
nicht nur die Natur zur Kultur, son<strong>der</strong>n setzen unablässig neue<br />
Kulturgestaltungen an die Stelle <strong>der</strong> früheren. Daß so <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong><br />
auch durch seine eigenen Schöpfungen keine endgültige Befriedigung<br />
findet, son<strong>der</strong>n sie als bloße Durchgangspunkte seines Strebens<br />
alsbald wie<strong>der</strong> hinter sich läßt, das setzt voraus, daß seine Bestimmung<br />
auch über die Kultur hinausgeht, über die vorhandene<br />
wie über jede noch zu gestaltende. Wie<strong>der</strong> wird <strong>der</strong> Prozeß<br />
kultureller Gestaltung selbst in seinem schöpferischen Reichtum<br />
nur verständlich, wenn man sieht, daß seine treibenden Kräfte über<br />
jedes Werk hinausschießen, daß die Werke nur Stufen sind auf<br />
einem Wege zu unbekanntem Ziel.<br />
<strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Motor dieses Strebens ins Offene? Man hat gesagt,<br />
daß <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> ständig unter dem Druck eines Antriebsüberschusses<br />
lebe 4 . Dieser Druck <strong>ist</strong> nicht <strong>der</strong> gewöhnliche Zwang<br />
tierischen Trieblebens. Der tierische Triebzwang setzt nur ein,<br />
wenn <strong>der</strong> auslösende Gegenstand gegenwärtig <strong>ist</strong>. Der menschliche<br />
Antriebsdruck hingegen richtet sich ins Unbestimmte. Er<br />
entsteht, weil unsere Antriebe keine Ziele finden, die ihnen<br />
ganz Genüge tun. Er äußert sich in dem für den <strong>Mensch</strong>en so<br />
charakter<strong>ist</strong>ischen Drang zu Spiel und Wagnis, in <strong>der</strong> D<strong>ist</strong>anzierung<br />
von <strong>der</strong> Gegenwart durch ein Lächeln. Er treibt ins Offene,<br />
scheinbar ziellos. Arnold Gehlen hat treffend von einer „unbestimmten<br />
Verpflichtung“ gesprochen 5 , die das Blut <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>en<br />
in Unruhe versetzt und sie hinaustreibt über jede erreichte<br />
Stufe <strong>der</strong> Lebens Verwirklichung. Und er hat auch gesehen, daß<br />
diese Unruhe eine Wurzel alles religiösen Lebens <strong>ist</strong>. Das bedeutet<br />
nun freilich nicht, daß <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> sich selbst Religionen<br />
schafft, indem er jenem unbestimmten Drang durch seine Phan-<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
tasie Gestalt verleiht. Aller Tätigkeit <strong>der</strong> Phantasie in <strong>der</strong> Bildung<br />
<strong>der</strong> Religionen geht schon etwas an<strong>der</strong>es voraus, und dadurch<br />
<strong>ist</strong> Religion mehr als bloß eine Schöpfung <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>en.<br />
Das läßt sich begründen durch eine eingehen<strong>der</strong>e Besinnung auf<br />
die menschliche Antriebsstruktur. Triebhaftigkeit bedeutet nämlich<br />
beim <strong>Mensch</strong>en wie bei den Tieren, auf etwas angewiesen zu<br />
sein. Das liegt in ihrem Begriff. Alle Lebewesen sind angewiesen<br />
auf Nahrung, auf Lebensbedingungen des Klimas und <strong>der</strong> Vegetation,<br />
auf die Gemeinschaft mit Artgenossen und nicht zuletzt<br />
auf die Gesundheit des eigenen Leibes. Während nun die Bedürftigkeit<br />
<strong>der</strong> Tiere auf ihre Umwelt beschränkt <strong>ist</strong>, kennt die<br />
des <strong>Mensch</strong>en keine Grenzen. Er <strong>ist</strong> nicht nur angewiesen auf<br />
bestimmte Bedingungen seiner Umgebung, son<strong>der</strong>n darüber<br />
hinaus auf etwas, das sich ihm entzieht, sooft er nach einer Erfüllung<br />
greift. Die chronische Bedürftigkeit, die unendliche Angewiesenheit<br />
des <strong>Mensch</strong>en setzt ein Gegenüber jenseits aller Welterfahrung<br />
voraus. Der <strong>Mensch</strong> schafft sich nicht erst unter dem<br />
Druck seines Antriebsüberschusses einen phantastischen Gegenstand<br />
seiner Sehnsucht und Ehrfurcht über alle in <strong>der</strong> Welt möglichen<br />
Dinge hinaus, vielmehr setzt er in seiner unendlichen<br />
Angewiesenheit ein entsprechend unendliches, nicht endliches,<br />
jenseitiges Gegenüber immer schon voraus, mit jedem seiner<br />
Atemzüge, auch wenn er es nicht zu nennen weiß. Das liegt<br />
wie<strong>der</strong>um im Wesen seines unendlichen Triebes. Erst daraufhin,<br />
daß <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> unendlich angewiesen <strong>ist</strong> und also in jedem<br />
Lebensvollzug ein über alles Endliche hinweg ihm zugewandtes<br />
Gegenüber seiner Angewiesenheit voraussetzt, erst daraufhin<br />
kann seine Phantasie Vorstellungen davon bilden.<br />
Für dieses Gegenüber, auf das <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> in seinem unendlichen<br />
Streben angewiesen <strong>ist</strong>, hat die Sprache den Ausdruck Gott. Das<br />
Wort Gott kann nur sinnvoll verwendet werden, wenn es -das<br />
Gegenüber <strong>der</strong> grenzenlosen Angewiesenheit des <strong>Mensch</strong>en meint.<br />
Sonst wird es zu einer leeren Vokabel.<br />
Die unendliche Angewiesenheit des <strong>Mensch</strong>en auf ein unbekanntes<br />
Gegenüber hat sich uns nun als <strong>der</strong> Kern des etwas vagen<br />
Ausdrucks Weltoffenheit herausgestellt. Damit <strong>ist</strong> freilich kein<br />
theoretischer Beweis für die Ex<strong>ist</strong>enz Gottes geführt. Es hat<br />
sich aber gezeigt, daß <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> rein durch den Vollzug seines<br />
Lebens ein Gegenüber voraussetzt, auf das er unendlich angewiesen<br />
<strong>ist</strong>, ob er es weiß o<strong>der</strong> nicht. Es hat sich ferner gezeigt, daß<br />
diese Voraussetzung für ein Verständnis <strong>der</strong> grundlegenden<br />
biologischen Struktur des <strong>Mensch</strong>seins unumgänglich <strong>ist</strong>, sobald<br />
man sich nicht mit <strong>der</strong> vagen Bezeichnung Weltoffenheit zufrieden<br />
gibt, son<strong>der</strong>n wissen will, was damit gemeint sein kann.<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
Aber, wie gesagt, jenes Gegenüber <strong>ist</strong> unbekannt. Es <strong>ist</strong> noch<br />
nichts darüber ausgemacht, wer o<strong>der</strong> was das Gegenüber, auf das<br />
<strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> unendlich angewiesen <strong>ist</strong>, eigentlich <strong>ist</strong>. Die Angewiesenheit<br />
auf Gott <strong>ist</strong> gerade darin unendlich, daß die <strong>Mensch</strong>en<br />
diese ihre Bestimmung nicht immer schon haben, son<strong>der</strong>n<br />
nach ihr suchen müssen. Und sie bleiben im Suchen selbst auf<br />
das Gegenüber Gottes angewiesen, wenn es sich überhaupt finden<br />
läßt. Die Religionsgeschichte zeigt, wie die <strong>Mensch</strong>en das Gegenüber<br />
Gottes jeweils erfahren haben, wie es sich ihnen gezeigt<br />
hat. Ob sie es angemessen erfahren haben, das <strong>ist</strong> eine ganz<br />
an<strong>der</strong>e Frage. Jedenfalls wären die Botschaften <strong>der</strong> Religionen<br />
darauf zu prüfen, ob sie die unendliche Offenheit menschlichen<br />
Daseins verdecken o<strong>der</strong> hervortreten lassen.<br />
Nun <strong>ist</strong> es wohl kein Zufall, daß die mo<strong>der</strong>ne Anthropologie<br />
<strong>der</strong> Weltoffenheit des <strong>Mensch</strong>en ihre ge<strong>ist</strong>esgeschichtlichen Wurzeln<br />
im biblischen Denken hat. Die biblische Schöpfungsgeschichte<br />
hat den <strong>Mensch</strong>en zum Herrn <strong>der</strong> Welt erklärt, freilich zum<br />
Herrscher im Auftrag Gottes, als sein Statthalter, sein Ebenbild.<br />
Dem jenseitigen Gott <strong>der</strong> Bibel verbunden, war <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> über<br />
alle übrigen Geschöpfe hinausgehoben, und die Welt konnte für<br />
ihn nicht mehr, wie für an<strong>der</strong>e Religionen, eine Welt voll von<br />
Göttern und so ein Gegenstand frommer Scheu sein. Sie <strong>ist</strong> entgöttert<br />
und menschlicher Verwaltung übergeben. Die Jenseitigkeit<br />
des biblischen Gottes hat die Welt profan gemacht, und<br />
sein Bund hat die Mensdien zur Herrschaft über sie berufen. Aus<br />
solchem Ge<strong>ist</strong>e hat <strong>der</strong> abendländische <strong>Mensch</strong> gelernt, die Natur<br />
sich dienstbar zu machen und eben dadurch über sie hinauszufragen<br />
nach dem Gott jenseits <strong>der</strong> Welt. Es <strong>ist</strong> bezeichnend,<br />
daß am Anfang <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Anthropologie ein Theologe steht,<br />
Johann Gottfried Her<strong>der</strong> 6 . In seinen „Ideen zur Philosophie<br />
<strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>heit“ 1784 beschrieb Her<strong>der</strong> den <strong>Mensch</strong>en<br />
als den „ersten Freigelassenen <strong>der</strong> Schöpfung“. Und schon<br />
1772, in seiner Schrift über den Ursprung <strong>der</strong> Sprache, hat er<br />
den Unterschied des <strong>Mensch</strong>en von den Tieren so dargestellt,<br />
wie es im Prinzip noch in <strong>der</strong> gegenwärtigen Anthropologie geschieht.<br />
Der Stammbaum <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Anthropologie we<strong>ist</strong><br />
zurück auf die chr<strong>ist</strong>liche Theologie. Und dieser Herkunft <strong>ist</strong> sie<br />
auch heute noch nicht entwachsen; denn, wie sich uns gezeigt<br />
hat, ihr Grundgedanke enthält immer noch die Frage nach Gott.<br />
Ich fasse das Ergebnis noch einmal zusammen:<br />
1. Die Weltoffenheit des <strong>Mensch</strong>en setzt eine Gottbezogenheit<br />
voraus. Wo darüber keine ausdrückliche Klarheit herrscht, bleibt<br />
das Wort „Weltoffenheit“ undeutlich, als ob <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> auf die<br />
Welt angelegt sei, während es sich doch darum handelt, daß er<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
über alles, was er als seine Welt vorfindet, hinausfragen muß.<br />
Diese Eigenart des menschlichen Daseins, seine unendliche Angewiesenheit,<br />
<strong>ist</strong> nur als Frage nach Gott verständlich. Die unbegrenzte<br />
Offenheit für die Welt ergibt sich erst aus <strong>der</strong> Bestimmung<br />
des <strong>Mensch</strong>en über die Welt hinaus.<br />
2. Die Offenheit des <strong>Mensch</strong>seins <strong>ist</strong> noch nicht genügend tief<br />
erfaßt, wenn man nur von einer Bestimmung des <strong>Mensch</strong>en zur<br />
Kultur spricht. Gewiß <strong>ist</strong> es richtig, daß <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> von Natur<br />
ein Kulturwesen <strong>ist</strong>, wie man prägnant gesagt hat. Gewiß muß<br />
er selbst sich immer erst bilden zu dem, was die Gestalt seines<br />
Lebens ausmachen wird. Aber die kulturschöpferische Tätigkeit<br />
<strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>en bleibt selbst unverstanden, wenn sie nicht als Ausdruck<br />
eines Fragens und Suchens erfaßt wird, das wie über die<br />
Natur, so auch über alle kulturelle Gestaltung immer wie<strong>der</strong><br />
hinausgreift.<br />
3. Der Umweltgebundenheit <strong>der</strong> Tiere entspricht also beim <strong>Mensch</strong>en<br />
we<strong>der</strong> sein Verhältnis zur Naturwelt, noch die Vertrautheit<br />
mit seiner Kulturwelt, son<strong>der</strong>n seine unendliche Angewiesenheit<br />
auf Gott. <strong>Was</strong> für das Tier die Umwelt, das <strong>ist</strong> für den <strong>Mensch</strong>en<br />
Gott: das Ziel, an dem allein sein Streben Ruhe finden kann und wo<br />
seine Bestimmung erfüllt wäre.<br />
2. DASEINSBEWÄLTIGUNG MIT PHANTASIE<br />
In <strong>der</strong> eigentümlichen Weltoffenheit, die den <strong>Mensch</strong>en vom<br />
Tier unterscheidet, brennt die Frage nach Gott. Über alles, was<br />
ihm in <strong>der</strong> Welt begegnet, strebt <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> hinaus, durch nichts<br />
ganz und endgültig befriedigt. Bedeutet das aber nicht viel eher<br />
asketische Abwendung von <strong>der</strong> Welt, als Offenheit für sie? Diese<br />
Folgerung liegt nahe. Sie <strong>ist</strong> aber falsch, weil gerade die Verbundenheit<br />
mit Gott den <strong>Mensch</strong>en wie<strong>der</strong> in die Welt hineinwe<strong>ist</strong>.<br />
Das <strong>ist</strong> jedenfalls die Meinung des biblischen Gedankens<br />
<strong>der</strong> Gottesebenbildlichkeit des <strong>Mensch</strong>en: Die Bestimmung des<br />
<strong>Mensch</strong>en zu Gott zeigt sich in seiner Herrschaft über die “Welt,<br />
als Repräsentant <strong>der</strong> Weltherrschaft Gottes 1 .<br />
Uns soll nun die Frage beschäftigen, wie <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> zur Herrschaft<br />
über die Welt gelangt, indem er sich als das weltoffene<br />
Wesen betätigt. Dabei geht es uns nicht nur um die technische<br />
Nutzung <strong>der</strong> Natur. Diese sichtbarste Gestalt menschlicher Herrschaft<br />
über die Welt wird ermöglicht durch an<strong>der</strong>e Eigenheiten<br />
des menschlichen Verhaltens. Sie verbinden sich zur Entstehung<br />
<strong>der</strong> Sprache, und darum wollen wir die Sprache als erste Haupt-<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
form menschlicher Daseinsbewältigung betrachten. Anschließend<br />
werden wir einen Blick auf das Ganze menschlicher Kulturtätigkeit<br />
werfen und nach <strong>der</strong> Quelle <strong>der</strong> schöpferischen Me<strong>ist</strong>erung des<br />
Daseins suchen. Dabei müssen wir vorläufig noch davon absehen,<br />
daß Sprache und Kultur durch und durch soziale Erscheinungen<br />
sind. Dieser Seite <strong>der</strong> Sache haben wir uns später noch beson<strong>der</strong>s<br />
zuzuwenden. Vorläufig geht es nur um den Vorgang <strong>der</strong> Daseinsbewältigung<br />
für sich genommen.<br />
Zunächst <strong>ist</strong> die Situation ins Auge zu fassen, die durch Ausbildung<br />
<strong>der</strong> Sprache geme<strong>ist</strong>ert wird 2 . Durch seine Weltoffenheit<br />
<strong>ist</strong> dem <strong>Mensch</strong>en eine viel größere Mannigfaltigkeit von<br />
Eindrücken zugänglich als jedem Tier. Solcher Vielfalt stehen die<br />
<strong>Mensch</strong>en ursprünglich und faktisch immer wie<strong>der</strong> hilflos gegenüber.<br />
Das <strong>ist</strong> die Ursituation des <strong>Mensch</strong>en in <strong>der</strong> Welt, beson<strong>der</strong>s<br />
die des Kindes. Darum <strong>ist</strong> es als erstes nötig, sich zu orientieren,<br />
eine Übersicht zu gewinnen. Diese Aufgabe <strong>der</strong> Orientierung<br />
wird nun auf eine sehr bemerkenswerte, für alles menschliche<br />
Verhalten charakter<strong>ist</strong>ische Weise gelöst: Während die Tiere<br />
durch ihre Organe die Eindrücke sozusagen filtern, so daß nur<br />
ganz wenige davon ihr Bewußtsein erreichen, vermehrt <strong>der</strong><br />
<strong>Mensch</strong> die Vielfalt <strong>der</strong> Welt noch durch eigene Schöpfungen. Im<br />
Umgang mit seiner Umgebung baut er sich immer eine eigene,<br />
künstliche Welt auf, um durch sie die Vielfalt <strong>der</strong> auf ihn einstürmenden<br />
Sensationen zu bändigen.<br />
Das neugeborene Kind <strong>ist</strong> noch nicht fähig, sich zu orientieren.<br />
Erst in dem Maße wie es lernt, über seine Bewegungen zu verfügen,<br />
wird es auch mit seiner Umgebung vertraut. Wenn es mit<br />
dem Kopf auf sein Bettgitter schlägt, so bemerkt das Kind dessen<br />
schmerzhafte Härte, und es wie<strong>der</strong>holt diese Bewegung wohl gar,<br />
um sich davon recht zu überzeugen. Die Unspezialisiertheit <strong>der</strong><br />
menschlichen Organe und die in <strong>der</strong> Weltoffenheit begründete,<br />
weitgehende Triebfreiheit seines Verhaltens ermöglichen es dem<br />
<strong>Mensch</strong>enkind, seine Bewegungen sehr vielfältig abzuwandeln<br />
und miteinan<strong>der</strong> zu kombinieren. Dadurch lernt es seine Umgebung<br />
mehr und mehr kennen. Eine große Rolle spielen dabei<br />
zunächst die Tastbewegungen. Später bedarf es des Betastens nicht<br />
mehr: Man lernt, einem Tisch anzusehen, daß er hart, einer<br />
Decke, daß sie weich <strong>ist</strong>. Das Auge sieht also von den Dingen<br />
vieles, was man im Augenblick gar nicht empfindet, wovon man<br />
aber weiß, daß man es fühlen könnte, wenn man hinginge, um<br />
Tisch o<strong>der</strong> Decke zu berühren. Je mehr die Erfahrung wächst,<br />
desto mehr Zusammenhänge, mögliche Ansichten und Verwendungen<br />
werden mit einem Blick erfaßt. So entsteht überhaupt<br />
erst die Wahrnehmung von Dingen: Wenn ich einen Apfel sehe,<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
dann sehe ich eine Gestalt, eine sinnvolle Verbindung bestimmter<br />
Merkmale. Habe ich diese Gestalt einmal erfaßt, dann kann ich<br />
mit Leichtigkeit überall wie<strong>der</strong> Äpfel erkennen, auch wenn sie<br />
nur ganz wenig über dem Rand eines Korbes sichtbar werden.<br />
Kenne ich die Gestalt eines Hauses, dann weiß ich, wenn ich eine<br />
Giebelspitze entdecke: Das <strong>ist</strong> ein Haus. Das Auge errät aus<br />
wenigen Andeutungen das Ganze einer schon bekannten Gestalt,<br />
und an<strong>der</strong>erseits repräsentiert ein einziges gesehenes Ding eine<br />
Fülle von möglichen Beziehungen und Verwendungen. Das bedeutet,<br />
daß unsere Sinneswahrnehmungen weitgehend symbolischen<br />
Charakter haben. Wir nehmen viel mehr wahr, als die<br />
Sinnesempfindung eigentlich enthält. Durch solche Symbolik <strong>der</strong><br />
Sinneswahrnehmung wird die Vielfalt <strong>der</strong> Eindrücke einerseits<br />
noch vermehrt, an<strong>der</strong>erseits aber geglie<strong>der</strong>t und so überschaubar<br />
gemacht. Immer größer wird dabei <strong>der</strong> Kreis bekannter Dinggestalten,<br />
schon vertrauter Zusammenhänge, so daß die Aufmerksamkeit<br />
für an<strong>der</strong>es frei wird.<br />
Die Anfänge <strong>der</strong> eben beschriebenen Wahrnehmungswelt sind<br />
schon vorausgesetzt, wenn Sprache entstehen soll. Nur ihr Umfang<br />
wird durch die Sprache sprunghaft wachsen. Damit Sprache<br />
möglich wird, <strong>ist</strong> jedoch eine zweite Voraussetzung nötig, nämlich<br />
die Fähigkeit, verschiedenartige Laute hervorzubringen und<br />
zu kombinieren. Wenn ein Baby sich selbst damit beschäftigt,<br />
Laute auszustoßen, dann tut es das in <strong>der</strong> Erwartung, sich zu<br />
hören. Den gehörten Laut kann man wie<strong>der</strong>holen, einüben und<br />
mit an<strong>der</strong>n Lauten abwechseln lassen. So erlernt man eine<br />
Mehrzahl von Lauten, die dann beliebig verfügbar bleiben.<br />
Solche spielerische Lautäußerung, frei von Triebzwang und ganz<br />
hingegeben an den wechselnden Klang, den man wun<strong>der</strong>barerweise<br />
selbst hervorbringt, bereitet die Elemente <strong>der</strong> sprachlichen<br />
Äußerung vor.<br />
Die Sprache entsteht, sobald eine mehrfach wie<strong>der</strong>kehrende Gestalt<br />
mit einem beson<strong>der</strong>en Laut begrüßt wird, mit einem Laut,<br />
<strong>der</strong> fortan dieser Gestalt zugeeignet <strong>ist</strong> und ihr vorbehalten<br />
bleibt. Daß überhaupt ein Wie<strong>der</strong>erkennen durch Laute sich ausdrückt,<br />
erleben wir auch an Tieren, zum Beispiel am Bellen eines<br />
Hundes, <strong>der</strong> seinen Herrn begrüßt. Aber wo ein bestimmter Laut<br />
o<strong>der</strong> eine Lautfolge einer bestimmten Gestalt vorbehalten bleibt,<br />
während an<strong>der</strong>e Gestalten durch an<strong>der</strong>e Laute begrüßt werden,<br />
da entsteht Sprache. Dieses Ereignis hängt eng zusammen mit <strong>der</strong><br />
eigentümlichen Sachlichkeit, die <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> den ihn umgebenden<br />
Dingen entgegenbringt. Sie sind ihm nicht automatisch wirkende<br />
Auslöser von Triebzwängen, son<strong>der</strong>n selbständige Gegenstände,<br />
die um ihrer selbst willen Interesse verdienen und wecken. Dar-<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
um nimmt <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> nun auch seine eigenen Laute, mit denen<br />
er eine bekannte Gestalt begrüßt, so wahr, als ob sie von ihr<br />
ausgelöst würden. Die Laute werden als diesem Ding, dieser<br />
Gestalt zugehörig erfahren. Und nun reizt natürlich die Mannigfaltigkeit<br />
<strong>der</strong> Dinge und Gestalten dazu, immer neue Laute und<br />
Lautverbindungen zu bilden, damit ein jedes benannt werden<br />
kann. Und umgekehrt wächst eben dadurch das Bewußtsein von<br />
<strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Wirklichkeit. Lautentwicklung und Welterfahrung<br />
steigern einan<strong>der</strong> gegenseitig. Auf diese Weise bilden Kin<strong>der</strong><br />
ganz spontan Ansätze zu einer eigenen Sprache aus, die sogenannte<br />
Kin<strong>der</strong>sprache. Diese Ansätze verschwinden freilich<br />
bald wie<strong>der</strong>; denn da die Erwachsenen ihm Dinge zeigen und die<br />
dazugehörigen Wörter vorsprechen, lernt das Kind schnell, sich<br />
in <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Erwachsenen auszudrücken. Die soziale<br />
Bedingtheit <strong>der</strong> Sprachbildung wird daraus sichtbar. Überhaupt<br />
bildet ja wohl die Mitteilung den Hauptreiz, <strong>der</strong> zur Aneignung<br />
einer Vielzahl von Wörtern führt. Das Vergnügen an <strong>der</strong> Mitteilung<br />
<strong>der</strong> eigenen Erfahrungen und Wünsche an an<strong>der</strong>e regt die<br />
weitere Ausgestaltung <strong>der</strong> Sprache an.<br />
Mit alledem haben wir die Entstehung <strong>der</strong> Sprache erst, soweit<br />
sie Dingwörter bildet, in den Blick genommen. Für alle weitere<br />
Sprachgestaltung <strong>ist</strong> es aber wichtig, daß neben Dingwörtern<br />
auch Tätigkeitswörter gebildet werden können. Sie haben einen<br />
eigenen Ursprung. Kin<strong>der</strong> begleiten ihr Tun vielfach mit einer<br />
Art Musik, mit Lauten, die dann auch dazu dienen können, die<br />
betreffende Tätigkeit zu bezeichnen o<strong>der</strong> in Gang zu bringen.<br />
Ein Laut nämlich, <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>holt eine bestimmte Folge hat,<br />
wird zum Ruf. Solche ein Tun begleitenden o<strong>der</strong> auch in Gang<br />
bringenden Laute und Lautfolgen wie „dada“ für Spazierengehen<br />
o<strong>der</strong> „happa“ für Essen, sind die Wurzel des Tätigkeitswortes.<br />
Freilich sind das Wie<strong>der</strong>erkennen eines Dinges o<strong>der</strong> einer<br />
Gestalt und die Bezeichnung einer Tätigkeit keineswegs von<br />
Anfang an säuberlich getrennt. Der Ruf „happa“ meint ja nicht<br />
nur den Vorgang des Essens, son<strong>der</strong>n auch die Nahrung selbst<br />
und wird durch ihren Anblick ausgelöst. Erst mit <strong>der</strong> Entstehung<br />
des Satzes tritt eine endgültige Scheidung zwischen Dingwort<br />
und Tätigkeitswort ein: Im Satz werden sie unterschieden, um<br />
nur zusammen ein Ganzes zu bilden.<br />
Ursprünglich kann jedes einzelne Wort den Charakter eines<br />
Satzes haben. Der Sinn <strong>ist</strong> dann aber nur deutlich durch die<br />
Situation, in die das Wort hineingeworfen wird. So <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Ausruf:<br />
Blitz! verständlich, wenn gerade ein Gewitter nie<strong>der</strong>geht.<br />
Man wird daraufhin den Kopf wenden, um das Zucken des<br />
Blitzes zu sehen. Wenn jedoch die Luft gewitterfrei <strong>ist</strong>, dann<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
bildet das Wort Blitz für sich allein keine eindeutige Aussage.<br />
Man muß dann zum Mehrwortsatz greifen und etwa sagen:<br />
Gestern sah ich einen starken Blitz. Der Satz beschreibt eine<br />
einzige Erscheinung durch mehrere Wörter. Das <strong>ist</strong> möglich,<br />
weil jedes Ding ja schon verschiedene Züge enthält, wie wir vorhin<br />
im Blick auf den Symbolcharakter <strong>der</strong> Wahrnehmungen<br />
bemerkten. Der Satz zählt aber nun nicht nur Eigenschaften<br />
eines Dinges nacheinan<strong>der</strong> auf, son<strong>der</strong>n die Verbindung von<br />
Tätigkeitswort und Dingwort gestattet es sogar, die Abfolge <strong>der</strong><br />
Wörter als eine von <strong>der</strong> Sache selbst her gebotene Reihenfolge<br />
erscheinen zu lassen. Etwa: Der Blitz leuchtet. Der Fortgang<br />
von „Blitz“ zu „leuchtet“ gibt die Bewegung <strong>der</strong> Sache selbst<br />
wie<strong>der</strong>, nicht nur die Bewegung unseres Sprechens. Der Verbalsatz<br />
bringt die Dynamik <strong>der</strong> Wirklichkeit in ihrer Sachlichkeit,<br />
ihrer Objektivität, als vom Redenden unabhängiges Geschehen<br />
zur Sprache.<br />
Wir können die weitere Ausbildung <strong>der</strong> Sprache, die auch bei<br />
den Sprachen <strong>der</strong> verschiedenen Völker sehr unterschiedlich verlaufen<br />
<strong>ist</strong>, jetzt nicht im einzelnen verfolgen. Die Sprachen verfeinern<br />
sich. Je mehr die Aufgaben <strong>der</strong> Wörter im Satz geson<strong>der</strong>t<br />
und auf eigene Wortformen verteilt werden, desto genauer kann<br />
die Sprache einen Sachverhalt ohne Rücksicht auf die Situation<br />
des Redenden zum Ausdruck bringen. So entwickeln viele<br />
Sprachen reiche Flexionsformen. Dadurch verliert freilich das<br />
Einzelwort seine Selbständigkeit. Das flektierte Wort <strong>ist</strong> nur<br />
noch ein unselbständiges Element, das ohne Beziehung auf ein<br />
entsprechendes an<strong>der</strong>es Wort sinnlos wäre. Das Schwergewicht<br />
<strong>der</strong> Aussage verschiebt sich immer mehr von den Einzelwörtern<br />
auf das Gefüge des Satzes. Und <strong>der</strong> Satz selbst erweitert sich.<br />
Er wird zu einem Gefüge nicht mehr bloß von Einzelwörtern,<br />
son<strong>der</strong>n von ganzen Wortfolgen, von Haupt- und Nebensätzen.<br />
So bildet die Sprache sich immer mehr zu einem System von<br />
Beziehungen aus, und je weiter damit die Zusammenhänge<br />
werden, die sie formulieren kann, desto genauer läßt sich ein<br />
Sachverhalt wie<strong>der</strong>geben. Dabei schleifen sich im Laufe <strong>der</strong> Zeit<br />
die Konturen <strong>der</strong> Wörter ab. Sie verlieren wie<strong>der</strong> den Formenreichtum.<br />
Die Wortstellung im Satz und die Folge <strong>der</strong> Sätze<br />
selbst läßt nun den Zusammenhang erfassen, <strong>der</strong> zum Ausdruck<br />
gebracht werden soll.<br />
Gerade die letzten Erwägungen machen den Dienst deutlich, den<br />
die Sprache dem <strong>Mensch</strong>en le<strong>ist</strong>et. Der <strong>Mensch</strong> spinnt gleichsam<br />
ein Netz von Wörtern und Wortbeziehungen, um dadurch den<br />
Zusammenhang des Verschiedenen in <strong>der</strong> Wirklichkeit darzustellen.<br />
Er fängt die zunächst verworren erscheinende Mannigfaltig-<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
keit in das Netz einer selbstgeschaffenen Symbolwelt ein 2a . Er<br />
wird <strong>der</strong> Welt Herr durch eine künstliche Welt, die er zwischen<br />
sich selbst und seiner Umgebung ausspannt. Vor allem <strong>ist</strong> dabei<br />
<strong>der</strong> Überblick wichtig, den die Sprache vermittelt. Schon das<br />
einzelne Wort vertritt eine komplizierte Fülle von Wahrnehmungen.<br />
Und weil <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> ein erlerntes Wort nach<br />
Belieben wie<strong>der</strong>holen kann, so vermag er sich das entsprechende<br />
Gedächtnisbild beliebig ins Bewußtsein zu rufen, sich das Ding<br />
vorzustellen. Erst durch die Sprache entsteht die bunte Innenwelt<br />
des Bewußtseins, die Welt <strong>der</strong> Vorstellungen, die auch ohne<br />
äußeren Gegenstand herbeigeholt werden können. Auch wenn<br />
das lautlos geschieht, <strong>ist</strong> die Fähigkeit zur Sprache immer vorausgesetzt,<br />
wo Vorstellungen uns beschäftigen. Ohne Sprache gäbe<br />
es kein lautloses Denken in Vorstellungsbil<strong>der</strong>n, keine Innenwelt<br />
des Bewußtseins. Man kann sich davon überzeugen, wenn man<br />
bedenkt, daß je<strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> in seiner Sprache denkt und träumt.<br />
So verdanken wir <strong>der</strong> Sprache erst den weiten ge<strong>ist</strong>igen Überblick<br />
über den jeweils gegenwärtigen Moment hinaus. Darum<br />
vermag <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> die Dinge in ihren weiteren Zusammenhängen<br />
zu erfassen und sie von den Zusammenhängen her, in<br />
denen sie von sich aus stehen, zu beherrschen. Das bedeutet aber,<br />
daß je<strong>der</strong> zielstrebige, planvolle Umgang mit Dingen Sprache<br />
voraussetzt, vielleicht abgesehen von ganz bescheidenen Ansätzen.<br />
Eine zielbewußte Zusammenschau setzt nämlich immer<br />
schon eine weite Übersicht voraus, die Übersicht nicht nur über<br />
die wahrgenommenen Dinge und <strong>der</strong>en Zusammenhänge, son<strong>der</strong>n<br />
auch über die Vielzahl geübter und also verfügbarer eigener<br />
Bewegungen für den Umgang mit ihnen. Und solche Übersicht<br />
wird erst durch die Sprache erworben. Denn die Sprache ermöglicht<br />
es, wie gesagt, ganze Zusammenhänge durch Vorstellung<br />
ins Bewußtsein zu holen.<br />
Damit <strong>ist</strong> bereits die Bedeutung <strong>der</strong> Sprache für die Kulturtätigkeit<br />
im weitesten Sinne berührt. Kultur bedeutet ursprünglich<br />
Ackerkultur. Die materielle Kultur umfaßt dann auch Handwerk<br />
und Industrie. Alle materielle Kultur beruht auf planvollem,<br />
zwecktätigem Umgang mit den Dingen unserer<br />
Umgebung. Daher wäre sie ohne Sprache nicht möglich.<br />
Die Kultur <strong>ist</strong> in ihrer Struktur <strong>der</strong> Sprache, die selbst eines<br />
ihrer Elemente <strong>ist</strong>, eng verwandt: Wie in <strong>der</strong> Sprache, so schafft<br />
<strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> auch in <strong>der</strong> Kultur eine künstliche Welt, um sich<br />
dadurch die Mannigfaltigkeit <strong>der</strong> Naturerscheinungen verfügbar<br />
zu machen. Aber die künstliche Welt <strong>der</strong> Sprache <strong>ist</strong> nur eine<br />
Symbolwelt. Sie verkörpert sich in Lauten und allenfalls durch<br />
die Schrift. Die Sprache verän<strong>der</strong>t nicht die Dinge um uns herum.<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
Eben das geschieht durch die Kultur. Durch sie baut <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong><br />
sich eine künstliche Welt, indem er die Dinge so verwandelt, daß<br />
sie besser <strong>der</strong> Befriedigung seiner Bedürfnisse dienen. Nun können<br />
aber die menschlichen Bedürfnisse sich än<strong>der</strong>n, da ja ihr<br />
Inhalt nicht festliegt, son<strong>der</strong>n vom <strong>Mensch</strong>en selbst erdacht<br />
werden muß. Mit den Bedürfnissen <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>en aber muß sich<br />
das ganze System <strong>der</strong> materiellen Kultur ebenfalls än<strong>der</strong>n. Davon<br />
muß in einem späteren Vortrag noch ausführlich die Rede sein.<br />
Zunächst will ich nur hervorheben, daß das Wesen des <strong>Mensch</strong>en,<br />
seine radikale Offenheit, ihn nötigt, neben <strong>der</strong> materiellen Kultur<br />
immer auch eine Ge<strong>ist</strong>eskultur auszubilden. Die Bedürfnisse des<br />
<strong>Mensch</strong>en gehen eben immer hinaus über alles, was er an materiellen<br />
Gütern erlangen kann. Ja, seine Bedürfnisse übersteigen<br />
alles, was er zu ihrer Befriedigung planen und ersinnen kann.<br />
Die Bedürfnisse, die durch materielle Produkte nicht zu befriedigen<br />
sind, gewinnen eben dadurch den Charakter ge<strong>ist</strong>iger Bedürfnisse,<br />
<strong>der</strong>en Unendlichkeit durch Gebilde <strong>der</strong> Phantasie in<br />
Worten und Tönen, in Zeichnung und Farbe, in Stein und Erz<br />
vorgestellt wird. Die Ge<strong>ist</strong>eskultur hat es daher immer mit <strong>der</strong><br />
unendlichen Bestimmung des <strong>Mensch</strong>en zu tun, vor allem in<br />
Kunst und Religion, aber auch in den Ideen des Rechtes und <strong>der</strong><br />
Sittlichkeit.<br />
Wir halten inne und blicken zurück: In <strong>der</strong> Ausbildung <strong>der</strong><br />
Sprache fanden wir sowohl das Grundelement als auch das Modell<br />
menschlicher Kulturtätigkeit. Wir sahen, wie <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong><br />
schöpferisch seine eigene Welt erzeugt, um mit <strong>der</strong> verworrenen<br />
Vielfalt, die ihn umgibt, fertig zu werden: In <strong>der</strong> Sprache ein<br />
Netz von Lauten und Lautfolgen, das die Wirklichkeit repräsentiert<br />
und Mitteilung ermöglicht, in <strong>der</strong> materiellen Kultur<br />
ein System zur Bearbeitung <strong>der</strong> Naturdinge, damit sie den Bedürfnissen<br />
<strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>en gefügig werden. Wir können nun die<br />
Frage stellen: Welche Kraft befähigt eigentlich zu solchen schöpferischen<br />
Le<strong>ist</strong>ungen?<br />
Gewiß wirkt hier vieles zusammen. Entscheidend aber <strong>ist</strong> die<br />
Macht <strong>der</strong> Phantasie. Sie bildet den schöpferischen Grundzug im<br />
menschlichen Verhalten 8 . Schon in den spielenden Bewegungen<br />
des kleinen Kindes drückt sich Phantasie aus; denn das Kind<br />
wächst nicht nur in artgemäße Bewegungsformen hinein, wie die<br />
Jungtiere, son<strong>der</strong>n es wandelt seine Bewegungen frei ab. Und<br />
ebenso wandelt es im Lallen seine Laute ab. Auch dieser für die<br />
Sprache grundlegende Vorgang <strong>ist</strong> ein Phantasieakt. Im menschlichen<br />
Verhalten gewinnt die Phantasie deshalb so breiten Raum,<br />
weil <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> nicht frühzeitig durch Instinkte in eine arttypisch<br />
festliegende Richtung gedrängt wird. <strong>Mensch</strong>liches Ver-<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
halten behält etwas Zwecklos-Freies, Spielerisches, soweit die<br />
<strong>Mensch</strong>en es nicht selbstgesetzten Zielen unterwerfen. Und wer<br />
sein Verhalten zu sehr in <strong>der</strong> Verfolgung von Zwecken aufgehen<br />
läßt, so daß dem freien Spiel <strong>der</strong> Phantasie gar kein Raum<br />
mehr bleibt, <strong>der</strong> verkümmert und verliert seine Spannkraft. Im<br />
menschlichen Verhalten, sofern es schöpferisch <strong>ist</strong>, kommt <strong>der</strong><br />
Phantasie diejenige Schlüsselstellung zu, die bei den Tieren die<br />
Instinkte innehaben.<br />
Wie Bewegungen und Lautbildung, so <strong>ist</strong> auch die menschliche<br />
Wahrnehmung von Grund auf phantasievoll. Die Gestalten, die<br />
wir in <strong>der</strong> Welt wahrnehmen, springen ins Auge durch eine<br />
sinnvolle Verbindung einiger Hauptmerkmale. Die menschlichen<br />
Sinne sind aber nicht wie die <strong>der</strong> Tiere von Natur aus auf bestimmte<br />
Merkmale spezialisiert und auf die Wahrnehmung bestimmter<br />
Strukturen angelegt, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> entdeckt<br />
schöpferisch immer neue Formen, Strukturen, Gestalten im vorher<br />
scheinbar Zusammenhanglosen. Das <strong>ist</strong> eine Le<strong>ist</strong>ung <strong>der</strong><br />
Phantasie, auch wenn die einmal gesehene Struktur nachträglich<br />
gelernt werden kann und sich vielleicht immer wie<strong>der</strong> als sachgemäß,<br />
als ein passendes Modell bewährt. Die Strukturen und<br />
Gestalten, die wir erfassen, haben ja immer etwas vom Modell an<br />
sich; sie enthalten nur einen Umriß, wie eine Karikatur, nie<br />
die Gesamtheit aller Einzelzüge. Es hängt oft sehr vom Gesichtspunkt<br />
ab, den man wählt, wie die Einzelzüge sich zur Gestalt<br />
zusammenordnen. Das zeigt sich in <strong>der</strong> Mannigfaltigkeit <strong>der</strong><br />
Sprachen. Da sind nicht nur die Vokabeln verschieden. Wie an<strong>der</strong>s<br />
wird oft ein und dieselbe Sache von zwei Sprachen aufgefaßt!<br />
Der Ge<strong>ist</strong> <strong>der</strong> Sprachen <strong>ist</strong> verschieden. Sie drücken verschiedene<br />
Perspektiven <strong>der</strong> Wirklichkeit aus. Daran zeigt sich,<br />
daß die Sprache nicht mechanisch gegebene Verhältnisse abbildet,<br />
son<strong>der</strong>n daß ihr ein schöpferisches Element innewohnt. Ist nicht<br />
auch die Zusammenfassung ähnlicher Züge zum Allgemeinbegriff<br />
ein Akt <strong>der</strong> Phantasie? Gerade durch Gebilde <strong>der</strong> Phantasie, die<br />
sich nachträglich als sachgerecht bewähren, erschließt sich <strong>der</strong> Zugang<br />
zur Wirklichkeit. Das zeigt <strong>der</strong> Vollzug wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis. Jede weiterführende wissenschaftliche Einsicht, ob in<br />
<strong>der</strong> Mathematik, in <strong>der</strong> Geschichtsforschung o<strong>der</strong> in den Naturwissenschaften,<br />
beginnt mit einem Einfall, mit einem Phantasieereignis.<br />
Zwar entscheidet erst die anschließende Prüfung darüber,<br />
ob <strong>der</strong> Einfall eine Erkenntnis <strong>ist</strong> o<strong>der</strong> nicht. Aber ohne<br />
Einfälle gibt es keine wissenschaftliche Erkenntnis. Und die<br />
Wissenschaft vollzieht dabei nur mit methodischem Bewußtsein<br />
das, was schon in aller alltäglichen Wahrnehmung und Erkenntnis<br />
geschieht.<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
Welche Bedeutung Erfindung und Phantasie für die Technik und<br />
überhaupt für das praktische Leben haben, <strong>ist</strong> zu bekannt, als<br />
daß wir uns eigens dabei aufhalten wollen. Erst recht gilt das von<br />
den Vorstellungen, die <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> von seiner unendlichen Bestimmung<br />
bildet, beson<strong>der</strong>s in den Künsten. Der Hinweis darauf<br />
mag genügen, um das Bild von <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Phantasie im<br />
menschlichen Verhalten abzurunden.<br />
<strong>Was</strong> Phantasie eigentlich <strong>ist</strong>, das liegt noch weitgehend im Dunkel.<br />
Grundlegend <strong>ist</strong> wohl nicht so sehr das bekannte Erlebnis eines<br />
Stromes von Bil<strong>der</strong>n 4 , als vielmehr die Fähigkeit, sich aus <strong>der</strong><br />
eigenen Situation zu lösen und sich in eine beliebige an<strong>der</strong>e<br />
Lage hineinzuversetzen 5 . Insofern <strong>ist</strong> es zum Beispiel Aufgabe<br />
<strong>der</strong> Phantasie, einen an<strong>der</strong>en <strong>Mensch</strong>en zu verstehen; denn zum<br />
Verstehen <strong>ist</strong> nicht so sehr eine innere Verwandtschaft erfor<strong>der</strong>lich,<br />
wie man vielfach meint, als vielmehr die Fähigkeit, sich in<br />
den an<strong>der</strong>n hineinzudenken. Dieses Sichlösen aus <strong>der</strong> eigenen<br />
Situation enthält auch schon das Moment des Neuen, Schöpferischen,<br />
— ein Zug, <strong>der</strong> für echte Phantasietätigkeit bezeichnend<br />
<strong>ist</strong>. Zwar bringt die Phantasie als Quelle des Vorstellungslebens<br />
auch den Gedächtnisinhalt ans Licht, aber sie wie<strong>der</strong>holt doch<br />
nie nur Gewesenes, son<strong>der</strong>n entdeckt immer schöpferisch etwas<br />
Neues. Das hängt gewiß mit <strong>der</strong> eigentümlich menschlichen<br />
Offenheit für die Zukunft zusammen 6 . Nur <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> kann<br />
die Zukunft als Zukunft, als noch nicht gegenwärtig erleben.<br />
Diese Offenheit für die Zukunft ergibt sich aus <strong>der</strong> Weltoffenheit,<br />
aus <strong>der</strong> weitgehenden Freiheit des <strong>Mensch</strong>en vom unmittelbaren<br />
Triebdruck, und darin <strong>ist</strong> auch die Fähigkeit <strong>der</strong> Phantasie,<br />
sich von <strong>der</strong> eigenen Situation zu lösen und Neues vorwegzunehmen,<br />
begründet.<br />
Sehr eigenartig <strong>ist</strong> nun <strong>der</strong> Umstand, daß die Phantasie als die am<br />
entschiedensten schöpferische Tätigkeit des <strong>Mensch</strong>en zugleich<br />
einen passiven Zug hat: Echte Einfälle kann man nicht hervorrufen.<br />
Durch diese Passivität <strong>ist</strong> das Phantasieleben <strong>der</strong> Aktivität<br />
des logischen Denkens entgegengesetzt. Die Phantasie <strong>ist</strong> nicht<br />
von sich aus folgerichtig, son<strong>der</strong>n sie äußert sich in einer lockeren<br />
Folge von Einfällen, die <strong>der</strong> phantasierende <strong>Mensch</strong> mehr empfängt<br />
als hervorbringt. Aber woher kommen die Einfälle? Man<br />
wird vermuten dürfen, daß die Phantasie es in beson<strong>der</strong>er Weise<br />
mit <strong>der</strong> unendlichen Offenheit des <strong>Mensch</strong>en zu tun hat. Das<br />
bedeutet aber: Durch die Phantasie empfängt <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> sich in<br />
seiner Innerlichkeit von Gott. Das bedeutet allerdings auch, daß<br />
das Phantasieleben beson<strong>der</strong>s von <strong>der</strong> Verkehrung zum Bösen<br />
betroffen wird.<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
Das schöpferische Wesen <strong>der</strong> Phantasie <strong>ist</strong> bis in neuere Zeit hinein<br />
verkannt worden. Es <strong>ist</strong> sehr bezeichnend, daß die Griechen<br />
zwischen Phantasie und Gedächtnis nicht unterschieden haben.<br />
Ihnen fehlte <strong>der</strong> Blick für das Schöpferische, das je Neue in <strong>der</strong><br />
Welt wie im <strong>Mensch</strong>en. Erst unter dem Einfluß des biblischen<br />
Wissens von Gottes allmächtigem Geschichtshandeln wurde <strong>der</strong><br />
Blick dafür frei. Das Schöpferische <strong>der</strong> Phantasie entspricht dem<br />
Neuen, Unvorhersehbaren im äußeren Geschehen. Trotzdem<br />
blieb es für das abendländische Denken noch lange verborgen,<br />
daß Gott wie in <strong>der</strong> äußeren Geschichte, so auch in <strong>der</strong> Innerlichkeit<br />
<strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>en unablässig Neues wirkt, und daß <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong><br />
gerade in seinem Schöpfertum zugleich ganz und gar ein Empfangen<strong>der</strong><br />
<strong>ist</strong>. Daß <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> Schöpfer seiner Welt <strong>ist</strong>, das <strong>ist</strong><br />
in <strong>der</strong> Neuzeit zur allgemeinen Überzeugung geworden. Es<br />
fragt sich nur, wie er die künstliche Welt seiner Sprache und<br />
Kultur hervorbringt. Der deutsche Idealismus sah die Herrschaft<br />
des <strong>Mensch</strong>en über die Welt in <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> logischen Vernunft<br />
begründet. Er verschloß sich dadurch dem Zufallscharakter<br />
des Geschehens und <strong>der</strong> Offenheit des Zukünftigen. Im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
finden sich aber auch Ansätze zu einer Anthropologie,<br />
die <strong>der</strong> Phantasie die führende Rolle im menschlichen Verhalten<br />
zuerkennt 7 . Konsequent durchdacht ergäbe sich von das aus ein<br />
Verständnis des menschlichen Schöpfertums, das nicht nur dem<br />
Zufallscharakter des Geschehens Rechnung trägt, son<strong>der</strong>n auch<br />
den demütigen Empfang von Einfällen als die Quelle <strong>der</strong> schöpferischen<br />
Kraft des <strong>Mensch</strong>en erkennt. So erscheint Gott nicht nur als<br />
das Ziel des weltoffenen Strebens, son<strong>der</strong>n auch als <strong>der</strong> Ursprung<br />
<strong>der</strong> schöpferischen Me<strong>ist</strong>erung <strong>der</strong> Welt durch den <strong>Mensch</strong>en.<br />
3. SICHERUNG STATT VERTRAUEN?<br />
Das Leben wird den <strong>Mensch</strong>en täglich neu zur Aufgabe. Es muß<br />
immer wie<strong>der</strong> bewältigt werden. Durch diese Aufgabe sind die<br />
<strong>Mensch</strong>en unablässig in Atem gehalten, und sie suchen ihr gerecht<br />
zu werden, indem sie nach möglichst weitgehen<strong>der</strong> Verfügung<br />
über die sie umgebende Wirklichkeit streben. Das <strong>ist</strong> ein Zug,<br />
<strong>der</strong> schon das menschliche Wahrnehmen kennzeichnet und vollends<br />
die Ausbildung von Sprache und Kultur. In <strong>der</strong> technischen<br />
Sicherung <strong>der</strong> Lebensbedingungen gipfelt solches Streben in beson<strong>der</strong>s<br />
sichtbarer Weise, und zwar nicht erst in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
naturwissenschaftlichen Technik, son<strong>der</strong>n schon in den magischen<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
Praktiken archaischer Völker kommt ein ähnlicher Wille zum<br />
Ausdruck.<br />
Man hat oft versucht, das Werden kultureller Lebensgestaltung<br />
ganz aus <strong>der</strong> Einstellung <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>en auf Verfügbarmachung,<br />
Sicherung, Beherrschung <strong>der</strong> Wirklichkeit verständlich zu machen.<br />
Doch <strong>der</strong>artige Versuche sind von vornherein zum Scheitern<br />
verurteilt, weil sie nur einen Aspekt des menschlichen Verhaltens<br />
in den Blick gelangen lassen. Der <strong>Mensch</strong> <strong>ist</strong> immer wie<strong>der</strong> auch<br />
zu ganz an<strong>der</strong>sartigem Verhalten gezwungen. Niemand kann ganz<br />
aufgehen im Sorgen und Besorgen <strong>der</strong> Daseinsbedingungen,<br />
weil niemand damit zu Ende kommt. Je<strong>der</strong> muß darüber hinaus<br />
vertrauen, und zwar immer wie<strong>der</strong>, in jedem Augenblick. Ohne<br />
zu vertrauen, kann niemand leben. Darin zeigt sich wie<strong>der</strong>, daß<br />
die Weltoffenheit des <strong>Mensch</strong>en nicht nur seine schöpferische<br />
Fähigkeit zu immer weiter ausgreifenden Daseinsentwürfen bedeutet.<br />
Der <strong>Mensch</strong> als weltoffenes Wesen <strong>ist</strong> immer auch angewiesen<br />
auf das in je<strong>der</strong> Situation undurchschaut bleibende<br />
Ganze <strong>der</strong> begegnenden Wirklichkeit. — Diese Angewiesenheit<br />
übergreift sogar die schöpferische Daseinsbewältigung selbst, sofern<br />
diese auf Einfälle angewiesen bleibt. Als ganze bleibt die<br />
Wirklichkeit, auf die hin wir leben, immer unbekannt, und von<br />
daher kann auch das einzelne, auf das wir uns einzurichten wissen,<br />
immer einmal an<strong>der</strong>s ausgehen als wir vorhersehen. Darum müssen<br />
wir vertrauen. Denn zum Unbekannten, auf das wir doch<br />
angewiesen sind, können wir nur durch Vertrauen ein Verhältnis<br />
gewinnen.<br />
Im Akt des Vertrauens gibt einer sich selbst — zumindest in<br />
bestimmter Hinsicht — dem preis, worauf er sein Vertrauen<br />
setzt. Der Vertrauende verläßt sich selbst in ganz buchstäblichem<br />
Sinne. Er verläßt sich auf die Treue dessen, dem er vertraut, auf<br />
seine Beständigkeit: daß <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> o<strong>der</strong> das Ding, dem man<br />
vertraut, sich in Zukunft als das erwe<strong>ist</strong>, was ich jetzt von ihm<br />
erwarte. Darauf verläßt sich <strong>der</strong> Vertrauende. Er hat fortan in<br />
dieser Hinsicht keine Gewalt mehr über sich selbst, son<strong>der</strong>n bei<br />
dem, dem er sich anvertraut hat, liegt nun die Entscheidung über<br />
Wohl o<strong>der</strong> Wehe, je nachdem, ob das Vertrauen gerechtfertigt<br />
o<strong>der</strong> enttäuscht wird.<br />
Durch Vertrauen wagt <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> sich an das Unbekannte. Zwar<br />
greift er nicht ins gänzlich Ungewisse. Das, worauf ich vertraue,<br />
muß durch Erfahrung bekannt sein, sonst <strong>ist</strong> Vertrauen gar nicht<br />
möglich. Und es muß sich durch gemachte Erfahrungen als vertrauenswürdig<br />
erwiesen haben; sonst wäre es blanker Leichtsinn,<br />
sich darauf zu verlassen. Aber dennoch <strong>ist</strong> es nicht einfach selbstverständlich,<br />
daß das Vertrauen gerechtfertigt wird. Insofern<br />
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong>?<br />
wagt es sich an das Unbekannte, genauer: an eine ungewisse Zukunft.<br />
Der Vertrauende freilich erwartet von <strong>der</strong> Zukunft nicht,<br />
daß sein Vertrauen enttäuscht, son<strong>der</strong>n daß es belohnt wird, daß<br />
ihm Gutes, nicht Böses wi<strong>der</strong>fährt. Dadurch unterscheidet sich<br />
<strong>der</strong> Vertrauende von jemandem, <strong>der</strong> einem an<strong>der</strong>n <strong>Mensch</strong>en<br />
o<strong>der</strong> etwa dem Alkohol verfallen <strong>ist</strong>. Der Süchtige hat sich selbst<br />
verloren. Der Vertrauende hingegen verläßt sich auf jemanden<br />
o<strong>der</strong> auf etwas, in <strong>der</strong> Meinung, daß es ihm dazu helfe, sich selbst<br />
zu gewinnen. Denn das Vertrauen rechnet auf die Treue des<br />
an<strong>der</strong>n. Er baut darauf, daß <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e, von dem ich abhänge,<br />
in seinem Verhältnis zu mir beständig, zuverlässig bleibt und so<br />
auch meinem Dasein in seiner Abhängigkeit von ihm Dauer verleiht.<br />
Im Alltag <strong>ist</strong> auf Schritt und Tritt Vertrauen nötig. Überall da,<br />
wo man mit Dingen und Mächten umgehen muß, <strong>der</strong>en inneres<br />
Wesen man nicht gänzlich durchschaut, <strong>ist</strong> Vertrauen unumgänglich.<br />
Dabei <strong>ist</strong> es gleichgültig, ob etwas, worauf ich angewiesen<br />
bin, prinzipiell nicht durchschaubar <strong>ist</strong> o<strong>der</strong> ob nur die Zeit dazu<br />
fehlt. So wird niemand vor je<strong>der</strong> Mahlzeit eine chemische<br />
Analyse <strong>der</strong> Nahrung vornehmen, ob sie etwa giftige o<strong>der</strong> sonst<br />
unzuträgliche Stoffe enthält. Man wird normalerweise auf die<br />
Zuträglichkeit <strong>der</strong> Nahrung vertrauen. Ebenso wird man, wenn<br />
man ein Flugzeug besteigt, darauf vertrauen, daß es in Ordnung<br />
<strong>ist</strong> und daß das Bodenpersonal seine Aufgabe gewissenhaft erfüllt<br />
hat. Man wird auf die Tauglichkeit von Werkzeugen und auf<br />
die des eigenen Körpers solange vertrauen, bis sich Anzeichen<br />
für das Gegenteil ergeben. Aber auch wenn man sich ausnahmsweise<br />
zu einer genaueren Prüfung entschließt, bleibt die Notwendigkeit<br />
des Vertrauens doch bestehen. Es wird nur sozusagen<br />
um eine Stufe zurückverlegt, auf die Zuverlässigkeit <strong>der</strong><br />
zu Messungen und Prüfungen verwendeten Apparate, sowie auf<br />
die angewendeten physikalischen, chemischen, biologischen Kenntnisse<br />
und ihre Prinzipien. Wir müssen also praktisch den an sich<br />
möglichen und grenzenlos ausdehnbaren Zweifel an <strong>der</strong> Zuverlässigkeit<br />
<strong>der</strong> von uns benutzten Dinge weitgehend zurückstellen.<br />
Erst recht <strong>ist</strong> im Umgang mit an<strong>der</strong>n <strong>Mensch</strong>en Vertrauen erfor<strong>der</strong>lich.<br />
Hier <strong>ist</strong> es nicht möglich, auf Grund exakter Erkenntnis<br />
das Maß des jeweils im Vertrauen beschlossenen Risikos genau<br />
abzuschätzen und das eigene Verhalten danach einzurichten. Das<br />
Urteil über die Vertrauenswürdigkeit bleibt hier viel unsicherer.<br />
Inwieweit kennt man den Mitarbeiter, dem man einen Teil des<br />
eigenen Tätigkeitsbereiches anvertraut o<strong>der</strong> dem man umgekehrt<br />
die eigene Kraft zur Verfügung stellt? Den Verwalter o<strong>der</strong> Bevollmächtigten,<br />
dem man sein Gut anvertraut? Den Arzt, dem<br />
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man den eigenen Körper überläßt? Sie werden uns mit ihren<br />
Fähigkeiten und Fehlern oft nur zum kleinsten Teil bekannt.<br />
Und das Risiko des Vertrauens wird um so größer, je dauerhafter<br />
und umfassen<strong>der</strong> die durch Vertrauen begründete Verbindung<br />
<strong>ist</strong>. Gerade die <strong>Mensch</strong>en, denen man durch Freundschaft o<strong>der</strong><br />
Ehe den eigenen Lebensweg ganz o<strong>der</strong> doch weitgehend verbindet,<br />
kennt man nie genug. Man lernt sich gegenseitig erst allmählich<br />
und nie ganz kennen. Und sogar, ja am allerme<strong>ist</strong>en sich<br />
selbst gegenüber bleibt je<strong>der</strong> an ein Unbekanntes ausgeliefert. Man<br />
erkennt sich selbst immer nur insoweit, wie man durch Einsatz <strong>der</strong><br />
eigenen Kraft sich erprobt, und eben zu solchem Einsatz bedarf es<br />
immer wie<strong>der</strong> neuen, wagenden Selbstvertrauens.<br />
Im Umgang mit <strong>Mensch</strong>en fehlt also nicht nur die Zeit, um sie<br />
ganz zu durchschauen, wie bei den Dingen, die uns alltäglich<br />
zuhanden sind. Vielmehr fehlt hier auch von <strong>der</strong> Eigenart des<br />
<strong>Mensch</strong>seins her die Grundlage zu einer abschließenden Urteilsbildung.<br />
So gewiß manche Seiten am Verhalten eines <strong>Mensch</strong>en,<br />
insbeson<strong>der</strong>e wo er eingefahrenen Gewohnheiten folgt, sich mit<br />
praktischer Gewißheit voraussagen lassen: Im wesentlichen<br />
kommt man mit einem <strong>Mensch</strong>en nie zu Ende; man <strong>ist</strong> nie mit<br />
ihm fertig. Das liegt an <strong>der</strong> Offenheit, die <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e als <strong>Mensch</strong><br />
immer noch behält, an <strong>der</strong> schöpferischen Fähigkeit, das eigene<br />
Verhalten zu än<strong>der</strong>n. Deshalb <strong>ist</strong> man im Umgang mit <strong>Mensch</strong>en<br />
prinzipiell auf Vertrauensbezüge angewiesen, trotz aller Psychologie,<br />
während man beim Umgang mit Dingen zwar faktisch, aus<br />
Zeitmangel, ebenfalls vertrauen muß, an und für sich aber durchaus<br />
in <strong>der</strong> Lage wäre, die Natur ihrer Reaktionen in hinreichendem<br />
Maße zu beherrschen.<br />
Vertrauen <strong>ist</strong> also da nötig, wo man sich auf etwas angewiesen<br />
findet, das man doch nicht so durch und durch kennt, daß man<br />
seiner ganz sicher sein könnte. Solche Wesen aber, auf die man<br />
angewiesen <strong>ist</strong>, ohne daß ihr Verhalten uns berechenbar würde,<br />
pflegen wir als Personen anzusehen und zu behandeln. <strong>Was</strong> nicht<br />
völlig durchschaubar <strong>ist</strong>, besitzt eine verborgene Innenseite, die<br />
unserm Blick entzogen <strong>ist</strong>, eine Seele gleichsam. Der archaische<br />
<strong>Mensch</strong> nahm daher die ihn umgebende Wirklichkeit überwiegend<br />
als personhaft hin. Die Dinge besaßen für ihn eine geheimnisvolle<br />
Mächtigkeit, durch die sie ihm zu Personen wurden, wo<br />
er in Umgang mit ihnen trat. An<strong>der</strong>s <strong>der</strong> <strong>Mensch</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen,<br />
technischen Zivilisation: Für ihn sind alle zur Welt gehörigen<br />
Dinge wenigstens im Prinzip durchschaut und also verfügbar.<br />
Wenn er auch aus Zeitmangel nicht in jedem Falle die Dinge<br />
genau auf ihre Eigenschaften hin prüfen kann, son<strong>der</strong>n ihrer Zuverlässigkeit<br />
vertrauen muß, so <strong>ist</strong> solche Prüfung doch prinzi-<br />
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