Anil K. Jain Politik in der (Post-)Moderne - edition fatal

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Anil K. JainPolitik in der (Post-)ModerneReflexiv-deflexive Modernisierungund die Diffusion des Politischenedition fatal

<strong>Anil</strong> K. <strong>Ja<strong>in</strong></strong><strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>neReflexiv-deflexive Mo<strong>der</strong>nisierungund die Diffusion des Politischen<strong>edition</strong> <strong>fatal</strong>


REIHE: MODERNE–POSTMODERNEBand 1: <strong>Anil</strong> K. <strong>Ja<strong>in</strong></strong>: <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong>(<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne – Reflexiv-deflexiveMo<strong>der</strong>nisierung und die Diffusion desPolitischen


Vielen Dank an …… die Ludwig-Maximilians-Universität München, die die Entstehung dieser Arbeit durch e<strong>in</strong> Promotions-Stipendiumför<strong>der</strong>te.… Ulrich Beck, dessen Theorie +reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung* nicht nur e<strong>in</strong> zentraler Bezugspunkt für mich war,son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> auch me<strong>in</strong>e Dissertation hauptverantwortlich betreute.… He<strong>in</strong>er Keupp, <strong>der</strong> mir während me<strong>in</strong>es gesamten Studiums wichtige Impulse gab.… Mario Beilhack, Manuel Knoll, Brigitte L<strong>in</strong>k, Markus Le<strong>der</strong>er, Pravu Mazumdar, Beate Schlachter, ChristianSchwaabe, Hitomi Steyerl sowie alle an<strong>der</strong>en, die Teile o<strong>der</strong> die gesamte Arbeit mit mir diskutiert und/o<strong>der</strong>Korrektur gelesen haben.… Astrid Cannich, die mir als Molekularbiolog<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e kompetente Ansprechpartner<strong>in</strong> betreffend Fragen zum<strong>in</strong> Kapitel 4 bearbeiteten Fallbeispiel +BSE* war.


Gewidmet allen, die sich auf die beschwerliche Reisedurch das Dickicht dieses Textes e<strong>in</strong>lassen wollensowie Krist<strong>in</strong>a, die diese Reise nicht mehr antreten kann.


ANIL K. JAINPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEReflexiv-deflexive Mo<strong>der</strong>nisierung und dieDiffusion des PolitischenUnd wenn auch alles bereits gesagt wäre,so wäre es doch nicht von mir gesagt.


+<strong>edition</strong> <strong>fatal</strong>* Verlagsgesellschaft bR, MünchenGesellschafter: Mario R. M. Beilhack, <strong>Anil</strong> K. <strong>Ja<strong>in</strong></strong>www.<strong>edition</strong>-<strong>fatal</strong>.de, kontakt@<strong>edition</strong>-<strong>fatal</strong>.deReihe: Mo<strong>der</strong>ne–<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, Band 1Herausgeber: <strong>Anil</strong> K. <strong>Ja<strong>in</strong></strong><strong>Anil</strong> K. <strong>Ja<strong>in</strong></strong>: <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne –Reflexiv-deflexiveMo<strong>der</strong>nisierungunddieDiffusiondes PolitischenOrig<strong>in</strong>alausgabe, München 2000Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Titelbild:Eugène Delacroix (La liberté guidant le peuple)Die Deutsche Bibliothek – CIP-E<strong>in</strong>heitsaufnahme:<strong>Ja<strong>in</strong></strong>, <strong>Anil</strong> K.: <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne : reflexiv-deflexiveMo<strong>der</strong>nisierung und die Diffusiondes Politischen / <strong>Anil</strong> K. <strong>Ja<strong>in</strong></strong>. – München : Ed.Fatal, 2000 (Mo<strong>der</strong>ne–<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ; Bd. 1)Zugl.: München, Univ., Diss., 1999ISBN 3-935147-00-7


INHALTSVERZEICHNIS


INHALTSVERZEICHNISEntrée Discursive: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Ende o<strong>der</strong> Vollendung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne? .........XI1 <strong>Politik</strong> – Etymologie und Semantik e<strong>in</strong>es +recycl<strong>in</strong>gfähigen* Begriffs ...........11.1 Das antike und mittelalterliche <strong>Politik</strong>verständnis ....................21.2 Der Wandel des <strong>Politik</strong>verständnisses <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit ................191.3 Die unterschiedlichen <strong>Politik</strong>verständnisse <strong>in</strong> Konservatismus, Sozialismus undLiberalismus ............................................341.4 Das politische Credo des +mo<strong>der</strong>nen* Nationalstaats ................471.5 Horizont e<strong>in</strong>es +postmo<strong>der</strong>nen* Verständnisses von <strong>Politik</strong> ............512 Zur Dialektik von sozio-ökonomischem Wandel und politischer Statik – E<strong>in</strong>e Ökologie<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ..................................................672.1 Ökonomischer Wandel und se<strong>in</strong>e (fehlende) Umsetzung und Entsprechung im Bereich<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (Wirtschaftssystem) ................................702.2 Die Politisierung <strong>der</strong> Justiz und die Verrechtlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (Rechtssystem).....................................................972.3 Reflexive Technologien und die deflexive Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (Wissenschaftssystemund Techniksysteme) ........................... 1202.4 Öffentlichkeit, (neue) Medien und politische Inszenierung (Medien- und Öffentlichkeitssystem)......................................... 1532.5 Wertewandel, Individualisierung und politische Kultur(um)brüche (Kultur undSozialstruktur) .......................................... 1843 Die Ant<strong>in</strong>omien +klassischer* <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft ....... 2093.1 Das ökonomische Dilemma des nationalen Wohlfahrtsstaats .......... 2113.2 Das <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Dilemma .......................... 2313.3 Das technologisch-wissenschaftliche Dilemma .................... 2393.4 Das Dilemma von Präsentation und Repräsentation ................ 2523.5 Das politische Dilemma <strong>der</strong> Individualisierung ................... 2584 Der Fall +BSE*: Von unglücklichen Kühen und e<strong>in</strong>er verunglückten B<strong>in</strong>nenmarktpolitik........................................................ 2714.1 Ökonomische Aspekte des BSE-Dramas ........................ 2824.2 Rechtliche Aspekte des BSE-Dramas ........................... 2894.3 Wissenschaftlich-technische Aspekte des BSE-Dramas .............. 2934.4 Mediale Aspekte des politischen BSE-Dramas .................... 2974.5 Kulturelle und sozialstrukturelle Aspekte des BSE-Dramas ............ 304


5 Reflexiv-deflexive Mo<strong>der</strong>nisierung und die Diffusion des Politischen ........ 3115.1 +Reflexive* Mo<strong>der</strong>nisierung als +objektive* Mo<strong>der</strong>nisierung und das unvollendeteProjekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ..................................... 3265.1.1 Neuzeitliche Verunsicherungen und die Flucht <strong>in</strong>s Rationale – Die une<strong>in</strong>lösbarenVersprechen <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne .............. 3285.1.2 Weitergehende Mo<strong>der</strong>nisierung und das Ende <strong>der</strong> Gewißheiten – Die reflexive(Selbst-)Konfrontation <strong>der</strong> sich +objektivierenden* Mo<strong>der</strong>ne ..... 3445.2 Die Be- und Entgrenzung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die metapolitische Subpolitik und diekorrelierende Gefahr e<strong>in</strong>er Diffusion und Zersplitterung des Politischen .. 3625.2.1 Subpolitik als Metapolitik ............................. 3635.2.2 Subpolitik als diffuse Nicht-<strong>Politik</strong> ....................... 3695.3 Die Ablenkung <strong>der</strong> reflexiven Herausfor<strong>der</strong>ung durch deflexive Mechanismen: ZumZusammenhang von Ideologie und Praxologie ................... 3755.3.1 Die Spaltung des (politischen) Bewußtse<strong>in</strong>s durch die funktionalistischeIdeologie ......................................... 3845.3.2 Die Begrenzung des (politischen) Handelns durch deflektorische Übersetzungenund praxologische Rituale ............................. 4035.4 Die entpolitisierende Dialektik von Reflexion und Deflexion ......... 411Excursion Term<strong>in</strong>ale: Politische Aporien und Utopien – Zum Verhältnis von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>,Kont<strong>in</strong>genz und Konvergenz ..................................LXXXVAppendix ......................................................1A: Anmerkungen ..............................................3B: Literaturverzeichnis ........................................ 103C: Abkürzungsverzeichnis ...................................... 145


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODERVOLLENDUNG DER MODERNE?


XIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODERVOLLENDUNG DER MODERNE?Ich möchte diesen Prolog, <strong>in</strong> dem es um e<strong>in</strong>e Problematisierung des allzu vagen und vielleichtgerade deshalb so schillernden Begriffs +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* gehen wird – ganz dem Thema entsprechend– mit e<strong>in</strong>em Zitat beg<strong>in</strong>nen:+Wir schwanken zwischen verschiedenen Me<strong>in</strong>ungen, nichts wollen wir […] mit festem S<strong>in</strong>n, nichtsmit Beharrlichkeit […]Von mir selbst habe ich nichts Ganzes aus e<strong>in</strong>em Stücke, nichts E<strong>in</strong>faches, nichts Festes ohne Verwirrungund […] nichts, was ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Wort fassen könnte […]* (Michel de Montaigne: Über die Unbeständigkeit<strong>der</strong> menschlichen Handlungen; S. 105 u. S. 108)Beim Lesen dieser Zeilen Montaignes wird sich <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e vielleicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenenAmbivalenz und Unentschiedenheit wie<strong>der</strong>erkennen. Es sche<strong>in</strong>t, als sei hier <strong>in</strong> plastischenWorten das vielbeschriebene Dilemma des (post)mo<strong>der</strong>nen Menschen erfaßt, dessen +heimatloses1Bewußtse<strong>in</strong>* (Berger/Berger/Kellner) bestenfalls e<strong>in</strong>e +Patchwork-Identität* (Keupp) zu gew<strong>in</strong>nenvermag. Doch egal ob man, wie Berger et al., eher die negativen Aspekte dieser +Identitäts-2Diffusion* (Erikson) beklagt o<strong>der</strong>, wie Keupp, auch e<strong>in</strong>en +Zugew<strong>in</strong>n kreativer Lebensmög-lichkeiten* <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> Befreiung aus dem +Identitätszwang* zugesteht (Auf <strong>der</strong> Suche nach3verlorener Identität; S. 64) – beide beziehen sich auf die psychologischen Nie<strong>der</strong>schlägee<strong>in</strong>er Gegenwart, die immer häufiger mit dem Etikett +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* versehen wird.4Montaigne, <strong>der</strong> auch von Keupp zitiert wird, offenbarte allerd<strong>in</strong>gs dieses so aktuell anmutendeE<strong>in</strong>geständnis se<strong>in</strong>es <strong>in</strong>neren Zwiespalts als Mensch des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts – d.h. zu e<strong>in</strong>er Zeit,da gemäß <strong>der</strong> gängigen E<strong>in</strong>teilung gerade erst die Epoche <strong>der</strong> Neuzeit heraufzudämmernbegann. Dieser Umstand provoziert die Frage: Wie postmo<strong>der</strong>n war die Mo<strong>der</strong>ne und wiemo<strong>der</strong>n ist an<strong>der</strong>erseits die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne? Könnte es nicht se<strong>in</strong>, daß die Grenze bei<strong>der</strong> Epochennur im Bewußtse<strong>in</strong> des <strong>in</strong>dividuellen Selbst verläuft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>stellung <strong>der</strong> Individuen zu sichund ihrer Zeit zum Ausdruck kommt? – Würde man dem zustimmen, so ergäbe die begrifflicheTrennung <strong>in</strong> ihrer aktuellen Form, die e<strong>in</strong>e historische Abgrenzbarkeit von +Mo<strong>der</strong>ne* und


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XIII+<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* suggeriert, wenig S<strong>in</strong>n. Und schließlich stellt schon das Wort +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*e<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> sich dar, denn die Mo<strong>der</strong>ne hat sich selbst perpetuiert, <strong>in</strong>dem sie sichals die auf ewig +neue Zeit* festschrieb, woraus folgt, daß e<strong>in</strong> +Danach* erst gar nicht <strong>in</strong> denS<strong>in</strong>n geriet und somit obsolet wurde. Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist also schon durch den gewähltenTerm<strong>in</strong>us <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e unbestimmte Zukunft verlagert, e<strong>in</strong>e Epoche, die niemals beg<strong>in</strong>nt und dochbeständig <strong>in</strong> den Startlöchern hockt, die Gegenwart zu überholen. Ist sie also nur die zumBegriff gewordene Fiktion e<strong>in</strong>er kommenden Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich die Probleme und Hoffnungendes aktuellen Se<strong>in</strong>s spiegeln?E<strong>in</strong>e Reihe von Fragen wurde <strong>in</strong> diesen kurzen E<strong>in</strong>gangssätzen bereits aufgeworfen. Fragen,die weitgehend unbeantwortet bleiben werden – und auch unbeantwortet bleiben sollen.Es s<strong>in</strong>d nämlich weniger (notwendigerweise) vere<strong>in</strong>fachende Antworten, die an dieser Stelle<strong>in</strong>teressieren, als das Bewußtse<strong>in</strong> für die Problematik des Begriffs. Und so gibt sich nicht nur<strong>der</strong> Titel dieser Arbeit zwiespältig. +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* – die Klammern deutenes an: Auch ich als Autor b<strong>in</strong> ambivalent <strong>in</strong> bezug auf +unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne* (Welsch).Allerd<strong>in</strong>gs ist diese (unentschiedene) Ambivalenz ihrerseits bereits Ausdruck e<strong>in</strong>er als +postmo<strong>der</strong>n*charakterisierbaren E<strong>in</strong>stellung – e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>stellung, die darauf verzichtet, zu fixierenund zu identifizieren, und anstelle dessen auch Unsicherheiten und Vielschichtigkeit zuläßt.In den von mir gesetzten Klammern ist deshalb folgende Möglichkeit bewußt mit e<strong>in</strong>geklammert:daß unsere Gegenwart gleichzeitig mo<strong>der</strong>n und postmo<strong>der</strong>n ist.AUF DEN SPUREN DER MODERNEDie oben getroffene Aussage, daß e<strong>in</strong>e postmo<strong>der</strong>ne Haltung durch das Zulassen von Unsicherheitenund Vielschichtigkeit gekennzeichnet se<strong>in</strong> könnte, stellt e<strong>in</strong>en Vorgriff auf dieerst noch zu vollziehenden Annäherung an die Inhalte postmo<strong>der</strong>nen (des sich selbst so verstehendenwie des so bezeichneten) Denkens dar. Da aber die Mo<strong>der</strong>ne <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne– zum<strong>in</strong>dest als Begriff – vorausgeht, sollte man vor <strong>der</strong> Beschäftigung mit ihren verschiedenenRichtungen und Spielarten Klarheit über das (Ge)wesen(e) <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne gew<strong>in</strong>nen. Lei<strong>der</strong>besteht jedoch nicht e<strong>in</strong>mal E<strong>in</strong>igkeit bezüglich <strong>der</strong> Datierung. Je nach Betrachtungsperspektivekann die Schwelle zur Epoche <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne mit dem Anbruch des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts, aberauch erst wesentlich später (o<strong>der</strong> gar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart) angesetzt werden. 5


XIVPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEUnter Historikern dom<strong>in</strong>iert die Ansicht, daß <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Neuzeit um das Jahr 1500 herumangesiedelt werden sollte, als technische und soziale Umwälzungen wie die Erf<strong>in</strong>dung desBuchdrucks o<strong>der</strong> die Ausbildung neuer Grundherrschaftsformen das Leben <strong>der</strong> Menschennachhaltig verän<strong>der</strong>t hatten, die Macht <strong>der</strong> (katholischen) Kirche durch die Reformation sowiedie zunehmende Verselbständigung <strong>der</strong> fürstlichen Herrschaft herausgefor<strong>der</strong>t wurde und6geographische +Entdeckungen* neue Handelswege und Ressourcen erschlossen. Aber ist<strong>der</strong> geschichtswissenschaftliche Begriff <strong>der</strong> Neuzeit mit dem <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne tatsächlich identisch?– Für diese These spricht zum<strong>in</strong>dest, daß etwa im romanischen Sprachraum gar ke<strong>in</strong>e zweigetrennten Begriffe existieren. Dazu Wolfgang Welsch, <strong>der</strong> hierzulande e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wichtigstenStimmen im Mo<strong>der</strong>ne-<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskurs darstellt:+Italienisch ›il mo<strong>der</strong>no‹, o<strong>der</strong> französisch ›les temps mo<strong>der</strong>nes‹, bezeichnet ungetrennt das, was manim Deutschen als ›Neuzeit‹ und ›Mo<strong>der</strong>ne‹ zwar nicht unterscheiden muß, aber unterscheiden kann.*(Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 66)Tatsächlich ist aber auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Sprache <strong>der</strong> Unterschied <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wortbedeutungzwischen +Mo<strong>der</strong>ne* und +Neuzeit* re<strong>in</strong> virtuell, und e<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> den +Duden* lehrt schnell,daß das Adjektiv +mo<strong>der</strong>n* sich vom late<strong>in</strong>ischen +mo<strong>der</strong>nus* ableitet, was wie<strong>der</strong>um nichtsan<strong>der</strong>es als eben +neu(zeitlich)* bedeutet. Entsprechend <strong>der</strong> oben von ihm angedeutetenMöglichkeit zur Differenzierung zwischen Mo<strong>der</strong>ne und Neuzeit me<strong>in</strong>t Welsch nun allerd<strong>in</strong>gs,daß das Konzept <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne e<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen geradezuverlange, denn +die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne setzt sich zwar entschieden von <strong>der</strong> Neuzeit, sehr viel wenigerh<strong>in</strong>gegen von <strong>der</strong> eigentlichen Mo<strong>der</strong>ne ab* (ebd.).Die Neuzeit läßt Welsch (im Gegensatz zur dom<strong>in</strong>anten geschichtswissenschaftlichen Datierung)erst mit René Descartes (1596–1650) und damit im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t beg<strong>in</strong>nen. Er bef<strong>in</strong>detsich als Philosoph mit dieser Bestimmung allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> guter Gesellschaft. Fast alle Interpreten<strong>der</strong> Philosophiegeschichte sehen <strong>in</strong> Descartes jenen Denker, <strong>der</strong> die +Epochenschwelle* markiert(vgl. z.B. Röd: Philosophie <strong>der</strong> Neuzeit; S. 9) – e<strong>in</strong>e Auffassung, die bereits Hegel vertrat:+Die […] eigentlich mo<strong>der</strong>ne Philosophie fängt mit Cartesius an*, bemerkt dieser <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enVorlesungen zur +E<strong>in</strong>leitung <strong>in</strong> die Geschichte <strong>der</strong> Philosophie* (S. 238).Je pense, donc je suis (Ich denke, also b<strong>in</strong> ich) – jener (Kurz-)Schluß Descartes’ ist die7solipsistische Basis <strong>der</strong> neuzeitlichen Subjektphilosophie, und er selbst me<strong>in</strong>te, mit diesem


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XVSatz e<strong>in</strong>e sichere Grundlage für se<strong>in</strong> weiteres philosophisches Denken gefunden zu haben.Vom radikalen Zweifel ausgehend, gelangte er zur ebenso radikalen, nicht mehr anzweifelbarenGewißheit:+Und sieh da! So b<strong>in</strong> ich schließlich von selbst dah<strong>in</strong> zurückgekehrt, woh<strong>in</strong> ich wollte. Denn da ichjetzt weiß, daß ja selbst die Körper nicht eigentlich durch die S<strong>in</strong>ne o<strong>der</strong> durch die E<strong>in</strong>bildungskraft,son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>zig und alle<strong>in</strong> durch den Verstand erkannt werden, nicht dadurch, daß man sie betasteto<strong>der</strong> sieht, son<strong>der</strong>n, daß man sie denkt: so erkenne ich ganz offenbar, daß ich nichts leichter undaugensche<strong>in</strong>licher erfassen kann – als me<strong>in</strong>en Geist.* (Meditationes; S. 26 [II,16])8Mit diesem a priori des Selbst formulierte Descartes e<strong>in</strong>e Erkenntnis, die er mit e<strong>in</strong>em strengrationalistischen Wissenschaftsprogramm verband, wie es ähnlich auch z.B. Francis Bacon9(1551–1626) vertrat. Die von beiden erarbeiteten Pr<strong>in</strong>zipien e<strong>in</strong>er vernunftorientierten, empiri-schen Wissenschaft und e<strong>in</strong> optimistischer Fortschrittsglaube prägten auch die (Hoch-)Aufklärungdes 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Allerd<strong>in</strong>gs machten sich nun zunehmend kritische Stimmen bemerkbar,die (an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit) nicht e<strong>in</strong>em konservativ-christlichen Impuls folgten,son<strong>der</strong>n ihre Kritik gerade aus dem neuzeitlichen Bewußtse<strong>in</strong> heraus formulierten. Deshalbläßt Welsch die +eigentliche* Mo<strong>der</strong>ne, die er ja von <strong>der</strong> (cartesianischen) Neuzeit abzugrenzenbestrebt ist (und die er gewissermaßen als Vorstufe zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne begreift), erst im 18.Jahrhun<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>setzen. Ironisch bemerkt er: +Vielleicht s<strong>in</strong>d die besten Aufklärer gerade diejenigen,die mit e<strong>in</strong>em Be<strong>in</strong> auch im an<strong>der</strong>en Lager stehen* (Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne;S. 73). Denker, die diesen (selbst)kritischen Aspekt <strong>der</strong> +neuzeitlichen Mo<strong>der</strong>ne* verkörpern,s<strong>in</strong>d für Welsch u.a. Vico, Rousseau und Baumgarten. 10Auch Jürgen Habermas sieht das 18. Jahrhun<strong>der</strong>t als Wendepunkt zur (eigentlichen) Mo<strong>der</strong>nean. Doch stellt er klar, daß <strong>der</strong> Begriff an sich tatsächlich wesentlich älter ist: 11+Das Wort ›mo<strong>der</strong>n‹ ist zuerst im späten 5. Jahrhun<strong>der</strong>t verwendet worden, um die soeben offiziellgewordene christliche Gegenwart von <strong>der</strong> heidnisch-römischen Vergangenheit abzugrenzen. Mitwechselnden Inhalten drückt ›Mo<strong>der</strong>nität‹ immer wie<strong>der</strong> das Bewußtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Epoche aus, die sichzur Vergangenheit <strong>der</strong> Antike <strong>in</strong> Beziehung setzt, um sich selbst als Resultat e<strong>in</strong>es Übergangs vomAlten zum Neuen zu begreifen.* (Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt; S. 33)Im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t än<strong>der</strong>te sich dann aber – als e<strong>in</strong>e wichtige Folge <strong>der</strong> zuvor e<strong>in</strong>geleitetenEntwicklungen – <strong>der</strong> Gebrauch des Wortes +mo<strong>der</strong>n*, und man gewann e<strong>in</strong> geradezu post-


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XVIIdieses Hegelschen Griffs nach dem +Zeitgeist* ist die Feststellung, daß die Entfaltung <strong>der</strong>Subjektivität zum Kennzeichen <strong>der</strong> +Gegenwart* geworden ist: +Das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> neueren Weltüberhaupt ist Freiheit <strong>der</strong> Subjektivität* (Grundl<strong>in</strong>ien; § 273, Zusatz). 15Allerd<strong>in</strong>gs ist das reale Individuum se<strong>in</strong>em eigentlichen Se<strong>in</strong> entfremdet.16Erst wenn sichdie vom Subjekt gespeiste Moralität, die sich im Willen zur Freiheit äußert, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sittlichenObjektivität des Staates Substantialität verleiht, wird diese Freiheit konkret.gelangt nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit mit dem Absoluten zu sich selbst.1817Das Subjekt+Diese, Hegel eigentümlicheDenkfigur setzt die Mittel <strong>der</strong> Subjektphilosophie zum Zweck e<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> subjektzentriertenVernunft e<strong>in</strong>* (ebd.; S. 46), stellt Habermas fest. Aber +kaum hatte Hegel dieEntzweiung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf den Begriff gebracht, schickte sich schon die Unruhe und dieBewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne an, diesen Begriff zu sprengen* (ebd.; S. 55).Das für Habermas charakteristische Element <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts ist alsodas sich entwickelnde, doch noch nicht über sich h<strong>in</strong>ausgreifende Bewußtse<strong>in</strong> für die +Entzweiung*<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt. Dieses Bewußtse<strong>in</strong> reflektiert e<strong>in</strong>en fundamentalen Wandel<strong>der</strong> sozialen Strukturen, den Habermas bereits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Habilitationsschrift +Strukturwandel<strong>der</strong> Öffentlichkeit* (1963) analysiert hat: Ende des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts bis Anfang des 18. Jahrhun<strong>der</strong>tskam es zu e<strong>in</strong>er Differenzierung zwischen öffentlicher und privater Sphäre,19womitsich auch <strong>der</strong> Charakter <strong>der</strong> Öffentlichkeit än<strong>der</strong>te. Sie wandelte sich von e<strong>in</strong>em Medium<strong>der</strong> bloßen Repräsentation (fürstlicher Macht und des sozialen Status) zur politisch orientiertenbürgerlichen Öffentlichkeit. Das Bürgertum nämlich artikulierte nun immer heftiger se<strong>in</strong>eMitsprache- und Machtansprüche, die schließlich (<strong>in</strong> Frankreich) <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Grande Révolution*von 1789 explosiv kulm<strong>in</strong>ierten.Das 18. Jahrhun<strong>der</strong>t war also ebenso das Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Grundlegung <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft.Tatsächlich verwirklicht wurde diese allerd<strong>in</strong>gs erst im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Denn nichtnur die ökonomische, son<strong>der</strong>n zugleich immer mehr politische Macht g<strong>in</strong>g nun <strong>in</strong> die Händedes Bürgertums über. Dies gilt vor allem für England und Frankreich, während gerade diedeutschen Gebiete noch unter e<strong>in</strong>em +demokratischen Defizit* litten.20Auch hier war dassoziale Leben jedoch durch e<strong>in</strong>en weiteren strukturellen Wandel gekennzeichnet: Diebeg<strong>in</strong>nende Industrialisierung erlaubte nicht nur die Versorgung <strong>der</strong> stark anwachsendenBevölkerung mit Massengütern.21Sie erzeugte e<strong>in</strong>e neue gesellschaftliche Klasse – das Proletariat.Versteht man deshalb unter +Mo<strong>der</strong>ne* die bürgerliche, vom grundlegenden Gegensatz zwischen


XVIIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEArbeit und Kapital bestimmte Industriegesellschaft, so sollten ihre Anfänge erst im 19. Jahrhun<strong>der</strong>tangesetzt werden.Der damals sich vollziehende (weitere) Strukturwandel schlug sich natürlich im Bewußtse<strong>in</strong><strong>der</strong> Menschen nie<strong>der</strong>. Man spürte den Aufbruch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue Epoche: die Epoche <strong>der</strong> Industrie.Dies wird auch anhand <strong>der</strong> ersten soziologischen Konzepte deutlich. Der Autodidakt undFrühsozialist Claude-Henri de Sa<strong>in</strong>t-Simon (1760–1825) teilte die Gesellschaft <strong>in</strong> Produzierendeund Nicht-Produzierende e<strong>in</strong>. Erstere faßte er als <strong>in</strong>dustrielle Klasse zusammen (wozu alsoneben den eigentlichen +Industriellen* auch Arbeiter, Bauern und Handwerker gehörten).Die <strong>in</strong>dustrielle Klasse sollte gemäß Sa<strong>in</strong>t-Simon aufgrund ihrer enormen Bedeutung endlichanstelle des Adels den ersten Platz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft e<strong>in</strong>nehmen. Nur so könnten Gleichheit,das allgeme<strong>in</strong>e Wohl und <strong>der</strong> soziale Friede sichergestellt werden (vgl. Catéchisme des <strong>in</strong>dustriels;22S. 141ff.). Auch Auguste Comte (1798–1857) war vom Fortschritts- und Technikglaubenbeseelt. Er sah die Ablösung des metaphysischen Stadiums <strong>der</strong> Menschheit durch e<strong>in</strong> positivwissenschaftlichesStadium gekommen, <strong>in</strong> dem Wissenschaft und Technik sich gegenseitigzum Wohl <strong>der</strong> Menschheit ergänzen (vgl. Discours sur l’ésprit positiv; S. 56–67). Deshalbfor<strong>der</strong>te er e<strong>in</strong> Bündnis <strong>der</strong> Proletarier und <strong>der</strong> Philosophen, die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er höherenVolksbildung sowie e<strong>in</strong>e +volkstümliche <strong>Politik</strong>* (politique populaire).Doch nicht nur im fortschrittlichen Frankreich, auch im damals vergleichsweise zurückgebliebenenBayern war man voll Fortschrittsoptimismus.23So führte e<strong>in</strong> Redner im Jahr 1820 zur erstenJahresversammlung des Industrie- und Kulturvere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> Nürnberg aus:+Mit <strong>der</strong> Zunahme <strong>der</strong> Kenntnisse des Menschen werden neue Hülfsquellen und Kräfte se<strong>in</strong>em Willenuntertänig gemacht, welche, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em rohen Zustande <strong>der</strong> Gesellschaft als Träume e<strong>in</strong>er ungeregeltenE<strong>in</strong>bildungskraft verlacht worden wären. – Dieß beweist unter an<strong>der</strong>n die außerordentliche Erf<strong>in</strong>dung:Schriften mit e<strong>in</strong>er Schnelligkeit zu vervielfältigen, welche e<strong>in</strong>en Menschen <strong>in</strong> den Stand setzt, dieArbeit von zwanzig tausend Abschreibern zu ersetzen, […] desgleichen <strong>der</strong> Plan das Weltmeer zubeschiffen, die Erf<strong>in</strong>dung des Schießpulvers, die ausgedehnte Anwendung <strong>der</strong> Dampfmasch<strong>in</strong>e […]Diese und ähnliche Erf<strong>in</strong>dungen haben den Zustand aller menschlichen Verhältnisse geän<strong>der</strong>t undihre Folgen haben die <strong>in</strong>tellektuellen Kräfte des menschlichen Geistes bereits zu e<strong>in</strong>er Höhe erhoben,welche durch ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>n Mittel erreicht werden konnte.* (Johann Harl, zitiert nach Zwehl: Aufbruch<strong>in</strong>s Industriezeitalter; S. 135f.)Selbst Karl Marx, <strong>der</strong> radikale Kritiker <strong>der</strong> bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, erkanntedie zum<strong>in</strong>dest partiell revolutionäre Rolle des Bürgertums und die realen Fortschritte durch


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XIXdie <strong>in</strong>dustrielle Produktionsweise an (wobei er allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e stark eurozentrisch geprägteSichtweise offenbart):+An die Stelle <strong>der</strong> Manufaktur trat die mo<strong>der</strong>ne große Industrie, an die Stelle des <strong>in</strong>dustriellen Mittelstandestraten die <strong>in</strong>dustriellen Millionäre, […] die mo<strong>der</strong>nen Bourgeois […]Die Bourgeoisie hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte e<strong>in</strong>e höchst revolutionäre Rolle gespielt. Die Bourgeoise, wosie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört.Sie […] reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktions<strong>in</strong>strumente, durch die unendlich erleichterteKommunikationen alle, auch die barbarischsten [!] Nationen <strong>in</strong> die Zivilisation.* (Marx/Engels: Manifest<strong>der</strong> kommunistischen Partei; S. 33f.)Nach Marx gräbt sich die bürgerliche Gesellschaft damit aber nur ihr eigenes Grab, denndie Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> kapitalistischen Produktionsweise, die auf <strong>der</strong> Ausbeutung <strong>der</strong> Proletarierberuht und e<strong>in</strong>e +Epidemie <strong>der</strong> Überproduktion* hervorruft (ebd.; S. 36), führen letzendlichzur proletarischen Erhebung. Erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> kommunistischen Gesellschaft verwirklicht sich dann– nach e<strong>in</strong>er sozialistischen Übergangsphase <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats – das +Reich <strong>der</strong>Freiheit*, und die Produktionsverhältnisse entsprechen endlich dem erreichten Stand <strong>der</strong>Produktivkräfte.Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems 1989 sche<strong>in</strong>t diese Thesen Marx’ wi<strong>der</strong>legtzu haben. Viele sehen <strong>in</strong> jenem Jahr e<strong>in</strong>e Zäsur (vgl. z.B. McNeill: W<strong>in</strong>ds of Change) – e<strong>in</strong>eZäsur, die vielleicht auch den Übergang von <strong>der</strong> politischen Mo<strong>der</strong>ne zur politischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nemarkieren könnte (vgl. Schönherr-Mann: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Theorien des Politischen;S. 11–16). Diese wäre von Globalisierung, neuen Kommunikationstechnologien und e<strong>in</strong>emmultipolaren Weltsystem geprägt (siehe v.a. Abschnitt 2.1). Und sie wäre auch e<strong>in</strong>e <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne,die mit dem Ende <strong>der</strong> +traditionellen* Industriegesellschaft zusammenfällt. Diese traditionelleIndustriegesellschaft, die auf sozialer Integration durch Massenkonsum und <strong>der</strong> politischenProtektion und Steuerung durch die nationalstaatliche <strong>Politik</strong> beruhte, ist jedoch e<strong>in</strong>e Entwicklungdes 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts und wurde durch die <strong>in</strong>dustrielle Revolution des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts nurvorbereitet. Man kann deshalb den Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er so verstandenen (<strong>in</strong>dustriellen) Mo<strong>der</strong>neauch erst <strong>in</strong> unserem Jahrhun<strong>der</strong>t ansetzen (vgl. z.B. Zapf: Entwicklung und Sozialstrukturmo<strong>der</strong>ner Gesellschaften). 24


XXPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEZU EINEM DYNAMISCHEN VERSTÄNDNIS VON MODERNE: DER PROZESS DER MODER-NISIERUNG AUS SOZIOLOGISCHER PERSPEKTIVEDie Vielzahl <strong>der</strong> geschichtlichen E<strong>in</strong>ordnungsmöglichkeiten wirkt verwirrend: Die Mo<strong>der</strong>neist je nach Blickw<strong>in</strong>kel e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e und dementsprechend unterschiedlich kann ihr Beg<strong>in</strong>nfestgesetzt werden. Wie ließe sich diese Verwirrung auflösen o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest positiv nutzen?– Der Begriff +Mo<strong>der</strong>ne* impliziert eher Statik und ist als Epochenbezeichnung auf e<strong>in</strong>ehistorische Datierbarkeit angewiesen. In <strong>der</strong> Soziologie spricht man, an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft,jedoch ohneh<strong>in</strong> primär von +Mo<strong>der</strong>nisierung* – es <strong>in</strong>teressiert also weniger diebloße Abfolge <strong>der</strong> nur unsauber abgrenzbaren Epochen als die Entwicklungsrichtung e<strong>in</strong>esdynamisch aufgefaßten Prozesses.Es gibt nun e<strong>in</strong>e ganze Vielzahl von soziologischen Mo<strong>der</strong>nisierungstheorien und auch hierkommt es wie<strong>der</strong> darauf an, welchen Teilprozeß die e<strong>in</strong>zelne Theorie <strong>in</strong> den Mittelpunktstellt. Denn wie bereits klar geworden se<strong>in</strong> dürfte: Die Mo<strong>der</strong>ne ist vielschichtig und eigentlichnur im Plural zu denken. Entsprechend wird auch die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Gesellschaft nichtnur durch e<strong>in</strong>en Faktor ausgelöst und <strong>in</strong> Gang gehalten. E<strong>in</strong>en <strong>in</strong>teressanten und vielversprechendenAnsatz, das Phänomen Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en verschiedenen Teilaspekten zuerfassen, haben deshalb vor kurzem Hans van <strong>der</strong> Loo und Wilhelm van Reijen vorgelegt– wenngleich natürlich auch ihr Modell ke<strong>in</strong>esfalls alle Momente berücksichtigt. Immerh<strong>in</strong>aber basiert ihr Konzept auf vier Dimensionen, die die beiden nie<strong>der</strong>ländischen Autoren ausParsons’ Handlungstheorie entlehnen.Parsons skizziert <strong>in</strong> dem Band +Toward a General Theory of Action* (1951) sowie <strong>in</strong> den vonihm (mit)herausgegebenen +Work<strong>in</strong>g Papers <strong>in</strong> the Theory of Action* (1953) e<strong>in</strong>en 4-dimensionalenHandlungsrahmen, durch den er das Verhalten von Individuen determ<strong>in</strong>iert sieht:Das Subjekt als Aktor (1. Determ<strong>in</strong>ante) wird zum e<strong>in</strong>en von se<strong>in</strong>er sozialen Umwelt (2. Determ<strong>in</strong>ante)bee<strong>in</strong>flußt, d.h. <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne kann nicht e<strong>in</strong>fach se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Impulsen folgen,son<strong>der</strong>n muß se<strong>in</strong> Tun auf an<strong>der</strong>e und mit an<strong>der</strong>en abstimmen. Diese <strong>in</strong>teraktionistischeKomponente wird dadurch ergänzt, daß (zum großen Teil ver<strong>in</strong>nerlichte) kulturelle Werteund Normen (3. Determ<strong>in</strong>ante) steuernd E<strong>in</strong>fluß nehmen. Auch die Beschaffenheit <strong>der</strong> materialenUmwelt und die eigene Körperlichkeit des Organsystems Mensch (4. Determ<strong>in</strong>ante) s<strong>in</strong>dhandlungsrelevant.25Diese vier Determ<strong>in</strong>anten korrespondieren mit den vier grundlegendenSubsystemen, die Parsons <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Systemtheorie postuliert: Der Person kommt hier die Aufgabe


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XXI<strong>der</strong> konkreten Zielverwirklichung (Goal Atta<strong>in</strong>ment) zu, während das Sozialsystem für dieIntegration <strong>der</strong> Gesellschaft sorgt. Das Kultursystem sichert den Wertebestand und damit dieStrukturerhaltung (Latency/Pattern Ma<strong>in</strong>tenance). Die dem Menschen als +behavioralistischenOrganismus* angeborene Lernfähigkeit wie<strong>der</strong>um ermöglicht die Anpassung an die Umwelt. 26Es läßt sich also e<strong>in</strong> Handlungsfeld entlang von vier Achsen aufspannen. Diese Achsen bezeichnenvan <strong>der</strong> Loo und van Reijen mit +Struktur*, +Person*, +Kultur* und +Natur*. Ausgehendvon diesem Modell kann nun das Phänomen Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>in</strong> verschiedene Subprozessegeglie<strong>der</strong>t werden, die sich zu e<strong>in</strong>em relativ kompletten Gesamtbild zusammenfügen.ergeben sich die von den beiden Autoren <strong>in</strong>s Zentrum ihrer Überlegungen gestellten vierTeilprozesse <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung: Differenzierung (als Strukturkomponente), Individualisierung(als personale Komponente), Rationalisierung (als kulturelle Komponente) und Domestizierung(als die <strong>in</strong>nere wie äußere Natur betreffende Komponente). (Vgl. Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 28–34und siehe die untenstehende vergleichende Gegenüberstellung <strong>in</strong> Tabelle 1).27SoTabelle 1: Gegenüberstellung von Parsons und van <strong>der</strong> Loo/van ReijenHandlungsrahmen bei ParsonsStruktur bzw. SozialsystemPerson bzw. PersönlichkeitssystemKultur bzw. KultursystemNatur bzw. Organsystem/phys. UmweltTeilprozesse <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung nachvan <strong>der</strong> Loo/van ReijenDifferenzierungIndividualisierungRationalisierungDomestizierungVan <strong>der</strong> Loo und van Reijen s<strong>in</strong>d natürlich nicht die Schöpfer dieser Begriffe, und sie füllensie auch nicht mit neuen Inhalten auf. Vielmehr führen die Autoren die wichtigsten Ansätze<strong>der</strong> soziologischen Mo<strong>der</strong>nisierungstheorien <strong>in</strong> ihrem Buch systematisch zusammen und stellen<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die paradoxen Elemente des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses heraus. So lautet <strong>der</strong>Untertitel ihres Bandes treffend +Projekt und Paradox*. Ich möchte im folgenden näher aufdie angesprochenen vier, <strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchlichen Teilprozesse e<strong>in</strong>gehen, orientiere michdabei aber nicht streng an <strong>der</strong> Darstellung von van <strong>der</strong> Loo und van Reijen, son<strong>der</strong>n greifenur die mir wirklich zentral ersche<strong>in</strong>enden Ansätze heraus und beziehe mich dabei darüberh<strong>in</strong>aus z.T. auch auf an<strong>der</strong>e Autoren und Texte, als die von ihnen genannten.


XXIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Als erster Teilprozeß <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung soll die Differenzierung <strong>in</strong>s Blickfeld geraten. SozialeDifferenzierung ist die zentrale strukturelle Komponente des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses undäußert sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Trennung, Beson<strong>der</strong>ung u. (horizontal wie vertikal) wirksamen Abgrenzungvon zunächst homogenen sozialen Gebilden* (Hartfiel/Hillmann: Wörterbuch <strong>der</strong> Soziologie;S. 140). Diese Lexikon-Def<strong>in</strong>ition ist lei<strong>der</strong> nicht beson<strong>der</strong>s vielsagend und bedarf <strong>der</strong> <strong>in</strong>haltlichenAuffüllung: E<strong>in</strong>e zunächst relativ e<strong>in</strong>fach strukturierte und e<strong>in</strong>heitliche Gesellschaft wandeltsich also (durch Differenzierung) zu e<strong>in</strong>em komplexen sozialen Zusammenhang. Immer mehrunterschiedliche Aufgabenfel<strong>der</strong> entstehen und werden von unterschiedlichen Personen(gruppen)besetzt. Diese arbeitsteilige Spezialisierung (horizontale Differenzierung) muß nicht notwendigerweisemit <strong>der</strong> Entstehung von hierarchischen Abstufungen (vertikale Differenzierung)verbunden se<strong>in</strong>, aber es ersche<strong>in</strong>t an<strong>der</strong>erseits durchaus plausibel, daß <strong>der</strong>art bestehendeUngleichheiten verstärkt werden.Aus solcher Perspektive bedeutet Mo<strong>der</strong>nisierung zwangsläufig die Zunahme von sozialerUngleichheit. Am prom<strong>in</strong>entesten vertritt diese These Gerhard Lenski: Er sieht e<strong>in</strong>e auf Nutzenmaximierungberuhende Dialektik von <strong>in</strong>dividuellen und gesellschaftlichen Interessen wirken,die dazu führt, +daß die Menschen das Produkt ihrer Arbeit [nur] <strong>in</strong>soweit teilen, als dies zurSicherung ihres Überlebens und <strong>der</strong> Produktivität jener notwendig ist, <strong>der</strong>en Handlungen fürsie selbst nützlich s<strong>in</strong>d* (Macht und Privileg; S. 71). Dieses Verhältnis von Bedürfnis und Machtführt dazu, daß nur <strong>in</strong> +primitiven*, kaum arbeitsteiligen Jäger- und Sammlergesellschaftene<strong>in</strong> hohes Maß an Gleichheit herrschen kann, da es wenig zu verteilen gibt und dieses Wenigefolglich zur Überlebenssicherung aller relativ gerecht verteilt werden muß (vgl. ebd.; S. 145ff.).In den bereits stärker arbeitsteiligen und deshalb +reicheren* Agrargesellschaften ist das Ausmaß<strong>der</strong> Ungleichheit dagegen hoch. Die durch Machtkämpfe hervorgegangenen Eliten nutzenihre Position, um ihre egoistischen Interessen zu verfolgen, und sichern sich e<strong>in</strong>en unverhältnismäßiggroßen Teil des gesellschaftlichen +Kuchens* (vgl. ebd.; 283ff.). Erst +das Aufkommenentwickelter Industriegesellschaften bewirkt zum ersten Mal e<strong>in</strong>en Umschwung <strong>der</strong> uraltenevolutionären Entwicklung zu stetig zunehmen<strong>der</strong> Ungleichheit* (ebd.; S. 407). Das liegt gemäßLenski nicht am gestiegenen sozialen Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Eliten. Ihre +Ignoranz* für die Situationan<strong>der</strong>er nimmt sogar zu. Vielmehr hat die nochmals erhöhte Differenzierung zu Produktivitätssteigerungengeführt, die es den Privilegierten erlauben, die Massen (zu ihrer Befriedung)am großen allgeme<strong>in</strong>en Reichtum partizipieren zu lassen (vgl. ebd.; S. 413–420).


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XXIIIOb diese Thesen Lenskis zutreffend s<strong>in</strong>d, sei dah<strong>in</strong>gestellt. Insbeson<strong>der</strong>e se<strong>in</strong>e Annahme e<strong>in</strong>esUmschwungs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ungleichheitsentwicklung halte ich für fragwürdig. Schließlich weisenempirische Befunde darauf h<strong>in</strong>, daß die Ungleichheitsrelationen trotz fortschreiten<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung<strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten konstant geblieben s<strong>in</strong>d (bzw. sich sogar wie<strong>der</strong> vergrößern), 28was Ulrich Beck als +Fahrstuhleffekt* bezeichnet hat (vgl. Risikogesellschaft; S. 122).die absolute Armut <strong>in</strong> den Industriestaaten hat sich verr<strong>in</strong>gert – und dies, so ist zu vermuten,zu e<strong>in</strong>em guten Teil auf Kosten <strong>der</strong> Armen <strong>in</strong> den +unterentwickelten* Län<strong>der</strong>n.Lei<strong>der</strong> kann aber <strong>der</strong> Dimension <strong>der</strong> sozialen Ungleichheit und ihrer Verknüpfung mit demProzeß <strong>der</strong> sozialen Differenzierung hier nicht die Aufmerksamkeit geschenkt werden, diesie eigentlich verdiente. Es ist nämlich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> horizontalen Differenzierung,<strong>der</strong> an dieser Stelle – allerd<strong>in</strong>gs auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en sozialen Auswirkungen – thematisiert werdensoll. Horizontale Differenzierung ist nun weitgehend identisch mit <strong>der</strong> Herausbildung vonArbeitsteilung. Schon Platon sah e<strong>in</strong>en Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklungund Arbeitsteilung (vgl. Politeia; Abschnitt 2.2.2). Die soziologische Standardschrift zu diesemThema stammt jedoch aus dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t:Emil Durkheim (1858–1917) entwickelte 1893 e<strong>in</strong>e Theorie +Über die Teilung <strong>der</strong> sozialenArbeit*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> bereits e<strong>in</strong>e ambivalente Sichtweise zum Tragen kommt. Er betrachtete nämlichsoziale Arbeitsteilung nicht als ausschließliches Phänomen +mo<strong>der</strong>ner* Gesellschaften. Docherst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne rückte sie laut Durkheim <strong>in</strong>s allgeme<strong>in</strong>e Bewußtse<strong>in</strong>, entfaltete e<strong>in</strong>e immergrößere Dynamik, und seit Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts bestand schließlich das Bemühen, sietheoretisch zu fassen. Adam Smith (1723–1790) beispielsweise hielt sie gar für die Grundlagedes Volkswohlstandes (vgl. Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen; S. 9ff.). Die Bedeutung <strong>der</strong> Arbeitsteilunglag für Durkheim aber weniger <strong>in</strong> ihren ökonomisch positiven Auswirkungen, son<strong>der</strong>n+ihre wahre Funktion besteht dar<strong>in</strong>, zwischen zwei o<strong>der</strong> mehreren Personen e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong>Solidarität herzustellen* (Über die Teilung <strong>der</strong> sozialen Arbeit; S. 96). Sie ist beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>höher entwickelten Gesellschaften die Hauptquelle des gesellschaftlichen Zusammenhalts(vgl. ebd.; S. 102f.). In früheren Gesellschaften konnte Solidarität nämlich noch gleichsammechanisch vorausgesetzt werden und beruhte auf <strong>der</strong> Konformität des Bewußtse<strong>in</strong>s <strong>der</strong>e<strong>in</strong>zelnen Gesellschaftsmitglie<strong>der</strong> (vgl. ebd.; S. 146ff. u. S. 169ff.). Diese Konformität desBewußtse<strong>in</strong>s hat sich mit <strong>der</strong> Zunahme <strong>der</strong> sozialen Differenzierung aufgelöst. Das bietetgleichzeitig die Chance e<strong>in</strong>er allerd<strong>in</strong>gs erst herzustellenden organischen Solidarität, wobei29Nur


XXIVPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEdem Individuum e<strong>in</strong> weit größerer Freiraum gelassen wird als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit (vgl. ebd.30S. 171f.). Solche Freiräume, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Fehlen e<strong>in</strong>er steuernden Instanz, implizierenaber auch immer die Möglichkeit <strong>der</strong> Anomie, und die gesellschaftliche Solidarität ist tendenziellgefährdet. Die vere<strong>in</strong>zelten Individuen können den Kontakt zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verlieren und gesellschaftlicheKämpfe drohen auszubrechen (vgl. ebd.; S. 399–410).Weit weniger problematisch betrachtete dann allerd<strong>in</strong>gs Talcott Parsons soziale Differenzierung.Sie stellte für ihn schlicht die Grundlage <strong>der</strong> Evolution mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften dar. In demBand +The System of Mo<strong>der</strong>n Societies* (1971) def<strong>in</strong>iert er:+Differentiation is the division of a unit or structure <strong>in</strong> a social system <strong>in</strong>to two or more units of structurethat differ <strong>in</strong> their characteristics and functional significance for the system.* (S. 26)Differenzierung bietet selbst laut Parsons allerd<strong>in</strong>gs nur dann wirkliche Vorteile, wenn es durchsie gleichzeitig zu e<strong>in</strong>er Anpassungsverbesserung (adaptive upgrad<strong>in</strong>g) kommt, d.h. wenndie Fähigkeit des Systems steigt, adäquat auf Umweltverän<strong>der</strong>ungen zu reagieren. Zudemmuß die +systemische* Differenzierung von e<strong>in</strong>er Wertegeneralisierung begleitet werden (ebd.;S. 27). Dies geschieht z.B. durch e<strong>in</strong> Rechtssystem mit allgeme<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dlichen Gesetzen,politische Partizipation, wirtschaftliche Verflechtung etc. (vgl. ebd.; S. 18–26). 31Parsons ist oft e<strong>in</strong>e harmonisierende Sichtweise vorgeworfen worden. Robert K. Merton, e<strong>in</strong>Schüler von Parsons, hat versucht, diese Schieflage zu beseitigen. Dabei greift er bewußtauf Durkheim zurück und zeigt auf, daß gerade die Übernahme von gesellschaftlichen Zielvorstellungenbei e<strong>in</strong>em gleichzeitigen Fehlen von (legalen) Möglichkeiten zu <strong>der</strong>en Verwirklichunganomisches, d.h. als krim<strong>in</strong>ell def<strong>in</strong>iertes Verhalten provoziert:+First, <strong>in</strong>centives for success are provided by the established values of the culture and second, theavenues available for mov<strong>in</strong>g toward this goal are largely limited by the class structure to those ofdeviant behavior. It is the comb<strong>in</strong>ation of the cultural emphasis and the social structure which produces<strong>in</strong>tense pressure for deviation. Recourse to legitimate channels for ›gett<strong>in</strong>g <strong>in</strong> the money‹ is limitedby a class structure which is not fully open at each level to men of good capacity.* (Social Theoryand Social Structure; S. 145).Zu dieser offensichtlich weitaus kritischeren Sichtweise als Parsons gelangt Merton, <strong>in</strong>demer h<strong>in</strong>ter die +Kulissen* <strong>der</strong> Gesellschaft blickt und deshalb zwischen den offen zutage tretenden


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XXVmanifesten und den erst zu ermittelnden latenten Funktionen, die e<strong>in</strong>er Struktur zugrundeliegen, unterscheidet.Auch Niklas Luhmann setzt bei Parsons an, um sich von ihm zu entfernen. Wie Merton stellter den Funktionsbegriff heraus und bezeichnet +se<strong>in</strong>e* Systemtheorie als +funktional-strukturell*.Wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> ursprünglichen strukturell-funktionalen Variante Parsons’ ist es jedoch e<strong>in</strong> strukturellesMoment, das mo<strong>der</strong>ne von vormo<strong>der</strong>nen Gesellschaften unterscheidet – allerd<strong>in</strong>gs mit e<strong>in</strong>emwichtigen Unterschied: Parsons g<strong>in</strong>g noch von e<strong>in</strong>em hierarchisch aufgebauten System unde<strong>in</strong>er geschichteten Gesellschaft aus. Luhmann dagegen versteht +die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaftim Unterschied zu allen älteren Gesellschaftsformen als funktional differenziertes System […],das nicht mehr nach sozialen Rangordnungen, son<strong>der</strong>n nur nach [autonomen] Funktionsbereichenwie Wirtschaft, <strong>Politik</strong>, Erziehung, Recht, Wissenschaft, Religion usw. geglie<strong>der</strong>t ist* (Soziologiefür unsere Zeit; S. 58). Durch diese funktionale Differenzierung wird die stratifikatorische Differenzierung<strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Schichtungsgesellschaften aufgehoben (vgl. Gesellschaftsstrukturund Semantik; Band 1, S. 25). 32Neben funktionaler Differenzierung sieht Luhmann mo<strong>der</strong>ne Gesellschaften vor allem durche<strong>in</strong>e hohe Systemkomplexität charakterisiert. Zwar haben +soziale Systeme […] die Funktion<strong>der</strong> Erfassung und Reduktion von [Umwelt-]Komplexität* (Soziologie als Theorie sozialer Systeme;S. 116). Um aber diese Aufgabe leisten zu können, müssen sie gerade ihre <strong>in</strong>terne Komplexitätsteigern. Denn +das System muß h<strong>in</strong>reichend viele Zustände annehmen können, um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ersich än<strong>der</strong>nden Umwelt bestehen zu können* (ebd.). Aus dieser analytisch-distanziertenPerspektive rückt weniger die Dependenz des Individuums von den sozialen Machtstrukturenals die Interdependenz <strong>der</strong> Systemelemente allgeme<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Mittelpunkt. Das Individuumgilt Luhmann folglich als bloßes Element <strong>der</strong> Systemumwelt – das kann man schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en33 34frühen Schriften so lesen, tritt aber erst recht <strong>in</strong> jüngerer Zeit hervor. Der Fokus verschiebtsich nun auch auf e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es +Kennzeichen* mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften: Im Zuge se<strong>in</strong>er Rezeptiondes (radikalen) Konstruktivismus wird die Kategorie <strong>der</strong> Selbstreferenz bzw. Autopoiesis immerzentraler <strong>in</strong> Luhmanns Theoriegebäude.35Die Gesellschaft, die er als re<strong>in</strong>en Kommunikationszu-sammenhang versteht, bezieht sich diskursiv auf sich selbst und weitet sich (im Zuge <strong>der</strong>Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien) zum globalen System aus. 36Mittels neuer Kommunikationsmedien (und natürlich auch durch e<strong>in</strong>en erhöhten wirtschaftlichenAustausch) kommt es also letztendlich zu e<strong>in</strong>er Globalisierung und Universalisierung auf <strong>der</strong>


XXVIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEGrundlage gerade <strong>der</strong> Differenzierung von immer autonomer werdenden und gleichzeitigimmer enger verflochtenen sozialen Subsystemen. Damit ist das Paradox <strong>der</strong> Differenzierungauf den Punkt gebracht: Strukturelle Differenzierung führt zu e<strong>in</strong>er Aufsplitterung <strong>der</strong> Gesellschaft<strong>in</strong> immer kle<strong>in</strong>ere Untere<strong>in</strong>heiten. Doch dieser Tendenz steht die durch Arbeitsteilung ebensoerzwungene Vernetzung und Kooperation <strong>der</strong> Teilbereiche entgegen (vgl. hierzu auch van<strong>der</strong> Loo/van Reijen: Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 115ff.).• Eng <strong>in</strong> Zusammenhang mit dem Prozeß <strong>der</strong> sozialen Differenzierung steht die Individualisierung.Differenzierung und Individualisierung s<strong>in</strong>d, so könnte man formulieren, die zweiSeiten e<strong>in</strong> und <strong>der</strong>selben Medaille. Es ist deshalb gar nicht so e<strong>in</strong>fach (und vielleicht nichte<strong>in</strong>mal s<strong>in</strong>nvoll) zwischen beiden Prozessen e<strong>in</strong>e klare Trennl<strong>in</strong>ie zu ziehen. Angesichts dessenmuß es auch nicht verwun<strong>der</strong>n, wenn <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Individualisierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> soziologischenLiteratur zum ersten Mal <strong>in</strong> Georg Simmels Schrift +Über sociale Differenzierung* (1890) auftaucht.37Für Simmel (1858–1918) entsteht +Gesellschaft* aus <strong>der</strong> Wechselbeziehung <strong>der</strong> Indi-viduen zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, doch ist sie an<strong>der</strong>erseits auch mehr als die Summe ihrer Glie<strong>der</strong>:+Man kann […] die Grenze des eigentlichen socialen Wesens vielleicht dort erblicken, wo die Wechselwirkung<strong>der</strong> Personen untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> nicht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em subjektiven Zustand o<strong>der</strong> Handeln <strong>der</strong>selbenbesteht, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> objektives Gebilde zustande br<strong>in</strong>gt, das e<strong>in</strong>e gewisse Unabhängigkeit von dene<strong>in</strong>zelnen daran teilhabenden Persönlichkeiten besitzt.* (S. 16)In diesem Zitat drückt sich Simmels dynamisches Gesellschaftsverständnis aus. Letzteres zeigtsich auch daran, daß er lieber prozeßbetont von <strong>der</strong> +Vergesellschaftung* als statisch von+Gesellschaft* spricht (vgl. Soziologie; S. 4ff.).38Wenn Gesellschaft aber e<strong>in</strong> dynamischer Zusam-menhang ist, so ergeben sich im historischen Ablauf zwangsläufig Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beziehungzwischen dem Individuum und dem sozialen Ganzen. Die Richtung dieser Verän<strong>der</strong>ungenläßt sich zwar nicht <strong>in</strong> sozialen Gesetzmäßigkeiten festschreiben (vgl. Über socialeDifferenzierung; S. 1–9), doch kann man gemäß Simmel trotzdem begründete Aussagen treffen,die aber, um praktischen S<strong>in</strong>n zu ergeben, den +realen elementaren Kräfte[n]* (ebd.; S. 9),die im sozialen Zusammenspiel am Wirken s<strong>in</strong>d, Rechnung tragen müssen. Entsprechend+physikalisch* argumentiert Simmel deshalb, wenn er nach <strong>der</strong> Ursache <strong>der</strong> sozialen Differenzierungfragt: Dem Differenzierungsprozeß liegt e<strong>in</strong>e (psychologische und soziale) Krafter-


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XXVIIsparnis zugrunde, so se<strong>in</strong> Hauptargument (vgl. ebd.; Kapitel VI). Simmel me<strong>in</strong>t damit, daßarbeitsteilige Organisation den e<strong>in</strong>zelnen von Denkarbeit wie physischer Arbeit entlastet, <strong>in</strong>demer sich auf se<strong>in</strong>e konkrete Aufgabe konzentrieren kann.Diese kräftesparende Spezialisierung führt auf <strong>der</strong> Seite des Individuums zu e<strong>in</strong>er zunehmendenIndividualisierung: Simmel geht nämlich davon aus, daß sich die Konformität e<strong>in</strong>er Gruppedurch Differenzierung tendenziell auflöst. Da dies für alle Gruppen gilt, nähern sich e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zunächst unähnliche, <strong>in</strong> sich jedoch homogene Gesellschaften ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong> an (Universalisierung).Doch <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Gruppe kommt es gleichzeitig zu e<strong>in</strong>em schärferen +Hervortreten<strong>der</strong> Individualität* (ebd.; S. 48), die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kosmopolitischeren E<strong>in</strong>stellung <strong>der</strong> Individuenäußert (vgl. ebd; S. 52). Gerade durch stärker ausgeprägte Individualität entsteht so paradoxerweisee<strong>in</strong> Mehr an Gleichheit:+Ich glaube, daß die Vorstellung <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Gleichheit psychologisch durch nichts mehr geför<strong>der</strong>twerden kann, als durch e<strong>in</strong> scharfes Bewußtse<strong>in</strong> von dem Wesen und dem Werte <strong>der</strong> Individualität[…] gerade wenn je<strong>der</strong> etwas Beson<strong>der</strong>es ist, ist er <strong>in</strong>soweit jedem an<strong>der</strong>n gleich.* (Ebd.; S. 56)An<strong>der</strong>erseits besteht durch die Individualisierung die Gefahr <strong>der</strong> Schwächung des +socialenBewußtse<strong>in</strong>s* durch Egoismus (vgl. ebd.; S. 59) – e<strong>in</strong>e These, die an Durkheims Anomietheorieer<strong>in</strong>nert.Erich Fromm (1900–1980) hat zwar nicht direkt den Begriff +Individualisierung* gebraucht.Wenn er aber von +Individuation* spricht, so ist etwas ähnliches (wenn auch nicht identisches)geme<strong>in</strong>t. Als Sozialpsychologe versteht Fromm unter Individuation nämlich e<strong>in</strong> Doppeltes:Zum e<strong>in</strong>en den Prozeß, den je<strong>der</strong> Mensch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Lebensgeschichte durchlaufen muß,um e<strong>in</strong> selbständiges Individuum zu werden. Zum an<strong>der</strong>en ist <strong>der</strong> historische Prozeß <strong>der</strong>Menschheitsentwicklung h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er immer größeren Freiheit des Individuums geme<strong>in</strong>t. BeideAspekte des Individuationsbegriffs sollen im folgenden kurz beleuchtet werden: Die früheK<strong>in</strong>dheit ist von starken sog. +primären B<strong>in</strong>dungen*, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Mutter-K<strong>in</strong>d-B<strong>in</strong>dung,geprägt. Soll aus dem K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e eigenständige Person werden, so muß es lernen, sich vondiesen B<strong>in</strong>dungen zu lösen. Der Prozeß <strong>der</strong> Loslösung von den primären B<strong>in</strong>dungen wirdnormalerweise durch die Erziehung geför<strong>der</strong>t. Der Heranwachsende erfährt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folgeals e<strong>in</strong> auf sich selbst verwiesenes +Ich* und sucht vermehrt nach Freiheit und Unabhängigkeit.(Vgl. Die Furcht vor <strong>der</strong> Freiheit; S. 24–27)


XXVIIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEDoch dieser Emanzipationsprozeß verläuft nicht immer problemfrei und reibungslos: Zume<strong>in</strong>en wird das K<strong>in</strong>d zwar körperlich, seelisch und geistig kräftiger. Dem Wachstum des Selbsts<strong>in</strong>d jedoch Grenzen gesetzt, +teils durch <strong>in</strong>dividuelle B<strong>in</strong>dungen, aber im wesentlichen durchdie gesellschaftlichen Umstände* (ebd.; S. 27), wie Fromm bemerkt. Denn die Gesellschaftverlangt e<strong>in</strong> enormes Maß an Anpassung und Konformität von ihren Mitglie<strong>der</strong>n. Deshalberzeugt <strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> primären B<strong>in</strong>dungen auch e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> Ohnmacht und <strong>der</strong> Angst.Um diese zu überw<strong>in</strong>den, bleibt dem Individuum häufig nur e<strong>in</strong> Ausweg: das Aufgehen <strong>in</strong><strong>der</strong> Außenwelt, die Negierung des eigenen Ichs und die verzweifelte Suche nach dem Heil<strong>in</strong> <strong>der</strong> Unterwerfung.Auch <strong>der</strong> historische Individuationsprozeß ist ambivalent: +Je<strong>der</strong> Schritt <strong>in</strong> Richtung wachsen<strong>der</strong>Individuation hat die Menschen mit neuen Unsicherheiten bedroht* (ebd.; S. 32). Zwar siehtauch Fromm die <strong>in</strong>dividuellen Freiheitsspielräume pr<strong>in</strong>zipiell gestiegen. Trotzdem bleibt erkritisch:+Wir haben das Gefühl, die Freiheit <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ungsäußerung sei <strong>der</strong> letzte Schritt auf dem Siegesmarsch<strong>der</strong> Freiheit. Dabei vergessen wir, daß die freie Me<strong>in</strong>ungsäußerung zwar e<strong>in</strong>en wichtigen Sieg imKampf gegen alte Zwänge darstellt, daß <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Mensch sich aber […] nicht die Fähigkeit erworbenhat, auf orig<strong>in</strong>elle Weise (das heißt selbständig) zu denken […] Mit an<strong>der</strong>en Worten: Wir s<strong>in</strong>d von<strong>der</strong> Zunahme unserer Freiheit von Mächten außerhalb unserer selbst begeistert und s<strong>in</strong>d bl<strong>in</strong>d fürunsere <strong>in</strong>neren Zwänge und Ängste […]* (Ebd.; S. 81)Diese Ängste beruhen auf e<strong>in</strong>em Gefühl <strong>der</strong> Isolation und (Selbst-)Entfremdung. Denn <strong>in</strong><strong>der</strong> kapitalistischen Gesellschaftsordnung, <strong>der</strong>en Durchsetzung nur vor<strong>der</strong>gründig e<strong>in</strong>e Befreiungdes Individuums zur Folge hatte, bleibt <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne unfähig zur Bejahung <strong>der</strong> eigenen Person.Die herkömmliche Auffassung, daß <strong>der</strong> Mensch im Kapitalismus alles, was er tut, für sichselber tut, beruht nämlich laut Fromm auf e<strong>in</strong>er Fehl<strong>in</strong>terpretation: Während im Mittelalterdas Kapital noch Diener des Menschen war, wurde es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit endgültig zu se<strong>in</strong>emHerrn (vgl. ebd; S. 84f.).In <strong>der</strong> Gegenwart ist es vor allem Ulrich Beck, <strong>der</strong> auf den ambivalenten Prozeß <strong>der</strong> Individualisierungals Grundkategorie <strong>der</strong> Gesellschaftsanalyse aufmerksam macht, und se<strong>in</strong>e Positionist deshalb e<strong>in</strong> wichtiger Bezugspunkt <strong>der</strong> aktuellen Debatte, die allerd<strong>in</strong>gs – wo sie sich auf+Klassiker* rückbezieht – weniger an die oben nachgezeichneten Gedanken Fromms, als anSimmel und Durkheim anschließt. Da Becks Ansatz <strong>in</strong> dieser Arbeit an an<strong>der</strong>er Stelle noch


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XXIXausführlicher dargestellt werden wird (siehe z.B. Abschnitt 2.5), möchte ich mich hier aufe<strong>in</strong>e knappe Zusammenfassung se<strong>in</strong>er Kernaussagen beschränken:Becks Individualisierungstheorem beruht auf <strong>der</strong> Annahme, daß sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> momentanenSituation e<strong>in</strong> ambivalenter Gesellschaftswandel vollzieht, <strong>der</strong> +die Menschen aus den Sozialformen<strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft – Klasse, Schicht, Familie […]* (Risikogesellschaft; S. 115) –zunehmend freisetzt und sie damit e<strong>in</strong>em Individualisierungsschub aussetzt, <strong>der</strong> sie, mit allenRisiken und Chancen, auf sich selbst verweist. Denn <strong>der</strong> schon erwähnte +Fahrstuhl-Effekt*(siehe S. XXIII) bewirkt, daß die alten Ungleichheitsrelationen zwar weitgehend erhalten gebliebens<strong>in</strong>d, doch auf e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong> höheren Niveau, weshalb von e<strong>in</strong>er Auflösung <strong>der</strong>Klassengesellschaft gesprochen werden kann (vgl. ebd.; S. 121f.). Bildungslevel und Lebensstile<strong>der</strong> unterschiedlichen Schichten haben sich angeglichen bzw. auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> ökonomischenNivellierung <strong>in</strong>dividualisiert (vgl. ebd.; S. 127–130 u. S. 139–143).Allerd<strong>in</strong>gs gibt es e<strong>in</strong>e große Anzahl Mo<strong>der</strong>nisierungsverlierer, was beispielsweise das Ansteigen<strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Langzeitarbeitslosen deutlich zeigt (vgl. ebd.; S. 143–151). Und während e<strong>in</strong>erseitsvom e<strong>in</strong>zelnen Initiative, Mobilität und Kreativität verlangt werden, überdauern vormo<strong>der</strong>neInstitutionen und Muster <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft wie die bürgerliche Familie und traditionelleGeschlechterrollen, was zunehmend problematisch wird (vgl. ebd.; S. 161–204). Insofernkann von e<strong>in</strong>er halbierten Mo<strong>der</strong>ne gesprochen werden und +Individualisierung wird dementsprechend[von Beck] als e<strong>in</strong> historisch wi<strong>der</strong>sprüchlicher Prozeß <strong>der</strong> Vergesellschaftung verstanden*(ebd.; S. 119). Dieser ambivalente Vergesellschaftungsprozeß ist verbunden mit<strong>der</strong> +Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialisationsformen und -b<strong>in</strong>dungen im S<strong>in</strong>netraditioneller Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (›Freisetzungsdimension‹), [dem]Verlust von traditionalen Sicherheiten im H<strong>in</strong>blick auf Handlungswissen, Glauben und leitende[n]Normen (›Entzauberungsdimension‹) und […] e<strong>in</strong>e[r] neue[n] Art <strong>der</strong> sozialen E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung (›Kontroll-bzw. Re<strong>in</strong>tegrationsdimension‹)* (ebd.; S. 206) – bedeutet also nicht nur die Emanzipationdes Individuums, son<strong>der</strong>n vielleicht das genaue Gegenteil: e<strong>in</strong> vielfach <strong>in</strong>stitutionenabhängigesLeben, verbunden mit erheblichen Kontrollverlusten und dem gesellschaftlich vermitteltenZwang, sich e<strong>in</strong>e (stimmige) Biographie zu +basteln* (vgl. ebd.; S. 211–219).Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund und spiegelbildlich zum Paradox <strong>der</strong> Differenzierung läßt sich dasParadox <strong>der</strong> Individualisierung formulieren, das schon Simmel angedeutet hat, <strong>in</strong>dem er vone<strong>in</strong>em +Reziprozitätsverhältnis von Individualisierung und Verallgeme<strong>in</strong>erung* sprach (vgl.


XXXPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEÜber sociale Differenzierung; S. 65): In <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen (westlichen) Gesellschaft kommt demIndividuum große, wenn nicht zentrale Bedeutung zu. Die Freisetzung aus den traditionalenB<strong>in</strong>dungen und den strukturellen Zwängen <strong>der</strong> ständischen Gesellschaft hat autonome Freiräumegeschaffen, die aber auch e<strong>in</strong>en bedrohlichen Aspekt <strong>der</strong> Verunsicherung be<strong>in</strong>halten können.Zusätzlich kommt es anstelle <strong>der</strong> alten zur Ausbildung neuer <strong>in</strong>stitutioneller sowie sozialerZwänge, und durch das größere Maß <strong>der</strong> Vernetzung entstehen vielfältige Abhängigkeiten,die e<strong>in</strong>e immer globalere Natur annehmen (vgl. auch van <strong>der</strong> Loo/van Reijen: Mo<strong>der</strong>nisierung;S. 194f.).• Der dritte wesentliche Teilprozeß <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung nach van <strong>der</strong> Loo/van Reijen ist dieRationalisierung. Viele sehen <strong>in</strong> ihr den eigentlichen Ursprung für die entfaltete Entwicklungsdynamik<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Und gerade gesellschaftliche Arbeitsteilung, welche die Grundlagesozialer Differenzierung bildet, kann zu e<strong>in</strong>em großen Teil auf +Rationalisierungsbestrebungen*zurückgeführt werden, denn durch Spezialisierung erhöht sich (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel) die Produktivität<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen. Dieser Zusammenhang ist auch die Grundprämisse des sog. Taylorismus: Fre<strong>der</strong>ickW. Taylor (1856–1915), auf den <strong>der</strong> Taylorismus zurückgeht, plädierte für e<strong>in</strong> +scientific management*<strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft und war bestrebt, durch e<strong>in</strong>e rationale Organisation <strong>der</strong> Arbeitsvorgängee<strong>in</strong> optimales Kosten-Nutzen-Verhältnis <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Produktion zu erreichen. DerRhythmus <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>en diktierte den Rhythmus <strong>der</strong> Arbeit.39Auch wenn das tayloristischeDenken <strong>in</strong>zwischen zurückgedrängt ist o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest ergänzt wird durch Konzeptewie Gruppenarbeit, so dienen diese letzendlich dem selben Zweck: Produktionsprozessezu optimieren.Taylor war aber ke<strong>in</strong> Soziologe und er hat auch ke<strong>in</strong>e wissenschaftliche Theorie <strong>der</strong> Rationalisierungentwickelt, son<strong>der</strong>n sich auf den praktischen Aspekt konzentriert. Was für Taylor geradenicht gilt, trifft um so mehr auf Max Weber zu. Wenn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Soziologie <strong>der</strong> Begriff +Rationalisierung*fällt, so bleibt deshalb <strong>der</strong> Verweis auf Weber (1864–1920) meist nicht aus. Dieserzeigte vor allem die Zusammenhänge zwischen <strong>der</strong> Rationalisierung <strong>der</strong> Lebensführung und<strong>der</strong> Entwicklung des okzidentalen Kapitalismus auf. Dabei betonte er die för<strong>der</strong>liche Rolle,die <strong>der</strong> Protestantismus <strong>in</strong> diesem Zusammenhang spielte, und stellte die enge Verwandtschaftzwischen <strong>der</strong> protestantischen Ethik und dem +Geist des Kapitalismus* heraus. Denn beidewenden sich gegen Vergeudung und Genuß. Und e<strong>in</strong>e optimale Ausnutzung <strong>der</strong> zur Verfügung


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XXXIstehenden Zeit, Sparsamkeit sowie die Erfüllung <strong>der</strong> Berufspflichten s<strong>in</strong>d für den Kapitalistenwie den (calv<strong>in</strong>istischen) Protestanten (den Weber als prototypisch behandelt) zentrale Tugenden.So kann Weber resümieren:+Die <strong>in</strong>nerweltliche protestantische Askese […] wirkte […] mit voller Wucht gegen den unbefangenenGenuß des Besitzes, sie schnürte die Konsumption, speziell die Luxuskonsumption, e<strong>in</strong>. Dagegen entlastetesie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen <strong>der</strong> traditionalistischen Ethik,sie sprengte die Fesseln des Gew<strong>in</strong>nstrebens, <strong>in</strong>dem sie es nicht nur legalisierte, son<strong>der</strong>n […] direktals gottgewollt ansah.* (Die protestantische Ethik und <strong>der</strong> Geist des Kapitalismus; S. 179)Luther sah nämlich gemäß Weber die Pflichterfüllung im Rahmen des weltlichen Berufs alse<strong>in</strong>zigen Weg an, Gott wohlzugefallen. Die Prädest<strong>in</strong>ationslehre Calv<strong>in</strong>s besagte zwar imPr<strong>in</strong>zip das genaue Gegenteil:+Gott hat zur Offenbarung se<strong>in</strong>er Herrlichkeit durch se<strong>in</strong>en Beschluß e<strong>in</strong>ige Menschen […] bestimmt[…] zu ewigem Leben und an<strong>der</strong>e verordnet […] zu ewigem Tode.* (Zitiert nach ebd.; S. 119)Durch se<strong>in</strong>e Handlungen hat <strong>der</strong> Mensch deshalb ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluß auf se<strong>in</strong> Schicksal. Aberauch Calv<strong>in</strong> verlangte von se<strong>in</strong>en Anhängern strenge Pflichterfüllung und Mäßigung <strong>der</strong> Lebensweise.Zudem wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folgezeit die ursprüngliche, psychisch stark belastende calv<strong>in</strong>istischeLehre modifiziert: Gnadengewißheit konnte nun erlangt werden, <strong>in</strong>dem man von Gott Zeichen<strong>der</strong> Auserwähltheit wie ökonomischen Wohlstand erhielt. Die Gläubigen strebten also nachmateriellen Gütern, um sich <strong>der</strong> eigenen Erwähltheit zu vergewissern, durften diese aber gemäß<strong>der</strong> puritanischen Ideologie nicht genießen und verwirklichten somit die oben im Zitat angesprochene<strong>in</strong>nerweltliche Askese. Zusammengenommen zeigen sich starke Parallelen zum+Geist des Kapitalismus*, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e streng rationale Lebensführung diktiert. Dies veranschaulichtWeber anhand e<strong>in</strong>iger Äußerungen Benjam<strong>in</strong> Frankl<strong>in</strong>s und filtert die für ihn zentralen Momenteheraus:• Die Akkumulation von Kapital betrieben als Selbstzweck• Die Identifizierung des Guten mit dem Nützlichen (Utilitarismus)• Die Verpflichtung zu Sparsamkeit und Kapital-Re<strong>in</strong>vestitionDiese Merkmale s<strong>in</strong>d jedoch gemäß Weber nur für den mo<strong>der</strong>nen europäischen und nichtfür den traditionalen Kapitalismus typisch, da ersterer (im Gegensatz zu letzerem) schließlich


XXXIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEdas Resultat e<strong>in</strong>er übergreifenden Rationalisierung <strong>der</strong> Gesellschaft darstelle. Denn auch wenn+die Habgier des ch<strong>in</strong>esischen Mandar<strong>in</strong>, des altrömischen Aristokraten […] jeden Vergleich[mit e<strong>in</strong>em europäischen Kapitalisten] aus[hält]* (ebd.; S. 47), so fehlte nach Weber <strong>in</strong> <strong>der</strong>Antike und im Orient das spezifische rationalistische Element. 40Diese übergreifende Rationalisierung, die +Entzauberung <strong>der</strong> Welt*, wie Weber verschiedentlich<strong>in</strong> Anlehnung an Schiller formuliert, äußert sich neben dem Feld <strong>der</strong> Ökonomie vor allem<strong>in</strong> den Bereichen Recht, Verwaltung, politische Herrschaft und Wissenschaft: Der Staat organisiertsich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er alle Sektoren kontrollierenden Bürokratie, die nur nach zweckrationalen Gesichtspunktenurteilt und an exakte Verfahrensregeln gebunden ist (vgl. Wirtschaft und Gesellschaft;S. 551ff.). Die politische Führung beruht als legale Herrschaft auf rational geschaffenen Regeln(Rechtsnormen) und nicht auf unh<strong>in</strong>terfragter traditionaler Legitimation (vgl. <strong>Politik</strong> als Beruf;41S. 8). Auch die +Wissenschaft als Beruf* (1919) ist alle<strong>in</strong>e auf rational-logisch begründeteSachaussagen beschränkt und sollte jegliche Werturteile vermeiden (vgl. S. 28ff.). Nur sokann sie <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit dienen. Allerd<strong>in</strong>gs sah Weber auch Probleme e<strong>in</strong>er alles umfassendenRationalisierung. Denn die rationale Lebensführung hat e<strong>in</strong> +stahlhartes Gehäuse* geschmiedet,das den Menschen zu erdrücken droht (vgl. Protestantische Ethik; S. 188).Diese problematische Seite des Rationalisierungsprozesses stellen Max Horkheimer und TheodorAdorno <strong>in</strong>s Zentrum ihrer von extremem Pessimismus geprägten Schrift +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung*(1944), welcher sich aus nur dem Trauma des 2. Weltkriegs und dem allmählichen Bekanntwerdendes tatsächlichen Ausmaßes <strong>der</strong> Verbrechen des Nazismus erklären läßt. Aufklärungist für Horkheimer und Adorno nämlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en neuen Mythos umgeschlagen – den Mythos,daß alles berechenbar ist und nur Nützlichkeitskriterien zählen. In diesem S<strong>in</strong>n ist Aufklärungtotalitär (vgl. S. 12). Der rationale Erklärungsanspruch ist allumfassend, denn <strong>der</strong> emanzipatorischeImpuls <strong>der</strong> Aufklärung entspr<strong>in</strong>gt letztlich e<strong>in</strong>er +radikal gewordene[n], mythische[n] Angst*(ebd.; S. 22). Diese Angst machte bl<strong>in</strong>d und veranlaßte die Menschen, ihr Heil <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erentfesselten Vernunft, die gegen alle althergebrachten Überzeugungen Sturm lief, zu suchen.Doch +die re<strong>in</strong>e Vernunft wurde zur Unvernunft* (ebd.; S. 98), und sie besitzt +auch gegendie Perversion ihrer selbst […] ke<strong>in</strong> Argument* (ebd.; S. 100). Diese Selbstaushöhlung <strong>der</strong>Vernunft ist zugleich <strong>der</strong> Kern des Rationalisierungsparadoxes: Das e<strong>in</strong>seitige Vertrauen desmo<strong>der</strong>nen Menschen auf die ihrer Basis (dem Emanzipationsgedanken) beraubte Vernunftweist gewisse Züge von Irrationalität auf. 42


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XXXIII• Eng verbunden mit dem ambivalenten Rationalisierungsprozeß ist <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Domestizierung.Auch zur Erläuterung dieses Zusammenhangs kann auf e<strong>in</strong>e Schrift Horkheimerszurückgegriffen werden. In dem Band +Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft* (1947), woer gedanklich an die +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* anknüpft, stellt er klar, daß die Vernunft heutezu e<strong>in</strong>em Instrument im Dienst <strong>der</strong> Macht geworden ist: +Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei<strong>der</strong> Beherrschung von Menschen und <strong>der</strong> Natur, ist zum e<strong>in</strong>zigen Kriterium geworden* (S.30). E<strong>in</strong>e positivistische E<strong>in</strong>stellung im Verbund mit <strong>der</strong> kapitalistischen Produktionsweiseführt zu e<strong>in</strong>er Unterwerfung <strong>der</strong> Natur des und durch den Menschen. Die Domestizierunghat also doppelten Charakter:+Jedes Subjekt hat nicht nur an <strong>der</strong> Unterjochung <strong>der</strong> äußeren Natur teilzunehmen, son<strong>der</strong>n muß,um das zu leisten, die Natur <strong>in</strong> sich selbst unterjochen. Herrschaft wird um <strong>der</strong> Herrschaft willen›ver<strong>in</strong>nerlicht‹.* (Ebd.; S. 94)Die Emanzipation von <strong>der</strong> Naturgewalt durch Technik hat damit auch e<strong>in</strong>en doppelten Preis:Nicht nur müssen wir, je mehr Apparate zur Naturbeherrschung wir erf<strong>in</strong>den, auch um somehr ihnen dienen – die zivilisatorische Kultur for<strong>der</strong>t darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong> hohes Maß anTriebverzichten. E<strong>in</strong>e begrenzte Entschädigung dafür erfolgt über den Konsum: +Quantitativgesprochen, hat e<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>ner Industriearbeiter e<strong>in</strong>e viel reichere Auswahl von Konsumgüternals e<strong>in</strong> Adliger des Ancien régime* (ebd.; S. 97) – e<strong>in</strong> Aspekt, den Herbert Marcuse mit demBegriff <strong>der</strong> +repressiven Entsublimierung* gefaßt hat, denn die Befriedigung <strong>der</strong> Konsumwünschewird mit dem Zwang zur Anpassung an die <strong>in</strong>dustrielle Massenkultur bezahlt (vgl. Der e<strong>in</strong>dimensionaleMensch; S. 93ff.). Aufgrund dieses Zusammenhangs resümiert Horkheimer:+Die Formalisierung <strong>der</strong> Vernunft führt zu e<strong>in</strong>er paradoxen Situation […] Der totalitäre Versuch, dieNatur zu unterwerfen, reduziert das Ich, das menschliche Subjekt, auf e<strong>in</strong> bloßes Instrument <strong>der</strong>Unterdrückung […] Das philosophische Denken […], das die Versöhnung zu versuchen hätte, gehtdazu über, den Antagonismus zu leugnen o<strong>der</strong> zu vergessen.* (Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft;S. 153)Der Zusammenhang zwischen Rationalisierung und Domestizierung ersche<strong>in</strong>t also für Horkheimerevident. Es ist dabei wichtig zu wissen, daß er sich bei se<strong>in</strong>er Argumentation eng an Freudskulturkritische Schriften anlehnt.43Freud hatte unter dem E<strong>in</strong>druck des Ersten Weltkriegs se<strong>in</strong>Augenmerk vermehrt auf die Konstitution <strong>der</strong> menschlichen Kultur gerichtet. In +Zeitgemäßes


XXXIVPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEüber Krieg und Tod* (1915) entlarvt er die +Kulturheuchelei* <strong>der</strong> angeblich so zivilisiertenGesellschaft, die die Tatsache ignoriert, daß es je<strong>der</strong>zeit zu e<strong>in</strong>em +Rückfall <strong>in</strong> die Barbarei*kommen kann (vgl. S. 336). Denn +die primitiven, wilden und bösen Impulse <strong>der</strong> Menschheit[s<strong>in</strong>d] bei ke<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>zelnen verschwunden*, son<strong>der</strong>n bestehen fort, +wenngleich verdrängt,im Unbewußten* (Brief Freuds an Dr. van Eeden, zitiert nach Lohmann: Freud zur E<strong>in</strong>führung;S. 44). Diese destruktiven Impulse, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dialektischen Verhältnis zum Eros stehen,setzen <strong>der</strong> Kulturentwicklung Grenzen: 44+Während die Menschheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beherrschung <strong>der</strong> Natur ständige Fortschritte gemacht hat und nochgrößere erwarten darf, ist e<strong>in</strong> ähnlicher Fortschritt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regelung <strong>der</strong> menschlichen Angelegenheitennicht sicher festzustellen.* (Die Zukunft e<strong>in</strong>er Illusion; S. 87)Die Gesellschaft ist nämlich darauf angewiesen, die destruktiven, antisozialen Tendenzenim Menschen unter Kontrolle zu halten. Deshalb muß +jede Kultur auf Zwang und Triebverzichtaufbauen* (ebd.). So entsteht aber e<strong>in</strong>e latente +Kulturfe<strong>in</strong>dschaft*, e<strong>in</strong> +Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong>Kultur* (1930). Und je höher die Kultur entwickelt ist, je besser sie es schafft, die antisozialenTriebe zu kontrollieren, desto mehr steigt folglich dieses Unbehagen. Das bedeutet nichtunbed<strong>in</strong>gt, daß die Menschen sich von <strong>der</strong> Zivilisation abwenden. Vielmehr suchen sich diedestruktiven Regungen Umwege zur Befriedigung: Dies kann, wie <strong>in</strong> +Zeitgemäßes über Kriegund Tod* erläutert, die Gestalt e<strong>in</strong>es Krieges annehmen, bei dem die kulturelle Tötungshemmungzeitweilig und auf die als Fe<strong>in</strong>d def<strong>in</strong>ierte Gruppe begrenzt außer Kraft gesetzt wird. Vielhäufiger, sozusagen <strong>der</strong> kulturelle Normalfall, ist allerd<strong>in</strong>gs folgen<strong>der</strong> Mechanismus, <strong>der</strong> auchzu krankhaften Ersche<strong>in</strong>ungen wie Neurosen führen kann:+Die Aggression wird <strong>in</strong>trojiziert, ver<strong>in</strong>nerlicht, eigentlich aber dorth<strong>in</strong> zurückgeschickt, woher siegekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von e<strong>in</strong>em Anteil des Ichs übernommen,das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als ›Gewissen‹ gegen das Ich dieselbe strengeAggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an an<strong>der</strong>en, fremden Individuen befriedigt hätte.[…] Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, <strong>in</strong>dem sie es schwächt,entwaffnet und durch e<strong>in</strong>e Instanz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Innern, wie durch e<strong>in</strong>e Besatzung <strong>in</strong> <strong>der</strong> eroberten Stadt,überwachen läßt.* (Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur; S. 111)Dieser Ansatz Freuds wurde so ausführlich dargestellt, weil auch die vielleicht bedeutendstesoziologische bzw. sozialpsychologische Schrift, die die Domestizierung des Menschen durch


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XXXVdie von ihm selbst geschaffene Kultur thematisiert, <strong>in</strong> wesentlichen Elementen auf Freud aufbaut:Es handelt sich um Norbert Elias’ groß angelegte soziogenetische und psychogenetische Untersuchung+Über den Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation* (1939). 45An vielen e<strong>in</strong>drücklichen Beispielen (vor allem <strong>in</strong> Band 1) schil<strong>der</strong>t Elias, wie es im Verlauf<strong>der</strong> (europäischen) Geschichte zu e<strong>in</strong>er immer weitreichen<strong>der</strong>en Zivilisierung <strong>der</strong> menschlichenAffekte kam (vgl. Band 2; 369ff.), wie die Scham- und Pe<strong>in</strong>lichkeitsgrenzen angehoben wurden(vgl. ebd.; S. 397ff.) und sich <strong>der</strong> +Fremdzwang* zum zivilisierten Umgang mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> immermehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en +Selbstzwang* verwandelte (vgl. ebd.; S. 312ff.), also ganz im S<strong>in</strong>ne Freudse<strong>in</strong>e Internalisierung kultureller Ansprüche stattfand. Ausgelöst wurde diese Dynamik durche<strong>in</strong>en ab dem späten Mittelalter e<strong>in</strong>setzenden Wandlungsprozeß: Bevölkerungswachstum,Aufschwung des Fernhandels und Geldwirtschaft (vgl. ebd.; Erster Teil) führten zu e<strong>in</strong>er Differenzierungund Komplexitätssteigerung des gesellschaftlichen Lebens: Die +Interdependenzketten*wurden länger, und damit war auch e<strong>in</strong> höheres Maß an vorausschauen<strong>der</strong> Planung notwendig,was Elias als Zwang zur +Langsicht* bezeichnet (vgl. ebd.; S. 336ff.).Noch bedeuten<strong>der</strong> waren jedoch die damit e<strong>in</strong>hergehende Monopolisierung <strong>der</strong> staatlichenGewalt und die Zentralisierung <strong>der</strong> Herrschaft: Die ritterlich-höfische Ordnung g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ehöfisch-absolutistische Ordnung über, und die rauhen Sitten <strong>der</strong> Burgherren, die früher alle<strong>in</strong>ean ihre ritterliche Ehre (courtoisie) gebunden waren, mußten sich am zentralen Königshofden verfe<strong>in</strong>erten Standards <strong>der</strong> +civilité* anpassen. Diese immer elaborierter werdenden höfischenVerhaltensregeln, die als Mittel zur Dist<strong>in</strong>ktion gegenüber dem +geme<strong>in</strong>en* Volk dienten,wurden mit <strong>der</strong> Emanzipation des Bürgertums von diesem zum großen Teil übernommen– <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation verlief also von oben nach unten. 46Aber die Zivilisierung des Menschen hat (wie bei Freud) auch bei Elias ihren Preis: Sie bestehtim problematischen Zwang zur Unterdrückung <strong>der</strong> Affekte, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Spannung erzeugt, diesich nicht nur <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuellen Neurosen, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> gesellschaftlichen Kämpfen entladenkann (vgl. ebd.; S. 447ff.). Doch Elias ist weit weniger pessimistisch als Freud und stellt e<strong>in</strong>eUtopie ans Ende se<strong>in</strong>er Ausführungen: nämlich, daß es e<strong>in</strong>es Tages möglich se<strong>in</strong> wird, +daß<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne Mensch jenes optimale Gleichgewicht se<strong>in</strong>er Seele f<strong>in</strong>det, das wir so oft mitgroßen Worten, wie ›Glück‹ und ›Freiheit‹ beschwören: […] den E<strong>in</strong>klang zwischen […] dengesamten Anfor<strong>der</strong>ungen se<strong>in</strong>er sozialen Existenz auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite und se<strong>in</strong>en persönlichenNeigungen und Bedürfnissen auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en* (ebd.; S. 454).


XXXVIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEÄhnlich wie Elias verfolgt auch Michel Foucault, <strong>der</strong> als +<strong>Post</strong>strukturalist* oft auch als (Vor)-Denker <strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* herhalten muß, e<strong>in</strong>en sozialhistorischen Ansatz bei se<strong>in</strong>er Analyse<strong>der</strong> gesellschaftlichen Verhältnisse.47Er betont, daß im Zuge des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozessesauf <strong>der</strong> Grundlage des rationalistischen Ordnungsdenkens alles An<strong>der</strong>sartige aus dem Bereich<strong>der</strong> Öffentlichkeit verbannt wurde. Auf <strong>der</strong> Ausstellungsfläche des öffentlichen Raumes solltenur mehr die Normalität <strong>der</strong> Gesellschaft zur Schau gestellt werden. So kam es zu dem, wasFoucault <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Wahns<strong>in</strong>n und Gesellschaft* (1961) die große Gefangenschaft nennt:Die Kranken und die Irren, die Verbrecher und die sog. +Arbeitsscheuen* wurden <strong>in</strong> Spitälernund Irrenanstalten, <strong>in</strong> Gefängnissen und Arbeitshäusern verwahrt (vgl. S. 68–98). Allerd<strong>in</strong>gsgeschah die Internierung des An<strong>der</strong>sartigen auch im +humanitären* Bemühen um e<strong>in</strong>e Re<strong>in</strong>tegration<strong>in</strong> die Gesellschaft, was Foucault jedoch ganz zu Recht als Ausfluß von Machtdenken+denunziert*.48Denn es handelt sich hier um den Versuch, den Bereich <strong>der</strong> sozialen Kontrolleselbst auf den Wahn und das Verbrechen auszudehnen.In e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Werk schil<strong>der</strong>t Foucault diesen Prozeß am Beispiel des Umgangs mit Del<strong>in</strong>quenten.Dom<strong>in</strong>ierten früher grausame körperliche Strafen, die öffentlich vollzogen wurden,so entwickelte sich im Zuge <strong>der</strong> Aufklärung die Vorstellung, mit <strong>der</strong> Strafe den Menschenzu +bessern*.49Diszipl<strong>in</strong>ierung war aber auch hier das Ziel, und es wurde erreicht, <strong>in</strong>demdie +Verbrecher* sich die Sichtweise <strong>der</strong> Gesellschaft zu eigen machen sollten. BenthamsIdee e<strong>in</strong>es Panoptikums – e<strong>in</strong>es r<strong>in</strong>gförmigen Gebäudes, das <strong>in</strong> Zellen unterteilt ist, die von<strong>der</strong> Mitte aus frei e<strong>in</strong>sehbar s<strong>in</strong>d – spiegelt diesen Gedanken:+Das Pr<strong>in</strong>zip des Kerkers wird [damit] umgekehrt […] Das volle Licht und <strong>der</strong> Blick des Aufseherserfassen besser als das Dunkel, das auch schützte. Die Sichtbarkeit ist e<strong>in</strong>e Falle […] Derjenige, welcher<strong>der</strong> Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel <strong>der</strong> Macht und spieltsie gegen sich selber aus; er <strong>in</strong>ternalisiert das Machtverhältnis [zwischen Beobachter und Beobachtetem],<strong>in</strong> welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt.* (Überwachen und Strafen; S. 257)Foucault hat hier an dem von ihm gewählten Beispiel e<strong>in</strong>en zentralen Punkt herausgearbeitet:Die gesellschaftlichen Verhältnisse s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – ganz gemäß ihrem Selbstverständnisals aufgeklärte Gesellschaft, die den Idealen <strong>der</strong> +Freiheit, Gleichheit und Brü<strong>der</strong>lichkeit*verpflichtet ist – nicht mehr offen unterdrückerisch gestaltet. Das latent immer noch wirksame,ja <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne geradezu immanente Bestreben nach alles umfassen<strong>der</strong> Kontrolle mußte,um ke<strong>in</strong>e Wi<strong>der</strong>stände auszulösen, auf subtilere Weise als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit umgesetzt


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XXXVIIwerden. Die Herrschaft über die Individuen wurde folglich dadurch perfektioniert, daß siesich e<strong>in</strong>en fortschrittlichen Anstrich gab, <strong>in</strong> den Bereich des Unsichtbaren wan<strong>der</strong>te und sichnach <strong>in</strong>nen wendete. Auch die Institutionen des mo<strong>der</strong>nen Rechts- und Sozialstaats geratenfür Foucault deshalb unter +Verdacht*, und selbst im aufklärerischen Humanitätsgedanken+ist das Donnerrollen <strong>der</strong> Schlachten nicht zu überhören* (ebd.; S. 396).Im Vergleich zu dieser im Innern des Menschen wirkenden Domestizierung ersche<strong>in</strong>t dieUnterwerfung <strong>der</strong> äußeren Natur, so elaboriert diese auf technischer Ebene heute auch se<strong>in</strong>mag, eher +primitiv*. Und angesichts des bereits im Alten Testament offen formulierten Anspruchs+[…] erfüllet die Erde und macht sie euch untertan!* (Genesis, Kap. 1, Vers 28) mag mannoch nicht e<strong>in</strong>mal von e<strong>in</strong>er Ideologie sprechen; denn hier wird nichts verschleiert und nichtsbeschönigt. An<strong>der</strong>erseits ist <strong>der</strong> erhobene Anspruch umfassend, und er f<strong>in</strong>det sich auch <strong>in</strong>neuzeitlichen philosophischen Konzepten wie<strong>der</strong>, die aus dem und zum Zweck <strong>der</strong> NaturbeherrschungRichtigkeit für sich beanspruchen. Dies beg<strong>in</strong>nt bereits bei Rationalismus undEmpirismus und führt schließlich weiter zu Utilitarismus und Pragmatismus, die den Wert<strong>der</strong> Philosophie alle<strong>in</strong>e nach ihrem Nutzen und ihrer Anwendbarkeit beurteilen – woraufschließlich auch Horkheimer und Adorno nachdrücklich h<strong>in</strong>gewiesen haben. 50Auf dieser Grundlage e<strong>in</strong>er nahezu ungebrochenen Tradition des menschlichen Herrschaftsanspruchüber die Natur, konnte sich e<strong>in</strong>e Ideologie <strong>der</strong> Technokratie entwickeln, die dieMenschen <strong>der</strong> Diktatur des technischen Sachzwangs unterordnet. Dabei gründete man auchauf die anthropologischen Lehren Plessners und Gehlens. Helmuth Plessner beantwortet +DieFrage nach <strong>der</strong> Conditio humana* (1961) mit <strong>der</strong> Notwendigkeit zur Weltoffenheit. Der Menschbef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er exzentrischen Position, d.h. er ist <strong>in</strong> die Mitte e<strong>in</strong>er Kultur h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gestellt,die alle<strong>in</strong>e se<strong>in</strong> Überleben sichern kann und aus <strong>der</strong> heraus er sich <strong>der</strong> Welt zu stellen hat. 51Zynisch bemerkt er gegen die romantische Vorstellung vom +guten Wilden*, <strong>der</strong> zum Vorsche<strong>in</strong>käme, wenn man nur die Zäune <strong>der</strong> Zivilisation entfernte:+Das von Natur aus harmloseste, schutzloseste aller Tiere, <strong>der</strong> Invalide se<strong>in</strong>er höheren Kräfte, machtsich, ihnen vertrauend, zum Haustier und bewirkt damit ungewollt se<strong>in</strong>e Verwandlung zu e<strong>in</strong>ersekundären Wildform, zum Raubtier, zur blonden Bestie – im Stall.* (S. 59)Denn wie Arnold Gehlen betont, ist das organische +Mängelwesen* Mensch auf die Stützen<strong>der</strong> +zweiten Natur* <strong>in</strong> Form <strong>der</strong> kulturellen Institutionen sowie <strong>der</strong> Technik angewiesen.


XXXVIIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNE+Die Welt <strong>der</strong> Technik […] ist sozusagen <strong>der</strong> ›große Mensch‹* (Gehlen: Die Seele im technischenZeitalter; S. 9). Im technischen Staat, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> +Magie <strong>der</strong> Technik* fußt (vgl. ebd.; S. 13ff.),verwirklicht sich deshalb das menschliche Bedürfnis nach (politischer) Stabilität bei e<strong>in</strong>emgleichzeitigen (technisch-praktischen) Fortschritt (vgl. ebd.; S. 33). Es ist Helmuth Schelsky,<strong>der</strong> diese von Gehlen vorgezeichnete L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> Argumentation politisch weiterdenkt:+Wir behaupten nun, daß durch die Konstruktion <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischen Zivilisation e<strong>in</strong>neues Grundverhältnis von Mensch zu Mensch geschaffen wird, <strong>in</strong> welchem das Herrschaftsverhältnisse<strong>in</strong>e alte persönliche Beziehung <strong>der</strong> Macht von Personen über Personen verliert, an die Stelle <strong>der</strong>politischen Normen und Gesetze aber Sachgesetzlichkeiten <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischen Zivilisationtreten […]* (Der Mensch <strong>in</strong> <strong>der</strong> wissenschaftlichen Zivilisation; S. 453)52Allerd<strong>in</strong>gs ist sich Schelsky (wie übrigens auch Gehlen) durchaus bewußt, daß die Technisierunge<strong>in</strong>e ambivalente Entwicklung hervorgerufen hat: +Der Mensch löst sich vom Naturzwangab, um sich se<strong>in</strong>em eigenen Produktionszwang zu unterwerfen* (ebd.; S. 449). Nur siehtSchelsky überwiegend die positiven Aspekte dieser Selbstunterwerfung: +Aber die Phrase,daß damit die Technik uns beherrscht, ist doch falsch; die ›Technik‹ ist ja ke<strong>in</strong> <strong>in</strong> sich ruhendes,dem Menschen gegenüberstehendes absolutes Se<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n sie ist <strong>der</strong> Mensch als Wissenschaftund als Arbeit selbst* (ebd.; S. 450).So kritisch man gerade die letzte Äußerung betrachten sollte – <strong>in</strong> diesen Sätzen Schelskysist das grundlegende Paradox <strong>der</strong> Domestizierung vorformuliert, nämlich daß mit <strong>der</strong> Emanzipationvon den Naturgewalten gleichzeitig neue Abhängigkeiten sowie technikerzeugte Risikenentstanden s<strong>in</strong>d (vgl. auch van <strong>der</strong> Loo/van Reijen: Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 234f.). Darüber h<strong>in</strong>ausist die Entwicklung <strong>der</strong> Kultur – worauf <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Freud h<strong>in</strong>gewiesen hat – mit e<strong>in</strong>er vielfachproblematischen Internalisierung von sozialen Zwängen e<strong>in</strong>her gegangen, was sich auch <strong>in</strong>sozialen Krisenersche<strong>in</strong>ungen manifestieren kann.Hiermit s<strong>in</strong>d nun die vier wesentlichen Teilprozesse <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung, <strong>in</strong> all ihrer Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit,kurz beleuchtet worden. Dabei ist hoffentlich klar geworden, daß diese untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><strong>in</strong> enger Wechselwirkung stehen und nur auf analytischer Ebene vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zutrennen s<strong>in</strong>d.


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XXXIXWEITERGEHENDE MODERNISIERUNG, POSTMODERNE, POSTHISTOIRE, POSTINDU-STRIELLE GESELLSCHAFT ODER SPÄTKAPITALISMUS?Kann e<strong>in</strong> so komplexer Prozeß, wie <strong>der</strong> auch hier zwangsläufig vere<strong>in</strong>fachend und reduziertdargestellte Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß, sich e<strong>in</strong>fach totlaufen, umschlagen und damit zur +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nisierung*<strong>der</strong> Gesellschaft führen – was immer das heißen soll? Denn <strong>der</strong> Begriff+<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* behauptet doch nichts an<strong>der</strong>es, als daß die Mo<strong>der</strong>ne zum Ende gelangt ist.Und mit dem Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne müßte folglich auch die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Gesellschaftzum erliegen gekommen se<strong>in</strong> – o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e grundsätzlich neue Qualität undRichtung angenommen haben. Differenzierung und Individualisierung, Rationalisierung undDomestizierung sche<strong>in</strong>en jedoch, wenn wir e<strong>in</strong>en Blick auf unsere (post?)mo<strong>der</strong>ne Welt werfen,nur durch ihre eigene Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit gehemmt fortzulaufen, und beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> denaufstrebenden Schwellenlän<strong>der</strong>n sowie <strong>in</strong> den Län<strong>der</strong>n des ehemaligen Ostblocks ist Mo<strong>der</strong>nisierungim traditionellen S<strong>in</strong>n, d.h. als +nachholende Entwicklung* (Senghaas) gemäßdem Modell <strong>der</strong> westlichen Industriegesellschaften, das dom<strong>in</strong>ante Ziel <strong>der</strong> (Wirtschafts-)<strong>Politik</strong>.Ulrich Beck spricht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang sogar von e<strong>in</strong>em +Jungbrunnen e<strong>in</strong>facher Mo<strong>der</strong>nisierung*(vgl. Der Konflikt <strong>der</strong> zwei Mo<strong>der</strong>nen; S. 51).Aber selbst dort, wo das bisherige Modell <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise steckt, wie <strong>in</strong> den zunehmend mitden Wi<strong>der</strong>sprüchen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung konfrontierten Gesellschaften <strong>der</strong> +fortgeschrittenen*Industrienationen, ist das klassische Programm ke<strong>in</strong>esfalls ad acta gelegt. So prognostiziertetwa Wolfgang Zapf e<strong>in</strong>en erneuten Mo<strong>der</strong>nisierungsschub nach <strong>der</strong> aktuellen Phase <strong>der</strong>Stagnation, die nur e<strong>in</strong>er Umstellungs- nicht aber e<strong>in</strong>er Systemkrise geschuldet sei. Denner sieht Mo<strong>der</strong>nisierung als evolutionären Prozeß an und geht deshalb von e<strong>in</strong>er weitergehendenMo<strong>der</strong>nisierung bei genereller Richtungskonstanz aus (vgl. Entwicklung und Zukunft mo<strong>der</strong>nerGesellschaften seit den 70er Jahren; S. 207 und siehe auch S. XIX). 53E<strong>in</strong> ähnlicher Fortschrittsoptimismus kommt zum Tragen, wenn Jürgen Habermas vom +unvollendetenProjekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* spricht. Allerd<strong>in</strong>gs geht Habermas als +Ziehsohn*54<strong>der</strong> +kritischenTheoretiker* Horkheimer und Adorno natürlich nicht vom durchaus konservativen Modell<strong>der</strong> (sozial)marktwirtschaftlich organisierten Konkurrenzdemokratie aus, wie Zapf dies tut. 55Habermas vertraut anstelle <strong>der</strong> e<strong>in</strong>enden Kraft des Massenkonsums im Wohlfahrtsstaat aufdie Durchsetzungsfähigkeit e<strong>in</strong>er lebensweltlich verankerten (kommunikativen) Rationalität.Zwar negiert er nicht die Probleme angesichts des +überholten kulturellen Selbstverständnisses


XLPOLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* (Der philosophische Diskurs <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 12), doch gibt es für ihn ke<strong>in</strong>eAlternative zum Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Vernunft. Nur auf ihrer Basis kann sich e<strong>in</strong> fruchtbarer Diskursentsp<strong>in</strong>nen, <strong>der</strong> mittels <strong>der</strong> wechselseitigen Akzeptanz <strong>der</strong> Geltungsansprüche zu <strong>in</strong>tersubjektiverVerständigung führt (vgl. ebd.; Kap. XI). 56Habermas zieht daraus die Konsequenz und bezeichnet das postmo<strong>der</strong>ne Denken, das (wienoch zu zeigen se<strong>in</strong> wird) den Anspruch auf e<strong>in</strong>e übergeordnete und übergreifende Vernunftweitgehend aufgegeben hat, als neokonservativ (vgl. Die Mo<strong>der</strong>ne – E<strong>in</strong> unvollendetes Projekt;S. 32 und siehe hier S. LXX). Niklas Luhmann geht so weit nicht und bekennt:+Die Proklamation <strong>der</strong> ›<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne‹ hatte m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Verdienst. Sie hat bekannt gemacht, daßdie mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft das Vertrauen <strong>in</strong> die Richtigkeit ihrer eigenen Selbstbeschreibungen verlorenhat […] Auch sie s<strong>in</strong>d kont<strong>in</strong>gent geworden.* (Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 7)Komplexität und Kont<strong>in</strong>genz gelten Luhmann schließlich gerade <strong>in</strong> letzter Zeit immer mehrals wesentliche Charakteristika mo<strong>der</strong>ner Sozialsysteme (siehe auch S. XXV), die als +offeneGesellschaften* (Popper) für die Individuen zahllose Handlungsalternativen be<strong>in</strong>halten.57Nochmehr gilt die Kont<strong>in</strong>genzfeststellung jedoch für die beobachtende Beschreibung von Gesellschaft. 58Da <strong>der</strong> Diskurs über die Mo<strong>der</strong>ne weitgehend auf semantischer Ebene geführt wird, kulturellenMerkmalen e<strong>in</strong>e immer größere Bedeutung zukommt, konnte man entsprechend +leichtfüßig[…] die Beschreibung von mo<strong>der</strong>n auf postmo<strong>der</strong>n* umstellen (ebd.; S. 13). 59Weniger +leichtfüßig*, so lautet <strong>der</strong> Umkehrschluß, gelänge dies, wenn man strukturelle Merkmaleheranziehen würde. Ausgerechnet o<strong>der</strong> vielmehr gerade mit Bezug auf Marx versucht deshalbLuhmann, e<strong>in</strong>en Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Strukturwandel und <strong>der</strong> Verschiebung<strong>der</strong> sozialen Semantik herzustellen. Er übernimmt dazu von Marx das (von diesemwie<strong>der</strong>um bei Hegel entliehene) Argument <strong>der</strong> Entfremdung. Entfremdung, die für Luhmannanalog zu Marx durch Technisierung (mit) ausgelöst wird, wertet er – <strong>in</strong> impliziter Anlehnungan Gehlen (siehe Anmerkung 60) – jedoch an sich positiv. Sie zw<strong>in</strong>gt nämlich zu Selbstreflexionund führt so zu Emanzipation, die damit +unvermeidlicher Nebeneffekt dieser Technisierung*ist (ebd.; S. 21). Die Selbstreflexion – d.h. <strong>in</strong> marxistischer Term<strong>in</strong>ologie ausgedrückt: dieErlangung des Bewußtse<strong>in</strong>s für die eigene Klassenlage – führt gemäß Luhmann aber natürlichnicht zur proletarischen Erhebung.60Vielmehr erlaubt sie es schlicht, +das eigene Beobachtenzu beobachten* (ebd.; S. 22) und versetzt damit <strong>in</strong> die Lage, zur Lösung <strong>der</strong> technikerzeugten


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XLIProbleme wie<strong>der</strong>um Technik (als <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Sichtweise e<strong>in</strong>zig erfolgversprechendes Mittel)e<strong>in</strong>zusetzen.Dieser +technokratische* Aspekt <strong>in</strong> Luhmanns Denken, <strong>der</strong> ansonsten mit se<strong>in</strong>en Kategorien+Komplexität*, +Kont<strong>in</strong>genz*, +Selbstreferenzialität* und +Autopoiesis* durchaus Bezüge zum<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus61aufweist (siehe S. XLVIIff.), entspr<strong>in</strong>gt dem Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen,<strong>der</strong> halbierten Mo<strong>der</strong>ne, wie Beck sie nennt (vgl. z.B. Risikogesellschaft; S. 118). Ihr Horizontist die an l<strong>in</strong>earem Fortschritt orientierte und im Glauben an die Macht <strong>der</strong> Technik verhaftete<strong>in</strong>dustrielle (Schichtungs-)Gesellschaft, <strong>der</strong>en Bild noch immer die soziologische Begrifflichkeitweitgehend bestimmt, die aber genau genommen bereits aufgehört hat zu existieren – wennsie denn jemals so existiert hat, wie die Soziologen sie gedacht haben.62Wie auch immer:Jene heute sozial überholte Soziologie <strong>der</strong> +klassischen* Industriegesellschaft war wesentlichorientiert an Modellen wie standardisierter Erwerbsarbeit, <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>familie mit ihrer geschlechtsspezifischenRollenteilung und dem national verfaßten (Wohlfahrts-)Staat etc., und nach Becklassen sich folglich drei Grundannahmen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>nisierungssoziologie benennen:• Da die Industriegesellschaft als Großgruppengesellschaft aufgefaßt wurde, g<strong>in</strong>g man davonaus, daß +Lebenslagen und Lebensverläufe […] <strong>in</strong> Klassen [bzw. Schichten] sozial organisiertund soziologisch abbildbar* s<strong>in</strong>d (Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; S. 72).• Ferner war man von e<strong>in</strong>em relativ ungetrübten Fortschritts- und Vernunftglauben beseelt.Dieser Fortschritt, +die Auflösung <strong>der</strong> traditionalen Ordnung […] vollzieht sich als e<strong>in</strong> revolutionärerProzeß, und zwar entwe<strong>der</strong> offen und explosiv (wie die Französische Revolution)o<strong>der</strong> dauerhaft und eruptiv (wie die Industrielle Revolution)* (ebd.; S. 73). 63• Mit dem solchermaßen als unaufhaltsam gesehenen Fortschritt geht die Ausdifferenzierungvon Subsystemen e<strong>in</strong>her, die von ihrer +Eigengesetzlichkeit dom<strong>in</strong>iert [s<strong>in</strong>d]. Das heißt:Das Bewegungsgesetz <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne ist e<strong>in</strong> zwar vielgestaltiger, aber l<strong>in</strong>ear unde<strong>in</strong>dimensional gedachter Rationalisierungsprozeß im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Steigerung und Entfaltungsystemspezifischer Zweckrationalität.* (Ebd.; S. 74)Heute s<strong>in</strong>d diese Grundannahmen, wie oben schon angedeutet, fragwürdig geworden. Diezunehmende Individualisierung löst die Klassen- und Schichtzusammenhänge auf. Angesichts<strong>der</strong> Nebenfolgen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Produktion, die globale Risiken erzeugt, ist <strong>der</strong> vernunftgläubigeFortschrittsoptimismus drastisch gesunken, und Krisenszenarien beherrschen die Zukunfts-


XLIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEprojektionen am +Ende des Jahrtausends*. Die fortschreitende Differenzierung schließlichmacht die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er Koord<strong>in</strong>ierung und Vernetzung deutlich, und gerade die +weitergehendeMo<strong>der</strong>nisierung hebt die Grundlagen <strong>in</strong>dustriegesellschaftlicher Mo<strong>der</strong>nisierung auf*(ebd.; S. 80).64Deshalb plädiert Beck für e<strong>in</strong>e reflexive Mo<strong>der</strong>nisierungstheorie, die <strong>der</strong> vielfachwi<strong>der</strong>sprüchlich gewordenen Situation Rechnung trägt. Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung me<strong>in</strong>t dabeivor allem die Tatsache <strong>der</strong> +Selbstkonfrontation [<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne] mit [ihren] risikogesellschaftlichenFolgen* (ebd.; S. 37) und nicht alle<strong>in</strong>e +Wissenssteigerung und Verwissenschaftlichung imS<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Selbstreflexion von Mo<strong>der</strong>nisierung* (ebd.; S. 36) – das Adjektiv +reflexiv* beziehtsich also primär auf die +Reflexivität*, die Rückbezüglichkeit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungsfolgen, womitMo<strong>der</strong>nisierung auch e<strong>in</strong>e neue Qualität annimmt. Dieser gegenwärtig stattf<strong>in</strong>dende Umbruchäußert sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em +Konflikt <strong>der</strong> zwei Mo<strong>der</strong>nen* – wie Beck se<strong>in</strong> Referat auf dem Soziologentag1990 bezeichnen<strong>der</strong>weise überschreiben hat.Die hier beabsichtigte Beschäftigung mit +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* setzt bei diesem Verständnisvon Mo<strong>der</strong>nisierung an (wird es jedoch um e<strong>in</strong>e dialektische Perspektive erweitern, dieauch die +Deflexionspotentiale* des Systems berücksichtigt).65Es gilt zu klären, unter welchenverän<strong>der</strong>ten Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>Politik</strong> heute <strong>in</strong> den +fortgeschrittenen*, also das Stadium<strong>der</strong> (traditionellen) Industriegesellschaft überw<strong>in</strong>denden Staaten stattf<strong>in</strong>det und welche Dilemmataaus dem vielfach problematischen Prozeß <strong>der</strong> Anpassung erwachsen.66Deshalb möchte ichvorwegnehmen: (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne, wie ich sie <strong>in</strong> Anlehnung an Beck verstehe, bedeutet e<strong>in</strong>ereflexive, radikalisierte und deshalb wi<strong>der</strong>sprüchlich gewordene Mo<strong>der</strong>ne.Diese ambivalente Sicht ergibt sich bereits aus <strong>der</strong> konsequenten Rezeption vieler jenersoziologischer +Klassiker*, die im vorangegangenen Abschnitt dargestellt wurden: Schon Durkheimund Simmel hatten Mo<strong>der</strong>nisierung schließlich als ambivalenten Differenzierungs- und Individualisierungsprozeßdargestellt, <strong>der</strong> also durch se<strong>in</strong>e Weiterführung logischerweise auch anAmbivalenz zunehmen muß. Und auch Max Weber sah klar die Schattenseite <strong>der</strong> Rationalisierung,die parallel zu dem durch sie bewirkten Fortschritt e<strong>in</strong> +stahlhartes Gehäuse <strong>der</strong>Hörigkeit* entstehen hat lassen. So gesehen liegt Becks Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierungsogar <strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>uität zu den klassischen (nicht den +e<strong>in</strong>fachen* als schlicht vere<strong>in</strong>fachenden)Mo<strong>der</strong>nisierungstheorien. Viele Theoretiker <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne konzentrieren sich h<strong>in</strong>gegen,wie Beck herausstellt, <strong>in</strong> gleicher Weise vere<strong>in</strong>fachend wie die kurzsichtigen Apologeten des<strong>in</strong>dustriellen Fortschritts, auf die negativen Folgen von Mo<strong>der</strong>nisierung. Sie übersehen dabei


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XLIIIjedoch die noch ungenutzten positiven Potentiale, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en, e<strong>in</strong>er sich selbst überholendenbzw. reflektierenden Mo<strong>der</strong>ne durchaus schlummern könnten:+Weil Mo<strong>der</strong>ne und <strong>in</strong>dustriegesellschaftliche Mo<strong>der</strong>ne als unauflöslich gelten, spr<strong>in</strong>gt man, wenndie historische Falschheit dieses Modells zu dämmern beg<strong>in</strong>nt, von <strong>der</strong> kapitalistisch-demokratischenIndustriemo<strong>der</strong>ne nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne.* (Die Erf<strong>in</strong>dung desPolitischen; S. 71)Dies ist e<strong>in</strong>e These, die es allerd<strong>in</strong>gs erst noch zu belegen gilt und die sich am Ende, d.h.nach <strong>der</strong> Beschäftigung mit postmo<strong>der</strong>nen Ansätzen, vielleicht auch als falsch o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>destnur e<strong>in</strong>geschränkt richtig herausstellen könnte. Jedoch: +Am Anfang war das Wort* – e<strong>in</strong> treffen<strong>der</strong>esE<strong>in</strong>gangs-Zitat läßt sich für e<strong>in</strong>e +Genealogie <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* kaum f<strong>in</strong>den. MichaelKöhler und Wolfgang Welsch haben hier bereits gute Arbeit geleistet, und so möchte ichmich diesbezüglich an ihre Ausführungen anlehnen:67Erstmals läßt sich <strong>der</strong> Begriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*um 1870 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schrift des englischen Salonmalers John Watk<strong>in</strong>s Chapman nachweisen.Dieser verwendete den Ausdruck, um sich von <strong>der</strong> damals modisch-mo<strong>der</strong>nen Malerei desImpressionismus abzusetzen – was jedoch weitgehend folgenlos blieb (vgl. Welsch: Unserepostmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 12). Fast e<strong>in</strong> halbes Jahrhun<strong>der</strong>t später, nämlich 1917, tauchtedie heute so geläufige Vokabel schließlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schrift von Rudolf Pannwitz auf, <strong>der</strong> denpostmo<strong>der</strong>nen Menschen als e<strong>in</strong>en +sportlich gestählte[n] nationalistisch bewußte[n]* Übermenschenkonzipierte und sich dabei eng an Nietzsches Diktion und Gedankengut anlehnte(vgl. ebd. sowie Pannwitz: Die Krisis <strong>der</strong> europäischen Kultur; S. 52).681934 führte Fe<strong>der</strong>icode Oníz dann die Bezeichnung +postmo<strong>der</strong>nismo* <strong>in</strong> die spanische Literaturwissenschaft e<strong>in</strong>,um so die Literatur <strong>der</strong> Jahre 1905 bis 1914 von +mo<strong>der</strong>nismo* (1896–1905) und +ultramo<strong>der</strong>nismo*(1914–1932) abzugrenzen (vgl. Köhler: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus; S. 10). 1942 schließlichcharakterisierte <strong>der</strong> Romanist Dudley Fitts e<strong>in</strong> Sonett des südamerikanischen Lyrikers Mart<strong>in</strong>ezals +manifesto of post-Mo<strong>der</strong>nism* (zitiert nach ebd.). E<strong>in</strong>en historisch-politischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Begriff gebrauchte dann erstmals Arnold Toynbee im Jahr 1947 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk +A Studyof History*, wo er die Epoche <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne (bzw. <strong>der</strong> +Nach-Neuzeit*)691875 beg<strong>in</strong>nenläßt (vgl. Der Gang <strong>der</strong> Weltgeschichte; Band 1, S. 81). Deren negative Signaturen erblickter u.a. dar<strong>in</strong>, daß die Idee <strong>der</strong> Demokratie sich mit dem Nationalismus verbunden hat +und[daß] <strong>der</strong> durch Industrialismus und Technik gegebene Antrieb die [nationalstaatlichen] Kombat-


XLIVPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEtanten mit Waffen von wachsen<strong>der</strong> Zerstörungskraft versorgt* (vgl. ebd.; Band 2, S. 396).Allerd<strong>in</strong>gs erkennt Toynbee die Demokratisierung und Ausweitung <strong>der</strong> Bildung als positivesElement <strong>der</strong> +<strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>ne* durchaus an (vgl. ebd.; S. 397f.). 70Der Begriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* tauchte also bis Mitte des Jahrhun<strong>der</strong>ts nur eher sporadisch auf,fand kaum Resonanz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er breiteren wissenschaftlichen Diskussion (obwohl Oníz sowievor allem Toynbee natürlich rezipiert wurden) und fand schon gar ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> denallgeme<strong>in</strong>en Sprachgebrauch. Das lag wohl daran, daß <strong>der</strong> gesellschaftliche Horizont bis dah<strong>in</strong>noch stark von Mo<strong>der</strong>nitätsvorstellungen geprägt war und deshalb an e<strong>in</strong>e wie auch immergeartete +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* gar nicht zu denken war. E<strong>in</strong>e erste, größere Aufmerksamkeit erregende<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Debatte entspann sich dann jedoch Ende <strong>der</strong> 50er/Anfang <strong>der</strong> 60er Jahre unteramerikanischen Literaturwissenschaftlern. Irv<strong>in</strong>g Howe und Harry Lev<strong>in</strong> konstatierten e<strong>in</strong> Nachlassendes <strong>in</strong>novativen Impulses <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwartsliteratur. Im Vergleich zu den bedeutendenAutoren <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (wie Proust, Eliot o<strong>der</strong> Joyce) sah man die als +post-mo<strong>der</strong>n* titulierteLiteratur <strong>der</strong> damaligen Gegenwart als Ausdruck <strong>der</strong> Ausdruckslosigkeit <strong>der</strong> Massengesellschaftan (vgl. z.B. Howe: Mass Society and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Fiction). Ganz an<strong>der</strong>s <strong>in</strong>terpretierten diesh<strong>in</strong>gegen Leslie Fiedler (und an ihn anschließend auch Susan Sontag und Ihab Hassan): Währenddie tradierte Mo<strong>der</strong>ne durch ihre elitäre Ausrichtung im Elfenbe<strong>in</strong>turm <strong>der</strong> Kunst gefangenblieb, gelänge es +postmo<strong>der</strong>nen* Künstlern wie Norman Mailer o<strong>der</strong> Leonard Cohen, dieGrenze zur Populär-Kultur zu überschreiten und den Graben zwischen Publikum und Kunstproduktionzu schließen (vgl. Cross the Bor<strong>der</strong> – Close the Gap). 71Von e<strong>in</strong>em ähnlichen Ans<strong>in</strong>nen waren auch Pop-Art-Künstler wie Jim D<strong>in</strong>e, <strong>der</strong> sich durche<strong>in</strong> +leidenschaftliches Interesse für das Banale* und e<strong>in</strong>e +sentimentale Zuneigung für dasAlltägliche* auszeichnete (Lucie-Smith: Die mo<strong>der</strong>ne Kunst; S. 194), sowie vor allem AndyWarhol mit se<strong>in</strong>er +Factory* getragen.72Aus dieser Kunstfabrik g<strong>in</strong>g z.B. die Musikgruppe+Velvet Un<strong>der</strong>ground* hervor, <strong>der</strong>en +Stars* Lou Reed und John Cale noch heute zwischenden Kunstwelten vermitteln.73Roy Lichtenste<strong>in</strong> schließlich, <strong>der</strong> sich am Comic Strip künstlerischorientierte, wandte sich explizit gegen jede malerische Qualität und handelte nach dem Motto,+e<strong>in</strong> Bild zu schaffen, das abscheulich genug ist, um von jemandem an die Wand gehängtzu werden* (zitiert nach ebd.; S. 205). 74Auch die Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre vom italienischen Kunsthistoriker Achille Bonito Olivaproklamierte Trans-Avantgarde ist Ausdruck des anti-avantgardistischen postmo<strong>der</strong>nen Kunst-


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XLVverständnisses. Für Bonito Oliva ist Kunst allerd<strong>in</strong>gs per def<strong>in</strong>itionem +e<strong>in</strong>e asoziale Praxis,die an abgeson<strong>der</strong>ten Orten entsteht […] und die sich offensichtlich ke<strong>in</strong>e Rechenschaft darüberablegt, unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen sie sich entwickelt, weil sie ke<strong>in</strong>e Anregungen braucht,außer den <strong>in</strong>neren Anregungen, die sie leiten* (Im Labyr<strong>in</strong>th <strong>der</strong> Kunst; S. 89). Somit ist dasZiel für die neue trans-avantgardistische Kunst die +Produktion von Diskont<strong>in</strong>uität* (vgl. ebd.;75S. 59), wobei +jedes Werk verschieden vom an<strong>der</strong>en* ist (ebd.; S. 63). Denn Trans-Avantgarde,+das bedeutet die Übernahme e<strong>in</strong>er nomadischen Position, die ke<strong>in</strong> endgültiges Engagementrespektiert […]* (Die italienische Trans-Avantgarde; S. 126).Trotz solcher, ganz im oben beschriebenen S<strong>in</strong>n postmo<strong>der</strong>n anmuten<strong>der</strong> Konzepte, konntesich <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Begriff <strong>in</strong> <strong>der</strong> bildenden Kunst nicht durchsetzen – zu sehr orientiertman sich dort noch immer an <strong>der</strong> +klassischen Mo<strong>der</strong>ne*. Umso mehr bestimmt er aber dieArchitektur-Diskussion <strong>der</strong> Gegenwart. Wie schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literaturdebatte, so wurde auchhier zunächst das Attribut +postmo<strong>der</strong>n* <strong>in</strong> diffamieren<strong>der</strong> Absicht gebraucht (vgl. Pevsner:Architecture <strong>in</strong> Our Time). Charles Jencks wendete Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre dann allerd<strong>in</strong>gs dieNegativ-Vokabel (ähnlich wie Fiedler für die Literatur) positiv:76Er äußert nämlich die Über-zeugung, daß sich die so bezeichnete postmo<strong>der</strong>ne Architektur, an<strong>der</strong>s als die streng komponiertenklassisch mo<strong>der</strong>nen Bauten, nicht nur an e<strong>in</strong>ige wenige Architekturkenner wendet,son<strong>der</strong>n auch das breite Publikum anzusprechen vermag. Damit sei e<strong>in</strong>e +Doppelkodierung*<strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Architektur gegeben (vgl. Die Sprache <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Architektur; S.85). Als selbstbewußter +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ner* formuliert er:+Der Fehler <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Architektur war, daß sie sich an e<strong>in</strong>e Elite richtete. Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne versucht,den Anspruch des Elitären zu überw<strong>in</strong>den, nicht durch Aufgabe desselben, son<strong>der</strong>n durch Erweiterung<strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Architektur <strong>in</strong> verschiedene Richtungen […]* (Ebd.; S. 88)Deshalb plädiert Jencks auch für e<strong>in</strong>en +radikalen Eklektizismus* (vgl ebd.; S. 92ff.). He<strong>in</strong>richKlotz sieht es im Pr<strong>in</strong>zip ähnlich, auch wenn ihm die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Vokabel eigentlich nichtbehagt und er lieber <strong>in</strong> Anlehnung an Habermas von e<strong>in</strong>er +unvollendeten Mo<strong>der</strong>ne* sprechenwürde (siehe S. XXXIX). Trotzdem übernimmt er die Bezeichnung +postmo<strong>der</strong>n*, die sich<strong>in</strong> <strong>der</strong> Debatte nun e<strong>in</strong>mal durchgesetzt hat. Und die als postmo<strong>der</strong>ne bezeichnete Architekturist <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>nen* nach Klotz durchaus überlegen: Während letztere nämlich alle<strong>in</strong>e Funktion(alität)zu bieten hat, schafft erstere zusätzlich auch e<strong>in</strong>en Raum für Imag<strong>in</strong>ation, für das


XLVIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEFiktive (vgl. Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 104f.). Weitere Merkmale <strong>der</strong> so verstandenen(architektonischen) <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne s<strong>in</strong>d:• Regionalismus anstelle des typisch mo<strong>der</strong>nen, alles vere<strong>in</strong>heitlichenden Internationalismus• Bedeutungsvielfalt anstelle von langweiliger, phantasieloser E<strong>in</strong>deutigkeit• Improvisation und Spontaneität anstelle von Planhaftigkeit und Perfektionismus• Stilvielfalt und (ironisierendes) Zitat anstelle von steriler Stilre<strong>in</strong>heit• Angepaßung an die Umgebung anstelle e<strong>in</strong>es rücksichtslosen Autonomiestrebens• Komplexität und Wi<strong>der</strong>spruch statt Simplifizierung sowie e<strong>in</strong>er Flucht <strong>in</strong>s Pittoreske 77E<strong>in</strong>ige dieser Merkmale <strong>der</strong> architektonischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne lassen sich auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wissenschaftstheorievon Paul Feyerabend nachweisen, <strong>der</strong> (ohne für sich die das Attribut +postmo<strong>der</strong>n*<strong>in</strong> Anspruch zu nehmen) häufig dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus zugerechnet wird.78Mitte <strong>der</strong> 70erJahre plädiert er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Wi<strong>der</strong> den Methodenzwang* – angeregt durch se<strong>in</strong>en FreundImre Lakatos,79wie er im Vorwort bekennt – für e<strong>in</strong>en +heiteren Anarchismus* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Forschung,den er für menschenfreundlicher und letzendlich auch erfolgversprechen<strong>der</strong> hielt als GesetzundOrdnungskonzeptionen: 80+[…] Anarchismus [ist] vielleicht nicht gerade die anziehendste politische Philosophie, aber gewiß e<strong>in</strong>eausgezeichnete Arznei für Wissenschaften und Philosophie.* (S. 13)Die +Irrwege <strong>der</strong> Vernunft* (1986), so <strong>der</strong> Titel e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Schrift Feyerabends, führen<strong>in</strong> die Sackgasse von Monotonie und Langeweile (vgl. S. 14).81Aus dieser kann nur dierelativistische E<strong>in</strong>sicht befreien, daß die festgelegten Verfahren <strong>der</strong> rationalistischen Wissenschaftnicht rational im S<strong>in</strong>n ihres eigenen Anspruchs s<strong>in</strong>d, denn die Objektivität, die sie als Methodefür sich beanspruchen, gilt nicht für die dah<strong>in</strong>terstehenden E<strong>in</strong>stellungen und Orientierungen<strong>der</strong> Forscher, die immer auch sozialen E<strong>in</strong>flüssen unterliegen (vgl. ebd.; 17–25).82Kunst undWissenschaft sollten deshalb besser gleich als kreative Unternehmungen verstanden werden(vgl.; ebd.; S. 193ff.). Der Mythos <strong>der</strong> Vernunft ist gemäß Feyerabend zu demaskieren, denndiese ist an<strong>der</strong>en Denk- und Handelsformen ke<strong>in</strong>esfalls übergeordnet (vgl. Erkenntnis für freieMenschen; S. 27ff. u. S. 39). Deshalb muß auch Wissenschaft unter <strong>der</strong> Prämisse stattf<strong>in</strong>den:+anyth<strong>in</strong>g goes* (ebd.; S. 97).


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XLVIIMit dem E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen +postmo<strong>der</strong>ner* Inhalte <strong>in</strong> die Wissenschaftstheorie war <strong>der</strong> Schritt zue<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nen Philosophie nicht mehr weit.83Viele sehen sogar bereits <strong>in</strong> Foucault e<strong>in</strong>en<strong>der</strong> Denker, die ihn gegangen s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs wird Foucault überwiegend unter dem Etikettdes +<strong>Post</strong>-* bzw. des +Ultrastrukturalismus* zum Umfeld <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Philosophie gezählt, 84da er vom strukturalistischen Denken e<strong>in</strong>es Lévi-Strauss, Barthes o<strong>der</strong> Althusser bee<strong>in</strong>flußtwar, sich aber auch von diesen absetzte und betont, er könne sich +niemanden vorstellen,<strong>der</strong> mehr Antistrukturalist wäre als* er (Wahrheit und Macht; S. 28).Auf Foucaults Bücher +Wahns<strong>in</strong>n und Gesellschaft* (1961) sowie +Überwachen und Strafen*(1975) wurde bereits e<strong>in</strong>gegangen (siehe S. XXXVIf.). Foucault hat hier, wie <strong>in</strong> +Die Geburt<strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>ik* (1963), den Versuch unternommen, die Praktiken <strong>der</strong> sog. +Humanwissenschaften*e<strong>in</strong>er kritischen Analyse zu unterziehen sowie die untergründige Macht- und Zwangsstrukturauch und gerade im Zeitalter <strong>der</strong> Vernunft offenzulegen.85Foucault folgt dabei zwar e<strong>in</strong>erhistorischen Vorgehensweise, legt aber ke<strong>in</strong> teleologisches, evolutionäres Geschichtsbild zugrunde.In Anlehnung an Nietzsche (vgl. Zur Genealogie <strong>der</strong> Moral) entwickelt er e<strong>in</strong>e genealogische+Methode*, die – eher genial als streng logisch – gerade die Diskont<strong>in</strong>uitäten und Brüchebetont.86E<strong>in</strong> Zitat, <strong>in</strong> dem er sich zum genealogischen Pr<strong>in</strong>zip äußert, kann vielleicht deutlichmachen, warum man Foucault häufig dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus zurechnet:+Die Genealogie <strong>der</strong> Werte, <strong>der</strong> Moral, […] <strong>der</strong> Erkenntnis hat […] nicht von <strong>der</strong> Suche nach ihrem›Ursprung‹ auszugehen und die vielfältigen Episoden <strong>der</strong> Geschichte wegen ihrer Unzulänglichkeitauszuklammern. Sie muß sich vielmehr bei den E<strong>in</strong>zelheiten und Zufälligkeiten <strong>der</strong> Anfänge aufhalten;[…] sie muß darauf gefaßt se<strong>in</strong>, sie nach Ablegung <strong>der</strong> Masken mit an<strong>der</strong>en Gesichtern auftreten zusehen; sie darf sich nicht scheuen, sie dort zu suchen, wo sie s<strong>in</strong>d, und ›<strong>in</strong> den Nie<strong>der</strong>ungen zu wühlen‹;sie muß ihnen Zeit lassen, aus dem Labyr<strong>in</strong>th hervorzukommen, wo sie von ke<strong>in</strong>er Wahrheit bevormundetwaren. Der Genealoge braucht die Historie, um die Chimäre des Ursprungs zu vertreiben; so wie<strong>der</strong> gute Philosoph den Arzt braucht, um den Schatten <strong>der</strong> Seele zu vertreiben.* (Nietzsche, dieGenealogie, die Historie; S. 72f.)Nur <strong>der</strong>art, also <strong>in</strong>dem man vom Ursprungsdenken Abschied nimmt und die grundsätzlicheGleichwertigkeit <strong>der</strong> potentiell möglichen, doch sozial abgesperrten Diskurse anerkennt (vgl.dazu auch Die Ordnung des Diskurses),87kann die +Überschreitung* gel<strong>in</strong>gen, +die für unsereKultur ebenso entscheidend ist, wie noch vor nicht allzu langer Zeit für das dialektische Denkendie Erfahrung des Wi<strong>der</strong>spruchs* (Vorrede zur Überschreitung; S. 31). E<strong>in</strong>e Möglichkeit zur


XLVIIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEÜberschreitung liegt für Foucault <strong>in</strong> <strong>der</strong> F<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>er Sprache, +die uns das Denken als solchesentzieht und bis zur Unmöglichkeit <strong>der</strong> Sprache selbst vorstößt, bis zu jener Grenze, wo dasSe<strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache <strong>in</strong> Frage gestellt wird* (ebd.; S. 36). Auf diese Weise kann schließlich +DasDenken des Außen* (1966) gel<strong>in</strong>gen, das notwendig ist, um das verlorene Selbst über denUmweg <strong>der</strong> Entäußerung möglicherweise (wie<strong>der</strong>) zu f<strong>in</strong>den (vgl. S. 48ff.). 88In dieser Argumentationsfigur deutet sich auch bei Foucault jener +l<strong>in</strong>guistic turn* (Rorty) an,<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong> für die (post)mo<strong>der</strong>ne Philosophie typisch ist und mit Denkern wie Wittgenste<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geläutet wurde. War die Philosophie des Altertums im Wesentlichen Ontologie und beschäftigtesich mit Se<strong>in</strong>sfragen, so verschob sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit <strong>der</strong> Schwerpunkt auf das Erkenntnisproblem.Spätestens seit Habermas’ +Theorie des kommunikativen Handelns* (1981) ist dieFrage von Sprache und Verständigung aber nicht nur zum immer zentraleren philosophischenProblem geworden, son<strong>der</strong>n avancierte auch zur sozialwissenschaftlichen Schlüsselkategorie.Die Sozial- und Humanwissenschaften waren für Foucault jedoch selbst Gegenstand e<strong>in</strong>er+Diskursanalyse*, denn sie bestimmen (heute) wesentlich +Die Ordnung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge* (1966),<strong>in</strong>dem sie mit ihren Kategorien die Inhalte des gesellschaftlichen Wissens formen. Foucaultsah deshalb die Gefahr e<strong>in</strong>es +Psychologismus* und +Soziologismus* sowie <strong>der</strong> +Anthropologisierung*(vgl. dort S. 417f.). Um diese Gefahr bewußt zu machen, sei e<strong>in</strong>e +Archäologiedes Wissens* (1969) erfor<strong>der</strong>lich, die versucht, +die diskursiven Praktiken, <strong>in</strong>soweit sie e<strong>in</strong>emWissen Raum geben und dieses Wissen das Statut und die Rolle von Wissenschaft annimmt*(S. 271), freizulegen.Jacques Derrida, e<strong>in</strong> weiterer französischer +<strong>Post</strong>strukturalist*, <strong>der</strong> ebenso wie Foucault häufigdem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus zugerechnet wird, schließt <strong>in</strong> vielen Punkten an diesen an.89Zume<strong>in</strong>en greift er Foucaults Thesen aus +Wahns<strong>in</strong>n und Gesellschaft* auf und radikalisiert siedah<strong>in</strong>gehend, daß es ihm nicht mehr nur um e<strong>in</strong>e Dekonstruktion90<strong>der</strong> Vernunft, son<strong>der</strong>nauch um e<strong>in</strong>e Dekonstruktion des Wahns geht, den er aber als Inspirationsquelle gleichzeitigidealisiert: In <strong>der</strong> Krise nämlich ist +<strong>der</strong> Wahns<strong>in</strong>n vernünftiger […] als die Vernunft, denner ist <strong>der</strong> lebendigen (wenn auch schweigsamen und murmelnden) Quelle des S<strong>in</strong>ns näher*(Cogito und Geschichte des Wahns<strong>in</strong>ns; S. 100).91In se<strong>in</strong>er +Grammatologie* (1967) unternimmter schließlich den +irren* Versuch e<strong>in</strong>er Aufhebung des Logozentrismus.92Hier widmet ersich dem Problem von Zeichen und Sprache (vgl. S. 23ff.). Er relativiert den Absolutheitsanspruch,<strong>der</strong> den neuzeitlichen Konstruktionen e<strong>in</strong>er Universalsprache immanent war (vgl.


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?XLIXebd.; S. 139), und stellt dem se<strong>in</strong>en Wissenschaftsentwurf e<strong>in</strong>es Denkens <strong>der</strong> Differenz <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er Epoche <strong>der</strong> Differenz entgegen (vgl. ebd.; S. 169f.). 93Dieses Unterfangen er<strong>in</strong>nert an den späteren Versuch Jean-François Lyotards, die Metaerzählungen<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e +Pluralität <strong>der</strong> Sprachspiele* aufzulösen.94Lyotard ist <strong>der</strong>Philosoph <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> sich explizit im Rahmen se<strong>in</strong>er Philosophieauf den <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Begriff bezieht. In dem Buch +Das postmo<strong>der</strong>ne Wissen* legt er 1979se<strong>in</strong>e Auffassung zur +Verfassung*95<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne dar – denn man hat sich, so Lyotard,nun e<strong>in</strong>mal entschieden, die sich transformierenden Industriegesellschaften als +postmo<strong>der</strong>n*zu charakterisieren (vgl. S. 13).96Diese Industriegesellschaften werden durch den technischenWandel, vor allem durch die Computerisierung, zu +<strong>in</strong>formatisierten Gesellschaften*. Davonist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Wissen betroffen:+Es kann die neuen Kanäle [<strong>in</strong> den Datenautobahnen] nur dann passieren und e<strong>in</strong>satzfähig gemachtwerden, wenn die Erkenntnis <strong>in</strong> Informationsquantitäten übersetzt werden kann. Man kann daherdie Prognose stellen, daß all das, was vom überkommenen Wissen nicht <strong>in</strong> dieser Weise übersetzbarist, vernachlässigt werden wird, und daß die Orientierung dieser neuen Untersuchungen sich <strong>der</strong>Bed<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> Übersetzbarkeit etwaiger Ergebnisse <strong>in</strong> die Masch<strong>in</strong>ensprache unterordnen wird.* (Ebd.;S. 23)Es kommt also zu e<strong>in</strong>er +Hegemonie <strong>der</strong> Informatik* und (im Anschluß daran) zu e<strong>in</strong>er +Veräußerungdes Wissens*, das nurmehr für se<strong>in</strong>en Verkauf geschaffen wird, aufhört Selbstzweckzu se<strong>in</strong> und (als bloße Tausch-Wahre im Informationshandel) se<strong>in</strong>en eigentlichen Gebrauchswertverliert (vgl. ebd.; S. 24). Damit steigt aber auch die ökonomische Bedeutung des Wissens,und so ist es denkbar, +daß die Nationalstaaten <strong>in</strong> Zukunft ebenso um die Beherrschung vonInformationen kämpfen werden, wie sie um die Beherrschung <strong>der</strong> Territorien und dann umdie Verfügung und Ausbeutung <strong>der</strong> Rohstoffe und billigen Arbeitskräfte e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> bekämpfthaben* (ebd.; S. 26).Lyotard zeichnet also zunächst e<strong>in</strong> sehr pessimistisches Bild des +postmo<strong>der</strong>nen Wissens*,und die Tatsache, daß das +Internet* heute geradezu e<strong>in</strong> Refugium für verwirrte Verschwörungstheoretikerund sozial unterrepräsentierte Gruppen, kurz: Außenseitergedankentum,darstellt, sche<strong>in</strong>t Lyotard hier zu wi<strong>der</strong>legen (vgl. z.B. Freyermuth: Im Netz <strong>der</strong> Verschwörung).An<strong>der</strong>erseits ist <strong>der</strong> Kampf um die Macht im Netz schon entbrannt und manifestiert sich imBemühen <strong>der</strong> Regierungen se<strong>in</strong>e Inhalte zu kontrollieren – auch wenn diese durch neuartige


LPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEVerschlüsselungstechnologien auf verlorenen <strong>Post</strong>en stehen dürften (vgl. Borchers: Der Kampfum die Schlüsselgewalt).Doch trotz o<strong>der</strong> gerade wegen solcher (aktueller) Relativierungen ist Lyotards Argument relevant.Denn die zuvor skizzierte Entwicklung täuscht darüber h<strong>in</strong>weg, daß die Legitimationsbasisfür e<strong>in</strong> Wissen, das e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige Vorherrschaft und Absolutheit beansprucht, sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne auflöst, und +bei extremer Vere<strong>in</strong>fachung hält man [genau] die Skepsis gegenüberden Metaerzählungen für ›postmo<strong>der</strong>n‹* (Lyotard: Das postmo<strong>der</strong>ne Wissen; S. 14). In <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>ne dom<strong>in</strong>ierten und determ<strong>in</strong>ierten nämlich noch drei solcher +Metaerzählungen* densozialen Wissenshorizont: die Erzählung von <strong>der</strong> Dialektik des Geistes (im Idealismus), dieErzählung von <strong>der</strong> Hermeneutik des S<strong>in</strong>ns (im Historismus) und die Erzählung von <strong>der</strong> Emanzipationdes vernünftigen Subjekts (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aufklärung) (vgl. ebd.; S. 13).97Das Wissen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>newar also narratives Wissen (vgl. ebd.; S. 63ff.), doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne hat +die große Erzählungihre Glaubwürdigkeit verloren* (ebd.; S. 112). Der Keim dieser +Delegitimierung* liegt dar<strong>in</strong>,daß die Wissenschaft ihr eigenes, abgetrenntes Spiel spielt und die an<strong>der</strong>en +Sprachspiele*,aufgrund ihrer positivistischen Beschränkung, nicht legitimieren kann. So kommt es zur Zerstreuung(dissém<strong>in</strong>ation). +Neue Sprachen [so Lyotard] s<strong>in</strong>d zu den alten h<strong>in</strong>zugekommen,bilden die Vorstädte <strong>der</strong> alten Stadt* (ebd.; S. 120). Die postmo<strong>der</strong>ne Wissenschaft ist deshalbe<strong>in</strong>e Erforschung des Instabilen, und +nunmehr [muß] die Betonung auf den Dissens gelegtwerden. Der Konsens ist e<strong>in</strong> Horizont, er wird niemals erworben.* (Ebd.; S. 177)E<strong>in</strong>e so verstandene <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist nicht gänzlich abgesetzt vom Gewesenen, und +dasProjekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne besteht weiterh<strong>in</strong>, allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Unruhe und Sorge* (<strong>der</strong>s.: Immaterialitätund <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 9). Die +Beantwortung <strong>der</strong> Frage: Was ist postmo<strong>der</strong>n?* (1982)98kannnur gel<strong>in</strong>gen, wenn man sich dies vergegenwärtigt. Dann wird auch klar, daß die Mo<strong>der</strong>nevon e<strong>in</strong>er <strong>fatal</strong>en und unerfüllbaren +Sehnsucht nach dem Ganzen und E<strong>in</strong>en, nach Versöhnungvon Begriff und S<strong>in</strong>nlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung* geprägtwar (S. 203) – was teuer bezahlt werden mußte. Der Versuch nach <strong>der</strong> +Umfassung <strong>der</strong>Wirklichkeit* schlug nämlich <strong>in</strong> Terror um, wie die Erfahrungen des Jahrhun<strong>der</strong>ts uns e<strong>in</strong>drücklichgelehrt haben. Deswegen muß die +postmo<strong>der</strong>ne* Devise lauten: +Krieg dem Ganzen, zeugenwir das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Wi<strong>der</strong>streite […]* (Ebd.) 99Die bisher vorgestellten Vertreter e<strong>in</strong>er +nouvelle philosophie* – Foucault, Derrida und Lyotard– hatten und haben bedeutenden E<strong>in</strong>fluß vor allem auf die neuere, stark politisch geprägte


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LIamerikanische +cultural theory* (vgl. Angermüller: <strong>Post</strong>Mo<strong>der</strong>ne zwischen Theorie und Kultur).Sie selbst rekurrieren <strong>in</strong> ihrem Werk allerd<strong>in</strong>gs vielfach auf die deutschen Philosophen Nietzscheund Heidegger, welche man deshalb vielleicht als philosophische +Vorläufer* des <strong>Post</strong>strukturalismus/<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismusbezeichnen kann.100Auch Gianni Vattimo, e<strong>in</strong> italienischer Vertreter<strong>der</strong> philosophischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, bezieht sich auf diese <strong>in</strong> ihrer deutschen Heimat wegen<strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung durch den Nazismus eher diskreditierten Denker, und stellt klar fest:+Man kann mit Recht behaupten, daß die philosophische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne im Werk Nietzschesentsteht […]* (Das Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 178f.). 101Mit <strong>der</strong> Aufstellung e<strong>in</strong>er +Ontologie des Verfalls* gibt er sich denn auch betont nihilistisch,und <strong>der</strong> Kern des Se<strong>in</strong>s liegt für ihn im Untergang. Formulierte Heidegger noch: +das Abendlandist das Land des Untergangs (des Se<strong>in</strong>s)* (Brief über den Humanismus; zitiert nach: E<strong>in</strong>erOntologie des Verfalls entgegen; S. 65), so heißt es bei Vattimo: +das Abendland ist das Landdes Untergangs (und daher des Se<strong>in</strong>s)* (ebd.). Wenn Vattimo allerd<strong>in</strong>gs +Das Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne*(1985) verkündet, so ist dies nur die plakative Überschrift zu e<strong>in</strong>er durchaus differenziertenphilosophischen Betrachtung über die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne.Diese ist nach Vattimo ke<strong>in</strong>e bloße Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong> vielmehr <strong>der</strong>enVerw<strong>in</strong>dung.102Denn da +sich die Mo<strong>der</strong>ne als das Zeitalter <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung def<strong>in</strong>iert, alsZeitalter des Neuen, das veraltet und umgehend von e<strong>in</strong>er neueren Neuigkeit ersetzt wird,[…] kann man die Mo<strong>der</strong>ne nicht verlassen, <strong>in</strong>dem man sie zu überw<strong>in</strong>den gedenkt […]dies wäre e<strong>in</strong> noch gänzlich <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne selbst verbleiben<strong>der</strong> Schritt* (S. 180ff.).Die Verw<strong>in</strong>dung dagegen überholt nicht e<strong>in</strong>fach die Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong>n vertieft und verdrehtsie, und bewirkt damit e<strong>in</strong>e Genesung von den Irrungen ihrer immanenten Metaphysik (vgl.ebd.; 186f.). Der Idee e<strong>in</strong>es Se<strong>in</strong>s <strong>der</strong> Ewigkeit, Stabilität und Stärke wird von Vattimo <strong>in</strong>Anlehnung an Heidegger e<strong>in</strong> +schwaches* Denken gegenübergestellt, welches das Se<strong>in</strong> alsLeben und Reifung, Geburt und Tod begreift: +Es ist nicht das, was weiterbesteht, son<strong>der</strong>n<strong>in</strong> auffallen<strong>der</strong> Weise […] das, was wird, geboren wird und stirbt* (E<strong>in</strong>er Ontologie des Verfallsentgegen; S. 93).In Vattimos Konzept kommt also – trotz <strong>der</strong> Formel vom +Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* – streng genommenke<strong>in</strong> +posthistoristisches* Verständnis zum Tragen.Schon lange vor Francis Fukuyama104103An<strong>der</strong>s bei Arnold Gehlen:fragte auch er im Titel e<strong>in</strong>es Essays nach dem +Ende<strong>der</strong> Geschichte* – wobei es sich allerd<strong>in</strong>gs um e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> rhetorische Frage handelt. Nach Gehlen


LIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEist nämlich <strong>der</strong> Glaube an den Fortschritt historisch geworden: Die +Verve verrückter Utopien*ist passé(e) (vgl. S. 119). Und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Schrift bekennt er:+Ich exponiere mich also mit <strong>der</strong> Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daßwir im <strong>Post</strong>histoire angekommen s<strong>in</strong>d.* (Über kulturelle Kristallisation; S. 323)Gehlen legt <strong>in</strong> diesem bekannten Aufsatz dar, daß es zu e<strong>in</strong>er Stabilisierung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nenKultur gekommen sei, die <strong>der</strong>en Grundsätze irreversibel festschreibt. Und wie Lyotard glaubtauch Gehlen – allerd<strong>in</strong>gs gestützt auf e<strong>in</strong>e be<strong>in</strong>ahe konträre, +positivistische* Argumentation– an das Ende <strong>der</strong> großen Metaerzählungen:+Das Ende <strong>der</strong> Philosophie im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Schlüsselattitüde kann an Bedeutung schwer überschätztwerden […] Es ist aber auch e<strong>in</strong>e von übersteigerten E<strong>in</strong>zelwissenschaften ausgehende Ersatzreligion[…] nicht mehr real möglich. Jede seriöse Wissenschaft ist so weit <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Geäst von E<strong>in</strong>zelfragestellungenause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gegangen, daß sie sich gegen die Zumutung e<strong>in</strong>er Allkompetenz aufs entschiedenste wehrenwürde, sie hätte dann nämlich überhaupt ke<strong>in</strong>e Sprache.* (Ebd.; S. 316)Für Gehlen ist also die Vorstellung e<strong>in</strong>er <strong>Post</strong>histoire an die unauflösliche Faktizität, an diehistorische (In-)Transzendenz <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriegesellschaftlichen Realität und ihres empiristischenWissenschaftsprogramms gebunden. Doch schon als Gehlen diese These aufstellte, sprachenan<strong>der</strong>e längst von <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft (vgl. z.B. Riesman: Leisure and Work<strong>in</strong> <strong>Post</strong>-Industrial Society).105Wirklich Populär wurde die Rede von <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesell-schaft aber erst <strong>in</strong> den 70er Jahren durch das Ersche<strong>in</strong>en und die Rezeption von zwei Büchern:+Die post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft* (1969)106von Ala<strong>in</strong> Toura<strong>in</strong>e und vor allem Daniel Bellsvielbeachtete Schrift über +Die nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft* (1973). 107Toura<strong>in</strong>es Ansatz ist kritisch und neomarxistisch geprägt. Er begreift die für ihn real gewordenepost<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft als programmierte wie technokratische Gesellschaft, und zunächste<strong>in</strong>mal stellt er – vor allem <strong>in</strong> Abgrenzung zu Riesman – klar:+Es soll <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat nicht gesagt werden, daß e<strong>in</strong>e post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft e<strong>in</strong>e solche ist, die, sobaldsie e<strong>in</strong> bestimmtes Niveau <strong>der</strong> Produktivität […] erreicht hat, sich <strong>der</strong> ausschließlichen Sorge um dieProduktion entheben kann, um e<strong>in</strong>e Konsum- und Freizeitgesellschaft zu werden* (S. 9)Vielmehr s<strong>in</strong>d post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaften dadurch gekennzeichnet, daß das wirtschaftlicheWachstum +mehr durch e<strong>in</strong>en politischen Prozeß als durch wirtschaftliche Mechanismen


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LIIIbestimmt* ist (ebd.; S. 10), und e<strong>in</strong>e jegliche Kritik absorbierende, umfassende kulturelleManipulation stattf<strong>in</strong>det:+Unsere Gesellschaft ist e<strong>in</strong>e Gesellschaft <strong>der</strong> Entfremdung nicht, weil sie die Menschen <strong>in</strong>s Elendstößt […], son<strong>der</strong>n weil sie verführt, manipuliert, <strong>in</strong>tegriert.* (Ebd.; S. 13)Im politischen Bereich bedeutet dies, daß es zu e<strong>in</strong>er +abhängigen Partizipation* kommt (vgl.ebd.). Allerd<strong>in</strong>gs glaubt Toura<strong>in</strong>e, daß die neue Generation – es ist die Zeit <strong>der</strong> Studentenbewegung– sich <strong>der</strong> sozialen Manipulation entziehen können wird:+Die Jugend […] [tritt] <strong>in</strong> den Kampf e<strong>in</strong>, […] weil sie ihr ›Privatleben‹ e<strong>in</strong>er Pseudo-Rationalität entgegenhalten[!],h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> die herrschenden Kräfte Schutz suchen.* (Ebd.; S. 15) 108Das bedeutet für Tourra<strong>in</strong>e, <strong>der</strong> hier ganz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tradition e<strong>in</strong>er fortschrittsgläubigen L<strong>in</strong>kensteht, jedoch nicht das Ende allen Fortschritts- und Wachstumsdenkens:+Die Gesellschaft, die lange Zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zufriedenheit über ihren materiellen Erfolg erstarrt war, verwirftnicht den technischen Fortschritt und das wirtschaftliche Wachstum, son<strong>der</strong>n die Tatsache, daß siee<strong>in</strong>er Macht unterliegt, die sich für […] rational ausgibt […]* (Ebd.)Nicht mehr alle<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, son<strong>der</strong>n immer mehr <strong>der</strong> Konfliktzwischen <strong>der</strong> außerparlamentarischen Opposition <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen und <strong>der</strong>Techno-Bürokratie tritt <strong>in</strong>s Zentrum <strong>der</strong> sgesellschaftlichen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen (vgl. ebd.,S. 23ff.). In diesem Zusammenhang ist <strong>in</strong>teressant, daß bereits Toura<strong>in</strong>e auf +das Verschw<strong>in</strong>den<strong>der</strong> alten kulturellen Grundlagen <strong>der</strong> Gesellschaftsklassen* h<strong>in</strong>weist (ebd.; S. 41) und geradedaraus neue gesellschaftliche Konfliktl<strong>in</strong>ien erwachsen sieht:+Alle diese Konflikte s<strong>in</strong>d von gleicher Natur. Sie schaffen e<strong>in</strong>en Gegensatz zwischen [technokratischenwie bürokratischen] Führern, die von dem Willen geleitet werden, die Produktion zu erhöhen, sichden For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Effektivität anzupassen und den Geboten <strong>der</strong> Macht zu gehorchen, und Individuen,welche nicht so sehr Arbeiter s<strong>in</strong>d, die ihren Lohn verteidigen, als vielmehr Personen und Gruppen,die sich bemühen, den S<strong>in</strong>n ihres persönlichen Lebens aufrecht zu erhalten.* (Ebd.; S. 66)Für Toura<strong>in</strong>e ist also die neue technokratisch-bürokratische Elite <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen GesellschaftGegner im Kampf für e<strong>in</strong> Leben, das sich nicht <strong>der</strong> +hohlen Rationalität <strong>der</strong> Produktion* unter-


LIVPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEordnen will. Geradezu konträr zu dieser Position Toura<strong>in</strong>es steht Daniel Bells Ansatz. Dieserbestimmt die Konturen <strong>der</strong> nach<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft zunächst <strong>in</strong> Abgrenzung zum klassischen<strong>in</strong>dustriellen Kapitalismus, <strong>der</strong> auf dem Privateigentum als Grundkategorie beruhte. Dienach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft steht jedoch auf e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Fundament:+Das Konzept <strong>der</strong> ›nach<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft‹ betont die zentrale Stellung des theoretischen Wissensals Achse, um die sich die neue Technologie, das Wirtschaftswachstum und die Schichtung <strong>der</strong> Gesellschaftorganisieren werden.* (Die nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft; S. 112f.)Konzentrierte sich die vor<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft auf den primären Sektor (d.h. die BereicheBergbau, Fischerei, Forst- und Landwirtschaft dom<strong>in</strong>ierten nahezu ausschließlich das Wirtschaftsgeschehen),so trat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft die Güterproduktion(sekundärer Sektor) <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund. <strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrielle Gesellschaften s<strong>in</strong>d dagegen Dienstleistungsgesellschaften,d.h. <strong>der</strong> tertiäre Sektor nimmt den größten Raum e<strong>in</strong>.109Diese Tendenzzur Dom<strong>in</strong>anz des tertiären Sektors versucht Bell mit e<strong>in</strong>er Fülle von Zahlenmaterial (bezogenauf das Beispiel <strong>der</strong> USA) zu belegen.110Er führt dabei aus, daß sich nicht nur die sektoraleVerteilung <strong>der</strong> Arbeitsplätze gewandelt hat, son<strong>der</strong>n auch Än<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Berufsmusterauszumachen s<strong>in</strong>d, und kommt zu dem Schluß: +Die Vere<strong>in</strong>igten Staaten haben sich zu e<strong>in</strong>erGesellschaft von Kopfarbeitern entwickelt* (ebd.; S. 142). 111Entsprechend konstatiert Bell auch e<strong>in</strong>e neue Klassenstruktur <strong>in</strong> <strong>der</strong> von ihm beschworenenpost<strong>in</strong>dustriellen Wissensgesellschaft. Denn die Dimension des Wissen wird immer bedeuten<strong>der</strong>auch für die soziale Hierarchie. Nicht alles Wissen ist jedoch gleich relevant. Was zählt, istvor allem theoretisches und technologisch verwertbares +know how*. Bell prognostiziert deshalb(<strong>in</strong> Absetzung zu Platon) e<strong>in</strong>e wissensbasierte Drei-Klassengesellschaft:+In Plato[n]s Staat war nur e<strong>in</strong>e Klasse im Besitz des Wissens, die Philosophen, während sich die übrigenBürger <strong>in</strong> die Krieger (Wächter) und die Handwerker aufglie<strong>der</strong>ten. In <strong>der</strong> wissenschaftlichen Geme<strong>in</strong>schaft<strong>der</strong> Zukunft dagegen wird es […] drei [Wissens-]Klassen geben: die schöpferische Elite <strong>der</strong> Wissenschaftlerund akademisch geschulten Spitzenbeamten […]; die Mittelklasse <strong>der</strong> Ingenieure und Professoren;und das Proletariat <strong>der</strong> Techniker, des akademischen Mittelbaus und <strong>der</strong> Assistenten.* (Ebd.; 220)Diese neue Klassenformierung hat auch Auswirkungen auf das politische System. Denn lautBell wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> nach<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft technisches Können die Grundlage und Bildung


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LVden Zugang zu Macht liefern (vgl. ebd.; S. 258). Entgegen Veblen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e technokratischeRevolution voraussagte (vgl. The Eng<strong>in</strong>eers and the Price System), konstatiert Bell jedoch:+Letzendlich hält nicht <strong>der</strong> Technokrat, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er die Macht <strong>in</strong> Händen* (Dienach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft; S. 260). Dabei soll allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong> meritokratisches Pr<strong>in</strong>zip gelten,das aber, wie Bell zugesteht, mit egalitären Gerechtigkeitsvorstellungen <strong>in</strong> Konflikt geratenkann (vgl. ebd.; S. 338ff.). E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es grundsätzliches Dilemma <strong>der</strong> nach<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaftist die sich tendenziell vertiefende Kluft zwischen Kultur (die im Kapitalismus auf Konsumberuht) und Sozialstruktur (die im Gegensatz dazu auf dem Leistungspr<strong>in</strong>zip aufbaut) (vgl.ebd.; S. 363ff.). 112In diesem Konzept <strong>der</strong> nach<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft Bells lassen sich noch (Struktur-)Elemente<strong>der</strong> +klassischen* Industriegesellschaft erkennen. Denn auch, wenn Dienstleistungen den größtenAnteil ausmachen und Wissen immer zentraler wird: Streng genommen bleibt <strong>der</strong> Produktionssektor<strong>der</strong> (wenn auch geschrumpfte) eigentliche Kernbereich – weil schließlich nurweitere Rationalisierungsmaßnahmen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Güter-Produktion die Ausweitung deswissensbasierten Dienstleistungssektors erlauben (bzw. erzw<strong>in</strong>gen). Die Gesellschaft hat beiBell also selbst <strong>in</strong> ihrem post<strong>in</strong>dustriellen (ökonomischen) Entwicklungsstadium noch e<strong>in</strong>ematerielle Basis.Den Rahmen des Materiellen hat die Gesellschaft und Ökonomie <strong>der</strong> Gegenwart dagegenfür Jean Baudrillard bereits gesprengt: Nach ihm leben wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em (posthistorischen)113Zeitalterdes Simulakrums, <strong>in</strong> dem +das Reale und das Imag<strong>in</strong>äre zu e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen operationalenTotalität verschmolzen s<strong>in</strong>d* (Die Simulation; S. 161). +Die Digitalität ist se<strong>in</strong> metaphysischesPr<strong>in</strong>zip […] und die DNS ist se<strong>in</strong> Prophet* (ebd.; S. 153). Umfangreiche Manipulationsmöglichkeitendurch Computertechnologie, Medien und Gentechnik haben nämlich die Unterscheidungzwischen Simulation und Wirklichkeit (angeblich) unmöglich gemacht, und so stellt Baudrillard(wie immer grandios übertreibend) fest:+B<strong>in</strong> ich nun Mensch, o<strong>der</strong> b<strong>in</strong> ich Masch<strong>in</strong>e? Es gibt heute ke<strong>in</strong>e Antwort mehr auf diese Frage […]*(Videowelt und fraktales Subjekt; S.125)Die +Agonie des Realen* (so <strong>der</strong> Titel e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Schrift Baudrillards) führt jedoch nichtzu se<strong>in</strong>er Auslöschung, denn das Reale wird durch die Simulation nur gleichsam verdoppelt:+Die Realität geht im Hyperrealismus unter* (Die Simulation; S. 156), und wir stehen somit


LVIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEvor dem +Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Epoche <strong>der</strong> Hyperrealität* (Das An<strong>der</strong>e selbst; S. 14). Das heißt aberauch:+Der Körper als [realer] Schauplatz, die Landschaft als [realer] Schauplatz, die Zeit als [realer] Schauplatzverschw<strong>in</strong>den mehr und mehr.* (Ebd.; S. 16)Baudrillard gelangt <strong>in</strong> dieser Perspektive zu e<strong>in</strong>er sehr pessimistischen E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong>post<strong>in</strong>dustriellen, posthistorischen Gegenwart:+Die Transzendenz ist <strong>in</strong> Tausende von Fragmenten zerborsten, die wie die Bruchstücke e<strong>in</strong>es Spiegelss<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> denen wir flüchtig noch unser Spiegelbild greifen können, bevor es vollends verschw<strong>in</strong>det[…] In demselben S<strong>in</strong>n können wir heute von e<strong>in</strong>em fraktalen Subjekt sprechen, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vielzahlvon w<strong>in</strong>zigen gleichartigen Egos zerfällt […]* (Videowelt und fraktales Subjekt; S. 113)Mit diesem Bild e<strong>in</strong>es fraktalen Subjekts, das starke Ähnlichkeiten mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong>gangs zitiertenPassage aus Montaignes Essay +Über die Unbeständigkeit <strong>der</strong> menschlichen Handlungen* aufweist,sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Kreis geschlossen, dessen Bogen von <strong>der</strong> (früh)neuzeitlichen Mo<strong>der</strong>ne bis zurnach<strong>in</strong>dustriellen (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne gespannt wurde. Doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Überschrift zu diesem Unterabschnittwurde e<strong>in</strong>e Frage aufgeworfen, die bisher nur unbefriedigend beantwortet wurde:Weitergehende Mo<strong>der</strong>nisierung, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, <strong>Post</strong>histoire, post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft o<strong>der</strong>Spätkapitalismus? – Bevor diese allerd<strong>in</strong>gs auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> dargestellten Ansätze weiterdiskutiert werden kann, steht es noch aus, das Konzept des Spätkapitalismus darzulegen und<strong>in</strong> bezug zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskussion zu br<strong>in</strong>gen.In <strong>der</strong> Bundesrepublik verb<strong>in</strong>den sich mit dem verstärkt Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre propagiertenBegriff +Spätkapitalismus* <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie zwei Namen: Claus Offe und Jürgen Habermas. Offemacht klar (obwohl gewisse Parallelen speziell zu Toura<strong>in</strong>e durchaus festzustellen s<strong>in</strong>d), daßdie Rede vom Spätkapitalismus e<strong>in</strong>e Zurückweisung alternativer Typisierungen +hoch<strong>in</strong>dustrialisierter›westlicher‹ Gesellschaftssysteme* impliziert. Das schließt für ihn auch Begriffewie +post<strong>in</strong>dustrial society* und +post-mo<strong>der</strong>n society* mit e<strong>in</strong> (vgl. Strukturprobleme des kapitalistischenStaates; S. 7f.). Denn nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bezeichnung +Spätkapitalismus* ist nach ihmadäquat ausgedrückt, daß trotz <strong>der</strong> unterschiedlichen Ersche<strong>in</strong>ungsformen des Kapitalismus<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Entwicklungsphasen dem System doch e<strong>in</strong>e identische Bewegungslogikzugrunde liegt, nämlich die (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart durch ihre Latenz nur unsichtbar gewordene)


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LVIIKont<strong>in</strong>uität des Wi<strong>der</strong>spruchs von Arbeit und Kapital. Dieser Kont<strong>in</strong>uität stehen auch die umfangreichenstrukturellen Verän<strong>der</strong>ungen nicht entgegen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat stattgefunden haben, son<strong>der</strong>ndiese s<strong>in</strong>d vielmehr <strong>der</strong> Ausdruck <strong>der</strong> fortbestehenden Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> kapitalistischen Entwicklungslogik:Vor allem sei e<strong>in</strong> Bestreben auszumachen, durch Marktorganisation und staatlicheGlobalregelungen (im Rahmen von Konzepten wie +planification* o<strong>der</strong> +mixed economy*)jene durch die <strong>in</strong>härenten Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus erzeugten Krisentendenzen politischaufzufangen (vgl. ebd.; S. 18–25).Ganz ähnlich argumentiert Jürgen Habermas: Die Wi<strong>der</strong>sprüche des Marktes zwangen zurIntervention des Staates, um das System stabil zu halten (vgl. Legitimationsprobleme imSpätkapitalismus; S. 50f.). Der Grundwi<strong>der</strong>spruch des kapitalistischen Systems konnte so zwarzeitweilig überdeckt, jedoch nicht gelöst werden. Dieser Grundwi<strong>der</strong>spruch führt dazu, +daß[…] entwe<strong>der</strong>• das ökonomische System das erfor<strong>der</strong>liche Maß an konsumierbaren Waren nicht erzeugt[ökonomische Krise], o<strong>der</strong>• das adm<strong>in</strong>istrative System das erfor<strong>der</strong>liche Maß an rationalen Entscheidungen nicht hervorbr<strong>in</strong>gt[Rationalitätskrise], o<strong>der</strong>• das legitimatorische System das erfor<strong>der</strong>liche Maß an generalisierten Motivationen nichtbeschafft [Legitimationskrise], o<strong>der</strong>• das soziokulturelle System das erfor<strong>der</strong>liche Maß an handlungsmotivierendem S<strong>in</strong>n nichtgeneriert [Motivationskrise].* (Ebd.; S. 72)Während im spätkapitalistischen Staat gemäß Habermas ökonomische und Rationalitätskrisen(die zu e<strong>in</strong>er Systemkrise führen) weniger relevant s<strong>in</strong>d, treten umso mehr Legitimations- undMotivationskrisen <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund (vgl. ebd.; 128ff.). Diese Identitätskrisen eröffnen dievage Möglichkeit für e<strong>in</strong> historisch neues Organisationspr<strong>in</strong>zip <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*, dievon Habermas damals (1972) noch eher positiv als Ablösung <strong>der</strong> hochkulturellen Entwicklungsstufe<strong>der</strong> Menschheit verstanden wird (vgl. ebd.; S. 30f.). 114Wenn allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart von den Zusammenhängen zwischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne undSpätkapitalismus die Rede ist, so s<strong>in</strong>d weniger Offe o<strong>der</strong> Habermas die Bezugspunkte desDiskurses, als vielmehr die Ausführungen des Literaturwissenschaftlers und Leiters des +Center


LVIIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEfor Critical Theory* <strong>der</strong> +Duke University*, Fredric Jameson. Und dieser rekurriert se<strong>in</strong>erseitsauch weniger auf Offe und Habermas als auf Ernest Mandel:Für letzteren stellte <strong>der</strong> Spätkapitalismus die dritte Stufe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entwicklung des Kapitalismus(nach dem anfänglichen Kapitalismus <strong>der</strong> freien Konkurrenz und dem imperialistischen Monopolkapitalismus)dar, <strong>in</strong> welcher er als mult<strong>in</strong>ationaler Kapitalismus globale Ausmaße angenommenhat (vgl. Der Spätkapitalismus; <strong>in</strong>sb. S. 46–69 u. S. 289–317).nur grob dargelegte These Mandels formuliert Jameson:115Im Anschluß an diese hier+Jede apologetische o<strong>der</strong> stigmatisierende Stellungnahme zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne auf kultureller Ebene istgleichzeitig und notwendig e<strong>in</strong>e implizite o<strong>der</strong> explizite Stellungnahme zum Wesen des heutigenmult<strong>in</strong>ationalen Kapitalismus.* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Zur Logik <strong>der</strong> Kultur im Spätkapitalismus; S. 47) 116Da <strong>in</strong> diesem mult<strong>in</strong>ationalen Kapitalismus allerd<strong>in</strong>gs die Vere<strong>in</strong>igten Staaten e<strong>in</strong>e Schüsselposition<strong>in</strong>ne haben, konstatiert er:+Festzuhalten ist die Tatsache, daß diese weltweite (und dennoch amerikanische) postmo<strong>der</strong>ne Kulturnichts an<strong>der</strong>es als den spezifischen Überbau <strong>der</strong> allerneuesten Welle globaler amerikanischer MilitärundWirtschaftsvorherrschaft darstellt.* (Ebd.; S. 49)Die kulturelle Praxis dieser +amerikanischen Internationale* (Huyssen) ist für Jameson durchTiefenlosigkeit, Flachheit sowie e<strong>in</strong> Schw<strong>in</strong>den des Affekts gekennzeichnet, was er an diversenBeispielen erläutert (vgl. ebd.; S. 51–60). H<strong>in</strong>zu kommt e<strong>in</strong> nostalgischer und dennochahistorischer Zug <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Kultur, denn gerade mit dem eklektizistischen Historismus<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne erfolgt e<strong>in</strong> +Zusammenbruch von Zeitlichkeit* (vgl. ebd.; S. 72). Die Kulturwird +zunehmend vom Raum und von <strong>der</strong> räumlichen Logik dom<strong>in</strong>iert* (S. 70). Daraus ergebensich Probleme für e<strong>in</strong>e alternative <strong>Politik</strong> (vgl. ebd.; S. 62), und es kommt zum Verlust <strong>der</strong>kritischen Distanz gegenüber dem Horizont <strong>der</strong> Gegenwart (vgl. ebd.; S. 91). So kritisch dieseBemerkungen zur +Logik <strong>der</strong> Kultur im Spätkapitalismus* jedoch wirken mögen – bei Jamesonerfolgt ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Verdammung <strong>der</strong> (post)mo<strong>der</strong>nen Entwicklung, son<strong>der</strong>n er erkenntihre Dialektik an. Die kulturelle Dynamik im Spätkapitalismus ersche<strong>in</strong>t ihm als beides zugleich,als +Katastrophe und als Fortschritt* (ebd.; S. 92).Wie gelangt Jameson zu dieser dialektischen Sichtweise, da er doch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Analyse <strong>der</strong>gegenwärtigen Kultur e<strong>in</strong> <strong>der</strong>art negatives Bild zeichnet? – In <strong>der</strong> Vergangenheit, so Jameson,


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LIXg<strong>in</strong>g man allgeme<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er Autonomie <strong>der</strong> Kunst aus und sah gerade dar<strong>in</strong>e<strong>in</strong>e Möglichkeit zur Transzendierung des Bestehenden. Im Spätkapitalismus gilt diese Autonomie<strong>der</strong> Kunst nicht mehr. An<strong>der</strong>s als z.B. Horkheimer und Adorno sieht er allerd<strong>in</strong>gs nicht diekulturelle Produktion total e<strong>in</strong>er ökonomischen Zweckrationalität untergeordnet (vgl. Dialektik<strong>der</strong> Aufklärung; S. 128ff.), son<strong>der</strong>n:+Die Auflösung e<strong>in</strong>es autonomen Kulturbereichs kann im Gegenteil als Aufsprengung verstanden werden;als ungeheure Expansion <strong>der</strong> Kultur <strong>in</strong> alle Lebensbereiche, <strong>der</strong>art, daß man sagen kann, daß alles<strong>in</strong> unserem gesellschaftliche Leben, vom ökonomischen Wertgesetz und <strong>der</strong> Staatsgewalt bis zu den<strong>in</strong>dividuellen Handlungs- und Verhaltensweisen […] zu ›Kultur‹ geworden ist.* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 93)E<strong>in</strong>e neue, subversive Form politischer Kunst, die ihm durchaus möglich ersche<strong>in</strong>t und die<strong>in</strong> die Lage versetzt, die verlorene kritische Distanz wie<strong>der</strong>zuf<strong>in</strong>den, muß bei dieser Erkenntnisansetzen und +wird es mit <strong>der</strong> ›Wahrheit‹ <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne halten, das heißt festhalten müssen[…] am neuartigen Welt-Raum des mult<strong>in</strong>ationalen Kapitals* (ebd.; S. 99f.).Kann diese Feststellung Jamesons zur Erhellung <strong>der</strong> Frage, ob wir es <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Situationmit e<strong>in</strong>em Prozeß weitergehen<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung zu tun haben o<strong>der</strong> ob wir uns doch vielleicht<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nachhistorischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne bef<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form beitragen? – Ich glaubeja. Denn wie immer man auch die Gegenwart bezeichnen will: Nur wer <strong>der</strong> +Tatsache* <strong>der</strong>Globalisierung Rechnung trägt, kann sich s<strong>in</strong>nvoll auf <strong>Politik</strong> und Gesellschaft beziehen, dieimmer weniger mit dem +altbewährten* Nationalstaat <strong>in</strong> Deckung kommt.117Genau jene vonOffe, Habermas und an<strong>der</strong>en <strong>in</strong> den 70er Jahren behauptete staatliche Organisation desKapitalismus ist durch die Ausweitung <strong>der</strong> Märkte und die Emergenz tatsächlich mult<strong>in</strong>ationalerKonzerne <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart wi<strong>der</strong>sprüchlich geworden (ohne daß diese allerd<strong>in</strong>gs alswirtschaftspolitische Option – vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form des Protektionismus – aufgegeben wordenwäre). Die Frage nach <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* muß also immer die (kuturelle)Logik <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im (globalisierten) Spätkapitalismus berücksichtigen.Da <strong>in</strong> dieser spät- und nicht postkapitalistischen Welt Kommunikation und Wissen e<strong>in</strong>e immerzentralere Rolle spielen – wie ich <strong>in</strong> Anschluß an die (Vor)aussagen von Bell und Lyotardbehaupten möchte – ist die Gesellschaft <strong>der</strong> Gegenwart, zum<strong>in</strong>dest was die +fortgeschrittenen*Regionen im +Zentrum* des <strong>in</strong>ternationalen Systems betrifft, auf dem Weg (und vielleichtschon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zielgerade) zur post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft. Doch wie schon im Kontext <strong>der</strong>


LXPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEDiskussion von Bells Thesen kurz angesprochen wurde: Im Kern wird auch die post<strong>in</strong>dustrielleGesellschaft Industriegesellschaft bleiben, so wie die <strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft im Kern Agrargesellschaftgeblieben ist. Denn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zukunft ist das Wissen (genau wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit)– ökonomisch betrachtet – nur Mittel zum Zweck <strong>der</strong> Bereitstellung <strong>der</strong> materiellen Basis<strong>in</strong> <strong>der</strong> (trivialen) Form von Nahrungsmitteln und Konsumgütern, die durch ke<strong>in</strong>e Überbaukonstruktionzu ersetzen s<strong>in</strong>d. Selbst die S(t)imulation im Simulakrum ist auf den Simulatorangewiesen und auch die +virtuelle Realität* <strong>der</strong> Netze und des +Cyberspace* ist ganz realHardware-abhängig.Allerd<strong>in</strong>gs: Die aktuell festzustellende Ausdehnung des Kommunikations- und Informationssektorswird weiterh<strong>in</strong> und verstärkt für e<strong>in</strong>en tiefgründigen sozialen Wandel sorgen. Deshalb möchteich <strong>in</strong> kritischer Anlehnung an Becks These von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, <strong>der</strong> nicht mehr <strong>in</strong>dustriegesellschaftlichen+zweiten Mo<strong>der</strong>ne* (siehe auch nochmals S. XLIII) die These von e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>enIndustriegesellschaft aufstellen, die jedoch erst im weiteren Verlauf schärfere Konturen gew<strong>in</strong>nenwird. Das Schlüsselargument wurde ja bereits oben genannt – auch die post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaftmuß im Kern Industriegesellschaft bleiben, weil jede Gesellschaft auf die Produktionvon Gütern angewiesen ist und gerade die post<strong>in</strong>dustrielle Wissens- und Kommunikationsgesellschafte<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dustrielle Grundversorgung (nicht nur mit Kommunikationstechnologie) verlangt.Die Transformation bezieht sich also eher auf die dom<strong>in</strong>ante äußere Form (immaterielleProduktion), denn auf die <strong>in</strong>nere Logik ihrer Ökonomie (materielle Akkumulation). Daherergibt sich e<strong>in</strong>e Spannung zwischen Form und Inhalt <strong>der</strong> Ökonomie. Diese Spannung läßtdie Industriegesellschaft paradox werden: Wir haben es mit e<strong>in</strong>er post<strong>in</strong>dustriellen Industriegesellschaftzu tun.In e<strong>in</strong>em ganz ähnlichen S<strong>in</strong>n wurde bereits zu Beg<strong>in</strong>n dieses Abschnitts dargelegt, daß weitergehendeMo<strong>der</strong>nisierung – aufgrund <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses– zur Steigerung auch <strong>der</strong> gesellschaftlichen Wi<strong>der</strong>sprüche führt (siehe S. XLII). Differenzierungund Individualisierung, Rationalisierung und Domestizierung machen nicht etwa Halt, son<strong>der</strong>ngew<strong>in</strong>nen nur an Ambivalenz. Und auch wenn es, wie immer häufiger zu beobachten ist,zu gegenmo<strong>der</strong>nen Reflexen durch e<strong>in</strong>en erstarkenden Fundamentalismus und Ethnonationalismuskommt, ist mit dem Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als weitere zivilisatorisch-technische und sozial-kulturelleMo<strong>der</strong>nisierung (so schnell) nicht zu rechnen. Die also gerade durch fortschreitende Mo<strong>der</strong>nisierungsprozessevielfach wi<strong>der</strong>sprüchliche gewordene Situation ist nicht geeignet den Gang


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXI<strong>der</strong> Geschichte zum Stillstand zu br<strong>in</strong>gen, son<strong>der</strong>n enthält im Gegenteil e<strong>in</strong> erheblichesKonfliktpotential. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne kann me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach deshalb nicht e<strong>in</strong>fach als <strong>Post</strong>histoire,als die bedeutungslose Wie<strong>der</strong>kehr des immer Gleichen aufgefaßt werden. Noch schwererfreilich wiegt e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er E<strong>in</strong>wand: Erst durch die Historisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, die sich selbstschließlich nicht als historisch, son<strong>der</strong>n gerade als posthistoristisch begreift (siehe nochmalsS. XIIIf. und vgl. auch Sloterdijk: Nach <strong>der</strong> Geschichte; S. 272), kann die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als<strong>Post</strong>histoire <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung treten. In diesem S<strong>in</strong>n wäre die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne geradezu die Erfüllungdes Anspruchs <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf Überzeitlichkeit. Damit aber zeigt sich: Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne,als E<strong>in</strong>stellung zur Mo<strong>der</strong>ne und ihres +Zeithorizonts*, war als Möglichkeit (nicht als Telos)schon immer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne enthalten. O<strong>der</strong> von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite betrachtet: Sie hat dieMo<strong>der</strong>ne zur Voraussetzung. Ohne Mo<strong>der</strong>ne ke<strong>in</strong>(e) +<strong>Post</strong>*. 118Hiermit ist gleichzeitig e<strong>in</strong>e wichtige Unterscheidung angedeutet. Man kann (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>nezum e<strong>in</strong>en auf strukturell-soziologischer Ebene konzeptionalisieren, was sich <strong>in</strong> Begriffen wie+Differenzierung*,+Individualisierung*,+post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft*und +Kommunikationsgesellschaft*etc. ausdrückt. Zum an<strong>der</strong>en gibt es die Bewußtse<strong>in</strong>sdimension des (post)mo<strong>der</strong>nenDenkens, das se<strong>in</strong>e Wurzeln <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ambivalenz des Rationalisierungs- und Domestizierungsprozesseshat. Je nach <strong>der</strong> Ausprägung dieses Bewußtse<strong>in</strong>s, das die stattf<strong>in</strong>denden strukturellenVerän<strong>der</strong>ungen spiegelt o<strong>der</strong>, <strong>in</strong>dem es sie durch ihr Erkennen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Weise(re)konstruiert, auch vielleicht nur vorspiegelt, kann man von e<strong>in</strong>er euphorischen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>erskeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne sprechen – wobei es me<strong>in</strong>es Erachtens allerd<strong>in</strong>gs wünschenswertwäre, daß e<strong>in</strong>e +authentische* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, d.h. e<strong>in</strong>e sich auf sich selbst beziehende, reflexiveMo<strong>der</strong>ne, an die Stelle e<strong>in</strong>seitiger Euphorie und Skepsis tritt. Was mit diesem seltsam anmutendenBegriff e<strong>in</strong>er +authentischen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne genau geme<strong>in</strong>t ist, wird jedoch erst zum Schlußdieses Prologs näher erläutert werden. Zunächst sollen e<strong>in</strong>ige exemplarisch ausgewählte Positionen<strong>der</strong> euphorischen und <strong>der</strong> skeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne kurz dargelegt werden.


LXIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEDAS LOB DER VIELHEIT – DIE EUPHORISCHE POSTMODERNEDie Unterscheidung zwischen euphorischer und skeptischer <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ersche<strong>in</strong>t zunächstbanal. Schließlich gibt es immer die grundsätzliche Möglichkeit e<strong>in</strong>er begrüßenden o<strong>der</strong> eherablehnenden Haltung gegenüber e<strong>in</strong>er Entwicklung. Was die kulturellen und philosophischenManifestationen des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus betrifft, so wird im Kontext des deutschsprachigenMo<strong>der</strong>ne-<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskurses meist <strong>in</strong> Anlehnung an Habermas und vor allem Kamperzwischen e<strong>in</strong>em affirmativen (posthistoristischen) <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus und e<strong>in</strong>er (ideologie-)kritischenE<strong>in</strong>stellung zum postmo<strong>der</strong>nen Denken und zur postmo<strong>der</strong>nen Kultur unterschieden (vgl.Habermas: Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt; S. 46 und Kamper: Nach <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne;S. 168ff.). Im anglo-amerikanischen Bereich rekurriert man <strong>in</strong> ganz ähnlicher Weise auf HalFosters Differenzierung zwischen e<strong>in</strong>em oppositionellen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus des Wi<strong>der</strong>standsund e<strong>in</strong>em <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus <strong>der</strong> Reaktion (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism – A Preface; S. XII).Warum wird hier e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Term<strong>in</strong>ologie zur Charakterisierung <strong>der</strong> möglichen Reaktionsweisenund Orientierungen auf den und des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus gewählt? – Die Bezeichnungen +affirmativ*und +kritisch* be<strong>in</strong>halten me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach e<strong>in</strong>e (<strong>in</strong> dieser Weise ungerechtfertigte) Bewertung<strong>der</strong> jeweiligen Position. E<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> affirmative Haltung, die unkritisch bejaht, ersche<strong>in</strong>tschließlich von vorne here<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweifelhaften Licht. Zudem setzen die Begriffe +Affirmation*und +Kritik* e<strong>in</strong> <strong>der</strong> Entscheidung zu Affirmation o<strong>der</strong> Kritik zugrunde liegendes impliziteso<strong>der</strong> explizites Interesse voraus. Im Begriffspaar euphorisch-skeptisch ist dagegen auch e<strong>in</strong>eemotionale Komponente enthalten, die nach me<strong>in</strong>er Auffassung die eigentlichen Gründe fürdie Begrüßung o<strong>der</strong> Ablehnung postmo<strong>der</strong>nistischen Denkens und spätmo<strong>der</strong>ner Kultur-Phänomenebesser spiegelt. Was die Unterscheidung Fosters zwischen oppositionellem und reaktionärem<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus betrifft, so ist diese zwar ohne Zweifel s<strong>in</strong>nvoll (vor allem <strong>in</strong> bezugauf die noch zu behandelnden politischen Implikationen des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus). An<strong>der</strong>erseitsbe<strong>in</strong>haltet sie – wie noch deutlich werden wird – die Schwierigkeit, daß e<strong>in</strong>ige Äußerungsformendes <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus gleichzeitig reaktionär und oppositionell zu nennen wären.So weit, so gut? – Ne<strong>in</strong>, denn wer von euphorischer und skeptischer <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne spricht,<strong>der</strong> setzt diese als real gegeben voraus und identifiziert zudem die kulturelle Bewegung des+<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus* mit dem Epochenbegriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*. Damit wird neben dem Gebrauche<strong>in</strong>er +unsauberen* Term<strong>in</strong>ologie e<strong>in</strong> wesentliches Element <strong>der</strong> Kritik am <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismusausgeblendet: nämlich daß die +schöne neue Welt* <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne hauptsächlich <strong>in</strong> den


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXIIIKöpfen ihrer (<strong>in</strong>tellektuellen) Propagatoren existiert.119Diese Kritik hat jedoch selbst e<strong>in</strong> Problem:daß es die postmo<strong>der</strong>nen Theoretiker (und Praktiker) überhaupt gibt.Aus idealistischer Sicht betrachtet hat jede Idee, schon alle<strong>in</strong>e weil sie Idee ist, +Wirklichkeit*.<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist demgemäß mit <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Der E<strong>in</strong>wand, daß nicht jedeIdee gleich +wirklich* ist, trifft nicht. Denn er setzt ja voraus, daß es e<strong>in</strong>e +Wirklichkeit* außerhalbdes Bereichs <strong>der</strong> Ideen gibt, an dem <strong>der</strong> +Realitätsgehalt* e<strong>in</strong>er spezifischen Idee gemessenwerden könnte. Allerd<strong>in</strong>gs ist diese Argumentation zirkulär und wenig geeignet zu überzeugen,wenn man ihre Prämissen nicht teilt.Aus materialistischer Sicht wie<strong>der</strong>um (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> Spielart des Historischen Materialismus)ist jede Idee Ausdruck <strong>der</strong> wie auch immer gearteten (tat)sächlichen Verhältnisse. Die Vorstellunge<strong>in</strong>er <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist also nur möglich, wenn das Se<strong>in</strong> (die ökonomische Basis, die gesellschaftlichenVerhältnisse etc.) die Idee <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne nicht nur erlaubt, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> gewisserWeise erst produziert. Allerd<strong>in</strong>gs könnte es sich bei dieser Idee um sogenanntes +falschesBewußtse<strong>in</strong>* handeln. Doch auch das falsche Bewußtse<strong>in</strong> ist (<strong>in</strong> marxistischer Sicht) als Ideologienicht nur notwendig falsch, son<strong>der</strong>n auch faktisch funktional zur Aufrechterhaltung <strong>der</strong> sozialenMachtverhältnisse.120Damit sie dies leisten kann, muß sie e<strong>in</strong> Moment <strong>der</strong> +Wahrheit* enthalten.E<strong>in</strong>e Ideologie ist gemäß dieser Vorstellung die Behauptung des +Richtigen* im Dienst des+Falschen* – o<strong>der</strong> schließt doch zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Element zur Transzendierung dieses +Falschen*e<strong>in</strong>. Nur auf dieser Basis ist Ideologiekritik überhaupt möglich. 121Wenn ich nun von euphorischer o<strong>der</strong> skeptischer <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne spreche, so soll dies nichtaussagen, daß es sich nicht (und dies <strong>in</strong> beiden Fällen) um im ideologischen Sche<strong>in</strong> gefangene+Zeitgeister* handeln kann, die sich hier Ausdruck verleihen, son<strong>der</strong>n nur, daß e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung<strong>der</strong> (äußeren) Verhältnisse e<strong>in</strong>getreten ist, die das Aufkommen e<strong>in</strong>es sich als postmo<strong>der</strong>nverstehenden Denkens ermöglichte. Alle<strong>in</strong>e, aber immerh<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n ist <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne+real* und gleichzeitig identisch mit ihrer kulturellen (Gegen-)Bewegung: dem (Anti-)<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus.Diese Vorbemerkungen erschienen mir angebracht, um klarzumachen, aufgrund welcher(Voraus)setzungen ich me<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen euphorischer und skeptischer <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>netreffe. Doch nun endlich zur näheren Charakterisierung <strong>der</strong> +euphorischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*:Man kann diese auch als eigentliche <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne bezeichnen, denn wenn (dieVertreter <strong>der</strong> skeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne) meist abschätzig von +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nisten* o<strong>der</strong> gar


LXIVPOLITIK IN DER (POST-)MODERNE+<strong>Post</strong>is* (Habermas) sprechen, so s<strong>in</strong>d jene geme<strong>in</strong>t, die sich die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne direkt o<strong>der</strong><strong>in</strong>direkt auf die Fahnen geschrieben haben. E<strong>in</strong>e Reihe dieser Autoren wurde bereits vorgestellt.Hier noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e kurze Rekapitulation:Leslie Fiedler (siehe S. XLIV) for<strong>der</strong>te neue, weniger elitäre Formen <strong>der</strong> Literatur und Kunst<strong>in</strong> unserer Zeit +freudvoller Misologie und prophetischer Verantwortungslosigkeit* (Überquertdie Grenze, schließt den Graben!; S. 58) – e<strong>in</strong>e Zeit, die er lustvoll begrüßt, weil sie Räumefür Phantasie und Leidenschaft eröffnet. Die Literatur, die e<strong>in</strong>em solchen Zeitbewußtse<strong>in</strong>entströmt, ist +e<strong>in</strong>e fortdauernde Offenbarung, die e<strong>in</strong>er permanenten religiösen Revolutionentspricht, <strong>der</strong>en Funktion es genau ist, die weltliche Masse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e heilige Geme<strong>in</strong>de zuverwandeln, mit sich selbst e<strong>in</strong>s und gleichermaßen zu Hause <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Technologieund im Reich des Wun<strong>der</strong>s* (ebd.; S. 73).Charles Jencks trat im Bereich <strong>der</strong> Architektur (allerd<strong>in</strong>gs weniger pathetisch) für e<strong>in</strong>en radikalenEklektizismus e<strong>in</strong>, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> den urbanen Kontext e<strong>in</strong>paßt und ihn gleichzeitig erweitert(vgl. Die Sprache <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Architektur; S. 94 und siehe auch S. XLVf.). Achille BonitoOliva (siehe S. XLIV) propagierte e<strong>in</strong>e Trans-Avantgarde, die sich vielfältig auffächert und+<strong>der</strong> Kunst e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>in</strong> alle Richtungen erlaubt* (Die italienische Trans-Avantgarde;S. 127). Paul Feyerabend wie<strong>der</strong>um (siehe S. XLVI) plädierte für e<strong>in</strong>en +heiteren methodischenAnarchismus*. Differenz, Diskont<strong>in</strong>uität und Dekonstruktion standen im Mittelpunkt <strong>der</strong>Philosophie von Foucault (siehe S. XLVIIff.) und Derrida (siehe S. XLVIII). Lyotard, <strong>der</strong> bedeutendste+postmo<strong>der</strong>ne* Philosoph, sah das Ende <strong>der</strong> Metaerzählungen gekommen und stelltean ihre Stelle e<strong>in</strong>e Pluralität <strong>der</strong> Sprachspiele (siehe S. XLIXff.).Aus vielen dieser Ansätze spricht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong>e gewisse Euphorie, e<strong>in</strong>e Begrüßung <strong>der</strong> Chancen,die das Neue – für das hier die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne steht – eröffnet. Es handelt sich jedoch zumeistnicht um wirklich e<strong>in</strong>seitige Hymnen auf das +goldene postmo<strong>der</strong>ne Zeitalter*, son<strong>der</strong>n esf<strong>in</strong>den sich auch nachdenkliche Elemente. Dies gilt speziell für die Philosophie Lyotards.Die unreflektierte (Nach-)Lässigkeit des grassierenden <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus ist ihm suspekt (vgl.Der Wi<strong>der</strong>streit; S. 12) und die jenem entsprechende oberflächliche Beliebigkeit charakterisierter als +zynischen Eklektizismus* (vgl. Immaterialität und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 38).Welsch bezeichnet die hier von Lyotard gebrandmarkte Spielart <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Bewegungals +diffusen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus* (vgl. Unsere <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 2ff.).122Gerade beiWelsch läßt sich aber auch e<strong>in</strong> euphorisches Element aufweisen. Dies kann anhand e<strong>in</strong>iger


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXVZitate belegt werden. Zunächst jedoch zum – <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht durchaus typischen – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Konzeptvon Welsch, das Pluralität <strong>in</strong>s Zentrum stellt.123Bei ihm heißt es:+<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne wird hier als Verfassung radikaler Pluralität verstanden, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus als <strong>der</strong>enKonzeption verteidigt.* (Ebd.; S. 4)Diese Aussage trifft sich im Kern mit dem ebenfalls +pluralistischen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Konzeptvon Ihab Hassan. Hassan, auf den bisher nur kurz e<strong>in</strong>gegangen wurde (siehe S. XLIV) und<strong>der</strong> schon relativ früh (Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre) als Literatur-Kritiker zur Thematik Stellung bezog(z.B. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Essay +POSTmo<strong>der</strong>nISM*), entwickelte nicht nur e<strong>in</strong> Verständnis für den <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismusals e<strong>in</strong> umfassendes kulturelles Phänomen (vgl. Toward a Concept of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism)– <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en späteren Schriften zur postmo<strong>der</strong>nen Kultur stellte er ihren Doppelcharakterheraus: Zum e<strong>in</strong>en sei e<strong>in</strong>e zunehmende Unbestimmtheit (<strong>in</strong>determ<strong>in</strong>acy) auszumachen,die sich <strong>in</strong> Ambiguität, Diskont<strong>in</strong>uität, Heterodoxie etc. äußert. Zum an<strong>der</strong>ensei e<strong>in</strong>e neue (a)gnostische124Immanenz gegeben, die dar<strong>in</strong> besteht, daß <strong>der</strong> Mensch se<strong>in</strong>e(technischen) Fähigkeiten zum E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die Natur ausbaut und sich durch symbolische Abstraktionimmer mehr auch e<strong>in</strong>e eigene Welt (<strong>der</strong> Fiktionen) erschafft (vgl. ebd.; S. 92ff. sowieausführlicher: Culture, Indeterm<strong>in</strong>acy, and Immanence). 125In <strong>der</strong> Zusammenschau mit weiteren, lei<strong>der</strong> ebensowenig wirklich erhellenden Merkmalenzieht er den Schluß, daß e<strong>in</strong> kritischer Pluralismus tief <strong>in</strong> das Feld postmo<strong>der</strong>ner Kulture<strong>in</strong>gelassen ist (vgl. Pluralism <strong>in</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nist Perspective; S. 173).126Und trotz aller auchvon Hassan gesehenen Ambivalenz dieser Kultur: Für ihn gibt es +ke<strong>in</strong>e [an<strong>der</strong>e] Alternative,als das Konzept <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne für die Zukunft offen zu halten, obwohl <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne selbst[d.h. als Kunst- und Architekturstil] vielleicht schon <strong>der</strong> Geschichte angehört* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>neheute; S. 56). 127Noch e<strong>in</strong>deutiger heißt es bei Welsch: +Die postmo<strong>der</strong>ne Vielfalt ist als grundlegend positivesPhänomen zu begreifen. Wer verlorener E<strong>in</strong>heit nachtrauert, trauert e<strong>in</strong>em – wie immer auchsublimen – Zwang nach.* (Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 40) Deshalb stellt er resümierendfest: +Der <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus kann die Empf<strong>in</strong>dung vieler teilen, daß die Gesellschaft e<strong>in</strong>eneue Begeist(er)ung brauche.* (Ebd.; S. 184) Gerechterweise sollte man allerd<strong>in</strong>gs anmerken,daß die von Welsch geme<strong>in</strong>te +Begeist(er)ung* sich aus e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Geist speist als beiHassan, <strong>in</strong> dessen frühen Schriften e<strong>in</strong>e deutliche, unkritische Technologie-Fasz<strong>in</strong>ation zu


LXVIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEspüren ist.128Und Welsch ist auch nicht dem eigentlich und primären <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismuszuzurechnen, ist eher (brillanter) Interpret als postmo<strong>der</strong>ner +Avantgardist* – wenn dieserBegriff hier erlaubt ist. Es handelt sich bei ihm und e<strong>in</strong>igen an<strong>der</strong>en +aufgeschlossenen*Rezipienten <strong>der</strong> (primären) <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Entwürfe aus den 70er Jahren also gewissermaßenum e<strong>in</strong>e +sekundäre Euphorie*. Ich möchte hier jedoch nicht näher auf diesen Strang e<strong>in</strong>ereuphorischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne e<strong>in</strong>gehen, da sich die +primäre* und die +sekundäre* euphorische<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> ihrer Grundorientierung weitgehend decken. Sie alle s<strong>in</strong>gen – verkürzt dargestelltund zusammengefaßt – das +Lob <strong>der</strong> Vielheit* und zeichnen sich durch e<strong>in</strong>e emphatischeBegrüßung o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e emotionale Aff<strong>in</strong>ität zu jener neuen +Epoche <strong>der</strong>Wi<strong>der</strong>streite* aus.Es gibt aber noch e<strong>in</strong>e weitere Spielart e<strong>in</strong>er euphorischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, die hier geradezue<strong>in</strong>e Gegenposition e<strong>in</strong>nimmt. Es handelt sich dabei freilich um e<strong>in</strong>en <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus imprämo<strong>der</strong>nen Bewußtse<strong>in</strong>. An<strong>der</strong>erseits versteht man sich explizit als postmo<strong>der</strong>n, und dasEnde <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität wird dezidiert begrüßt. Nur: Welches Mo<strong>der</strong>nitätsverständnis liegt hierzugrunde? – Das verwendete Schlagwort vom +Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität* ist zugleich (<strong>der</strong> mite<strong>in</strong>em Fragezeichen versehene) Titel e<strong>in</strong>es Essays von Robert Spaemann, <strong>in</strong> dem jener siebenCharakteristika <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne aufzählt:1291. das Verständnis von Freiheit als Emanzipation,2. den Mythos vom notwendigen und unendlichen Fortschritt, 3. e<strong>in</strong> Programm progressiverNaturbeherrschung, 4. wissenschaftlichen Objektivismus, 5. die Homogenisierung <strong>der</strong> Erfahrung(durch Empirie), 6. die Hypothetisierung des Wissens und 7. e<strong>in</strong>en naturalistischen Universalismus(vgl. Das Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität?; S. 19–30).Man mag über diese Kennzeichen im e<strong>in</strong>zelnen streiten und e<strong>in</strong>ige stehen auch im Wi<strong>der</strong>spruchzue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> (wie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die letzten Punkte zeigen). Wichtig ist jedoch, daß Spaemanne<strong>in</strong>e Krise so verstandener Mo<strong>der</strong>nität konstatiert. Als Belege gelten ihm das zunehmen<strong>der</strong>wachende ökologische Bewußtse<strong>in</strong> und die immer breitere Infragestellung <strong>der</strong> wissenschaftlichenVernunft. Das hier vorf<strong>in</strong>dbare Mo<strong>der</strong>ne-Verständnis deckt sich <strong>in</strong>soweit mitdem kritischen Mo<strong>der</strong>ne-Verständnis <strong>der</strong> primären und sekundären <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Ganz an<strong>der</strong>sstellt es sich h<strong>in</strong>gegen dar, wenn man sich die Vorschläge betrachtet, was an die Stelle <strong>der</strong>(zu überw<strong>in</strong>denden) Mo<strong>der</strong>nität treten soll. Spaemann enthält sich hier zwar weitgehende<strong>in</strong>em Urteil und me<strong>in</strong>t: +Philosophie kann vielleicht sagen, was ist, und zu verstehen versuchen,wie es geworden ist. Das Kommende zu denken darf sie sich nicht anmaßen […] Se<strong>in</strong>e


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXVIIAntizipation ist eher Sache <strong>der</strong> Kunst.* (Ebd.; S. 39f.) E<strong>in</strong>ige Anhaltspunkte gibt er uns zumGlück aber doch:+Das bloß anarchistische Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> subjektiver Verhaltensweisen […] wird vielleicht zu e<strong>in</strong>ervorübergehenden Erschütterung <strong>der</strong> wissenschaftlichen Rationalität […] führen. Aber es wird letztenEndes diese Rationalität nicht nur nicht zerstören, son<strong>der</strong>n eher konsolidieren. Die so sich etablierenden›Nischenkulturen‹ […] werden […] selbst rational verwaltet […] Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität wirde<strong>in</strong>e lautlosere und unsche<strong>in</strong>barere Form haben […] Erst wenn die Krisenerfahrung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nitätdie Gestalt <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung e<strong>in</strong>er nichtmediatisierbaren, nicht verwaltbaren und nicht funktionalisierbarenUnbed<strong>in</strong>gtheit gew<strong>in</strong>nt, <strong>der</strong> Unbed<strong>in</strong>gtheit des Religiösen, des Sittlichen und des Künstlerischen,erst dann kann von <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>tegralen Erfahrungsbegriffs gesprochen werden.*(Ebd.; S. 35f.)Damit ist auch gesagt, um was es Spaemann eigentlich geht: um die Wie<strong>der</strong>herstellung desVergangenen, um die Wie<strong>der</strong>gew<strong>in</strong>nung e<strong>in</strong>es verloren Glaubten. Und er ist mit diesem Ans<strong>in</strong>nennicht alle<strong>in</strong>e. Ähnlich wie <strong>der</strong> (christliche) <strong>in</strong>dische Religionsphilosoph Raimon Panikkar e<strong>in</strong>e+Rückkehr zum Mythos* (1979) for<strong>der</strong>t, so bemerkt auch Kurt Hübner zu den +Aufgaben <strong>der</strong><strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>ne nach <strong>der</strong> Neubestimmung von Wissenschaft und Mythos*:+Der Versuch, alles Mythische <strong>in</strong>s Reich <strong>der</strong> Fabel […] zu verweisen, ist also theoretisch ebenso gescheitertwie <strong>der</strong> Versuch, <strong>der</strong> Wissenschaft den alle<strong>in</strong>igen Zugang zur Wahrheit zuzuweisen. Die <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>neaber wird zwangsläufig <strong>in</strong> dieser theoretischen E<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>en Ansatz erkennen, des Zwiespalts Herrzu werden, von dem die Mo<strong>der</strong>ne geprägt ist.* (Wissenschaftliche Vernunft und <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>ne; S. 78)Hier zeigt sich sogar e<strong>in</strong>e gewisse Parallelität zu den sprachphilosophischen Gedanken <strong>der</strong>vorgestellten Vertreter <strong>der</strong> französischen +nouvelle philosophie* und zu Feyerabend. Diesgilt auch für folgende Formulierung von Peter Koslowski:+Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne enthält e<strong>in</strong> Moment <strong>der</strong> Befreiung, weil er aus den Obsessionen <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>ne [aus Vernunftvergottung wie Vernunftverzweiflung] herauszuführen vermag […] Es geht umdie Wie<strong>der</strong>gew<strong>in</strong>nung <strong>der</strong> gesamten geistigen Vermögen und Wissensformen des Menschen.* (DieBaustellen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 7f.)Doch trotz aller Berührungspunkte: E<strong>in</strong>em Zwiespalt Herr werden zu wollen, wie Hübnerformuliert, entspricht nicht dem Selbstverständnis <strong>der</strong> primären und sekundären (euphorischen)


LXVIIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong>n für <strong>der</strong>en Vertreter gilt es vielmehr, Wi<strong>der</strong>sprüche auszuleben undauszuhalten. Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Vokabel ist hier deshalb <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die Projektion <strong>der</strong>Hoffnung auf die Restauration e<strong>in</strong>er religiös-ideell fundierten und <strong>in</strong>spirierten Gesellschaft<strong>der</strong> Synthese und <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit. Dieser <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus prämo<strong>der</strong>ner Prägung ist ke<strong>in</strong> ausschließlichdeutsches Phänomen. Er zeigt sich ebenfalls, wenn beispielsweise Fre<strong>der</strong>ick Turnervon e<strong>in</strong>er Wie<strong>der</strong>geburt religiöser Werte spricht (vgl. Rebirth of Value; S. 83ff.)e<strong>in</strong>igen Spielarten des Kommunitarismus. 131130o<strong>der</strong> <strong>in</strong>WIDER DIE BELIEBIGKEIT – DIE SKEPTISCHE POSTMODERNEDie euphorische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner Prägung lehnte das plural(istisch)e <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Konzept <strong>der</strong> primären und sekundären <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ab. In dieser Ablehnung trifft sie sichmit <strong>der</strong> hier darzustellenden skeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, die sich allerd<strong>in</strong>gs selbst nicht alszur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne gehörig begreift. Um es jedoch noch e<strong>in</strong>mal klar zu sagen: Auch e<strong>in</strong>e <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus-skeptischeDenkhaltung ist zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht Ausdruck und Element<strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*. Denn die ablehnende Haltung gegenüber dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus unddie Heftigkeit <strong>der</strong> Reaktionen auf se<strong>in</strong>e Entwürfe erklärt sich gerade aus dem Bewußtse<strong>in</strong>,daß es mit dem Gewesenen e<strong>in</strong> für alle Mal vorbei se<strong>in</strong> könnte. Dieses Bewußtse<strong>in</strong> sprichtauch Walther Zimmerli aus, wenn er beklagt:+In <strong>der</strong> Tat spricht vieles dafür, daß wir es <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne mit e<strong>in</strong>er Auflösung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit unde<strong>in</strong>er Ersetzung <strong>der</strong>selben durch Vielheit und Buntheit zu tun haben. Alle alten Werte, alles Heiligeund Überlieferte sche<strong>in</strong>t entwertet zu se<strong>in</strong> […]* (Das antiplatonische Experiment; S. 19)Wie bei Spaemann, Hübner und Koslowski zeigt sich im Denken Zimmerlis e<strong>in</strong> (christlichgeprägter) Prämo<strong>der</strong>nismus. Die +postmo<strong>der</strong>ne* Pluralität ist Zimmerli aber nicht nur suspekt,son<strong>der</strong>n ersche<strong>in</strong>t ihm geradezu als Chimäre, und er betont, daß Vielheit +immer und unablösbaran die E<strong>in</strong>heit geknüpft* ist (ebd.; S. 19). Dies gilt auch für die (postmo<strong>der</strong>ne) Gegenwart:+Statt im Bereich des theoretisch-praktisch-religiös Ideellen f<strong>in</strong>det sich diese E<strong>in</strong>heit nun auf<strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Ersche<strong>in</strong>ungen.* (Ebd.; S. 21)Darum ist <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne für Zimmerli gleichbedeutend mit e<strong>in</strong>em technologischen Zeitalter,<strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> gigantisches +antiplatonisches Experiment* stattf<strong>in</strong>det, das die +Techno-Logik* zum


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXIXbestimmenden Maßstab erhebt. An<strong>der</strong>s als Spaemann begreift er die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne aber wenigerals das +Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität*, das die Chance e<strong>in</strong>er +Rückkehr zum Heiligen* (Bell) bietet,son<strong>der</strong>n er sieht <strong>in</strong> ihr vielmehr die Gefahr für e<strong>in</strong> +despotische[s] Erstarken <strong>der</strong> Technologie*(ebd.; S. 32). In dieser Argumentationsfigur zeigt sich zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> Berührungspunkt mitBaudrillard. Auch dieser sprach schließlich von e<strong>in</strong>em Zerbersten <strong>der</strong> Transzendenz und <strong>der</strong>+Agonie des Realen* (1978) im Zeitalter des Simulakrums, <strong>in</strong> dem Wirklichkeit immer mehrzur technologisch generierten Wirklichkeit +mutiert* (siehe S. LVf.). Baudrillard ist zwar <strong>der</strong>primären <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zuzurechnen, doch tritt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Denken deutlich zutage, was Kamperals (posthistoristische) +Dehnung <strong>der</strong> Katastrophe* bezeichnet (vgl. Nach <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S.170). Diese entspr<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht, +daß menschliche Erkenntnis ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Wahl hat […],als auch das, was sie vernichtet, noch zu erfassen* (ebd.; S. 168).<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ersche<strong>in</strong>t hier als +Zeitalter des Epilogs* (Sloterdijk), und e<strong>in</strong> solches Denkmotivf<strong>in</strong>det sich ohne Zweifel auch bei Vattimo, <strong>der</strong> ja e<strong>in</strong>e +Ontologie des Verfalls* aufstellte unddas +Ende <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* zur Tatsache erklärte (siehe S. Lf.). Nach Sloterdijk ist aber für dasmo<strong>der</strong>ne Bewußtse<strong>in</strong> schon <strong>der</strong> Begriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* Herausfor<strong>der</strong>ung genug:+Für die Mo<strong>der</strong>ne ist <strong>der</strong> bloße Gedanke an e<strong>in</strong>e <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne illegitim und schockierend, weil ihremSelbstverständnis gemäß <strong>der</strong> Nachfolger <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne nie e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er se<strong>in</strong> kann als wie<strong>der</strong>um dieMo<strong>der</strong>ne […]* (Nach <strong>der</strong> Geschichte; S. 272)Es muß daher nicht verwun<strong>der</strong>n, wenn gerade die Verfechter <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und des mit ihrverbundenen Aufklärungsgedankens dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus skeptisch gegenüberstehen. Dochist hier auch das Bewußtse<strong>in</strong> für die +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (Horkheimer/Adorno 1944)wach. Dies ist zum großen Teil das Verdienst <strong>der</strong> Kritischen Theorie, die sich zwar immerals Emanzipationswissenschaft verstand, aber <strong>in</strong> ihrer +Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft*(Horkheimer 1947) <strong>der</strong> Gegenwart (ähnlich wie Zimmerli) zum resignierenden Urteil gelangt,daß e<strong>in</strong>e Vernunft, die nur dem technischen Sachzwang gehorcht und sich alle<strong>in</strong>e am Nützlichenorientiert, totalitär geworden ist (siehe auch S. XXXII). Die angebliche Vielfalt <strong>der</strong> Warenweltist nur (ästhetischer) Sche<strong>in</strong> und <strong>in</strong> Wa(h)rheit gilt e<strong>in</strong>e Dom<strong>in</strong>anz des Identischen: +Kulturheute schlägt alles mit Ähnlichkeit* (Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung; S. 128).Horkheimer und Adorno hatten deshalb die Hoffnung auf die Transzendierung <strong>der</strong> gesellschaftlichenRealität durch e<strong>in</strong>e (kritische) Vernunft weitgehend aufgegeben. An<strong>der</strong>s Jürgen


LXXPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEHabermas: Für ihn liegt die Rettung aus dem Zwiespalt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne noch immer <strong>in</strong> aufgeklärterRationalität.132Diese muß allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Qualität annehmen, muß zur kommunikativenRationalität werden, um <strong>der</strong> +Kolonialisierung <strong>der</strong> Lebenswelten* durch zweckrationale E<strong>in</strong>dimensionalitätvorzubeugen (vgl. Theorie des kommunikativen Handelns; Band 1, S. 28 sowieBand 2, S. 449ff.). Se<strong>in</strong>e bereits zitierte Adorno-Preis-Rede aus dem Jahr 1980 (siehe S. XV),die unter dem Titel +Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt* verschiedentlich veröffentlichtwurde, ist Hauptbezugspunkt <strong>der</strong> Denk-Richtung e<strong>in</strong>er skeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, die amProjekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne festhalten will. Hier brandmarkt Habermas die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nisten alsneokonservativ (siehe auch S. XL). Aufschlußreich ist dabei Habermas’ Unterscheidung zwischendrei Formen des (postmo<strong>der</strong>nistischen) Konservatismus:• +Die Jungkonservativen machen sich die Grun<strong>der</strong>fahrung <strong>der</strong> ästhetischen Mo<strong>der</strong>ne, dieEnthüllung <strong>der</strong> dezentrierten, von […] allen Imperativen <strong>der</strong> Arbeit und <strong>der</strong> Nützlichkeitbefreiten Subjektivität zu eigen – und brechen mit ihr aus <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt aus […]Sie verlegen die spontanen Kräfte <strong>der</strong> Imag<strong>in</strong>ation, <strong>der</strong> Selbsterfahrung, <strong>der</strong> Affektivität<strong>in</strong>s Ferne und Archaische, und setzen <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft manichäisch e<strong>in</strong> nurnoch <strong>der</strong> Evokation zugängliches Pr<strong>in</strong>zip entgegen […] In Frankreich führt diese L<strong>in</strong>ie vonGeorge Bataille über Foucault zu Derrida.* (S. 52)• +Die Altkonservativen lassen sich von <strong>der</strong> kulturellen Mo<strong>der</strong>ne gar nicht erst anstecken.Sie verfolgen den Zerfall <strong>der</strong> substanziellen Vernunft […] mit Mißtrauen und empfehlen[…] e<strong>in</strong>e Rückkehr zu Positionen vor <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne […] Auf dieser L<strong>in</strong>ie […] liegen beispielsweise<strong>in</strong>teressante Arbeiten von Hans Jonas und Robert Spaemann.* (Ebd.; S. 52f.)• +Die Neukonservativen verhalten sich zu den Errungenschaften <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne noch amehesten affirmativ. Sie begrüßen die Entwicklung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft, soweit dieseihre eigene Sphäre nur überschreitet, um den technischen Fortschritt, das kapitalistischeWachstum und e<strong>in</strong>e rationale Verwaltung voranzutreiben. Im übrigen empfehlen sie e<strong>in</strong>e<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Entschärfung <strong>der</strong> explosiven Gehalte <strong>der</strong> kulturellen Mo<strong>der</strong>ne.* (Ebd.; S. 53)Gemäß dieser Auffassung ersche<strong>in</strong>en alle Äußerungsformen des +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus* mehro<strong>der</strong> weniger konservativ – nur nicht Habermas’ eigene Position, die man aus umgekehrterPerspektive allerd<strong>in</strong>gs durchaus als mo<strong>der</strong>nistischen Aufklärungs-Konservatismus bezeichnen


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXXIkönnte. Aus e<strong>in</strong>er solchen Grundhaltung muß e<strong>in</strong> philosophischer Entwurf wie <strong>der</strong> Lyotardsunter Verdacht geraten. Seyla Benhabib, die sich <strong>in</strong> vielen Punkten an Habermas (aber auchan Jameson) anlehnt, bezeichnet Lyotards Position darum als e<strong>in</strong>en naiven neoliberalen Pluralismus,<strong>der</strong> zum frustrierenden Relativismus und Eklektizismus postmo<strong>der</strong>ner Philosophie, welcherübergreifende Kritik unmöglich macht, maßgeblich beigetragen hat (vgl. Kritik des ›postmo<strong>der</strong>nenWissens‹; S. 121ff.).E<strong>in</strong>e differenziertere Position nehmen Herbert Schnädelbach und Albrecht Wellmer e<strong>in</strong> (<strong>der</strong>enGedanken damit auch für das im folgenden Abschnitt entworfene Konzept e<strong>in</strong>er authentischen<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne relevant se<strong>in</strong> werden). Schnädelbach stellt heraus, daß Horkheimer und Adornoim Rahmen ihrer Analyse <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* selbst <strong>in</strong> dieser Dialektik verstricktblieben. Ihr Versuch, +über Aufklärung aufzuklären, [enthält] mythische Elemente […] Erzähltwird die Geschichte <strong>der</strong> tätigen Selbstbefreiung durch Naturbeherrschung und <strong>der</strong> Folgen,die das für das Subjekt notwendigerweise zeitigt […] Diese Intention teilt die Dialektik <strong>der</strong>Aufklärung mit <strong>der</strong> gesamten Tradition <strong>der</strong> narrativen Geschichtsphilosophie <strong>der</strong> Neuzeit*(Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung; S. 18f.). Narrative Geschichtsphilosophie läuftjedoch aufgrund ihrer Struktur als +große Rahmenerzählung* (Lyotard), die das S<strong>in</strong>guläre absolutsetzt, auf e<strong>in</strong>e +Mythisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* heraus (vgl. ebd.; S. 25). Gerade die E<strong>in</strong>lösunge<strong>in</strong>es tatsächlich dialektischen Anspruchs könnte aber jene Beschränkung aufheben. Dennda die Mo<strong>der</strong>ne selbst e<strong>in</strong> Plural ist, kann nur e<strong>in</strong> offenes Konzept von Aufklärung, das ihrewi<strong>der</strong>sprüchliche Vielfalt berücksichtigt, die Dynamik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> verschiedenen historischenund kulturellen Zusammenhängen untersuchen (vgl. ebd.; S. 27ff.).Auch Wellmer stellt das Thema Dialektik, die +Dialektik von Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*(1985), <strong>in</strong>s Zentrum se<strong>in</strong>er Überlegungen – Dialektik allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em +postmo<strong>der</strong>nen*Verständnis, ohne jeden geschichtsphilosophischen Anspruch und ohne die Konnotation e<strong>in</strong>ersich vollziehenden Wahrheit (vgl. Zur Dialektik von Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 49). DasGrundmotiv Wellmers ist e<strong>in</strong>e differenzierte Betrachtung des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus, die se<strong>in</strong>eZweideutigkeit herausstellt. Das Netzwerk +postistischer* Begriffe und Denkweisen gleichtfür ihn e<strong>in</strong>em Vexierbild: Zum e<strong>in</strong>en ist da die Vorstellung vom +Tod <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne*, <strong>der</strong>+als e<strong>in</strong> verdienter Tod verstanden [wird]: als Ende e<strong>in</strong>er schrecklichen Verwirrung, e<strong>in</strong>eskollektiven Wahns, e<strong>in</strong>es Zwangsapparats, e<strong>in</strong>er tödlichen Illusion* (ebd.; S. 100). Zum an<strong>der</strong>engibt es im Rahmen des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus aber auch Positionen, die die Mo<strong>der</strong>ne nicht als


LXXIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEbeendet, son<strong>der</strong>n vielmehr als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Häutungsprozeß bef<strong>in</strong>dlich <strong>in</strong>terpretieren. In Anlehnungan Castoriadis spricht Wellmer <strong>in</strong> diesem Zusammenhang von <strong>der</strong> +Selbstüberschreitung <strong>der</strong>Vernunft* <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sich radikalisierenden Mo<strong>der</strong>ne (vgl. ebd.; S. 100 u. S. 109). 133Diese Zweideutigkeit des <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus ist Resultat +e<strong>in</strong>er Zweideutigkeit, die tief <strong>in</strong> densozialen Phänomenen selbst verankert ist* (ebd.; S. 57). In diesem S<strong>in</strong>n ist <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus+das noch unklare Bewußtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Endes und e<strong>in</strong>es Übergangs* (ebd.). Soweit er mehrist, als e<strong>in</strong>e bloße Mode, versteht Wellmer ihn deshalb als +e<strong>in</strong>e Suchbewegung, als e<strong>in</strong>[en]Versuch, Spuren <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen zu registrieren und die Konturen jenes Projekts [<strong>der</strong>Selbstüberschreitung <strong>der</strong> Vernunft] schärfer hervortreten zu lassen* (ebd.; 109). Soll diesesProjekt gel<strong>in</strong>gen, dann muß sich nach Wellmer die E<strong>in</strong>sicht Lyotards <strong>in</strong> die irreduzible Pluralität<strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verschachtelter Sprachspiele mit Habermas’ Konzept e<strong>in</strong>er sozialen Koord<strong>in</strong>ierungdurch kommunikatives Handeln verb<strong>in</strong>den (vgl. ebd.; S. 105f.).Bevor ich <strong>in</strong> Anschluß an diese Gedanken auf die (Un-)Möglichkeit e<strong>in</strong>er +authentischen*<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne e<strong>in</strong>gehe, sollen die dargestellten Formen <strong>der</strong> euphorischen und <strong>der</strong> skeptischen<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zur Übersicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Tabelle nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gestellt werden. Dabei möchteich ausdrücklich darauf h<strong>in</strong>weisen, daß vorgenommene Grobe<strong>in</strong>teilung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e euphorischeund e<strong>in</strong>e skeptische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne völlig willkürlich (allerd<strong>in</strong>gs nicht unbegründet) erfolgteund damit e<strong>in</strong>em geradezu typisch +mo<strong>der</strong>nen* Ordnungs- und Kategorisierungsstreben entspr<strong>in</strong>gt.Da aber Wissenschaft (Umwelt-)Komplexität notwendigerweise reduzieren muß, umdiese nicht e<strong>in</strong>fach abzubilden, s<strong>in</strong>d solche +Rasterungen* durchaus s<strong>in</strong>nvoll, wenn man sichbewußt ist, daß es sich eben nur um ordnende +Stützkonstruktionen* handelt.Tabelle 2: Übersicht über die Formen <strong>der</strong> euphorischen und <strong>der</strong> skeptischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne 134Euphorische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nePrimäre euphorische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne (z.B.Jencks)Sekundäre euphorische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne (z.B.Welsch)Euphorische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>nerPrägung (z.B. Koslowski)Skeptische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>neSkeptische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne posthistoristischerPrägung (z.B. Baudrillard)Skeptische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne pro-mo<strong>der</strong>nerPrägung (z.B. Habermas)Skeptische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>nerPrägung (z.B. Zimmerli)


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXXIIIREFLEXIVITÄT UND AUTOPOIESIS – ZU EINER +AUTHENTISCHEN* POSTMODERNEVon e<strong>in</strong>er +authentischen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zu sprechen sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> sich zu se<strong>in</strong>.Denn wie könnte im Bewußtse<strong>in</strong>, daß es die e<strong>in</strong>e Wahrheit nicht gibt, e<strong>in</strong> Echtheitsanspruchformuliert werden? Trotzdem entspricht dieser E<strong>in</strong>wand e<strong>in</strong>em +falschen*, e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>geschränkten,e<strong>in</strong>em (prä)mo<strong>der</strong>nen Begriff von Authentizität. Nach dem Ethnologen Klaus-Peter Koepp<strong>in</strong>gzum Beispiel bedeutet Authentizität nämlich nicht die schlichte Identität mit +objektiver*Wirklichkeit. Dies wäre e<strong>in</strong> unerfüllbarer Anspruch. Vielmehr ist Authentizität für ihn e<strong>in</strong>erückbezügliche Kategorie, d.h. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit dem an<strong>der</strong>en kommt es zue<strong>in</strong>em reziproken Selbsterkenntnisprozeß (vgl. Authentizität als Selbstf<strong>in</strong>dung durch den an<strong>der</strong>en;S. 26ff.). Dieses reflexive Authentizitätsverständnis kann auch im Zusammenhang <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne-<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskussion von Nutzen se<strong>in</strong>. Denn das An<strong>der</strong>e <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist die Mo<strong>der</strong>ne.Und ähnlich wie Wellmer von <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als e<strong>in</strong>er Suchbewegung (<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne) sprach(siehe nochmals S. LXXII), bemerkt Sloterdijk:+So entpuppt sich das ›Nach‹ <strong>der</strong> Nachmo<strong>der</strong>ne als das ›Nach‹ e<strong>in</strong>es sich noch suchenden nachabendländischenWeltalters. Es ist e<strong>in</strong> Nach, das an den Gitterstäben <strong>der</strong> Gegenwart rüttelt und e<strong>in</strong>erendzeitlichen Platzangst Ausdruck verleiht.* (Nach <strong>der</strong> Geschichte; S. 273)Diese angstvolle (und <strong>der</strong> Angst bewußte) Suche +Nach* e<strong>in</strong>em Neuen spiegelt die Wi<strong>der</strong>sprüchedes Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses. Die Mo<strong>der</strong>ne produziert e<strong>in</strong>e Ambivalenz die sie auf sichSelbst verweist. Die Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungsfolgen führt zum Reflex <strong>der</strong> Gegen- und<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, bewirkt damit im Verborgenen e<strong>in</strong>en qualitativen Wandel des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses,<strong>der</strong> sich selbst untergräbt und dabei zuweilen (unbeabsichtigt) e<strong>in</strong> neues(Zeit-)Bewußtse<strong>in</strong> zutage för<strong>der</strong>t. Das hat auch Welsch erkannt, <strong>in</strong>dem er feststellt:+Das postmo<strong>der</strong>ne Denken ist ke<strong>in</strong>eswegs etwas exotisches, son<strong>der</strong>n die Philosophie dieser Welt,und es ist dies als denkerische Entfaltung und E<strong>in</strong>lösung <strong>der</strong> harten und radikalen Mo<strong>der</strong>ne diesesJahrhun<strong>der</strong>ts […]* (Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 83)Denn die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne gilt ihm als +exoterische Alltagsform <strong>der</strong> e<strong>in</strong>st esoterischen Mo<strong>der</strong>ne*(ebd.; S. 202): Die +Erfahrungen mit mo<strong>der</strong>ner Rationalität sowie [die] Errungenschaften <strong>der</strong>ästhetischen Mo<strong>der</strong>ne s<strong>in</strong>d zunehmend <strong>in</strong> Lebensformen übergegangen und <strong>in</strong> den Alltage<strong>in</strong>gedrungen* (ebd.; S. 206). Als Beispiele führt er u.a. die immer +<strong>in</strong>dividualistischere* und


LXXIVPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEdamit plural gewordene Mode an. Auf <strong>der</strong> (Ober)fläche dieser und an<strong>der</strong>er Kultur-Phänomenehat sich <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne bereits verwirklicht, ist sie zur sozialen +Realität* geworden.Mit diesem alltagspraktischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Verständnis bietet Welsch (neben se<strong>in</strong>en euphorischenUntertönen) auch Ansatzpunkte für e<strong>in</strong>e +authentische*, sich selbst hervorbr<strong>in</strong>gendeund sich selbst erkennende (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne. Das gilt auch für se<strong>in</strong> Konzept e<strong>in</strong>er transversalenVernunft. Diese ist e<strong>in</strong>e Vernunft des Übergangs, die zwischen den verschiedenen Rationalitätsformen,die latent <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verflochten s<strong>in</strong>d, vermittelt (vgl. ebd.; S. 295–318). 135An<strong>der</strong>e Ansatzpunkte zu e<strong>in</strong>er +authentischen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne f<strong>in</strong>den sich bei Kamper. Er konstatiert,wie so viele, e<strong>in</strong> Ende des aufklärerischen Projekts – was er aber gerade auf das Festhaltenan e<strong>in</strong>er exklusiven Vernunft zurückführt:+Daß es […] mit <strong>der</strong> Aufklärung heute nicht zum besten steht, liegt nicht so sehr an ihren Kritikern,von denen es wenige gibt, als an ihren Verteidigern.* (Aufklärung – was sonst?; S. 40)Denn diese s<strong>in</strong>d weith<strong>in</strong> Spiegelfechter und im Mythos <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne verstrickt (vgl. ebd.;S. 40ff.). Soweit besteht auch Übere<strong>in</strong>stimmung zu Schnädelbach und Wellmer. Kampergeht jedoch weiter und dar<strong>in</strong> kommt sogar e<strong>in</strong> abgeschwächtes euphorisches Moment zumTragen:+Die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit […], Bewegung <strong>in</strong> die festgefahrene Aufklärung zu br<strong>in</strong>gen, besteht dar<strong>in</strong>,das Spielfeld von Mythos und Mo<strong>der</strong>ne zu verlassen, zugleich nach rückwärts und nach vorwärts[…] [Denn] Gegen das Imag<strong>in</strong>äre [<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne] hilft nur die E<strong>in</strong>bildungskraft: Überholung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne[…] als Entklammerung <strong>der</strong> Dialektik.* (Ebd.; S. 43)Für ihn greift deshalb die e<strong>in</strong>seitig negative Fassung des +<strong>Post</strong>* zu kurz:+Schlußzumachen mit dem Ende, vielleicht ist das <strong>der</strong> Effekt von <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>histoire. Daswird nicht ganz ohne Trauerarbeit möglich se<strong>in</strong>, aber auch nicht ohne Lust, von se<strong>in</strong>em eigenen Denkengelegentlich überrascht zu werden.* (Ebd.; S. 45)Aus diesen Worten spricht e<strong>in</strong>e ambivalente Zuversicht, und gerade im oberen Zitat kommtzum Ausdruck, was für mich die unabd<strong>in</strong>gbare Grundlage e<strong>in</strong>er zu sich selbst f<strong>in</strong>denden +authentischen*(<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne bildet: auf die (universalistische) Synthese <strong>der</strong> dialektischen Wi<strong>der</strong>sprüchezu verzichten. Denn <strong>der</strong> Drang zur Synthese überdeckt, verschleiert die Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeitje<strong>der</strong> +Wirklichkeit*. Wirklichkeit wirkt schließlich nur, <strong>in</strong>dem sie Wi<strong>der</strong>sprüche erzeugt, und


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXXVe<strong>in</strong>e +authentische* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne müßte diese deshalb spiegeln, wäre erlebte und gelebteDialektik, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> kritischen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Se<strong>in</strong>sbesteht.Den Verzicht auf E<strong>in</strong>heit und Synthese (und dementsprechend e<strong>in</strong>e produktive Betonungdes Dissenses und <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>streite) hat auch Lyotard gefor<strong>der</strong>t. Doch e<strong>in</strong>e +authentische*<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne müßte (auch nach ihm) mehr se<strong>in</strong> als das: Sie wäre nicht die bloße Spiegelung,son<strong>der</strong>n vielmehr selbst beteiligt an <strong>der</strong> Generierung von Wirklichkeit, würde also die Wi<strong>der</strong>sprücheund Wi<strong>der</strong>streite auch aktiv produzieren (siehe auch S. L). In diesem Zusammenhangmöchte ich auf das Konzept <strong>der</strong> +aktiven Gesellschaft* von Amitai Etzioni e<strong>in</strong>gehen. Etzioniwar <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> explizit e<strong>in</strong>e Soziologie +postmo<strong>der</strong>ner* Gesellschaften entwarf, und diepostmo<strong>der</strong>ne (Massen)Gesellschaft ist für ihn zwangsläufig e<strong>in</strong>e aktive Gesellschaft. Dabeibedeutet +aktiv se<strong>in</strong>, […] bewußt se<strong>in</strong>, engagiert se<strong>in</strong>, Macht haben* (Die aktive Gesellschaft;136S. 29) und damit auch verantwortlich se<strong>in</strong>, woh<strong>in</strong>gegen passiv se<strong>in</strong> me<strong>in</strong>t, kontrolliert zuwerden (vgl. ebd; S. 28). Passivität ist für Etzioni somit ke<strong>in</strong>e Alternative. Vielmehr gilt es,die durch das exponentielle Wachstum des Wissens geschaffenen gestalterischen Potentialezu nutzen:+In se<strong>in</strong>em Bemühen, se<strong>in</strong> Schicksal zu meistern, erreicht <strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong>e neue Phase, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sowohlse<strong>in</strong>e Fähigkeit zur Freiheit als auch zur Unterdrückung stark zugenommen hat. Mehr und mehr ist<strong>der</strong> Mensch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, soziale Beziehungen zu transformieren, anstatt sich ihnen anzupassen, o<strong>der</strong>lediglich gegen sie zu protestieren.* (Ebd.; S. 29)Etzioni spricht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch von +neuen sozialen Optionen* und +selbstorientierterAktivität*. Weitere Merkmale <strong>der</strong> aktiven Gesellschaft s<strong>in</strong>d Öffentlichkeitsbezugund Offenheit (vgl. ebd.; S. 31ff.). Obwohl <strong>in</strong> Etzionis Gesamtkonzept letztendlich e<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nistischesFortschrittsdenken deutlich wird, ist se<strong>in</strong>e Betonung des aktiven Moments unterden gegebenen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> wissenden und bewußten (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>nität vielversprechend.Gerade die rückbezüglichen Mo<strong>der</strong>nisierungsfolgen zw<strong>in</strong>gen, um es noch e<strong>in</strong>mal zu betonen,zur Überschreitung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne.Ich möchte deshalb, <strong>in</strong> Anlehnung an Beck und Luhmann, die Begriffe +Reflexivität* und+Autopoiesis* (nochmals) <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gen. Luhmann spricht von <strong>der</strong> Reflexivität sozialer Prozesse,+wenn die Unterscheidung von Vorher und Nachher elementarer Ereignisse zu Grunde liegt*


LXXVIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNE(Soziale Systeme; S. 601). Reflexivität hat damit e<strong>in</strong>e Zeitdimension und entspricht prozessualerSelbstreferenz. Diese vollzieht sich durch Kommunikation (vgl. ebd.; S. 610). Luhmann verstehtalso unter Reflexivität die Kommunikation <strong>der</strong> Kommunikation, o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ausgedrückt:die Rückbezüglichkeit <strong>der</strong> Diskurse. E<strong>in</strong> solcher (problematisieren<strong>der</strong>) Meta-Diskurs hat <strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, wenn man sich Lyotard anschließen will, die re<strong>in</strong> (ex)planierende Metaerzählungabgelöst und öffnet Räume für e<strong>in</strong>e Selbst- und Neugestaltung ganz im von Etzionibeschriebenen S<strong>in</strong>n. E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Reflexivitätsverständnis f<strong>in</strong>det sich bei Beck (siehe auch S.XLII). Reflexivität me<strong>in</strong>t bei ihm die Konfrontation mit den latenten Nebenfolgen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung,die das mo<strong>der</strong>nistische Selbstverständnis unterhöhlt und dazu zw<strong>in</strong>gt, sich mit denSchattenseiten <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen. In <strong>der</strong> Komb<strong>in</strong>ation bei<strong>der</strong> Elemente ergibtsich e<strong>in</strong>e reflexive Dialektik zwischen diskursiver Selbstspiegelung und <strong>der</strong> risikogesellschaftlichen+Geworfenheit* <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e material und ideologisch wi<strong>der</strong>sprüchliche Welt, <strong>der</strong> sich e<strong>in</strong>e +authentische*<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne stellen müßte.Indem sie sich ihr aber stellt, br<strong>in</strong>gt sie sich (durch den und im Diskurs) zugleich selbst hervor:Die so verstandene +authentische* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist also +autopoietisch*. Der Begriff <strong>der</strong> +Autopoiesis*(Selbst-Erzeugung) stammt aus dem Begriffs-Repertoire des radikalen Konstruktivismus.Dort wird er primär auf spontan entstehende, autonome und organisationell geschlossenebiologische Systeme angewendet (vgl. z.B. Varela: Autonomie und Autopoiese). Aus diesemGrund ist angezweifelt worden, ob <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> +Autopoiesis* sich une<strong>in</strong>geschränkt aufsoziale Systeme übertragen läßt (vgl. ebd.; S. 121 sowie Heijl: Konstruktion <strong>der</strong> sozialen Konstruktion;S. 322–327). Luhmann, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n +schuldig* gemacht hat, teilt solcheBedenken nicht. Er versteht unter sozialen Systemen auch im wesentlichen re<strong>in</strong>e Kommunikationszusammenhänge,die das Merkmal selbstreferentieller Geschlossenheit aufweisen (vgl.Soziale Systeme; S. 57–65) – e<strong>in</strong>e Auffassung, die die Subjekte aus dem Gesellschaftlichenausschließt und die mir deshalb problematisch ersche<strong>in</strong>t. Doch wie auch immer: Sieht manvom Kontext se<strong>in</strong>er Generierung im radikalen Konstruktivismus und se<strong>in</strong>er soziologisch e<strong>in</strong>seitigen,durch Luhmann geprägten Konnotation ab, so ist <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> +Autopoiesis* durchaus geeignet,e<strong>in</strong>e +authentische* als sich selbst schöpfende <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zu spezifizieren (vgl. auch Castoriadis:Gesellschaft als imag<strong>in</strong>äre Institution). Diese authentische, autopoietische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne wäreaber zugleich vielleicht auch e<strong>in</strong>e autistische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, denn <strong>in</strong>dem sie sich selbst hervorbr<strong>in</strong>gtund sich <strong>in</strong> ihren Diskursen (nur noch) auf sich selbst bezieht, könnte sie im Zirkel


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXXVIIdes Eigenen gefangen bleiben. Sie wäre dann e<strong>in</strong>e <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ohne ihr an<strong>der</strong>es: die Mo<strong>der</strong>ne.Was dann aber bliebe, wäre alle<strong>in</strong>e das +<strong>Post</strong>* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Ob es genug wäre?Doch was soll das Philosophieren über Begriffe? Müßte sich e<strong>in</strong>e +authentische* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nenicht gerade vom Streit über die Begrifflichkeiten emanzipieren? Der Titel e<strong>in</strong>es Buchs vonBarry Smart137lautet: +Mo<strong>der</strong>n Conditions, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Controversaries* (1992). Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ungnach gilt das genaue Gegenteil: Auf struktureller Ebene und im Alltag hat sich <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>neals das Wi<strong>der</strong>sprüchliche <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne schon vielfach verwirklicht. Nur auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong>Diskurse tobt noch <strong>der</strong> Kampf um die Begriffs-Hoheit. Denn es entspricht e<strong>in</strong>er langen Tradition,die bis <strong>in</strong> den Bereich des Mythologisch-Schamanischen zurückreicht und sich im mo<strong>der</strong>nenKategorisierungsstreben fortsetzt, daß man mit dem Namen auch die Herrschaft über dasBezeichnete gew<strong>in</strong>nt. 138Mit e<strong>in</strong>er +authentischen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne könnte diese Geschichte <strong>der</strong> Herrschaft durch denBegriff e<strong>in</strong> Ende haben. Denn gerade Denker wie Foucault, Derrida und Lyotard haben begriffen,daß +Die Ordnung des Diskurses* (Foucault) e<strong>in</strong> Machtphänomen darstellt und Geschichteimmer e<strong>in</strong>e Geschichte ist, die Erzählung über Vergangenheit, welche sich <strong>in</strong> dieser Erzählungerst konstruiert. Diese Erkenntnis aber macht das Herrschen weitaus schwieriger. Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Vokabelist am Ende wahrsche<strong>in</strong>lich nur e<strong>in</strong> letztes Aufbäumen dieses Herrschaftsanspruchsmittels des Begriffs, und mit +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* bezeichnen wir all das, was wir (an<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne) nicht (er)fassen können. Es handelt sich um die verwischten, noch unklarenGedankenspuren <strong>der</strong> stattf<strong>in</strong>denden strukturellen Wandlungsprozesse. Auf diese aber kommtes an, und so betont auch Welsch: +Man muß nicht auf den Ausdruck, son<strong>der</strong>n auf die Sacheachten.* (Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne S. 319)Ob diese Sache und die daraus resultierenden E<strong>in</strong>sichten so grundsätzlich neu s<strong>in</strong>d, wie diepostmo<strong>der</strong>nen Theoretiker glauben machen wollen, kann allerd<strong>in</strong>gs angezweifelt werden.Dazu bemerkt Karlis Racevskis:+[…] postmo<strong>der</strong>n thought has not uncovered anyth<strong>in</strong>g that the Age of Enlightenment, <strong>in</strong> its morelucid moments, did not already know.* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism and the Search for Enlightenment; S. 77)In ihrer geradezu paradigmatisch mo<strong>der</strong>nistischen novistischen Selbsttäuschung liegt also möglicherweisee<strong>in</strong>e <strong>der</strong> zentralen +Illusionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* (Eagleton 1996),139und wahrsche<strong>in</strong>-lich war +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* als (positives wie negatives) Potential immer schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Mo<strong>der</strong>ne*


LXXVIIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEenthalten. Deshalb die von mir im Titel gesetzten Klammern, die e<strong>in</strong>e strenge Trennungsl<strong>in</strong>iezwischen Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne gar nicht erst <strong>in</strong>s Blickfeld rücken lassen und doch klarmachen, daß e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache, ungebrochene Mo<strong>der</strong>nität nicht mehr gegeben ist. Am Endedieses (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat +diskursiven*, ausschweifenden) Prologs, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e Antwort darauf gefundenwerden sollte, ob <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne das Ende o<strong>der</strong> die Vollendung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne darstellt, hatsich also gezeigt, daß bereits diese Ausgangsfrage (bewußt) falsch gestellt war.ZUGESTÄNDNIS AN DIE +MODERNE*: FAHRPLAN UND PROJEKT DIESER ARBEITIn dieser Arbeit geht es aber natürlich ohneh<strong>in</strong> nicht primär um solche Begriffsfragen, son<strong>der</strong>nim Zentrum me<strong>in</strong>er Untersuchung werden das bisher weitgehend aus <strong>der</strong> Betrachtung ausgeklammerteFeld <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und <strong>der</strong>en +objektive* Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gegenwartstehen, die – wie ich bereits e<strong>in</strong>gangs bemerkte – immer häufiger mit dem Etikett +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*versehen wird. Was nun dieses Feld des Politischen im Wechsel <strong>der</strong> Geschichte praktischund begrifflich-theoretisch umfaßte, darum soll es (allerd<strong>in</strong>gs konzentriert auf die dom<strong>in</strong>antenStrömungen) im folgenden ersten Kapitel gehen.Dabei wird klar werden, daß <strong>der</strong> Horizont gerade des +postmo<strong>der</strong>nen* <strong>Politik</strong>verständnisses(neben e<strong>in</strong>em gesteigerten Bewußtse<strong>in</strong> für Kont<strong>in</strong>genz) durch das +Recycl<strong>in</strong>g* e<strong>in</strong>es extensiven,das heißt nicht auf das politische System beschränkten <strong>Politik</strong>begriffs gekennzeichnet ist (Abschnitt1.5). Diese Diffusion <strong>der</strong> (typisch neuzeitlichen) Trennung <strong>der</strong> Sphären <strong>Politik</strong> und Gesellschaftmit ihrer gleichzeitigen Fixierung auf das Modell des Nationalstaat und das e<strong>in</strong>gespielte Rechts-L<strong>in</strong>ks-Schema (Abschnitt 1.2 bis 1.4) ist jedoch – wo es sich um die Artikulation e<strong>in</strong>er +authentischen<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* handelt, also e<strong>in</strong> transformatives, auch neue Elemente be<strong>in</strong>haltendesRecycl<strong>in</strong>g stattf<strong>in</strong>det – nicht e<strong>in</strong>fach <strong>der</strong> Ausdruck des Wunschs nach e<strong>in</strong>er Rückkehr zu+sozial e<strong>in</strong>gebetteten* antiken und mittelalterlichen <strong>Politik</strong>konzepten (Abschnitt 1.1). Der erweiterte<strong>Politik</strong>begriff (<strong>in</strong>) <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne stellt vielmehr die Reflexion struktureller Transformationendar, die gegenwärtig <strong>in</strong> den verschiedenen sozialen Teilbereichen stattf<strong>in</strong>den und zu e<strong>in</strong>er(theoretischen wie praktischen) Rahmenerweiterung gewissermaßen +zw<strong>in</strong>gen*.Mit diesen strukturellen Transformationsprozessen wird sich das zweite Kapitel näher beschäftigen.Im Kontext e<strong>in</strong>er +Ökologie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (also e<strong>in</strong>er Betrachtung <strong>der</strong> für die <strong>Politik</strong>, daspolitische System relevanten +Umwelt*) soll klargemacht werden, daß wir es aktuell mit e<strong>in</strong>er


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXXIXparadoxen Dialektik von sozio-ökonomischem Wandel und politischer Statik zu tun haben,die die Imag<strong>in</strong>ation neuer Formen und Praktiken <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> herausfor<strong>der</strong>t. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>ddie Wandlungsimpulse, wie die konkrete Analyse zeigen wird, nicht <strong>in</strong> allen Bereichen gleichstark: Während im ökonomischen Bereich (Abschnitt 2.1) und im Bereich <strong>der</strong> Kultur undSozialstruktur (Abschnitt 2.5) ausgeprägte Verän<strong>der</strong>ungen stattfanden und stattf<strong>in</strong>den, dieke<strong>in</strong>e adäquaten Entsprechungen im System <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> haben, so können im Bereich desRechts (Abschnitt 2.2), aufgrund <strong>der</strong> engen strukturellen Kopplung mit <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, eher koevolutiveProzesse ausgemacht werden, so daß e<strong>in</strong>e gleichzeitige, sich gegenseitig stabilisierendePolitisierung des Rechts und Verrechtlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> erfolgt.Eher ambivalent ist das Bild dagegen, was Wissenschaft und Technik (Abschnitt 2.3) sowiedas Öffentlichkeits- und Mediensystem (Abschnitt 2.4) betrifft. Zwar for<strong>der</strong>t die wissenschaftlichtechnischeEntwicklung mit ihren <strong>in</strong>dustriell umgesetzten technologischen Innovationen (und<strong>der</strong>en +Nebenfolgen*) die <strong>Politik</strong> zunehmend heraus, zw<strong>in</strong>gt diese, sich den daraus resultierenden(Umwelt-)Problemen zu stellen. Doch halten Wissenschaft und Technik gleichzeitig Ressourcenfür die <strong>Politik</strong> bereit, diese +Reflexivität* abzulenken. So werden von <strong>der</strong> Wissenschaft (imVerbund mit <strong>der</strong> Industrie) immer neue Verfahren entwickelt, um die technikerzeugten Probleme(wie<strong>der</strong>um mit Technik) zu beheben, und Wissenschaft dient schließlich darüber h<strong>in</strong>aus nichtnur <strong>der</strong> technologischen Innovation, son<strong>der</strong>n kann auch (z.B. durch +politikkonforme* Expertisen)zur Rechtfertigung von politischen Entscheidungen +benutzt* werden. Was das Mediensystembetrifft, so ist <strong>in</strong> vielen Fällen e<strong>in</strong>e +Symbiose* von Medienvertretern und <strong>Politik</strong>ern zu beobachten,die schließlich aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> angewiesen s<strong>in</strong>d. Doch die Medien decken gelegentlich auchpolitische Skandale auf und h<strong>in</strong>terfragen so <strong>in</strong>direkt das System <strong>Politik</strong>. Zudem wird durchdie aufkommenden neuen, <strong>in</strong>teraktiven wie +<strong>in</strong>dividualisierten* Medien und dem damitverbundenen (neuerlichen) Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit die politische (Medien-)Inszenierung,die e<strong>in</strong> Massenpublikum voraussetzt, immer schwieriger.Für die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> führt dieser vielschichtige Transformationsprozeß, wie sich<strong>in</strong> diesen Bemerkungen bereits andeutete, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e schwierige Lage. Doch nicht nur dort, wodie Wandlungen beson<strong>der</strong>s rasant und weitreichend s<strong>in</strong>d (also <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaftsphäre sowieim Bereich <strong>der</strong> Kultur und Sozialstruktur), sieht sich <strong>Politik</strong> mit e<strong>in</strong>er für sie wi<strong>der</strong>sprüchlichenSituation konfrontiert. Auch <strong>in</strong> Bereichen, wo +deflexive* (d.h. ablenkende) Ko-Evolutionsprozessestattf<strong>in</strong>den, kommt es zu +Untergrabungen* des status quo. Insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn die


LXXXPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEMechanismen <strong>der</strong> +Ablenkung* bewußt werden, <strong>der</strong> politische Rückgriff auf abstützende Rechtsverfahren,wissenschaftliche +Neutralität* sowie die Macht <strong>der</strong> Medien (öffentlich) +reflektiert*wird und so Entfremdungsprozesse und e<strong>in</strong> zum<strong>in</strong>dest partieller Legitimitätsentzug drohen,kann es zu e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>terfragung <strong>der</strong> herkömmlichen Logik <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> kommen.Die hier nur stark verkürzt wie<strong>der</strong>gegebenen Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> +klassischen* <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalenRisikogesellschaft werden von mir deshalb im dritten Kapitel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em umfassenden Komplexvon fünf Dilemmata dargestellt: Es handelt sich um das ökonomische Dilemma des nationalenWohlfahrtsstaates (Abschnitt 3.1), das sich aus <strong>der</strong> +Entmachtung* <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die Dom<strong>in</strong>anz<strong>der</strong> globalen Marktprozesse ergibt, das <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Dilemma (Abschnitt 3.2), welchessich aus <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e +<strong>in</strong>stitutionelle Starre* mündenden Dialektik von Politisierung und Verrechtlichungspeist, das technologisch-wissenschaftliche Dilemma (Abschnitt 3.3), das auf<strong>der</strong> Risikodimension von Technologien und <strong>der</strong> generellen Delegitimierung <strong>der</strong> wissenschaftlichenVernunft beruht, das Dilemma von Präsentation und Repräsentation (Abschnitt 3.4), das ausden selbstbeschränkenden Adaptionsversuchen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> an die Mediensemantik erwächst,und um das politische Dilemma <strong>der</strong> Individualisierung (Abschnitt 3.5), das dem Verlust vongeme<strong>in</strong>samen Codes und Symbolwelten geschuldet ist.Diese fünf Dilemmata sollen im vierten Kapitel anhand des Fallbeispiels <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>seuche+BSE* veranschaulicht werden. Auch wenn <strong>der</strong> <strong>in</strong> Großbritannien 1986 erstmals +offiziell*<strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung getretene +R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n* vielleicht nicht <strong>in</strong> wirklich allen Fel<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> passendesBeispiel abgibt, so lassen sich mittels <strong>der</strong> fallbezogenen Thematisierung <strong>der</strong> aktuellen Wi<strong>der</strong>sprüche<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> doch e<strong>in</strong>ige Punkte, die zuvor nur theoretisch abgehandelt wurden, +d<strong>in</strong>gfest*und plastisch machen. Insbeson<strong>der</strong>e das Zusammenspiel von Wissenschaft, Medien und <strong>Politik</strong>und se<strong>in</strong>e Problematik kann mittels dieses Fallbeispiels e<strong>in</strong>drücklich verdeutlicht werden(Abschnitt 4.3 und 4.4). Daneben lassen sich aber auch e<strong>in</strong>e Reihe von ökonomischen (Abschnitt4.1), rechtlichen (Abschnitt 4.2) und kulturell-sozialstrukturellen Aspekten (Abschnitt 4.5) des(politischen) BSE-Dramas aufzeigen.Das fünfte Kapitel wird die konkrete Ebene dann wie<strong>der</strong> verlassen und – auf <strong>der</strong> Grundlage<strong>der</strong> nunmehr verdichteten Erkenntnisse – e<strong>in</strong>e (meta)theoretischen Betrachtung anstellen.Noch e<strong>in</strong>mal wird dabei <strong>der</strong> <strong>in</strong> dieser E<strong>in</strong>leitung nur oberflächlich untersuchte Prozeß <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>in</strong>s Blickfeld geraten, aus dessen Wi<strong>der</strong>sprüchen sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nachdie Ant<strong>in</strong>omien und Dilemmata <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* ableiten lassen (Abschnitt


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXXXI5.1). Der +Ursprung* <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, ihre treibende Kraft, wird dabei von mir<strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst verortet werden – e<strong>in</strong>er ambivalenten Angst allerd<strong>in</strong>gs, die sich aus dem gleichzeitigenVerlangen nach Freiheit und Sicherheit speist. Aus diesem angstvollen Ursprung werdenbeson<strong>der</strong>s die gewaltvollen Ersche<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne verständlich, <strong>der</strong>en ordnende Rationalitätnur e<strong>in</strong>e Fluchtbewegung vor <strong>der</strong> (eigenen) Ambivalenz ist (Abschnitt 5.1.1). Mit ihrem Ordnungsstrebenbr<strong>in</strong>gt die Mo<strong>der</strong>ne aber auch ungewollt immer neue Ambivalenzen hervor. Sie bewirktdamit ihre eigene H<strong>in</strong>terfragung, macht sich selbst zu e<strong>in</strong>em Gegenstand, wird reflexiv (Abschnitt5.1.2). Diese Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne hat auch Auswirkungen auf die Sphäre <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>(Abschnitt 5.2). Denn mit ihr werden die ordnenden Trennungen und Abgrenzungen desSystems e<strong>in</strong>gerissen. <strong>Politik</strong> wird wie<strong>der</strong> mit ihrem sozialen Kontext verbunden, und es kommtzu e<strong>in</strong>er untergründigen Politisierung des Sozialen durch subpolitische +Mikroagenten*. Subpolitik,also die <strong>Politik</strong> +unterhalb* <strong>der</strong> Ebene des politischen Systems, ist <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n Metapolitik(Abschnitt 5.2.1). An<strong>der</strong>erseits besteht auch die Möglichkeit, daß diese untergründige Politisierungoberflächlich bleibt, sich auf E<strong>in</strong>zelfragestellungen beschränkt und sich <strong>in</strong> lokalen Aktionenverzettelt. Dann wäre Subpolitik allerd<strong>in</strong>gs eher Nicht-<strong>Politik</strong> als die +Nichtung* <strong>der</strong> Trennungvon <strong>Politik</strong> und Gesellschaft (Abschnitt 5.2.2).Die hier angesprochene mögliche Tendenz e<strong>in</strong>er (fragmentisierenden) Selbstbeschränkung<strong>der</strong> Subpolitik ist e<strong>in</strong>e Sache. Aber Subpolitisierungsprozesse werden auch aktiv +e<strong>in</strong>gedämmt*,d.h. die durch sie gegebene reflexive Herausfor<strong>der</strong>ung wird von <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong>bewußt abzulenken versucht (wie die Kapitel 2 bis 4 – teils eher deskriptiv, teils problematisierend,teils eher abstrakt, teils konkret – deutlich zeigen werden). Die dazu e<strong>in</strong>gesetztenMittel wirken auf zwei Ebenen: Ideologien bilden den abstützenden, ver<strong>in</strong>nerlichten ideellenÜberbau, und Praxologien, also ablenkende, protestabsorbierende Verfahren und Rituale,bilden den praktischen Unterbau <strong>der</strong> versuchten Deflexion (Abschnitt 5.3). Die vielleichtwichtigste Ideologie <strong>in</strong> diesem Zusammenhang ist die funktionalistische Ideologie <strong>der</strong> Trennung<strong>der</strong> (Sub-)Systeme (Abschnitt 5.3.1), denn sie hilft das gegenseitig stabilisierende Zusammenspielzu verschleiern und unterstützt so wirksam die zentralen Praxologien <strong>der</strong> Übersetzung und<strong>der</strong> rituellen Integration (Abschnitt 5.3.2). Indem das Subsystem <strong>Politik</strong> sich aber auf dieses+Spiel* e<strong>in</strong>läßt (damit Subpolitik ihre potentielle Sprengkraft verliert) kommt es zwangsläufigzu e<strong>in</strong>em Verlust an politischen Gehalten. Wir haben es also mit e<strong>in</strong>er doppelt entpolitisierendenDialektik von Reflexion und Deflexion zu tun (Abschnitt 5.4).


LXXXIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEDer abschließende Exkurs wird sich schließlich über das eigentliche Thema dieser Arbeit h<strong>in</strong>ausgehende(im Vorangegangenen nur gestreifte) Fragen stellen: Wo liegt <strong>der</strong> Ansatzpunkt fürkritische Reflexionen? Kann im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aporie <strong>der</strong> Dialektik von Reflexion und Deflexionnoch +utopisch* gedacht werden? Um mich möglichen Antworten auf diese Fragen anzunähern,werde ich e<strong>in</strong>en dekonstruktiven Blick auf das Subjekt und se<strong>in</strong> (Bewußt-)Se<strong>in</strong> richten. Indiesem Zusammenhang möchte ich – anschließend an das hier formulierte Konzept e<strong>in</strong>er+authentischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* – versuchen zu zeigen, daß zu e<strong>in</strong>em +authentischen* Selbstals Moment des Wi<strong>der</strong>stands gefunden werden muß. Dieses befreit die wi<strong>der</strong>sprüchlicheVielheit se<strong>in</strong>er Inneren Stimmen (sich selbst spiegelnd und verwerfend) aus den Zwängen<strong>der</strong> Identität, um die Potentiale <strong>der</strong> Reflexion (als +aufrichtige*, im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenenWi<strong>der</strong>sprüchlichkeit vollzogene Spiegelung des Se<strong>in</strong>s) auf <strong>der</strong> Ebene des Denkens, aber auchauf <strong>der</strong> Ebene des Empf<strong>in</strong>dens und des Handelns zu verwirklichen. Nur so können die bestehendenKont<strong>in</strong>genzräume genutzt werden. Denn nur, wenn die stabilisierende, +statische*Dialektik von Reflexion und Deflexion <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dynamisierende reflexive Dialektik umgewandeltwird, werden Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet und Überschreitungen möglich. Konsens undkongruente E<strong>in</strong>heit müssen dafür aber als Bezugspunkte des Sozialen verabschiedet werden.An ihre Stelle sollten Differenz und Konvergenz treten, die allerd<strong>in</strong>gs nicht als +positive* Werteaufzufassen s<strong>in</strong>d, denn sonst wären sie selbst beschränkend. Und so werden hier am Endesicherlich ke<strong>in</strong>e fertigen +Rezepte* für die Verwirklichung e<strong>in</strong>er +authentischen* (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne*stehen.Doch wenn schon ke<strong>in</strong> fixes Ziel angebbar ist: Was ist die Motivation me<strong>in</strong>er Bemühungen?– Ich möchte hier <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>en kritischen Blick auf die Bed<strong>in</strong>gungen von <strong>Politik</strong> <strong>in</strong><strong>der</strong> Gegenwart werfen und versuchen, ihre Problematik übergreifend darzustellen, die aufgesplittetenDiskurse (unter <strong>der</strong> verb<strong>in</strong>denden Perspektive <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>) zusammenzuführen.In diesem +Umfassungsversuch* liegt e<strong>in</strong>e Gefahr: die Gefahr, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Metaerzählung abzudriftenund die fe<strong>in</strong>en Differenzierungen und die +dichte Beschreibung* (Geertz) <strong>der</strong> Mikroanalyseauszudünnen. Dieser Gefahr b<strong>in</strong> ich mir bewußt. Allerd<strong>in</strong>gs: Die alle<strong>in</strong>ige Konzentration auf+Mikropolitik* und ihre detaillierte Rekonstruktion befriedigt ebensowenig. Denn so geratendie (oft versteckten) Zusammenhänge aus dem Blick, für die sich e<strong>in</strong>e kritische Gesellschaftstheorie<strong>in</strong>teressieren muß. Es ist also e<strong>in</strong> dezidiert kritisches Projekt, dem ich mich verschriebenhabe, und am Ende sollen die ersten, allerd<strong>in</strong>gs noch alles an<strong>der</strong>e als klaren Konturen e<strong>in</strong>er


ENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?LXXXIIIkritischen Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung stehen, die um e<strong>in</strong> dialektisches Moment erweitertwurde.Wie kann dieses Projekt umgesetzt werden, welche (methodischen) Wege müssen dazue<strong>in</strong>geschlagen werden? – Wie sich bereits bei me<strong>in</strong>en Ausführung zum zweiten Kapitel zeigte,verfolge ich e<strong>in</strong>en +ökologischen Ansatz*: Die <strong>in</strong>direkte Thematisierung des Feldes <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>,die Würdigung <strong>der</strong> Zentralität des Kontextes, ermöglicht <strong>in</strong> ihrer Distanz e<strong>in</strong> deutlicheresErkennen <strong>der</strong> Problematiken, als wenn man sich auf die +Semantik des Innen* beschränkt.Das (thematische) +Zentrum*, das die <strong>Politik</strong> hier darstellt, soll deshalb – e<strong>in</strong>en Umweg beschreitend– +peripher* e<strong>in</strong>gekreist werden. Bei dieser E<strong>in</strong>kreisung wird es <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie, wie schonoben angedeutet wurde, um e<strong>in</strong>e (auf das +objektive* Außen bezogene) Spiegelung <strong>der</strong> Diskursegehen, die es (zusammenführend) zu rekonstruieren und zu dekonstruieren gilt. Wissenschaft,so verstanden, ist e<strong>in</strong> diskursives Mosaik, e<strong>in</strong>e Erkundung, e<strong>in</strong> Auf- und Heimsuchen vonDiskursen und ihre Reflexion, d.h. ihr Bezug auf die Kontexte, <strong>in</strong> denen sie generiert wurden.Aus diesem zuerst lückenhaften Mosaik ergibt sich im Verlauf <strong>der</strong> +Lektüre* e<strong>in</strong> immer dichteresBild – e<strong>in</strong> imag<strong>in</strong>äres, e<strong>in</strong> konstruiertes, e<strong>in</strong> partikulares Bild, das ke<strong>in</strong>en Anspruch auf Wahrheiterhebt, aber zu e<strong>in</strong>em reflexiven (Selbst-)Erkenntnisprozeß führen kann und damit an +Authentizität*orientiert ist. Damit diese +autopoietische* Authentizität voll zum Tragen kommt, schlageich e<strong>in</strong> zyklisches Lesen vor, schlage vor, dem Pfad <strong>der</strong> Verweisungen, den W<strong>in</strong>dungen desTextes zu folgen und vor allem eigene h<strong>in</strong>zuzufügen. So kann am ehesten das kritische wieutopische Potential dieses Textes entfesselt werden. Doch um zum Nicht-Ort <strong>der</strong> Utopiezu gelangen, gilt es e<strong>in</strong>en Anfang zu setzen!München, angesichts des Kommenden<strong>Anil</strong> K. <strong>Ja<strong>in</strong></strong>


1 POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES+RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS


2 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE1 POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES+RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFSGerade wer sich mit +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* beschäftigt und e<strong>in</strong>e Analyse des Politischenunter den verän<strong>der</strong>ten Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>nität beabsichtigt, sollte sichzunächst über den Gehalt des Begriffs +<strong>Politik</strong>* im allgeme<strong>in</strong>en klar werden. Das ist wenigertrivial als es zunächst den Ansche<strong>in</strong> hat. Denn wie je<strong>der</strong> Begriff, so unterlag auch <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>begriffe<strong>in</strong>em historischen Wandel, nahm verschiedene +Färbungen* an. Insbeson<strong>der</strong>e Foucaulthat ja <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er +Archäologie des Wissens* und <strong>in</strong> +Les mots et les choses* (Die Ordnung <strong>der</strong>D<strong>in</strong>ge) darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß die Geschichte des Wissens, <strong>der</strong> Begriffe und Diskurse vonDiskont<strong>in</strong>uität geprägt ist (siehe XLVIIf.). Damit aber nicht genug: Was e<strong>in</strong>er unter <strong>Politik</strong>versteht, ist darüber h<strong>in</strong>aus abhängig vom jeweiligen politischen Standort. <strong>Politik</strong> kodiert sichalso entlang e<strong>in</strong>er Zeit- und e<strong>in</strong>er (sozial-politischen) Raumachse.Deshalb soll hier <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> verschiedene Ströme aufspaltenden Geschichte des <strong>Politik</strong>begriffs(auch unter Berücksichtigung se<strong>in</strong>er konkreten Ausformungen) nachgegangen werden. DieseEtymologie <strong>der</strong> (praktischen) Semantik des Politischen wird beim antiken und mittelalterlichen<strong>Politik</strong>verständnis beg<strong>in</strong>nen und abschließend den Horizont e<strong>in</strong>es +postmo<strong>der</strong>nen* Verständnissesvon <strong>Politik</strong> umreißen. Dabei wird deutlich werden, daß sich gerade <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>begriff des+postmo<strong>der</strong>nen* Denkens (allerd<strong>in</strong>gs auf transformierter Ebene) wie<strong>der</strong> dem weit umfassendenursprünglichen Begriff annähert, nachdem sich das Feld und <strong>der</strong> Gehalt von <strong>Politik</strong> im funktionalistischgespaltenen +mo<strong>der</strong>nen* Nationalstaat immer mehr reduziert hat. Gerade durchse<strong>in</strong>e zunehmende Diskreditierung (als Folge dieser Beschränkung) und die aktuell festzustellende<strong>Politik</strong>müdigkeit ersche<strong>in</strong>t das +Recycl<strong>in</strong>g* e<strong>in</strong>es extensiven <strong>Politik</strong>begriffs unerläßlich.1.1 DAS ANTIKE UND MITTELALTERLICHE POLITIKVERSTÄNDNISWas bedeutet +<strong>Politik</strong>*? – Dieser Frage soll hier, wie erläutert, anhand e<strong>in</strong>er (durch Quellenzitatebelegten) Begriffsgeschichte nachgegangen werden. Und nicht zufällig beg<strong>in</strong>nt diese Darstellung<strong>in</strong> <strong>der</strong> (griechischen) Antike. Zweifellos: Auch vorher und an an<strong>der</strong>en Orten hat es das gegeben,


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 3was man heute mit dem Adjektiv +politisch* kennzeichnen würde. Dieser aktuelle <strong>Politik</strong>begriffbezieht sich auf:+[…] alle Handlungen, Bestrebungen und Planungen e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen, e<strong>in</strong>er Gruppe o<strong>der</strong> Organisation,die darauf ausgerichtet s<strong>in</strong>d, 1) Macht o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Anteil an <strong>der</strong> Macht <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>wesenszu erwerben, zu festigen und/o<strong>der</strong> zu erweitern, mit dem Ziel, den eigenen Interessen […] Geltungzu verschaffen […] (Innenpol. im weitesten S<strong>in</strong>n) und 2) E<strong>in</strong>fluß und Macht des eigenen Geme<strong>in</strong>wesensnach außen, gegenüber an<strong>der</strong>en Geme<strong>in</strong>wesen zu err<strong>in</strong>gen, zu festigen und/o<strong>der</strong> zu erweitern […](Außenpol. im weitesten S<strong>in</strong>n).* (Beck: Sachwörterbuch <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>)Doch die hier lexikalisch-umständlich def<strong>in</strong>ierte und zudem als allgeme<strong>in</strong>es und transhistorischesHandlungsphänomen gedeutete <strong>Politik</strong> existiert nicht getrennt von e<strong>in</strong>em politischen Bewußtse<strong>in</strong>.<strong>Politik</strong> ist nicht per se als +soziale Tatsache* greif- und begreifbar, son<strong>der</strong>n dies erfor<strong>der</strong>t es,daß man sie als <strong>Politik</strong> auch versteht und wahrnimmt: d.h. sich e<strong>in</strong>en Begriff von <strong>Politik</strong> macht.Dieses Wahrnehmen wie<strong>der</strong>um ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en sozial-historischen Kontext e<strong>in</strong>gebunden, undnach Kari Palonen läßt sich (auf +<strong>Politik</strong>* bezogen) zwischen horizontverengenden und horizontbefreiendenZeitaltern differenzieren, wobei e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>genzträchtige Dialektik zwischen <strong>in</strong>traund<strong>in</strong>ter<strong>in</strong>dividuellen Begriffsverän<strong>der</strong>ungsmechanismen wirksam ist (vgl. <strong>Politik</strong> als ›chamäleon-1artiger‹ Begriff; S. 3–11). Es gibt me<strong>in</strong>es Erachtens jedoch neben horizontverengenden und-befreienden Zeitaltern auch nachhaltig horizontprägende Epochen. Für den <strong>Politik</strong>begriffist e<strong>in</strong>e solche sicherlich die griechische Antike – und dies nicht alle<strong>in</strong>e, weil sich <strong>der</strong> Begriff2selbst vom griechischen +Polis* (Geme<strong>in</strong>wesen, Staat) ableitet. Das antike <strong>Politik</strong>verständniswirkte bis spät <strong>in</strong>s Mittelalter h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> und war sogar für die Neuzeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weise bestimmend,daß <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen zentralen Punkten geradezu e<strong>in</strong>e Gegenstellung bezogen wurde.Wie aber und was verstand man unter <strong>Politik</strong> im antiken Griechenland <strong>der</strong> unzähligen, untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>rivalisierenden (Stadt-)Staaten? – Zunächst e<strong>in</strong>mal läßt sich vermuten: Unterschiedliches.Denn da gab es nicht nur die Konkurrenz zwischen Sparta und Athen mit ihren stark abweichenden+Verfassungen*, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e ganze Reihe weiterer Poleis mit je eigenen Kon-3zeptionen und Organisationsformen des Politischen. Es würde aber zu weit führen, die ganzeVielfalt <strong>der</strong> Positionen und konkreten politischen Entwürfe auszuleuchten – es wäre zudemmüßig, denn für die weitere Geschichte s<strong>in</strong>d sie bedeutungslos geblieben. Deshalb soll hier<strong>der</strong> +Entstehung des Politischen bei den Griechen* (so <strong>der</strong> Titel e<strong>in</strong>es Buchs von ChristianMeier) unter Fokussierung auf Athen und dessen wichtigste (politische) Denker nachgegangen


4 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEwerden – also vor allem Platon und natürlich Aristoteles, <strong>der</strong> bis an die Schwelle zur Neuzeitals geradezu unangreifbare wissenschaftliche Autorität galt.Die von Meier behauptete +Entstehung* des Politischen bei den Griechen ist eng verknüpftmit dem wirtschaftlichen Aufschwung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Regionen <strong>der</strong> Ägäis, <strong>der</strong> wesentlich von e<strong>in</strong>erAblösung <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Natural- durch frühe Formen <strong>der</strong> Geldwirtschaft <strong>in</strong> Gang gesetzt wurde.Speziell Athen profitierte von <strong>der</strong> daraus resultierenden zunehmenden ökonomischen Verflechtungund war e<strong>in</strong> wichtiger Handels- und Warenumschlagplatz. Diese zentrale Stellungberuhte zum e<strong>in</strong>en auf kriegerischen Erfolgen und <strong>der</strong> Gründung von Kolonien (ab Mittedes 8. Jahrhun<strong>der</strong>ts v. Chr.). Der von Athen dom<strong>in</strong>ierte +attische Seebund* (geschlossen imJahr 477 v. Chr.) ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang als Höhepunkt athenischer Hegemonie zunennen. Zum an<strong>der</strong>en konnte man auf bedeutende Rohstofflager (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Silberm<strong>in</strong>envon Laureion) zurückgreifen und betrieb e<strong>in</strong>e blühende Handwerks-+Industrie*. 4Im Gefolge des allgeme<strong>in</strong>en wirtschaftlichen Aufschwungs kam es zu Emanzipationsbestrebungendes +Bürgertums*, das aber nur schrittweise se<strong>in</strong>e Machtansprüche durchsetzen konnte: In<strong>der</strong> griechischen Frühzeit wurde die typische Polis noch von Kle<strong>in</strong>königen regiert, die ihreHerrschaft vom Mythos ableiteten, aber von Beg<strong>in</strong>n an nur e<strong>in</strong>e schwache Position hatten.Schon bald löste <strong>in</strong> den meisten Regionen e<strong>in</strong>e Aristokratie des grundbesitzenden Adels dasalte monarchistische Herrschaftsmodell ab. Athen hatte bei dieser Entwicklung e<strong>in</strong>e Vorreiterrolle<strong>in</strong>ne. Bereits 683 v. Chr. wurde dort endgültig die Königsherrschaft durch das Archonat ersetzt,d.h. von <strong>der</strong> Adelsschicht aus ihrer Mitte für jeweils e<strong>in</strong> Jahr gewählte Beamte bildeten die5nach unterschiedlichen Funktionsbereichen getrennte Führung <strong>der</strong> Polis. E<strong>in</strong>e wachsendeNotlage <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>bauern, ausgelöst durch Überschuldung, sorgte jedoch für soziale Spannungen.Der Archon Solon erhielt deshalb 594 v. Chr. diktatorische Vollmachten und versuchte durchse<strong>in</strong>e Gesetzesreformen, die die Adelsmacht e<strong>in</strong>schränkten und die bis dah<strong>in</strong> übliche Praxis<strong>der</strong> Schuldknechtschaft aufhoben, e<strong>in</strong>en Interessenausgleich zu bewirken. Bald darauf erlebteAthen jedoch e<strong>in</strong>e Periode <strong>der</strong> Tyrannis, beg<strong>in</strong>nend mit Peisistratos (560–527 v. Chr.), demse<strong>in</strong>e Söhne Hippias und Hipparch nachfolgten. Erst die ab 510 v. Chr. e<strong>in</strong>geleiteten Reformendes Kleisthenes setzten wie<strong>der</strong> Akzente <strong>in</strong> Richtung +Demokratisierung*: E<strong>in</strong>e Timokratie substituiertedie alte Adelsvormacht, und Gleichheit vor dem Gesetz (Isonomie) sollte von nunan für alle Staatsbürger gelten. Ihre +Vollendung* fand die athenische Demokratie aber erstdurch die Verfassungsreformen des Perikles Mitte des 5. Jahrhun<strong>der</strong>ts vor Christus. 6


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 5Wenn allerd<strong>in</strong>gs hier von Demokratie die Rede ist, so gilt es sich vom humanistischen Mythos<strong>der</strong> Polis als e<strong>in</strong>er Gesellschaft <strong>der</strong> Freien und Gleichen zu befreien. An<strong>der</strong>erseits sollte mansich vor Augen halten, daß die Demokratie, so wie sie bestand, e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es, vom Pr<strong>in</strong>zipher gleichzeitig +demokratischeres* Gesicht trug als die repräsentativen Massendemokratienheute. Denn die antiken Stadtstaaten waren direkte Demokratien, d.h. die stimmberechtigtenBürger entschieden selbst über die sie betreffenden Angelegenheiten. Nur wie schon angedeutet:Tatsächlich stimmberechtigt waren wenige. Selbst <strong>in</strong> den +besten* Zeiten <strong>der</strong> Demokratiehatten lediglich 10–20% <strong>der</strong> auf 250.000 Personen geschätzten Population Athens politischeMitwirkungsrechte, so daß treffen<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er Oligarchie des patriarchalen Besitzbürgertumsgesprochen werden sollte. Der überwiegende Teil <strong>der</strong> Bevölkerung war von <strong>der</strong> Partizipationam +demokratischen* Prozeß nämlich ausgeschlossen: Das galt zum e<strong>in</strong>en für die beträchtlicheZahl <strong>der</strong> Unfreien, denn: +Ohne Sklaverei ke<strong>in</strong> griechischer Staat* (Engels: Anti-Dühr<strong>in</strong>g;7 8S. 168). Frauen und Fremde (Metöken) waren zwar frei, doch konnten auch sie nicht anden Versammlungen des Demos (<strong>der</strong> kle<strong>in</strong>sten, aber bedeutendsten Organisationse<strong>in</strong>heit)9teilnehmen. Auf diesen Volks- bzw. Geme<strong>in</strong>deversammlungen, die ursprünglich auf demMarktplatz (Agora) stattfanden, wurde e<strong>in</strong>e Großzahl <strong>der</strong> für das Geme<strong>in</strong>wesen relevantenEntscheidungen getroffen. Die organisatorische Leitung oblag dem Demarchos, e<strong>in</strong> von allenvolljährigen Bürgern zunächst gewählter, später aus ihren Reihen geloster Beamter. 10Das Losen gehörte übrigens zum festen Repertoire demokratischer Verfahren <strong>in</strong> ganz Griechenland.In e<strong>in</strong>er historischen Quelle zur E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Demokratie auf Erythrai (e<strong>in</strong>erKolonie Athens) heißt es:+Es soll e<strong>in</strong>en Rat geben, bestehend aus 120 Mitglie<strong>der</strong>n, ausgewählt durch Los […] E<strong>in</strong> Nichtbürgero<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Mann, <strong>der</strong> weniger als 30 Jahre alt ist, kann nicht im Rat se<strong>in</strong>.* (Zitiert nach Davies: Dasklassische Griechenland und die Demokratie; S. 94)Dieses Zufallspr<strong>in</strong>zip sicherte e<strong>in</strong>e Rotation <strong>der</strong> Ämter und half zur Verwirklichung des immerzentraler werdenden Gleichheitsgedankens. Es ist allerd<strong>in</strong>gs (neben den oben und im Zitatgemachten E<strong>in</strong>schränkungen) anzumerken, daß erst ab 458 v. Chr. <strong>der</strong> Zensus zur Zulassungzu öffentlichen Ämtern aufgehoben wurde. Der Bestand <strong>der</strong> damit weitgehend verwirklichtendemokratischen Ordnung war zum e<strong>in</strong>en durch den konservierenden Effekt des allseits verankertenRespekts vor <strong>der</strong> Tradition gewährleistet. Deshalb war auch nach Errichtung <strong>der</strong>


6 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDemokratie e<strong>in</strong>e Tendenz zu ihrer retrospektiven historischen Rückverlagerung beobachtbar(vgl. Bleicken: Die athenische Demokratie; S. 13f.). Zum an<strong>der</strong>en waren vielfältige Möglichkeitenzur gerichtlichen Klage gegeben. E<strong>in</strong>e schriftliche Fixierung <strong>der</strong> Gesetze existierte seit Solon.E<strong>in</strong>e geschriebene Verfassung war jedoch unbekannt. (Vgl. ebd.; S. 285–290)Soviel zu den Transformationen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> politischen Praxis. Diese Verän<strong>der</strong>ungen korrespondiertenmit e<strong>in</strong>er Verschiebung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bedeutung zentraler Begriffe. Dazu Meier:+Soweit wir den Wandel <strong>in</strong> den wichtigsten Begriffen während des 5. Jahrhun<strong>der</strong>ts [v. Chr.] beobachtenkönnen, sche<strong>in</strong>t sich […] zu bestätigen: Verfassung, Recht, Macht, Gleichheit, Freiheit, Bürgerschaftwerden als politische Probleme […] begriffen und eben dadurch und eben dar<strong>in</strong> dem Handeln verfügbar.*(Die Entstehung des Politischen bei den Griechen; S. 311)Als beson<strong>der</strong>s bedeutsam stellt Meier die Entwicklung vom Denken <strong>der</strong> Eunomie (<strong>der</strong> vonden Göttern gesetzten, nach sozialem Rang abstufenden +rechten* Ordnung) zur gleicheitsundgerechtigkeitsbetonenden Isonomie dar (siehe S. 4), die zu e<strong>in</strong>em neuen Bürgerbewußtse<strong>in</strong>führte. Dieses gründete auch auf <strong>der</strong> Auffassung, daß die menschliche Ordnung vom Menschenselbst gestaltet werden kann: +Es bildete sich e<strong>in</strong>e politische Identität.* (Ebd.; S. 242) 11Trotzdem kam es zum langsamen Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> Demokratie <strong>in</strong> Athen. Nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lageim Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) etablierte sich das Regime <strong>der</strong> +Dreißig Tyrannen*.Dieses konnte sich zwar nur kurz halten, und 403 v. Chr. wurde die Demokratie wie<strong>der</strong>errichtet,ja sogar (durch e<strong>in</strong>e Beschneidung <strong>der</strong> exekutiven und judikativen Kompetenzen sowie e<strong>in</strong>eAusdehnung des Los-Systems) erweitert. Es war jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge nicht nur e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>esNachlassen des politischen Interesses festzustellen, son<strong>der</strong>n die Autonomie <strong>der</strong> griechischenPoleis wurde durch das Eroberungsstreben <strong>der</strong> makedonischen Könige Philipp (359–336 v.Chr.) und Alexan<strong>der</strong> (336–323 v. Chr.) erheblich e<strong>in</strong>geschränkt. Das faktische Ende <strong>der</strong>Demokratie <strong>in</strong> Athen kam dann im Jahr 322 v. Chr. mit dem endgültigen Sieg <strong>der</strong> Makedonierüber die athenische Flotte. Alexan<strong>der</strong>s Nachfahren ließen die Unabhängigkeit Athens undse<strong>in</strong>e politischen Institutionen nach außen h<strong>in</strong> zwar unangetastet, aber es handelte nun erstrecht um e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> formale +Sche<strong>in</strong>demokratie*. Die lokalen Eliten g<strong>in</strong>gen dabei zum eigenenMachterhalt e<strong>in</strong>e Koalition mit den Eroberern e<strong>in</strong>, und e<strong>in</strong> verschärfter Zensus sorgte für denpolitischen Ausschluß des +geme<strong>in</strong>en* Volks. (Vgl. Bleicken: Die athenische Demokratie; S.365–372 sowie Mossé: Der Zerfall <strong>der</strong> athenischen Demokratie)


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 7Ausgerechnet <strong>in</strong> die Zeit des beg<strong>in</strong>nenden Nie<strong>der</strong>gangs <strong>der</strong> Demokratie fallen die großenpolitischen Entwürfe Platons und Aristoteles’. Dies mag erklären, daß beide wenig von <strong>der</strong>Demokratie (<strong>in</strong> ihrer damaligen historischen Ausprägung) hielten. Bei Aristoteles ist die Demokratiegar zusammen mit Oligarchie und Tyrannis e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> drei +entarteten* Verfassungsformen(siehe S. 11). Doch zunächst zu Platon und se<strong>in</strong>em <strong>Politik</strong>begriff:Platon (427–347 v. Chr.) stammte aus <strong>der</strong> Adelsschicht und war e<strong>in</strong> Schüler des Sokrates(ca. 470–399 v. Chr.), welchen er sehr verehrte. Letzerem kommt deshalb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en durchgängigdialogisch abgefaßten Schriften die Hauptrolle zu, und letztendlich ist es deshalb auch schwerzu unterscheiden, was nun im e<strong>in</strong>zelnen die Position Platons und die des Sokrates darstellt.Beson<strong>der</strong>s betroffen war Platon von <strong>der</strong> H<strong>in</strong>richtung des Lehrers im Jahr 399 v. Chr. nach<strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>errichtung <strong>der</strong> Demokratie. Schon vorher dem demokratischen Pr<strong>in</strong>zip gegenüberskeptisch e<strong>in</strong>gestellt und Hoffnungen auf das +Regime <strong>der</strong> Dreißig* setzend (die aber enttäuschtwurden), war er nun endgültig von <strong>der</strong> Schädlichkeit <strong>der</strong> Demokratie überzeugt.In e<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>er Hauptwerke, <strong>der</strong> +Apologie*, berichtet Platon von <strong>der</strong> e<strong>in</strong>drucksvollen aberfehlschlagenden Verteidigung des Sokrates, <strong>der</strong> ungerechtfertigterweise <strong>der</strong> Verführung <strong>der</strong>Jugend beschuldigt und zum Tod durch den +Giftbecher* verurteilt wurde. Im anschließendenGespräch mit Kriton, <strong>der</strong> ihm die Flucht ermöglichen will, legt Sokrates die Gründe se<strong>in</strong>erAnnahme des selbst zu vollziehenden Urteils dar. Aus den vorgebrachten Argumenten wirdauch se<strong>in</strong>e politische Auffassung deutlich. Sokrates identifiziert den Staat, die Polis und damitdie politische Ordnung mit dem Gesetzlichen. Auch wenn e<strong>in</strong> Urteil im E<strong>in</strong>zelfall ungerechtersche<strong>in</strong>en mag, so wäre doch die H<strong>in</strong>wegsetzung über das Gesetz e<strong>in</strong> noch größeres Unrechtund würde +dem ganzen Staat den Untergang […] bereiten* (Kriton; S. 287 [50b]). 12Da aber die gesetzliche Ordnung offensichtlich nicht e<strong>in</strong>mal geeignet ist, den Gerechten vorUnrecht zu bewahren, entwirft Platon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift vom Staat, <strong>der</strong> +Politeia*,13die Utopiee<strong>in</strong>er idealen Polis, die weniger vom +Geist <strong>der</strong> Gesetze* <strong>in</strong>spiriert ist, als auf den Mut, dieMäßigung und vor allem die Weisheit <strong>der</strong> sie konstituierenden Personen baut. Nicht zufälligbeg<strong>in</strong>nt <strong>der</strong> Text mit <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Denn <strong>Politik</strong> ist fürPlaton untrennbar mit dem Problem <strong>der</strong> Gerechtigkeit verbunden. Gerechtigkeit wie<strong>der</strong>umist <strong>der</strong> Ausdruck <strong>der</strong> Weisheit und des Guten schlechth<strong>in</strong>. Nur wer gerecht lebt, kann e<strong>in</strong>gutes Leben führen und Glückseligkeit (eudaimonia) erlangen: +Der Gerechte ist glückseligund <strong>der</strong> Ungerechte elend* (S. 103 [354a]), so se<strong>in</strong>e durch den Mund des Sokrates dargelegte


8 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEThese. Genau entgegengesetzt lautet die Argumentation des Sophisten14Thrasymachos. Sieist <strong>in</strong>teressant, da sie e<strong>in</strong>er +mo<strong>der</strong>nen*, ideologiekritischen Position nahe kommt:+[…] so weit bist du ab mit de<strong>in</strong>en Gedanken von <strong>der</strong> Gerechtigkeit […], daß du noch nicht weißt,daß die Gerechtigkeit […] des Stärkeren und Herrschenden Nutzen, des Gehorchenden und Dienendenaber eigener Schade […] Am allerleichtesten wirst du es erkennen, wenn du dich an die vollendetsteUngerechtigkeit hältst […] Dies aber ist die sogenannte Tyrannei, welche nicht im Kle<strong>in</strong>en sich fremdesGut […] zueignet […], son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>sgesamt alles […] Auf diese Art, o Sokrates, ist die Ungerechtigkeit[…] edler und vornehmer als die Gerechtigkeit, wenn man sie im großen treibt […]* (Ebd.; S. 73[343a–344c])Platon entkräftet diese Position nicht überzeugend und baut auf die automatische Identifizierungdes Gerechten mit dem Guten (<strong>der</strong> letztendlich auch Thrasymachos erliegt). Aber wie verwirklichtsich nun die Gerechtigkeit im +platonischen* Idealstaat? – Gerechtigkeit, so Platons allgeme<strong>in</strong>eBestimmung, besteht dar<strong>in</strong>, daß jedem das Se<strong>in</strong>e zukommt. Das gilt auch im Staat. Der e<strong>in</strong>zelneist deshalb gemäß se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen Fähigkeiten (Platon lehnt also – und das ist durchaus+revolutionär* – das Geburtspr<strong>in</strong>zip ab) e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> drei Stände zuzuordnen: dem die Grundversorgunggarantierenden Nährstand, dem die Sicherheit gewährleistenden Wehrstand und demgeistig sowie politisch führenden Lehrstand. Je<strong>der</strong> dieser Stände muß, um se<strong>in</strong>e Aufgabe erfüllenzu können, über bestimmte Tugenden verfügen: Für die Angehörigen des Nährstands genügtdie Tugend <strong>der</strong> Mäßigung. Der Wehrstand muß zusätzlich über Tapferkeit bzw. Aufrichtigkeitverfügen. Im Lehrstand vere<strong>in</strong>igen sich Mäßigung, Aufrichtigkeit und Weisheit zur Gerechtigkeit.Deshalb werden aus se<strong>in</strong>en Reihen die alternierend regierenden +Philosophenkönige* gekürt.Was die Bereiche Kultur, Bildung und Religion betrifft, so s<strong>in</strong>d diese ganz den staatlich-politischenErfor<strong>der</strong>nissen untergeordnet. Und um von vorne here<strong>in</strong> je<strong>der</strong> sozialen Entzweiung vorzubeugen,for<strong>der</strong>t Platon e<strong>in</strong>e Gütergeme<strong>in</strong>schaft sowie e<strong>in</strong>e Frauen- und K<strong>in</strong><strong>der</strong>geme<strong>in</strong>schaft. Trotzdemsieht er, daß auch se<strong>in</strong> Idealstaat (da er von Menschen geformt wird) nicht für die Ewigkeitgeschaffen ist. Die Aristokratie <strong>der</strong> Philosophenkönige geht durch den Verlust <strong>der</strong> Tugendund das Besitzstreben unweigerlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Timokratie und Oligarchie über, die wie<strong>der</strong>umden Boden für die Demokratie bereitet. Damit ist <strong>der</strong> Schritt zur endgültigen Pervertierung<strong>der</strong> politischen Ordnung getan. Denn das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Freiheit, für das die Demokratie steht,kennt ke<strong>in</strong> Maß, untergräbt sich selbst und endet schließlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tyrannis: +Die größteFreiheit führt <strong>in</strong> die größte Unfreiheit*. 15


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 9Im se<strong>in</strong>er zweiten, schon durch den Titel erkennbar <strong>Politik</strong>-bezogenen Schrift, dem Dialog+<strong>Politik</strong>os* (Der Staatsmann), werden ähnliche Gedanken wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Politeia* entwickelt,und es wird noch e<strong>in</strong>mal herausgestrichen, daß nur die Weisheit <strong>der</strong> politischen Führungdas allgeme<strong>in</strong>e Wohl sichern kann. E<strong>in</strong>e Wende dieses Denkens wird dagegen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schrift+Nomoi* (Die Gesetze) vollzogen. Hier verarbeitet Platon die Erfahrungen, die er aus demScheitern des auf Sizilien unternommenen Umsetzungsversuchs se<strong>in</strong>es <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Politeia* entworfenenIdealstaats gewonnen hat. Jetzt plädiert selbst er für e<strong>in</strong>e Herrschaft <strong>der</strong> Gesetze,läßt auch soziale Heterogenität zu und for<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e Mischverfassung aus demokratischen undaristokratisch-monarchistischen Elementen, so daß Freiheit (als demokratisches Pr<strong>in</strong>zip) undWeisheit (als aristokratisches Pr<strong>in</strong>zip) sich verb<strong>in</strong>den können.Aristoteles (384–322 v. Chr.), Sohn e<strong>in</strong>es Arztes am makedonischen Königshof, war <strong>der</strong> +Meisterschüler*Platons, welcher 385 v. Chr. e<strong>in</strong>e philosophische Lehranstalt, die berühmte +Akademie*,gegründet hatte. Nach dessen Tod wurde trotzdem allerd<strong>in</strong>gs nicht Aristoteles zum Nachfolgerberufen – wohl, da se<strong>in</strong>e Auffassungen zu stark von denen Platons abwichen.16Letzeres giltauch für se<strong>in</strong> politisches Denken: Im Wissenschaftssystem des Aristoteles nimmt die <strong>Politik</strong>den ersten Rang unter den praktischen Wissenschaften e<strong>in</strong>. Dies begründet er wie folgt:+Jedes praktische Können und […] ebenso alles Handeln […] strebt nach e<strong>in</strong>em Gut […] Da es aberviele Formen des Handelns, des praktischen Könnens und des Wissens gibt, ergibt sich auch e<strong>in</strong>eVielzahl von Zielen […] Überall nun, wo solche ›Künste‹ e<strong>in</strong>em bestimmten Bereich untergeordnets<strong>in</strong>d […], da ist durchweg das Ziel <strong>der</strong> übergeordneten Kunst höheren Ranges als das <strong>der</strong> untergeordneten:um des ersteren willen wird ja das letztere verfolgt.* (Nikomachische Ethik; S. 5 [1094a]) 17Es muß aber gemäß Aristoteles e<strong>in</strong> erstes Gut geben. Welches dies ist, kann zunächst nichtgesagt werden. Allerd<strong>in</strong>gs läßt sich bestimmen, welchem Bereich es zuzuordnen ist:+Man wird zugeben müssen: es gehört <strong>in</strong> den Bereich <strong>der</strong> Kunst, welche dies im eigentlichsten undsouveränsten S<strong>in</strong>ne ist. Als solche aber erweist sich die Staatskunst […] Wir sehen ja, wie ihr selbstdie angesehensten ›Künste‹ untergeordnet s<strong>in</strong>d, z.B. Kriegs-, Haushalts- und Redekunst.* (Ebd.; S.6 [1094a])Nachdem er so die Staatskunst aufgrund ihres umfassenden Charakters als erste praktischeWissenschaft bestimmt hat, stellt er sich endlich die Frage nach dem Wesen des von ihr verfolgtenund damit höchsten Zieles: Das erste Gut (telos) muß notwendig e<strong>in</strong> Gutes (agathon)


10 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEse<strong>in</strong>, und fragt man die Menschen, so nennen sie gemäß Aristoteles übere<strong>in</strong>stimmend dasGlück (eudaimonia) als dieses e<strong>in</strong>zige sich selbst genügende Ziel, dem folglich die <strong>Politik</strong>zu dienen hat. 18Das politische Handeln muß deshalb aber auch ethischen Pr<strong>in</strong>zipien gerecht werden. Dennnur wer ethisch und politisch verantwortlich handelt (bios politikos), kann dauerhaftes Glückerreichen – die ungezügelte H<strong>in</strong>gabe an die Lust (bios apolaustikos) schafft nur kurzzeitigesVergnügen.19Die ethischen Tugenden wie<strong>der</strong>um ergeben sich aus <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Polis.Es handelt sich um konventionelle Werte, die zur Charakterbildung e<strong>in</strong>geübt und ver<strong>in</strong>nerlichtwerden müssen. Auf theoretischer Ebene läßt sich allerd<strong>in</strong>gs die Aussage treffen, daß dieTugend stets <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitte zwischen den Extremen angesiedelt ist. Zentrale Tugend ist dieGerechtigkeit, denn das +Gerechte bedeutet das Mittlere* (ebd.; S. 128 [1131b]) und umgekehrt.Auf staatlicher Ebene me<strong>in</strong>t Gerechtigkeit deshalb e<strong>in</strong> Zweifaches: +Das Gerechte ist […]die Achtung vor Gesetz und bürgerlicher Gleichheit* (Ebd., S. 120 [1129a]).Allerd<strong>in</strong>gs sollte man sich bei dieser Bestimmung nicht täuschen. Aristoteles ist ke<strong>in</strong>eswegse<strong>in</strong> egalitärer Denker, son<strong>der</strong>n stets betont er (gegen die demokratischen Bestrebungen desVolks gewandt):+[…] für Menschen <strong>in</strong> unterschiedlicher Stellung sei das Gerechte und die Würdigkeit je verschieden.*(<strong>Politik</strong>; S. 181 [1282b]) 20Diese ungleiche Stellung <strong>der</strong> Menschen ist für Aristoteles naturgegeben. Schon die häuslicheOrdnung ist deshalb durch e<strong>in</strong> Ungleichheitsverhältnis bestimmt. Der Patriarch herrscht selbstverständlichund une<strong>in</strong>geschränkt über die zum Haushalt gehörenden Frauen, K<strong>in</strong><strong>der</strong> undSklaven.21Die Herrschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Polis ist dagegen e<strong>in</strong>e Herrschaft über Freie und Gleiche,welche die politischen Lasten unter sich verteilen. Dazu Aristoteles:+Daher beanspruchen vernünftigerweise die Ehre die Edelgeborenen, die Freien und die Reichen.Denn es muß Freie geben [die die öffentlichen Ämter besetzen] und Leute, die die Steuerlast tragen.Nicht könnte e<strong>in</strong> Staat bestehen aus lauter Mittellosen, ebenso nicht aus Sklaven.* (Ebd.; 1283a)Die Bildung des Staates ist nun aber ke<strong>in</strong>eswegs aus bloßer Not geboren. An<strong>der</strong>s als z.B.Platon, ist Aristoteles <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, daß <strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong> zoon politikon, e<strong>in</strong> soziales Wesenist. Das Wesen des Sozialen wie<strong>der</strong>um ist die Heterogenität: +Se<strong>in</strong>er Natur nach ist <strong>der</strong> Staat


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 11e<strong>in</strong>e Vielheit* (<strong>Politik</strong>; S. 108 [1261a]). Deshalb kritisiert er auch Platons homogenisierendesStaatsmodell. Beson<strong>der</strong>s wendet er sich gegen die Güter- sowie die Frauen und K<strong>in</strong><strong>der</strong>geme<strong>in</strong>schaft.Insgesamt gesehen ist Aristoteles’ politisches Denken stabilitätsorientiert und hierarchisch.Dies zeigt sich auch bei se<strong>in</strong>er Beurteilung <strong>der</strong> verschiedenen Verfassungsformen: Monarchieund Aristokratie s<strong>in</strong>d gute Herrschaftsformen, da <strong>in</strong> ihnen die Besten und Tugendhaftestendie Macht ausüben. Beide Formen unterscheiden sich im wesentlichen dadurch, daß <strong>in</strong> <strong>der</strong>Monarchie, im Gegensatz zur Aristokratie, nur e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelner an <strong>der</strong> Spitze des Staates steht.E<strong>in</strong> qualitativer Unterschied besteht h<strong>in</strong>gegen zu den Herrschaftsformen <strong>der</strong> Oligarchie und<strong>der</strong> Tyrannis, welche die +Entartungen* von Aristokratie und Monarchie darstellen: Der Tyrannübt e<strong>in</strong>e unumschränkte, gewaltsam aufrecht erhaltene Alle<strong>in</strong>herrschaft im S<strong>in</strong>ne se<strong>in</strong>er Eigen<strong>in</strong>teressenaus, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Oligarchie zählt weniger die Tugendhaftigkeit als <strong>der</strong> Besitz. Danormalerweise nur wenige über großen Besitz verfügen, herrschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Oligarchie deshalbdie wenigen Wohlhabenden.In <strong>der</strong> Demokratie, die <strong>in</strong> gewisser Weise <strong>der</strong> Tyrannis gleicht, herrschen dagegen diejenigen,die nicht nur Tugend vermissen lassen, son<strong>der</strong>n zudem besitzlos s<strong>in</strong>d. Ihre Zahl ist <strong>in</strong> <strong>der</strong>Regel groß. Die Demokratie unterscheidet sich also von <strong>der</strong> Oligarchie durch e<strong>in</strong> substantiellesqualitatives sowie durch e<strong>in</strong> abgeleitetes quantitatives Merkmal. Die Politie, als letzte <strong>der</strong>sechs von Aristoteles unterschiedenen Verfassungsformen, ist e<strong>in</strong>e Mischform aus Oligarchieund Demokratie. Doch obwohl sie Elemente zweier eigentlich +entarteter* Verfassungenbe<strong>in</strong>haltet, ist sie gemäß Aristoteles e<strong>in</strong>e gute, vielleicht sogar die beste Verfassungsform, weilsie die größte Stabilität aufweist. Durch ihre enorme Zahl können die Herrschenden <strong>in</strong> <strong>der</strong>Politie den Mangel an Tugend kompensieren, <strong>der</strong> vielleicht im Vergleich zum e<strong>in</strong>zelnen Aristokrateno<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em Monarchen festzustellen wäre, und das politische Verantwortungsbewußtse<strong>in</strong>an<strong>der</strong>erseits wird durch das Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es gewissen Besitzes sichergestellt. Aristoteleskennt also drei gute Formen <strong>der</strong> Verfassung (Politie, Aristokratie und Monarchie) sowie drei+Entartungen* (Demokratie, Oligarchie und Tyrannis), die sich jeweils durch die Zahl <strong>der</strong>an <strong>der</strong> politischen Herrschaft beteiligten Personen unterscheiden.Wollte man zum Abschluß e<strong>in</strong> Resumé über den aristotelischen <strong>Politik</strong>begriff abgeben, sohätte man e<strong>in</strong> doppeltes <strong>Politik</strong>verständnis des Aristoteles zu konstatieren: <strong>Politik</strong> umfaßt beiihm zum e<strong>in</strong>en die gesamte Sphäre des sozialen und des ethischen (Handelns). Zum an<strong>der</strong>en


12 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEist sie im engeren S<strong>in</strong>n Staats- und Verfassungslehre, wobei (wie bei Platon) die Frage nach<strong>der</strong> guten und gerechten Verfassung im Vor<strong>der</strong>grund steht. Dieses umfassende (und zugleich<strong>in</strong> den Kontext <strong>der</strong> Tradition e<strong>in</strong>gebettete) <strong>Politik</strong>verständnis ist für viele zukünftige Konzeptionendes Politischen (vor allem im Mittelalter und des Konservatismus) bestimmend geblieben.Darüber h<strong>in</strong>aus hat die aristotelische Term<strong>in</strong>ologie die politische Begrifflichkeit bis heutemaßgeblich geprägt.In hellenistischer Zeit gab es dann ke<strong>in</strong>e wirklich bedeutenden politischen Neuentwürfe mehr:Wilfried Nippel spricht gar von e<strong>in</strong>em +Verlust an theoretischer Innovationsfähigkeit* (PolitischeTheorien <strong>der</strong> griechisch-römischen Antike; S. 32). Dies hatte verschiedene Gründe: Zum e<strong>in</strong>enkam es durch die Herausbildung von philosophischen Schulen zu e<strong>in</strong>er Konzentration aufdie Pflege des tradierten Theoriebestands. Zum an<strong>der</strong>en war e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> politischenVerhältnisse e<strong>in</strong>getreten. Wie bereits angesprochen, hatte die Polis im Zuge <strong>der</strong> makedonischenExpansion ihre Autonomie weitgehend verloren, und für die alten Eliten stand deshalb dieAufrechterhaltung ihres E<strong>in</strong>flusses im Vor<strong>der</strong>grund, was orig<strong>in</strong>elles politisches Denken nichtgerade för<strong>der</strong>te (vgl. ebd.; S. 32ff). Dieser Mangel an Orig<strong>in</strong>alität gilt nach Peter Weber-Schäferauch für die politische Philosophie im antiken Rom:+Rom hat ke<strong>in</strong>e politische Theorie im eigentlichen S<strong>in</strong>ne gekannt; ihre Funktion übernahm die Pragmatiedes politischen Handelns auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en, die […] Diszipl<strong>in</strong> des Staatsrechts auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite.*(E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die antike politische Theorie; S. 95)In diesem Zusammenhang zitiert er auch Condorcet:+Der Zerfall <strong>der</strong> griechischen Republiken zog den Zerfall <strong>der</strong> politischen Wissenschaft nach sich […]Ke<strong>in</strong> römisches Werk über <strong>Politik</strong> ist uns überliefert. Das Werk Ciceros über die Gesetze [De legibus]war wahrsche<strong>in</strong>lich nur e<strong>in</strong> zurechtgemachter Auszug aus griechischen Büchern.* (Zitiert nach ebd.) 22Aber selbst wenn es <strong>in</strong> Rom vielleicht ke<strong>in</strong>e ähnlich hochstehende politische Philosophiegab wie die im klassischen Athen, so hat man sich auch dort e<strong>in</strong>en (historisch nachwirkenden)Begriff von <strong>Politik</strong> gemacht, und gerade Ciceros Werk ist <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht durchaus relevant.Cicero (106–43 v. Chr.) war e<strong>in</strong> politischer Praktiker, erklomm als Konsul (63 v. Chr.) kurzeZeit sogar die Spitze <strong>der</strong> politischen Macht und war vor allem für se<strong>in</strong>e brillanten Redenbekannt.23Se<strong>in</strong> politisches Hauptwerk stellt die Schrift +De re publica* (Über den Staat) dar.


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 13Diese ist <strong>in</strong> Anlehnung an Platons +Politeia* konzipiert. Als spezifisch kann jedoch se<strong>in</strong> legalistischesund utilitaristisches Staats- und <strong>Politik</strong>verständnis gelten. In se<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition von Staatund Volk heißt es nämlich:+Es ist also […] <strong>der</strong> Staat […] die Sache des Volkes; e<strong>in</strong> Volk aber ist nicht jede […] Ansammlungvon Menschen, son<strong>der</strong>n die Ansammlung e<strong>in</strong>er Menge, die sich auf Grund <strong>der</strong> Anerkennung e<strong>in</strong>erRechtsordnung und <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>samkeit des Nutzens zusammengeschlossen hat.* (Über den Staat;S. 65 [I,39]) 24Die Verwirklichung dieses geme<strong>in</strong>samen Nutzens be<strong>in</strong>haltet für Cicero die Vorstellung e<strong>in</strong>erzw<strong>in</strong>genden Notwendigkeit von Hierarchien, wie sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er zweiten (im obigen Condorcet-Zitat bereits erwähnten) politischen Schrift, +De legibus* (Vom Gesetz), sehr deutlich zeigt.Dort bemerkt er:+Ihr seht also, die Bedeutung <strong>der</strong> Obrigkeit besteht dar<strong>in</strong>, vorzustehen und das Rechte, das Nützliche,das mit den Gesetzen <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang stehende vorzuschreiben. Wie nämlich über den Obrigkeiten dieGesetze, so stehen über dem Volk die Obrigkeiten, und man kann wahrheitsgemäß sagen, daß dieObrigkeit das redende Gesetz, das Gesetz aber die stumme Obrigkeit ist.* (S. 299 [III,2])Allerd<strong>in</strong>gs trägt die Obrigkeit die Verantwortung für das Geme<strong>in</strong>wohl und ist, wie schon obenankl<strong>in</strong>gt, an e<strong>in</strong>e übergeordnete Moral gebunden: +Die Befehle sollen gerecht se<strong>in</strong>* (ebd.;S. 301 [III,5]), for<strong>der</strong>t Cicero. In diesem Zusammenhang kommt auch e<strong>in</strong> Naturrechtsdenken 25zum Tragen, welches das positive Recht und die Herrschaft <strong>der</strong> Obrigkeit an die Transzendenz<strong>der</strong> göttlichen Ordnung rückb<strong>in</strong>det:+Nichts ist sodann dem Recht und <strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Natur so angemessen […] wie Herrschaftsgewalt,ohne die we<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Haushalt, noch e<strong>in</strong>e Bürgergeme<strong>in</strong>schaft […] noch das Weltall selbst bestehenkann. Denn dieses gehorcht Gott, und ihm folgen Meere und Län<strong>der</strong>, und das Leben <strong>der</strong> Menschengehorcht den Befehlen des obersten Gesetzes.* (Ebd.; S. 299 [III,3]).Cicero war, wie erwähnt, nur kurze Zeit an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Macht <strong>in</strong> Rom, blieb aber weiterh<strong>in</strong>politisch aktiv und e<strong>in</strong>flußreich.26Als politischer Denker plädierte er, ähnlich wie Platon <strong>in</strong>den +Nomoi* und Aristoteles <strong>in</strong> <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong>*, für e<strong>in</strong>e Mischverfassung. Diese Mischverfassungsollte gemäß se<strong>in</strong>en Vorstellungen Elemente aller drei nach ihm grundlegenden Verfassungs-


14 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEformen – d.h. Monarchie, Aristokratie und Demokratie – vere<strong>in</strong>igen, um so die größtmöglicheStabilität zu gewährleisten:+Es sche<strong>in</strong>t mir nämlich das beste, daß es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staate etwas Überragendes, e<strong>in</strong>em Könige Gleichendesgibt, daß an<strong>der</strong>es <strong>der</strong> Autorität <strong>der</strong> ersten Männer zugeteilt und überantwortet ist, und daß gewisseD<strong>in</strong>ge dem Urteil und dem Willen <strong>der</strong> Menge vorbehalten s<strong>in</strong>d.* (Über den Staat; S. 85 [I,69])27E<strong>in</strong>e solche Mischverfassung war <strong>in</strong> <strong>der</strong> römischen Republik weitgehend verwirklicht: E<strong>in</strong>hierarchisch aufgebauter Magistrat (an <strong>der</strong> Spitze die zwei Konsuln) war mit den exekutiven28 29Aufgaben betraut. Der Senat hatte beratende Funktion. Er setzte sich aus den Oberhäuptern<strong>der</strong> noblen Familien (Patres) sowie ehemaligen Konsularbeamten zusammen, und repräsentiertesomit das aristokratische Element.30Die Volksversammlungen (Komitien) wählten den Magistratund hatten legislative sowie bestimmte judikative Kompetenzen <strong>in</strong>ne. Dabei galt +selbstverständlich*e<strong>in</strong> strenger Zensus und +natürlich* waren auch Frauen und Sklaven vom politischenProzeß ausgeklammert. Dies führte, neben <strong>der</strong> ohneh<strong>in</strong> bestehenden Konkurrenz <strong>der</strong> Verfassungsorgane,zu erheblichen sozial-politischen Spannungen. E<strong>in</strong> Ausdruck dieser Spannungenwaren die bekannten Slavenaufstände im 1. und 2. Jh. v. Chr. Auch unter Bauern, den ethnischenM<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten und Plebejern gab es jedoch große soziale Unzufriedenheit. 31Die resultierende politische Unruhe konnte Gaius Julius Caesar (100–44 v. Chr.) für se<strong>in</strong>eMachtambitionen nutzen. Zuerst (59 v. Chr.) Konsul, dann – nach dem Gallienfeldzug (58–5132v. Chr.) und dem Sieg im Bürgergrieg (49–46 v. Chr.) – zum diktatorischen Alle<strong>in</strong>herrschergeworden, bereitete er das Feld für die mit se<strong>in</strong>em Adoptivsohn Augustus33e<strong>in</strong>setzende Zeitdes +Pr<strong>in</strong>cipats*. Caesar selbst lehnte jedoch die an ihn herangetragene Königswürde ab. WasCicero betrifft, so war dieser ihm gegenüber ambivalent e<strong>in</strong>gestellt. Obwohl Caesar freundschaftlichverbunden, billigte er zuletzt dessen Ermordung, da er die Hoffnung aufgegeben hatte,er würde die Republik wie<strong>der</strong>herstellen. 34Genau damit, mit <strong>der</strong> angeblichen Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Republik, versuchte übrigens Augustusse<strong>in</strong>e Herrschaft zu legitimieren: 27 v. Chr. proklamierte er die res publica restituta und formuliertehochtrabend, er erstrebe +sterbend die Hoffnung mit <strong>in</strong>s Grab zu nehmen, daß dievon mir [ihm] gelegten Fundamente <strong>der</strong> res publica fest an ihrer Stelle bleiben* (zitiert nachGiebel: Augustus; S. 72). Die mit Augustus beg<strong>in</strong>nende Kaiserzeit brachte Rom nach denWirren <strong>der</strong> letzten Jahre <strong>der</strong> Republik zunächst e<strong>in</strong>e neue Blüte – nur hatte die pr<strong>in</strong>cipale


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 15Herrschaft freilich nichts mit e<strong>in</strong>er republikanischen Regierungsweise geme<strong>in</strong>: Das Volk hattealle<strong>in</strong>e die une<strong>in</strong>geschränkte Vollmacht des Imperators zu bestätigen und die Befugnisse desSenats waren erheblich beschnitten. Das System nahm <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge immer autokratischeresowie kultische Formen an, und schon <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten des 2. Jh. war die kaiserlicheHerrschaft – auch aufgrund e<strong>in</strong>er ökonomischen Krise und den relativ erfolglosen Versuchene<strong>in</strong>es Stopps des Vordr<strong>in</strong>gens <strong>der</strong> Germanen – nur mehr durch militärische Gewalt aufrechtzu erhalten: Die Epoche <strong>der</strong> Soldatenkaiser begann.35Das römische Imperium wurde schließlichim 4. Jh. gespalten, und das weströmische Reich g<strong>in</strong>g im 5. Jh. unter.Diesen Untergang hat Aurelius August<strong>in</strong>us, <strong>der</strong> 354 im nordafrikanischen Thagaste geborenwurde, nicht mehr im vollen Umfang miterlebt. Betrauert, soviel darf man getrost vermuten,hätte er ihn nicht, denn über das imperium romanum klagt er, <strong>der</strong> im Jahr 387 zum Christentumbekehrte und wenig später zum Bischof geweihte Gelehrte: +Durch welche Menschenschlächterei,welches Blutvergießen ward es erreicht!* (Vom Gottesstaat; Bd. 2, S. 541 [XIX,7]) 36Überhaupt war August<strong>in</strong>us dem weltlichen Leben und damit auch dem weltlichen Staat extremablehnend gegenüber e<strong>in</strong>gestellt: +Was an<strong>der</strong>s s<strong>in</strong>d also Reiche […] als große Räuberbanden?*,fragt er sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er schon oben zitierten Schrift +De civitate dei* eher rhetorisch (Bd. 1,S. 173 [IV,4]) – wobei übrigens sogar e<strong>in</strong>e gewisse Parallele zur dargelegten Position des SophistenThrasymachos deutlich wird (siehe S. 8). August<strong>in</strong>us argumentiert jedoch aus e<strong>in</strong>emgänzlich an<strong>der</strong>en, nämlich christlich-religiösen Bewußtse<strong>in</strong> heraus. Nach anfänglicher Unterdrückunghatte sich das Christentum im römischen Reich (vor allem durch den E<strong>in</strong>flußKonstant<strong>in</strong>s)37immer mehr durchsetzen können und war durch Theodosius 391 sogar zurStaatsreligion geworden. August<strong>in</strong>us ist <strong>der</strong> wichtigste Denker dieser christlich geprägten Spätantike,und die lange währende +heilige*, aber <strong>in</strong> ihren Resultaten eher unheilvolle Ehe zwischenTheologie und Philosophie bahnte sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk an. Hierzu Ignor:+Die antike Philosophie, namentlich die des Staates, endet mit August<strong>in</strong>us; genauer: sie wird beendetdurch ihn […] So nachhaltig hat August<strong>in</strong>us die ›F<strong>in</strong>sternis des gesellschaftlichen Lebens‹ […] an dieWand geworfen, daß sich bis gegen Ende des Mittelalters […] kaum jemand mehr darüber Gedankenmachen wollte, welche Verfassung möglich wäre […] Statt dessen unterwarf sich das Abendland <strong>der</strong>faktischen Macht […]* (Abschied von <strong>der</strong> Antike – Aurelius August<strong>in</strong>us; S. 176f.)Zum Charakter des Politischen im Mittelalter bemerkt allerd<strong>in</strong>gs Jürgen Miethke: +Die politischeOrdnung war noch ungetrennt und ununterscheidbar Teil des menschlichen Lebens* (Politische


16 POLITIK IN DER (POST-)MODERNETheorien im Mittelalter; S. 48).38Die Sphären Gesellschaft, <strong>Politik</strong> und Religion hatten sichnoch nicht verselbständigt. Genau e<strong>in</strong>e getrennte Betrachtung von <strong>Politik</strong> und Religion, vomirdischen und vom Gottesstaat f<strong>in</strong>det sich aber bei August<strong>in</strong>us. Se<strong>in</strong>e Position kann <strong>in</strong> dieserH<strong>in</strong>sicht als +untypisch* für das antik-mittelalterliche Denken betrachtet werden, ist – da vomManichäismus bee<strong>in</strong>flußt – streng dualistisch und nicht von <strong>der</strong> Dualität von Weltlichkeitund Geistlichkeit geprägt. Die Glückseligkeit, die gemäß den antiken griechischen Philosophennoch durch den wohlgeordneten Staat verwirklicht werden sollte und konnte, ist für ihn endgültig<strong>in</strong> den Bereich des Metaphysischen verlagert. Auch die gerechte Herrschaft e<strong>in</strong>es christlichenMonarchen vermag bestenfalls die Übel des irdischen Se<strong>in</strong>s zu m<strong>in</strong><strong>der</strong>n, aber niemals zubeseitigen. Das +realistische* Ziel <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ist deshalb für August<strong>in</strong>us schlicht die Gewährleistunge<strong>in</strong>es basalen Friedens, die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. Dazu müssen alle imStaatswesen beitragen, denn:+[…] <strong>der</strong> Friede des Staates [besteht] <strong>in</strong> <strong>der</strong> geordneten E<strong>in</strong>tracht <strong>der</strong> Bürger im Befehlen und Gehorchen[…]* (Vom Gottesstaat; Band 2, S. 552 [XIX,13])Dem hätte allerd<strong>in</strong>gs sicher auch <strong>der</strong> +heilige* Thomas von Aqu<strong>in</strong> (1225–74) zugestimmt,<strong>der</strong> den Höhepunkt <strong>der</strong> mittelalterlichen Scholastik markiert, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die antike Philosophie(vor allem die des Aristoteles) e<strong>in</strong>e Renaissance erlebte, dabei aber e<strong>in</strong>er christilichen Um<strong>in</strong>terpretationunterzogen wurde. Aristoteles’ Werke zur praktischen Philosophie galten lange Zeitals verschollen und kamen erst Anfang des 13. Jahrhun<strong>der</strong>ts (über den Umweg arabischerQuellen) nach Mitteleuropa – deshalb diese erst so spät e<strong>in</strong>setzende Rezeption. RobertGrosseteste, Bischof von L<strong>in</strong>coln, fertigte um 1246 aber schließlich e<strong>in</strong>e erste vollständigelate<strong>in</strong>ische Übersetzung <strong>der</strong> +Nikomachischen Ethik* an. Durch die Übersetzungsarbeit desnie<strong>der</strong>ländische Dom<strong>in</strong>ikaners Wilhelm von Moerbeke wurde e<strong>in</strong> weiteres Jahrzehnt späterauch die +<strong>Politik</strong>* <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er late<strong>in</strong>ischen Fassung zugänglich. 39Thomas, ebenfalls Dom<strong>in</strong>ikaner und <strong>in</strong> Kontakt mit Moerbeke stehend, begann 1267 e<strong>in</strong>enscholastischen Kommentar zur +<strong>Politik</strong>* zu verfassen und arbeitete gleichzeitig an se<strong>in</strong>er zentralenpolitischen Schrift: +De regim<strong>in</strong>e pr<strong>in</strong>cipum* (Über die Herrschaft <strong>der</strong> Fürsten). Er stellt hierdas Führungsargument <strong>in</strong> den Mittelpunkt. Zwar gesteht er zu: Wäre das menschliche Dase<strong>in</strong>vere<strong>in</strong>zelt, so genügte die Leitung <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Vernunft. Da <strong>der</strong> Mensch aber, wie er<strong>in</strong> Anlehnung an Aristoteles formuliert, von Natur aus <strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft lebt, sollte die Vernunft


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 17e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen allen an<strong>der</strong>en die Richtung weisen, um die Vielheit des Geme<strong>in</strong>wesenszusammenzuhalten. Das so begründete Herrscheramt ist aber (an<strong>der</strong>s als später z.B. bei Marsiliusund ganz <strong>in</strong> antik-christlicher Tradition verhaftet) dem allgeme<strong>in</strong>en Wohl (bonum commune)ausdrücklich verpflichtet: +E<strong>in</strong> König ist, wer über die Gesellschaft e<strong>in</strong>er Stadt o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Landschaftgebietet, und zwar um ihrem Geme<strong>in</strong>wohl zu dienen* (S. 18 [Kap. 1]). Diese Geme<strong>in</strong>wohlverpflichtunggilt, da <strong>der</strong> Herrscher e<strong>in</strong>zig von Gott an diese hervorragende Stelle gesetztwurde. Er ist also nicht eigenmächtig, son<strong>der</strong>n schöpft von <strong>der</strong> +göttlichen Allmacht*. Dieihm verliehene Gewalt darf er folglich nur zum Wohle aller gebrauchen, und er muß auchfür die Möglichkeit zur +sittlichen Vervollkommnung* se<strong>in</strong>er Untertanen Sorge tragen:+Dessen muß sich also e<strong>in</strong> König bewußt se<strong>in</strong>: daß er das Amt auf sich genommen hat, se<strong>in</strong>emKönigreiche das zu se<strong>in</strong>, was die Seele für den Leib und Gott für die Welt bedeutet. Wenn er diesmit Fleiß bedenkt, wird <strong>in</strong> ihm wohl <strong>der</strong> Eifer <strong>der</strong> Gerechtigkeit entbrennen, da er erwägt, daß ernur deshalb auf se<strong>in</strong>en Platz gestellt ist, um an Gottes Statt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Reiche Urteil zu sprechen.*(Ebd.; S. 74f. [Kap. 12])Die weltliche Gewalt bleibt also bei Thomas, obwohl er <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung +Gebt dem Kaiserwas des Kaisers ist!* grundsätzlich zustimmt, rückgebunden an die +göttliche Transzendenz*und ist <strong>in</strong> Angelegenheiten des +Seelenheils* sogar <strong>der</strong> Geistlichkeit klar untergeordnet.40Entlangdieser L<strong>in</strong>ie argumentieren fast alle Denker des Hochmittelalters. Schließlich war die Bedeutung<strong>der</strong> Kirche groß und ihr E<strong>in</strong>fluß umfassend. Sie hatte nicht nur immense Besitzungen – spätestensseit Gregor VII. (1073–85) erhob sie e<strong>in</strong>en Führungsanspruch, <strong>der</strong> sich auch auf den politischenBereich erstreckte. Der Papst beanspruchte nun nicht nur das Recht zur Ernennung <strong>der</strong>geistlichen Würdenträger, son<strong>der</strong>n auch zur E<strong>in</strong>- und Absetzung <strong>der</strong> weltlichen Herrscher.Dem Übergriff auf ihre Machtsphäre versuchten diese sich natürlich zu entziehen, doch zunächstmußten sie vor <strong>der</strong> kirchlichen Autorität, die mit Exkommunizierung drohte, kapitulieren:Der sprichwörtliche gewordene Bußgang He<strong>in</strong>richs IV. nach Canossa im Jahr 1077 ist Symbol<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> weltlichen <strong>Politik</strong> im Investiturstreit des 11. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Der sich abzeichnendeGegensatz zwischen Kirche und Staat führte bei allen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen aber niemalszur generellen Anzweifelung <strong>der</strong> dualen sozialen Ordnung: Der e<strong>in</strong>zelne blieb <strong>in</strong> <strong>der</strong> ständischfeudalenGesellschaft des Mittelalters sowohl Spielball <strong>der</strong> königlich-fürstlichen wie <strong>der</strong> päpstlichklerikalenHerrschaft. Theologie und <strong>Politik</strong> waren (noch) untrennbar <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verquickt,wobei erstere den Rahmen des Politischen absteckte. 41


18 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDer August<strong>in</strong>ermönch und Schüler des Thomas, Aegidius Romanus (ca. 1245–1316), hates schließlich unternommen, den päpstlichen Universalanspruch, <strong>der</strong> während des Pontifikatsvon Bonifaz VIII. (1294–1303) noch e<strong>in</strong>mal vehement vorgetragen wurde, mit se<strong>in</strong>em Traktat+De ecclesiastica potestate* scholastisch zu untermauern. Gegen Ende des 14. Jahrhun<strong>der</strong>tstrebt aber (gewissermaßen als Vorgeschmack zur sich anbahnenden Reformation) auch dietheoretische Entwicklung unaufhaltsam <strong>in</strong> Richtung Neuzeit. Ansätze dazu f<strong>in</strong>den sich z.B.bei Wilhelm von Ockham und John Wyclif.42Am deutlichsten tritt diese Tendenz aber beiMarsilius von Padua (ca. 1290–1343) zutage. Zwar stellt er 1324 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Defensorpacis* (Verteidiger des Friedens) ebenfalls den Ordnungsgedanken <strong>in</strong> den Mittelpunkt, dochversuchte er erstmals so etwas wie e<strong>in</strong>en Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zu begründen – e<strong>in</strong>e gefährlicheProvokation <strong>der</strong> Kirche, die er mit e<strong>in</strong>er Verurteilung wegen Häresie bezahlen mußte undso gezwungen war, sich unter die Obhut Ottos von Bayern zu begeben, dem er se<strong>in</strong>e Schriftgewidmet hatte.Welche Begründung gibt Marsilius von Padua für se<strong>in</strong>e damals so +revolutionär* anmutendeFor<strong>der</strong>ung für e<strong>in</strong>en +Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>*? – Wie erwähnt, betrachtet auch Marsilius Friedeund Ordnung als höchste Güter und bef<strong>in</strong>det sich dar<strong>in</strong> selbstverständlich noch ganz im E<strong>in</strong>klangmit <strong>der</strong> Tradition seit August<strong>in</strong>us. Se<strong>in</strong>er Auffassung nach können beide jedoch nur dannwirklich gedeihen, wenn die Führung des Geme<strong>in</strong>wesens ungespalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hand vere<strong>in</strong>igtliegt:+In e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Stadt o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Staat darf es nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Regierung geben […]*(Verteidiger des Friedens; Band 1, S. 205 [Kap. 17, § 1]) 43Diese ungeteilte Herrschaft gebührt nun aber gemäß Marsilius unzweifelhaft den weltlichenInstanzen und nicht <strong>der</strong> Kurie. Die päpstlichen Machtansprüche, die unter Verweis auf diepontifikale Nachfolge Christi als +König <strong>der</strong> Könige* (Offenbarung 19,16) erhoben werden,weist er <strong>in</strong> klaren Worten zurück:+Denn ke<strong>in</strong>em römischen […] Bischof, ke<strong>in</strong>em Priester o<strong>der</strong> geistlichem Diener als solchem kommt[…] das zw<strong>in</strong>gende Regierungsamt zu […]* (Verteidiger des Friedens; Band 1, S. 245 [Kap. 19, § 12])Zur Unterstützung se<strong>in</strong>er Argumentation sucht er Rückhalt bei Aristoteles, denn schon gemäßdiesem sei die priesterliche Amtsausübung vom politischen Amt zu trennen und zu unterscheiden,


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 19so Marsilius.44Es handelt sich hier um den offensichtlichen Versuch, unter Verweis auf diedamals außer Frage stehende Autorität des antiken Philosophen, e<strong>in</strong>e für mittelalterlicheVerhältnisse durchaus gewagte These zu begründen. Die Kirche stellte schließlich nicht nure<strong>in</strong>en bedeutenden Machtfaktor dar, son<strong>der</strong>n das antike philosophische Erbe wurde auchnahezu ausschließlich unter ihrem Dach verwaltet und damit <strong>in</strong> Beschlag genommen. Philosophiewar also im Mittelalter praktisch wie theoretisch weitgehend <strong>in</strong> den Kontext <strong>der</strong> Theologiee<strong>in</strong>gebunden. Diese lange Zeit währende Verquickung zwischen Philosophie und Theologiebegann sich erst mit dem Heraufkommen <strong>der</strong> Neuzeit zu lösen.1.2 DER WANDEL DES POLITIKVERSTÄNDNISSES IN DER NEUZEIT 45In <strong>der</strong> Überschrift zu diesem Abschnitt wird wie selbstverständlich die Behauptung aufgestellt,daß es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit zu e<strong>in</strong>en Wandel des <strong>Politik</strong>verständnisses kam. Nur: Welches <strong>Politik</strong>verständnissoll sich gewandelt haben, auf welches <strong>der</strong> vielen vorgestellten Konzepte wirdmit dieser These Bezug genommen? – Denn die vorangegangene Erörterung hat, wenn überhaupt,so doch e<strong>in</strong>es gezeigt: daß es e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>heitlichen <strong>Politik</strong>begriff we<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antikenoch im Mittelalter und schon gar nicht epochenübergreifend gegeben hat. Trotzdem läßtsich (wenn man sich auf die dom<strong>in</strong>anten Diskurse konzentriert, E<strong>in</strong>zelphänomene und Nebenströmungenaußer acht läßt) e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>samkeit ausmachen (o<strong>der</strong> vielmehr konstruieren).Diese Geme<strong>in</strong>samkeit besteht dar<strong>in</strong>, daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> sowohl Antike wie im Mittelalter vor allemim politischen Denken, aber auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis ke<strong>in</strong>e autonome Sphäre des Politischen existierte.Politisches Handeln wurde an den übergreifenden Normen e<strong>in</strong>es essentialistischen Konzeptsvon +Gerechtigkeit* gemessen und war, wenn man es nicht sogar als Synonym für sozialesHandeln schlechth<strong>in</strong> betrachten will, e<strong>in</strong>gebettet und verankert <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en gesellschaftlichenTotalzusammenhang.Das än<strong>der</strong>te sich ab <strong>der</strong> Renaissance. Der Schleier, +gewoben aus Glauben, K<strong>in</strong>dheitsbefangenheitund Wahn* (Die Kultur <strong>der</strong> Renaissance <strong>in</strong> Italien; S. 123), <strong>der</strong> im Mittelalter über demBewußtse<strong>in</strong> lag, wurde endlich gelüftet, wie Jacob Burckhardt geradezu euphorisch diagnostiziert.Auch weniger euphorisch kann man aber von e<strong>in</strong>er Epoche des Neubeg<strong>in</strong>ns sprechen. DieserNeubeg<strong>in</strong>n erfolgte zwar im Rekurs auf die Antike, ließ diese aber tatsächlich h<strong>in</strong>ter sich.Individualität werde zum Wert an sich, und auch die <strong>Politik</strong> versuchte sich immer mehr nicht


20 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEnur von klerikaler Bevormundung zu emanzipieren, son<strong>der</strong>n begriff sich als eigenständigerBereich des Lebens. Dazu nochmals Burckhardt:+In Italien zuerst verweht dieser Schleier <strong>in</strong> die Lüfte; es erwacht e<strong>in</strong>e objektive Betrachtung undBehandlung des Staates und <strong>der</strong> sämtlichen D<strong>in</strong>ge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sichmit voller Macht das Subjektive, <strong>der</strong> Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.*(Ebd.)Der politische Denker, <strong>der</strong> diesen Zeitgeist exemplarisch verkörpert heißt Niccolò Machiavelli(1469–1527). Zum allgeme<strong>in</strong>en zeitgeschichtlichen H<strong>in</strong>tergrund können und müssen an dieserStelle ke<strong>in</strong>e näheren Erläuterungen erfolgen. Dieser ist zum e<strong>in</strong>en h<strong>in</strong>reichend bekannt, undaußerdem wurden dazu bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung e<strong>in</strong>ige kurze Bemerkungen gemacht (sieheS. XIV). Ich möchte deshalb nur <strong>in</strong> Umrissen auf die spezifische Situation e<strong>in</strong>gehen, <strong>in</strong> <strong>der</strong>sich Machiavelli befand, als er se<strong>in</strong>e beiden berühmtesten Schriften, +Il Pr<strong>in</strong>cipe* (Der Fürst)46 47und die +Discorsi* (Abhandlungen), verfaßte: In Italien herrschten Ende des 15. Jahrhun<strong>der</strong>tswirre politische Zustände. Das gilt auch für Machiavellis Vaterstadt Florenz: 1494 wird dortnach <strong>der</strong> Vertreibung des Fürsten Piero de’ Medici e<strong>in</strong>e Republik errichtet, und 1498 stößtMachiavelli durch die Gunst <strong>der</strong> Stunde <strong>in</strong>s Zentrum <strong>der</strong> Macht vor:48Er wird, ohne vorherjemals e<strong>in</strong> öffentlichen Amt bekleidet zu haben, zum Leiter e<strong>in</strong>er Abteilung <strong>der</strong> Staatskanzlei– <strong>der</strong> +Seconda Cancelleria* – ernannt und ist auch Mitglied des Verteidigungsausschusses(Dieci di Ballía). Se<strong>in</strong>e Amtsgeschäfte führt Machiavelli erfolgreich, und er err<strong>in</strong>gt 1509 fürFlorenz sogar e<strong>in</strong>en militärischen Sieg über Pisa. Als es 1512 jedoch zu e<strong>in</strong>er Restauration<strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Medici kommt, verschw<strong>in</strong>det er so plötzlich von <strong>der</strong> politischen Bühnewie er aufgetaucht ist. Für kurze Zeit wird er sogar <strong>in</strong>haftiert. Mit se<strong>in</strong>en, im ländlichen Exilverfaßten politischen Schriften versucht er, sich an die neuen alten Machthaber anzudienenund diese davon zu überzeugen, daß er ungerechtfertigt <strong>in</strong> Ungnade fiel. Se<strong>in</strong> +Pr<strong>in</strong>cipe*ist deshalb explizit +dem erlauchten Lorenzo de’ Medici* gewidmet. In dieser Schrift feierter den pr<strong>in</strong>cipe nuovo, den Grün<strong>der</strong>fürsten, <strong>der</strong> durch glückliche Umstände (fortuna), vorallem aber durch se<strong>in</strong>e eigene Tüchtigkeit (virtù) an die Macht gelangt.An<strong>der</strong>s als die politischen Denker im Mittelalter, für die dies zur Pflichtübung gehörte, widmetsich Machiavelli <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Zeile <strong>der</strong> theologischen Herleitung und Legitimation <strong>der</strong> politischenHerrschaft. Und was die notwendigen Herrschertugenden betrifft, so stellt er die bisher geltenden


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 21Ansichten geradezu auf den Kopf: Nicht Weisheit und Gerechtigkeit s<strong>in</strong>d für e<strong>in</strong>en Herrschergefragt, son<strong>der</strong>n vielmehr e<strong>in</strong>e pragmatische politische Klugheit (prudenza). Und Machiavelligelangt zwar zu dem Schluß, +daß e<strong>in</strong> Herrscher bei se<strong>in</strong>em Volk beliebt se<strong>in</strong> muß; sonsthat er <strong>in</strong> widrigen Zeiten ke<strong>in</strong>en Rückhalt* (Il Pr<strong>in</strong>cipe; S. 41 [Kap. IX]). Deshalb muß er auchdanach streben +im Ruf <strong>der</strong> Milde zu stehen und nicht <strong>in</strong> dem <strong>der</strong> Grausamkeit* (ebd.; S.67 [Kap. XVII]). Doch an<strong>der</strong>erseits darf er auch nicht vor zur Aufrechterhaltung se<strong>in</strong>er Machtnotwendigen Gewaltakten zurückschrecken:+E<strong>in</strong> Mensch, <strong>der</strong> immer nur das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen <strong>in</strong> mitten von sovielen Menschen, die nicht gut s<strong>in</strong>d. Daher muß sich <strong>der</strong> Herrscher, wenn er sich behaupten will,zu <strong>der</strong> Fähigkeit erziehen, nicht alle<strong>in</strong> nach den moralischen Gesetzen zu handeln.* (Ebd.; S. 63 [Kap.XV])Dabei gilt es nur zu beachten: +Gewalttaten müssen […] alle auf e<strong>in</strong>mal angewandt werden,damit sie weniger gespürt werden und deshalb weniger verletzen* (S. 38 [Kap. VIII]). Diegrundsätzliche Frage, ob es für e<strong>in</strong>en Herrscher besser ist, geliebt als gefürchtet zu werden,beantwortet er mit allerd<strong>in</strong>gs dem Rat, +daß man [je nach den Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>der</strong> Situation]sowohl das e<strong>in</strong>e als das an<strong>der</strong>e se<strong>in</strong> sollte. Da es aber schwer ist, beides zu vere<strong>in</strong>igen, istes viel sicherer, gefürchtet als geliebt zu se<strong>in</strong> […]* (ebd.; S. 68 [Kap. XVII).49Machiavelliargumentiert also, wie sich hier zeigt, re<strong>in</strong> zweckrational und gibt e<strong>in</strong>e praktisch orientierteAnleitung zur Machtgew<strong>in</strong>nung und -erhaltung.50Wohl aufgrund dieser Tatsache steht <strong>der</strong>Begriff +Machiavellismus* heute als Synonym für politische Unmoral. Liest man vor allemdie +Discorsi* jedoch genauer, offenbart sich, daß selbst Machiavelli für e<strong>in</strong> politisches Ideale<strong>in</strong>tritt: die freie Stadtrepublik. Aber auch <strong>in</strong> diesem Werk bleibt se<strong>in</strong> Menschenbild pessimistisch,und er geht von <strong>der</strong> Prämisse aus, +daß alle Menschen schlecht s<strong>in</strong>d und daß sie stets ihrenbösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben* (S. 17 [Kap. 3]).E<strong>in</strong>e ähnlich negative Anthropologie wie bei Machiavelli f<strong>in</strong>det sich auch bei Thomas Hobbes(1588–1679). Hobbes gehört jedoch zur Kategorie <strong>der</strong> neuzeitlichen Vertragstheoretiker, <strong>der</strong>enwichtigste Vertreter im folgenden kurz vorgestellt werden sollen.51Die Grundzüge des kontrak-tualistischen Arguments, das auf <strong>der</strong> Annahme e<strong>in</strong>es freiwillig geschlossenen (Herrschafts-)Vertragsberuht, f<strong>in</strong>den sich zwar schon <strong>in</strong> antiken Schriften. Allerd<strong>in</strong>gs wurde damals <strong>der</strong> Vertragsgedankenicht wirklich systematisch ausgebaut.52Dies geschieht erst <strong>in</strong> den staatstheoretischen Entwürfen


22 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>der</strong> frühen Neuzeit. Althusius (1557–1638) und Grotius (1583–1645) s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Zusammen-53hang wichtige Namen. Neben ihnen lehnte sich Hobbes vor allem an Jean Bod<strong>in</strong> (1530–96)und se<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong> absoluten Souveränität des politischen Herrschers an (vgl. Les six livrede la République). Alle diese +Vorgänger* wiesen jedoch nicht die methodische Strenge auf,die Hobbes auszeichnet und die zugleich das spezifisch neuzeitliche Element se<strong>in</strong>er Philosophiedarstellt. Wenn Hobbes nämlich den Krieg – wie er <strong>in</strong> <strong>der</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +De Corpore* (Vonden Körpern) bekennt – als +Wurzel aller Nachteile und allen Unglücks* betrachtet (S. 11)und die Sicherung des sozialen Friedens <strong>in</strong>s Zentrum se<strong>in</strong>es politischen Denkens stellt, sobef<strong>in</strong>det er sich damit schließlich durchaus <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit <strong>der</strong> Tradition. DiesesZiel will er jedoch, da die klassische Moralphilosophie hier <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen vollständig versagthat, auf e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en, vielversprechen<strong>der</strong>en Weg erreichen. Und so ist er bestrebt, strengkausal-logisch, gleichsam more geometrico (nach Art <strong>der</strong> Geometrie) vorzugehen. 54Hobbes, <strong>der</strong> als Sohn e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>fachen Landpfarrers geboren wurde und nur durch die Protektione<strong>in</strong>es wohlhabenden Onkels e<strong>in</strong>e Ausbildung <strong>in</strong> Oxford erhielt, war stark bee<strong>in</strong>flußt von densich damals rasch entwickelnden Naturwissenschaften. E<strong>in</strong>e Anstellung als Hauslehrer bei<strong>der</strong> Adelsfamilie Cavendish ermöglichte ihm Studienreisen <strong>in</strong>s Ausland, wo er u.a. mit Descartesund Galilei zusammentraf.55Auch mit dem Kreis um Francis Bacon (<strong>der</strong> als ehemaliger Lord-kanzler zudem e<strong>in</strong>e wichtige politische Rolle spielte) stand er <strong>in</strong> Kontakt. Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong> also,daß er sich an Rationalismus und Empirismus orientierte. An<strong>der</strong>erseits wußte Hobbes, daßes die <strong>Politik</strong> (an<strong>der</strong>s als Physik o<strong>der</strong> Geometrie) mit komplexen Sozialkörpern zu tun hat.Will man solche untersuchen, so muß man sie laut Hobbes zunächst gedanklich zerlegenund den e<strong>in</strong>zelnen Menschen betrachten. Anhand <strong>der</strong> dadurch gewonnenen Erkenntnisseüber die Natur des Menschen können die E<strong>in</strong>zelwesen dann wie<strong>der</strong> zum Sozialkörper zusammengesetztwerden – <strong>der</strong> nun aber aller zufälligen Momente entkleidet ist und den Charakterzw<strong>in</strong>gen<strong>der</strong> Notwendigkeit trägt. Diese Vorgehensweise wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sekundärliteratur (<strong>in</strong> Anlehnungan Hobbes’ eigene Term<strong>in</strong>ologie) zumeist als +resolutiv-kompositive Methode* bezeichnet.In Wahrheit handelt es sich jedoch um e<strong>in</strong>en tautologischen Zirkel, denn auch <strong>der</strong> atomisiertee<strong>in</strong>zelne, den die Analyse des +Sozialwesens* liefert, ist e<strong>in</strong> sozial geprägter und damit – aufgrund<strong>der</strong> defizitären gesellschaftlichen Verhältnisse – deformierter Mensch. Die anschließende Synthesekann also nur zur Reproduktion des Bestehenden führen. Aus dem kritischen Blickw<strong>in</strong>keldieses E<strong>in</strong>wands soll Hobbes’ Vertragskonstruktion betrachtet werden.


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 23Den Schlüssel zu <strong>der</strong>en Verständnis bietet e<strong>in</strong>e bereits zitierte Aussage von Horkheimer undAdorno: +Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst*, scheiben diese <strong>in</strong> ihrer+Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (S. 22). Solche Angst bestimmte Hobbes’ Leben von Beg<strong>in</strong>n an(siehe auch Abschnitt 5.1.1). So bemerkte er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Memoiren, se<strong>in</strong>e Mutter habe (unterdem E<strong>in</strong>druck des E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gens <strong>der</strong> spanischen Armada <strong>in</strong> britische Gewässer) Zwill<strong>in</strong>ge zuWelt gebracht – ihn und eben: die Furcht. Von dieser konnte er sich zeitlebens nicht befreien,und so suchte er nach Sicherheit, befürwortete jedes politische System, das Ruhe und Ordnungversprach. Im Vorfeld des englischen Bürgerkriegs,für die Krone Stellung,5756<strong>der</strong> von 1642–48 tobte, bezog er deshalbdie aber im Kampf mit dem Parlament unterlag. So mußte Hobbesnach Frankreich fliehen, wo er se<strong>in</strong>e bedeutendsten politischen Schriften – +De Cive* (Vom58 59Bürger) und se<strong>in</strong>en berühmten +Leviathan* – verfaßte. Im +Leviathan* (1651) for<strong>der</strong>te Hobbesallerd<strong>in</strong>gs sogar Gehorsam gegenüber dem Usurpator <strong>der</strong> Macht und rechtfertigte damit implizitauch Oliver Cromwells Gewaltherrschaft, <strong>der</strong> sich vom revolutionären Führer <strong>der</strong> puritanischenParlamentsmehrheit immer mehr zum Quasimonarchen gewandelt hatte.60In Frankreich machteHobbes sich damit <strong>in</strong> jenen royalistischen Kreisen unbeliebt, die ihn bisher unterstützt hatten,und so kehrte er 1652 nach England zurück – nunmehr hoch geschätzt von Cromwell. Dochselbst als es 1660 zur Restauration Monarchie kam, mußte Hobbes nicht befürchten, erneut<strong>in</strong> Ungnade zu fallen. Schließlich hatte er <strong>in</strong> Paris zeitweilig den dort zur Ausbildung bef<strong>in</strong>dlichenThronfolger Charles II. unterrichtet, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>en ehemaligen Lehrer protegierte.Nach diesen e<strong>in</strong>leitenden Vorbemerkungen sollte die Rekonstruktion <strong>der</strong> Vertragstheorie Hobbes’ke<strong>in</strong>e Schwierigkeiten mehr bereiten. Wie weith<strong>in</strong> bekannt, geht dieser von <strong>der</strong> (durchausreal gesetzten und eben nicht bloß hypothetischen) Annahme e<strong>in</strong>es durch den +Krieg allergegen alle* gekennzeichneten Naturzustands aus.61Diese Vorstellung ist das zw<strong>in</strong>gende Ergebnisse<strong>in</strong>er (mis)anthrop(olog)ischen Prämissen, die sich <strong>in</strong> drei Punkten zusammenfassen lassen:• Alle Menschen haben von Natur aus gleiche Rechte und Fähigkeiten: +Die Natur hat dieMenschen sowohl h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Körperkräfte wie <strong>der</strong> Geistesfähigkeiten untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gleichmäßig begabt; und wenngleich e<strong>in</strong>ige mehr Kraft o<strong>der</strong> Verstand besitzen, so ist <strong>der</strong>hieraus entstehende Unterschied im ganzen dennoch nicht so groß, daß <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e sichdiesen o<strong>der</strong> jenen Vorteil versprechen könnte, welchen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e nicht auch zu erhoffenberechtigt sei.* (Leviathan; S. 112f. [Kap. 13])


24 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Zugleich s<strong>in</strong>d alle Menschen vom (maßlosen) Drang ihrer Leidenschaften und ihrem (legitimen)Bedürfnis nach Selbsterhaltung geprägt: +Zuvör<strong>der</strong>st wird also angenommen, daßalle Menschen […] beständig und unausgesetzt e<strong>in</strong>e Macht nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en sich zuverschaffen bemüht s<strong>in</strong>d; nicht darum, weil sie […] sich mit e<strong>in</strong>er mäßigeren nicht begnügenkönnen, son<strong>der</strong>n weil sie ihre gegenwärtige Macht und die Mittel, glücklich zu leben, zuverlieren fürchten, wenn sie sie nicht vermehren.* (Ebd.; S. 90f. [Kap. 11])• Der Mensch ist ke<strong>in</strong> zoon politikon, son<strong>der</strong>n – gemäß <strong>der</strong> Hobbesschen Devise +homohom<strong>in</strong>i lupus* (Der Mensch ist e<strong>in</strong> Wolf für den Menschen) – im Pr<strong>in</strong>zip sozialfe<strong>in</strong>dliche<strong>in</strong>gestellt. (Vgl. Vom Bürger; S. 59 [Widmungsschreiben])Die angenommene Gleichheit <strong>der</strong> Menschen, verbunden mit ihrem Streben nach Macht undReichtum, wird zur Quelle e<strong>in</strong>es im Naturzustand unlösbaren Konflikts, denn dieser ist –so Hobbes’ strukturelle Prämisse – durch e<strong>in</strong>e ausgesprochene Güterknappheit gekennzeichnet.Das von ihm zunächst postulierte natürliche Recht des Menschen auf alles,62d.h. zur ungeh<strong>in</strong><strong>der</strong>-ten Verfolgung se<strong>in</strong>er (egoistischen) Interessen, gerät damit <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zum natürlichenGesetz <strong>der</strong> Vernunft: +Suche Frieden, solange nur Hoffnung darauf besteht* (Leviathan; S.119).Nur durch e<strong>in</strong>en künstlichen Zusammenschluß läßt sich <strong>der</strong> vernunftgebotene Friede verwirklichen,<strong>der</strong> den Genuß <strong>der</strong> <strong>in</strong> ständiger gegenseitiger Konkurrenz erworbenen Güter erstermöglicht. So ist es also letztendlich e<strong>in</strong> Akt <strong>der</strong> (ökonomischen) Rationalität, daß sich dieMenschen durch e<strong>in</strong>en wechselseitig geschlossenen Vertrag zu e<strong>in</strong>em gesellschaftlichen Gesamtkörper,dem +sterblichen Gott* des Leviathan, vere<strong>in</strong>en und den unproduktiven, kriegerischenNaturzustand durch die Etablierung e<strong>in</strong>es staatlichen Gewaltmonopols überw<strong>in</strong>den.63Wenigerrational ist es, daß sie sich dabei e<strong>in</strong>em Dritten – dem (Ober-)Haupt des +Staatswesens*,auf das man sich durch Mehrheitsentscheid gee<strong>in</strong>igt hat – gänzlich ungeschützt ausliefernsollen. Der von Hobbes entworfene Text des Gesellschaftsvertrags lautet nämlich:+Ich übergebe me<strong>in</strong> Recht, mich selbst zu beherrschen, diesem Menschen o<strong>der</strong> dieser Gesellschaft unter<strong>der</strong> Bed<strong>in</strong>gung, daß du ebenfalls de<strong>in</strong> Recht über dich ihm o<strong>der</strong> ihr abtrittst.* (Ebd.; S. 155 [Kap. 17])E<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>standsrecht gegen den Mißbrauch <strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal übertragenen Herrschaftsgewalt gibtes laut Hobbes nicht.64Er begründet dieses Fehlen e<strong>in</strong>es Wi<strong>der</strong>standsrechtes +korporatistisch*


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 25und leitet es +vertragsrechtlich* aus dem Wortlaut des obigen Vertragstextes ab (den er me<strong>in</strong>t,logisch zw<strong>in</strong>gend hergeleitet zu haben):+[Es] […] kann [auch] wegen schlechter Verwaltung des Staates die höchste Gewalt ihrem Besitzernicht genommen werden, denn e<strong>in</strong>erseits stellt diese den gesamten Staat dar […] An<strong>der</strong>erseits schließtja <strong>der</strong>, welchem die höchste Gewalt übertragen wird, mit denen, welche sie ihm übertrugen, eigentlichke<strong>in</strong>en Vertrag, und folglich kann er ke<strong>in</strong> Unrecht tun […]* (Ebd.; S. 158 [Kap. 18]) 65Hobbes kann aufgrund dieser totalen Entäußerung <strong>der</strong> Vertragsschließenden als Apologetdes absolutistischen Staates <strong>in</strong>terpretiert werden, welcher sich als politisches Modell im 17.Jahrhun<strong>der</strong>t herauskristallisierte und die fragmentisierte Herrschaft des Mittelalters (sieheAnmerkung 41) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zentralisierte staatliche Ordnung überführte. In dieser ist <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnedem souveränen Herrscher, <strong>der</strong> die Rolle e<strong>in</strong>es +lupus <strong>in</strong>tra muros* übernommen hat, schutzlosausgeliefert.66Der radikale Individualismus des Naturzustands ist im Gesellschaftszustande<strong>in</strong>em ebenso radikalen wie autoritären Anti-Individualismus gewichen, und die natürlicheGleichheit hat sich zu e<strong>in</strong>em politischen Ungleichheitsverhältnis gewandelt. Die Freiheit <strong>der</strong>Untertanen wird von Hobbes demgemäß sehr eng festgesteckt: +Es besteht […] die bürgerlicheFreiheit nur <strong>in</strong> den Handlungen, welche <strong>der</strong> Gesetzgeber übergangen hat* (ebd.; S. 190 [Kap.21]). Diesem aber steht es nicht nur frei, sogar Vorschriften zum öffentlichen Gottesdienstzu erlassen. Er fungiert als Zensor wie als Richter und übt daneben auch noch die MilitärundPolizeigewalt aus. Von Gewaltenteilung o<strong>der</strong> -beschränkung kann <strong>in</strong> diesem System nichtdie Rede se<strong>in</strong>, denn: +Getrennte Macht zerstört sich selbst* (ebd.; S. 271 [Kap. 29]). Dieseumfassende souveräne Macht ist <strong>in</strong> ihrer Gesetzgebung auch nicht mehr an Wahrheits- o<strong>der</strong>Gerechtigkeitsvorstellungen gebunden: +authoritas, non veritas, facit legem*. 67Als zweiter Vertragstheoretiker soll John Locke (1632–1704) vorgestellt werden – jedoch nichtso ausführlich wie Hobbes. Schließlich genügt es, die wesentlichen Unterschiede darzustellen,da Locke sich mehr o<strong>der</strong> weniger an Hobbes’ Grundkonstruktion angelehnt hat. DieseUnterschiede s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs beträchtlich. Locke bef<strong>in</strong>det sich zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ähnlichen historischenRahmensituation und auch er wendet den klassischen kontraktualistischen Dreischritt – Naturzustandsbeschreibung,Vertragsschließung, Entwurf <strong>der</strong> Gesellschaftordnung – an. Er kommtaber zu fast entgegengesetzten politischen Schlußfolgerungen. Im Machtkampf zwischen Kroneund Parlament, <strong>der</strong> das 17. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>in</strong> Großbritannien prägt, bezieht er e<strong>in</strong>deutig zugunsten


26 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>der</strong> Ausweitung <strong>der</strong> von Charles II. stark beschnittenen Parlamentsrechte Stellung.68Durchse<strong>in</strong>e Tätigkeit als Sekretär und Leibarzt bei Lord Shaftsbury ist er auch selbst <strong>in</strong> die praktische<strong>Politik</strong> verstrickt. Denn Shaftsbury ist e<strong>in</strong> aktiver Streiter für den Parlamentarismus, avanciertnach e<strong>in</strong>er kurzen Periode als Lordkanzler zum Oppositionsführer und beteiligt sich schließlichan e<strong>in</strong>er Verschwörung. Als diese aufgedeckt wird, flieht Locke mit Shaftsbury 1683 <strong>in</strong>s Exilnach Holland. Dort verfaßt er den berühmten +Toleranzbrief* und vor allem se<strong>in</strong>e Abhandlung+Über die Regierung*. 69Dieser vertragstheoretische Entwurf Lockes dient später – nachdem die +Glorious Revolution*1688 die Restauration <strong>der</strong> Stuarts beendet hat – als Vorlage für e<strong>in</strong>e neue Verfassungsordnung. 70Wie argumentiert Locke, den man getrost als den Theoretiker <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> Großbritannienzuerst etablierenden bürgerlichen Gesellschaft bezeichnen kann, <strong>in</strong> dieser Schrift? – Auchbei ihm ergibt sich die Notwendigkeit zur Schließung des Gesellschaftsvertrags aus den Defizitendes Naturzustands, den er aber nicht von Beg<strong>in</strong>n an schon als Kriegszustand denkt:+Es ist e<strong>in</strong> Zustand vollkommener Freiheit, <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Grenzen des Naturgesetzes se<strong>in</strong>e Handlungenzu lenken und über se<strong>in</strong>en Besitz und se<strong>in</strong>e Person zu verfügen, wie es e<strong>in</strong>em am besten sche<strong>in</strong>t[…] Es ist überdies e<strong>in</strong> Zustand <strong>der</strong> Gleichheit, <strong>in</strong> dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitigs<strong>in</strong>d […] Ist doch nichts offensichtlicher, als daß Lebewesen von gleicher Art […] auch gleichgestelltleben sollen, ohne Unterordnung o<strong>der</strong> Unterwerfung […]* (Über die Regierung; § 4)Erst die E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Geldwirtschaft macht die regelnde Hand e<strong>in</strong>er mit e<strong>in</strong>em Gewaltmonopolausgestatteten Regierung notwendig. Und Locke will auch im Gesellschaftszustand den Preis<strong>der</strong> gewonnenen (Rechts-)Sicherheit so ger<strong>in</strong>g wie möglich halten. Die von ihm teils theologisch,teils rational abgeleiteten, für alle Menschen <strong>in</strong> gleicher Weise geltenden +natürlichen Rechte*auf Leben, Freiheit und Eigentum bleiben auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft erhalten. 71Nur das <strong>in</strong> ihnen logisch enthaltene Recht zur ihrer Durchsetzung wird an den Staat undse<strong>in</strong>e Vertreter abgegeben. Dieser ist im Gegenzug zur Garantie <strong>der</strong> natürlichen Rechte verpflichtet,da ihre Sicherung schließlich Zweck des Gesellschaftsvertrags war (vgl. ebd.; § 131). 72Organisatorisch abgesichert wird dieses Ziel durch das von Locke entworfene und von Montesquieu(1689–1755) <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +De l’ésprit des lois* (Vom Geist <strong>der</strong> Gesetze) mehr o<strong>der</strong>m<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e heutige Form überführte System <strong>der</strong> Gewaltenteilung (siehe S. 99f). 73Mit se<strong>in</strong>er Konzeption <strong>der</strong> im Staatszustand weiter geltenden Naturrechte und dem Gedanken<strong>der</strong> Gewaltenteilung hat Locke auch die Herrschenden an verb<strong>in</strong>dliche rechtliche Grundlagen


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 27gebunden sowie die souveräne Macht durch e<strong>in</strong> System <strong>der</strong> +checks and balances* beschränkt.Damit s<strong>in</strong>d die größten Schwächen <strong>der</strong> Konstruktion Hobbes’ beseitigt. Doch diente die vonLocke entworfene und im historischen Prozeß schließlich auch weitgehend umgesetzte Gesellschaftsordnung<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie den Interessen <strong>der</strong> Besitzenden. Die angeblich natürlichen Rechte,die Locke nennt, reflektieren Vorstellungen und Werte des aufgrund se<strong>in</strong>es ökonomischenErfolgs selbstbewußt gewordenen Bürgertums. Das verdeutlicht beson<strong>der</strong>s die zentrale Rolledes Eigentums im System Lockes. Denn <strong>der</strong> Zweck <strong>der</strong> Ausübung des staatlichen Gewaltmonopolsist zwar +das Wohl <strong>der</strong> Menschheit* (vgl. ebd.; § 229). Dieses wird aber identifiziertmit +<strong>der</strong> Erhaltung des Eigentums [property] aller Glie<strong>der</strong> dieser Gesellschaft* (ebd.; § 88). 74Jean- Jacques Rousseau (1712–78), <strong>der</strong> dritte große neuzeitliche Vertragstheoretiker, hat dasscharfs<strong>in</strong>nig erkannt. In se<strong>in</strong>em berühmten +Discours sur l’<strong>in</strong>égalité*deutlicher Stoßrichtung gegen Locke:75(1755) bemerkt er mit+Der Reiche <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedrängnis entwarf schließlich den ausgedachtesten Plan, den jemals <strong>der</strong>menschliche Geist ausbrütete, nämlich zu se<strong>in</strong>en Gunsten sogar die Kräfte <strong>der</strong>er zu benutzen, dieihn angriffen […] ›Wir wollen uns vere<strong>in</strong>en‹, sagte er ihnen, ›um die Schwachen vor <strong>der</strong> Unterdrückungzu bewahren […] und jedem se<strong>in</strong>en Besitz zuzusichern […] Wir wollen Vorschriften über Gesetzund Frieden erlassen, denen je<strong>der</strong> zu folgen verpflichtet ist, die ke<strong>in</strong> Ansehen <strong>der</strong> Person gelten lassenund auf gewisse Weise die Launen des Glücks wie<strong>der</strong>gutmachen, <strong>in</strong>dem sie den Mächtigen wie denSchwachen gleicherweise gegenseitigen Pflichten unterwerfen […]‹ […] So vollzog sich die Entstehung<strong>der</strong> Gesellschaft […] sowie <strong>der</strong> Gesetze, die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neueMacht gaben.* (S. 227ff.)Rousseau, <strong>der</strong> sich hier sehr kritisch äußert, ist allerd<strong>in</strong>gs nicht, wie man vermuten könnte,76e<strong>in</strong> (früh)sozialistischer o<strong>der</strong> gar revolutionärer Denker. Die Revolutionäre des Jahres 1789haben sich wohl eher aus weitgehen<strong>der</strong> Unkenntnis se<strong>in</strong>er Schriften auf ihn berufen.Parole +Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>der</strong>lichkeit*, die sie nach dem Verfall des +Ancien Régime*dem absolutistischen +l’état, c’est moi* entgegensetzten,7877Ihrehätte zwar wohl auch die Zustimmungdes über zehn Jahre zuvor verstorbenen Rousseaus gefunden – das sich aus <strong>der</strong> Revolutionentwickelnde jakob<strong>in</strong>ische +Schreckenssystem* jedoch ganz gewiß nicht. Zudem weist RousseausDenken auch klar konservative Züge auf – etwa wenn er ständig die Bedeutung von Sitteund Moral betont o<strong>der</strong> die gesellschaftliche Ordnung als +geheiligtes Recht* bezeichnet, zu<strong>der</strong>en Durchsetzung (im S<strong>in</strong>ne des Geme<strong>in</strong>wohls) auch Zwang angewandt werden kann (vgl.Vom Gesellschaftsvertrag; S. 6 u. S. 21 [I,1 u. I,7]).79Diese konservativen Elemente s<strong>in</strong>d wohl


28 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdurch se<strong>in</strong>e bürgerliche, schweizerisch-Genfer Herkunft am besten zu erklären, die er selbstherausstreicht, <strong>in</strong>dem sich im Titel se<strong>in</strong>es +Contrat Social* (1762) explizit als +Citoyen de Genève*bezeichnet. 80Rousseau ist aber <strong>in</strong> vielen Aspekten auch e<strong>in</strong> sehr progressiver Theoretiker. Dies zeigt sichvor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Konzept <strong>der</strong> unveräußerlichen Volkssouveränität. Rousseau bemerkt hierzuganz e<strong>in</strong>deutig <strong>in</strong> Abgrenzung zu Hobbes:+Ich behaupte […], daß die Souveränität […] niemals veräußert werden kann und daß <strong>der</strong> Souverän,<strong>der</strong> nichts an<strong>der</strong>es ist als e<strong>in</strong> Gesamtwesen, nur durch sich selbst vertreten werden kann […]* (Ebd.;S. 27 [II,1])Die Unveräußerlichkeit <strong>der</strong> Souveränität (die e<strong>in</strong> Modell direkter Demokratie impliziert) beruhtauf <strong>der</strong> Unveräußerlichkeit des <strong>in</strong>dividuellen Freiheitsrechts. Denn: +Auf se<strong>in</strong>e Freiheit verzichtenheißt auf se<strong>in</strong>e Eigenschaft als Mensch, auf se<strong>in</strong>e Menschenrechte, sogar auf se<strong>in</strong>e Pflichtenverzichten* (Ebd.; S. 11 [1.4]. Doch steht es um die Freiheit lei<strong>der</strong> allseits schlecht bestellt:+Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er <strong>in</strong> Ketten […] Wie ist dieser Wandel zustandegekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ichbeantworten zu können.* (Ebd.; S. 5)Schon <strong>der</strong> Titel von Rousseaus Schrift und die Tatsache, daß er hier als Vertragstheoretikervorgestellt wird, läßt erraten, welche Antwort er im folgenden gibt: Nur e<strong>in</strong> freiwillig undgegenseitig geschlossener Gesellschaftsvertrag vermag das zu leisten. Dieser Gesellschaftsvertragsoll Gerechtigkeit und Nutzen verb<strong>in</strong>den (vgl. ebd.; S. 5), und se<strong>in</strong>e Pr<strong>in</strong>zipien müssen demverallgeme<strong>in</strong>erten (Volks-)Willen (volonté général) entsprechen. Nur so ist e<strong>in</strong>e Ordnung garantiert,<strong>in</strong> <strong>der</strong> je<strong>der</strong> +genauso frei bleibt wie zuvor* (ebd.; S. 17). Recht und Gerechtigkeit imGesellschaftszustand beruhen demnach bei Rousseau auf <strong>der</strong> Identität des Willens – <strong>der</strong>Son<strong>der</strong>wille (volonté particulier) des egoistischen Bourgeois muß dem schizophren davonabgespaltenen moralischen Bewußtse<strong>in</strong> des Citoyen weichen, damit sich Rousseaus Utopievom geme<strong>in</strong>wohlorientierten Staatswesen verwirklichen läßt. Allerd<strong>in</strong>gs sieht auch Rousseaudie realen Schwierigkeiten, die se<strong>in</strong>e Theorie von <strong>der</strong> Identität des Volkswillens aufweist,und so stellt er fest: +Es bedürfte <strong>der</strong> Götter, um den Menschen Gesetze zu geben* (ebd.;S. 43 [II,7]). Wenigstens aber sollte e<strong>in</strong> <strong>in</strong> gewisser Weise +gottgleicher* Gesetzgeber vorhanden


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 29se<strong>in</strong>, <strong>der</strong> +<strong>in</strong> je<strong>der</strong> H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong> außergewöhnlicher Mann im Staat* ist (ebd.), doch <strong>der</strong> dieGesetze nur formuliert und nicht selbst beschließt. Vor allem diese Konstruktion e<strong>in</strong>es +grandlegislateur* hat Rousseau viel berechtigte Kritik e<strong>in</strong>gebracht. Trotz aller Schwachpunkte se<strong>in</strong>erKonzeption zählt er aber zu den großen politischen Philosophen <strong>der</strong> Neuzeit. Letzteres giltselbstverständlich auch für Kant und Hegel, <strong>der</strong>en politische Vorstellungen zum Abschlußdieses Abschnitts kurz skizziert werden sollen.Die moral- bzw. rechtsphilosophischen Schriften von Kant und Hegel repräsentieren den(wichtigsten) deutschen Beitrag zum neuzeitlichen politischen Denken – denn <strong>in</strong> Deutschlandvollzog sich bezeichnen<strong>der</strong>weise das Nachdenken über Staat und <strong>Politik</strong> hauptsächlich imRahmen <strong>der</strong> (akademischen) (Rechts-)Philosophie. Diese Beson<strong>der</strong>heit ist sicher auch <strong>der</strong>speziellen politischen Rahmensituation <strong>in</strong> deutschen Reich geschuldet, das im 18. Jahrhun<strong>der</strong>tzweifellos e<strong>in</strong>en Entwicklungsrückstand im Vergleich zu England o<strong>der</strong> Frankreich aufwies.In relativer Kont<strong>in</strong>uität zu mittelalterlichen politischen Strukturen bestand auch ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitlicher+Nationalstaat*, son<strong>der</strong>n das durch die Kaiserkrone nur schwach zusammengehaltene Reichsgebietwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vielzahl weitgehend autonomer Fürstentümer zerstückelt. Die Stärke <strong>der</strong> regionalenFürsten und das Fehlen e<strong>in</strong>es ausreichenden ökonomischen Impulses verh<strong>in</strong><strong>der</strong>te wohl e<strong>in</strong>eähnliche Emanzipationsbewegung des Bürgertums wie <strong>in</strong> England und Frankreich. Wie erwähntwar <strong>der</strong> im 17. Jahrhun<strong>der</strong>t tobende Kampf um die politische Vormacht mit <strong>der</strong> +GloriousRevolution* von 1688 <strong>in</strong> England zugunsten <strong>der</strong> bürgerlichen Kräfte ausgegangen. In Frankreichhatte schließlich die Revolution von 1789 dem +Ancien Régime* e<strong>in</strong> blutiges Ende gesetzt.In Deutschland gab es ke<strong>in</strong>e vergleichbaren Ereignisse, obwohl auch dort die Erschütterungendurch die +Grande Révolution* <strong>in</strong> Frankreich zu spüren waren.Immanuel Kant (1724–1804)81hatte die französische Revolution zunächst mit Sympathiebeobachtet, war jedoch von ihren Exzessen enttäuscht und verurteilte den jakob<strong>in</strong>ischen +terreur*.Diese Enttäuschung spiegelt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em politischen Denken wi<strong>der</strong>, das sich <strong>in</strong> weiten Teilenals +obrigkeitsstaatlich* charakterisieren läßt. Zudem mußte Kant als Professor <strong>in</strong> Königsbergund damit preußischer Staatsbediensteter mit se<strong>in</strong>en Äußerungen sehr vorsichtig se<strong>in</strong>, wenner nicht se<strong>in</strong>e Stellung gefährden wollte. Dies sollte man bedenken, wenn man sich mit se<strong>in</strong>empolitischen Denken ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzt:Auch Kant operiert mit den Begriffen Naturrecht und Vertrag. Er ist jedoch ke<strong>in</strong> Vertragstheoretikerim eigentlichen S<strong>in</strong>n. Der Vertrag und se<strong>in</strong>e Vernünftigkeit dienen ihm nurmehr


30 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEals Pr<strong>in</strong>zipien zur Beurteilung <strong>der</strong> Moralität des Gesetzes und se<strong>in</strong> Naturrecht ist strenggenommen e<strong>in</strong> +Naturrecht ohne Natur* (Bloch) – es beruht auf erkenntnisunabhängigenapriorischen Pr<strong>in</strong>zipien. Zur Erklärung dieser Charakterisierung ist e<strong>in</strong> Rekurs auf die ErkenntnistheorieKants notwendig. In Rahmen se<strong>in</strong>er +Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft* (1781) kommt erzum Ergebnis:+Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alleVersuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitertwürde, g<strong>in</strong>gen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher e<strong>in</strong>mal, ob wir nicht <strong>in</strong>den Aufgaben <strong>der</strong> Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssensich nach unserer Erkenntnis richten […]* (S. 18 [Vorrede zur 2. Auflage])Diese +Kopernikanische Wende* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Metaphysik beruht auf folgen<strong>der</strong> Annahme: JedeWahrnehmung ist an das Vorhandense<strong>in</strong> bestimmter, eben a priori vorliegen<strong>der</strong> Wahrnehmungsfähigkeitenbeim Erkennenden gebunden, erfolgt also niemals subjektunabhängig. DieStruktur dieser subjektgebundenen Fähigkeiten bestimmt nun das Bild vom Objekt, das nurals +Phaenomenon* (Ersche<strong>in</strong>ung) und nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigentlichen Gestalt (Noumenon) erkanntwerden kann. Für den Menschen ist deshalb die Welt <strong>der</strong> Noumena problematisch. Zw<strong>in</strong>gends<strong>in</strong>d nur die Kategorien und Begriffe des Verstandes (wie Raum und Zeit), die logisch abgeleitetbzw. durch +transzendentale Deduktion*, d.h. durch Setzung des Verstandes gewonnen werdenkönnen. Allerd<strong>in</strong>gs:+Ohne S<strong>in</strong>nlichkeit würde uns ke<strong>in</strong> Gegenstand gegeben […] Gedanken ohne Inhalt s<strong>in</strong>d leer […]Daher ist es ebenso notwendig se<strong>in</strong>e Begriffe s<strong>in</strong>nlich zu machen […]* (Ebd.; S. 80)Mit dieser +transzendentalphilosophischen* Erkenntnistheorie gel<strong>in</strong>gt es Kant, Rationalismusund Empirismus gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> aufzuheben. Im Rahmen ihrer näheren Ausgestaltung kanner e<strong>in</strong>drucksvolle Argumente für se<strong>in</strong>e Annahme <strong>der</strong> a priori vorgegebenen Kategorien beibr<strong>in</strong>gen.Diese erkenntnistheoretischen Grundauffassungen schlagen sich auch im Bereich <strong>der</strong> vonihm <strong>in</strong> Anlehnung an die klassische praktische Philosophie betriebenen Rechtstheorie nie<strong>der</strong>,die bei Kant somit immer auch den Charakter e<strong>in</strong>er +Metaphysik <strong>der</strong> Sitten* trägt.Das sittliche Gesetze, das die Moralität des Handelns bewirkt (welche Kant von bloßer Legalitätunterscheidet), ist durch die Vernunft vorgegeben. Es kann aber niemals <strong>in</strong>haltlich def<strong>in</strong>iert


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 31werden, da <strong>der</strong> freie Wille als Grundlage des Sittlichen selbstgesetzgebend und die Vernunftautonom und ke<strong>in</strong>esfalls zweckgebunden (an e<strong>in</strong>em bestimmten Ziel orientiert) ist. Wohlaber kann e<strong>in</strong> formales Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Moral aufgezeigt werden, das für Kant <strong>in</strong> den berühmtenkategorischen Imperativ mündet:82+Handle nur nach <strong>der</strong>jenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>esGesetz werde.* (Grundlegung <strong>der</strong> Metaphysik <strong>der</strong> Sitten; S. 279)Bzw. <strong>in</strong> abgewandelter Form:+Handle so, als ob die Maxime de<strong>in</strong>er Handlungen durch de<strong>in</strong>en Willen zum allgeme<strong>in</strong>en Naturgesetzewerden sollte.* (Ebd.)Dem auf Pr<strong>in</strong>zipien a priori beruhenden Naturgesetz, <strong>in</strong> welchem die Sittlichkeit gefaßt ist,steht nun aber das positive, statutarische bürgerliche Gesetz (möglicherweise) entgegen, dasse<strong>in</strong>e Gültigkeit (Legalität) durch den Willen des Gesetzgebers erhält. Dieses Gesetz ist nurdann moralisch, wenn es auch durch e<strong>in</strong>en freiwilligen Vertrag <strong>der</strong> Bürger zustande hättekommen können83und den Imperativen des Naturrechts gerecht wird, denn:+Das Naturrecht im Zustande e<strong>in</strong>er bürgerlichen Verfassung […] kann durch die statutarischen Gesetze<strong>der</strong> letzteren nicht Abbruch leiden.* (Rechtslehre; S. 59)Doch das heißt nicht, daß Kant e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>standsrecht <strong>der</strong> Bürger gegen obrigkeitsstaatlicheWillkür befürwortet. Im Gegenteil:+[…] <strong>der</strong> Herrscher im Staat hat gegen den Untertan lauter Rechte und ke<strong>in</strong>e […] Pflichten […] Wi<strong>der</strong>das gesetzgebende Oberhaupt gibt es […] ke<strong>in</strong>en rechtmäßigen Wi<strong>der</strong>stand des Volkes […]Grund <strong>der</strong> Pflicht des Volkes, selbst den für unerträglich gehaltenen Mißbrauch dennoch zu ertragen,liegt dar<strong>in</strong>: daß se<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>stand […] selbst niemals an<strong>der</strong>s als gesetzwidrig […] gedacht werden muß.Denn um zu demselben befugt zu se<strong>in</strong>, müßte e<strong>in</strong> öffentliches Gesetz vorhanden se<strong>in</strong>, welches diesenWi<strong>der</strong>stand […] erlaubte, d.i. die oberste Gesetzgebung enthielte e<strong>in</strong>e Bestimmung <strong>in</strong> sich, nichtdie oberste zu se<strong>in</strong> […] * (Rechtslehre; S. 125ff.)84DerWie Kant ist auch <strong>der</strong> bereits dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zuzurechnende Philosoph Georg WilhelmFriedrich Hegel (1770–1831)85e<strong>in</strong> Apologet autoritärer Staatsmacht. Die Legitimität dieser


32 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEAutorität liegt für ihn allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Objektivität des Staates als +Wirklichkeit <strong>der</strong> sittlichenIdee* (Grundl<strong>in</strong>ien <strong>der</strong> Philosophie des Rechts; § 257). Ideen und Begriffe (bzw. <strong>der</strong>endialektischer Entfaltungs-Zusammenhang) spielen im +objektiven* Idealismus Hegels nämlichdie zentrale Rolle:+Die Philosophie hat es mit Ideen, und darum nicht mit dem, was man bloße Begriffe zu heißen pflegt,zu tun, sie zeigt vielmehr <strong>der</strong>en E<strong>in</strong>seitigkeit und Unwahrheit auf, sowie, daß <strong>der</strong> Begriff (nicht das,was man oft so nennen hört […]) alle<strong>in</strong> es ist, was Wirklichkeit hat und zwar so, daß er sich dieseselbst gibt.* (Ebd.; § 1)Der Rechtsbegriff wird daher von Hegel als gegeben vorausgesetzt (vgl ebd.; § 2). Se<strong>in</strong>en+Ausgangspunkt [bildet] <strong>der</strong> Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit se<strong>in</strong>e Substanz undBestimmung ausmacht, und das Rechtssystem das Reich <strong>der</strong> verwirklichten Freiheit […] ist*(ebd.). Der Wille kann nun e<strong>in</strong>erseits als unmittelbar, unbeschränkt und allgeme<strong>in</strong> charakterisiertwerden (objektiver Wille), <strong>in</strong>sofern er +das re<strong>in</strong>e Denken se<strong>in</strong>er selbst* ist (ebd.; § 5). An<strong>der</strong>seitskommt <strong>in</strong> ihm auch e<strong>in</strong> Moment des Bestimmten, Beschränkten und Beson<strong>der</strong>en zum Tragen(Subjektivität), weil das +Ich* sich selbst als e<strong>in</strong> vom Allgeme<strong>in</strong>en Geson<strong>der</strong>tes setzen muß,um <strong>in</strong>s Dase<strong>in</strong> zu treten, ohne allerd<strong>in</strong>gs die Identität und Teilhabe mit dem Allgeme<strong>in</strong>enaufzugeben (vgl. ebd.; § 6). So stellt also <strong>der</strong> Wille +die E<strong>in</strong>heit dieser beiden Momente*dar (ebd.; § 7).In dieser ursprünglichen E<strong>in</strong>heit liegt die Möglichkeit (über den Weg <strong>der</strong> dialektischen Negation<strong>der</strong> durch Zufälligkeit gekennzeichneten Realität) vom Beson<strong>der</strong>en zum Allgeme<strong>in</strong>en zu gelangen.E<strong>in</strong> solches Allgeme<strong>in</strong>es ist das abstrakte Recht, das als Personen- und Sachrecht Privateigentumnotwendig macht, da +mir im Eigentum me<strong>in</strong> Wille als persönlicher, somit als Wille des E<strong>in</strong>zelnenobjektiv wird* (ebd.; § 46). Ferner umfaßt es das Recht, (als Person) zu handeln (vgl. ebd.;§ 40), <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf <strong>der</strong> Grundlage des freien Willens Verträge zu schließen (vgl. ebd.;§ 71) und gegen die Verletzung <strong>der</strong> abstrakten Rechtspr<strong>in</strong>zipien (Gegen-)Zwang auszuüben(vgl. ebd.; § 93).Die Freiheit des Willens führt aber auch zur Moralität als +Recht des subjektiven Willens*(ebd.; § 107). Denn +die […] für sich unendliche Subjektivität <strong>der</strong> Freiheit macht das Pr<strong>in</strong>zipdes moralischen Standpunkts aus* (ebd.; § 104). Im Gegensatz dazu ist die Sittlichkeit – welche+als die Idee <strong>der</strong> Freiheit, als das lebendige Gute* aufgefaßt werden kann (ebd.; § 142) –


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 33objektiver Natur, und sie vermittelt dementsprechend auch zwischen dem Recht und <strong>der</strong>Moral:+Das Rechtliche und das Moralische kann nicht für sich existieren, und sie müssen das Sittliche zumTräger und zur Grundlage haben, denn dem Recht fehlt das Moment <strong>der</strong> Subjektivität, das die Moralwie<strong>der</strong>um für sich alle<strong>in</strong> hat.* (Ebd.; Zusatz zu § 141)+Substantialität* wird dem Sittlichen durch die (patriarchalische) Familie (vgl. ebd.; §§ 158–181)und die bürgerliche Gesellschaft verliehen (vgl. ebd.; §§ 182–256), die sich im dialektischengeschichtlichen Prozeß <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Staat überführen läßt, +<strong>in</strong> welchem die Freiheit zu ihremhöchsten Recht kommt* (ebd.; § 258) – was Hegel aber gerade durch die bed<strong>in</strong>gungslosePflichterfüllung und Unterordnung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen unter das an sich Vernünftige des Staateserfüllt sieht, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e +organische Totalität* darstellt (vgl. ebd.; § 256).Wenn man nun abschließend die Frage nach e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>samkeit <strong>der</strong> hier nachgezeichnetenneuzeitlichen Konzepte des Politischen stellt, so kann man – wie schon e<strong>in</strong>gangs vorweggenommen – zum Resultat gelangen, daß die neuzeitlichen Theoretiker, an<strong>der</strong>s als ihre antikenund mittelalterlichen Vorgänger, zumeist von e<strong>in</strong>er getrennten Sphäre des Politischen ausg<strong>in</strong>gen,die im sich konstituierenden bürgerlichen Staat auch e<strong>in</strong>e praktische Entsprechung hatte.Wo, wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> absolutistischen Staatsphilosophie, e<strong>in</strong>e solche getrennte Sphäre des Politischennicht gedacht wurde und, aufgrund des umfassenden absolutistischen Anspruchs, auch praktischfehlte, g<strong>in</strong>g man zum<strong>in</strong>dest von e<strong>in</strong>em Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> aus.Diese Prioritätsverschiebung hatte ihren guten Grund: Die B<strong>in</strong>dekraft und das Weltdeutungsmonopol<strong>der</strong> Theologie schwand mit <strong>der</strong> Aufsplitterung <strong>der</strong> christlichen Religion (im Rahmen<strong>der</strong> Reformation) und den Erfolgen <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>nen* Naturwissenschaft. Seit <strong>der</strong> Renaissanceverlagerte sich die Heilserwartung deshalb immer mehr <strong>in</strong>s Säkulare, <strong>in</strong>s Hier und Jetzt, alsoauch h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Bereich von Gesellschaft und <strong>Politik</strong>. Auf diese Funktion <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> alssäkulare Religion ist schon vielfach, vor allem von konservativer Seite aus, h<strong>in</strong>gewiesen worden(z.B. durch Schmitt, Voegel<strong>in</strong>, Kamlah, Sternberger u.a.).86Die Tendenz zur +Theologiesierung*<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> spiegelt sich auch <strong>in</strong> vielen frühneuzeitlichen utopischen Entwürfen (so etwa beiMorus, Campanella etc.) wi<strong>der</strong>.87Doch noch e<strong>in</strong> weiteres, damit <strong>in</strong> Zusammenhang stehendesMerkmal neuzeitlicher politischer Philosophie kommt h<strong>in</strong>zu: nämlich <strong>der</strong>en immer wichtigerelegitimatorische Funktion. Die theologische Rechtfertigung <strong>der</strong> politischen Herrschaft reichte


34 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEnicht mehr aus, da zunehmend rationale Argumentationen und Begründungsweisen gefragtwaren.Zusammengenommen hatte all dies für den <strong>Politik</strong>begriff <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit e<strong>in</strong>e dreifache Bedeutung:Zum e<strong>in</strong>en erlebte das Feld <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>e semantische und praktische Beschränkung,<strong>in</strong>dem <strong>Politik</strong> als von Gesellschaft allgeme<strong>in</strong> abgrenzbarer Bereich gedacht wurde. Zum an<strong>der</strong>en(und ke<strong>in</strong>esfalls ersterem Befund wi<strong>der</strong>sprechend) erlebte <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>begriff e<strong>in</strong>en praktischenwie theoretischen Bedeutungszugew<strong>in</strong>n, <strong>in</strong>dem <strong>Politik</strong> gleichzeitig <strong>in</strong>s Zentrum <strong>der</strong> Gesellschaftrückte und e<strong>in</strong> Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> gegenüber an<strong>der</strong>en Bereichen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Theologie,gefor<strong>der</strong>t wurde. Damit e<strong>in</strong>her g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e emotionale Überladung des <strong>Politik</strong>begriffs durchdie so mit ihr verbundenen Heilserwartungen. 881.3 DIE UNTERSCHIEDLICHEN POLITIKVERSTÄNDNISSE IN KONSERVATISMUS, SOZIA-LISMUS UND LIBERALISMUSMit Hegel wurde e<strong>in</strong> erster Schritt <strong>in</strong>s 19. Jahrhun<strong>der</strong>t unternommen. In diesem Jahrhun<strong>der</strong>t<strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Revolution (siehe S. XVIIff.) kann man e<strong>in</strong>e deutliche Aufsplitterung des <strong>Politik</strong>begriffsausmachen, die mit <strong>der</strong> Formierung <strong>der</strong> politischen Lager, wie sie auch noch dieGegenwart prägen, e<strong>in</strong>her g<strong>in</strong>g. Das klassische rechts-l<strong>in</strong>ks-Koord<strong>in</strong>atensystem, das erst <strong>in</strong>letzter Zeit an Relevanz e<strong>in</strong>gebüßt hat, begann sich auszudifferenzieren.Natürlich erfolgte im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t ke<strong>in</strong> absoluter Neubeg<strong>in</strong>n, ke<strong>in</strong>e politische und politiktheoretischetabula rasa. Man baute durchaus auf dem bestehenden Gedankengut auf, undman kann sogar von e<strong>in</strong>em (vielfach geglückten) Versuch <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung bestimmterpolitischer Philosophen durch die ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>driftenden politischen Strömungen sprechen.Schließlich gibt es signifikante Unterschiede im politischen Denken e<strong>in</strong>es Platon und e<strong>in</strong>esAristoteles o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Hobbes und e<strong>in</strong>es Locke. Diese Unterschiede wurden nun erstmalsexplizit gemacht, <strong>in</strong>dem man sie systematisierte und kategorisierte, und genauso explizit verstandman sich selbst als liberal, sozialistisch o<strong>der</strong> konservativ.Der Versuch e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>deutigen Zuordnung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Denker unter diese drei Kategorienfällt aber trotzdem mitunter schwer. Am leichtesten fällt sie noch bei Locke, den man alsBegrün<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er liberalen, bürgerlichen Tradition sehen kann. Vielleicht könnte man auchKant – trotz gewisser konservativer, obrigkeitsstaatlicher Züge – hier e<strong>in</strong>ordnen. Bei Machiavelli


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 35und Hobbes ist die Sache schon schwieriger. Machiavellis politischer Pragmatismus ist beliebiganwendbar – allerd<strong>in</strong>gs tun sich vor allem Wertekonservative und politische Utopisten schwermit diesem Denker ohne +Moral* und +Ideale*. Das h<strong>in</strong><strong>der</strong>te freilich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheitwe<strong>der</strong> Konservative noch Sozialisten, sich an e<strong>in</strong> machiavellistisches Programm zur Gew<strong>in</strong>nungund Aufrechterhaltung ihrer Macht zu halten. Bei Hobbes liegt die Sache ähnlich. Auch ertrennt das politische +Geschäft* weitgehend von ethisch-moralischen Überlegungen und legte<strong>in</strong>e überaus negative Anthropologie zugrunde. Se<strong>in</strong> daraus abgeleitetes Plädoyer für e<strong>in</strong>eautoritäre (absolutistische) Herrschaft ergibt starke Berührungen mit <strong>der</strong> konservativen Denkströmung.Gerade er war jedoch e<strong>in</strong> methodischer Erneuerer und gegen die (geistes)wissenschaftlicheTradition <strong>der</strong> Antike und <strong>der</strong> Scholastik gewandt. Auch Rousseau und Hegel sperrensich gegen e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Zuordnung. Rousseau weist, wie angedeutet, Bezüge sowohl zumKonservatismus (Betonung von Sitte und Moral) wie zum Sozialismus (Volkssouveränitätsgedanke,identitäre Demokratie) auf. Hegel ist, gerade was se<strong>in</strong> politisches Denken betrifft, natürliche<strong>in</strong> klar konservativer, obrigkeitsstaatlicher Denker. Trotz <strong>der</strong> +Kritik [an] <strong>der</strong> Hegelschen Rechtsphilosophie*(1829), gibt es aber e<strong>in</strong>e l<strong>in</strong>kshegelianische Tradition (vor allem repräsentiertdurch Feuerbach), aus <strong>der</strong> auch Marx entwachsen ist.Bei dieser recht +großzügigen* Zuordnung wurde bisher davon ausgegangen, daß die Inhalte<strong>der</strong> Begriffe +liberal*, +konservativ* und +sozialistisch* bekannt s<strong>in</strong>d. Ich möchte abschließendallerd<strong>in</strong>gs doch noch e<strong>in</strong>ige Bemerkungen zur Spezifik des <strong>Politik</strong>begriffs <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnenStrömungen sowie zu ihrer Geschichte machen.KONSERVATISMUSDer Konservatismus ist (im Gegensatz zum Traditionalismus) e<strong>in</strong> typisch mo<strong>der</strong>nes Phänomenund +e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> prägnantesten Tatsachen im Geistesleben <strong>der</strong> ersten Hälfte des XIX. Jahrhun<strong>der</strong>ts<strong>in</strong> Deutschland* (Mannheim: Das konservative Denken; S. 24). Die Bezeichnung +Konservatismus*leitet sich von <strong>der</strong> 1818–20 von Chateaubriand herausgegebenen Zeitschrift +Le Conservateur*ab und charakterisiert e<strong>in</strong>e Denkhaltung, +die die bestehende pol., rechtl., gesellsch. undwirtsch. Ordnung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staat […] und die Werte und Normen auf <strong>der</strong> diese beruhen,erhalten, festigen und vor e<strong>in</strong>schneidenden Verän<strong>der</strong>ungen bewahren* will – so zum<strong>in</strong>destdie Def<strong>in</strong>ition im +Sachwörterbuch <strong>Politik</strong>*, die auf die late<strong>in</strong>ische Wurzel des Wortes (+conservare*:bewahren, erhalten) abhebt. Aus historischer Perspektive läßt sich jedoch geradezu


36 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdas Gegenteil behaupten: Der Konservatismus des frühen 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts war weniger e<strong>in</strong>ebewahrende als e<strong>in</strong>e reaktionäre Gegenbewegung (des Adels und des hohen Klerus) gegendie Emanzipationsversuche des Bürgertums, den politischen Liberalismus und später auchden Sozialismus, doch +vornehmlich und zuallererst gegenüber <strong>der</strong> Französischen Revolutionvon 1789* (Göhler/Kle<strong>in</strong>: Politische Theorien des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 297). 89Das konservative Denken ist – trotz dieser klaren historischen Gegenstellung – <strong>in</strong> sich <strong>in</strong>homogen.90E<strong>in</strong>e Reihe von Charakteristika lassen sich jedoch, ohne allzu große (strukturierende)+Gewalt* anzuwenden, verallgeme<strong>in</strong>ern und werden auch <strong>in</strong> relativer Übere<strong>in</strong>stimmung vonverschiedenen Konservatismus-Interpreten genannt:• die religiöse und traditionalistische Prägung des Konservativismus• damit verbunden se<strong>in</strong>e antirationalistische, antiaufklärerische und antimo<strong>der</strong>ne E<strong>in</strong>stellung• die Vorstellung e<strong>in</strong>er organisch gewachsenen Gesellschaft• Geschichts- und Traditionsbewußtse<strong>in</strong>• hierarchisches und autoritätsbejahendes, teilweise elitäres Denken• die Betonung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft, unter die sich <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne unterzuordnen hat• E<strong>in</strong>heit, Stabilität, Ordnung und Pflichterfüllung als zentrale Werte 91Als paradigmatischer Denker des (frühen) Konservatismus gilt Edmund Burke (1729–1797),<strong>der</strong> bereits 1790 se<strong>in</strong>e von scharfer Ablehnung geprägten +Betrachtungen über die französischeRevolution* vorlegte. In dieser Schrift stellt er das (positive) Pr<strong>in</strong>zip +historisch gewachsener*politischer Strukturen <strong>der</strong> +künstlichen* und abstrakten Konstruktion des (egalitären) Verfassungsstaatsgegenüber (den die Revolutionäre <strong>in</strong> Frankreich zu errichten trachteten). Für ihn warRevolution +die letzte Arznei e<strong>in</strong>es Staates* (S. 112), die nur angewendet werden sollte, wennalle an<strong>der</strong>en Mittel versagt haben. Denn die historisch gewachsene politische Ordnung entspricht<strong>der</strong> gottgegebenen Ordnung <strong>der</strong> Natur, und e<strong>in</strong>e wi<strong>der</strong>natürliche Verfassung <strong>der</strong> Gesellschaft– d.h. für Burke: e<strong>in</strong>e politische Ordnung die das ständische System <strong>in</strong> Frage stellt – entsprichte<strong>in</strong>em +offenen Krieg mit <strong>der</strong> Natur* (ebd.; S. 91).Burke prägte den politischen Konservatismus des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>in</strong> Deutschland maßgeblich,für den Namen wie Karl Ludwig Haller (1768–1854), Friedrich von Hardenberg (1772–1801),Adam Müller (1779–1829) o<strong>der</strong> auch Julius Stahl (1802–61) und Lorenz von Ste<strong>in</strong> (1815–90)


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 37stehen.92Der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ausprägungen stark differierende <strong>Politik</strong>begriff des Konservatismussoll allerd<strong>in</strong>gs anhand <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>konzepte zweier konservativer politischer Autoren des 20.Jahrhun<strong>der</strong>ts dargestellt werden: Carl Schmitt (1888–1985) und Eric Voegel<strong>in</strong> (1901–85).Schmitt hat explizit zum +Begriff des Politischen* (1927) Stellung genommen. Die Gleichsetzungdes Politischen mit dem Staatlichen lehnt er <strong>in</strong> jener vielfach rezipierten Schrift ab, da ihmdiese ungenügend und tautologisch ersche<strong>in</strong>t:+Im allgeme<strong>in</strong>en wird ›Politisch‹ <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise mit ›Staatlich‹ gleichgesetzt o<strong>der</strong> wenigstensauf den Staat bezogen. Der Staat ersche<strong>in</strong>t dann als etwas Politisches, das Politische aber als etwasStaatliches – offenbar e<strong>in</strong> unbefriedigen<strong>der</strong> Zirkel […] E<strong>in</strong>e Begriffsbestimmung des Politischen kannnur durch Aufdeckung und Feststellung <strong>der</strong> spezifisch politischen Kategorien gewonnen werden […]Die spezifisch politische Unterscheidung [aber], auf welche sich die politischen Handlungen und Motivezurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Fe<strong>in</strong>d.* (S. 21–26)Die politische E<strong>in</strong>heit (e<strong>in</strong>es Volkes) konstituiert sich nämlich erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegnerschaft zu e<strong>in</strong>ensolchen Fe<strong>in</strong>d, was auch die Bereitschaft zur Anwendung von (militärischer) Gewalt notwendigmit e<strong>in</strong>schließt (vgl. ebd.; S. 28–37).Schmitts +revolutionärer* Konservatismus zeigt mit <strong>der</strong>artigen Bestimmungen Berührungspunktezur (Vernichtung-)Ideologie des Nationalsozialismus, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat stand er dem NS-Regimenahe. E<strong>in</strong>e Nähe des Konservatismus zum Faschismus ist verschiedentlich im Allgeme<strong>in</strong>enbehauptet worden (vgl. z.B. Lukács: Die Zerstörung <strong>der</strong> Vernunft; S. 622–662),93und auchErnst Nolte gesteht zu, +daß <strong>der</strong> Nationalsozialismus im engsten Zusammenhang mit konservativenKräften emporgewachsen ist* (Konservatismus und Nationalsozialismus; S. 259). Trotzdemsollte man Faschismus und Konservatismus nicht gleichsetzen. Schließlich zeichnet sich diefaschistische Ideologie (und hier stimme ich mit Nolte übere<strong>in</strong>) durch e<strong>in</strong>e eigentümlicheAmbivalenz aus, <strong>in</strong>dem sie Elemente e<strong>in</strong>es nationalistisch-chauv<strong>in</strong>istischen Konservatismusmit (pseudo-)sozialistischen Phrasen sowie e<strong>in</strong>em haßerfüllten Rassismus verb<strong>in</strong>det.94Darüberh<strong>in</strong>aus (und wahrsche<strong>in</strong>lich gerade wegen dieser unausgegorenen Melange sowie dem +proletarischenElement* des Nationalsozialismus) waren viele Konservative dem Hitler-Regimekritisch bis ablehnend gegenüber e<strong>in</strong>gestellt. Das gilt auch für Eric Voegel<strong>in</strong>.Zu Voegel<strong>in</strong>s bedeutendsten Schriften zählt +Die neue Wissenschaft <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (1952). E<strong>in</strong>esolche ist für ihn notwendig, weil es se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach vor allem durch den Positivismuszu e<strong>in</strong>em Verfall <strong>der</strong> politischen Pr<strong>in</strong>zipien gekommen ist. Als +Heilmittel* gegen diesen Verfall


38 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEbr<strong>in</strong>gt Voegel<strong>in</strong> jedoch weniger neue, als vielmehr die klassischen antiken <strong>Politik</strong>konzeptesowie christliche Werte <strong>in</strong>s Spiel. Denn es geht ihm um die +Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Wahrheit<strong>der</strong> kosmischen Ordnung*, weshalb es +die Entdeckung Platons neu zu entdecken [gilt]: daße<strong>in</strong>e Gesellschaft als e<strong>in</strong> geordnetes Kosmion, als e<strong>in</strong> Repräsentant kosmischer Ordnung existierenmuß, um sich den Luxus erlauben zu können, auch die Wahrheit <strong>der</strong> Seele zu repräsentieren*(S. 230). Nur: zu e<strong>in</strong>er solchen Restauration schien die Welt wenig Bereitschaft zu zeigen.E<strong>in</strong>en +Hoffnungsstrahl* sah Voegel<strong>in</strong> aber doch:+Denn die amerikanischen und englischen Demokratien, die <strong>in</strong> ihren Institutionen die Wahrheit <strong>der</strong>Seele am stärksten repräsentieren, s<strong>in</strong>d gleichzeitig auch die existentiell stärksten Mächte. Aber eswird aller unserer Anstrengungen bedürfen, um diesen Funken zu e<strong>in</strong>er Flamme zu entfachen […].*(Ebd.; S. 266)Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong>, daß Voegel<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Hoffnungen auf die extrem konservative <strong>Politik</strong> Eisenhowersund Churchils richtete, die e<strong>in</strong>en anti-liberalen sowie vor allem anti-sozialistischen Kurs steuertenund damit wesentlich zur Dynamik des +Kalten Kriegs* beitrugen.95Speziell <strong>in</strong> den USA machtesich darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit e<strong>in</strong> kulturkritischer +New Conservatism* breit, <strong>der</strong>mit se<strong>in</strong>en rückwärtsgewandten Vorstellungen zu e<strong>in</strong>er starken Kraft <strong>in</strong> <strong>der</strong> amerikanischenGesellschaft wurde (vgl. Chapman: Der Neukonservatismus). Seit den 80er Jahren läßt sichganz allgeme<strong>in</strong> von e<strong>in</strong>er +Renaissance* des Konservatismus sprechen. 96SOZIALISMUSMan kann die Ursprünge des Sozialismus bzw. Kommunismus bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike ansetzen. 97Insbeson<strong>der</strong>e Platons politische Ideen bieten hierzu gewisse Ansatzpunkte. Der +eigentliche*Sozialismus ist jedoch – wie <strong>der</strong> Konservatismus – e<strong>in</strong> +K<strong>in</strong>d* des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Allerd<strong>in</strong>gsgibt es e<strong>in</strong>e (neuzeitliche) +frühsozialistische* Tradition, an die angeknüpft werden konnteund die bis <strong>in</strong>s 18. Jahrhun<strong>der</strong>t und davor zurückreicht. 98Das Land mit <strong>der</strong> reichsten frühsozialistischen Tradition ist Frankreich. Hier s<strong>in</strong>d vor allemdie Namen Fraçois Noël Babeuf (1760–97), Claude-Heri de Sa<strong>in</strong>t-Simon (1760–1825), CharlesFourier (1772–1837), Etienne Cabet (1788–1856), Louis Blanc (1811–82), Louis-Auguste Blanqui(1805–81) und Pierre Joseph Proudhon (1809–65) zu nennen. Babeuf war e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wenigenpolitischen Führer <strong>der</strong> Französischen Revolution, die egalitär-sozialistische Vorstellungen vertraten


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 39(geme<strong>in</strong>samer Besitz an Grund und Boden, Abschaffung des Erbrechts etc.).99Weniger revo-lutionär e<strong>in</strong>gestellt und vor allem eher theoretisch-wissenschaftlich orientiert war dagegense<strong>in</strong> Zeitgenosse Sa<strong>in</strong>t-Simon, dessen wesentliche soziologische Gedanken bereits vorgestelltwurden (siehe S. XVIII). Die eher gemäßigte Orientierung gilt ebenso für Fourier, Blanc undProudhon. Sie erarbeiteten auch detaillierte ökonomische Modelle, die – <strong>in</strong> Anlehnung anOwen (siehe unten) – den Gedanken <strong>der</strong> Produzenten- und Konsumgenossenschaft aufgriffen. 100Cabet knüpfte dagegen an die Tradition des frühneuzeitlichen utopischen Denkens an (siehedazu auch S. 33 sowie Anmerkung 87) und entwarf mit dem idealen Staat +Iakrien* e<strong>in</strong>eGesellschaft, die durch den <strong>in</strong>dustriell-technischen Fortschritt zu e<strong>in</strong>er Verwirklichung desGleichheitsgedankens gelangt.101Blanqui wie<strong>der</strong>um war, wie Babeuf, e<strong>in</strong> Mann <strong>der</strong> Tat, agitierteim Rahmen <strong>der</strong> neuerlichen Revolution von 1830 und for<strong>der</strong>te – wie später <strong>in</strong> Anlehnungan ihn Marx und Engels – e<strong>in</strong>e +Diktatur des Proletariats*.Soweit zum französischen Frühsozialismus. In England gibt es im wesentlichen zwei Namen,die <strong>in</strong> diesem Kontext zu nennen s<strong>in</strong>d: William Godw<strong>in</strong> (1756–1836) und Robert Owen(1771–1858). Godw<strong>in</strong> war e<strong>in</strong> nicht nur räumlich, son<strong>der</strong>n auch emotional distanzierter Beobachter<strong>der</strong> Französischen Revolution, gleichzeitig jedoch e<strong>in</strong> scharfer Kritiker des bürgerlichen102 103Besitz<strong>in</strong>dividualismus. Er maß (ähnlich wie Rousseau) <strong>der</strong> Erziehung großen Stellenwertbei, um aus dem Menschen e<strong>in</strong> wirklich freies, dabei aber moralisch handelndes Individuumzu machen. Ökonomisch-politisch for<strong>der</strong>te er e<strong>in</strong>e gerechte Verteilung des Eigentums sowiedie Zerschlagung des Staates. Was die Lösung von sozialen Konflikten betrifft, so vertrauteer auf das Mittel <strong>der</strong> vernünftigen Diskussion (kann also gewissermaßen als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> ersten+Diskurstheoretiker* gelten) und favorisierte die Selbstorganisation <strong>der</strong> Individuen gegenüberLenkungsmodellen (weshalb er häufig auch dem Anarchismus zugerechnet wird). 104Robert Owen war aus eigener Kraft zum wohlhabenden Industriellen aufgestiegen, <strong>der</strong> <strong>in</strong>se<strong>in</strong>en Sp<strong>in</strong>nerei-Betrieben vorbildliche Sozialmaßnahmen e<strong>in</strong>geführt hatte und sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enpolitischen Vorstellungen mit <strong>der</strong> Zeit immer mehr an die Positionen <strong>der</strong> Arbeiterschaft annäherte.1825 versuchte Owen <strong>in</strong> Indiana e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaftssiedlung mit dem klangvollen Namen+New Harmony* aufzubauen. Dieser Versuch scheiterte ironischerweise ausgerechnet <strong>in</strong>folge<strong>in</strong>nerer Streitigkeiten und so kehrte er nach drei Jahren (um den Großteil se<strong>in</strong>es Vermögenserleichtert) zurück nach England. Auch dort blieb Owen aber weiterh<strong>in</strong> aktiv und gründetee<strong>in</strong>e +Arbeitstauschbörse*, die durch Äquivalenttausch <strong>in</strong> Form von +Arbeitsgeldzertifikaten*


40 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdas Umgehen des Handelsprofits ermöglichen sollte. Dieses Projekt schlug lei<strong>der</strong> genausofehl wie e<strong>in</strong> neuerliches Siedlungsprojekt <strong>in</strong> Hamshire 1854. Trotzdem bee<strong>in</strong>flußte Owendie <strong>in</strong> ihrer Anfangsphase bef<strong>in</strong>dliche Genossenschafts- und Gewerkschaftsbewegung (nichtnur <strong>in</strong> Großbritannien) erheblich.Auch <strong>in</strong> Deutschland existierte e<strong>in</strong>e frühsozialistische Denkströmung, die vor allem durchWilhelm Weitl<strong>in</strong>g (1808–71), Karl Grün (1817–87) und Moses Hess (1812–75) repräsentiertwird und romantische sowie anti-französische Untertöne aufwies. Der eigentliche deutscheBeitrag zur Geschichte des Sozialismus liegt aber ohne Zweifel im Werk von Karl Marx (1818–83)und Friedrich Engels (1820–95), die <strong>in</strong> expliziter Abgrenzung zum Frühsozialismus von sichbehaupteten, den Sozialismus von <strong>der</strong> Utopie zur Wissenschaft entwickelt zu haben.ist aber nicht <strong>der</strong> Ort, e<strong>in</strong>e detaillierte Übersicht marxistischer Theorie zu geben. Ich möchtenur <strong>in</strong> kurzen Stichpunkten die aus me<strong>in</strong>er Sicht zentralen Elemente auflisten:105Hier• Egalität und Freiheit als primäre Werte sowie (nicht-entfremdete) Arbeit als Medium zurVerwirklichung <strong>der</strong> menschlichen Natur. 106• Dialektische Geschichtsauffassung und Fortschrittsgedanke: E<strong>in</strong> permanenter Kampf antagonistischerKlassen hält den historischen Prozeß <strong>in</strong> Gang, <strong>der</strong> immer weiter <strong>in</strong> Richtungauf e<strong>in</strong>e kommunistische Gesellschaft zuläuft (siehe unten).• Materialistische Grundposition (historischer Materialismus): Bestimmendes Moment diesesgeschichtlichen Prozesses s<strong>in</strong>d die ökonomischen (und sozialen) Verhältnisse.• Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> kapitalistischen Produktionsweise: Obwohl <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Kapitalismusden Stand <strong>der</strong> Produktivkräfte (technologisch) auf e<strong>in</strong> nie gekanntes Maß angehoben hat,sorgen die ungünstigen Produktionsverhältnisse (Entfremdung und Ausbeutung) sowie diezwangsläufige Tendenz zur Monopolisierung des Kapitals für ständig wie<strong>der</strong>kehrende Krisenund e<strong>in</strong> revolutionäres Potential auf <strong>der</strong> Seite des pauperisierten Proletariats.• Aufhebung <strong>der</strong> ökonomischen Wi<strong>der</strong>sprüche durch Abschaffung des Privateigentums anden Produktionsmitteln, was durch e<strong>in</strong>e mit Notwendigkeit stattf<strong>in</strong>dende proletarischeRevolution umgesetzt wird. Errichtung e<strong>in</strong>er +Diktatur des Proletariats* (sozialistisches Stadium).• Absterben des Staats und Verwirklichung des +Reichs <strong>der</strong> Freiheit*, <strong>in</strong> dem die sozialenund ökonomischen Wi<strong>der</strong>sprüche aufgehoben s<strong>in</strong>d, also auch <strong>der</strong> grundlegende Gegensatzvon Arbeit und Kapital (kommunistisches Endstadium <strong>der</strong> historischen Entwicklung).


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 41Was den <strong>Politik</strong>begriff von Marx und Engels betrifft, so spielt <strong>der</strong> revolutionäre Klassenkampfdar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. <strong>Politik</strong> im marxistischen S<strong>in</strong>n ist die aktive Verfolgung <strong>der</strong> proletarischenInteressen, die praktische Umsetzung des sozialistischen Programms. Hierzu e<strong>in</strong> Zitat vonEngels, das e<strong>in</strong>em Redemanuskript zur Londoner Konferenz <strong>der</strong> +Internationalen Arbeiter-Assoziation* (1. Internationale) vom September 1871 entstammt:+[…] die politische Bedrückung, <strong>der</strong> die bestehenden Regierungen die Arbeiter aussetzen […], zw<strong>in</strong>gtdie Arbeiter <strong>in</strong> die <strong>Politik</strong>, ob sie wollen o<strong>der</strong> nicht […] Die Revolution aber ist <strong>der</strong> höchste Akt <strong>der</strong><strong>Politik</strong>, und wer sie will muß auch das Mittel wollen, die politische Aktion […]* (Über die politischeAktion <strong>der</strong> Arbeiterklasse; S. 302)Die zentrale Bedeutung <strong>der</strong> (politischen) Praxis läßt sich auch an <strong>der</strong> berühmten 11. TheseMarx’ über Feuerbach ablesen: +Die Philosophen haben die Welt nur verschieden <strong>in</strong>terpretiert,es kommt aber darauf an, sie zu verän<strong>der</strong>n*. Man kann nun (retrospektiv) vor allem aus demangeführten Engels-Zitat e<strong>in</strong>e Nähe zu Schmitts <strong>Politik</strong>-Begriff konstruieren (siehe S. 37). Dabeisollte jedoch beachtet werden, daß das Ziel des sozialistischen Kampfes die Verwirklichungdes Freiheits- und Gleichheitsgedankens darstellt und gerade die <strong>in</strong>ternationale Solidarität(des Proletariats) e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielt,107also an<strong>der</strong>s als bei Schmitt <strong>der</strong> (Klassen-)Kampfnur Mittel zum Zweck ist und nicht den eigentlichen Kern des Politischen darstellt.Wie jede Theorie – und das kann gleichzeitig als e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wesentlichen E<strong>in</strong>sichten von Marxgelten (siehe oben, Punkt 3) – spiegelt auch die marxistische Lehre die damaligen ökonomischen,sozialen und politischen Verhältnisse wi<strong>der</strong>. Diese waren vor allem durch die beg<strong>in</strong>nendeIndustrialisierung sowie das Wechselspiel von Revolution und Restauration gekennzeichnet:Die napoleonische Eroberung Anfang des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts riß weite Teile des <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vielzahlvon feudalen Kle<strong>in</strong>staaten aufgespaltenen deutschen Reichs aus ihrem Schlummer. In Gegenreaktionauf die französische (Fremd-)Herrschaft kristallisierte sich erstmals, speziell <strong>in</strong> denReihen des Bürgertums, e<strong>in</strong> nationales Wir-Gefühl heraus. Die Nie<strong>der</strong>lage Napoleons <strong>in</strong> den+Befreiungskriegen* (1813–15) und <strong>der</strong> nachfolgende +Wiener Kongreß* bewirkten aber e<strong>in</strong>eRestauration <strong>der</strong> alten Machtstrukturen und besiegelten im neu gegründeten, eher losen+Deutschen Bund* die Dom<strong>in</strong>anz Österreichs, das im ständigen Cl<strong>in</strong>ch mit dem preußischenKönigreich lag. Die erneuten Revolutionen <strong>in</strong> Frankreich vom Juli 1830 und Februar 1848hatten dann jedoch auch Ausstrahlungen nach Deutschland. Im März 1848 kam es sogar


42 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEzur tatsächlichen Erhebung des Bürgertums. Die Versuche von Marx, durch se<strong>in</strong>e publizistischeArbeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Neuen Rhe<strong>in</strong>ischen Zeitung* auf das Geschehen E<strong>in</strong>fluß zu nehmen, scheitertenjedoch so kläglich wie die eigentlich +ungewollte Revolution* (Schie<strong>der</strong>) von 1848/49: 108Nachdem sich die monarchistischen Kräfte vom ersten Schrecken erholt hatten und sich sammelnkonnten, wurde ihnen nahezu kampflos das Feld überlassen. 109Trotz des restriktiven Klimas <strong>in</strong> dieser Zeit des +Nachmärz* vollzog sich e<strong>in</strong> immer weitererökonomischer Aufschwung. E<strong>in</strong> wichtiger Schritt dazu war die Gründung des +DeutschenZollvere<strong>in</strong>s* 1834 gewesen, <strong>der</strong> die +tarifären Handelshemmnisse* im deutschen Reich weitgehendbeseitigt hatte. Die dadurch geför<strong>der</strong>te Industrialisierung brachte e<strong>in</strong>en tiefen Strukturwandelmit sich, führte zu Verstädterung und Proletarisierung. Ständiger Nachschub für die<strong>in</strong>dustrielle Reservearmee war durch e<strong>in</strong> enormes, vor allem mediz<strong>in</strong>ischen Fortschritten +geschuldetes*Bevölkerungswachstum gesichert. Dieser Umstand bewirkte e<strong>in</strong>en niedrigen, kaumdas Überleben sichernden Marktwert <strong>der</strong> menschlichen Arbeitskraft. Die Verelendung desProletariats war also ke<strong>in</strong> sozialistisches Hirngesp<strong>in</strong>st, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> bedrückendsten sozialenTatsachen des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Überhaupt können Marx’ ökonomische Analysen als größtenteilszutreffend bezeichnet werden.Die (weitere) Entwicklung des Sozialismus stand <strong>in</strong> enger Beziehung zur Entwicklung <strong>der</strong>Arbeiterbewegung. In Deutschland galt allerd<strong>in</strong>gs lange Zeit e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Koalitionsverbot. 110Im Zuge <strong>der</strong> +Revolution* von 1848 wurde dann durch Stephan Born erstmals e<strong>in</strong>e proletarischeOrganisation, die +Allgeme<strong>in</strong>e deutsche Arbeiter-Verbrü<strong>der</strong>ung*, <strong>in</strong> ihr kurzes Leben gerufen– denn nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> alten Verhältnisse wurde diese sofort mit e<strong>in</strong>em Verbotbelegt. Längeren Bestand (doch anfangs kaum Erfolg) hatte <strong>der</strong> 1863 von Ferd<strong>in</strong>and Lassalle(1825–65) gegründete +Allgeme<strong>in</strong>e deutsche Arbeitervere<strong>in</strong>*. In Konkurrenz zu diesem schufendie <strong>in</strong> ihrer Ausrichtung radikaleren, aber wie Lassalle eher +revisionistisch*111orientiertenSozialisten Karl Liebknecht und August Bebel 1869 die +Sozialdemokratische Arbeiterpartei*.1875 verschmolzen beide Organisationen zur +Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands*,die großes Anpassungsvermögen aufwies und heute bekanntermaßen unter dem Label +SPD*weiterexistiert (jedoch ihre enge Klientelb<strong>in</strong>dung verloren hat). Am letztendlichen Erfolg <strong>der</strong>Sozialdemokratie konnten also auch die +Sozialistengesetze* Bismarks von 1878 nichts än<strong>der</strong>n,die bis 1890 <strong>in</strong> Kraft blieben und sozialistische Parteien unter e<strong>in</strong> Verbot stellten. Auf <strong>der</strong>an<strong>der</strong>en Seite versuchte Bismark, <strong>der</strong> als Reichskanzler die politischen Fäden des 1871


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 43errichteten deutschen Kaiserreichs <strong>in</strong> Händen hielt, geschickt die Arbeiterschaft durch sozialpolitischeZugeständnisse zu befried(ig)en. Resultat dieses Versuchs war <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Sozialgesetzgebung1883 (mit dem Gesetz über die Krankenversicherung). 112Ähnliche Sozialgesetze, die die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus durch staatlicheIntervention zu mil<strong>der</strong>n versuchten, wurden mit (z.T. erheblicher) zeitlicher Verzögerung auch<strong>in</strong> an<strong>der</strong>en europäischen Staaten e<strong>in</strong>geführt – o<strong>der</strong> aber Verbesserungen für die Arbeitnehmerwurden den Unternehmern direkt, durch gewerkschaftlichen Kampf, abgetrotzt. So konntedie entwickelte soziale Dynamik zum großen Teil abgefangen werden. Die Gewerkschaftsbewegungließ sich jedenfalls durch solche Zugeständnisse und ihren eigenen Erfolg von denursprünglich revolutionären Zielen abbr<strong>in</strong>gen – sofern sie diese jemals wirklich besessen hatte.E<strong>in</strong>e sozialistische Revolution gar konnte <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em <strong>der</strong> sich <strong>in</strong>dustrialisierenden Staaten Europaswie Großbritannien o<strong>der</strong> Deutschland verwirklicht werden, die dafür doch eigentlich nachmarxistischer Theorie prädest<strong>in</strong>iert waren. Welchen E<strong>in</strong>fluß die <strong>in</strong>nersozialistischen Kämpfeauf dieses Ausbleiben <strong>der</strong> Revolution hatten, sei dah<strong>in</strong>gestellt. Fest steht, daß das sozialistischeLager <strong>in</strong> sich tief zerstritten war. E<strong>in</strong> Dissens bestand vor allem zwischen den +Marxisten*und <strong>der</strong> immer mehr zurückgedrängten anarchistischen Strömung.113Deutliches Zeichen dafürwar <strong>der</strong> 1872 von Marx veranlaßte formelle Ausschluß des russischen Anarchisten MichailBakun<strong>in</strong> (1814–76) und se<strong>in</strong>er Anhänger aus <strong>der</strong> 1. Internationale. 114Zur großen sozialistischen Revolution kam es, wie allgeme<strong>in</strong> bekannt, erst im 20. Jahrhun<strong>der</strong>tund ironischerweise gerade <strong>in</strong> Bakun<strong>in</strong>s Heimat. Rußland war nämlich noch e<strong>in</strong> durch unddurch agrarisch-feudal geprägtes Land und deshalb <strong>der</strong> +orthodoxen* Theorie-Interpretationnach wohl nicht <strong>der</strong> ideale Ort für e<strong>in</strong>e proletarische Erhebung.115Die Revolution vom Oktober1917 unter <strong>der</strong> Führung Len<strong>in</strong>s (1870–1924) konnte sich allerd<strong>in</strong>gs trotzdem behaupten.Im Zuge des 2. Weltkriegs und unter <strong>der</strong> Herrschaft Stal<strong>in</strong>s (1879–1953) kam es dann zurExpansion des Sowjetregimes und <strong>der</strong> Gründung von +befreundeten*, tatsächlich aber politischwie ökonomisch abhängigen +Volksrepubliken*, <strong>der</strong>en politisches System, wie <strong>der</strong> Stal<strong>in</strong>ismus<strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion, mit orig<strong>in</strong>ärem Sozialismus jedoch wenig geme<strong>in</strong> hatte, son<strong>der</strong>n die Forme<strong>in</strong>er autoritären Diktatur <strong>der</strong> Partei-Nomenklatura aufwies. 116In den meisten westlichen Staaten war die Position sozialistisch-kommunistischer Parteiennach dem Krieg ausgesprochen schwach (am ehesten konnten sie sich <strong>in</strong> den romanischenLän<strong>der</strong>n behaupten).117Auf Betreiben des republikanischen Senators McCarthy gab es <strong>in</strong>


44 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEden USA sogar e<strong>in</strong>e regelrechte Kommunisten-Verfolgung, und <strong>in</strong> Westdeutschland wurdedie KPD 1956 wegen angeblicher Verfassungsfe<strong>in</strong>dlichkeit verboten. Es war die vom Ost-West-Gegensatz geprägte Ära des Kalten Kriegs. Mit <strong>der</strong> Öffnungspolitik Gorbatschows ab 1986wurde dieser Gegensatz immer weniger spürbar. Seit dem Fall <strong>der</strong> deutsch-deutschen +Mauer*1989 kann man tatsächlich vom Ende dieses lange Zeit die <strong>in</strong>ternationale <strong>Politik</strong> strukturierendenKonflikts sprechen. Gleichzeitig sche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Sozialismus als Alternative zum liberalen Kapitalismusobsolet geworden zu se<strong>in</strong> – e<strong>in</strong>e Tatsache die Francis Fukuyama vorschnell vom +Ende <strong>der</strong>Geschichte* sprechen ließ (siehe auch Anmerkung 104, Prolog).LIBERALISMUSVersteht man das 19. Jahrhun<strong>der</strong>t als Epoche des Bürgertums, se<strong>in</strong>er Emanzipation und politischen+Machtergreifung*, so ist es auch das Jahrhun<strong>der</strong>t des Liberalismus.118Denn <strong>der</strong> Libe-ralismus ist die dom<strong>in</strong>ante Ideologie und Bewegung des aufstrebenden Bildungs- und Besitzbürgertums.119Inhaltlich gefaßt läßt sich dieser frühe Liberalismus im Wesentlichen auf zweiKernfor<strong>der</strong>ungen reduzieren: <strong>in</strong>dividuelle Freiheit und Schutz des Eigentums.120Entsprechenddieser zwei Kernfor<strong>der</strong>ungen kann man nun zwischen politischem Liberalismus und ökonomischemLiberalismus unterscheiden, auch wenn beide Aspekte tatsächlich Hand <strong>in</strong> Handg<strong>in</strong>gen und man mit solchen Vere<strong>in</strong>fachungen historischer +Realität* natürlich nie gerechtwird.Der politische Liberalismus, <strong>der</strong> <strong>in</strong> weiten Teilen mit <strong>der</strong> Demokratiebewegung zusammenfällt,wurzelt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie <strong>der</strong> Aufklärung, und als wichtigster Denker <strong>in</strong> diesem Zusammenhangkann, wie bereits angemerkt, John Locke gelten. Vor allem das Pr<strong>in</strong>zip verfassungsmäßig verankerterund staatlich garantierter Grundrechte, das den Bürger vor (politisch-staatlicher) Willkürschützen soll und geradezu e<strong>in</strong> konstitutives Element liberaler For<strong>der</strong>ungen darstellt, gehtauf ihn zurück (siehe S. 26f.). Die heute <strong>in</strong> liberalen Demokratien gewährleisteten Grundrechtelassen sich <strong>in</strong> Anlehnung an Thomas Marshall <strong>in</strong> drei, auch historisch abgrenzbare Gruppenbzw. Kategorien e<strong>in</strong>teilen: Zunächst wurden im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t die bürgerlichen (Abwehr-)Rechtegegenüber dem Staat erstritten. Im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t konnten dann demokratische bzw. politische(Mitwirkungs-)Rechte errungen werden. Soziale (Anspruchs-)Rechte wurden erst im Rahmendes Wohlfahrtsstaats des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts weitgehend verwirklicht. (Vgl. Staatsbürgerrechteund soziale Klassen; S. 42f.) 121


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 45Das demokratische Element des politischen Liberalismus ist, nachdem es se<strong>in</strong>e Grundlegung<strong>in</strong> <strong>der</strong> Aufklärungsphilosophie erhalten hatte, also erst im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t bzw. dem späten18. Jahrhun<strong>der</strong>t tatsächlich zum Durchbruch gelangt – und dies auch nur <strong>in</strong> +fortschrittlichen*Staaten wie England o<strong>der</strong> Frankreich sowie natürlich <strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten. Alexis deTocqueville (1805–59) g<strong>in</strong>g allerd<strong>in</strong>gs nach se<strong>in</strong>er Analyse <strong>der</strong> amerikanischen Verhältnissedavon aus, daß das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> politischen Gleichheit sich unaufhaltsam und überall durchsetzenwürde, stand dem Prozeß <strong>der</strong> Demokratisierung aus se<strong>in</strong>er aristokratischen Perspektive aberdurchaus distanziert gegenüber und sprach von <strong>der</strong> Gefahr e<strong>in</strong>er +Tyrannis <strong>der</strong> Mehrheit*(vgl. Über die Demokratie <strong>in</strong> Amerika; Teil II, Kap. 7).Deutschland hatte mit <strong>der</strong> gescheiterten +Revolution* von 1848 den Anschluß an diese vonTocqueville prognostizierte Entwicklung für lange Zeit verpaßt. Es ist deshalb auch kaum verwun<strong>der</strong>lich,daß <strong>der</strong> politisch-demokratische Liberalismus des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts se<strong>in</strong>e prägnantestetheoretische Ausformulierung nicht durch e<strong>in</strong>en deutschen Denker, son<strong>der</strong>n den Briten JohnStuart Mill (1806–73) fand. E<strong>in</strong>e zentral Position nimmt dabei die For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>er repräsentativenVolksvertretung e<strong>in</strong>, die die legislativen Kompetenzen <strong>in</strong>ne hat.122Denn <strong>der</strong> gewalten-teilige bürgerliche Staat ist als +Rechtsstaat* durch e<strong>in</strong>e allseitige Verrechtlichung <strong>der</strong> Verhältnissegekennzeichnet, was auch kalkulierbare Rahmenbed<strong>in</strong>gungen für die ökonomische Entfaltungsicherstellen sollte. Die For<strong>der</strong>ung nach sozialer Grundsicherung taucht im liberalen Kontexterst relativ spät auf und ist typisch für e<strong>in</strong>en +neuen Liberalismus*, wie ihn z.B. Ralf Dahrendorfvertritt:+Liberale haben es nicht immer leicht gefunden, den Wohlfahrtsstaat zu akzeptieren. Während Staatsbürgerrechtee<strong>in</strong> traditionelles und zentrales Thema liberaler Programmatik waren, haben viele ihr Interesseauf die juristischen und politischen Aspekte solcher Rechte beschränkt […] Formale Chancengleichheitmuß geschaffen werden […], aber dann müssen die Staatsbürger selbst ihren Weg gehen […] Nachdem Zweiten Weltkrieg ist die Begrenztheit dieser Vorstellung fast allen bewußt geworden […] DieMöglichkeit <strong>der</strong> Teilnahme kann nur realisiert werden durch e<strong>in</strong>e Sozialpolitik, die Menschen befähigt,das Versprechen <strong>der</strong> Staatsbürgerschaft e<strong>in</strong>zulösen.* (Fragmente e<strong>in</strong>es neuen Liberalismus; S. 138)Der so verstandene +neue Liberalismus* Dahrendorfs hat natürlich denkbar wenig mit demaktuellen Neoliberalismus geme<strong>in</strong>, <strong>der</strong> die Vorstellungen des ökonomischen Liberalismusweitgehend auf das Feld <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> überträgt.123Was aber s<strong>in</strong>d die Grundpr<strong>in</strong>zipien desökonomischen Liberalismus und welche Schlußfolgerungen ergeben sich daraus für den (neo)-


46 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEliberalen <strong>Politik</strong>begriff? – Zunächst e<strong>in</strong>mal ist festzustellen, daß im ökonomischen Liberalismus<strong>der</strong> abstrakte, d.h. <strong>der</strong> kalkulierbare Nutzen zum alles entscheidenden Maßstab erhoben wird,<strong>der</strong> sich im bürgerlichen Eigennutz, im +volonté particulier* des politisch bestimmend gewordenenBourgeois jedoch ganz handfest manifestiert. Wichtiger Ausgangspunkt für diese besitz<strong>in</strong>dividualistischeVerengung ist die utilitaristische Philosophie Jeremy Benthams (1748–1832),<strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>er Formel +the greatest happ<strong>in</strong>ess of the greatest number* das (übergroße) Glück<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fach mit dem Leid <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en verrechnete.124Auf die Fragwürdigkeit dieserSichtweise hat <strong>in</strong> neuerer Zeit <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e John Rawls im Rahmen se<strong>in</strong>er +Theorie <strong>der</strong> Gerechtigkeit*h<strong>in</strong>gewiesen (vgl. dort Kap. 5) – aber auch Mill hatte bereits das utilitaristische Pr<strong>in</strong>zipdah<strong>in</strong>gehend ergänzt, daß er klarstellte, daß nicht die re<strong>in</strong> quantitative und <strong>in</strong>dividuelle NutzenmaximierungMaßstab des Glücks se<strong>in</strong> könne, son<strong>der</strong>n auch qualitative Aspekte sowie dasallgeme<strong>in</strong>e gesellschaftliche Wohl e<strong>in</strong>e Rolle spielen (vgl. Utilitarism; S. 11).Solche Überlegungen liegen freilich dem ökonomischen Liberalismus eher fern, <strong>der</strong> geradedadurch aber auch e<strong>in</strong>e politische Aussage trifft. Als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wichtigsten Denker des ökonomischenLiberalismus und Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> klassischen Nationalökonomie kann Adam Smith125(1723–90) gelten (siehe auch S. XXIII). Dieser war <strong>der</strong> Ansicht, daß das gesellschaftlicheWohl sich aus dem freien Spiel <strong>der</strong> Kräfte geradezu zwangsläufig ergeben würde:+Wenn […] je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne soviel wie nur möglich danach trachtet, se<strong>in</strong> Kapital […] e<strong>in</strong>zusetzen […],dann bemüht sich auch je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne ganz zwangsläufig darum, daß das Volkse<strong>in</strong>kommen […] sogroß wie möglich werden kann […] Und er wird <strong>in</strong> diesem wie auch <strong>in</strong> vielen an<strong>der</strong>en Fällen vone<strong>in</strong>er unsichtbaren Hand geleitet, um e<strong>in</strong>en Zweck zu för<strong>der</strong>n, den zu erfüllen er <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weisebeabsichtigt hat.* (Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen; S. 371)Trotz dieser naiven Sicht muß man zugestehen, daß Smith, <strong>in</strong>dem er die Grundlage des nationalenWohlstands <strong>in</strong> <strong>der</strong> menschlichen Arbeit sah (vgl. ebd. S. 3), die re<strong>in</strong> +monetaristische*Wirtschaftstheorie des Merkantilismus überwunden hat.126Zudem betont er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er +Theoryof Moral Sentiments* die Wichtigkeit des empathischen sich H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzens die Lage desan<strong>der</strong>en, stellt also dem <strong>in</strong>dividualistischen Konkurrenzdenken auch e<strong>in</strong> solidarisches Pr<strong>in</strong>zipentgegen. Nachfolgende bürgerliche Ökonomen wie David Ricardo (1772–1823) konzentriertensich an<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> Moralphilosoph Smith allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>zig auf die Sphäre <strong>der</strong> Wirtschaft. 127Der <strong>Politik</strong> kommt im Rahmen dieses Denkens alle<strong>in</strong>e die Rolle zu, günstige Rahmenbed<strong>in</strong>gungenfür die Ökonomie zu schaffen. E<strong>in</strong>e staatliche E<strong>in</strong>mischung bzw. Steuerung (wie sie später


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 47John Maynard Keynes for<strong>der</strong>te),128ersche<strong>in</strong>t kontraproduktiv. Die Bereiche Ökonomie und<strong>Politik</strong> werden als streng getrennt vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gedacht. Doch das h<strong>in</strong><strong>der</strong>te neoliberale Denkernicht, die ökonomische Konkurrenzlogik auf die <strong>Politik</strong> zu übertragen. So geht z.B. JosephSchumpeter von e<strong>in</strong>em Marktmodell <strong>der</strong> Demokratie aus, das durch die Konkurrenz umWählerstimmen e<strong>in</strong> optimales politisches Funktionieren sicherstellen soll (siehe unten).1.4 DAS POLITISCHE CREDO DES +MODERNEN* NATIONALSTAATSDas politische Credo des +mo<strong>der</strong>nen* Nationalstaats entspr<strong>in</strong>gt zum großen Teil liberalemDenken.129Das Konzept des Nationalstaats selbst verkörpert gewissermaßen sogar die materialeVerknüpfungsstelle zwischen politischem und ökonomischem Liberalismus. Denn <strong>der</strong> Nationalstaatwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit das Instrument, mit dem das Bürgertum se<strong>in</strong>e ökonomischpolitischenInteressen durchsetzte. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige Sichtweise wi<strong>der</strong>spricht natürlich <strong>der</strong> gängigennationalistischen Ideologie, die behauptet, Nationen hätten e<strong>in</strong>e gleichsam +natürliche* Basis– sei es nun <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er sprachlich-kulturellen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er ethnischen Identität ihrer Zugehörigen.Die Schriften von Her<strong>der</strong>, Fichte und Mazz<strong>in</strong>i bieten für diese nationalistische Fiktionreiches Anschauungsmaterial.130Allerd<strong>in</strong>gs wurden <strong>der</strong>en Argumente auch von bürgerlicherSeite bereits im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t – so z.B. durch Ernest Renan –131<strong>in</strong> Frage gestellt. In <strong>der</strong>aktuellen Literatur wird schließlich nahezu e<strong>in</strong>hellig <strong>der</strong> Konstruktcharakter des Nationalenherausgestellt, und mit Ernest Gellner läßt sich sagen: +Es ist <strong>der</strong> Nationalismus, <strong>der</strong> die Nationenhervorbr<strong>in</strong>gt, und nicht umgekehrt.* (Nationalismus und Mo<strong>der</strong>ne; S. 87)Der Nationalismus wie<strong>der</strong>um ist e<strong>in</strong> unzweifelhaft mo<strong>der</strong>nes Phänomen, und für Gellnerstehen die nationalistischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts im klaren Zusammenhangmit <strong>der</strong> Transformation <strong>der</strong> feudalen Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft.132Im Zugedes ausgelösten sozio-ökonomischen Wandels wurde e<strong>in</strong>e politische Neuorientierung möglich,die e<strong>in</strong>erseits den sprachlich-kulturellen Grenzen Rechnung trug und – durch die behauptetenationale Geme<strong>in</strong>schaft – gleichzeitig soziale Entropie verh<strong>in</strong><strong>der</strong>te.Ganz ähnlich argumentiert Eric Hobsbawm: Er geht davon aus, daß im Rahmen des nationalistischenProjekts auf vor- bzw. protonationalen B<strong>in</strong>dungen aufgebaut werden konnte, wie siedurch Religion o<strong>der</strong> Sprache <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat bereitgestellt wurden.133Entscheidend ist jedoch,daß man diese benutzte, um e<strong>in</strong> nicht vorhandenes nationales Bewußtse<strong>in</strong> erst zu schaffen,


48 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdas dann als legitimatorische Grundlage <strong>der</strong> Aufrechterhaltung bzw. Etablierung politischerHerrschaft (durch alte und neue Eliten) dienen konnte. Dabei spielten ökonomische Interessennatürlich e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, die immer mehr im nationalen Kontext verfolgt wurden:+So o<strong>der</strong> so bedeutete ›Nation‹ e<strong>in</strong>e Wirtschaft <strong>in</strong>nerhalb nationaler Grenzen und <strong>der</strong>en systematischeFör<strong>der</strong>ung durch den Staat, und das hieß im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t nichts an<strong>der</strong>es als Protektionismus.*(Nationen und Nationalismus; S. 41)Obwohl hier deutliche Kritik durchkl<strong>in</strong>gt, sieht Hobsbawm den Nationalismus des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<strong>in</strong>sgesamt eher positiv, da dieser letztendlich für Demokratisierung und Befreiungstand. E<strong>in</strong> zukunftsweisendes Modell will er allerd<strong>in</strong>gs im Nationalismus nicht mehr erkennen– trotz <strong>der</strong> gegenwärtig feststellbaren Tendenz e<strong>in</strong>er Wie<strong>der</strong>belebung des nationalistischenPr<strong>in</strong>zips. Denn als bloßer Ethnonationalismus, dem e<strong>in</strong>seitigen Rekurs auf ethnische Zugehörigkeitenund traditionelle Religion, hat <strong>der</strong> Nationalismus des ausgehenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts se<strong>in</strong>eemanzipatorische Komponente, die er auch als antikolonialer Entwicklungsnationalismus imRahmen des Dekolonisierungsprozesses noch besessen hatte, vollständig e<strong>in</strong>gebüßt. 134Egal aber ob <strong>der</strong> aktuelle Ethnonationalismus und die Tendenz zur For<strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>es +eigenen*Nationalstaats auch von kle<strong>in</strong>sten (ethnischen) Splittergruppen e<strong>in</strong>em nun als historisch forto<strong>der</strong>rückschrittlich ersche<strong>in</strong>t – <strong>der</strong> Nationalstaat ist <strong>der</strong>zeit (noch) die bestimmende politischeGröße des Weltsystems, was sich <strong>in</strong> Welt-Organisationen wie den +Vere<strong>in</strong>ten Nationen* nurallzu deutlich zeigt.135+Die Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Nation* (An<strong>der</strong>son), die mit großer +Kreativität* im19. Jahrhun<strong>der</strong>t vorangetrieben wurde, hat also unleugbar historische und soziale Tatsachengeschaffen: Wir leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt <strong>der</strong> Nationen und die Welt <strong>der</strong> Nationen lebt <strong>in</strong> uns.Die nur +vorgestellten (nationalen) Geme<strong>in</strong>schaften*136s<strong>in</strong>d zur Realität geworden und erschufene<strong>in</strong> +stahlhartes Gehäuse <strong>der</strong> Zugehörigkeit* (Nassehi).Schon für Max Weber war <strong>Politik</strong> deshalb nur mehr im (national)staatlichen Rahmen denkbar,und er def<strong>in</strong>iert diese als +die Leitung e<strong>in</strong>es politischen Verbandes, heute also: e<strong>in</strong>es Staates*(<strong>Politik</strong> als Beruf; S. 5). Da er den Staat aber als +Herrschaftsverhältnis von Menschen überMenschen* betrachtet (ebd.; S. 7f.), gehört für ihn zur <strong>Politik</strong> damit auch das +Streben nachMachtanteil o<strong>der</strong> Bee<strong>in</strong>flussung <strong>der</strong> Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es <strong>in</strong>nerhalbe<strong>in</strong>es Staates zwischen Menschengruppen, die er umschließt* (ebd.; S. 7).137Weber liefertedamit e<strong>in</strong>e +realistische*, den historischen Verhältnissen entsprechende und vielfach aufgegriffene


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 49Def<strong>in</strong>ition. Gleichzeitig betonte er jedoch die Notwendigkeit e<strong>in</strong>es verantwortungsethischenHandelns <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er. 138E<strong>in</strong>e ähnliche Verb<strong>in</strong>dung zwischen Verantwortungsethik und e<strong>in</strong>em auf Pluralismus und <strong>der</strong>Konkurrenz <strong>der</strong> politischen Eliten aufgebauten <strong>Politik</strong>verständnis f<strong>in</strong>det sich bei Ralph Dahrendorf.In den 60er Jahren hat er <strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit den damals im Vergleich zu an<strong>der</strong>enwestlichen Demokratien defizitären politischen Verhältnissen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik vier Grundbed<strong>in</strong>gungenliberaler Demokratie aufgelistet, die man als treffende Ausflüsse des aktuellen Selbstverständnisses<strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft bzw. des bürgerlichen Verfassungsstaates betrachtenkann:• Erstens betont Dahrendorf (unter Berufung auf Marshall) die Notwendigkeit <strong>der</strong> Gewährleistungvon staatsbürgerlicher Gleichheit auf <strong>der</strong> Grundlage bürgerlicher, politischer undsozialer Grundrechte, da nur so die Möglichkeit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Teilhabe (Partizipation)am gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben gewährleistet ist (vgl. Gesellschaftund Demokratie <strong>in</strong> Deutschland; S. 40 u. 79–82).• Zum Zweiten soll e<strong>in</strong>e ver<strong>in</strong>nerlichte Konfliktkultur und e<strong>in</strong> geeignetes <strong>in</strong>stitutionelles Systemfür e<strong>in</strong>e rationale Konfliktaustragung sorgen, da so gesellschaftlicher Wandel ermöglichtwird, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Fortschritt mündet (vgl. ebd.; S. 41, 171–175 u. 207).• Drittens muß die Vielfalt <strong>der</strong> gesellschaftlichen Interessen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Konkurrenz <strong>der</strong> Elitengespiegelt werden (vgl. ebd.; S. 41).• Und schließlich sollen die e<strong>in</strong>zelnen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft nicht ausschließlich anihren privaten Interessen, son<strong>der</strong>n auch am Geme<strong>in</strong>wohl, an sog. +öffentlichen Tugenden*,orientiert se<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 41 u. S. 327ff.).Wolfgang Zapf hat auf diesen Vorstellungen Dahrendorfs aufgebaut und nennt Konkurrenzdemokratie,Marktwirtschaft, Massenkonsum und Wohlfahrtsstaat als die wesentlichen Grund<strong>in</strong>stitutionenmo<strong>der</strong>ner Gesellschaften (vgl. Entwicklung und Sozialstruktur mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften;S. 185f. und siehe auch S. XXXIX). Er verb<strong>in</strong>det damit das Modell <strong>der</strong> (sozialen)Marktwirtschaft mit dem +Wettbewerbsmodell* <strong>der</strong> Demokratie Joseph Schumpeters.Schumpeter, auf den bereits im vorangegangenen Abschnitt kurz Bezug genommen wurde,verkörpert wie kaum e<strong>in</strong> Zweiter den politischen +Geist* e<strong>in</strong>es re<strong>in</strong> repräsentativen Demokratieverständnisses,wie es <strong>der</strong>zeit – nach dem Zusammenbruch <strong>der</strong> sozialistischen Staatenwelt


50 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE– nicht nur <strong>in</strong> westlichen Demokratien dom<strong>in</strong>iert. Die zentrale Schwäche des auf Rousseauzurückgehenden klassischen Modells (siehe S. 28) besteht für ihn dar<strong>in</strong>, daß <strong>der</strong> Wählerschaftdort direkt die Macht des politischen Entscheidens zukommt und die Wahl <strong>der</strong> Repräsentantendiesem +Hauptzweck* nachgeordnet ist. Schumpeter glaubt alle angeblichen Probleme desklassischen Modells lösen zu können, <strong>in</strong>dem er das Verhältnis umkehrt:+O<strong>der</strong> um es an<strong>der</strong>s auszudrücken: wir nehmen nun den Standpunkt e<strong>in</strong>, daß die Rolle des Volkesdar<strong>in</strong> besteht, e<strong>in</strong>e Regierung hervorzubr<strong>in</strong>gen o<strong>der</strong> sonst e<strong>in</strong>e dazwischenliegende Körperschaft, dieihrerseits e<strong>in</strong>e nationale Exekutive o<strong>der</strong> Regierung hervorbr<strong>in</strong>gt.* (S. 427)Deshalb formuliert er:+[…] die demokratische Methode ist diejenige Ordnung <strong>der</strong> Institutionen zur Erreichung politischerEntscheide, bei welcher e<strong>in</strong>zelne die Entscheidungsbefugnis vermittels e<strong>in</strong>es Konkurrenzkampfs umdie Stimmen des Volkes erwerben.* (S. 428)Die Vorteile dieser Demokratiedef<strong>in</strong>ition liegen für Schumpeter zum e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> ihrer praktischenTauglichkeit, e<strong>in</strong> exaktes Kriterium zur Unterscheidung zwischen demokratischen und nichtdemokratischen(d.h. für ihn: sozialistischen) Systemen bereitzustellen. Daneben bietet sie+allen wünschbaren Raum für e<strong>in</strong>e angemessene Anerkennung <strong>der</strong> lebenswichtigen Tatsache<strong>der</strong> Führung* (ebd.; S. 429), sichert aber gleichzeitig e<strong>in</strong> ausreichendes e<strong>in</strong> Maß an Freiheit.Nur: Das Volk spielt im Rahmen dieses auf e<strong>in</strong>e bloße Methode reduzierten Demokratieverständnisseske<strong>in</strong>e Rolle mehr im politischen Prozeß, denn +Wähler entscheiden ke<strong>in</strong>e politischenStreitfragen* (ebd.; S. 449). Das ist sicher e<strong>in</strong>e +extreme* Aussage, und kaum e<strong>in</strong> heutigere<strong>Politik</strong>er würde wohl wagen, sie sich (öffentlich) zu eigen zu machen.139Aber sie liegt konsequent<strong>in</strong> <strong>der</strong> (durchaus h<strong>in</strong>terfragbaren) Logik des Gedankens politischer Repräsentation <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nenMassendemokratien. Die Sphäre <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wird damit nicht nur als getrennt von Gesellschaftim allgeme<strong>in</strong>en betrachtet, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e zweite, ebenso folgenreiche Dimension <strong>der</strong> Trennungkommt h<strong>in</strong>zu: Die Trennung zwischen Akteur und Publikum, die Ausdifferenzierung von spezifischenLeistungs- und Publikumsrollen (vgl. hierzu Luhmann: Soziologie des politischen Systems;S. 163ff. sowie problematisierend Habermas: Faktizität und Geltung; S. 440ff.).Die spezifische Leistungsrolle <strong>der</strong> politischen (Teil-)Elite besteht gemäß dem vorherrschendenVerständnis dar<strong>in</strong>, allgeme<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>dliche Entscheidungen zu treffen beziehungsweise herbei-


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 51zuführen und damit e<strong>in</strong>e für das Geme<strong>in</strong>wesen wichtige Steuerungs- und Selektionsfunktionzu übernehmen – o<strong>der</strong> wie Parsons bezüglich <strong>der</strong> gesellschaftlichen Funktion des politischenSubsystems bemerkt:+The ›product‹ of the polity as a system is power, which I would like to def<strong>in</strong>e as the generalized capacityof a social system to get th<strong>in</strong>gs done <strong>in</strong> the <strong>in</strong>terest of collective goals.* (Structure and Process <strong>in</strong> Mo<strong>der</strong>nSocieties; S. 181)Auch bei Parsons, dessen Systemtheorie die Trennung von <strong>Politik</strong> und ihrem gesellschaftlichenRahmen theoretisch spiegelt, wird das Politische also – wenn er (ganz explizit) von Machtals Produkt des politischen Subsystems spricht – <strong>in</strong> Anlehnung an die Term<strong>in</strong>ologie und Logikdes Ökonomischen (Subsystems) beschrieben.140Diese reduktionistische Übertragung öko-nomischer Zweckrationalität auf die <strong>Politik</strong> sche<strong>in</strong>t tatsächlich jedoch vor allem e<strong>in</strong>es zu produzieren:Unzufriedenheit. Das Phänomen <strong>der</strong> sog. +neuen sozialen Bewegungen* (Bürger<strong>in</strong>itiativen,Friedensbewegung, ökologische Bewegung etc.) und die zunehmende Bedeutung<strong>der</strong> NGOs (<strong>der</strong> +non-govermental*, also nicht-staatlichen, darüber h<strong>in</strong>aus aber eben auchzumeist nicht-kommerziell orientierten politischen Organisationen) <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen <strong>Politik</strong>,vermag dies zu belegen. Der Horizont e<strong>in</strong>es +postmo<strong>der</strong>nen* <strong>Politik</strong>verständnisses (siehe unten)muß deshalb den engen Rahmen des (National-)Staatlichen wie des liberalen Marktmodells<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> sprengen, um zu e<strong>in</strong>er politischen Neubestimmung zu gelangen.1.5 HORIZONT EINES +POSTMODERNEN* VERSTÄNDNISSES VON POLITIKDie +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*, auf <strong>der</strong>en unterschiedliche Konzeptionalisierungen sowie begrifflicheProblematik <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung ausführlich e<strong>in</strong>gegangen wurde und die me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nacham treffendsten als radikalisierte, wi<strong>der</strong>sprüchlich gewordene Mo<strong>der</strong>ne charakterisiert werdenkann, hat e<strong>in</strong> auf verschiedenen Ebenen verän<strong>der</strong>tes Verständnis von <strong>Politik</strong> hervorgebracht.Dieses reflektiert stattgefundene strukturelle Transformationen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft,wird aber auch selbst zum Motor des Wandels. Sollen deshalb, wie hier beabsichtigt, dieaktuellen Ant<strong>in</strong>omien und Probleme <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> als <strong>in</strong>stitutionellem (Teil-)System <strong>der</strong> Gesellschaft(besser) verstanden werden, muß jenem verän<strong>der</strong>ten politischen Bewußtse<strong>in</strong> Rechnung getragenwerden.


52 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEIn <strong>der</strong> Überschrift zu diesem Abschnitt ist nun vielleicht etwas hochtrabend vom +Horizont*e<strong>in</strong>es postmo<strong>der</strong>nen Verständnisses von <strong>Politik</strong> die Rede. Wodurch wird dieser Horizontumrissen? – Dazu läßt sich zunächst feststellen: Wer über die Mo<strong>der</strong>ne h<strong>in</strong>aus gehen will,muß ihren (verschlungenen, gewundenen, vielfach verzweigten) Weg nachgeschritten haben.Auch wenn die hier vorgenommene Epochene<strong>in</strong>teilung tatsächlich eher willkürlich und demsublimen Drang nach Grenzziehungen und Unterscheidungen geschuldet ist, es nicht e<strong>in</strong>mal<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Neuzeit e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitliches Verständnis des Politischen gibt; und auch wenn eseigentlich also uns<strong>in</strong>nig ist, vom <strong>Politik</strong>begriff <strong>der</strong> Antike, des Mittelalters o<strong>der</strong> des Sozialismuszu sprechen – genau aus dem oben genannten Grund war es ke<strong>in</strong>e vergebliche Mühe, dieGeschichte des <strong>Politik</strong>begriffs nachzuerzählen.Gewiß, Nebenströmungen wurden elim<strong>in</strong>iert, Kont<strong>in</strong>uitäten und Brüche wurden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Retrospektivedieser Darstellung konstruiert. Aber es hat sich aus dem historischen Flickenteppichdes theoretischen Diskurses genau jenes Bild ergeben, das sich <strong>in</strong> unseren Köpfen festgesetzthat und uns selbst (o<strong>der</strong> vielmehr gerade) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Negation als Folie des Neuentwurfs dient.Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als Gegen- und Fortbewegung <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne kann alle<strong>in</strong>e deshalbniemals <strong>Post</strong>histoire se<strong>in</strong> und ihr geschichtliches Gewordense<strong>in</strong> überw<strong>in</strong>den, son<strong>der</strong>n sie betreibtvielmehr (bewußt) e<strong>in</strong>e eklektische ›tabula rasa‹. Dies gilt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für den postmo<strong>der</strong>nenTheoretiker par excellence: Jean-François Lyotard (siehe auch S. XLIXf.).Lyotard hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em philosophischen Hauptwerk +Der Wi<strong>der</strong>streit* (1983) e<strong>in</strong>e postmo<strong>der</strong>ne+Theorie <strong>der</strong> Gerechtigkeit* entworfen, die <strong>in</strong> diversen +Exkursen* immer wie<strong>der</strong> auf diepolitischen Denker <strong>der</strong> Vergangenheit – auf Platon und Aristoteles, auf Kant und Hegel etc.– Bezug nimmt. Der von Lyotard gewählte Titel kann dabei durchaus als programmatischverstanden werden. An<strong>der</strong>s als etwa <strong>der</strong> deutsche Philosoph und Sozialwissenschaftler JürgenHabermas, <strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>er +Theorie des kommunikativen Handelns* (1981) und se<strong>in</strong>er im Anschlußan diese entwickelten +Diskursethik*141die Möglichkeiten e<strong>in</strong>es sozialen Konsenses er- undbegründet (siehe auch S. XL), for<strong>der</strong>t Lyotard e<strong>in</strong>e Kultivierung des Dissens.142Dieser ist nämlich<strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache (als für ihn zentralem Medium des Sozialen) grundsätzlich unüberbrückbarund beruht auf <strong>der</strong> +Willkürlichkeit* des Sprechakts sowie <strong>der</strong> Pluralität <strong>der</strong> Diskursarten:Die Kont<strong>in</strong>genz <strong>der</strong> sprachlichen Artikulation erzeugt zwangsläufig +Ungerechtigkeit*, denn<strong>in</strong>dem man sich z.B. auf e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> vielen denkbaren Möglichkeit zur Weiterführung e<strong>in</strong>esSatzes festlegen muß, werden Alternativen (auch wenn man versucht, dem Dilemma durch


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 53Schweigen zu entgehen) elim<strong>in</strong>iert (vgl. Der Wi<strong>der</strong>streit; S. 58 [Nr. 40]). Zudem stehen dieDiskursarten nicht gleichberechtigt nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, was im Fall von Interessengegensätzenzu dem führt, was Lyotard eben den +Wi<strong>der</strong>streit* (le différend) nennt:+Zwischen zwei Parteien entsp<strong>in</strong>nt sich e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>streit, wenn sich die ›Beilegung‹ des Konflikts, <strong>der</strong>sie mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> konfrontiert, im Idiom […] <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en vollzieht, während das Unrecht, das die an<strong>der</strong>eerleidet, <strong>in</strong> diesem Idiom nicht figuriert. So verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n [beispielsweise] die Verträge und Abkommenzwischen Wirtschaftspartnern nicht etwa, son<strong>der</strong>n setzen im Gegenteil voraus, daß <strong>der</strong> Arbeitnehmero<strong>der</strong> dessen Vertreter von se<strong>in</strong>er Arbeit als e<strong>in</strong>er zeitweiligen Abtretung e<strong>in</strong>er Ware, <strong>der</strong>en Eigentümerer ist, sprechen mußte o<strong>der</strong> wird sprechen müssen. Diese ›Abstraktion‹, wie Marx sie nennt […], wirdvon dem Idiom gefor<strong>der</strong>t, <strong>in</strong> dem <strong>der</strong> Rechtsstreit beigelegt wird (dem ›bürgerlichen‹ WirtschaftsundSozialrecht). Wenn er [<strong>der</strong> Arbeiter] sich dessen nicht bedient, kann er <strong>in</strong>nerhalb des Geltungsbereichsdieses Idioms nicht bestehen und ist e<strong>in</strong> Sklave. Indem er es gebraucht, wird er zum Kläger. Hörter deshalb auf, Opfer zu se<strong>in</strong>?* (Ebd.; S. 27 [Nr. 12])Lyotard verne<strong>in</strong>t diese Frage:+Während er zum Kläger wird, bleibt er Opfer. Besitzt er [aber] die Mittel nachzuweisen, daß er Opferist? Ne<strong>in</strong> […] Das Wirtschafts- und Sozialrecht kann zwar den Rechtsstreit zwischen den Wirtschaftspartnernschlichten, nicht aber den Wi<strong>der</strong>streit zwischen Arbeit und Kapital […] Der Klägerwird angehört, das Opfer aber – und vielleicht s<strong>in</strong>d sie identisch – wird zum Schweigen gebracht.*(Ebd.; S. 28 [Nr. 13])Die Konsequenz, die Lyotard aus dieser Erkenntnis zieht, ist e<strong>in</strong>e Konzeption <strong>der</strong> Gerechtigkeit,die auf <strong>der</strong> Anerkennung <strong>der</strong> Pluralität <strong>der</strong> Diskursarten beruht. Ansonsten droht <strong>der</strong> +Terror*e<strong>in</strong>es Metadiskurses, wie z.B. im jakob<strong>in</strong>ischen System Robbespieres (vgl. ebd.; S. 176f. [Nr.143159]). Das wirft allerd<strong>in</strong>gs ethische Probleme auf: Auch nach Lyotard bergen die verschiedenenDiskursarten zwar immanente Zwecke <strong>in</strong> sich, die die Individuen auf diese Zwecke verpflichten,<strong>in</strong>dem sie sich auf den Diskurs e<strong>in</strong>lassen, können gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> aber ke<strong>in</strong>e solche Verpflichtungbegründen, so daß allgeme<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dliche ethische Pr<strong>in</strong>zipien ausgeschlossen s<strong>in</strong>d. Die Inkommensurabilität<strong>der</strong> +Sprachspiele* führt so <strong>in</strong> e<strong>in</strong> ethisches Dilemma, das nur durch die Anerkennung<strong>der</strong> Heterogenität, durch das +Besagen* des Wi<strong>der</strong>streits gelöst werden kann. (Vgl. ebd.; S.198–230 [Nr. 175–189])Nun for<strong>der</strong>t zwar auch Habermas im Rahmen se<strong>in</strong>er Diskursethik e<strong>in</strong>e gegenseitige Anerkennung<strong>der</strong> Geltungsansprüche, doch sieht dieser eben dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Ansatz zur <strong>in</strong>tersubjektiven Ver-


54 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEständigung und damit zum (vernünftigen) Konsens. Gegen e<strong>in</strong>e solche Auffassung hat Lyotardallerd<strong>in</strong>gs bereits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Das postmo<strong>der</strong>ne Wissen* (1979) e<strong>in</strong>en gewichtigen +praktischen*E<strong>in</strong>wand geltend gemacht:+Der Konsens ist e<strong>in</strong> veralteter und suspekter Wert geworden, nicht aber die Gerechtigkeit. Man mußdaher zu e<strong>in</strong>er Idee […] <strong>der</strong> Gerechtigkeit gelangen, die nicht an jene des Konsens gebunden ist.*(S. 190)Im se<strong>in</strong>em philosophischen Hauptwerk +Der Wi<strong>der</strong>streit* hat Lyotard versucht, e<strong>in</strong> <strong>Politik</strong>-Konzeptauf dieser Basis zu entwickeln, und greift damit die Ausgangsfrage <strong>der</strong> klassischen, <strong>der</strong> antikenpolitischen Theorie wie<strong>der</strong> auf (siehe Abschnitt 1.1). Legitimation von Herrschaft, <strong>der</strong> sichdie politischen Philosophen <strong>der</strong> Neuzeit primär widmeten (siehe Abschnitt 1.2), ersche<strong>in</strong>tihm als Aufgabe und Ziel politischer Philosophie nicht nur fragwürdig, son<strong>der</strong>n zum Scheiternverdammt: 144+Die Autorität läßt sich nicht ableiten. Die Versuche zur Legitimation <strong>der</strong> Autorität führen <strong>in</strong> denTeufelskreis (ich habe die Macht über dich, weil du mich dazu autorisierst) […]* (S. 237 [Nr. 203])Was aber, wenn nicht Macht, macht nach Lyotard dann den Kern des Politischen aus? –Zunächst e<strong>in</strong>mal stellt er fest, daß <strong>Politik</strong> nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e spezielle o<strong>der</strong> gar den an<strong>der</strong>enübergeordnete Diskursart ist:+Wenn die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>e Diskursart wäre und den Anspruch auf diesen höchsten Status erhöbe, wäreihre Nichtigkeit schnell aufgezeigt. Aber die <strong>Politik</strong> ist die Drohung des Wi<strong>der</strong>streits. Sie ist ke<strong>in</strong>eDiskursart, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>en Vielfalt, die Mannigfaltigkeit <strong>der</strong> Zwecke und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Frage nach<strong>der</strong> Verkettung.* (Ebd.; S. 230 [Nr. 190])Zu e<strong>in</strong>em politischen Bewußtse<strong>in</strong> gelangt man deshalb, +<strong>in</strong>dem man zeigt, daß die Verkettungvon Sätzen problematisch und eben dieses Problem die <strong>Politik</strong> ist* (ebd.; S. 12). Wenn <strong>Politik</strong>aber alle<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> Problem <strong>der</strong> Sprache, genauer: e<strong>in</strong> Problem <strong>der</strong> Verkettung von Sätzen ist,so ist diese (wie<strong>der</strong>um sprachliche) Bestimmung selbst hoch problematisch. Es erfolgt dadurchnämlich e<strong>in</strong>e Elim<strong>in</strong>ierung des Handlungsaspekts von <strong>Politik</strong>, dem von <strong>der</strong> Antike bis zu Marxund Weber stets größte Bedeutung zugemessen wurde. <strong>Politik</strong> war danach nämlich immervor allem e<strong>in</strong>es: die aktive Gestaltung <strong>der</strong> sozial-politischen Ordnung. Will man diesen Anspruch


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 55nicht aufgeben, so muß allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e neue politische Handlungse<strong>in</strong>heit gefunden werden,wie Etzioni (siehe auch S. LXXV) schon 1968 treffend feststellte:+Genau wie <strong>der</strong> Übergang vom Mittelalter zur Mo<strong>der</strong>ne den Feudalherrn als Aktor zugunsten desNationalstaats ablöste, erfor<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Übergang zum postmo<strong>der</strong>nen Zeitalter die Entwicklung e<strong>in</strong>erneuen Handlungse<strong>in</strong>heit.* (Die aktive Gesellschaft; S. 35)Ersche<strong>in</strong>ungen wie zunehmende Globalisierung und Individualisierung stellen schließlich dieklassischen politischen Institutionen immer mehr <strong>in</strong> Frage. Als Reaktion auf die auch bereitsvon Etzioni <strong>in</strong> ihren Ansätzen gesehenen Transformationsprozesse <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft,empfiehlt dieser e<strong>in</strong>en dynamischen Gesellschaftsvertrag, <strong>der</strong> sich den Wandlungen des Sozialenanzupassen vermag (vgl. ebd.; S. 38f.). Das von ihm im obigen Zitat formulierte Problemist damit jedoch nicht gelöst. Denn die neuen Handlungse<strong>in</strong>heiten <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> lassen sichwohl kaum vertraglich def<strong>in</strong>ieren, und man wird zugleich e<strong>in</strong> erweitertes, entgrenztes <strong>Politik</strong>verständniszugrunde legen müssen, um den verän<strong>der</strong>ten Verhältnissen gerecht zu werden.In <strong>der</strong> aktuellen wissenschaftlichen Diskussion s<strong>in</strong>d <strong>der</strong>zeit vor allem zwei <strong>in</strong>teressante theoretischeEntwürfe, die hier (auch mit neuen <strong>Politik</strong>-Begriffen) ansetzen: Es handelt sich um UlrichBecks Konzept <strong>der</strong> +Subpolitik* und die von Anthony Giddens vorgeschlagene Unterscheidungzwischen emanzipatorischer <strong>Politik</strong> und dem, was er +life politics* nennt.In se<strong>in</strong>em Buch +Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen* (1993) legt Beck noch e<strong>in</strong>mal ausführlichdar, was er schon 1986 <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* skizziert hatte: Ähnlich wie Schmitt (sieheS. 37), weist er hier darauf h<strong>in</strong>, daß die Gleichsetzung des Politischen mit dem Staatlichenunzulänglich ist – kommt aber freilich zu e<strong>in</strong>er ganz an<strong>der</strong>en, geradezu entgegengesetztenBestimmung. <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft vollzieht sich nicht als antagonistischerKampf zwischen klar def<strong>in</strong>ierten Freund-Fe<strong>in</strong>d-Formationen, sprengt das klassische Rechts-L<strong>in</strong>ks-Schema und manifestiert sich vielmehr als (eher diffuses) alltagspraktisches Engagement vonIndividuen und <strong>in</strong>formellen Gruppen, welche auf die <strong>in</strong> ihrer Wahrnehmung bedrohlichenFolgen <strong>der</strong> ungebremsten Mo<strong>der</strong>nisierung mit vielschichtigen neuen Formen <strong>der</strong> Solidarität(o<strong>der</strong> auch Gewalt) reagieren (vgl. Risikogesellschaft; S. 317ff. sowie Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen;S. 155ff.). Während auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Institutionen e<strong>in</strong>e allseitige Lähmung herrscht, wan<strong>der</strong>t<strong>Politik</strong> – d.h. <strong>der</strong> Wille das eigene und soziale Leben aktiv zu gestalten – aus dem Bereichdes politischen (Sub-)Systems <strong>in</strong> die Subpolitik ab, die unterhalb <strong>der</strong> formellen Strukturen


56 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE(mit Habermas könnte man formulieren: im subversiven Untergrund <strong>der</strong> +Lebenswelt*) 145angesiedelt ist. Es kommt so zu e<strong>in</strong>er (Neu-)Erf<strong>in</strong>dung des Politischen:+Was im alten <strong>Politik</strong>verständnis als ›Konsensverlust‹, [als] ›unpolitischer Rückzug <strong>in</strong>s Private‹ […] ersche<strong>in</strong>t,kann […] das R<strong>in</strong>gen um e<strong>in</strong>e neue Dimension des Politischen se<strong>in</strong>.* (Ebd.; S. 159)Diese untergräbt die Fundamente des politischen Gebäudes, zielt auf Regelverän<strong>der</strong>ung ab(vgl. ebd.; S. 207). Deshalb läuft Subpolitik +zunächst auf e<strong>in</strong>e Erschwerung, Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungalter [d.h. regelanwenden<strong>der</strong>] <strong>Politik</strong> h<strong>in</strong>aus* (ebd.; S. 170). Sie öffnet aber gleichzeitig dasPotential e<strong>in</strong>er +<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>*, schafft kreative Spielräume und zw<strong>in</strong>gt mitunter auchdie etablierten Kräfte an den +Runden Tisch*, um neue politische Spielregeln auszuhandeln(vgl. ebd.; S. 189ff.). Subpolitisierung verkörpert also, wie man <strong>in</strong> Anlehnung an Foster formulierenkönnte (siehe S. LXIIf.), die oppositionelle Seite <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Selbst wo Subpolitikaber eigentlich unpolitisch bleibt, nämlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Intimsphäre des eigenenLebens, hat sie e<strong>in</strong>e politische Dimension. Denn das Private wirkt (durch die globalen Folgen<strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Lebensstile) auf das öffentliche Leben zurück, wird politisch.In diesem Zusammenhang geht Beck auch auf Anthony Giddens e<strong>in</strong>, <strong>der</strong> 1991 <strong>in</strong> dem Band+Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity* ebenfalls das Auftauchen e<strong>in</strong>er neuen <strong>Politik</strong>-Form, <strong>der</strong> +life-politics*,konstatiert. Bevor er sich jedoch <strong>der</strong>en Charakteristika widmet, grenzt Giddens von ihr dieemanzipatorische <strong>Politik</strong> ab, wie sie das Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne seit <strong>der</strong> Aufklärung prägte:+I def<strong>in</strong>e emancipatory politics as a generic outlook concerned above all with liberat<strong>in</strong>g <strong>in</strong>dividualsand groups from constra<strong>in</strong>ts which adversely affect their life chances […] Emancipatory politics is[therefore] concerned to reduce or elim<strong>in</strong>ate exploitation, <strong>in</strong>equality and oppression.* (S. 210f.)Emanzipatorische <strong>Politik</strong> verfolgt also primär e<strong>in</strong> negatives Ziel, erstrebt +Freiheit von* denÜbeln <strong>der</strong> Ausbeutung, Ungleichheit und Unterdrückung. Die positive +Freiheit zu* wahrerSelbstverwirklichung und e<strong>in</strong>e +reflexive* Wie<strong>der</strong>entdeckung <strong>der</strong> politischen Moral bestimmendagegen die Agenda <strong>der</strong> life politics (vgl. ebd.; S. 223f.) – <strong>der</strong> neuen Ersche<strong>in</strong>ung e<strong>in</strong>er lebens-(weltlichen) <strong>Politik</strong>, wie sie z.B. von <strong>der</strong> Frauen- o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Studentenbewegung <strong>in</strong> die öffentlicheArena getragen wurde.146Denn paradoxerweise strebt gerade das +gepe<strong>in</strong>igte* und von +Entwur-zelung* (disembedd<strong>in</strong>g) bedrohte Selbst <strong>der</strong> reflexiv gewordenen Mo<strong>der</strong>ne über den Umwegdes Privaten zurück <strong>in</strong> den öffentlichen Raum (vgl. ebd.; S. 209), wobei es e<strong>in</strong>gebunden


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 57ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dynamisierende Dialektik zwischen dem <strong>in</strong>dividuellen Anspruch auf die Gestaltungdes eigenen Lebens und positiven wie negativen Globalisierungseffekten:+[…] life politics concerns political issues which flow from processes of self-actualisation <strong>in</strong> post-traditionalcontexts, where globalis<strong>in</strong>g <strong>in</strong>fluences <strong>in</strong>trude deeply <strong>in</strong>to the reflexive project of the self, and converselywhere processes of self-realisation <strong>in</strong>fluence global strategies.* (Ebd.; S. 214)Obwohl lebens(weltliche) <strong>Politik</strong> aber zum immer bedeuten<strong>der</strong>en Faktor wird, ersetzt sienicht e<strong>in</strong>fach emanzipatorische <strong>Politik</strong>, son<strong>der</strong>n ergänzt diese. Nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong>beiden wird es nämlich laut Giddens möglich se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>en neuen sozialen Konsens (den erfür notwendig hält) ohne das Mittel <strong>der</strong> Gewalt herbeizuführen (vgl. ebd.; S. 231). 147Was Beck wie Giddens also konstatieren, ist e<strong>in</strong> Doppeltes: Zum e<strong>in</strong>en entstehen mit <strong>der</strong>fortschreitenden, sich selbst <strong>in</strong> Frage stellenden (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>nisierung – durch die soausgelöste +Selbst*-Organisation <strong>der</strong> Individuen – neue Formen politischer Organisation, undes treten ebenso neue (un)politische, nicht alle<strong>in</strong>e auf Macht und Herrschaft fixierte Fragen<strong>in</strong> den Mittelpunkt des politischen Diskurses. Parallel erlangt mit <strong>der</strong> zunehmenden globalenVernetzung auch die +Banalität* des <strong>in</strong>dividuellen Alltags politischen Gehalt: Die Lebensweltwird politisch, sie +(re)kolonialisiert* über den Umweg ihrer Gefährdungs- und Protestpotentialedas politische System. <strong>Politik</strong> verb<strong>in</strong>det sich damit wie<strong>der</strong> mit ihrem gesellschaftlichen Rahmen,wird +entstaatlicht* und gew<strong>in</strong>nt (im <strong>in</strong>dividuellen Bewußtse<strong>in</strong>) auch e<strong>in</strong>e ethisch-moralischeDimension zurück.148Auf transformierter Ebene und unter gewandelten Voraussetzungenkommt es deshalb <strong>in</strong> <strong>der</strong> radikalisierten (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne zum +Recycl<strong>in</strong>g* e<strong>in</strong>es umfassenden,<strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen Sphäre verankerten <strong>Politik</strong>verständnisses, wie es – freilich <strong>in</strong> ganz an<strong>der</strong>erAusprägung – auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike das politische Denken prägte (siehe S. 7–12). Dieses (teilsexplizite, teils implizite) +Recycl<strong>in</strong>g* althergebrachter Modelle und Theorien ist gemäß Hellerund Fehér sogar e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Charakteristika <strong>der</strong> politischen +Verfassung* <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne –neben ihrer ansonsten primär dom<strong>in</strong>ierenden Gegenwartsorientierung, <strong>der</strong> Absage an dieHeilsversprechen des Utopismus und <strong>der</strong> Diskreditierung totalisieren<strong>der</strong> Weltdeutungen (vgl.The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Political Condition; S. 1–4). 149Doch Recycl<strong>in</strong>g ist eben nicht gleich Recycl<strong>in</strong>g – es f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> verschiedenen Formen statt.E<strong>in</strong>e relativ +ungebrochene* Revitalisierung antiker Konzepte kann man z.B. bei Hannah Arendt(1906–76) ausmachen. Arendt, <strong>der</strong>en Arbeiten <strong>der</strong> aktuellen Diskussion wichtige Impulse


58 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEgeben, stand sozusagen zwischen den Stühlen: Mit Benjam<strong>in</strong> stimmte sie übere<strong>in</strong>, +daß andie Stelle <strong>der</strong> Tradierbarkeit ihre Zitierbarkeit getreten* ist (Benjam<strong>in</strong>, Brecht; S. 49) – undentwickelte damit gewissermaßen e<strong>in</strong> +postmo<strong>der</strong>nes* Bewußtse<strong>in</strong>. Ihre Gegenwart war jedochebenso enthusiastisch mo<strong>der</strong>n, wie sie sich dieser Mo<strong>der</strong>nität verweigerte und Zuflucht beieher +altmodischen* Denkern wie Aristoteles suchte: Weltraumfahrt und Atomspaltung markierten<strong>in</strong> den 50er Jahren e<strong>in</strong>e neue Epoche technologischer Entwicklung. Die Arbeitsgesellschaftfeierte ihren Siegeszug. Menschliche Tätigkeit wurde zunehmend auf das Herstellen reduziert.Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike so zentrale politische Praxis geriet dagegen (wie die theoretische Reflexion)<strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund. Ausgehend von dieser Zustandstandsbeschreibung spricht Arendt vom+Verlust des Geme<strong>in</strong>s<strong>in</strong>ns* und e<strong>in</strong>er +Umkehrung <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Vita activa*:+Wir sahen, daß im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Überlieferung das [politische] Handeln den höchsten Platz <strong>in</strong>nerhalb<strong>der</strong> Vita activa [dem tätigen Leben] e<strong>in</strong>genommen hatte. Aber die neuzeitliche Umkehrung desVerhältnisses von Vita contemplativa und Vita activa hatte ke<strong>in</strong>eswegs zur Folge, daß nun das Handelngleichsam automatisch an die Stelle rückte, die vordem die Anschauung und Kontemplation e<strong>in</strong>genommenhatten. Dies Primat fiel vielmehr vorerst den Tätigkeiten zu, die charakteristisch s<strong>in</strong>d für Homo faber,dem Machen, Fabrizieren und Herstellen.* (Vita activa; S. 287 [§ 42])Dagegen br<strong>in</strong>gt Arendt (mit Aristoteles) <strong>in</strong>s Spiel, daß die soziale Natur des Menschen e<strong>in</strong>auf Geme<strong>in</strong>schaft gerichtetes Handeln erfor<strong>der</strong>t (vgl. ebd.; S. 14ff. [§ 1]). Auch sie begrüßtedeshalb (wie später Etzioni) den aktiven Bürger <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktiven Gesellschaft, was sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>edar<strong>in</strong> zeigt, daß sie das Rätesystem gegenüber re<strong>in</strong> repräsentativen Formen <strong>der</strong> Demokratievorzog (vgl. z.B. Über die Revolution; S. 344–361).Nicht ganz so weit, aber eben doch zurück greifen die Überlegungen zu e<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nendemokratischen Kultur von Frances Moore Lappé.150Dieser sieht zwei wesentliche H<strong>in</strong><strong>der</strong>nissefür e<strong>in</strong>e demokratische Erneuerung im Rahmen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Weltdeutung:+First, the mo<strong>der</strong>n worldview conceives of human nature as atomistic. Encapsulated <strong>in</strong> our isolatedegos, we are unable to know each other’s needs […] Second, laws govern<strong>in</strong>g the <strong>in</strong>teraction of theseisolated social atoms parallel laws govern<strong>in</strong>g the Newtonian physical world. They are absolute.* (Politicsfor a Troubled Planet; S. 165)Neben diesen allgeme<strong>in</strong>en Restriktionen beengt die immer fragwürdigere Trennung von +privat*und +öffentlich* alternative Konzeptionen des Politischen (vgl. ebd.; S. 167f.). Solche lägen


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 59gemäß Lappé allerd<strong>in</strong>gs durchaus im Bestand <strong>der</strong> (amerikanischen) Tradition verschüttet undmüßten nur wie<strong>der</strong> ans Licht gebracht werden. Denn die Reduktion <strong>der</strong> Freiheit auf <strong>in</strong>dividuelleFreiheit im konstitutionellen Verfassungsstaat hat vergessen gemacht, daß Freiheit – vor allemim religiösen Verständnis – auch e<strong>in</strong>mal die Freiheit zu +menschlichem Wachstum* (humangrowth) implizierte (vgl. ebd. S. 169). Und Demokratie war auch nicht immer e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>formales Pr<strong>in</strong>zip politischer Organisation, son<strong>der</strong>n bedeutete die Verb<strong>in</strong>dung von Rechtenmit Verantwortung. Damit kommt Lappé zu e<strong>in</strong>em ähnlichen Ergebnis wie Heller und Fehér,die ja bereits oben Erwähnung fanden: Jene for<strong>der</strong>n nämlich auch und gerade unter denBed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nität e<strong>in</strong> verantwortungsethisches politisches Handeln, das gleichzeitigauf den (moralischen) Pr<strong>in</strong>zipien Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Fairness und Unparteilichkeitberuht (vgl. The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Political Condition; S. 60–74).Diesen zuletzt vorgestellten Vorschlägen, die im Kontext <strong>der</strong> +kommunitaristischen* Debattezu lesen s<strong>in</strong>d,151ist geme<strong>in</strong>sam, daß letztendlich e<strong>in</strong>e Rückwärtsorientierung dom<strong>in</strong>iert (obwohlman natürlich sagen kann, daß auch hier die Vergangenheit und die Tradition kreativ vonden Autoren vere<strong>in</strong>nahmt werden).152Es kommt also zu e<strong>in</strong>em tatsächlichen Re-Cycl<strong>in</strong>g: Derhistorische Zirkel schließt sich. Interessanter s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>es Erachtens solche Ansätze, die nichte<strong>in</strong>fach rückwärts kreisen, son<strong>der</strong>n gewissermaßen e<strong>in</strong>e spiralförmige Bewegung beschreiben.Zweidimensional verkürzt betrachtet gleichen diese Entwürfe dem e<strong>in</strong>fachen Recycl<strong>in</strong>g. Beziehtman aber die dritte Dimension mit e<strong>in</strong>, so eröffnet sich e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Perspektive und manerkennt, daß e<strong>in</strong> älteres Motiv – <strong>in</strong> unserem Fall: e<strong>in</strong> nicht auf das Institutionell-Staatlichefixiertes Verständnis von <strong>Politik</strong> – auf e<strong>in</strong>er neuen Ebene wie<strong>der</strong> auftaucht.Zu dieser Kategorie muß man sicher die schon vorgestellten Konzeptionen von Beck undGiddens sowie natürlich Lyotard zählen.153Aber auch e<strong>in</strong>ige an<strong>der</strong>e Ansätze verdienenabschließend noch Erwähnung und könnten eventuell dazu e<strong>in</strong>en (kritischen) Beitrag leisten.Zygmunt Bauman z.B. hat im letzten Kapitel se<strong>in</strong>es Buchs +Ansichten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* (1992)e<strong>in</strong>e Analyse postmo<strong>der</strong>ner <strong>Politik</strong> unternommen, welche (wie bei Beck und Giddens) dieEntstehung von neuen <strong>Politik</strong>formen <strong>in</strong> den Mittelpunkt stellt:In <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne herrschte laut Bauman e<strong>in</strong>e strikte Trennung zwischen politischer Praxis undpolitischer Theorie. Symbol dieser Trennung war <strong>der</strong> Nationalstaat, <strong>der</strong> die politische Handlungsmachtmit Ausschließlichkeit für sich beanspruchte und <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Legitimation <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>iedurch das Management des <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne dom<strong>in</strong>anten Verteilungskonflikts aufrecht erhielt.


60 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEIn <strong>der</strong> von Kont<strong>in</strong>genz geprägten <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne des ausgehenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts wird mit<strong>der</strong> faktischen wie theoretischen Infragestellung des Nationalstaats (vornehmlich ausgelöstdurch Globalisierungsprozesse und subnationale Bewegungen) auch die Trennung von Theorieund Praxis fragwürdig. Zudem treten an<strong>der</strong>e Konflikte politisch hervor: um (Menschen-)Rechte,Selbstbestimmung und Selbstentfaltung etc. Im Kontext dieser neuen Konfliktfel<strong>der</strong> entstehendie von Bauman postulierten neuen <strong>Politik</strong>formen, die er allerd<strong>in</strong>gs durchaus ambivalentschil<strong>der</strong>t: Die postmo<strong>der</strong>ne Stammespolitik imag<strong>in</strong>iert politische Geme<strong>in</strong>schaften, die denfragmentisierten Subjekten Orientierung bieten sollen, sich durch symbolische Rituale amLeben erhalten und deshalb unter dem Zwang stehen, sich ständig selbst zu erneuern. Die<strong>Politik</strong> des Begehrens als zweite von Bauman genannte neue <strong>Politik</strong>form strebt nach <strong>der</strong> Verwirklichungvon (<strong>in</strong>dividuellen wie kollektiven) Lebensentwürfen. Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Angst bautdagegen gerade auf die Furcht vor <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung durch die <strong>Politik</strong>(en) des Begehrensund die postmo<strong>der</strong>ne Stammespolitik. Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Gewißheit schließlich versucht durchdie Versicherung <strong>der</strong> Richtigkeit des eigenen Urteils, die Verunsicherung durch die allgegenwärtigePluralität des postmo<strong>der</strong>nen Dase<strong>in</strong>s aufzufangen – e<strong>in</strong>e Pluralität übrigens, die daspostmo<strong>der</strong>ne Subjekt nach Bauman zw<strong>in</strong>gt, sich se<strong>in</strong>e eigenen (ethischen) Maßstäbe zu erarbeitenund se<strong>in</strong> Verhalten ständig mit den an<strong>der</strong>en Subjekten abzustimmen und gegenüber diesenzu rechtfertigen. (Vgl. Ansichten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 231–240) 154Hier ergibt sich e<strong>in</strong> Anknüpfungspunkt zu Welsch (siehe auch S. LXV). +Pluralität als ethischerund politischer Wert* (1991) ist für ihn – <strong>in</strong> Anlehnung an Lyotard – gar zentral <strong>in</strong> unsererpostmo<strong>der</strong>nen Gegenwart. Denn diese +ist dadurch charakterisiert, daß wir mit e<strong>in</strong>er zunehmendenVielfalt unterschiedlichster Lebensformen, Wissenskonzeptionen und Orientierungsweisenkonfrontiert s<strong>in</strong>d* (S. 11). Welsch beruft sich <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch auf soziologischeBefunde von Max Weber (+Polytheismus <strong>der</strong> Werte*) bis Berger (+Pluralisierung <strong>der</strong> Lebenwelten*)und Zapf (+Pluralisierung <strong>der</strong> Lebensstile*).Dabei arbeitet (auch) er heraus, daß die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ke<strong>in</strong>e Anti-Mo<strong>der</strong>ne, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>egesteigerte, radikalisierte Mo<strong>der</strong>ne darstellt. Ihre Pluralität geht deshalb über bloßen Pluralismush<strong>in</strong>aus, <strong>der</strong> sich nach Welsch zu e<strong>in</strong>er parlamentarisch-repräsentativen Ideologie verhärtethat und so letztendlich e<strong>in</strong>e Stabilisierung des status quo bewirkt (vgl. ebd. 19ff.). Der (demokratisch-liberale)Pluralismus baut nämlich auf dem allgeme<strong>in</strong>en liberal-demokratischen Konsensauf und fixiert sich, <strong>in</strong>dem er dies tut, auf e<strong>in</strong> bestimmtes Set von Normen. Die Pluralität


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 61als ethischer und politischer Wert ist im Gegensatz dazu grundsätzlich offen. Demgemäßumfaßt <strong>der</strong> Normenkatalog e<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nen Ethik <strong>der</strong> Pluralität für ihn e<strong>in</strong>zig zwei positiveund zwei prohibitive For<strong>der</strong>ungen: Erstere bestehen <strong>in</strong> <strong>der</strong> +E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> das Eigenrecht unddie Eigentlichkeit des An<strong>der</strong>en* (ebd.; S. 26) sowie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Akzeptanz +ihrer eventuell ungewohnteno<strong>der</strong> anstößigen Äußerungsformen* (ebd.). Die zwei prohibitiven Maximen äußernsich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Verbot von Übergriffen und e<strong>in</strong>er Ablehnung von Totalisierungen (vgl. ebd.;S. 28). Politisch umgemünzt ergibt sich e<strong>in</strong> Demokratiekonzept, das auf dem Recht zum Dissensberuht (vgl. ebd.; S. 31f.). In Anlehnung an Becks Konzept <strong>der</strong> Subpolitik sowie postmo<strong>der</strong>neTheoretiker wird bei Welsch aus diesem Recht zum Dissens e<strong>in</strong>e aus <strong>der</strong> Lebenswelt gespeiste<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Differenz (vgl. ebd.; S. 34f.).Welsch hat mit diesem Entwurf sicherlich e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>teressanten Beitrag zu e<strong>in</strong>er +postmo<strong>der</strong>nen*Demokratie-Theorie geleistet, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e weitere Ausarbeitung verdienen würde. Ich möchteallerd<strong>in</strong>gs auch auf e<strong>in</strong>ige Probleme se<strong>in</strong>er Konzeption h<strong>in</strong>weisen. Zum e<strong>in</strong>en bleibt es dunkel,warum das bloße An<strong>der</strong>sse<strong>in</strong> des An<strong>der</strong>en e<strong>in</strong> Verbot von Übergriffen und Totalisierungengebietet. Dieser E<strong>in</strong>wand gilt auch für Lév<strong>in</strong>as’ Ethik <strong>der</strong> Differenz, <strong>der</strong> diesbezüglich ähnlicheAussagen trifft (vgl. z.B. Jenseits des Se<strong>in</strong>s; S. 37–41).155Schließlich ist Differenz ke<strong>in</strong> Wertan sich, son<strong>der</strong>n davon abhängig, ob wir bereit s<strong>in</strong>d, ihr e<strong>in</strong>en Wert beizumessen. Zudem:Auch <strong>der</strong> An<strong>der</strong>e wird erst durch unsere Def<strong>in</strong>ition zum An<strong>der</strong>en. Identität und Differenzs<strong>in</strong>d dabei gleichermaßen kont<strong>in</strong>gente Konstruktionen. E<strong>in</strong> weiterer, ganz ähnlicher E<strong>in</strong>wandbetrifft die Pluralität als ethischen und politischen Wert. Welsch bemüht sich darzulegen,daß das Pr<strong>in</strong>zip radikaler Pluralität, wie er es versteht, unabhängig von e<strong>in</strong>em vorgängigenKonsens ist. Er vergißt, daß auch <strong>der</strong> Wert <strong>der</strong> Pluralität als Grundlage politischer Organisationzustimmungsbedürftig ist. Daß die +Verfassung <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* diesen Konsens über diePluralität als ihr Fundament strukturell <strong>in</strong> gewisser Weise nahe legt, spricht allerd<strong>in</strong>gs wie<strong>der</strong>umfür Welschs Argumentation.So e<strong>in</strong>deutig und auf allen Ebenen plural, wie Welsch diese Struktur <strong>in</strong>terpretiert, ist sie jedochke<strong>in</strong>eswegs. Nicht von ungefähr spricht auch Lyotard schließlich von <strong>der</strong> +Vorherrschaft <strong>der</strong>ökonomischen Diskursart* (Der Wi<strong>der</strong>streit; S. 293 [Nr. 253]).156Die radikale Mo<strong>der</strong>ne <strong>der</strong><strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, das ist die im Umbruch bef<strong>in</strong>dliche Welt des Spätkapitalismus. Und im Spätkapitalismusgilt, wie Jameson feststellte (siehe S. LVII), e<strong>in</strong>e ganz eigene Logik: Die Entgrenzungdes <strong>in</strong>ternationalen Kapitals hat zu e<strong>in</strong>er Entgrenzung <strong>der</strong> kapitalistischen Waren-Kultur geführt.


62 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEAuch die <strong>Politik</strong> hat sich deshalb dem +schönen Sche<strong>in</strong>* <strong>der</strong> Warenwelt anzupassen.kommt zu e<strong>in</strong>er Ästhetisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, die sich damit immer mehr +entpolitisiert* undzu e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> +symbolischen <strong>Politik</strong>* verkommt. 158Dieses Argument ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e von Bernd Guggenberger ausgearbeitet worden. Er bemerkthierzu:157Es+Der ästhetische Blick verän<strong>der</strong>t die e<strong>in</strong>em politischen Problem zugrundeliegende Struktur, er verleitetdazu, politische Fragen <strong>in</strong> Kategorien von Fragen des Geschmacks zu behandeln; er vernichtet dabeigenau jenen Anteil des autonom Politischen an den Ereignissen, den wahrzunehmen für das politischeUrteil unverzichtbar ist.* (Die politische Aktualität des Ästhetischen; S. 27)Den Grund für die Fixierung auf das Ästhetische sieht auch Guggenberger <strong>in</strong> <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nenPluralisierung, die – <strong>in</strong>dem sie (aus Guggenbergers Sicht) alles auf die Geschmacks-Fragereduziert – die Tore für e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuell verunsichernde Erosion <strong>der</strong> e<strong>in</strong>heitsstiftenden ethischenwie kognitiven Grundlagen <strong>der</strong> Gesellschaft öffnet. Er bemerkt deshalb:+Es s<strong>in</strong>d vor allem unsere Gewißheits- und E<strong>in</strong>deutigkeitsverluste, welche die ästhetischen Kompensationenauf den Plan rufen.* (Ebd.; S. 29)Das alles bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das (politische) Subjekt, das immer mehr aufdie Beobachterrolle beschränkt wird. +Die ›Aktualität des Ästhetischen‹ gehört zu e<strong>in</strong>er Epoche,die das Subjekt durch den Beobachter ersetzt* (ebd.; S. 39) – so faßt Guggenberger diesenSachverhalt zusammen.159Auch gemäß ihm ist das Ästhetische jedoch nicht per se e<strong>in</strong> Moment<strong>der</strong> Bedrohung des Subjekts und <strong>der</strong> Entpolitisierung. Vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst als se<strong>in</strong>er orig<strong>in</strong>ärenSphäre hatte es (durch se<strong>in</strong>en kreativen Aspekt) immer auch die Bedeutung <strong>der</strong> transzendierendenErneuerung und <strong>der</strong> Innovation. In diesem S<strong>in</strong>n könnte das Ästhetische <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>durchaus etwas zu geben haben. Dafür müßte es sich jedoch vom primär ökonomischenZweck emanzipieren, dem es aktuell dient. (Vgl. ebd.; S. 5ff. u. S. 40–52)Guggenbergers <strong>in</strong> <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> +Frankfurter Schule* (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Adorno)160stehende Kritikkann als Ausdruck e<strong>in</strong>es +Unbehagen an <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* gedeutet werden. Dieses Unbehagenwie<strong>der</strong>um entspr<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>em noch weitgehend traditionell +mo<strong>der</strong>n* geprägten <strong>Politik</strong>verständnis.Denn die postmo<strong>der</strong>nen +Enttäuschungen <strong>der</strong> Vernunft*161(Müller-Funk 1990) haben zu e<strong>in</strong>emimmer deutlicher werdenden absoluten Des<strong>in</strong>teresse gegenüber <strong>Politik</strong> – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> ihrer


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 63+klassischen* Ausprägung – geführt. An<strong>der</strong>erseits gilt, wie Müller-Funk wie<strong>der</strong>um ganz analogzu Beck bemerkt:+Vielleicht liegt die Zukunft außerhalb <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Vielleicht liegt das Politische auch außerhalb dessen,wo wir es vermuten: außerhalb <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>.* (Die Enttäuschungen <strong>der</strong> Vernunft; S. 152)Hier kl<strong>in</strong>gt noch, wie letztendlich auch bei Guggenberger, die Möglichkeit zur +Versöhnung*zwischen dem politischen Anspruch <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne und <strong>der</strong> gewandelten politischenRealität <strong>der</strong> radikalisierten (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne durch. Doch die +Figuren des Transpolitischen*führen zum<strong>in</strong>dest für Jean Baudrillard (siehe auch S. LVf.) direkt <strong>in</strong> die politische Apokalypse.Die Auflösung des Politischen im Transpolitischen ist nach ihm nämlich gleichbedeutendmit e<strong>in</strong>em +Here<strong>in</strong>brechen <strong>der</strong> Obszönität* (Die <strong>fatal</strong>en Strategien; S. 29) sowie e<strong>in</strong>er Auslöschungaller S<strong>in</strong>nhaftigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> krankhaften Wucherung des Banalen:+Das Transpolitische ist <strong>der</strong> Modus, <strong>in</strong> dem alles verschw<strong>in</strong>det […], es ist jener unheilvolle Wendepunkt,an dem <strong>der</strong> Horizont des S<strong>in</strong>ns endet […] Das Transpolitische ist auch folgendes: <strong>der</strong> Übergang vomWachstum zur Auswucherung […] vom organischen Gleichgewicht zu krebsartigen Metastasen.* (Ebd.)Diese E<strong>in</strong>schätzung liegt <strong>in</strong> Baudrillards skeptischem <strong>Post</strong>historismus begründet:+Wir bef<strong>in</strong>den uns wahrhaftig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jenseits […] <strong>der</strong> Himmel <strong>der</strong> Utopie ist auf die Erde herabgekommen,und was sich e<strong>in</strong>st als strahlende Perspektive abzeichnete, stellt sich nunmehr als Katastropheim Zeitlupentempo dar.* (Ebd.; S. 85)Aus dieser Kulturkritik spricht e<strong>in</strong>deutig die Verachtung des Intellektuellen für die (post)mo<strong>der</strong>neMassengesellschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die +Nichtigkeit des Realen* sich beweist. Gegen diese Nichtigkeitdes Realen helfen laut Baudrillard nur die +<strong>fatal</strong>en* Strategien <strong>der</strong> Destruktion, denn +we<strong>der</strong>das rationale Pr<strong>in</strong>zip noch <strong>der</strong> Gebrauchswert können uns retten, son<strong>der</strong>n [nur] das unmoralischePr<strong>in</strong>zip des Spektakels, das ironische Pr<strong>in</strong>zip des Bösen* (ebd.; S. 226f.). Die wahrsche<strong>in</strong>lichwichtigste, vielleicht gar die e<strong>in</strong>zig erfolgversprechende <strong>fatal</strong>e Strategie ist dabei die Theorie,denn sie enthüllt und demontiert <strong>in</strong> ihrer ironischen, selbstüberschreitenden Distanz zur+objektiven* Welt <strong>der</strong>en Objektcharakter. (Vgl. ebd.; S. 220–232)Aus den Sätzen Baudrillards ist Nietzsches Diktion und Gedankengut leicht herauszuhören.Das Plädoyer für die <strong>fatal</strong>en Strategien entspricht Nietzsches (a)moralischem Nihilismus, <strong>der</strong>


64 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Jenseits von Gut und Böse* e<strong>in</strong>e +Umkehrung <strong>der</strong> Werte* for<strong>der</strong>te, um <strong>der</strong>+Slavenmoral* des Christentums zu entgehen (vgl. § 32 u. § 46). Interessanterweise sieht Baudrillard<strong>in</strong> den <strong>fatal</strong>en Strategien jedoch nicht nur e<strong>in</strong> negierendes, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong> distanzschaffendesironisches Moment (siehe oben). Damit ergibt sich e<strong>in</strong> Berührungspunkt mit RichardRortys postmo<strong>der</strong>n-liberaler Theorie.Rorty begründet se<strong>in</strong>en +neopragmatischen* Liberalismus aus <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Kont<strong>in</strong>genz<strong>der</strong> Sprache und <strong>der</strong> Selbstkonstruktionen und <strong>der</strong> damit verbundenen Unmöglichkeit, Wahrheitwie Moral (logisch) zu begründen (vgl. Kont<strong>in</strong>genz, Ironie und Solidarität; Kap. 1 u. 2). Darausresultiert nach Rorty e<strong>in</strong>e ironische Haltung, die sich <strong>der</strong> Relativität auch <strong>der</strong> eigenen Überzeugungenund Argumente bewußt ist (vgl. ebd; Kap. 4).162Ke<strong>in</strong>eswegs bedeutet dies aberfür ihn e<strong>in</strong>e Aufgabe des moralischen Anspruchs. Die von Rorty gefor<strong>der</strong>te Solidarität undAnerkennung des An<strong>der</strong>en gründet gerade auf dem Kont<strong>in</strong>genzbewußtse<strong>in</strong> und dem darausresultierenden Selbstzweifel (vgl. ebd.; Kap. 9) – se<strong>in</strong>e Argumentation trifft sich also hier<strong>in</strong>gewissermaßen mit Lyotard, Lév<strong>in</strong>as und (im Anschluß an diese) auch Welsch. 163Es ließen sich nun noch e<strong>in</strong>e Reihe weiterer Positionen vortragen, und die von mir gewählteZusammenstellung ist sicher ebenso selektiv wie subjektiv.164E<strong>in</strong> vollständiger Überblick überdie Bandbreite des +postmo<strong>der</strong>nen* <strong>Politik</strong>verständnisses ist jedoch zur Erfassung se<strong>in</strong>er Charakteristika(und um nichts an<strong>der</strong>es geht es hier) nicht erfor<strong>der</strong>lich. Schon die dargestellten Ansätzemachen klar: <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne ist <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie durch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>deutigkeitsverlust,e<strong>in</strong>e diffuse Expansion <strong>in</strong> den sozialen Raum und die umgekehrte (Rück-)Eroberung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>durch die Lebenswelt gekennzeichnet (wozu man positiv o<strong>der</strong> ablehnend stehen kann). Derim 19. Jahrhun<strong>der</strong>t aufgesplittete Weg des Politischen, <strong>der</strong> dann <strong>in</strong> die E<strong>in</strong>bahnstraße desliberal-demokratischen Nationalstaats mündete, hat sich weiter fragmentisiert, aber auch zurSprengung des beschränkten politischen Horizonts <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne geführt.E<strong>in</strong> kurzes Resümee über die dargestellte Entwicklung <strong>der</strong> politischen Theorie und des <strong>Politik</strong>begriffszeigt also folgendes Bild: Im Denken <strong>der</strong> Antike war <strong>Politik</strong> eng mit dem Problem<strong>der</strong> Gerechtigkeit verknüpft. Dabei umfaßte <strong>der</strong> Bereich des Politischen zum e<strong>in</strong>en die gesamteSphäre des sozialen Handelns und <strong>der</strong> Ethik. Zum an<strong>der</strong>en fragte die politische Wissenschaftim engeren S<strong>in</strong>n als Staats- und Verfassungslehre nach <strong>der</strong> guten und gerechten Ordnungdes Geme<strong>in</strong>wesens. Dies gilt auch für die mittelalterliche politische Philosophie, die allerd<strong>in</strong>gs


KAP. 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS 65weitgehend theologisch dom<strong>in</strong>iert war. Mit dem Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Neuzeit wurden theologischeWeltdeutungen dann immer mehr <strong>in</strong> Frage gestellt. Theoretisch wie praktisch ließ sich vonnun an auch von e<strong>in</strong>er autonomen Sphäre des Politischen, ja e<strong>in</strong>em Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> sprechen.Ethische und moralische Fragen traten <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund. Zentrales Motiv wurde die vernunftgemäßeLegitimation politischer Herrschaft. Die konkreten Antworten <strong>der</strong> politischenDenker variierten jedoch. Sowohl für den absolutistischen +Wolf <strong>in</strong> den Mauern* als auchfür die Ausweitung <strong>der</strong> Herrschaft auf bürgerliche Kreise wurden Argumente beigebracht,und spätestens im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t läßt sich die Ausdifferenzierung <strong>der</strong> zentralen politischenLager des Konservatismus, des Sozialismus und des Liberalismus beobachten. Unter dengegebenen Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er radikalisierten Mo<strong>der</strong>ne verwischen aber die Konturen dieserLager. E<strong>in</strong>e politische Neuorientierungen ersche<strong>in</strong>t notwendig, wobei vielfach auf vergangeneKonzepte zurückgegriffen wird. Überhaupt ist politische Theorie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als e<strong>in</strong>e+textbezogene Praxis* zu verstehen (vgl. Shapiro: Read<strong>in</strong>g the <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Polity). In diesemZusammenhang habe ich von +Recycl<strong>in</strong>g* und e<strong>in</strong>er +eklektischen tabula rasa* gesprochen.Das e<strong>in</strong>fache Recycl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>er <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner Prägung kontrastiert dabei dastransformierende Recycl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>er <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, die e<strong>in</strong> reflexives +authentisches* Bewußtse<strong>in</strong>zu gew<strong>in</strong>nen versucht (siehe hierzu auch Prolog, S. LXII–LXXVII sowie den Exkurs).Dieses +authentische* Bewußtse<strong>in</strong> schenkt (wie sich bei Lyotard o<strong>der</strong> Rorty zeigt) <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzals Dimension des Politischen beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit. <strong>Politik</strong> nutzt dabei nicht nur dengeschaffenen Kont<strong>in</strong>genzraum, son<strong>der</strong>n wird selbst als kont<strong>in</strong>gent verstanden, verweist aufihre Verän<strong>der</strong>barkeit (vgl. auch Ryan: <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>n Politics; S. 97). Ersterer Sachverhalt istvon Kari Palonen, auf den schon zu Beg<strong>in</strong>n dieses Kapitels Bezug genommen wurde (sieheS. 3), als das +Webersche Moment* <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> bezeichnet worden. So wenig ich mit se<strong>in</strong>erWeber-Rezeption übere<strong>in</strong>stimme, die im Werk Webers e<strong>in</strong>en Stellenwechsel <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzvollzogen sieht,165so deutlich zeigt gerade diese Interpretation, daß Kont<strong>in</strong>genz unter dengegebenen Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>e immer wichtigere Kategorie für die politische Theorie und Praxisdarstellt. Der Horizont e<strong>in</strong>es postmo<strong>der</strong>nen Verständnisses von <strong>Politik</strong> ist von Kont<strong>in</strong>genz,ihrer faktischen Virulenz wie ihrer theoretischen Reflexion, geprägt.


2 ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UNDPOLITISCHER STATIK – EINE ÖKOLOGIE DER POLITIK


68 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE2 ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UNDPOLITISCHER STATIK – EINE ÖKOLOGIE DER POLITIKIn <strong>der</strong> noch weitgehend ungebrochenen Mo<strong>der</strong>nität <strong>der</strong> Nachkriegs-Ära bestand im wesentlichennur e<strong>in</strong> Dissens über die Ziele <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und die Wege zu <strong>der</strong>en Verwirklichung. Liberale,Konservative und Sozialisten waren sich, so unterschiedlich ihre konkreten Entwürfe auchse<strong>in</strong> mochten, im Pr<strong>in</strong>zip darüber e<strong>in</strong>ig, wor<strong>in</strong> <strong>Politik</strong> bestand: nämlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausübung vonHerrschaft und <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>verb<strong>in</strong>dlichen Regelung <strong>der</strong> strittigen sozialen Fragen. Die prägnantesteVerkörperung dieses machtzentrierten <strong>Politik</strong>verständnisses war und ist <strong>der</strong> (National-)Staat,wobei (<strong>in</strong> den gewaltenteiligen westlichen Systemen) – zum<strong>in</strong>dest <strong>der</strong> Theorie nach – <strong>der</strong>Exekutive die e<strong>in</strong>e, <strong>der</strong> Legislative die an<strong>der</strong>e Funktion zufällt. Die Judikative hat (im Rahmendes politischen Prozesses) nur über die korrekte Abwicklung des politischen +Geschäfts* zuwachen.Die politische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne beg<strong>in</strong>nt, wo auch dieser Konsens über das Wesen des Politischenals Frage von Macht und Herrschaft sich auflöst. Gleichzeitig mit dieser verunsichernden Infragestellungdes politischen (Selbst-)Verständnisses zerfallen die zuvor klar abgrenzbaren politischenLager, und es kommt zur Delegitimierung <strong>der</strong> etablierten politischen Institutionen. Im letztenAbschnitt des vorangegangenen Kapitels wurden erste Ansätze e<strong>in</strong>es +postmo<strong>der</strong>nen* <strong>Politik</strong>verständnissesdargestellt, die diesen Wandel reflektieren. Aber warum kommt es ausgerechnet<strong>in</strong> <strong>der</strong> gegenwärtigen Situation zur Auflösung des Konsenses über <strong>Politik</strong>? – Die Gründe dafür1liegen außerhalb <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, des politischen Systems. Sie liegen <strong>in</strong> den tiefgreifenden strukturel-len Transformationsprozessen, die die Welt des ausgehenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts prägen undauch die +alte* <strong>Politik</strong> mit ihrer Fixierung auf den Nationalstaat <strong>in</strong> Frage stellen.Dieser Wandel hat sich zuerst im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Intellektuellen nie<strong>der</strong>geschlagen – zum<strong>in</strong>dest,wenn man Zygmunt Bauman folgen will, dessen +Ansichten* zur postmo<strong>der</strong>nen <strong>Politik</strong> bereitsdargelegt wurden (siehe S. 59f.) und <strong>der</strong> die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als +Überbau-Phänomen* e<strong>in</strong>esan die eigenen Grenzen stoßenden Intellektualismus <strong>in</strong>terpretiert (siehe auch Anmerkung119, Prolog). Selbst Bauman sieht jedoch +e<strong>in</strong>e Reihe spezifisch ›postmo<strong>der</strong>ner‹ Phänomene,


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 69die darauf warten, von <strong>der</strong> Soziologie erforscht zu werden* (Ansichten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne;2S. 143): Da ist zum e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Emanzipation des Kapitals von <strong>der</strong> Arbeit. Zuman<strong>der</strong>en besteht e<strong>in</strong>e neue Form des Zusammenspiels von Repression und Verführung imkapitalistischen Herrschafts- und Marktsystem (vgl. ebd.). Weitere dieser +spezifisch postmo<strong>der</strong>nenPhänomene* s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Globalisierung und Individualisierung.Sie erzeugen im Zusammenspiel e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>genzträchtige Dynamik, die e<strong>in</strong> erweitertes <strong>Politik</strong>verständnishervorbr<strong>in</strong>gt und für die Imag<strong>in</strong>ation neuer <strong>Politik</strong>formen genutzt wird. Dochtrotz <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> politischen Umwelt: Die etablierte und <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong>hat sich kaum gewandelt. Deshalb lautet me<strong>in</strong>e im folgenden näher dargelegte These, daßwir es aktuell mit e<strong>in</strong>er wi<strong>der</strong>sprüchlichen Dialektik von sozio-ökonomischem Wandel undpolitischer Statik zu tun haben.Doch warum ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Überschrift zu diesem Kapitel von e<strong>in</strong>er +Ökologie* <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> dieRede? – Die Außenbed<strong>in</strong>gungen bestimmen die Möglichkeiten des Innen. Diese E<strong>in</strong>sichtprägte das Programm e<strong>in</strong>er ökologischen Sozialisationsforschung, wie sie Urie Bronfenbrenner3<strong>in</strong> den 70er Jahren propagierte. Was für die Sozialisation des e<strong>in</strong>zelnen Individuums gilt,trifft me<strong>in</strong>es Erachtens auch auf die Entwicklungsbed<strong>in</strong>gungen +sozialer Teilsysteme* zu.Allerd<strong>in</strong>gs benutze ich die Begriffe +politisches System*, +Wirtschaftssystem* und +Rechtssystem*etc. e<strong>in</strong>zig als analytische Kategorien, also ohne ihnen (materialen) +Wirklichkeitsgehalt* zuzu-4messen, und auch nicht aus e<strong>in</strong>er (klassisch) systemtheoretischen Perspektive heraus. ImRahmen e<strong>in</strong>er +soziologischen Konstruktion* ist die Unterscheidung zwischen den genannten(Sub-)Systemen aber trotzdem s<strong>in</strong>nvoll. Es kann so nämlich e<strong>in</strong>e Beziehung untersucht werden,die – obwohl sie als solche nicht existiert – für sich Wirklichkeit besitzt, <strong>in</strong>dem sich die Akteure,die das entsprechende Subsystem konstituieren, als <strong>Politik</strong>er, Unternehmer, Juristen usw.verstehen. Und noch e<strong>in</strong> weiterer Aspekt ist zu beachten: Es gibt Prozesse, die durch diefaktische Form <strong>der</strong> sozialen Organisation, die e<strong>in</strong>e (arbeitsteilige) Trennung <strong>in</strong> verschiedeneTeilsysteme zugrunde legt, dem Zugriff und <strong>der</strong> direkten Steuerung durch das politische System5entzogen s<strong>in</strong>d. Diese Prozesse stellen also gewissermaßen +Umweltfaktoren* für die <strong>Politik</strong>dar, und e<strong>in</strong>e Ökologie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> hat deshalb das Meso-, Exo- und Makrosystem des Politischen6(Systems) e<strong>in</strong>er genauen Analyse zu unterziehen. E<strong>in</strong>e solche +Rahmen-Analyse* (Goffman)ist wichtig, da nur als Resultat e<strong>in</strong>er +ökologischen* Betrachtungsweise die systemimmanentenpolitischen Dilemmata <strong>in</strong> ihrem Kontext deutlich werden können, die allerd<strong>in</strong>gs erst <strong>in</strong> Kapitel


70 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE3 näher thematisiert und schließlich <strong>in</strong> Kapitel 4 (am Fallbeispiel +BSE*) exemplarisch veranschaulichtwerden sollen. Zunächst wird es (bezogen auf <strong>Politik</strong>) lediglich um e<strong>in</strong>e Darstellung<strong>der</strong> relevanten Verän<strong>der</strong>ungsprozesse <strong>in</strong> den zentralen (Teil-)Systemen gehen. 72.1 ÖKONOMISCHER WANDEL UND SEINE (FEHLENDE) UMSETZUNG UND ENTSPRE-CHUNG IM BEREICH DER POLITIK (WIRTSCHAFTSSYSTEM)Das vielleicht wichtigste Teilsystem des politischen Mesosystems – also des übergreifendenNetzwerks, <strong>in</strong> das die <strong>Politik</strong> <strong>in</strong>stitutionell e<strong>in</strong>gewebt ist – stellt die Ökonomie dar, die nachmarxistischer Auffassung die Basis <strong>der</strong> Gesellschaft bildet. Folgt man dagegen <strong>der</strong> gängigenfunktionalistischen Ideologie, so s<strong>in</strong>d die Systeme Wirtschaft und <strong>Politik</strong> vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> getrennt8und operieren nach e<strong>in</strong>er je eigenen Logik. Doch über die Instrumente <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anz-, Steuer-und Wirtschaftspolitik nimmt das Subsystem <strong>Politik</strong> zwangsläufig und bewußt E<strong>in</strong>fluß auf dasökonomische Geschehen. Selbst sozialpolitische Entscheidungen (z.B. die Herabsetzung <strong>der</strong>Rentenaltersgrenzen), Umweltpolitik (z.B. die Festlegung strengerer Schadstoffhöchstgrenzen)o<strong>der</strong> Außenpolitik (z.B. e<strong>in</strong> Embargo gegen e<strong>in</strong>en bestimmten Staat) können für das Wirtschaftssystem<strong>in</strong> hohem Maß relevant se<strong>in</strong>.Umgekehrt hat auch die Ökonomie erheblichen, wenn nicht bestimmenden E<strong>in</strong>fluß auf denpolitischen Prozeß. Damit ist nicht nur die direkte E<strong>in</strong>flußnahme von Wirtschaftsunternehmenz.B. durch zweckgebundene +Parteispenden* geme<strong>in</strong>t. Das Wohl und Wehe <strong>der</strong> Wirtschaftgilt (noch immer) als primärer Maßstab für die Beurteilung des Erfolgs von <strong>Politik</strong>, und dieseantizipiert deshalb bei ihren Entscheidungen die Reaktion <strong>der</strong> ökonomischen +pressure groups*– sowohl <strong>der</strong> Wirtschaftsverbände wie <strong>der</strong> Gewerkschaften. <strong>Politik</strong> nimmt damit e<strong>in</strong>e +ökonomischeHaltung* e<strong>in</strong>. Je nach Blickw<strong>in</strong>kel und gleichermaßen berechtigt läßt sich also beidesbehaupten: daß <strong>Politik</strong> Wirtschaft steuert und daß Wirtschaft <strong>Politik</strong> steuert.<strong>Politik</strong> und Wirtschaft s<strong>in</strong>d jedoch nicht alle<strong>in</strong>e durch die beschriebenen Mechanismen ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong>(rück)gekoppelt. Beide Sphären weisen e<strong>in</strong>en Überlappungsbereich auf. So gibt es personelleÜberschneidungen (Aufsichtsratsposten für <strong>Politik</strong>er, politisches Engagement von Unternehmernetc.) und Überschneidungen <strong>in</strong>stitutioneller Art (Bundesbank, Handelskammern usw.). Zudembesitzt Ökonomie per se e<strong>in</strong>en politischen Gehalt, da diese unmittelbar die Lebensbed<strong>in</strong>gungen<strong>der</strong> Menschen und die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen des Sozialen bee<strong>in</strong>flußt. Wirtschaft betreibt damit


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 71– ob sie es will o<strong>der</strong> nicht – <strong>Politik</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs wird es hier nicht so sehr um den politischenAspekt des Ökonomischen gehen, als vielmehr um das paradoxe (Miß-)Verhältnis zwischenökonomischem Wandel und den Verharrungstendenzen des politischen Systems.Der aktuelle ökonomische Wandel, <strong>der</strong> als Arbeitsplatzverlust o<strong>der</strong> wachsen<strong>der</strong> Profit, Angebotsdifferenzierungo<strong>der</strong> ökonomische Marg<strong>in</strong>alisierung immer deutlicher auch für jeden e<strong>in</strong>zelnenspürbar wird, ist vielschichtig und kann im Rahmen dieser Arbeit nicht <strong>in</strong> all se<strong>in</strong>en Dimensionenbehandelt werden. Ich möchte ihn hier deshalb vor allem unter e<strong>in</strong>em Überbegriff diskutieren,<strong>der</strong> e<strong>in</strong>ige zentrale Tendenzen dieses Wandels zusammenfaßt und <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> gegenwärtigenöffentlichen Diskussion wie <strong>in</strong> den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften e<strong>in</strong>e immer zentralereRolle spielt: Globalisierung. 9Der Globalisierungsbegriff selbst ist relativ neu und hat erst <strong>in</strong> den letzten Jahren e<strong>in</strong>e Inflationerfahren.10Die Sache, die er bezeichnet, und die theoretischen Grundannahmen, die erimpliziert, s<strong>in</strong>d dagegen – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> ihren Umrissen – altbekannt. So können wir bereitsbei Marx und Engels lesen:+Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption allerLän<strong>der</strong> kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern <strong>der</strong> Reaktionäre den nationalen Boden<strong>der</strong> Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien s<strong>in</strong>d vernichtet wordenund werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, <strong>der</strong>en E<strong>in</strong>führunge<strong>in</strong>e Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr e<strong>in</strong>heimischeRohstoffe, son<strong>der</strong>n den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und <strong>der</strong>en Fabrikatenicht nur im Lande selbst, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle <strong>der</strong>alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte <strong>der</strong> entferntestenLän<strong>der</strong> und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle <strong>der</strong> alten lokalen undnationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt e<strong>in</strong> allseitiger Verkehr, e<strong>in</strong>e allseitigeAbhängigkeit <strong>der</strong> Nationen vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Und wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> materiellen, so auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> geistigen Produktion.Die geistigen Erzeugnisse <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Nationen werden Geme<strong>in</strong>gut. Die nationale E<strong>in</strong>seitigkeit undBeschränktheit wird mehr und mehr unmöglich […]* (Manifest <strong>der</strong> kommunistischen Partei; S. 34f.)Hier s<strong>in</strong>d nahezu alle Aspekte angesprochen, die auch <strong>in</strong> aktuellen Globalisierungstheorienherausgestellt werden: Marx und Engels haben das +Ende <strong>der</strong> nationalen Ökonomie* (Reich)genauso wie die Delokalisierung <strong>der</strong> Konsumstile und zunehmende Interdependenz desWeltsystems <strong>in</strong> ihren Ausführungen angerissen. Ihre zugespitzte Beschreibung reflektierteallerd<strong>in</strong>gs weniger die tatsächlichen damaligen Verhältnisse, son<strong>der</strong>n bedeutete die Extrapolation


72 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEe<strong>in</strong>er komplexen, erst im Beg<strong>in</strong>n bef<strong>in</strong>dlichen Entwicklung. Um vor dieser Komplexität nichtzu kapitulieren, läßt sich grob, wie schon oben angedeutet, zwischen drei Dimensionen <strong>der</strong>Globalisierung unterscheiden: Ökonomie, <strong>Politik</strong> und Kultur (vgl. auch Sklair: Sociology ofthe Global System; S. 5f. sowie Waters: Globalization; S. 7f.). 11Die kulturelle Dimension wird an dieser Stelle jedoch weitgehend ausgeblendet bleiben. 12Entsprechend <strong>der</strong> formulierten These e<strong>in</strong>er Dialektik von (sozio-)ökonomischem Wandel undpolitischer Statik, soll hier nämlich vor allem geklärt werden, ob und <strong>in</strong>wieweit die politische<strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung h<strong>in</strong>terherh<strong>in</strong>kt. Dazu ist es s<strong>in</strong>nvoll, sich zunächst zu verdeutlichen,was <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen (soziologischen) Diskussion unter diesem Begriff verstandenwird. Denn auch wenn die zitierte Passage aus dem +Manifest* e<strong>in</strong>e gute (<strong>in</strong>haltliche) Ideevon Globalisierung vermittelt, so haben Marx und Engels zwar die Sache erfaßt, sich aberke<strong>in</strong>en expliziten Begriff davon gemacht. Spr<strong>in</strong>gen wir deshalb <strong>in</strong> die Gegenwart.Vor allem zwei Def<strong>in</strong>itionen von Globalisierung haben sich im Rahmen des soziologischenDiskurses als durchsetzungsfähig erwiesen und werden immer wie<strong>der</strong> zitiert: jene von Giddens,dessen Konzept <strong>der</strong> +live politics* ja bereits vorgestellt wurde (siehe S. 56f.), und jene RolandRobertsons. Giddens macht deutlich, daß e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> zentralen +Konsequenzen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne*(1990) ihre globalisierende Wirkung darstellt und daß es im Zuge <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung zue<strong>in</strong>em raum-zeitlichen Dehnungsprozeß (des Lokalen) kommt:+Globalisation can thus be def<strong>in</strong>ed as the <strong>in</strong>tensification of worldwide social relations which l<strong>in</strong>k distantlocalities <strong>in</strong> such a way that local happen<strong>in</strong>gs are shaped by events occurr<strong>in</strong>g many miles away andvice versa.* (The Consequences of Mo<strong>der</strong>nity; S. 64)Die vier primär relevanten Fel<strong>der</strong> dieses Prozesses s<strong>in</strong>d laut Giddens das (globale) Staatensystem,die kapitalistische (Welt-)Ökonomie, die (weltweite) Militärordnung und die (<strong>in</strong>ternationale)Arbeitsteilung (vgl. ebd.; S. 70–78). Im Pr<strong>in</strong>zip ähnlich, aber an<strong>der</strong>s als Giddens auch dieBewußtse<strong>in</strong>s-Dimension mit e<strong>in</strong>schließend und betonend def<strong>in</strong>iert Robertson (1992):+Globalization as a concept refers both to the compression of the world and the <strong>in</strong>tensification ofconsciousness of the world as a whole.* (Globalization; S. 8) 13Se<strong>in</strong> (ebenfalls) vierdimensionales globales Feld umfaßt die e<strong>in</strong>zelne Nationalgesellschaft wiedas <strong>in</strong>ternationale System, das e<strong>in</strong>zelne Individuum wie die Menschheit als Ganze, die alle


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 73<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dialektischen Wechselbeziehung zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen (vgl. ebd.; S. 25–31).14Globalisierungbedeutet also die wi<strong>der</strong>sprüchliche Gleichzeitigkeit von Universalisierung und Partikularisierung,Integration und Fragmentisierung etc. (vgl. hierzu auch McGrew: A Global Society?; S. 74f.). 15Es kommt dabei weniger zu e<strong>in</strong>er Homogenisierung als zu e<strong>in</strong>er Verschränkung und Durchmischung.Globalisierung kann entsprechend auch als +strukturelle Hybridisierung* konzeptionalisiertwerden (vgl. Pieterse: Globalization as Hybridization). Deshalb bevorzugt Robertsonneuerd<strong>in</strong>gs auch den Hybridbegriff +Glokalisierung*, <strong>der</strong> den dialektischen Charakter desstattf<strong>in</strong>denden Entgrenzungsprozesses se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach besser zum Ausdruck br<strong>in</strong>gt. MitGlokalisierung wird im +Bus<strong>in</strong>ess-Jargon* nämlich die weltweite Vermarktung unter Berücksichtigunglokaler Beson<strong>der</strong>heiten bezeichnet (wie sie z.B. <strong>der</strong> Musik-Sen<strong>der</strong> +MTV* erfolgreichbetreibt). Hier f<strong>in</strong>det auf kommerzieller Ebene statt, was Robertson ganz allgeme<strong>in</strong> als Kennzeichenvon Globalisierung gilt, die für ihn folglich den Charakter e<strong>in</strong>er globalen Lokalisierunghat (vgl. Glocalization; S. 28ff.). Komb<strong>in</strong>iert man nun Giddens’ und Robertsons Def<strong>in</strong>itionen<strong>in</strong> kreativer Weise – und mischt e<strong>in</strong> wenig Beck h<strong>in</strong>zu –,bed<strong>in</strong>gende) Elemente von +Globalisierung*:16so ergeben sich vier (jeweils e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>• Die (transport- und kommunikationstechnologische) Schrumpfung <strong>der</strong> räumlichen Distanz• Die daraus entstehende Intensivierung bzw. Verdichtung <strong>der</strong> weltweiten Beziehungen• Die somit bewirkte Risiko- und Nutzenvernetzung• Das hieraus sich entwickelnde (reflexive) globale Bewußtse<strong>in</strong>An<strong>der</strong>s als <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Robertson möchte ich jedoch betonen, daß <strong>der</strong> Globalisierungsbegriffzu Recht e<strong>in</strong>e expansive Dynamik ausdrückt. Die globale Diversifizierung, die momentanstattf<strong>in</strong>det, impliziert – auch wenn sie von Lokalisierungsprozessen begleitet wird – die weltweiteVerbreitung zuvor lokal begrenzter ökonomischer, politischer und kultureller Muster und diedarauf aufbauende Schaffung e<strong>in</strong>es globalen Netzwerks.17Das heißt jedoch nicht, daß Globali-sierung notwendig gleichbedeutend mit Verwestlichung o<strong>der</strong> Amerikanisierung wäre, wiees das <strong>in</strong> diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Imperialismus-Schlagwort nahelegt. 18Wenn Globalisierung aktuell auch und gerade im ökonomischen Bereich zumeist tatsächliche<strong>in</strong> +imperialistisches* Gesicht trägt, so zeigt dies nur, daß wir es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart mit e<strong>in</strong>emunvollkommenen, hierarchisierenden Globalisierungsprozeß zu tun haben. Anzustreben wäredemgegenüber me<strong>in</strong>es Erachtens e<strong>in</strong>e gleichberechtigte und reziproke Globalisierung, die


74 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEaber wohl nur sehr schwer im Rahmen e<strong>in</strong>er kapitalistischen Weltökonomie und e<strong>in</strong>er vonNationalstaaten dom<strong>in</strong>ierten <strong>Politik</strong> zu verwirklichen se<strong>in</strong> dürfte. Der Begriff <strong>der</strong> Globalisierungsprengt deshalb, genau wie <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nebegriff, den Rahmen <strong>der</strong> Aktualität.Zum Abschluß dieser kurzen Begriffsklärung steht es nun lediglich aus, +Globalisierung* vomBegriff <strong>der</strong> +Internationalisierung* abzugrenzen. Vor<strong>der</strong>gründig etwas Ähnliches me<strong>in</strong>end undhäufig sogar synonym gebraucht, bezieht sich +Internationalisierung* – im politikwissenschaftlichenSprachgebrauch – auf die Unterstellung e<strong>in</strong>es Gebiets unter e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationalesRegime. Aber auch, wenn man sich nicht auf diese e<strong>in</strong>geschränkte Bedeutung fixieren lassenwill und von +Internationalisierung <strong>der</strong> Wirtschaft* o<strong>der</strong> +Internationalisierung des Kapitals*etc. spricht, so sollte man sich bewußt se<strong>in</strong>, daß <strong>der</strong> Internationalisierungsbegriff den Staatals politische E<strong>in</strong>heit voraussetzt, während Globalisierung das nationalistische Pr<strong>in</strong>zip tendenziellunterhöhlt (siehe Abschnitt 3.1).Zum<strong>in</strong>dest begrifflich sche<strong>in</strong>t die Sache somit (zunächst) weitgehend geklärt zu se<strong>in</strong>. Nurwie sehen die +Fakten* aus? – Entsprechend des hier vertretenen ökologischen Ansatzes möchteich vor dem Feld <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> die Ökonomie betrachten: Wenn es e<strong>in</strong>en Motor für Globalisierunggibt, so ist dies nämlich ohne Zweifel das Kapital, se<strong>in</strong> unstillbarer Hunger nach (Mehr-)Wert.Deshalb ist Globalisierung auch im Bereich <strong>der</strong> Kapital- und F<strong>in</strong>anzmärkte am weitesten fortgeschritten.Doch beg<strong>in</strong>nen wir ganz +unten*: In <strong>der</strong> ursprünglichen Form <strong>der</strong> Subsistenzwirtschaftgab es kaum Tausch und Handel. Als man aber damit begann, tauschte und handelte manprimär materielle Güter (d.h. Rohstoffe und Fertigwaren). Diese +Ära des materiellen Tauschs*reicht bis <strong>in</strong> die Gegenwart h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, denn die +Entstofflichung <strong>der</strong> Wirtschaft* (Menzel) ist nochnicht so weit fortgeschritten, daß sie den Warenhandel gänzlich absorbiert hätte. Mit etwasüber 60% liegt se<strong>in</strong> Anteil am weltweiten Export zwar rund 10% niedriger als noch Anfang70er Jahre (vgl. Globale Trends 93/94; Abb. 3, S. 210),19doch das weitere Abs<strong>in</strong>ken dieserRate stößt an die reale Grenze unserer materiellen Bedürfnisse als materielle Wesen. Allerd<strong>in</strong>gshat sich e<strong>in</strong>iges an <strong>der</strong> Struktur und dem Umfang des <strong>in</strong>ternationalen Handels geän<strong>der</strong>t: Eskam zu e<strong>in</strong>er immer größeren Erweiterung des Tausch-Rahmens (räumliche Extension), und<strong>der</strong> Anteil wie die Menge <strong>der</strong> über die Staatengrenzen h<strong>in</strong>weg gehandelten Güter hat starkzugenommen (Volumen-Expansion).Die erste Extensions- und Expansionswelle20wurde durch die seefahrerischen +Entdeckungen*<strong>der</strong> frühen Neuzeit e<strong>in</strong>geleitet, als man zudem begann, die Erde als +Globus* aufzufassen. 21


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 75Motivation des damals sich entgrenzenden merkantilen Kapitalismus war <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie dieE<strong>in</strong>fuhr von Luxusartikeln wie Gewürzen, Seide, Porzellan etc. (vgl. z.B. Rosecrance: Derneue Handelsstaat; S. 83ff.), und er wurde begleitet von den imperialen Ambitionen <strong>der</strong>Seefahrernationen (imperialer Kolonialismus). Die zweite Extensions- und Expansionswelleerfolgte im Kontext des fortgeschrittenen Kolonialismus im 18. und vor allem im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t(siehe auch Übersicht 1; S. 76). Die Inklusion <strong>der</strong> unterworfenen Gebiete <strong>in</strong> das Wirtschaftsgeflecht<strong>der</strong> kolonialen +Mutterstaaten* trug (wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit) die Form e<strong>in</strong>er MenschenundRessourcenausbeutung, war jedoch um die Komponente e<strong>in</strong>es oktroyierten Imports von(halb-)<strong>in</strong>dustriellen Fertigwaren erweitert.22Insbeson<strong>der</strong>e dieses Faktum ist vermutlich fürdas im Vergleich zum Weltsozialprodukt übermäßig starke Anwachsen des <strong>in</strong>ternationalenHandels zwischen dem Jahr 1820 und dem Beg<strong>in</strong>n des ersten Weltkriegs verantwortlich (vgl.Maddison: Phases of Capitalist Development; Tab. 4.9, S. 91). 23Das damals durch direkte Gewalt etablierte Muster e<strong>in</strong>es +ungleichen Tauschs* (Emmanuel) 24prägte auch die postkoloniale Ära nach dem 2. Weltkrieg, so daß man hier von e<strong>in</strong>em (ökonomisch)transformierten Kolonialismus sprechen kann – denn die ehemaligen Kolonien warenim Rahmen <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Arbeitsteilung strukturell benachteiligt, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ungünstigenVerhältnis <strong>der</strong> +terms of trade*25manifestierte. Ich möchte auf diesen Aspekt im Augenblickjedoch nicht weiter e<strong>in</strong>gehen. Er wird bei <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> Frage nach den ideologischenMomenten des Globalisierungsbegriffs noch e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielen (siehe S. 82–89).Zunächst soll zur Verdeutlichung <strong>der</strong> Dimension <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung nur dieweitere allgeme<strong>in</strong>e Entwicklung kurz beleuchtet werden.Bis zum Beg<strong>in</strong>n des 1. Weltkriegs wuchs <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationale Handel, wie angemerkt, überproportionalim Vergleich zur Gesamtwirtschaft und erreichte Zuwachsraten zwischen 3,8%und 5,5% p.a. (vgl. Gordon: The Global Economy; Tab. 4b, S. 43). Die beiden Weltkriegeund die dazwischenliegende große Depression führten dann zur drastischen Verlangsamungund teilweisen Umkehrung dieses Prozesses (vgl. ebd.). Wie man sieht, ist die ökonomischeGlobalisierung also ke<strong>in</strong> l<strong>in</strong>earer und kont<strong>in</strong>uierlicher Prozeß, son<strong>der</strong>n unterliegt Schwankungenund Verwerfungen. Nach dem 2. Weltkrieg erfolgte jedoch wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> regelrechter Export-Boom,und es kam (nach dem Scheitern autozentrischer Entwicklungsmodelle) zur immer engeren(allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>esfalls gleichberechtigten) E<strong>in</strong>beziehung auch <strong>der</strong> peripheren Ökonomien,weshalb ich für diese Zeit von e<strong>in</strong>er neuerlichen, <strong>der</strong> dritten Extensions- und Expansionswelle


76 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEÜbersicht 1: Wellen <strong>der</strong> Extension und Expansion1. Merkantiler Kapitalismus und imperialer Kolonialismus (16. bis 18. Jahrhun<strong>der</strong>t)2. Semi-<strong>in</strong>dustrieller Kapitalismus und fortgeschrittener Kolonialismus des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts3. Industrieller Kapitalismus und transformierter Kolonialismus des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts4. <strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrieller und globalisierter Kapitalismus des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts?sprechen möchte. Mit e<strong>in</strong>em durchschnittlichen Wachstum von 7,8% p.a. zwischen 1948und 1973 wuchs <strong>der</strong> Welthandel sogar noch stärker als vor dem ersten Weltkrieg (Zahl errechnetnach ebd.). Dieses +Goldene Zeitalter* des <strong>in</strong>ternationalen Handels (Maddison)26hatte jedochmit dem Ölschock zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> 70er Jahre e<strong>in</strong> jähes Ende, und das durchschnittliche Exportwachstumsank zwischen 1973 und 1984 auf magere 3,2% p.a. ab (vgl. ebd.).Trotzdem stieg die Außenhandelsquote (im gewichteten Durchschnitt aller Län<strong>der</strong>) auch zwischen1960 und 1980 kont<strong>in</strong>uierlich. In Westeuropa überschritt sie sogar die 25%-Marke, was e<strong>in</strong>erSteigerung um 50% gleich kommt. Erst seit Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre ist allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong> leichterE<strong>in</strong>bruch festzustellen (vgl. Globale Trends 93/94; Abb. 4, S. 210). Das spricht für e<strong>in</strong>e zwarnicht mehr zunehmende, aber <strong>in</strong>sgesamt enorme Bedeutung des <strong>in</strong>ternationalen Handels,<strong>der</strong> nach <strong>der</strong> Stagnationsphase <strong>in</strong>folge des Ölschocks nicht nur wie<strong>der</strong> an Dynamik zugenommenhat (1992 betrug das Handelswachstum 4,7%),27son<strong>der</strong>n jetzt auch e<strong>in</strong>en tatsächlich globalenMarkt umfaßt. Denn durch den politischen Umbruch <strong>in</strong> den meisten sozialistischen Staaten,die stark vom Rest <strong>der</strong> Weltwirtschaft abgekoppelt waren und nur ca. 10% Prozent des Welthandels(vorwiegend unter sich) abwickelten (siehe Tab. 5, S. 86), ist es seit 1989 zu e<strong>in</strong>ernochmaligen Rahmenerweiterung gekommen – auch wenn die (welt)ökonomische Bedeutung<strong>der</strong> meisten postsozialistischen Transformationsstaaten <strong>der</strong>zeit marg<strong>in</strong>al ist. 28Der sich entgrenzende Handel stellt jedoch nur e<strong>in</strong>e Ebene <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierungdar (siehe Übersicht 2, S. 78). Zudem verläuft die Abwicklung des <strong>in</strong>ternationalen Handels(noch immer) nicht ungeh<strong>in</strong><strong>der</strong>t und stößt auf protektionistische Maßnahmen durch diesouveränen Staaten zum Schutz ihrer nationalen Produktion. Denn <strong>der</strong> anfängliche Kapitalismus<strong>der</strong> freien Konkurrenz (unter den Industrienationen), <strong>der</strong> laut Karl Polanyi durch e<strong>in</strong> Systemdes Kräftegleichgewichts, den <strong>in</strong>ternationalen Goldstandard sowie die Selbstregulation desMarktes im liberalen Staat ermöglicht wurde, stellte letztendlich e<strong>in</strong>e nicht auf Dauer realisierbare


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 77+Utopie* dar, und man ergriff zwangsläufig Mittel gegen den zerstörerischen Wildwuchs desMarktes, <strong>der</strong> nicht nur die natürliche, son<strong>der</strong>n auch die soziale Basis <strong>der</strong> Gesellschaft zu vernichtendrohte (vgl. The Great Transformation; S. 17f.).29Konträr zu Polanyi, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Beh<strong>in</strong>-<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> ökonomischen Entwicklung durch die Interventionsversuche des Staates befürchtete,heben sozialistisch orientierte Autoren eher die +Erfolge* dieser <strong>Politik</strong> hervor und sprechenfür die postliberale Ära <strong>der</strong> <strong>in</strong>terventionistisch transformierten Marktwirtschaft im 20. Jahrhun<strong>der</strong>tvom organisierten bzw. Staatsmonopolkapitalismus (vgl. Kocka: Organisierter Kapitalismuso<strong>der</strong> Staatsmonopolistischer Kaptalismus?).30Im +organisierten Kapitalismus* (Hilferd<strong>in</strong>g) über-nimmt nicht nur <strong>der</strong> Staat die Regulation des Marktes, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Klassengegensatz ist durchdas +sozialpartnerschaftliche* System von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden solchermaßen<strong>in</strong>stitutionalisiert, daß dem Klassenkampf die Spitze genommen wird.31E<strong>in</strong>e (begrenzte)wohlfahrtsstaatliche Umverteilung schafft dafür die materielle Basis.Fassen wir also noch e<strong>in</strong>mal zusammen und betrachten wir die Folgen für den <strong>in</strong>ternationalenHandel: Die Klammer des durch e<strong>in</strong>e begrenzte Umverteilung erkauften und auch dem Kapitaldienlichen sozialen Friedens ist <strong>der</strong> (National-)Staat, <strong>der</strong>, um diese Funktion erfüllen zu können,se<strong>in</strong>e Grenzen nach außen auch ökonomisch sichern muß. Schließlich können die Mittelfür die wohlfahrtsstaatliche Grundsicherung nur durch die (maßvolle) Besteuerung des nationalenKapitals bereitgestellt werden. Zum Schutz dieses nationalen Kapitals und da sich fremdesKapital nicht direkt besteuern läßt, versuchte man deshalb, die Reichweite des staatlichenGewaltmonopols durch Zölle und Kont<strong>in</strong>gentierungen künstlich zu verlängern.Doch was lange Zeit <strong>der</strong> Entwicklung des Kapitalismus diente, begann, als die Grenze desauf dieser Basis möglichen Wachstums erreicht war, se<strong>in</strong>e Entfaltung zu beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Instrumentewie das 1947 geschlossene +General Agreement on Trade and Tarifs* (GATT), das mittlerweileschon mehrere Erweiterungen erfahren hat und dem <strong>in</strong>zwischen weit über 100 Staaten beigetretens<strong>in</strong>d (1994 waren es 125),32setzten hier zwar politisch an und versuchten e<strong>in</strong>e Liberali-sierung des Welthandels durch die Festschreibung des Abbaus von Zöllen und E<strong>in</strong>fuhrbeschränkungensowie durch die sog. +Meistbegünstigungsklausel*33herbeizuführen. In <strong>der</strong>Praxis än<strong>der</strong>te sich aber wenig. Der freie Welthandel blieb Theorie. In <strong>der</strong> Tat griff man nunzwar nicht mehr so leicht zum Mittel direkter Zölle, doch viele Staaten versuchten durchden Aufbau nicht-tarifärer Handelsh<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse (wie z.B. spezifische technische Normen o<strong>der</strong>Verbote von bestimmten Inhaltsstoffen <strong>in</strong> Nahrungsmitteln) das GATT-Abkommen zu unterlaufen.


78 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEÜbersicht 2: Ebenen <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung1. Internationalisierung des Handels (kennzeichnet die Wellen 1 und 2)2. Transnationalisierung <strong>der</strong> Konzerne und Zunahme <strong>der</strong> Direkt<strong>in</strong>vestitionen (ab Welle 3)3. Globalisierung <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzmärkte (stellt möglicherweise den Übergang zur Welle 4 dar)4. Globale Tertiärisierung? (Welle 4)Das gilt gerade für stark exportabhängige Ökonomien wie die USA und die Län<strong>der</strong> Westeuropas,die angesichts <strong>der</strong> verstärkten <strong>in</strong>ternationalen Konkurrenz durch die aufstrebenden NICs (newly<strong>in</strong>dustrializ<strong>in</strong>g countries) <strong>in</strong> Bedrängnis gekommen s<strong>in</strong>d (vgl. hierzu z.B. Franzmeyer: Vorteilfür alle?; S. 247–250).Die Staatengrenzen versperrten dem Handels-Kapital also auch nach dem GATT-Abkommenden Weg. Es wurden darum von den Unternehmen Wege gesucht, die nationalen Barrierenzu überw<strong>in</strong>den, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit entstanden vermehrt mult<strong>in</strong>ationale Konzerne,die ihr Operationsfeld nicht alle<strong>in</strong>e durch <strong>in</strong>ternationalen Handel ausdehnten, son<strong>der</strong>n auchProduktionsableger und Tochtergesellschaften <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Staaten gründeten. Solche Direkt<strong>in</strong>vestitionens<strong>in</strong>d vor allem dann <strong>in</strong>teressant, wenn sie es dem e<strong>in</strong>gesetzten Kapital erlauben,höhere Surplusraten zu realisieren, als dies im nationalen Kontext möglich wäre (vgl. hierzuBusch: Die mult<strong>in</strong>ationalen Konzerne; S. 96–106).E<strong>in</strong> Blick auf die betreffenden Zahlen vermittelt e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>drückliches Bild: Die Bestandswerte<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> G7-Staaten an Direkt<strong>in</strong>vestitionen (zusammen werden <strong>in</strong> ihnen ca. 80% gehalten)stiegen alle<strong>in</strong>e zwischen 1976 und 1990 von 239 auf 1.395 Milliarden US-Dollar, wobeidas rasanteste Wachstum Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre stattfand (vgl. Globale Trends 93/94; S. 211).Obwohl <strong>der</strong> Großteil des Kapitals <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> reichen Industriestaaten verbleibt, könnenneuerd<strong>in</strong>gs auch e<strong>in</strong>ige Entwicklungslän<strong>der</strong>, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> Asien und Late<strong>in</strong>amerika, vondiesem Trend profitieren (siehe hierzu auch S. 86).Interessant ist ferner die Tatsache, daß das Wachstum <strong>der</strong> mult<strong>in</strong>ationalen Konzerne <strong>in</strong> denletzten Jahren im Durchschnitt <strong>in</strong> etwa doppelt bis dreimal so groß gewesen ist wie das<strong>in</strong>dustrielle Wachstum <strong>in</strong> ihren +Mutterstaaten* (vgl. Mulhearn: Changes and Development<strong>in</strong> the Global Economy; Tab. 7.14, S. 187). Die größten <strong>der</strong> +Multis* übertreffen sogar kle<strong>in</strong>ereNationalökonomien an Kapitalvolumen. In den letzten Jahren hat sich allerd<strong>in</strong>gs die Struktur


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 79des <strong>in</strong>ternationalen Engagements <strong>der</strong> großen Firmen geän<strong>der</strong>t. Immer weniger werden direkteKonzernableger o<strong>der</strong> Tochtergesellschaften gegründet, son<strong>der</strong>n (risikoärmere) jo<strong>in</strong>t ventures(Kooperationen mit ansässigen Unternehmen) o<strong>der</strong> Lizenzabkommen etc. werden e<strong>in</strong>gegangenbzw. getroffen (vgl. ebd.; S. 185). Vergleicht man die Aufteilung <strong>der</strong> Direkt<strong>in</strong>vestitionen aufdie verschiedenen Branchen, so ergibt sich auch e<strong>in</strong> verschobenes Gewicht: Machten Investitionen<strong>in</strong> <strong>der</strong> verarbeitenden Industrie 1976 noch ca. 45% aus, so sank dieser Anteil bis 1990auf ca. 33% ab. Investitionen im F<strong>in</strong>anzwesen und <strong>der</strong> Dienstleistungsbranche nahmen dagegenerheblich zu. Ihre Anteile an den getätigten Auslands<strong>in</strong>vestitionen steigerten sich von 11,3%auf 24,0% (F<strong>in</strong>anzwesen/Banken) bzw. von 1,2% auf 8,1% (Dienstleistungen). (Vgl. Menzel:Die neue Weltwirtschaft; Tab. 5, S. 36)Der beschriebene Trend zur Transnationalisierung <strong>der</strong> Konzerne unterm<strong>in</strong>iert <strong>in</strong> gewisser Weisedie Grundlage des organisierten Kapitalismus, weshalb Lash und Urry sogar von se<strong>in</strong>em Endesprechen und darauf verweisen, daß <strong>der</strong> Welthandel immer weniger den Charakter e<strong>in</strong>es<strong>in</strong>ternationalen Handels trägt, son<strong>der</strong>n schon heute mit e<strong>in</strong>em Anteil von bis zu 45% alle<strong>in</strong>ezwischen und <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> mult<strong>in</strong>ationalen Konzerne abgewickelt wird (vgl. The End ofOrganized Capitalism; S. 197). Sie machen ihre vielfach aufgegriffene These aber natürlichnicht alle<strong>in</strong>e hieran fest, son<strong>der</strong>n führen zum Beleg unter an<strong>der</strong>em auch die s<strong>in</strong>kenden E<strong>in</strong>flußmöglichkeiten<strong>der</strong> Staaten auf das Marktgeschehen an, da das Potential e<strong>in</strong>er nationalenF<strong>in</strong>anzpolitik im global vernetzten F<strong>in</strong>anzmarkt <strong>der</strong> Gegenwart stark e<strong>in</strong>geschränkt ist (vgl.ebd.; S. 201–209).Selbst <strong>in</strong> den wirtschaftlich mächtigen Vere<strong>in</strong>igten Staaten s<strong>in</strong>kt die Fähigkeit zur Intervention.Ihre ehemals hegemoniale Stellung, die u.a. auf <strong>der</strong> marktbeherrschenden Stellung e<strong>in</strong>igeramerikanischer Unternehmen (wie z.B. IBM <strong>in</strong> <strong>der</strong> Computerbranche) beruhte, hat abgenommen.Vor allem die Festsetzung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong> Gold konvertiblen US-Dollars als <strong>in</strong>ternationale Leitwährungim Zuge des Abkommens von Bretton Woods (1944) garantierte nicht nur lange Zeit stabileWechselkurse, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e amerikanische Vorherrschaft im <strong>in</strong>ternationalen F<strong>in</strong>anzsystem(vgl. hierzu auch Mitchel: Nature and Government of the Global Economy; S. 183ff.).dann aber die zunehmende Staatsverschuldung 1971 die US-Regierung zwang, den Dollarabzuwerten sowie die Konvertibilität des Dollars <strong>in</strong> Gold aufzukündigen,3534Alsverstärkte diesden sich schon zuvor abzeichnenden Trend zur Liberalisierung und Diversifizierung des <strong>in</strong>ternationalenF<strong>in</strong>anzmarkts, wobei private Banken e<strong>in</strong>e immer größere Rolle spielten und die


80 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEGewichte sich zugunsten Westeuropas und Japans verschoben (vgl. Frieden: Bank<strong>in</strong>g on theWorld; S. 87ff.).Ob es sich deshalb schon um das Ende des organisierten Kapitalismus handeln muß, ist me<strong>in</strong>erMe<strong>in</strong>ung nach jedoch fraglich. Auch Claus Offe, auf den sich Lash und Urry beziehen, wolltemit se<strong>in</strong>em Begriff des desorganisierten Kapitalismus ke<strong>in</strong>e explizite Gegenthese zum Modelldes organisierten Kapitalismus formulieren, son<strong>der</strong>n nur e<strong>in</strong>e heuristische Basis schaffen, von<strong>der</strong> aus die Frage nach dem Verhältnis zwischen sozialer Macht und politischer Autoritätneu gestellt werden kann (vgl. Disorganized Capitalism; S. 6). Und selbst wenn vielleicht<strong>der</strong> staatlich organisierte Kapitalismus e<strong>in</strong> Modell mit schw<strong>in</strong>den<strong>der</strong> Zukunft darstellt, so hatsich e<strong>in</strong> selbstorganisierter Kapitalismus e<strong>in</strong> eigenes, vom Nationalstaat abgekoppeltes System<strong>der</strong> Sicherung geschaffen, das zwar äußerst labil und zerbrechlich, aber trotzdem effektivist und genau auf <strong>der</strong> oben angesprochenen <strong>in</strong>ternationalen F<strong>in</strong>anzverflechtung beruht. DasZerreißen dieses Netzes würde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat sehr wahrsche<strong>in</strong>lich zum allgeme<strong>in</strong>en und schlagartigenKollaps des <strong>in</strong>ternationalen F<strong>in</strong>anzsystems führen,36doch kompensiert die Geschw<strong>in</strong>digkeit<strong>der</strong> Transaktionen und ihre globale Streuung die vormals, unter den Bed<strong>in</strong>gungen des nationalstaatlichorganisierten Kapitalismus, gegebene Berechenbarkeit – jedenfalls so lange wirklichernste und lange andauernde Krisensituationen ausbleiben.Was sich hier abzeichnet, bedeutet möglicherweise den Übergang zu e<strong>in</strong>er neuen Ära desimmateriellen Tauschs. Begriffe wie +Entstofflichung* (Menzel) o<strong>der</strong> +symbolische Ökonomie*(Neyer) versuchen, dem Ausdruck zu verleihen. Die immateriellen Tendenzen des Spätkapitalismussollten, wie bereits oben angedeutet (siehe S. 74), jedoch nicht darüber h<strong>in</strong>wegtäuschen,daß jede Ökonomie e<strong>in</strong>e materielle Basis benötigt. Die symbolische Ökonomie des Geldesals Abstraktionsform <strong>der</strong> +realen* Kapitalien kann den materiellen Tausch nicht ersetzen.Allerd<strong>in</strong>gs ist sie auf dem besten Weg zur dom<strong>in</strong>anten Form <strong>der</strong> Mehrwertakkumulation zuwerden. Der Anteil <strong>der</strong> durch re<strong>in</strong>e Kapitalgeschäfte <strong>in</strong>ternational erwirtschafteten Gew<strong>in</strong>nestieg zwischen 1961 und 1993 von 7% auf 19% an,37und <strong>der</strong> tägliche Umsatz an den F<strong>in</strong>anz-märkten hat das Volumen von e<strong>in</strong>er Billion Dollar erreicht (vgl. Neyer: Globaler Markt undterritorialer Staat; S. 295ff.). Dabei spielen <strong>der</strong>ivative F<strong>in</strong>anz<strong>in</strong>strumente (Optionen, Futures,Swaps etc.) seit Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre e<strong>in</strong>e immer bedeuten<strong>der</strong>e Rolle, und sowohl <strong>der</strong> Anteil+offizieller* Gel<strong>der</strong> wie <strong>der</strong> Prozentsatz längerfristiger Investitionen sank erheblich (vgl. Alworth/-Turner: The Global Patterns of Capital Flows <strong>in</strong> the 1980s; S. 125f.).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 81E<strong>in</strong>e wichtige Voraussetzung für diese Entwicklung war die Schaffung neuer Kommunikationstechnologien,was e<strong>in</strong>e rasche Abwicklung <strong>der</strong> weltweiten Transaktionen ermöglichte (vgl.McKenzie/Dwight: Quicksilver Capital; S. 58ff.). Technologische Innovationen bilden auchdie Grundlage für die zunehmende Bedeutung des <strong>in</strong>ternationalen Handels mit Dienstleistungen(vgl. hierzu Sauvant: Services and Data Service).38Der allgeme<strong>in</strong>e Trend zu e<strong>in</strong>er wissensbasiertenDienstleistungsgesellschaft wurde ja schon im Rahmen <strong>der</strong> Diskussion um die post<strong>in</strong>dustrielleGesellschaft zum Gegenstand <strong>der</strong> Darstellung. Die diesbezüglichen Thesen Daniel Bells (sieheS. LIVf.) können auch auf globalen Maßstab ausgedehnt werden, obwohl sie noch eher projektivenCharakter hatten, als er sie (1973) aufstellte. Bell war allerd<strong>in</strong>gs nicht <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong>die Dienstleistungen <strong>in</strong>s Zentrum <strong>der</strong> Ökonomie rücken sah, son<strong>der</strong>n bereits Fourastié hatte(1963) weitere Wachstumsmöglichkeiten hauptsächlich im tertiären Sektor gesehen, nachdem(<strong>in</strong> den Industriestaaten) die fortgeschrittene Sättigung mit <strong>in</strong>dustriellen Gütern die Wachstumspotentialeim sekundären Sektor begrenzt (vgl. Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts;S. 241ff.).Was damals weitgehend Theorie war, ist heute zur bitteren Wirklichkeit für viele produzierendeUnternehmen geworden. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge gezwungen, sich ihre Marktchancen durchdie Umstellung von fordistischer Massenproduktion auf neue, <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Marktlageangepaßte Produktionsmethoden zu sichern. Innerhalb des gleichzeitig globalisierten undfragmentisierten Marktes muß nämlich schnell und flexibel auf zunehmend <strong>in</strong>dividualisierteKonsumbedürfnisse reagiert werden. Lash und Urry sprechen deshalb von +flexible specialization*(vgl. The End of Organized Capitalism; S. 199). David Harvey, <strong>der</strong> zu ganz ähnlichen Schlußfolgerungengelangt, hat sich dagegen für die Bezeichnung +flexible accumulation* entschieden,um diesem Wandel begrifflichen Ausdruck zu verleihen (vgl. The Condition of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity;39S. 147). In ihrer neuesten Arbeit betonen Lash und Urry jedoch, daß beide Begriffe – genausowie die Rede vom <strong>Post</strong>-Fordismus – die aktuellen ökonomischen Verhältnisse nur ungenügendspiegeln: Denn diese seien durch die immer zentralere Rolle von Information und Wissen(auch im Produktionssektor) gekennzeichnet. Deshalb schlagen sie nunmehr die Bezeichnung+reflexive accumulation* vor, welche die aktuelle Entwicklung ihrer Me<strong>in</strong>ung nach am bestenzu fassen vermag (vgl. Economies of Signs and Space; S. 60ff.).Doch wie weit ist die oben angesprochene Tertiärisierung <strong>der</strong> Wirtschaft tatsächlich fortgeschritten?– Ulrich Menzel hat hierzu <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em schon mehrfach zitierten Aufsatz +Die neue


82 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEWeltwirtschaft* (1994) aufschlußreiches Zahlenmaterial zusammengestellt: Betrachtet mandie Weltökonomie <strong>in</strong>sgesamt, so zeigt sich, daß <strong>der</strong> Anteil des tertiären Sektors am Sozialproduktvon 1960 bis 1989 von 52,3% auf 64% angestiegen ist. Allerd<strong>in</strong>gs ergeben sich erheblicheUnterschiede zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Staaten. Am weitesten ist <strong>der</strong> Tertiärisierungsprozeß<strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten fortgeschritten. Dort erreichte 1989 <strong>der</strong> Anteil des tertiären Sektorsam BIP (Brutto<strong>in</strong>landsprodukt) 73,1% und hat mittlerweile voraussichtlich bereits die 80%-Markeüberschritten. Die Bundesrepublik (53,6%) und Japan (59,3%) hatten dagegen im selben Jahrnoch nicht e<strong>in</strong>mal den Tertiärisierungsgrad <strong>der</strong> USA von 1960 erreicht (dieser betrug 59,7%),aber auch hier zeigte sich e<strong>in</strong> deutliches Wachstum <strong>der</strong> Bedeutung des tertiären Sektors. 40Dies trifft selbst auf die meisten Entwicklungslän<strong>der</strong> zu. +Schwellenökonomien* wie Brasilien(66,5%) o<strong>der</strong> Mexiko (60,9%) zeigen sogar höhere Raten als viele Industriestaaten. (Vgl. dortTab. 1, S. 36) 41Doch nicht nur im nationalen Kontext werden tertiäre Aktivitäten zum (primär) bedeutendenWirtschaftsfaktor. Auch e<strong>in</strong> immer größerer Anteil <strong>der</strong> ausländischen Direkt<strong>in</strong>vestitionen wirdim Dienstleistungssektor getätigt, worauf ja bereits h<strong>in</strong>gewiesen wurde (siehe S. 79). Zudemwerden Dienstleistungen zunehmend global gehandelt. E<strong>in</strong> Beispiel dafür ist die blühendeSoftware-Industrie im <strong>in</strong>dischen Bangalore, wo für ausländische Auftraggeber <strong>in</strong>zwischen nichtnur e<strong>in</strong>fache Buchhaltungsaufgaben übernommen, son<strong>der</strong>n eigenständig Programme entwickeltwerden (vgl. z.B. Fischermann: Die Juppies von Bangalore).42Allerd<strong>in</strong>gs ist darauf h<strong>in</strong>zuweisen,daß <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Dienstleistungen am Export zwischen 1961 und 1991 von fast 20% aufca. 16% zurückg<strong>in</strong>g (vgl. Globale Trends 93/94; Schaubild 3, S. 210), was jedoch nicht heißt,daß auch die absoluten Zahlen e<strong>in</strong>en Abwärtstrend aufweisen. Tatsächlich wuchs <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationaleHandel mit Dienstleistungen <strong>in</strong> den 80er Jahren sogar stärker als <strong>der</strong> Warenhandel(vgl. Sauvant: The Tradability of Services; S. 114). 43Alle beschriebenen Entwicklungen zusammengenommen, bedeutet ökonomische Globalisierungalso nicht nur e<strong>in</strong>en quantitativen Anstieg <strong>der</strong> transnationalen Wirtschaftsbeziehungen. Siegeht als Globalisierung <strong>der</strong> zweiten, dritten und vierten Stufe auch mit e<strong>in</strong>em qualitativenWandel e<strong>in</strong>her: Vom Warenhandel zu Direkt<strong>in</strong>vestitionen, vom Warenhandel zu F<strong>in</strong>anzspekulationenund vom Warenhandel zum Handel mit Dienstleistungen.Ziel dieser Betrachtung ist es jedoch nicht alle<strong>in</strong>e, die Dimension(en) ökonomischer Globalisierungvor Augen zu führen, son<strong>der</strong>n zu klären, ob und <strong>in</strong>wieweit die politische Entwicklung


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 83den ökonomischen Transformationsprozessen h<strong>in</strong>terherh<strong>in</strong>kt. Bevor dies aber durch e<strong>in</strong>e Analyse<strong>der</strong> politischen (Welt-)Strukturverän<strong>der</strong>ungen geschehen kann, sollte man sich bewußt machen,daß Globalisierung als Begriff auch e<strong>in</strong> erhebliches ideologisches Moment be<strong>in</strong>haltet und,als ökonomischer Angleichungsprozeß verstanden, durchaus fraglich ist (vgl. z.B. Hirst/Thompson:Globalization <strong>in</strong> Question).44Allzu häufig verdeckt die Rede von <strong>der</strong> Globalisierung nur dieanhaltende ungleiche regionale Entwicklung und dient überdies als willkommene (neoliberale)Rechtfertigung für den Abbau des Sozialstaats, da angesichts <strong>der</strong> globalisierten Märkte dienationale Wirtschaft angeblich nur durch drastische E<strong>in</strong>schnitte <strong>in</strong>s soziale Netz konkurrenzfähigzu erhalten sei (vgl. hierzu auch Borchert: Sozialstaat unter Druck). 45Bisher wurde hier ökonomische Globalisierung also vere<strong>in</strong>fachend weitgehend ohne die Berücksichtigungbestehen<strong>der</strong> regionaler Disparitäten dargestellt. Diese zunächst durchaus s<strong>in</strong>nvolle,die Verlaufsdynamik herausstellende Beschränkung erzeugte jedoch, wie angemerkt, e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>seitiges und +falsches* Bild des stattf<strong>in</strong>denden Globalisierungsprozesses, da dieser nichthomogen und egalisierend, son<strong>der</strong>n heterogen und hierarchisierend verläuft. Das entstandeneverzerrte Bild muß nun durch e<strong>in</strong>e räumlich differenzierende Analyse korrigiert und ergänztwerden. Dazu ist e<strong>in</strong> Rückgriff auf die von Wallerste<strong>in</strong> getroffene Unterscheidung zwischenZentrum, Semiperipherie und Peripherie s<strong>in</strong>nvoll:Die Zentrumsnationen s<strong>in</strong>d laut Wallerste<strong>in</strong> kulturell hoch <strong>in</strong>tegriert (weshalb er hier auchan<strong>der</strong>s als bei Peripherie und Semiperipherie den Begriff +Nationen* verwendet), haben siche<strong>in</strong>e effiziente Staatsmasch<strong>in</strong>erie geschaffen und können (deshalb) auch e<strong>in</strong>en hohen ökonomischen+Entwicklungsstand* aufweisen. Die peripheren Gebiete verfügen dagegen nurüber e<strong>in</strong>e schwache kulturelle Integration wie politische Organisation, was se<strong>in</strong>e Ursacheim (Neo-)Kolonialismus <strong>der</strong> Zentrumsnationen hat, von <strong>der</strong>en Wirtschaftssystem die Ökonomie<strong>der</strong> Peripherie stark abhängig ist. Die Semiperipherie nimmt bezüglich ihrer kulturellen, politischenund ökonomischen Entwicklung e<strong>in</strong>e Mittelposition e<strong>in</strong>, doch stellt sie nicht e<strong>in</strong>fache<strong>in</strong>e Verlegenheitskategorie dar, son<strong>der</strong>n sie ist e<strong>in</strong> notwendiges strukturelles Element imSystem <strong>der</strong> kapitalistischen Weltökonomie, da sie auf <strong>der</strong> Weltebene e<strong>in</strong>e ähnliche +Pufferrolle*spielt wie die Mittelschichten im kapitalistischen Staat. (Vgl. The Mo<strong>der</strong>n World-System; S.349f.) 46Diese Dreiteilung <strong>in</strong> Peripherie, Semiperipherie und Zentrum ist sicher vere<strong>in</strong>fachend,externe Faktoren s<strong>in</strong>d bei <strong>der</strong> Analyse von Ungleichheit, an<strong>der</strong>s als Wallerste<strong>in</strong>s theoretische47und


84 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEImplikationen dies nahelegen, immer <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit <strong>in</strong>ternen Faktoren zu untersuchen(vgl. hierzu auch Bradshaw/Wallace: Global Inequalities; S. 53–57). Zudem f<strong>in</strong>den sich zunehmendhorizontale Netzwerke (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e nichtstaatlicher Akteure), die die vertikale Weltstrukturüberformen. Deshalb ist Mittelman zuzustimmen, wenn er bemerkt:+Varied regional divisions of labour are emerg<strong>in</strong>g, tethered <strong>in</strong> different ways to global structures, eachone engaged <strong>in</strong> unequal transactions with world centres of production and f<strong>in</strong>ance and presentedwith dist<strong>in</strong>ctive development possibilities.* (Reth<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g the International Division of Labour <strong>in</strong> the Contextof Globalisation; S. 279)An<strong>der</strong>erseits bietet Wallerste<strong>in</strong>s Modell e<strong>in</strong>en analytischen und heuristischen Bezugsrahmen,<strong>der</strong> es e<strong>in</strong>em erlaubt, die aktuelle Charakteristik des Globalisierungsprozesses als e<strong>in</strong>e Entwicklungzur Ungleichheit zu erkennen, was für Wolf-Dieter Narr und Alexan<strong>der</strong> Schubert sogar den+sozialen Kern* <strong>der</strong> Globalisierung (im Rahmen e<strong>in</strong>er kapitalistisch ausgerichteten Weltökonomie)ausmacht:+Ungleichheitsproduktion – das ist <strong>der</strong> soziale Kern des Transnationalisierungsprozesses. Die globalenFragmentisierungen s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong> zufälliges Ereignis <strong>der</strong> Weltökonomie, die durch ›richtige Wirtschaftspolitik‹zu überw<strong>in</strong>den wären. Der transnationalen E<strong>in</strong>heit globaler Produktions-, Dienstleistungs-, HandelsundF<strong>in</strong>anzierungsprozesse stehen millionenfach aufgesplitterte Schicksale <strong>der</strong> davon Ausgegrenztengegenüber […] Jenseits von Profit- und Machtkriterien werden ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>en gesellschaftlichen Werteals Bestandteil <strong>der</strong> Effizienzprüfung zugelassen.* (Narr/Schubert: Weltökonomie; S. 43)Doch ist diese +harte* Aussage von Narr und Schubert durch +harte* empirische Fakten zubelegen? – Das verfügbare Zahlenmaterial bietet dafür tatsächlich e<strong>in</strong>ige Anhaltspunkte. 48E<strong>in</strong> Blick auf die Entwicklung des pro-Kopf-E<strong>in</strong>kommens zeigt z.B., daß die Schere zwischenarmen und reichen Län<strong>der</strong>n immer weiter ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>geht. War das durchschnittliche pro-Kopf-E<strong>in</strong>kommen des reichsten Fünftels (gemessen am Bruttosozialprodukt) 1970 noch knapp 32mal größer als im ärmsten Fünftel, so war es Ende <strong>der</strong> 80er Jahre schon fast 55 mal höher(siehe Tab. 3).Wenn man die absoluten Zahlen betrachtet, so ergibt sich e<strong>in</strong> noch erschrecken<strong>der</strong>es Bild:In den armen Län<strong>der</strong>n (low <strong>in</strong>come economies) betrug das Durchschnittse<strong>in</strong>kommen proKopf und Jahr noch 1989 lediglich 330 US-Dollar. In Län<strong>der</strong>n mit mittlerem E<strong>in</strong>kommenstanden e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>wohner (die hohe <strong>in</strong>terne E<strong>in</strong>kommensungleichheit auch hier außer acht


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 85Tabelle 3: Entwicklung <strong>der</strong> E<strong>in</strong>kommensrelation (pro Kopf) zwischen dem reichsten unddem ärmsten FünftelJahr BIP pro Kopf BSP pro Kopf(Verhältnis zwischen dem reichsten und dem ärmsten Fünftel)1970 13,9 31,91980 16 44,71989 17,1 54,5Quelle: Griff<strong>in</strong>/Khan:Globalization and the Develop<strong>in</strong>g World; Tab. 1.1, S. 3 (Orig<strong>in</strong>alquelle: UNDP: Human DevelopmentReport 1992)gelassen) immerh<strong>in</strong> 2.040 US-Dollar zur Verfügung, doch ist selbst dies wenig im Vergleichzu den durchschnittlich 18.330 US-Dollar die e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>wohner aus e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> high <strong>in</strong>comeeconomies zur Verfügung standen (vgl. ebd.; Tab. 1.2, S. 4). Nimmt man e<strong>in</strong>e weitere regionaleDifferenzierung vor und bezieht die aktuelle Entwicklung mit e<strong>in</strong>, so zeigt sich allerd<strong>in</strong>gs,daß es sowohl <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> Entwicklungslän<strong>der</strong> wie <strong>der</strong> Industriestaaten deutlicheUnterschiede zwischen e<strong>in</strong>zelnen Regionen gibt, die sich tendenziell immer weiter verschärfen(siehe Tab. 3).Ansche<strong>in</strong>end hat also die ökonomische Globalisierung bisher zu ke<strong>in</strong>er gerechteren regionalenVerteilung des Welte<strong>in</strong>kommens geführt. E<strong>in</strong> ähnliches Bild zeigt sich, wenn man die Handelsbeziehungenbetrachtet: Der Anteil <strong>der</strong> Entwicklungslän<strong>der</strong> am Welthandel ist, obwohl ihrAnteil an <strong>der</strong> Weltbevölkerung sich nach dem 2. Weltkrieg kont<strong>in</strong>uierlich steigerte und mittlerweileca. 75% beträgt,49über lange Zeit h<strong>in</strong>weg (auf niedrigem Niveau) nahezu konstantgeblieben – genauso wie die Triade Nordamerika-Westeuropa-Japan noch immer ca. 70%des Welthandels für sich vere<strong>in</strong>nahmt (siehe Tab. 5).Trotzdem zeigen sich auch hier erhebliche Unterschiede zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Regionen.Viele ehemalige Ostblockstaaten s<strong>in</strong>d, so kann man aufgrund <strong>der</strong> aktuellen Zahlen behaupten,von <strong>der</strong> Semiperipherie <strong>in</strong> die Peripherie abgesunken und spielen, wie Afrika, im Welthandele<strong>in</strong>e fast verschw<strong>in</strong>dende und z.T. immer noch s<strong>in</strong>kende Rolle.50Auch <strong>in</strong> Late<strong>in</strong>amerika gabes, trotz eigentlich günstiger Ausgangsposition, relative Rückschläge, während gerade e<strong>in</strong>igeasiatische Län<strong>der</strong> (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Ch<strong>in</strong>a sowie die sog. +Tiger-Staaten*51Südostasiens) ihre Positionerheblich verbessern konnten und dicht an das Zentrum herangerückt s<strong>in</strong>d – mit all den damitverbundenen <strong>in</strong>ternen Anpassungsproblemen. 52


86 POLITIK IN DER (POST-)MODERNETabelle 3: Die Entwicklung des jährl. durchschn. pro-Kopf-E<strong>in</strong>kommens nach RegionenRegion 1960–70 1970–80 1980–90 1990–93Welt gesamt 2,6% 2,8% 3,0% 2,4%Industriestaaten gesamt 4,6% 2,9% 1,9% -3,1%• OECD 4,3% 2,6% 2,0% 1.0%• Osteuropa/GUS 5,2% 5,2% 1,3% -11,5%Entwicklungslän<strong>der</strong> gesamt 2,0% 2,8% 3,5% 4,3%• Arabische Staaten 2,0% 3,6% -0,8% -1,3%• Ostasien 2,0% 4,3% 7,2% 10,6%• Late<strong>in</strong>amerika/Karibik 2,9% 3,7% -0,7% 1,0%• Südasien 1,8% 0,7% 3,3% 1,2%• Süd-Ostasien/Pazifik 2,1% 4,1% 2,8% 4,1%• Subsahara 1,4% 0,9% -1,0% -1,2%• LDCs 0,8% -0,1% -0,1% -1,0%Quelle: UNDP: Human Development Report 1996; Tab. 1.3, S. 14E<strong>in</strong> abschließen<strong>der</strong> Blick auf die weltweite Verteilung <strong>der</strong> Direkt<strong>in</strong>vestitionen verfestigt diesesBild. Während die Industrielän<strong>der</strong> lange Zeit mehr als drei Viertel des Investitionskapitalsabsorbierten und Late<strong>in</strong>amerika wie Asien sich e<strong>in</strong>igermaßen behaupten konnten, bildet Afrikahier ebenfalls das traurige Schlußlicht (siehe Tab. 6). Allerd<strong>in</strong>gs hat sich gerade <strong>in</strong> den letztenJahren e<strong>in</strong>iges bewegt: Zwischen 1990 und 1994 erhöhte sich <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Entwicklungslän<strong>der</strong>ngetätigten Direkt<strong>in</strong>vestitionen von 16% auf 40% – wobei aber, wie lei<strong>der</strong> e<strong>in</strong>geschränktwerden muß, wie<strong>der</strong>um fast ausschließlich Ch<strong>in</strong>a, die Tigerstaaten und die late<strong>in</strong>amerikanischenNICs von dieser positiven Entwicklung profitieren konnten (vgl. Globale Trends 1996; S. 161ff.).Diese Befunde zusammengenommen zeigt sich, daß man tatsächlich von e<strong>in</strong>er groben Dreiteilung<strong>in</strong> Peripherie, Semiperipherie und Zentrum sprechen kann, wobei weite Teile Afrikas gewissermaßenals Peripherie <strong>der</strong> Peripherie den Anschluß völlig zu verlieren drohen, das relativstabile Zentrum durch die Triade Nordamerika-Westeuropa-Japan gebildet wird und sichneben Late<strong>in</strong>amerika im südostasiatischen Raum e<strong>in</strong> zweites semiperipheres Subzentrumherausgebildet hat. Erweitert man den Blickw<strong>in</strong>kel nun um die politische Machtkomponente,so fallen allerd<strong>in</strong>gs gewisse +Status<strong>in</strong>konsistenzen* auf. Häufig entspricht nämlich die Wirtschaftskraftke<strong>in</strong>eswegs dem politischen E<strong>in</strong>fluß und umgekehrt. Beispiele dafür s<strong>in</strong>d gerade die


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 87Tabelle 5: Anteile am Welthandel <strong>in</strong> Mrd. US-Dollar und Prozentanteilen (1963–1993)Regionenabsolut1963Prozent1963absolut1973Prozent1973absolut1986Prozent1986absolut1993Prozent1993Entwickelte Staaten 103,6 67,3 406,6 70,8 1475,1 69,6 2.573,3 70,6• Nordamerika 29,6 19,2 95,5 16,6 288,9 13,6 609,9 16,8• Japan 5,5 3,6 36,9 6,4 209,1 9,9 362,2 9,9• Westeuropa 64,2 41,7 258,8 45,1 939,3 44,3 1.601,2 43,9• Sonstige 4,3 2,8 15,4 2,7 37,8 1,8 n.b. n.b.Entwicklungslän<strong>der</strong> 31,6 20,5 109,5 19,0 412,0 19,5 967,2 26,6• Late<strong>in</strong>amerika 11,3 7,3 29,5 5,1 89,5 4,2 159,2 4,4• Asien 8,4 5,5 31,6 5,5 194,0 9,2 593,3 16,3• Mittlerer Osten 5,3 3,4 27,5 4,8 78,5 3,7 123,6 3,4• Afrika 6,6 4,3 20,9 3,6 50,0 2,4 91,1 2,5(Ehem.) Ostblock 18,7 12,1 57,2 10,0 229,5 10,8 100,5 2,8Welt <strong>in</strong>sgesamt 153,9 100,0 573,3 100,0 2.116,6 100,0 3.641,0 100,0Quellen: 1963–86: Mulhearn: Change and Development <strong>in</strong> the Global Economy; Tab. 7.4, S. 162 (Orig<strong>in</strong>alquelle:GATT-Bericht 1987); 1993: eigene Berechnungen auf <strong>der</strong> Grundlage von Globale Trends 1996; Tab. 1, S. 206f.(Orig<strong>in</strong>alquellen: GATT-Berichte 1993 und 1995) sowie Weltbank: Weltentwicklungsbericht 1995; Tab. 13, S. 212;n.b.: nicht berücksichtigtBundesrepublik und Japan, <strong>der</strong>en ökonomisches Gewicht ke<strong>in</strong>en adäquaten Ausdruck imBereich <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> f<strong>in</strong>det, wogegen z.B. <strong>der</strong> politische E<strong>in</strong>fluß Rußlands se<strong>in</strong> wirtschaftlichesPotential doch deutlich übertrifft. +Politisches Kapital* ist, wie <strong>in</strong> Anlehnung an Bourdieu formuliertwerden kann, also nicht ohne weiteres <strong>in</strong> ökonomisches konvertibel, und politischeMacht bietet ke<strong>in</strong>e Gewähr für wirtschaftlichen Erfolg (wenn sie auch sicher hilfreich ist).Die ökonomische Auf- und Abwärtsmobilität e<strong>in</strong>zelner Staaten kann deshalb nur zum Teilmachtpolitisch erklärt werden – <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht wäre also Wallerste<strong>in</strong>s Modell zu überdenken.53Das Zahlenmaterial aus den Tabellen kann jedoch – wie ausgeführt – belegen, daß sich diegrundsätzliche vertikale Struktur des Weltwirtschaftssystems, trotz regionaler Schwerpunktverschiebungen,nicht gewandelt hat und sich e<strong>in</strong>e Entwicklung zuungunsten ausgerechnet<strong>der</strong> schwächsten Ökonomien abzeichnet. Wir haben es also weniger mit e<strong>in</strong>em ökonomischen+global village* (McLuhan)54zu tun, <strong>in</strong> dessen Mitte sich e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samer Marktplatz mit


88 POLITIK IN DER (POST-)MODERNETabelle 6: Die weltweite Verteilung <strong>der</strong> Direkt<strong>in</strong>vestitionen (1988)Staaten/RegionenProzentualer AnteilEntwickelte Staaten <strong>in</strong>sgesamt 78,7%• Vere<strong>in</strong>igte Staaten 27,0%• Großbritannien 9,8%• Deutschland 6,8%• Kanada 8,8%• an<strong>der</strong>e entwickelte Staaten 26,3%Entwicklungslän<strong>der</strong> <strong>in</strong>sgesamt 21,3%• Late<strong>in</strong>amerika/Karibik 9,4%• Asien 9,3%• Afrika 2,5%Quelle: Griff<strong>in</strong>/Khan: Globalization and the Develop<strong>in</strong>g World; Tab. 3.1, S. 29 (Orig<strong>in</strong>alquelle: Weltbank: Global EconomicProspects and the Develop<strong>in</strong>g Countries)gleichberechtigten Zugangschancen bef<strong>in</strong>det, als mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong>seitigen Vernetzung <strong>der</strong> Metropolen. 55Aufgrund ihrer Randständigkeit und fehlen<strong>der</strong> E<strong>in</strong>flußmöglichkeiten hat <strong>der</strong> Weltmarkt fürdie peripheren Regionen den Charakter e<strong>in</strong>es Sachzwangs (vgl. Altvater: Sachzwang Weltmarkt;56S. 11ff.). Doch bleibt dieser Zwang ihnen äußerlich: Sie s<strong>in</strong>d weniger Akteure, denn als+Reakteure* zur Reaktion und Anpassung verdammt. +Globalisierung ist mith<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Phänomen,das [im wesentlichen] e<strong>in</strong>e Strukturverän<strong>der</strong>ung unter den kapitalistischen Hauptlän<strong>der</strong>n ausdrückt*(Bischoff: Globalisierung; S. 4). E<strong>in</strong>ige Autoren schlagen deshalb vor, anstatt von Globalisierunglieber gleich nur von Regionalisierung zu sprechen. So bemerkt beispielsweise HazelJohnson:+If some areas appear to receive more economic attention than others that are similarly endowed,then world markets are not global. This is, <strong>in</strong> fact, the case. Regionalization is a strong force that hasand will cont<strong>in</strong>ue to effect standards of liv<strong>in</strong>g throughout the world.* (Dispell<strong>in</strong>g the Myth of Globalization;S. 1)Vor allem unter den ohneh<strong>in</strong> begünstigten Ökonomien zeichnen sich Schließungstendenzenab, d.h. regionale Freihandelszonen (wie etwa die NAFTA) o<strong>der</strong> stark nach außen abgedichtetetransnationale +B<strong>in</strong>nenmärkte* (wie <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> EG bzw. EU) machen das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong>


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 89die lukrativen Märkte für die Entwicklungslän<strong>der</strong> (und hier speziell die aufstrebenden NICs)57 58immer schwieriger. Zwar gibt es (auf <strong>der</strong> Grundlage des Abkommens von Lomé) für diesog. +AKP-Staaten* (also die ehemaligen europäischen Kolonien <strong>in</strong> Afrika, <strong>der</strong> Karibik unddem Pazifik) e<strong>in</strong> Präferenzsystem, das ihnen e<strong>in</strong>en relativ une<strong>in</strong>geschränkten Zugang zumeuropäischen B<strong>in</strong>nen-Markt sichert, und auch das GATT-Abkommen erlaubt (e<strong>in</strong>seitige)Begünstigungen von ehemaligen Kolonien und den ärmsten Entwicklungslän<strong>der</strong>n. Doch diesestellen, wie die AKP-Staaten, aufgrund ihrer Angebotsstruktur ohneh<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e ernsthafte Konkurrenzfür die Industrienationen dar (vgl. Franzmeyer: Vorteil für alle?; S. 248). Und solltedoch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> tatsächlicher Konkurrent unter ihnen erwachsen, so gibt es vielfältigeprotektionistische Methoden (z.B. den schon angesprochenen Aufbau nicht-tarifärer Schutzwälle),um den eigenen Markt abzudichten (vgl. Bhagwati: Geschützte Märkte; S. 51–61). 59Die Regionalisierungstendenzen haben also vor allem für die semiperipheren NICs <strong>in</strong> Asiennegative Auswirkungen (die sowohl von <strong>der</strong> NAFTA als auch von <strong>der</strong> EG durch Zölle undKont<strong>in</strong>gentierungen ausgeschlossen s<strong>in</strong>d). Deshalb gibt es unter ihnen (im Rahmen <strong>der</strong> ASEAN)ebenfalls Ansätze zur Regionalisierung. Es handelt sich dabei um den Versuch, durch +solidaristischeSchließung* (Park<strong>in</strong>) <strong>der</strong> Ausschließung durch die regionalistische Abdichtung desZentrums entgegenzuwirken. An<strong>der</strong>erseits ist Regionalisierung nicht e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e politischeGegenstrategie auf die ökonomische Globalisierung, son<strong>der</strong>n beide können e<strong>in</strong>e dialektischeSymbiose e<strong>in</strong>gehen – wenn regionale Wirtschaftskooperation erstens als Zwischenschritt zurSchaffung e<strong>in</strong>es globalen Markts verstanden wird und zweitens die regional vernetzte Wirtschaftdiese Stärkung zur Verbesserung ihrer Weltmarktposition nutzt. Dazu Charles Oman:+Globalisation and regionalisation are […] opposites both <strong>in</strong> the sense that one [globalisation] is essentiallya centrifugal process and the other [regionalisation] a centripetal process, and <strong>in</strong> the sense that one[globalisation] is driven by microeconomic forces and the other [regionalisation] is often a politicalprocess. But they are not necessarily antithetical or antagonistic. When regionalisation helps to strengthenthe forces of competition, the two processes tend <strong>in</strong> fact to be mutually re<strong>in</strong>forc<strong>in</strong>g.* (Globalisationand Regionalisation; S. 16) 60Der Fall <strong>der</strong> Regionalisierung beweist also, daß ökonomische Globalisierung von e<strong>in</strong>em politischenProzeß begleitet und geformt wird. Dieser politische Prozeß ist teilweise abhängig,teilweise aber auch unabhängig vom ökonomischen Geschehen, und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Beispiel<strong>der</strong> EU zeigt, daß die Motive für regionale politische Integration, wie auch im obigen Zitat


90 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEOmans angesprochen, nicht alle<strong>in</strong>e wirtschaftlicher Natur s<strong>in</strong>d. Gerade zu Beg<strong>in</strong>n des europäischenIntegrationsprozesses <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit war es schließlich das erklärte Ziel gewesen,Westeuropa vom Kommunismus abzuschirmen und die Westb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Bundesrepublik<strong>in</strong>stitutionell zu verankern (vgl. z.B. Gasteyger: Europa zwischen Spaltung und E<strong>in</strong>igung; S.53–62). Später hatten dann die feierlichen Erklärungen, +die Grundlagen für e<strong>in</strong>en immerengeren Zusammenschluß <strong>der</strong> europäischen Völker zu schaffen* (Vertrag über die Gründung<strong>der</strong> Europäischen Wirtschaftsgeme<strong>in</strong>schaft; Präambel), e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige politische Eigendynamikgewonnen, daß tatsächlich immer mehr nationale Kompetenzen auf Organe <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaftüberg<strong>in</strong>gen (siehe hierzu auch S. 93). Die EU ist jedoch e<strong>in</strong> untypisches Beispiel und trotzimmer weiterer Ausdehnungsbestrebungen auch e<strong>in</strong>deutig auf den Raum Europa begrenzt.Wie weit ist also die politische Globalisierung tatsächlich fortgeschritten?Me<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gangs aufgestellte These besagt, daß die politische Entwicklung den ökonomischenProzessen h<strong>in</strong>terherh<strong>in</strong>kt. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es seit Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>wissenschaftdie Vorstellung e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>terdependenten Weltsystems. Es war vermutlich sogar<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>wissenschaftler George Modelski, <strong>der</strong> 1972 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Pr<strong>in</strong>ciples of WorldPolitics* als erster den Begriff +Globalisierung* gebrauchte (siehe hierzu nochmals Anmerkung10). Er bemerkt:+In clear contrast with all other historical societies, the contemporary world society is global. Theprocess by which a number of historical world societies were brought together <strong>in</strong>to one global systemmight be referred to as globalization.* (S. 41)Der Globalisierungsprozeß begann gemäß Modelski schon im Mittelalter (um die Jahrtausendwendeherum) und leitete gegen Ende des vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>ts über zur Epoche <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>ne (vgl. ebd.; Kap. 3). Das als Ergebnis dieses Globalisierungs- und Mo<strong>der</strong>nisierungsprozessesentstandene globale System ist durch die Autonomie <strong>der</strong> Nationalstaaten charakterisiert(vgl. ebd.; Kap. 4). Es ist also dezentral organisiert, doch trotzdem hochgradig <strong>in</strong>terdependent(vgl. ebd.; Kap. 6 u. 7.). Den Nationalstaat als Strukturelement versteht Modelski dabei alse<strong>in</strong>e spezifische, ke<strong>in</strong>esfalls als e<strong>in</strong>zig mögliche Organisationsform des Politischen unter Globalisierungsbed<strong>in</strong>gungen(vgl. ebd.; Kap. 5). Und se<strong>in</strong>e Autonomiebestrebungen führen zudem<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en +Teufelskreis* – denn durch das Streben nach nationaler Souveränität wird zwardas System <strong>in</strong> sich stabilisiert, +soziale Güter* wie Gleichheit und Gerechtigkeit geraten jedoch


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 91<strong>in</strong>s H<strong>in</strong>tertreffen (vgl. ebd.; Kap. 12). Um diesem Dilemma zu entkommen, müßte die weitereMo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Weltpolitik nach Modelski u.a. zu e<strong>in</strong>er Demokratisierung <strong>der</strong> Weltorganisationen(durch repräsentative Elemente) sowie zur Reduktion <strong>der</strong> enormen und konfliktträchtigenglobalen Ungleichheiten führen (vgl. ebd.; Kap. 16).Wie Modelski, so betont auch John Burton <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +World Society* (ebenfalls 1972)die Zunahme <strong>der</strong> Interdependenz. Der Fokus Burtons ist allerd<strong>in</strong>gs nicht so sehr auf denNationalstaat und se<strong>in</strong>e Ambivalenz gerichtet, da se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach die globale politischeStrukturierung durch die Nationalstaaten zunehmend überformt wird durch Netze nicht-staatlicherAkteure. In <strong>der</strong> daraus entstehenden neuartigen +Weltgesellschaft* hat sich das klassische+Billard-Kugel-Modell* <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen <strong>Politik</strong> (wie es die +realistische* Schule zur Grundlage61nimmt) überholt, das von klar abgrenzbaren nationalen E<strong>in</strong>heiten ausgeht (vgl. S. 28–35).Anstelle dessen schlägt Burton e<strong>in</strong> +Sp<strong>in</strong>nweb-Modell* vor, durch das er den verän<strong>der</strong>tenCharakter des Weltsystems adäquat ausgedrückt sieht (vgl. ebd.; S. 35–49).James Rosenau wie<strong>der</strong>um hat (1980) den Begriff <strong>der</strong> +Transnationalisierung* <strong>in</strong> die Interdependenz-Debattee<strong>in</strong>gebracht:+[…] by the transnationalization of world affairs I mean the processes whereby <strong>in</strong>ternational relationsconducted by governments have been supplemented by relations among private <strong>in</strong>dividuals, groups,and societies that can and do have important consequences for the course of the events.* (The Studyof Global Interdependence; S. 1)Ausdrücke <strong>der</strong> Transnationalisierung und Beispiele für ihre Agenten auf <strong>der</strong> Mikroebene s<strong>in</strong>d<strong>der</strong> Tourist und <strong>der</strong> Terrorist (vgl. ebd.; Kap 5). Beide stellen Extremformen e<strong>in</strong>es Kont<strong>in</strong>uumsdar: Während <strong>der</strong> Terrorist sich nur <strong>der</strong> Autorität se<strong>in</strong>er eigenen (transnationalen) Rolle unterwirft,fügt sich <strong>der</strong> Tourist mehr o<strong>der</strong> weniger klaglos den staatlichen Autoritäten se<strong>in</strong>es Gastlandes.Obwohl es allerd<strong>in</strong>gs (zum Glück) weit weniger Terroristen als Touristen gibt, weist geradedas Beispiel des Terroristen auf e<strong>in</strong> Problem h<strong>in</strong>: In e<strong>in</strong>er sich transnationalisierenden Weltgesellschaftkontrastiert die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er multiplizierten Verantwortlichkeit mit fragmentisiertenLoyalitäten durch die zahlreichen subnationalen Gruppierungen (vgl. ebd.; Kap. 6).In dem Band +Turbulence <strong>in</strong> World Politics* (1990) hat Rosenau se<strong>in</strong>e Argumentation weiterausgebaut und zugespitzt: In <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen, postkapitalistischen und postsozialistischen<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne unserer Gegenwart kann s<strong>in</strong>nvoll nur noch von e<strong>in</strong>er post<strong>in</strong>ternationalen <strong>Politik</strong>


92 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEgesprochen werden (vgl. S. 6f.). Denn nach dem Zweiten Weltkrieg haben e<strong>in</strong>e Reihe vonTurbulenzen – die wachsende Diskrepanz zwischen den armen und den reichen Län<strong>der</strong>n,die Zunahme des Fundamentalismus (und wohl nicht zuletzt das Ende des Ost-WestGegensatzes) – die alten Ordnungsstrukturen erschüttert, so daß wir an e<strong>in</strong>em Wendepunktangelangt s<strong>in</strong>d, ohne allerd<strong>in</strong>gs zu wissen, woh<strong>in</strong> sich die Weltpolitik entwickeln wird.allem aber haben sich zwei Welten <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ausdifferenziert, die koexistieren (und Überlappungsbereicheaufweisen). Das neue multizentrische System <strong>der</strong> nicht-staatlichen politischenAkteure (Individuen, Gruppen, soziale Bewegungen, INGOs etc.) und das immer noch parallelbestehende staatenzentrische System (vgl. ebd.; Kap. 10). Rosenau spricht deshalb von e<strong>in</strong>erBifurkation <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, womit für ihn auch e<strong>in</strong> Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> ehemaligen Hegemonie (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>anten Position <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>igten Staaten) e<strong>in</strong>hergeht (vgl. ebd; S.288ff.).Aus (neo)realistischer Sicht – und diese ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lehre von den <strong>in</strong>ternationalen Beziehungennoch immer die vorherrschende –6362Vorstellt dies e<strong>in</strong>e mögliche Bedrohung für die Stabilität<strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen politischen und <strong>der</strong> mit ihr verknüpften ökonomischen Ordnung dar. 64Auf den Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> USA als (ökonomische) Führungsmacht und die daraus folgendenProbleme für die kapitalistische Weltökonomie wies Mitte <strong>der</strong> 80er Jahre <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e RobertKeohane h<strong>in</strong> (vgl. After Hegemony; Kap. 9–11). Schon lange vorher (nämlich 1976) hatteallerd<strong>in</strong>gs Edward Morse (wenn auch aus an<strong>der</strong>er Perspektive) die Zweischneidigkeit <strong>der</strong>zunehmenden Interdependenz im Weltsystem herausgestellt:+It leads to breakdowns <strong>in</strong> both domestic and <strong>in</strong>ternational mechanisms of control and does not guaranteethe development of new <strong>in</strong>struments to ma<strong>in</strong>ta<strong>in</strong> political or<strong>der</strong>.* (Mo<strong>der</strong>nization and the Transformationof International Relations; S. 116)Interessanterweise wird <strong>in</strong> den letzten Jahren aber auch von e<strong>in</strong>igen Neorealisten die Notwendigkeite<strong>in</strong>er pluralistischen Führerschaft im Staaten- wie im Wirtschaftssystem formuliertund das alte Hegemonialparadigma <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rigidität verworfen (vgl. z.B. Gilp<strong>in</strong>: The PoliticalEconomy of International Relations; S. 366ff.). Die primäre Orientierung am (autonomen)Nationalstaat, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Interessen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em pr<strong>in</strong>zipiell anarchischen Welt(staaten)system durch(militärische) Machtmittel wahrnimmt, blieb aber erhalten (vgl. <strong>der</strong>s.: War and Change <strong>in</strong>World Politics; S. 229f.).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 93Wie +realistisch* ist die Annahme des (Neo-)Realismus, daß die zentralen politischen Akteureauf <strong>der</strong> Weltebene immer noch die Staaten und ihre Regierungen darstellen und daß wenigerKooperation und Interdependenz, als vielmehr e<strong>in</strong> Wettbewerb <strong>der</strong> Nationen die Weltpolitikkennzeichnet? – E<strong>in</strong>e Frage, die empirisch nur schwer zu beantworten ist, da sich <strong>der</strong> Charakter<strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen politischen Beziehungen an<strong>der</strong>s bzw. noch weniger als die Ökonomiedurch quantitative Daten beschreiben läßt. Solche können hier nur e<strong>in</strong>ige Anhaltspunkte liefern.Dabei fällt zunächst auf, daß die Zahl <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Organisationen <strong>in</strong> diesem Jahrhun<strong>der</strong>tsprunghaft angestiegen ist: von 176 im Jahr 1909 auf 4.624 im Jahr 1989 (vgl. McGrew:Conceptualiz<strong>in</strong>g Global Politics; Abb. 1.4, S. 8).65Die meisten dieser Organisationen s<strong>in</strong>d<strong>in</strong> den Bereichen Gesundheit sowie Industrie und Handel aktiv (vgl. ebd.; Tab 1.1, S. 9)und haben ihren (geographischen) Schwerpunkt <strong>in</strong> Europa o<strong>der</strong> den USA (vgl. ebd.; Tab.1.3, S. 11). Auch die Anzahl <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Regierungsorganisationen (IGOs) hat zugenommen– allerd<strong>in</strong>gs nicht so dramatisch. Die ersten IGOs wurden schon im 19. Jahrhun<strong>der</strong>tsgegründet: die +Internationale Telegraphen Union* im Jahr 1865 und <strong>der</strong> +Weltpostvere<strong>in</strong>*im Jahr 1874. Vom Anfang des Jahrhun<strong>der</strong>ts bis 1989 steigerte sich ihre Zahl von ca. 50 auffast 300. (Vgl. ebd.; S. 12 sowie Rittberger: Internationale Organisationen; S. 14) 66Nur wie bereits angemerkt: Nackte Zahlen sagen hier so gut wie nichts aus. Entscheidendist die Frage, ob mit dem Anstieg <strong>der</strong> Menge <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Organisationen auch die<strong>in</strong>ternationale politische Vernetzung zugenommen hat und vor allem, ob politische Strukturenjenseits <strong>der</strong> Staatlichkeit entstanden s<strong>in</strong>d.67Die Bildung <strong>der</strong> großen Militärblöcke <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nach-kriegszeit, die von den USA und <strong>der</strong> UdSSR dom<strong>in</strong>iert wurden, kann hier als e<strong>in</strong> erstes Indizangesehen werden. Denn wer sich unter den Schutzschirm e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Supermächte stellte,mußte dies mit e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schränkung se<strong>in</strong>er militärischen Selbstbestimmung bezahlen – allerd<strong>in</strong>gsnicht im Rahmen e<strong>in</strong>er gleichberechtigten Partizipation, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er abhängigenUnterordnung unter die Sicherheits<strong>in</strong>teressen <strong>der</strong> jeweiligen Schutzmacht.Auch die bereits oben angesprochenen Regionalisierungsbestrebungen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Rahmen<strong>der</strong> EG bzw. <strong>der</strong> aus ihr hervorgegangenen +Europäischen Union* (EU), deuten auf die Entstehungtransnationaler politischer Strukturen h<strong>in</strong>: Mit dem Europäischen Gerichtshof gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong>EU, <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeit 15 Staaten angehören, e<strong>in</strong>e Appellations<strong>in</strong>stanz, die den nationalen Gerichtenübergeordnet ist und die auch bei Streitfällen zwischen Mitgliedsstaaten angerufen werdenkann (vgl. EG-Vertrag; Abschnitt 4). Im Vertrag von Maastricht vom Dezember 1991 haben


94 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEsich die Mitgliedsstaaten zudem auf e<strong>in</strong>e +Geme<strong>in</strong>same Außen- und Sicherheitspolitik* (GASP)verständigt (vgl. Art. B), welche die <strong>in</strong> den 70er Jahren auf Außenm<strong>in</strong>isterebene etablierte+Europäische Politische Zusammenarbeit* (EPZ) weiterführen soll, bisher jedoch eher theoretischenCharakter hat. Praktisch von größerer Relevanz s<strong>in</strong>d dagegen die Beschlüsse desM<strong>in</strong>isterrats,68die von den Mitgliedsstaaten rechtlich umgesetzt werden müssen. Der M<strong>in</strong>isterratkann jedoch nur auf Vorschläge <strong>der</strong> Europäischen Kommission69h<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Beschlüsse fassen,<strong>der</strong> damit e<strong>in</strong> großes Gewicht zukommt, und beide Organe s<strong>in</strong>d nur <strong>in</strong>direkt demokratischlegitimiert. E<strong>in</strong>e direkte Legitimation hat alle<strong>in</strong>e das Europaparlament, das aber erst seit demVertrag von Maastricht mit (e<strong>in</strong>igen wenigen) relevanten Kompetenzen ausgestattet wurde. 70Gleichzeitig wurde auch e<strong>in</strong>e +Unionsbürgerschaft* e<strong>in</strong>geführt, die mit e<strong>in</strong>em europaweitenWahlrecht bei Europa- und Kommunalwahlen sowie mit e<strong>in</strong>er une<strong>in</strong>geschränkten Nie<strong>der</strong>lassungsfreiheitim Rahmen <strong>der</strong> EU verbunden ist (vgl. Art. 8ff.). Absolute Freizügigkeit fürWaren, Personen, Dienstleistungen und Kapital <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen B<strong>in</strong>nenmarkt wurdebereits 1985 <strong>in</strong> <strong>der</strong> +E<strong>in</strong>heitlichen Europäischen Akte* vere<strong>in</strong>bart (vgl. Art. 13), <strong>der</strong>en Bestimmungenplangemäß zum Jahresbeg<strong>in</strong>n 1993 umgesetzt wurden. Im EU-Vertrag von Maastrichtwurde als letzter Ste<strong>in</strong> <strong>der</strong> wirtschaftlichen Integration die Verwirklichung e<strong>in</strong>er Währungsunionbeschlossen, die 1999 voll <strong>in</strong> Kraft getreten ist und die die monetäre Hoheit von den E<strong>in</strong>zelstaatenauf e<strong>in</strong>e europäische Zentralbank verlagert (vgl. Art. 109e–m).Es gibt also, wie die angeführten Beispiele zeigen, tatsächlich e<strong>in</strong>ige Ansätze zur Transnationalisierung<strong>der</strong> <strong>in</strong>ternatonalen <strong>Politik</strong>. An<strong>der</strong>erseits: Mit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts istdie Dom<strong>in</strong>anz bzw. das Engagement <strong>der</strong> USA <strong>in</strong> <strong>der</strong> NATO (bei e<strong>in</strong>em gleichzeitigen Erweiterungsbestreben)zurückgetreten, und <strong>der</strong> +Warschauer Pakt* wurde im Juli 1991 sogar offiziellaufgelöst.71Das brachte <strong>in</strong>direkt den (sektoralen) Wie<strong>der</strong>gew<strong>in</strong>n bzw. die Zunahme national-staatlicher Militärhoheit mit sich. Auch <strong>der</strong> Fall <strong>der</strong> EU ist nicht e<strong>in</strong>deutig: Wie angedeutet,ist das Ziel e<strong>in</strong>er geme<strong>in</strong>samen Außen- und Sicherheitspolitik noch <strong>in</strong> weiter Ferne (die starkdifferierende <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Mitgliedsstaaten gegenüber Serbien im Jugoslawien-Konflikt mag hierals Beispiel dienen). Und obwohl die EU im Vergleich zu an<strong>der</strong>en Regionalorganisationenpolitisch hoch <strong>in</strong>tegriert ist, haben faktisch alle<strong>in</strong>e Regierungsentsandte <strong>der</strong> Staaten Beschlußkraft(siehe oben). Was die angestrebte Währungsunion betrifft, so wird sie sich, aufgrund <strong>der</strong>festgelegten Stabilitätskriterien, bis auf weiteres nur auf e<strong>in</strong> ökonomisch potentes +Kerneuropa*beschränken. 72


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 95Selbst die politische Weltorganisation UNO kann paradoxerweise als Argument für die weiterbestehende Dom<strong>in</strong>anz nationalstaatlicher <strong>Politik</strong> auf <strong>der</strong> Weltebene angeführt werden, dennauch hier +regiert* das Staatenpr<strong>in</strong>zip: Stimmberechtigt <strong>in</strong> <strong>der</strong> UNO und ihren Organen s<strong>in</strong>dalle<strong>in</strong>e Staatenvertreter (vgl. Charta <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen; Art. 4 und 9). Allerd<strong>in</strong>gs ist mitdem Ende des Ost-West-Konflikts die Paralysierung des Sicherheitsrats entfallen,73und eshat auch <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> UNO verschiedentlich Bestrebungen zu e<strong>in</strong>em konzertierten Vorgehengegeben. So formierte sich Mitte <strong>der</strong> 60er Jahre die +Gruppe <strong>der</strong> 77* als Sprachrohr <strong>der</strong> Entwicklungslän<strong>der</strong>,auf <strong>der</strong>en Betreiben z.B. im Dezember 1974 (gegen die Stimmen vielerwestlicher Industrielän<strong>der</strong>) e<strong>in</strong>e (rechtlich allerd<strong>in</strong>gs unverb<strong>in</strong>dliche) +Charta <strong>der</strong> wirtschaftlichenRechte und Pflichten <strong>der</strong> Staaten* verabschiedet wurde, die e<strong>in</strong>e gerechtere <strong>in</strong>ternationaleWirtschaftsordnung garantieren sollte. Dabei wurde jedoch ausdrücklich die Unantastbarkeit<strong>der</strong> staatlichen Souveränität betont (vgl. Art. 1), denn gerade für +schwache* Staaten ist <strong>der</strong>Erhalt <strong>der</strong> Souveränität e<strong>in</strong> wichtiges Ziel, und die Erlangung staatlicher Unabhängigkeit istauch heute noch für viele politische Bewegungen zentral, so daß trotz aller Transnationalisierungstendenzen,die <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> den entwickelteren Regionen feststellbar s<strong>in</strong>d,weitere Fragmentisierungen (vor allem durch e<strong>in</strong>e ethnonationalistische Dynamik) drohen(vgl. hierzu auch Senghaas: Zwischen Globalisierung und Fragmentisierung).Es ist also letztendlich e<strong>in</strong>e Frage <strong>der</strong> Interpretation, ob man Ansätze zu e<strong>in</strong>er politischenGlobalisierung sehen will o<strong>der</strong> nicht, wenngleich für mich, aufgrund <strong>der</strong> dargestellten Zusammenhänge,<strong>der</strong>zeit die Anzeichen überwiegen, daß die Strukturierung durch den Nationalstaatnoch immer (welt)politisch dom<strong>in</strong>ierend ist. Doch die ökonomischen Prozesse machen deshalbnicht Halt und erzeugen e<strong>in</strong> Phänomen, das man <strong>in</strong> Anlehnung an Brock und Albert +multipleStaatlichkeit* nennen könnte, d.h. <strong>der</strong> politische Raum wird durch an<strong>der</strong>e +Funktionsräume*überformt (vgl. Entgrenzung <strong>der</strong> Staatenwelt; S. 266ff.). Angesichts dessen formuliert Menzel:+Der staatlich def<strong>in</strong>ierte Raum verschw<strong>in</strong>det, se<strong>in</strong>e Grenzen zerfließen, die Beziehungen zwischenden Staaten werden imag<strong>in</strong>är. Den Regierungen wird die Souveränität genommen, da sich die Virtualisierung<strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Transaktionen den herkömmlichen Kontrollen und damit auch denstaatlichen Steuerungskapazitäten entzieht.* (Internationale Beziehungen im Cyberspace; S. 53)Auf dieses grundsätzliche Dilemma des Nationalstaats, dem e<strong>in</strong>erseits die ökonomische Basisentzogen wird und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>erseits noch immer die politische +Realität* maßgeblich bestimmt


96 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE(sowie mit Regelungs-Erwartungen von seiten <strong>der</strong> Bürger konfrontiert wird), werde ich <strong>in</strong>Abschnitt 3.1 noch ausführlicher e<strong>in</strong>gehen. Verläßt man allerd<strong>in</strong>gs die Ebene <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen<strong>Politik</strong>, so sche<strong>in</strong>t sich bei vielen Menschen auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> stattf<strong>in</strong>denden Entgrenzungsprozesse(und ihres impliziten Risikogehalts) so etwas wie e<strong>in</strong> globales politisches Bewußtse<strong>in</strong>zu entwickeln, das den Nationalstaat transzendiert. Evan Luard bemerkt dazu:+Citizens are no longer content with<strong>in</strong> the narrow and distort<strong>in</strong>g aspirations created by parochial nationalpolitical systems […] On a planet so small they no longer have any choice but to be citizens of theworld as a whole.* (The Globalization of Politics; S. 191)Es muß daher nicht verwun<strong>der</strong>n, wenn <strong>in</strong>ternational agierende NGOs wie +Greenpeace* o<strong>der</strong>+amnesty <strong>in</strong>ternational* sich das hier entstehende Potential für ihre Zwecke zunutze machen(obwohl dieses Engagement gerade <strong>in</strong> vielen Entwicklungslän<strong>der</strong>n als +westlicher Imperialismus*neuer Prägung empfunden wird).74Die +globale Risikogesellschaft* (Beck) erzeugt (über dasreflexive Potential <strong>der</strong> latenten Nebenfolgen <strong>in</strong>dustrieller Produktion) e<strong>in</strong>e subpolitischeGlobalisierung (vgl. auch <strong>der</strong>s.: Was ist Globalisierung?; S. 121ff.), die dem Nationalstaatauch die soziale Basis zunehmend entzieht – allerd<strong>in</strong>gs nicht überall gleichermaßen. Zwarkann man ganz allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Verharrungstendenz <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong> ausmachen,die die Grundlage für ihre subpolitische Infragestellung bereitet:+Reality changes so quickly that the reflexes for action typical of governments tend to lag beh<strong>in</strong>d.This disjunction between reality and perception of it is […] endemic <strong>in</strong> policy; policy tends to bebased upon past experiences rather than guided by some notion of what the future may hold.* (Morse:Mo<strong>der</strong>nization and the Transformation of International Relations; S. 179f.)Deshalb s<strong>in</strong>d Wandlungsimpulse auch nicht primär aus dem Bereich <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, des politischenSystems zu erwarten, son<strong>der</strong>n gehen vielmehr von den +materiellen Verhältnissen* aus:+In short, revolution <strong>in</strong> the <strong>in</strong>ternational system stems from dynamic changes related to <strong>in</strong>dustrializationand technological change. The roots of revolution and of transformation <strong>in</strong> the <strong>in</strong>ternational systemare thus <strong>in</strong> the <strong>in</strong>dustrialized societies […] These <strong>in</strong>dustrialized societies are the really revolutionaryones […]* (Ebd.; S. 191f.)Die Entstehung e<strong>in</strong>es globalen (politischen) Bewußtse<strong>in</strong>s ist gemäß dieser Argumentation alsohauptsächlich <strong>in</strong> den +fortgeschrittenen* Regionen zu erwarten, die sich im Übergang zu +post-


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 97<strong>in</strong>dustriellen* Gesellschaften bef<strong>in</strong>den, da hier die sozio-ökonomischen Rahmenverän<strong>der</strong>ungenam deutlichsten zu spüren s<strong>in</strong>d, welche die materielle Basis für e<strong>in</strong>e (subpolitische) Bewußtse<strong>in</strong>sverän<strong>der</strong>ungschaffen. Das regionale subpolitische Globalisierungspotential ist so (zum<strong>in</strong>destpartiell) abhängig von <strong>der</strong> Position <strong>der</strong> betreffenden Gesellschaft auf <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Landkarte.75Doch wie gesagt: Selbst für das Zentrum und se<strong>in</strong>e (<strong>in</strong>ternen) +Metropolen* gilt me<strong>in</strong>esErachtens immer noch die Dom<strong>in</strong>anz e<strong>in</strong>es nationalstaatlichen politischen Denkens und Handelns,beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>nerhalb des politischen Institutionensystems (siehe auch S. 217f.), währenddie ökonomische Realität den Nationalstaat bereits überholt hat.Woh<strong>in</strong> die <strong>in</strong>ternationale und nationale <strong>Politik</strong> sich <strong>in</strong> Zukunft entwickeln wird – ob sie sichtransformiert und es zu e<strong>in</strong>er +echten* Globalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> kommt o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> +Rückfall*<strong>in</strong> die Ethnopolitik stattf<strong>in</strong>det – bleibt dabei ungewiß. Vorschläge wie Richard Falks Agendafür die 90er Jahre, die auf den Pr<strong>in</strong>zipien Denuklearisierung, Demilitarisierung, Depolarisierung,Entwicklung (+Development*) und Demokratisierung beruht (vgl. Explorations at the Edgeof Time; S. 133ff.), o<strong>der</strong> das Modell e<strong>in</strong>er +kosmopolitischen Demokratie*, wie es David Heldpropagiert (vgl. Democracy and the Global Or<strong>der</strong>; Kap. 12), haben nur dann e<strong>in</strong>e Chance,wenn For<strong>der</strong>ungen aus dem Bereich <strong>der</strong> +(neuen) sozialen Bewegungen*76(Friedensbewegung,Frauenbewegung, ökologische Bewegung etc.) die Ebene <strong>der</strong> Subpolitik überschreiten undauch die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> +erobern*. Wir bef<strong>in</strong>den uns, um mit Anthony McGrew zusprechen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er +transitorischen Ära*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sowohl weitreichende Globalisierungsprozessestattf<strong>in</strong>den, das Nationalstaatlichkeitspr<strong>in</strong>zip aber immer noch die Grundlage des politischenSystems bildet (vgl. Global Politics <strong>in</strong> a Transitional Era; S. 328f.) – und lei<strong>der</strong> noch nichtim +globalen Zeitalter* (Albrow)77des +Global Citizen* (Meadows). Es kann deshalb nur Rosenaubeigepflichtet werden, <strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er Bifurkation <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> sprach (siehe S. 92). Die Gleichzeitigkeite<strong>in</strong>er multizentrischen und e<strong>in</strong>er staatenzentrischen <strong>Politik</strong> stabilisiert <strong>der</strong>zeit (noch)die Ungleichzeitigkeit von ökonomischem und politischem Wandel.2.2 DIE POLITISIERUNG DER JUSTIZ UND DIE VERRECHTLICHUNG DER POLITIK(RECHTSSYSTEM)Im vorangegangenen Abschnitt wurde versucht, die allgeme<strong>in</strong>e These e<strong>in</strong>er Dialektik vonsozio-ökonomischem Wandel und politischer Statik am Beispiel <strong>der</strong> fehlenden Umsetzung


98 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEund Entsprechung ökonomischer Globalisierung im Bereich <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> zu verdeutlichen.Dabei zeigte sich, daß zwar e<strong>in</strong> Interpretationsspielraum besteht, allerd<strong>in</strong>gs viele Anzeichentatsächlich dafür sprechen, daß die (<strong>in</strong>ner)politische Entwicklung nicht mit demökonomischen Wandel – vor allem <strong>der</strong> transnationalen Expansion <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzmärkte – Schritthält. Im folgenden Abschnitt sollen nun, als zweiter Analyseschritt dieser Ökologie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>,die dom<strong>in</strong>anten Tendenzen im Rechtssystem sowie <strong>der</strong>en politische Implikationen und Bezügedargestellt werden.Auch das Rechtssystem ist Teil des politischen Mesosystems und vor allem <strong>in</strong>stitutionell nochsehr viel enger mit dem politischen System verflochten als das Wirtschaftssystem (dessen Akteureweit autonomer handeln und das nicht, wie das Rechtssystem, <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> – durch dieRechtsetzungskompetenz <strong>der</strong> Legislative – logisch untergeordnet ist). Es fällt aufgrund <strong>der</strong>engen Verflechtung sogar schwer, überhaupt e<strong>in</strong>e Trennl<strong>in</strong>ie zwischen Rechtssystem und<strong>Politik</strong> zu ziehen. Wie aber schon zu Beg<strong>in</strong>n dieses Kapitels festgestellt wurde, dient mir dietrennende Unterscheidung zwischen verschiedenen Subsystemen ohneh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zig als analytischesund heuristisches +Kontrastmittel*, die zudem weniger +Realität* wi<strong>der</strong>spiegelt, son<strong>der</strong>n andie Selbstbeschreibungen <strong>der</strong> Systemakteure angelehnt ist.Das Beharren auf Trennung gilt beson<strong>der</strong>s ausgeprägt für das Rechtssystem sog. +Rechtsstaaten*.In diesen ist die staatliche Gewalt an das Gesetz gebunden, und sie s<strong>in</strong>d nach dem Pr<strong>in</strong>zip<strong>der</strong> Gewaltenteilung organisiert.78Der Rechtsstaat kann deshalb primär als e<strong>in</strong> formales +Ideal*angesehen werden, das sich als Modell für Staatlichkeit so weit durchgesetzt hat, daß sichselbst diktatorische Regime, d.h. Staaten <strong>in</strong> denen die Aufrechterhaltung <strong>der</strong> politischenHerrschaft als +gewaltsam* empfunden wird und das praktische Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> +Willkürlichkeit*regiert, meist (verfassungsmäßig) den Anstrich <strong>der</strong> Rechtsstaatlichkeit geben – entwe<strong>der</strong> umihr Akzeptanz-Defizit +rechtlich* zu kompensieren o<strong>der</strong>, wenn man so will, um e<strong>in</strong>drucksvollzu demonstrieren, daß sich +echte* Rechtsstaatlichkeit eben nicht nur auf e<strong>in</strong> formales Pr<strong>in</strong>ziperstreckt, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e politisch-praktische bzw. zum<strong>in</strong>dest +praxologische* Entsprechunghaben muß (siehe zum Begriff <strong>der</strong> +Praxologie* S. 104 sowie Abschnitt 5.3).Das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Gewaltenteilung stellt im liberalen Denken sozusagen die +objektive* <strong>in</strong>stitutionell-formelleAbsicherung des (materiellen) Rechtsstaats dar. Die Vorstellung <strong>der</strong> Notwendigkeite<strong>in</strong>er Auftrennung <strong>der</strong> staatlichen Gewalt zum Schutz des Bürgers vor Willkür, wurdeerstmals durch John Locke explizit mit e<strong>in</strong>em formal-theoretischen Gewaltenteilungsmodell


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 99verknüpft. Locke unterscheidet jedoch nur zwischen Legislative und Exekutive (<strong>der</strong> gleichzeitigdie Fö<strong>der</strong>ativ- und Prärogativgewalt, d.h. das Recht zur außenpolitischen Vertretung unde<strong>in</strong> exekutiver Entscheidungsspielraum, zukommt). Und dies, obwohl er gerade das Fehlene<strong>in</strong>es unparteiischen Richters für die Defizite des Naturzustands verantwortlich macht (siehehierzu auch S. 26 und Anmerkung 73, Kap. 1).Die heute klassische Differenzierung zwischen Legislative (als gesetzgeben<strong>der</strong> Gewalt), Exekutive(als vollziehen<strong>der</strong> Gewalt) und Judikative (als richterlicher Gewalt) geht auf Montesquieu zurück,und zwar bezieht man sich hier auf e<strong>in</strong>en relativ kurzen Abschnitt se<strong>in</strong>er Schrift +Vom Geist<strong>der</strong> Gesetze* (nämlich Buch XI, Kap. 6), <strong>in</strong> welchem er sich über die damalige englischeVerfassung äußert und das dreigliedrige Gewaltenteilungsmodell, das ihn berühmt machensollte, <strong>in</strong> diese mehr o<strong>der</strong> weniger h<strong>in</strong>e<strong>in</strong><strong>in</strong>terpretiert.79Auch für Montesquieu ist <strong>der</strong> vonihm angegebene Grund für die For<strong>der</strong>ung nach Gewaltenteilung e<strong>in</strong>e Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung desMißbrauchs <strong>der</strong> Staatsmacht:+Wenn <strong>in</strong> <strong>der</strong>selben Person o<strong>der</strong> <strong>der</strong> gleichen obrigkeitlichen Körperschaft die gesetzgebende Gewaltmit <strong>der</strong> vollziehenden vere<strong>in</strong>igt ist, gibt es ke<strong>in</strong>e Freiheit; denn es steht zu befürchten, daß <strong>der</strong>selbeMonarch o<strong>der</strong> <strong>der</strong>selbe Senat tyrannische Gesetze macht, um sie tyrannisch zu vollziehen.Es gibt ferner ke<strong>in</strong>e Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von <strong>der</strong> gesetzgebenden und <strong>der</strong>vollziehenden getrennt ist. Ist sie mit <strong>der</strong> gesetzgebenden Gewalt verbunden, so wäre die Macht überLeben und Freiheit <strong>der</strong> Bürger willkürlich, weil <strong>der</strong> Richter <strong>der</strong> Gesetzgeber wäre. Wäre sie mit <strong>der</strong>vollziehenden Gewalt verknüpft, so würde <strong>der</strong> Richter die Macht e<strong>in</strong>es Unterdrückers haben.* (Ebd.;S. 215)Doch liest man genau, so wird me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach schon aus diesen Ausführungen deutlich,daß Montesquieu implizit – ganz entsprechend den tatsächlichen heutigen Verhältnissen <strong>in</strong><strong>der</strong> parlamentarischen Demokratie – ke<strong>in</strong>e wirkliche Dreiteilung zugrunde legt, son<strong>der</strong>n eigentlichLegislative und Exekutive von ihrer +Natur* her als zusammengehörig ansieht, von denendie Judikative entsprechend umso schärfer getrennt ersche<strong>in</strong>t.80Dies zeigt sich beson<strong>der</strong>sklar, wenn Montesquieu an e<strong>in</strong>er Stelle des Textes bemerkt, daß die richterliche Gewalt +<strong>in</strong>gewisser Weise [nämlich politisch] gar nicht vorhanden* ist (ebd.; S. 220). Sie übt schließlich+nur* e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>geschränkte Kontrollfunktion aus und sorgt (exekutiv-polizeilich abgestützt) fürdie Sanktionierung von Rechtsübertretungen. Die durch Wahlen legitimierte Legislative undExekutive (speziell ihre Spitze) bildet dagegen gemäß <strong>der</strong> (an Locke und Montesquieu an-


100 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEschließenden) Theorie des mo<strong>der</strong>nen Verfassungsstaats (siehe auch Abschnitt 1.4) wie politischpraktischals e<strong>in</strong>e Art +funktional gespaltete E<strong>in</strong>heit* den Kern des politischen Systems – wobeisich <strong>Politik</strong> im Rechtsstaat allerd<strong>in</strong>gs wesentlich durch Recht vollzieht, das die Legislative setztund die Exekutive umsetzt.Diese Perspektive, die e<strong>in</strong>e klare Trennung von politischem System und Rechtssystem unterstellt,ist allerd<strong>in</strong>gs selbst aus systemtheoretisch-funktionalistischer Sichtweise fragwürdig.81So betrachtetetwa Talcot Parsons Recht als Mechanismus sozialer Kontrolle und als (normative) sozialeStruktur, die so gut wie alle Gesellschaftsbereiche durchdr<strong>in</strong>gt (vgl. Recht und soziale Konflikte;S. 121f.). Recht ist gemäß diesem Verständnis zwar ke<strong>in</strong> direkt politisches Phänomen, dochs<strong>in</strong>d die Systeme Recht und <strong>Politik</strong> +aufs engste mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verknüpft* (ebd. S. 123). DennRecht bedarf <strong>der</strong> Durchsetzung und bedient sich dabei <strong>der</strong> staatlich monopolisierten Gewalt;ferner begrenzt das staatliche Territorium den Raum se<strong>in</strong>er +allgeme<strong>in</strong>en* Gültigkeit (vgl. ebd.;S. 125).Auch von Niklas Luhmann, <strong>der</strong> sich sehr <strong>in</strong>tensiv mit Problemen <strong>der</strong> +Rechtssoziologie* ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzthat, wird das Rechtssystem – zum<strong>in</strong>dest vor se<strong>in</strong>er +autopoietischen Wende*(siehe auch S. XXV) – als eng mit dem politischen System verflochten bzw. als nur teilautonomesSubsystem des politischen Systems betrachtet: +Ich spreche vom politischen System und sehedie Justiz als Teilsystem […] dieses politischen Systems*, bemerkt er 1969 <strong>in</strong> dem Aufsatz+Funktionen <strong>der</strong> Rechtsprechung im politischen System* (S. 46). Die an<strong>der</strong>erseits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tatfeststellbare, strukturell entlastende <strong>in</strong>stitutionelle Trennung des Rechtssystems von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>(vgl. auch Rechtssoziologie; S. 238) wurde durch die Komplexitätssteigerung und den wachsendenRegelungsbedarf im Zuge <strong>der</strong> immer weiter voranschreitenden sozialen Mo<strong>der</strong>nisierung notwendig(vgl. Ausdifferenzierung des Rechtssystems; S. 40ff.). Das Recht82mußte also +autonomerund zugleich leistungsfähiger konstituiert werden* (Funktionen <strong>der</strong> Rechtsprechung im politischenSystem; S. 47).Deshalb entwickelte sich im neuzeitlichen Europa mit e<strong>in</strong>er gewissen Zwangsläufigkeit e<strong>in</strong>Modell <strong>der</strong> Gewaltenteilung bzw. funktionalen Differenzierung. Doch die klassische Unterscheidungzwischen Legislative, Exekutive und Judikative berücksichtigt die politische +Realität*<strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften nicht ausreichend, die (überwiegend) als Parteiendemokratienorganisiert s<strong>in</strong>d. Im rechtlichen Rahmen dieser Organisationsform ist direkter (partei)politischerE<strong>in</strong>fluß auf die Legislative voll legitimiert, während dies <strong>in</strong> bezug auf die Exekutive nur teilweise


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 101und im Verhältnis zur Judikative gar nicht gilt. Das macht die Rechtsprechung zu e<strong>in</strong>em +Eckste<strong>in</strong><strong>der</strong> Systemdifferenzierung*:+Die politische Neutralisierung ihrer partiellen Kompetenz ermöglicht […] e<strong>in</strong> Doppeltes: politischeBee<strong>in</strong>flußbarkeit und Eigenständigkeit <strong>der</strong> Produktion verb<strong>in</strong>dlicher Entscheidungen, Abhängigkeitund Unabhängigkeit dieses Teilsystems des politischen Systems. In dieser Komb<strong>in</strong>ation von Abhängigkeitund Unabhängigkeit liegt e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Erfor<strong>der</strong>nis differenzierter Systeme und zugleich e<strong>in</strong> taktischerVorteil: Entscheidungsprobleme können politisiert und entpolitisiert, können aus <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> dieLegislative, die Exekutive, ja bis <strong>in</strong> die Justiz zurückverschoben werden, je nachdem, wo sich die bestenLösungsmöglichkeiten f<strong>in</strong>den.* (Ebd.; S. 49)Die politische Funktion des Rechtssystem liegt also gemäß Luhmann gerade <strong>in</strong> politischerNeutralisierung. Luhmann hat me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach mit dieser Bestimmung die Problematikdes Zusammenspiels von <strong>Politik</strong> und Rechtssystem auf den Punkt gebracht – auch wenn erselbst dar<strong>in</strong> weniger e<strong>in</strong> Problem, als vielmehr gerade die spezifische Leistung des Rechtssystemsfür das Funktionieren des Rechtsstaats sieht.83Überdies betont Luhmann seit geraumer Zeitauch stärker die Autonomie <strong>der</strong> Systeme Recht und <strong>Politik</strong> vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> (vgl. z.B. Die E<strong>in</strong>heitdes Rechtssystems sowie Das Recht <strong>der</strong> Gesellschaft),84die deshalb auch unterschiedlicheLeitdifferenzen aufweisen, wobei die Unterscheidung Recht/Unrecht spezifisch für das Rechtssystemist (vgl. Codierung des Rechtssystems), während im politischem System (des parteiendemokratischenStaates) die Leitdifferenz Regierung/Opposition zentrale Gültigkeit besitzt (vgl. z.B.Die Zukunft <strong>der</strong> Demokratie; S. 127ff.). 85Die Frage nach <strong>der</strong> politischen Funktion des Rechts kann allerd<strong>in</strong>gs auch ganz an<strong>der</strong>s beantwortetwerden. Nach marxistischer Auffassung steht Recht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em klaren funktionalen Zusammenhangmit <strong>der</strong> Aufrechterhaltung von Herrschaft und hat damit ideologischen Charakter. E<strong>in</strong>e +re<strong>in</strong>e*(von aller Historizität und <strong>der</strong> sozial-politischen Bed<strong>in</strong>gtheit <strong>der</strong> Rechts abstrahierende) Rechtslehre,wie sie die +bürgerliche*, positivistische Rechtstheorie zum Ideal erhob und die ihrerseits+am re<strong>in</strong>sten* bei Kehlsen zum Ausdruck kommt,86ist selbst ideologisch, denn sie erfaßt dendem Recht wesentlichen Überbau-Charakter nicht.Zum Verhältnis von Basis und Überbau heißt es nämlich bei Marx <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em berühmten Vorwortzur +Kritik <strong>der</strong> Politischen Ökonomie* (1859): Die Gesamtheit <strong>der</strong> Produktionsverhältnisse+bildet die ökonomische Struktur <strong>der</strong> Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich e<strong>in</strong> juristischerund politischer Überbau erhebt* (S. 172). Dieser Überbau, <strong>der</strong> den Anspruch <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>-


102 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEgültigkeit erhebt und e<strong>in</strong> ideologisches System bildet, dient den Interessen <strong>der</strong> herrschendenKlasse:+Die herrschenden Ideen e<strong>in</strong>er Zeit waren stets nur die Ideen <strong>der</strong> herrschenden Klasse.* (Marx/Engels:Manifest <strong>der</strong> kommunistischen Partei; S. 44)Auch und gerade das Recht ist solchermaßen klassengeprägt und als +bürgerliches* Rechtan die historische Faktizität <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft gebunden. Aus sozialistischer Sichtwird mit dem Ende des bürgerlichen Staates und <strong>der</strong> Verwirklichung e<strong>in</strong>er kommunistischenGesellschaft Recht als soziale Institution deshalb <strong>in</strong>sgesamt überflüssig. Dieser Gedanke vom+Absterben des Rechts* f<strong>in</strong>det sich beispielhaft bei Petr Stu-cka:+Wenn wir Recht als bürgerliches Recht verstehen, können wir vom proletarischen Recht nicht sprechen,denn das Ziel <strong>der</strong> sozialistischen Revolution als solcher besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vernichtung des Rechtes, <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er Ersetzung durch die neue sozialistische Ordnung. Für den bürgerlichen Juristen ist das Wort›Recht‹ unverbrüchlich mit dem Begriff des Staates als Organ des Schutzes und als Zwangsapparat<strong>in</strong> den Händen <strong>der</strong> herrschenden Klasse verbunden. Mit dem Fall, genauer mit dem Absterben desStaates fällt und stirbt auch das Recht im bürgerlichen S<strong>in</strong>ne ab. Vom proletarischen Recht könnenwir [deshalb] nur als Recht <strong>der</strong> Übergangszeit, <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Diktatur des Proletariats […] sprechen[…]* (Proletarisches Recht; S. 79)Diese zentralen Auffassungen (Recht als ideologischer Überbau, die Klassenbestimmtheit desRechts und die historische Bed<strong>in</strong>gtheit <strong>der</strong> Rechtsform) ziehen sich sozusagen als +roter Faden*durch die marxistische und sozialistische Rechtstheorie (vgl. auch Reich: Marxistische undsozialistische Rechtstheorie; S. 12ff.).87Differenzierter, doch ohne den kritischen Anspruchaufzugeben, ist die Position von Jürgen Habermas. In se<strong>in</strong>er schon mehrfach zitierten +Theoriedes kommunikativen Handelns* (1981) stellt er u.a. ausführlich dar, wie rechtliche Strukturendie sozialen Beziehungen durchdr<strong>in</strong>gen, diese +verrechtlichen* und so zur +Kolonialisierung*<strong>der</strong> lebensweltlichen Reproduktionssphäre durch die Produktionssphäre beitragen, selbst wosie sie zu schützen versuchen (vgl. Band 2, S. 522–547).Die sich daraus ergebende Dialektik <strong>der</strong> Verrechtlichung ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wichtigsten Antriebskräftefür die von Habermas zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> 70er Jahre ausgemachten +Legitimationsprobleme imSpätkapitalismus*, wie sich retrospektiv formulieren läßt: Die staatlichen Steuerungs<strong>in</strong>stanzengeraten bei ihrem wohlfahrtsstaatlichen Spagat zwischen Arbeit und Kapital, <strong>der</strong> den Klassen-


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 103konflikt nur latent hält, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Legitimationskrise (vgl. S. 96–105). Diese Spannung zwischen+Faktizität und Geltung* (1992) weist auf e<strong>in</strong>en konstitutiven Zusammenhang des Rechts mitpolitischer Macht h<strong>in</strong> (vgl. S. 167). Denn Recht benötigt, um sich faktische Geltung zuverschaffen, e<strong>in</strong>e Durchsetzungs<strong>in</strong>stanz. Staatliche Macht tritt deshalb +nicht […] von außenneben das Recht, son<strong>der</strong>n wird von diesem vorausgesetzt, und sie etabliert sich selber <strong>in</strong>Formen des Rechts* (ebd.; S. 168).88Soweit besteht allerd<strong>in</strong>gs noch relative Übere<strong>in</strong>stimmungzwischen Habermas und <strong>der</strong> gängigen Rechtstheorie. Es ergibt sich für ihn damit aber auche<strong>in</strong>e problematische Verb<strong>in</strong>dung von Zwang und normativem Geltungsanspruch:+Politische Herrschaft stützt sich auf e<strong>in</strong> Drohpotential, das von kasernierten Gewaltmitteln gedecktist; gleichzeitig läßt sie sich aber durch Recht autorisieren.* (Ebd.; S. 171)Die Unterschiede zwischen <strong>der</strong> zu Beg<strong>in</strong>n dargestellten, systemtheoretisch <strong>in</strong>spirierten SichtweiseLuhmanns und dieser kritischen Interpretation des Verhältnisses von Recht und <strong>Politik</strong> durchHabermas s<strong>in</strong>d augenfällig. Umso erstaunlicher ist es, daß beide <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zentralen Punktübere<strong>in</strong>stimmen, nämlich daß sie die Grundlage <strong>der</strong> Legitimität von Recht nicht <strong>in</strong> bestimmten,mit moralisch-ethischen Pr<strong>in</strong>zipien korrelierenden Inhalten erkennen, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>haltunge<strong>in</strong>es (demokratischen) Verfahrensmodus bei <strong>der</strong> Rechtsetzung (vgl. ebd.; S. 169 sowie Luhmann:Legitimation durch Verfahren; S. 27ff.). Doch ist natürlich für Habermas, an<strong>der</strong>s als für Luhmann,nicht die +Zersplitterung und Absorption von Protesten* (ebd.; S. 116) <strong>der</strong> positiv gedeuteteund als (sozialtechnologische) Legitimation h<strong>in</strong>reichende Zweck <strong>der</strong> +demokratischen* Verfahrensweise(vgl. ebd.; S. 155ff.). Vielmehr beruht die legitimitätsstiftende Wirkung tatsächlich demokratischer(d.h. diskursiver) und nicht lediglich demokratisch genannter Verfahren gemäß Habermasauf <strong>der</strong>en <strong>in</strong>härenter (normativer) Gültigkeit (vgl. Faktizität und Geltung; S. 367). Habermaslegt also e<strong>in</strong> normatives, +deliberatives* Demokratieverständnis zugrunde, das auf se<strong>in</strong>er Diskurstheorieaufbaut (siehe auch S. XL), und grenzt von diesem re<strong>in</strong> +empirische* Demokratiemodelleexplizit ab (vgl. ebd.; S. 349–366).Die Begründung von (rechtlicher) Legitimität aus <strong>der</strong> E<strong>in</strong>haltung bestimmter Verfahren istaber me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach problematisch. Entwe<strong>der</strong> muß, wie bei Habermas, <strong>in</strong>direkt aufaußerrechtliche Normen rekurriert werden, womit man auch gleich die B<strong>in</strong>dung des Rechtsan ethische Pr<strong>in</strong>zipien hätte for<strong>der</strong>n können.89O<strong>der</strong> die Argumentation gerät, wie bei Luhmann,zur Apologie des Faktischen. Das +demokratische* Verfahren <strong>der</strong> Wahl und die Gesetzgebung


104 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEselbst kann <strong>in</strong> diesem Fall als Praxologie gedeutet werden. Unter e<strong>in</strong>er +Praxologie* versteheich nämlich <strong>in</strong> Parallele zum Ideologiebegriff (und im expliziten Unterschied zum Begriff<strong>der</strong> Praxeologie),Praxis,9190e<strong>in</strong>e verschleiernde, die sozialen Machtverhältnisse abstützende ›deflektorische‹die über die Institutionalisierung und Ver<strong>in</strong>nerlichung von Handlungsmustern (reflexive,subpolitisch-lebensweltliche) Wi<strong>der</strong>standspotentiale ablenkt (deflektiert).Im Kontext dieser doppelten (Begründungs-)Problematik für die Geltung von Recht ersche<strong>in</strong>tdas Konzept e<strong>in</strong>es (postregulativen) +reflexiven Rechts* von Gunther Teubner als <strong>in</strong>teressanterAnsatzpunkt. Teubner entwickelt se<strong>in</strong>e Gedanken vor allem <strong>in</strong> Anlehnung an Nonet undSelznick, die Ende <strong>der</strong> 70er Jahre e<strong>in</strong>e Entwicklungsdynamik h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em (repolitisierten,rematerialisierten) responsiven Recht ausmachten, welches das (nur vor<strong>der</strong>gründig) entpolitisierteautonome (und damit formalisierte) Recht <strong>der</strong> funktional dividierten Gesellschaft ablösenkönnte, ohne <strong>in</strong> repressives Recht zurückzufallen (vgl. Law and Society <strong>in</strong> Transition).dem +evolutionistischen* Konzept von Nonet und Selznick kritisiert Teubner allerd<strong>in</strong>gs diebei ihnen se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach nur <strong>in</strong> Ansätzen zu f<strong>in</strong>dende Berücksichtigung außerrechtlicher,sozialer Faktoren auf die Rechtsentwicklung, wie sie im Gegensatz dazu bei Niklas Luhmannund Jürgen Habermas im Vor<strong>der</strong>grund stünde (vgl. Reflexives Recht; S. 29–36). 93Teubners Modell e<strong>in</strong>es +reflexiven Rechts*, d.h. die Schaffung struktureller Voraussetzungenfür selbstregulatorische Prozesse (vgl. ebd; S. 49), wird von ihm deshalb explizit als rechtlicheSpiegelung postmo<strong>der</strong>nen sozialen Wandels verstanden (vgl. ebd.; S. 17). Faktisch ist reflexivesRecht <strong>der</strong>zeit, wenn es überhaupt Ansätze dazu gibt, jedoch auf e<strong>in</strong>ige schmale Bereiche(wie etwa die +Tarifautonomie*) beschränkt und läßt als Begriff wie als praktisches Konzeptdie reale Ungleichverteilung von Macht und Ressourcen unberücksichtigt (wie schon das angegebene,auch von Teubner genannte Beispiel zeigt). 94Trotz solcher Kritik und e<strong>in</strong>er spürbaren Nähe zur (Luhmannschen) Systemtheorie ist TeubnersKonzept me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach aber fruchtbar, da es – als normatives Modell (miß)verstanden–, durch die angestrebte horizontale (subpolitische) Rückverlagerung <strong>der</strong> Regelungs-Kompetenzauf die Betroffenen, Ansatzpunkte zu e<strong>in</strong>er Transzendierung <strong>der</strong> bestehenden, e<strong>in</strong>seitig vertikalausgerichteten Rechtspraktiken bietet.9592AnE<strong>in</strong> vergleichbares kritisches Potential (ver)steckt (sich)auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er (weniger Luhmanns) Vorstellung vom Recht als e<strong>in</strong>em autopoietischen System, 96die er <strong>in</strong> Anschluß an se<strong>in</strong>e Theorie reflexiven Rechts entwickelt hat. Teubners Sicht ähneltdabei <strong>in</strong> gewisser Weise sogar dem hier verfolgten +ökologischen* Ansatz: Dadurch nämlich,


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 105daß die neuere Systemtheorie die +ältere Vorstellung von Systemen als geschlossenen, fensterlosenMonaden* überw<strong>in</strong>det, wird, so Teubner, die Möglichkeit eröffnet, +das Zusammenspielvon Systemen und Umwelten und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Abhängigkeit <strong>der</strong> Systeme von ihrenUmwelten <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund zu rücken* (Autopoiese im Recht; S. 5).Wie stellt sich vor diesem theoretischen H<strong>in</strong>tergrund das Verhältnis von Recht und <strong>Politik</strong>dar? – Recht ist gemäß diesem Verständnis nicht e<strong>in</strong>seitig Mittel von <strong>Politik</strong>, und die politischeInstrumentalisierung des Rechts führt auch nicht immer zum beabsichtigten Ziel o<strong>der</strong> konterkariertdieses sogar (vgl. ebd.; S. 7f.).97Das steht für Teubner im Zusammenhang mit <strong>der</strong> angeblichen(im Rahmen se<strong>in</strong>es Konzepts reflexiven Rechts noch nicht so gesehenen) Selbstorganisationdes Rechtssystems, d.h. e<strong>in</strong> selbstreferenzieller (ke<strong>in</strong> reflexiver!) Zirkel entsteht: Rechtshandlungen,Rechtsnormen, Rechtsverfahren und Rechtsdogmatik werden im Rechtssystemautonom +hergestellt*, wobei sich die Unterscheidung Recht/Unrecht verselbständigt hat (vgl.ebd.; S. 14f.). Doch diese Verselbständigung, und das ist das <strong>in</strong>teressante an Teubners Interpretation,f<strong>in</strong>det im Rahmen e<strong>in</strong>er +(sub)systemischen* Ko-Evolution statt: Auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong>konkreten Interaktionen kommt es zu Abstimmungsprozessen zwischen den verschiedenenTeilsystemen (vgl. ebd.; S. 38ff.).Da die Systeme Recht und <strong>Politik</strong>, wie dargelegt, sehr eng (strukturell) ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gekoppelts<strong>in</strong>d (d.h. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kritischen Übersetzung: sie bilden e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>stitutionellen Machtkomplex)und entsprechend viele Interaktionen zwischen beiden Systemen stattf<strong>in</strong>den, liegt es naheanzunehmen, daß die Ko-Evolution zwischen dem politischen und dem Rechtssystem beson<strong>der</strong>sausgeprägt ist, das heißt, beide Systeme stabilisieren sich durch e<strong>in</strong>e symbiotische (doch nichtimmer harmonische) Anpassung gegenseitig, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nur sche<strong>in</strong>bar wi<strong>der</strong>sprüchlichen(deflexiven) Dialektik von Verrechtlichung und Politisierung äußert (vgl. auch Hagen: Politisierungdes Rechts – Verrechtlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>; S. 23). Es handelt sich um e<strong>in</strong>e nur sche<strong>in</strong>bar wi<strong>der</strong>sprüchlicheDialektik, da <strong>der</strong> politische Charakter dem Rechtssystem und <strong>der</strong> rechtliche Charakterdem <strong>Politik</strong>system immanent ist und ihr +funktionaler* Zusammenhang gerade die Grundlageihrer <strong>in</strong>stitutionellen Ausdifferenzierung darstellt, da so, wie Luhmann analytisch scharfsichtigherausgearbeitet hat, politische Neutralisierung und Protestabsorption möglich wird (siehenochmals das Zitat auf S. 101).98Beide Prozesse, Politisierung und Verrechtlichung, sollen,um dieses Argument <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er kritischen Dimension deutlicher zu machen, im folgenden näherbeleuchtet werden.


106 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDie Politisierung <strong>der</strong> Justiz, die beson<strong>der</strong>s Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre Gegenstand e<strong>in</strong>er breiterenDiskussion war, aber auch durch e<strong>in</strong>ige strittige Urteile des Bundesverfassungsgerichts <strong>in</strong> letzterZeit wie<strong>der</strong> verstärkt zum Thema geworden ist (vgl. z.B. Piazolo: Zur Mittlerrolle des Bundesverfassungsgerichts<strong>in</strong> <strong>der</strong> Deutschen Verfassungsordnung; S. 8f. und siehe auch hier S. 111ff.),vollzieht sich <strong>in</strong> zweifacher Weise: e<strong>in</strong>mal, <strong>in</strong>dem sich das Rechtssystem aus eigener Initiativepolitischer Fragen +bemächtigt* (ich spreche <strong>in</strong> diesem Fall von endogener Politisierung), und<strong>in</strong>dem die <strong>Politik</strong> eigentlich politische Entscheidungen auf das Rechtssystem +abwälzt* (<strong>in</strong>diesem Fall spreche ich von exogener Politisierung). Die Verwendung <strong>der</strong> Verben +bemächtigen*und +abwälzen* entspricht dabei <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>ierend negativen (öffentlichen) Perzeption bei<strong>der</strong>Prozesse, da schließlich e<strong>in</strong>e wie auch immer geartete Politisierung gemäß <strong>der</strong> weith<strong>in</strong> ver<strong>in</strong>nerlichtenIdeologie des liberalen Rechtsstaats <strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>ten politischen Neutralität <strong>der</strong> Justizzuwi<strong>der</strong> läuft (vgl. dazu GG; Art. 20, Abs. 3 sowie Litten: Die Politisierung <strong>der</strong> Justiz; S. 18ff.).Die oben getroffene Unterscheidung ist jedoch sehr hilfreich, wenn man e<strong>in</strong> Verständnis fürdie <strong>in</strong>nere Dialektik dieses Prozesses entwickeln will:Aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> stellt die endogene Politisierung des Rechtssystems e<strong>in</strong>e Bedrohung<strong>der</strong> eigenen Systemautonomie wie des politischen Entscheidungsmonopols von Legislativeund Exekutive dar (was sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>em stärkeren +juridical self-restra<strong>in</strong>t*ausdrückt).99Durch die +politische Initiative* <strong>der</strong> Richter werden jedoch gleichzeitig +Regelungs-defizite* des politischen Systems ausgeglichen und dieses damit <strong>in</strong>stitutionell abgestützt un<strong>der</strong>gänzt.Die exogene Politisierung <strong>der</strong> Justiz als politische Instrumentalisierung des Rechtssystems entlastetdie <strong>Politik</strong> dagegen ganz offensichtlich davon, unliebsame, <strong>in</strong>nerpolitisch schwer vermittelbareund damit konfliktträchtige Entscheidungen zu treffen, o<strong>der</strong> bietet die Option e<strong>in</strong>es nachträglichenjuristischen Kippens von Gesetzen durch die Opposition. Die Legalität des juristischenEntscheidens verleiht <strong>in</strong> diesem Fall <strong>der</strong> Entscheidung (bzw. <strong>der</strong> eigentlich +undemokratischen*Infragestellung <strong>der</strong> parlamentarischen Mehrheitsentscheidung) Legitimität – legitimiert aberauch, durch die politische Anerkennung se<strong>in</strong>er Zuständigkeit, das Rechtssystems selbst. Trotzdemersche<strong>in</strong>t aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Justiz exogene Politisierung verständlicherweise eher als Belastung,da sie nicht nur gezwungen wird, sich auf formal-rechtlicher Ebene mit eigentlich politischenStreitfragen ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen, son<strong>der</strong>n so auch Gefahr läuft, <strong>in</strong>s politische und öffentlicheKreuzfeuer zu geraten.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 107Die endogene Politisierung des Rechtssystems wie<strong>der</strong>um wird, wie schon oben angedeutet,als Ergebnis <strong>der</strong> Erfor<strong>der</strong>nis zur extensiveren wie <strong>in</strong>tensiveren Rechtsauslegung aufgrund politischerRegelungsdefizite gedeutet. Denn wegen des beschleunigten sozialen Wandels, kanndie <strong>Politik</strong> – trotz <strong>der</strong> feststellbaren Verrechtlichungstendenzen (siehe S. 114–120) – nichtschnell genug auf gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ungen mit neuen (o<strong>der</strong> <strong>der</strong> neuen Lage angepaßten)Gesetzen reagieren (vgl. hierzu auch Friedmann: Recht und sozialer Wandel; Kap. 2). Deshalbist es +nach neuerer Rechtsprechung […] die Aufgabe <strong>der</strong> Gerichte, gesetzliche Bestimmungenden <strong>in</strong> tatsächlicher o<strong>der</strong> rechtlicher H<strong>in</strong>sicht verän<strong>der</strong>ten Verhältnissen anzupassen* (Auszugaus e<strong>in</strong>em Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 9.10.1956, zitiert nach Litten: Politisierung<strong>der</strong> Justiz; S. 29).100Die Gesellschaft ist also offenbar auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> Justizstärker differenziert als die Gesetzesregelungen, und so muß sich diese (um den gesellschaftlichenVerhältnissen +gerecht* zu werden) ihr eigenes Recht schaffen – d.h. (gemäß e<strong>in</strong>em strenggewaltenteiligen Verständnis): e<strong>in</strong>e Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wahrnehmen. 101Die solchermaßen gefor<strong>der</strong>ten Richter können diesen Umstand nun beklagen und sich aufihr Rollenbild versteifen, das ihnen traditionell e<strong>in</strong>e strikte Trennung von <strong>der</strong> politischen Sphäregebietet.102Die an<strong>der</strong>e Möglichkeit besteht dar<strong>in</strong>, die gewonnenen Autonomiefreiräume zubegrüßen und sie entsprechend zu nutzen. Hierzu Rudolf Wassermann, (damals) Oberlandesgerichtspräsident<strong>in</strong> Braunschweig, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre vielbeachteten Buch:+Me<strong>in</strong>e Position <strong>in</strong> dem Streit um den politischen Richter ist seit Jahren unverän<strong>der</strong>t. In <strong>der</strong> Publizistik,aber auch sonst wird sie oft dah<strong>in</strong> <strong>in</strong>terpretiert, daß ich den politischen Richter for<strong>der</strong>e. Ich pflegedarauf zu verweisen, daß das nicht richtig, weil überflüssig ist. Den politischen Richter braucht niemandzu for<strong>der</strong>n. Denn die politische Funktion des Richters versteht sich von selbst. Jede Justiz ist politisch,ob man das nun zugibt o<strong>der</strong> nicht […] Was ich for<strong>der</strong>e ist erstens: daß sich <strong>der</strong> Richter des politischenCharakters se<strong>in</strong>er Tätigkeit bewußt wird, zweitens: daß er sich zu <strong>der</strong> damit verbundenen Verantwortunggegenüber <strong>der</strong> Gesellschaft bekennt, und drittens: daß er bei se<strong>in</strong>en politischen Entscheidungen nichtprivaten Vorlieben o<strong>der</strong> schichtspezifischen Präferenzen folgt, son<strong>der</strong>n sich an <strong>der</strong> Verfassung orientiert.*(Der politische Richter; S. 17)In diesen Ausführungen Wassermanns kl<strong>in</strong>gt die generelle Zwiespältigkeit des richterlichenAuslegungs- und Interpretationsfreiraums an. Dieser kann sozial-politisch +<strong>in</strong>novativ* genutztwerden (etwa wenn neue, +posttraditionale* Formen des Zusammenlebens durch richterlicheRechtsprechung mit <strong>der</strong> bürgerlichen Institution <strong>der</strong> Ehe gleichgestellt werden, wofür es erst


108 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>in</strong> letzter Zeit e<strong>in</strong>ige erste, zaghafte Ansätze gibt).103Er kann aber auch zum Zweck <strong>der</strong> Kon-servierung und Stabilisierung +überkommener* moralischer o<strong>der</strong> politischer Vorstellungendienen (etwa wenn selbiges unter Verweis auf den verfassungsrechtlich104beson<strong>der</strong>s geschütztenStatus von Ehe und Familie unterbleibt o<strong>der</strong> passiver Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Bürger <strong>in</strong> Form vonSitzblockaden und <strong>der</strong>gleichen durch die Rechtsprechung +krim<strong>in</strong>alisiert* wird) – was aufgrund<strong>der</strong> sozialen Struktur <strong>der</strong> Richterschaft und vor allem ihrer beruflichen Sozialisation sicherlichke<strong>in</strong>e seltene Entscheidungstendenz darstellt (vgl. hierzu z.B. Treiber: Juristische Lebensläufesowie Rottleuthner: Klassenjustiz?).105Es muß allerd<strong>in</strong>gs klargestellt werden, daß die Recht-sprechung paradoxerweise <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em Maße dann konservierend und politisch stabilisierendwirkt, wenn sie e<strong>in</strong>em +<strong>in</strong>novativen* Impuls folgt, denn sie entlastet gerade dadurch das politischeSystem von (sozialem) +Anpassungsdruck*.Nach diesen theoretischen Erörterungen soll die Politisierung <strong>der</strong> Justiz am Beispiel <strong>der</strong> Institutiondes Bundesverfassungsgerichts veranschaulicht werden. E<strong>in</strong> Verfassungsgericht ist – obwohlVerfassungsgerichte o<strong>der</strong> ähnliche Institutionen <strong>in</strong> den meisten Staaten existieren – nach gängigerAuffassung ke<strong>in</strong> notwendiger Bestandteil des Rechtsstaats, wird aber von vielen Autoren alsdessen +Krönung* angesehen, da nur durch e<strong>in</strong>e (übergeordnete) Verfassungsgerichtsbarkeite<strong>in</strong>e tatsächliche rechtliche Kontrolle von Legislative und Exekutive erfolgen könne (vgl. z.B.Clemens: Das Bundesverfassungsgericht im Rechts- und Verfassungsstaat; S. 13f.).Der Zuständigkeitsbereich des Bundesverfassungsgerichts, das se<strong>in</strong>e Arbeit im September1951 <strong>in</strong> Karlsruhe aufgenommen hat, umfaßt im Rahmen dieser Kontrollfunktion nach Artikel93 des Grundgesetzes: 1. Organstreitigkeiten zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Verfassungsorganen,2. Streitigkeiten über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (abstrakte und konkrete Normenkontrolle),3. Streitigkeiten zwischen Bund und Län<strong>der</strong>n (fö<strong>der</strong>ative Kompetenzkonflikte), 4.Verfassungsbeschwerden von Bürgern sowie 5. e<strong>in</strong>e Reihe weiterer, an verschiedenen Stellendes Grundgesetzes genannte Kompetenzfel<strong>der</strong>, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Maßnahmen zur Sicherung <strong>der</strong>Demokratie wie das Parteienverbotsverfahren nach Art. 21, Abs. 2 GG.106+Damit ist das Bundes-verfassungsgericht als höchster Streitentschei<strong>der</strong> allen staatlichen Instanzen übergeordnet,und zwar nicht nur <strong>der</strong> Exekutive […] und <strong>der</strong> Legislative […], son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Judikative[…]* (Ebd.; S. 15)Im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich zeigt sich, daß das Bundesverfassungsgericht – das sich als aufVerfassungsfragen +spezialisiertes* Gericht nicht am amerikanischen +Supreme Court*, son<strong>der</strong>n


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 109am österreichischen Modell anlehnt – angesichts se<strong>in</strong>er umfassenden Kompetenzen nur wenigewirklich gleichwertige Entsprechungen <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Staaten hat (vgl. Weber: Verfassungsgerichte<strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n; S. 61ff. und S. 67f.). Und an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> den meisten Län<strong>der</strong>n werden107 108die je acht Richter <strong>der</strong> beiden Senate auch alle<strong>in</strong>e durch das/die Parlament(e) (d.h. Bundes-tag und Bundesrat) bestellt (vgl. ebd.; S. 65f.). Das Bundesverfassungsgericht besitzt also,sowohl was se<strong>in</strong>en Zuständigkeitsbereich betrifft wie auch durch den Modus <strong>der</strong> Richterwahl,e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>s ausgeprägte <strong>Politik</strong>verflechtung. Trotzdem wird es von <strong>der</strong> Öffentlichkeit alspolitisch unabhängige Rechts<strong>in</strong>stitution wahrgenommen und genießt nicht zuletzt deswegene<strong>in</strong> sehr hohes Ansehen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung.Gelegentlich wird nun von wissenschaftlicher Seite zum<strong>in</strong>dest dem Argument e<strong>in</strong>er politisiertenRichterwahl entgegengehalten, daß die im BVerfGG (§ 6f.) festgeschriebene Zweidrittel-Mehrheite<strong>in</strong>e zu starke e<strong>in</strong>seitige parteipolitische Prägung <strong>der</strong> Kandidaten verh<strong>in</strong><strong>der</strong>e. Die Parlamentsfraktionenkönnen jedoch die gegenseitige Zustimmung zu +ihren* Kandidaten leicht untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>+aushandeln*, auch wenn diese e<strong>in</strong>e augenfällige parteipolitische +Färbung* aufweisen(vgl. hierzu auch Iffensee: Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und <strong>Politik</strong>; S. 54f.).Dem hält wie<strong>der</strong>um Gerd Roellecke entgegen:+Waren die Parteigänger als Richter stark, haben sie sich schnell mit ihrer neuen Rolle identifiziertund ihre Loyalitäten zu den politischen Parteien gelockert […] Waren die Parteigänger als Richterschwach, haben sie sich zwar stärker an ihre Partei gebunden gefühlt, aber dann hatten sie im Senatnichts zu sagen.* (Das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts und die Verfassung; S. 34)Diese Aussage kl<strong>in</strong>gt sehr nach rechtsprofessioneller Ideologie. Gerade Roellecke beweistjedoch, daß er gängigen Vorstellungen kritisch gegenübersteht, <strong>in</strong>dem er die +offizielle* Sichtweiseh<strong>in</strong>terfragt und alternative Interpretationen anbietet. Dies zeigt sich an se<strong>in</strong>er Beurteilungdes Verfassungsbeschwerdeverfahrens. Verfassungsbeschwerden können (wie oben angesprochen)nach Art. 93 (Abs. 4a) GG von Bürgern e<strong>in</strong>gereicht werden, die sich durch die öffentlicheGewalt <strong>in</strong> ihren Grundrechten bee<strong>in</strong>trächtigt fühlen. Dieses Verfahren erfreut sich großer+Beliebtheit*: 1993 hatte das Bundesverfassungsgericht 5.246 Beschwerden zu bearbeiten– fast doppelt soviel wie noch Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre und obwohl die E<strong>in</strong>reichung seit 1985gebührenpflichtig ist. Insgesamt g<strong>in</strong>gen bis 1993 ca. 92.000 Verfassungsbeschwerden e<strong>in</strong>,von denen allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> Großteil nicht e<strong>in</strong>mal die Vorprüfung überstand und letztendlich


110 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEnur etwa 2.500 im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Antragsteller erfolgreich waren, was e<strong>in</strong>er Erfolgsquote von 2,7%entspricht (vgl. ebd.; S. 37f. und S. 40). Angesichts dessen bemerkt Roellecke:+Die Verfassungsbeschwerde hilft dem Bürger kaum. Bei je<strong>der</strong> Tombola ist die Trefferquote höherals [etwas über] zwei Prozent. Aber sie ist e<strong>in</strong> Indiz für Achtung und Ansehehen des Bundesverfassungsgerichts.Sie verschafft ihm e<strong>in</strong>e Art populistischer Legitimation, die mit Demokratie allerd<strong>in</strong>gs nichtszu tun hat, son<strong>der</strong>n eher daran er<strong>in</strong>nert, daß schon die Monarchen des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts Bittschriften[…] ganz ähnlich als Legitimationsausweise verstanden haben […]* (Ebd.; S. 39)Auch von <strong>der</strong> Qualität <strong>der</strong> Rechtsprechung des Verfassungsgerichts hält Roellecke nicht viel(vgl. ebd.; S. 40–44), das zudem nur e<strong>in</strong>e schwache, nämlich <strong>in</strong>direkte demokratische Legitimationbesitzt (siehe die gemachten Bemerkungen zur Richterwahl und vgl. auch ebd.; S.45). Entsprechend gelangt er zu dem Schluß, daß das Ansehen dieses Gerichts sich nichtaus ihm selbst heraus, son<strong>der</strong>n nur aus dem Ansehen <strong>der</strong> von ihm juristisch verwalteten,+gehüteten* Verfassung herleiten kann.Jede Verfassung beansprucht ihrem Wesen nach, obwohl sie positives Recht ist, e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>en,dem e<strong>in</strong>fachen Recht übergeordneten Status, schreibt e<strong>in</strong>en politischen Grundkonsens(unverrückbar) fest und entlastet so das politische Tagesgeschäft von Grundsatzause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen.Die Paradoxie e<strong>in</strong>es Überpositivität beanspruchenden positiven Rechts wird gelöst,<strong>in</strong>dem die politische Geme<strong>in</strong>schaft die Verfassung verklärt und idealisiert (vgl. auch ebd; S.46). Der Verweis auf e<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>spruch zum Grundgesetz ist deshalb e<strong>in</strong> +Totschlagargument*,das den Gegner zum Verfassungsfe<strong>in</strong>d und politischen Außenseiter erklärt. Die säkularisiertenHeilserwartungen <strong>der</strong> Bürger, die von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> enttäuscht worden s<strong>in</strong>d, haben sich – sofernsolche angesichts <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen +Ernüchterung* überhaupt noch bestehen bzw. sich <strong>in</strong>das bestehende System <strong>in</strong>tegrieren lassen – auf das Recht und die Justiz verlagert, die alspolitisch sche<strong>in</strong>bar neutrale Instanzen die Illusion von Gerechtigkeit vermitteln (vgl. dazuauch Bubner: Zur juristischen Substituierung des Politischen; S. 399). Und selbst Habermasplädiert ja mittlerweile für e<strong>in</strong>en +Verfassungspatriotismus* (vgl. z.B. Staatsbürgerschaft undnationale Identität; S. 642f.) und gerät so <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e merkwürdige Nähe zu eher konservativenGeistern wie Dolf Sternberger, auf den dieser Begriff zurückgeht. 109Die <strong>Politik</strong> profitiert <strong>in</strong>direkt von <strong>der</strong> relativen Aufwertung des Rechts(systems): Mit <strong>der</strong> verfassungsrechtlichenÜberprüfung e<strong>in</strong>es Gesetzes o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er exekutiven Entscheidung erfolgt,wenn die Konformität mit dem Grundgesetzt bejaht wird, e<strong>in</strong> Retransfer von Legitimität. Der


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 111+Segen* des Bundesverfassungsgericht entlastet von politischer Entscheidung, Begründungund Überzeugung. Läßt sich also die Opposition auf das +Spiel* e<strong>in</strong>er Verfassungsklage (Normenkontroll-o<strong>der</strong> Organklage) e<strong>in</strong>, so begibt sie sich auf glatten Boden: Nur wenn sie Erfolg hat,kann sie dem politischen Gegenüber e<strong>in</strong>e herbe Nie<strong>der</strong>lage durch partiellen Legitimitätsentzugbereiten. Unterliegt sie jedoch, so erhält das Regierungshandeln e<strong>in</strong>e rechtliche Legitimitätsstütze,während die oppositionelle Klage als Instrumentalisierung des Verfassungsgerichts dargestelltwerden kann. Unabhängig vom konkreten Ausgang wirkt allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> oben angesprochenedeflektorische Mechanismus des rechtlichen Verfahrens.Dieser Zusammenhang soll abschließend anhand des vor dem Bundesverfassungsgerichtausgetragenen Rechtsstreits zum Somalia-E<strong>in</strong>satz <strong>der</strong> Bundeswehr im Rahmen <strong>der</strong> UNOSOM II-Mission von 1993 kurz illustriert werden, wobei ich mich auf die Ausführungen von DieterBlumenwitz stützen möchte (vgl. Verteidigungs- und Sicherheitspolitik – E<strong>in</strong> Streitfall für dasVerfassungsgericht?): Aufgrund <strong>der</strong> ungünstigen Entwicklung <strong>der</strong> Lage <strong>in</strong> Somalia reichte dieSPD-Bundestagsfraktion Organklage beim Bundesverfassungsgericht e<strong>in</strong>. Sie befürchtete e<strong>in</strong>eGefährdung deutscher Soldaten und sah deshalb die Kompetenzen <strong>der</strong> Regierung überschritten,die sich bei <strong>der</strong> Beteiligung an <strong>der</strong> UN-Mission nur auf e<strong>in</strong>e unverb<strong>in</strong>dliche, re<strong>in</strong> akklamatorischeEntschließung des Bundestags mit e<strong>in</strong>facher Mehrheit stützen konnte. In diesem Zusammenhangstellte sie auch e<strong>in</strong>en Eilantrag, +die Bundesregierung anzuweisen, bis zur Entscheidung überden […] Organstreit die bereits <strong>in</strong> Somalia bef<strong>in</strong>dlichen Soldaten <strong>der</strong> Bundeswehr zurückzuziehenund ke<strong>in</strong>e weiteren Soldaten nach Somalia zu entsenden* (zitiert nach ebd.; S. 93). DiesenEilantrag wies das Gericht ab, for<strong>der</strong>te aber, daß bis zur Entscheidung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hauptsachezum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> positiver (über e<strong>in</strong>e bloße Entschließung h<strong>in</strong>ausgehen<strong>der</strong>) +konstitutiver* Beschlußdes Bundestags (allerd<strong>in</strong>gs ebenfalls nur mit e<strong>in</strong>facher Mehrheit) zu erfolgen hätte und auchalle weiteren Maßnahmen <strong>der</strong> Bundesregierung <strong>in</strong> dieser Sache <strong>der</strong> (ausdrücklichen) parlamentarischenZustimmung bedürften (vgl. ebd.; S. 93ff.). Dem konnte die Bundesregierunggelassen entgegensehen. Im letztendlichen Urteil des Gerichts vom 12. Juli 1994 wurde dieVerfassungsmäßigkeit des Somalia-E<strong>in</strong>satzes festgestellt. Es legte dem Gesetzgeber aber nahe,Form und Inhalt <strong>der</strong> parlamentarischen Mitwirkung bei Streitkräftee<strong>in</strong>sätzen im Rahmen e<strong>in</strong>esEntsendegesetzes näher zu gestalten (vgl. ebd; S. 100).Wie können dieses verfassungsrechtliche Verfahren an sich und se<strong>in</strong> Ergebnis <strong>in</strong>terpretiertwerden? – Blumenwitz selbst gibt e<strong>in</strong>e sehr konservative Deutung: Er beschuldigt zum e<strong>in</strong>en


112 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdie Bundesregierung, nicht e<strong>in</strong>deutig genug auf ihrer exekutiven Gestaltungskompetenz bestandenund damit e<strong>in</strong>e Verfassungsklage <strong>der</strong> Opposition praktisch provoziert zu haben (vgl. ebd.;96f.). Dies gelte <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für die an <strong>der</strong> Regierung beteiligte FDP, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ähnlichgelagerten, zuvor dem Verfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegten Fall (es g<strong>in</strong>g um denE<strong>in</strong>satz deutscher Truppen im Rahmen des AWACS-E<strong>in</strong>satzes <strong>der</strong> NATO zur Durchsetzungdes Flugverbots über Bosnien) sogar auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Opposition als Kläger<strong>in</strong> aufgetretenwar (vgl. ebd.). Zum Verhalten <strong>der</strong> SPD me<strong>in</strong>t Blumenwitz: +In Anbetracht <strong>der</strong> honorigen[!] Angebote <strong>der</strong> Regierungsparteien zur Zusammenarbeit war die SPD-Bundestagsfraktionvon allen guten Geistern verlassen, den Verfassungsstreit vor das Bundesverfassungsgerichtzu tragen* (ebd.; S. 98). Vielmehr hätte sie ihre +Alles-o<strong>der</strong>-Nichts*-Taktik aufgeben und sichkompromißbereit zeigen sollen, um den politischen Prozeß mitgestalten zu können (vgl. ebd.).Dem Verfassungsgericht bestätigt Blumenwitz, +<strong>in</strong>sgesamt doch noch auf <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> gebotenenrichterlichen Zurückhaltung* gelegen zu haben (ebd.; S. 96), kritisiert allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en gewissen+juridical activism* und me<strong>in</strong>t, das Gericht habe zu stark <strong>in</strong> die Sphäre <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>eden exekutiven Gestaltungsfreiraum h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>dirigiert (vgl. ebd.; S. 98f.).Dies ist e<strong>in</strong>e sehr aufschlußreiche Interpretation, denn sie demonstriert, wie wenig im allgeme<strong>in</strong>endie neben ihrem offensichtlichen Zweck (hier: die angestrebte Revidierung e<strong>in</strong>esRegierungsbeschlusses) bestehende legitimierende und deflektorische Funktion des verfassungsrechtlichenVerfahrens reflektiert wird, und wie verschiedene Elemente gewaltenteiliger Ideologiekontradiktorisch vermengt werden. Der Regierung konnte nämlich e<strong>in</strong>e verfassungsrechtlicheKlärung <strong>der</strong> Frage auf dem Gerichtsweg (entgegen <strong>der</strong> Auffassung von Blumenwitz) nur gelegenkommen. Das Risiko, e<strong>in</strong>e solche durch die Schaffung von Fakten zu +provozieren*, war kalkulierbarund ger<strong>in</strong>g. Dem Verfassungsgericht wäre es kaum möglich gewesen, an<strong>der</strong>s zuentscheiden, denn es hätte damit e<strong>in</strong> wichtiges Element des politischen Systems (die außenpolitischeHandlungskompetenz <strong>der</strong> Regierung) und damit letzendlich auch sich selbst <strong>in</strong>Frage gestellt (da es ja entsprechend dem grundgesetzlichen Auftrag dieses System zu schützenhat und selbst se<strong>in</strong> Bestandteil ist). Die Begründung zur Ablehnung e<strong>in</strong>es FDP- und SPD-Eilantrags<strong>in</strong> <strong>der</strong> oben angesprochenen AWACS-Sache zeigt diese (pragmatische) Orientierung des Gerichtsan <strong>der</strong> Staatsraison sehr offen: Dem Antrag stattzugeben, so die Begründung, wäre +als e<strong>in</strong>eempf<strong>in</strong>dliche Störung <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Völkergeme<strong>in</strong>schaft autorisierten und von <strong>der</strong> NATO unterstütztenMaßnahme empfunden* worden und hätte e<strong>in</strong>en Vertrauensverlust bei den Bünd-


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 113nispartnern bewirkt (zitiert nach ebd.; S. 91f.). Durch diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtsund die Entscheidung zum Somalia-E<strong>in</strong>satz bekamen politisch zum<strong>in</strong>dest fragwürdigeRegierungsbeschlüsse verfassungsrechtlichen Segen.Doch was bewegte die Opposition zu klagen? Konnte sie wirklich hoffen, +Recht* zu bekommen?Ich möchte dies bezweifeln. Aber es g<strong>in</strong>g wohl auch nicht so sehr darum, e<strong>in</strong>en tatsächlichenErfolg zu erstreiten, son<strong>der</strong>n vielmehr, sich <strong>der</strong> eigenen oppositionellen Rolle zu versichernund dies auch <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu demonstrieren, die <strong>in</strong> dieser Frage durchaus gespaltenwar. Anstatt aber e<strong>in</strong>e politische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung zu führen (was auch passiven o<strong>der</strong> aktivenWi<strong>der</strong>stand gegen den E<strong>in</strong>satz hätte bedeuten können), schlug man e<strong>in</strong>en konstitutionellenWeg e<strong>in</strong>. Man entledigte sich also e<strong>in</strong>er unbequemen politischen Rolle, <strong>in</strong>dem man das Problemzu e<strong>in</strong>em rechtlichen Problem def<strong>in</strong>ierte (was es primär nicht ist) und es an das Bundesverfassungsgerichtzur Entscheidung übermittelte.Das Bundesverfassungsgericht se<strong>in</strong>erseits wurde <strong>der</strong> ihm zugedachten Rolle voll und ganzgerecht. Es versuchte die Erwartungshaltungen sowohl <strong>der</strong> Regierung wie <strong>der</strong> Oppositionzu befriedigen und dabei im Rahmen <strong>der</strong> Verfassung zu verbleiben, womit es wirksam dasRegierungshandeln legitimiert und die (parlamentarische) Opposition deflektorisch <strong>in</strong>tegrierthatte. Dies erreichte es, <strong>in</strong>dem es die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er parlamentarischen Zustimmungbei Fragen des Truppene<strong>in</strong>satzes im Ausland hervorhob (und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Urteil die Schaffunge<strong>in</strong>es Entsendegesetzes anregte), dieses parlamentarische Recht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Entscheidung zumEilantrag aber so faßte, daß e<strong>in</strong> Kippen des Regierungsbeschlusses aufgrund <strong>der</strong> Mehrheitsverhältnissenicht wahrsche<strong>in</strong>lich erschien.110Dabei konnte sich das Bundesverfassungsgerichtauf die klassische Ideologie <strong>der</strong> Gewaltenteilung stützen, die ja e<strong>in</strong>e strikte Trennung undGegenüberstellung von Legislative (Parlament) und Exekutive (Regierung) unterstellt, welcheim parlamentarischen System aber praktisch durch die Gegenüberstellung von Regierung(sparteien)und Opposition(sparteien) aufgehoben ist.Daß sich die FDP, wie oben bemerkt, paradoxerweise im Fall des AWACS-E<strong>in</strong>satzes diesemVerständnis von Gewaltenteilung gemäß verhielt und gegen die Regierung, an <strong>der</strong> sie selbstmaßgeblich beteiligt war, Klage e<strong>in</strong>reichte, wird von Blumenwitz bezeichnen<strong>der</strong>weise starkkritisiert. Dabei beharrt er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Punkt geradezu dogmatisch auf e<strong>in</strong>er strengenGewaltenteilung – nämlich wenn er die Exekutive vor Übergriffen <strong>der</strong> Legislative wie <strong>der</strong>Judikative schützen will. Hieran zeigt sich, daß sich verschiedene Elemente <strong>der</strong> gewaltenteiligen


114 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEIdeologie unterschiedlich <strong>in</strong>strumentalisieren lassen und als Grundlage bzw. Überbau für diePraxologie des juristischen Verfahrens dienen.Die hier am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts veranschaulichte Politisierung <strong>der</strong> Justizist jedoch nur die e<strong>in</strong>e Seite <strong>der</strong> politisch deflektorischen Funktion des Rechts. Sie wird praxologischergänzt durch e<strong>in</strong>e (allerd<strong>in</strong>gs ebenso <strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchliche) Verrechtlichung <strong>der</strong><strong>Politik</strong>. Verrechtlichung (als begrifflicher Ausdruck für e<strong>in</strong>e wahrgenommene Dom<strong>in</strong>anz desRechtssystems über die <strong>Politik</strong>) und Politisierung (als begrifflicher Ausdruck für e<strong>in</strong>e wahrgenommeneDom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> über das Rechtssystem) stehen tatsächlich nämlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emfunktionalen Wirkungszusammenhang, wie auch bereits oben, als Ergebnis <strong>der</strong> Diskussionüber das grundsätzlich Verhältnis von <strong>Politik</strong> und Recht, angemerkt wurde (siehe S. 105).Die <strong>in</strong> diesem Kontext getroffene Unterscheidung zwischen endogener und exogener Politisierungkann deshalb parallel auf das Feld <strong>der</strong> Verrechtlichung übertragen werden: So ist die thematisierteexogene Politisierung <strong>der</strong> Justiz durch das Mittel <strong>der</strong> Organklage gleichzeitig e<strong>in</strong> Beispielfür die endogene Verrechtlichung bzw. Justizialisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> – d.h. e<strong>in</strong> politisches +Machtspiel*wird rechtlich ausgetragen, um das +Spielfeld* zur Erhöhung <strong>der</strong> eigenen Gew<strong>in</strong>nchancenauszudehnen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en politischen Konflikt rechtlich zu entschärfen. O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ausgedrückt:Durch die Übersetzung e<strong>in</strong>er politischen (Streit-)Frage <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en juristischen Diskurs erhältdie <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>en deflektorischen Übersetzungsgew<strong>in</strong>n.Die endogene Politisierung <strong>der</strong> Justiz durch den +politischen (Verfassungs-)Richter* ist wie<strong>der</strong>ume<strong>in</strong> Beleg für die gleichfalls stattf<strong>in</strong>dende exogene Verrechtlichung bzw. Justizialisierung, diee<strong>in</strong>en +Übergriff* von außen auf die Machtsphäre <strong>der</strong> politischen Institutionen durch das Mitteldes Rechts – im Zuge se<strong>in</strong>er Schaffung wie durch se<strong>in</strong>e Anwendung und Auslegung – bedeutet,was aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> sozusagen den negativen Nebeneffekt +gewollter* Verrechtlichungdarstellt. Mit <strong>der</strong> präzisierenden Verwendung des Begriffs +Justizialisierung* und dem gemachtenE<strong>in</strong>schub wurde allerd<strong>in</strong>gs angedeutet, daß Verrechtlichung mehrere Dimensionen aufweist.Nach Rüdiger Voigt s<strong>in</strong>d dies – zusätzlich zur oben schon im wesentlichen abgehandeltenJustizialisierung (als judikative Komponente) – Bürokratisierung (als exekutive Komponente)und Vergesetzlichung (als legislative Komponente) (vgl. Verrechtlichung <strong>in</strong> Staat und Gesellschaft;S. 18).Voigt stellt e<strong>in</strong>e wichtige Stimme im Rahmen <strong>der</strong> bundesdeutschen Verrechtlichungsdebattedar, die <strong>in</strong> den 70er und den 80er Jahren sehr <strong>in</strong>tensiv geführt wurde, mittlerweile (angesichts


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 115von Deregulierungsbestrebungen) aber etwas e<strong>in</strong>geschlafen ist.111Die Sache an sich und auch<strong>der</strong> Begriff s<strong>in</strong>d aber natürlich wesentlich älter. Schon 1928 konnte Otto Kirchheimer bemerken:+Man schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung, je<strong>der</strong> tatsächlichen, je<strong>der</strong> Macht-Entscheidungwird auszuweichen gesucht […]; alles wird neutralisiert dadurch, daß man es juristisch formalisiert[…] Der Staat lebt vom Recht, aber es ist ke<strong>in</strong> Recht mehr, es ist e<strong>in</strong> Rechtsmechanismus […] Dasrechtsstaatliche Element <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er nach <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung des re<strong>in</strong>en Liberalismus nun sichtbaren Gestalt,die spezifische Transponierung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge vom Tatsächlichen <strong>in</strong>s Rechtsmechanistische, ist das wesentlicheMerkmal des Staates im Zeitalter des Gleichgewichts <strong>der</strong> Klassengegensätze.* (Zur Staatslehre desSozialismus und Bolschewismus; S. 36)Kirchheimer hat hier nicht nur klar die allgeme<strong>in</strong>e Funktion <strong>der</strong> Verrechtlichung als deflektorischeEntpolitisierung herausgearbeitet. Speziell spricht er die juristische Formalisierung im Rahmen<strong>der</strong> Vergesetzlichung des Politischen als +Neutralisierungsmechanismus* an. Diese Formalisierungdes Rechts im Zuge <strong>der</strong> neuzeitlichen Rationalisierung wurde von Max Weber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er +Rechtssoziologie*(1922) erstmals e<strong>in</strong>gehend thematisiert: Weber beschreibt hier Formalisierung,also die zunehmende Abstraktheit und Generalität <strong>der</strong> Rechtssätze, als zentrale Tendenz <strong>der</strong>Rechtsentwicklung, die dem Bedürfnis <strong>der</strong> +Gütermarkt<strong>in</strong>teressen* nach e<strong>in</strong>er Berechenbarkeit<strong>der</strong> Verhältnisse entgegenkomme. Diese Entwicklung sei lediglich durch e<strong>in</strong>ige wenige, eherunbedeutende antiformale Entwicklungen geschwächt (vgl. § 8; S. 505–513). 112Doch Weber unterlag damit wohl e<strong>in</strong>er Fehle<strong>in</strong>schätzung. Der sich organisierende Kapitalismusse<strong>in</strong>er Zeit beruhte, wie <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>ne* Wohlfahrtsstaat, auf <strong>der</strong> Intervention <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> mittelsRecht <strong>in</strong> die Sozial- und Wirtschaftssphäre, um die divergierenden sozialen Kräfte zusammenzuhalten(vgl. auch Neumann: Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht <strong>der</strong> bürgerlichenGesellschaft). Im S<strong>in</strong>ne dieses Interesses war es nicht nur rational, son<strong>der</strong>n sogar politischgeboten, das formalisierte Recht +materiell aufzuweichen*.113E<strong>in</strong>zig durch rechtlich gefaßtematerielle Zugeständnisse an die Arbeiterklasse war diese <strong>in</strong>s System zu <strong>in</strong>tegrieren, was zumgroßen Teil gelungen ist, wenn nicht gar von e<strong>in</strong>em Verschw<strong>in</strong>den des Proletariats gesprochenwerden kann (vgl. auch Gorz: Abschied vom Proletariat). 114Diese wohlfahrtsstaatliche Umfunktionierung des Rechts stärkte den speziell <strong>in</strong> Deutschlandohneh<strong>in</strong> traditionell enormen Glauben <strong>in</strong>s Recht. Durch diese +Rechtsgläubigkeit* – die wieje<strong>der</strong> Glaube auf e<strong>in</strong>er Illusion beruht, Freiheit <strong>in</strong> Sekurität verwandelt und politische Beziehungen<strong>in</strong> Rechtsbeziehungen auflöst (vgl. wie<strong>der</strong>um Neumann: Ökonomie und <strong>Politik</strong> im


116 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEzwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 254) – wird Recht für die <strong>Politik</strong> zu e<strong>in</strong>er bequem handhabbaren,kostengünstigen Ressource (vgl. auch Hucke: E<strong>in</strong>schränkung und Erweiterung politischerHandlungsspielräume bei <strong>der</strong> Implementation von Recht; S. 81f.). Dies gilt jedoch nur, sofern<strong>der</strong> materielle Gehalt <strong>der</strong> konkreten Rechtsnorm nicht e<strong>in</strong> bestimmtes Maß übersteigt. Der<strong>in</strong>teraktive Abstimmungsprozeß zwischen <strong>Politik</strong>, Ökonomie und Rechtssystem sorgt jedochdafür, daß dies nicht e<strong>in</strong>tritt. Verrechtlichung bzw. Vergesetzlichung (im Wohlfahrtsstaat) istalso, als deflektorischer Integrationsmechanismus, das Produkt e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Formalisierungund Materialisierung des Rechts.Die Vergesetzlichung hat jedoch nicht nur e<strong>in</strong>en qualitativen Aspekt, <strong>der</strong> dar<strong>in</strong> besteht, daßdurch Recht +Lebenschancen* (Dahrendorf) direkt bee<strong>in</strong>flußt werden (z.B. durch die Steuergesetzgebungo<strong>der</strong> das Hochschulrahmengesetz) und es als Instrument zur sozialen Steuerungbenutzt werden kann (siehe unten). Allgeme<strong>in</strong> beklagt wird vielmehr zumeist e<strong>in</strong>e quantitativeZunahme rechtlicher Regelungen, die John Barton Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre gar von e<strong>in</strong>er +legalexplosion* sprechen ließ (vgl. Beh<strong>in</strong>d the Legal Explosion). Die Dimension dieser rechtlichenExplosion hat für das deutsche Beispiel Erika Müller <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nicht mehr ganz aktuellen, abernoch immer sehr aufschlußreichen empirischen Studie e<strong>in</strong>drücklich vor Augen geführt. Sievergleicht dazu die Daten des +Reichs-Gesetzblatts* zwischen 1878 und 1882 mit den Datendes +Bundesgesetzblatts* im entsprechenden Zeitraum e<strong>in</strong> Jahrhun<strong>der</strong>t später:Tab. 7: Anzahl <strong>der</strong> Gesetze und Verordnungen im historischen Vergleich1878–82 1978–82Gesetze: 81 325Verordnungen: 69 1.131<strong>in</strong>sgesamt: 150 1.456Quelle: Müller: Gesetzgebung im historischen Vergleich; Tab. 1, S. 98f.Es zeigt sich, wie erwartet, daß die Zahl <strong>der</strong> Gesetze und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Verordnungen(die als Exekutiverlässe ke<strong>in</strong>erlei parlamentarischer Zustimmung bedürfen) stark gestiegenist. Hier, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er früheren Veröffentlichung zusammen mit Wolfgang Nud<strong>in</strong>g (vgl. Gesetzgebung– ›Flut‹ o<strong>der</strong> ›Ebbe‹?), versucht sie jedoch darzulegen, daß dieser quantitative Anstieg,entgegen <strong>der</strong> häufig geäußerten Ansicht, nicht auf e<strong>in</strong>e Ausdehnung des gesetzlichen Regelungsbereichszurückzuführen sei. Die Auswertung des Materials anhand e<strong>in</strong>es selbst entwickelten


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 117Kategorienschemas führt Müller vielmehr zu <strong>der</strong> Erkenntnis: +Die Normgebung im 19. Jahrhun<strong>der</strong>that […] annähernd gleich viele Teilbereiche [wie heute] erfaßt, allerd<strong>in</strong>gs an<strong>der</strong>e Schwerpunkte[nämlich <strong>in</strong> den Bereichen F<strong>in</strong>anzen, Personal(wesen) und (bürokratische) Organisation] gesetzt.*(Gesetzgebung im historischen Vergleich; S. 145) 115Diese Schlußfolgerung ersche<strong>in</strong>t mir jedoch nicht wirklich zw<strong>in</strong>gend, da das verwendete Rastermöglicherweise zu grob war. An<strong>der</strong>e Ergebnisse s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>deutiger. Sie beziehen sich auf denTextumfang (durchschnittliche Seitenzahl), die Regelungsdichte (gemessen an <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong>durchschnittlich vorzuf<strong>in</strong>denden Verweisungen) sowie die Regelungs<strong>in</strong>tensität (gemessen an<strong>der</strong> durchschnittlichen Paragraphenzahl) des untersuchten Materials:Tab. 8: Durchschnittlicher Textumfang, Regelungsdichte und Regelungs<strong>in</strong>tensitätGesetzeVerordnungen1878–82 1978–82 1878–82 1978–82Seiten: 3,4 6,3 1,3 2,7Verweisungen: 24,7 114,9 4,4 29,8Paragraphen: 14,7 28,6 5,7 10,9Quelle: Müller/Nud<strong>in</strong>g: Gesetzgebung; Tab. 6, S. 86Man kann aufgrund dieser Daten e<strong>in</strong>e deutliche Zunahme <strong>der</strong> Länge, <strong>der</strong> Interkorrelationund <strong>der</strong> Unterglie<strong>der</strong>ung (Detaillierung) von Gesetzen und Verordnungen konstatieren, wobeiim Gegensatz zur Vergangenheit auch immer weniger tatsächlich +neue* Inhalte rechtlichgefaßt werden, son<strong>der</strong>n überwiegend bestehende Gesetze und Verordnungen nur verän<strong>der</strong>tund angepaßt werden (vgl. ebd.; S. 87f.). 116Gerade die letztgenannten Punkte beziehen sich jedoch schon wie<strong>der</strong> eher auf den qualitativenAspekt und stehen im Zusammenhang mit <strong>der</strong> angesprochenen Funktionsverschiebung desRechts im Rahmen <strong>der</strong> <strong>in</strong>terventionistischen <strong>Politik</strong> des Wohlfahrtsstaats, <strong>der</strong> mit regulativemRecht auf sozialen Wandel reagiert bzw. diesen auch zuweilen <strong>in</strong>itiiert.117Recht durchdr<strong>in</strong>gtdeshalb immer mehr den lebensweltlichen Bereich und normiert zunehmend, wie auch dieDaten von Müller zeigen (siehe nochmals Anmerkung 115), ehemals +vernachlässigte* Bereichewie Bildung, Gesundheit und Arbeitswelt. Zur rechtsförmigen Implementation politischerProgramme ist es jedoch nicht nur notwendig, Recht zu schaffen und Übertretungen zu sanktionieren,son<strong>der</strong>n es werden auch Durchführungs<strong>in</strong>stanzen gebraucht, die mit Kompetenzen


118 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEund Ressourcen ausgestattet werden müssen (vgl. weitergehend Mayntz: Implementationvon regulativer <strong>Politik</strong>; S. 55ff.).Damit ist <strong>in</strong>direkt die dritte von Voigt genannte Verrechtlichungsdimension angesprochen:die Bürokratisierung. Im Fall <strong>der</strong> Bürokratisierung kann man sich nun – da sich <strong>der</strong> Begriffauf e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Tendenz <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Verwaltung (also <strong>der</strong> Exekutive) bezieht – darüberstreiten, ob sie gleichermaßen wie Justizialisierung und Vergesetzlichung zum Phänomen <strong>der</strong>Verrechtlichung zu zählen ist. Trotzdem möchte ich e<strong>in</strong>ige kurze Bemerkungen zu diesenThemenkomplex machen:Die Bürokratisierungsdebatte nimmt, wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal, bei Weber ihren Ansatzpunkt. Dennfür Weber beruht <strong>der</strong> rationale Staat neben formal-rationalem Recht auf dem Fachbeamtentum(vgl. Die rationale Staatsanstalt; § 1, S. 815).118An an<strong>der</strong>er Stelle bezeichnet er die bürokratischeVerwaltung gar als +Keimzelle des mo<strong>der</strong>nen okzidentalen Staates* (Die Typen <strong>der</strong> Herrschaft;§ 4, S. 128). Ihre zentralen Organisationspr<strong>in</strong>zipien s<strong>in</strong>d die sachliche Entscheidung aufgrundfachlicher Qualifikation und die Amtshierarchie mit klar festgelegten Kompetenzen (vgl. ebd.;S. 126f. sowie <strong>der</strong>s.: Wesen, Voraussetzungen und Entfaltung <strong>der</strong> bürokratischen Herrschaft;S. 551f.). Doch gerade aufgrund <strong>der</strong> so erreichten Präzision, Stetigkeit und Verläßlichkeitwohnt <strong>der</strong> Bürokratisierung die Ambivalenz jeglicher Rationalisierung <strong>in</strong>ne (siehe auch S.XXXff.): Die bürokratische Verwaltung ist an<strong>der</strong>en Organisationsformen nicht nur +technischüberlegen* (vgl. ebd.; S. 562), son<strong>der</strong>n Bürokratisierung bedeutet auch +die Herrschaft <strong>der</strong>formalistischen Unpersönlichkeit* (Die Typen <strong>der</strong> Herrschaft; § 4, S. 129).Das politische Eigengewicht <strong>der</strong> Bürokratie wurde von Weber, wie auch von vielen späterenAutoren (vgl. z.B. Mises: Bureaucracy; S. 45ff.), eher ger<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>geschätzt – gerade weil jadie bürokratische Verwaltung ihrem Wesen nach e<strong>in</strong> hierarchisches (<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> untergeordnetes)System darstellt sowie an Recht und Gesetz gebunden ist. Auch von l<strong>in</strong>ker Seite wurde dieBürokratie lange Zeit nur als Erfüllungshelfer<strong>in</strong> <strong>der</strong> Staatsmacht gesehen. Dabei wurde betont,daß die Spitzen von <strong>Politik</strong> (und Verwaltung), Militär und Wirtschaft e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Machtelitebilden (vgl. Mills: The Power Elite). Gerade solche Wahrnehmungen verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten e<strong>in</strong>e Schärfungdes Blicks für die Selbstläufigkeit bürokratischer Organisation und <strong>der</strong>en Problematik, dieerst relativ spät <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur thematisiert wurde (vgl. z.B. K<strong>in</strong>gsley: Representative Bureaucracy;<strong>in</strong>sb. Kap. IX). E<strong>in</strong>e Flexibilisierung <strong>der</strong> Verwaltung (die ja e<strong>in</strong>e gewisse Autonomie voraussetzt)und die <strong>in</strong>terne Anpassung politischer Zielvorgaben wird an<strong>der</strong>erseits heute vielfach als For<strong>der</strong>ung


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 119erhoben (vgl. auch Voigt: Selbststeuerung o<strong>der</strong> Fremdsteuerung <strong>der</strong> Verwaltung? – Steuerungdurch <strong>in</strong>terne Anpassung <strong>der</strong> Zielvorgaben).E<strong>in</strong> Blick auf die bürokratische Praxis zeigt allerd<strong>in</strong>gs, daß behördliche Autonomie meistensnicht die gewünschte Flexibilität und auch kaum Anpassungsvorteile br<strong>in</strong>gt. So demonstriertJochen Hucke am Beispiel des kommunalen Vollzugs <strong>der</strong> +Umweltgesetzgebung*, daß imbehördlichen Verfahren, das hier e<strong>in</strong>e relativ hohe Autonomie aufweist, weniger sach- bzw.+umweltgerecht* und mit Rücksicht auf direkt Betroffene entschieden wird, son<strong>der</strong>n im Gegenteilhauptsächlich auf die potentielle +Konfliktfähigkeit* <strong>der</strong> tangierten (kommunalen) Interessengruppengeachtet wird (vgl. E<strong>in</strong>schränkung und Erweiterung politischer Handlungsspielräumebei <strong>der</strong> Implementation von Recht; S. 85ff.). Auch für Erhard Treutner bedeutet die relativeAutonomie <strong>der</strong> Verwaltung (die vor allem durch den verstärkten Rückgriff auf Generalklauselnzugenommen hat) e<strong>in</strong>e partielle Entrechtlichung. +Autonome* Verwaltung kann für den Bürgerzwar Vorteile haben, da dies die Möglichkeit e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>flußnahme und e<strong>in</strong>er verstärktenBeteiligung am behördlichen Entscheidungsprozeß impliziert. Doch ist <strong>der</strong> Bürger im Endeffekt<strong>der</strong> Bürokratie gegenüber immer im Nachteil, da es sich auch dann um e<strong>in</strong>e pr<strong>in</strong>zipiell ungleicheBeteiligung handelt. Zudem besteht für die Bürokratie die Möglichkeit, sich auf formale Regeln+zurückzuziehen*: Wenn es dem Beamten paßt, zeigt er sich flexibel und aufgeschlossen,wenn nicht, dann versteckt er sich h<strong>in</strong>ter Vorschriften und Gesetzen. Recht stellt also nichtnur e<strong>in</strong>e Leitl<strong>in</strong>ie, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>e strategische Ressource für die Bürokratie dar. (Vgl. Zurstrategischen Nutzung rechtlicher Regeln <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwaltung)Was ist <strong>der</strong> Grund für diese Verhaltensweise <strong>der</strong> Bürokratie? – Giorgio Freddi verweist <strong>in</strong>diesem Zusammenhang auf die Entstehung <strong>der</strong> bürokratischen Verwaltung im Kontext <strong>der</strong>absolutistischen Zentralisationsbestrebungen. Die historisch entwickelte Organisationslogik<strong>der</strong> Bürokratie, die auf e<strong>in</strong>em hierarchischen Pr<strong>in</strong>zip und <strong>der</strong> +allround-Kompetenz* des (juristischgeschulten) Beamten beruht, steht <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zu ihren Aufgaben im +demokratischen*,funktional differenzierten Staat und führt somit zu e<strong>in</strong>er +<strong>in</strong>stitutionalisierten Selbsttäuschung*(vgl. Adm<strong>in</strong>istrative Rationalität und sozio-ökonomische Intervention; S. 224).Bürokratisierung ist also e<strong>in</strong> überwiegend kritisch beurteiltes Phänomen. Gleiches gilt fürVerrechtlichung allgeme<strong>in</strong>. Aus +l<strong>in</strong>ker* Perspektive ersche<strong>in</strong>t diese als konfliktneutralisierende+Entpolitisierung* o<strong>der</strong> +Kolonialisierung <strong>der</strong> Lebenswelt* (Habermas). Von +konservativer*Seite wird mit unterschiedlicher Akzentsetzung häufig <strong>der</strong> Formalismus e<strong>in</strong>es unpersönlichen


120 POLITIK IN DER (POST-)MODERNERechts und die mangelnde Bürgernähe <strong>der</strong> Verwaltung beklagt. Diese Klage trifft sich wie<strong>der</strong>ummit dem (neo)liberalen Ruf nach Entstaatlichung und Deregulierung. Gefor<strong>der</strong>t wird hier gewissermaßendie Rücknahme <strong>der</strong> +Anrechtsrevolution*, die das Bürgertum selbst im 18. Jahrhun<strong>der</strong>tausgelöst hat (vgl. hierzu auch Dahrendorf: Der mo<strong>der</strong>ne soziale Konflikt; S. 30f.). 119Damit wird jedoch zugleich die politische Basis <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft unterm<strong>in</strong>iert,die um des sozialen Friedens (und des damit verbundenen ökonomischen Nutzens) willen,(erfolgreich) auch die Arbeiterschaft <strong>in</strong> den von ihr als politisches +Gehäuse* kreierten Nationalstaatzu <strong>in</strong>tegrieren versucht hatte. Entfallen die (<strong>in</strong>stitutionalisierten) (An-)Rechte, so verlierendie politischen Institutionen <strong>in</strong>sgesamt ihren sozialen S<strong>in</strong>n (zum<strong>in</strong>dest aber ihre +materielle*S<strong>in</strong>n-Komponente). Auf diese Weise ist das Dilemma des Nationalstaats (Abschnitt 3.1), dassich durch die (<strong>in</strong> Abschnitt 2.1) beschriebenen Globalisierungsprozesse immer weiter zuspitzt,mit dem <strong>in</strong>stitutionell-rechtlichen Dilemma verknüpft (das <strong>in</strong> Abschnitt 3.2 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en verschiedenenDimensionen herausgearbeitet wird). Zunächst soll jedoch, als weiterer Analyseschrittdieser Ökologie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, untersucht werden, <strong>in</strong> welchem (Wechsel-)Verhältnis <strong>Politik</strong>, Technikund Wissenschaftssystem stehen.2.3 REFLEXIVE TECHNOLOGIEN UND DIE DEFLEXIVE VERWISSENSCHAFTLICHUNG DERPOLITIK (WISSENSCHAFTSSYSTEM UND TECHNIKSYSTEME)Der (begriffliche) Schnittpunkt zwischen <strong>Politik</strong> und Wissenschaft ist sozusagen die <strong>Politik</strong>wissenschaft.Als eigenständige Diszipl<strong>in</strong> hat diese allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e relativ kurze Geschichte.Zwar besitzt politische Philosophie e<strong>in</strong>e lange Tradition (die hier <strong>in</strong> Kapitel 1 bis <strong>in</strong> die Antikezurückverfolgt wurde). Als Lehre von den politischen Systemen und den <strong>in</strong>ternationalen Beziehungengibt es <strong>Politik</strong>wissenschaft jedoch erst seit dem 20. Jahrhun<strong>der</strong>t (vgl. z.B. Maier:Epochen <strong>der</strong> wissenschaftlichen <strong>Politik</strong>). Ihr explizites Ziel und die ihr zugedachte Primärfunktionwar und ist es, <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> beratend zur Seite zu stehen. Man me<strong>in</strong>te, mit e<strong>in</strong>er wissenschaftlichenFundierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zukünftig Entwicklungen verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu können, die zu Ersche<strong>in</strong>ungendes +Totalitarismus* und zwei Weltkriegen geführt hatten. Deshalb versteht sich <strong>Politik</strong>wissenschaftauch überwiegend als Friedens- bzw. als +Krisenbewältigungswissenschaft* (vgl. Meyers:Internationale Beziehungen; S. 221ff.)<strong>Politik</strong>wissenschaft als Demokratiewissenschaft). 121120und als Demokratiewissenschaft (vgl. z.B. Zeuner:


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 121Doch dies soll ke<strong>in</strong>e Abhandlung über (die Sozialtechnologie) <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>wissenschaft werden.Vielmehr ist die Existenz e<strong>in</strong>er +autonomen* <strong>Politik</strong>wissenschaft nur das Zeichen für e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>eEntwicklung, die <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten zu beobachten war: nämlich die Herausbildunge<strong>in</strong>es dialektischen Funktionszusammenhangs von <strong>Politik</strong> und Wissenschaft, <strong>der</strong> sich– ganz parallel zu dem, was bereits über das Verhältnis von Rechtssystem und <strong>Politik</strong> ausgesagtwurde – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Politisierung <strong>der</strong> Wissenschaft und e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Verwissenschaftlichung<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> äußert. Das heißt: <strong>Politik</strong> wird mit wissenschaftlichen Mitteln legitimiert und unterfüttert,womit Wissenschaft politischen Gehalt gew<strong>in</strong>nt. Zudem ist das Wissenschaftssystem(im Verbund mit <strong>der</strong> Industrie) <strong>der</strong> primäre Ort für (technologische) Innovation. Wissenschafthat damit praktische Auswirkungen und diese wie<strong>der</strong>um haben soziale und politische Implikationen.Es geht also hier um (das Verhältnis) <strong>Politik</strong>–Wissenschaft bzw. Technik–<strong>Politik</strong>:das Politische <strong>der</strong> Wissenschaft und <strong>der</strong> Technik im allgeme<strong>in</strong>en.Das Wissenschaftssystem – das durch Gutachtergremien, Beratungs<strong>in</strong>stitute, staatliche Wissenschaftsför<strong>der</strong>ungetc. mit dem politischen System verknüpft ist und deshalb ebenfalls zumMesosystem <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zu zählen ist – sowie die von ihm (mit) ausgelösten technologischenTransformationen stellen demnach wichtige +Umweltfaktoren* für die <strong>Politik</strong> dar. O<strong>der</strong> ummit Luhmann zu sprechen: Wissenschaft wirkt +dämonisch* und br<strong>in</strong>gt, durch neues Wissen,an<strong>der</strong>e (Sub-)Systeme aus <strong>der</strong> Balance (vgl. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 686).Man kann Wissenschaft wie Technologie und Technik,122also <strong>der</strong>en +Verd<strong>in</strong>glichungen*, aberauch als schlichten Ausdruck von (sozialen) Machtverhältnissen begreifen. Diese Interpretationsl<strong>in</strong>iegeht auf Marx zurück: In Kapitel 13 des +Kapitals* bemerkt dieser, daß mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führungkomplexer Masch<strong>in</strong>ensysteme erstmals e<strong>in</strong>e technologische Anwendung <strong>der</strong> Wissenschaftim Produktionssektor erfolgte (vgl. S. 284). Selbst dort aber, wo Masch<strong>in</strong>en +objektiv* (d.h.physisch) die Arbeit erleichtern, ersche<strong>in</strong>t dem Arbeiter die Masch<strong>in</strong>enarbeit als Tortur, dennsie bewirkt nicht nur e<strong>in</strong>e (subjektive) +S<strong>in</strong>nentleerung* des Arbeitsprozesses, son<strong>der</strong>n erzw<strong>in</strong>gtdarüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e +Unterordnung […] unter den gleichförmigen Gang des Arbeitsmittels*(ebd.; S. 263). Dieses +erschlägt* gleichsam den Arbeiter und versperrt se<strong>in</strong>en Blick für die+eigentlichen* Zusammenhänge: Er muß erst lernen, +die Masch<strong>in</strong>erie von ihrer kapitalistischenAnwendung [zu] unterscheiden und daher se<strong>in</strong>e Angriffe vom materiellen Produktionsmittelselbst auf dessen gesellschaftliche Ausbeutungsform [zu] übertragen* (ebd.; S. 264). In <strong>der</strong>Technik drückt sich also im marxistischen Verständnis e<strong>in</strong> (strukturelles) Gewaltverhältnis aus,


122 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdas durch die Kapital<strong>in</strong>teressen bed<strong>in</strong>gt ist: Für den +Kapitalisten* nämlich ist die Masch<strong>in</strong>erie,die Technik e<strong>in</strong> Instrument, um sich von menschlicher Arbeitskraft unabhängiger zu machenund gleichzeitig den relativen Mehrwert (sprich: se<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n) zu erhöhen. 123Marx’ Betrachtung <strong>der</strong> Technik als angewandte (Natur-)Wissenschaft konzentriert sich hierauf ihre historisch konkrete Manifestation – er beschreibt also notwendigerweise e<strong>in</strong>e nochrelativ +ungeschm<strong>in</strong>kte*, (prä)tayloristische Ausbeutung des Fabrikarbeiters. Technik als Mittelzur Emanzipation von den Zwängen <strong>der</strong> Natur und (wissenschaftlicher) Fortschritt an sichwerden dagegen begrüßt.124Dies zeigt sich beson<strong>der</strong>s an den fast euphorischen Formulierungenim kommunistischen +Manifest*, wo die Leistungen <strong>der</strong> Bourgeoisie zur Entwicklung <strong>der</strong> Produktivkräftehervorgehoben werden (vgl. S. 35).125Gerade die Entfesselung <strong>der</strong> Produktivkräfteist allerd<strong>in</strong>gs nach Marx und Engels die Grundlage für den prognostizierten Untergang <strong>der</strong>bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, denn ihre Produktionsweise basiert auf immanentenWi<strong>der</strong>sprüchen, so daß die erzeugte Dynamik, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e ihre soziale Komponente, nichtaufgefangen werden kann (siehe dazu auch S. XIX). Der Sozialismus, den man explizit alswissenschaftliches System verstand, ist die Reflexion, <strong>der</strong> +Gedankenreflex* dieser Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit(vgl. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von <strong>der</strong> Utopie zur Wissenschaft;Abschnitt III, S. 402).In gewisser Weise ist mit diesen Vorstellungen auch die marxistische Perspektive – obwohlhier das Problembewußtse<strong>in</strong> für den Macht-Aspekt des Technischen beson<strong>der</strong>s ausgeprägtist – im +techno-logisch* halbierten neuzeitlichen Rationalitätsdenken gefangen (siehe S. XXXff.).In Frage gestellt wird nicht das e<strong>in</strong>seitige Rationalitätspr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischenVernunft, son<strong>der</strong>n primär die selektive Anwendung dieser Vernunft, die dort, wo bestimmtesoziale Interessen berührt werden, +aussetzt* und damit +ideo-logisch* wird. Erst die KritischeTheorie entwickelte e<strong>in</strong> Verständnis dafür, daß die auch aktuell (noch) dom<strong>in</strong>ierende Rationalitätneuzeitlich-aufklärerischer Prägung an sich e<strong>in</strong>e selektive Rationalitätsform126darstellt (sieheauch S. XXXIIf.): Als <strong>in</strong>strumentelle Vernunft ordnet sie sich – an<strong>der</strong>s als das philosophischeDenken früherer Epochen – <strong>der</strong> ökonomischen Zweckrationalität unter. Ihre (subjektivistischverkürzte) +Objektivität* und ihre +Positivität* (die auf Denker wie Bacon und Descartes zurückgeht)127machen sie +haltlos* und öffnen sie für e<strong>in</strong>e +pragmatische* Pervertierung im Dienstdes Kapitals (vgl. Horkheimer: Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft; <strong>in</strong>sb. Kap. 1 u. 2). 128Dieser Wandel des Charakters <strong>der</strong> Vernunft ist nach Horkheimer und Adorno das Ergebnis


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 123<strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (1944): Deren Ziel war es ehemals, im Dienst <strong>der</strong> Befreiungdes Menschen und <strong>der</strong> Emanzipation des Individuums +die Mythen auf[zu]lösen und E<strong>in</strong>bildungdurch Wissen [zu] stürzen* (S. 9). Doch <strong>in</strong> diesem Bemühen war Aufklärung <strong>der</strong>art +rücksichtslos*,daß sie auch vor ihren eigenen Grundlagen nicht Halt machte und ihre ursprünglicheOrientierung aus den Augen verlor (vgl. ebd.; S. 10). So schlug Aufklärung letztendlich selbst<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Mythos um, und die Verheißungen <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischen Zivilisation,die diesem Mythos entsprangen, s<strong>in</strong>d nichts an<strong>der</strong>es als die dürftigen Entschädigungen füre<strong>in</strong>en umfassenden S<strong>in</strong>nverzicht (vgl. ebd.; S. 128ff.).Herbert Marcuse hat diesen Zusammenhang mit dem Begriff <strong>der</strong> +repressiven Entsublimierung*ausgedrückt (siehe auch S. XXXIII). Se<strong>in</strong>e Interpretation von Wissenschaft und Technik istnoch e<strong>in</strong>e Stufe +radikaler* als die Horkheimers und Adornos. Er bemerkt:+Der Begriff <strong>der</strong> technischen [<strong>in</strong>strumentellen] Vernunft ist vielleicht selbst Ideologie. Nicht erst ihreVerwendung, son<strong>der</strong>n schon die Technik ist Herrschaft […], methodische, wissenschaftliche, berechneteund berechnende Herrschaft. Bestimmte Zwecke und Interessen <strong>der</strong> Herrschaft s<strong>in</strong>d nicht erst ›nachträglich‹und von außen <strong>der</strong> Technik oktroyiert – sie gehen schon <strong>in</strong> die Konstruktion des technischenApparates selbst e<strong>in</strong> […]* (Zitiert nach Habermas: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹; S. 49f.) 129E<strong>in</strong>e Auflösung des technisch-wissenschaftlichen, ökonomisch-politischen Herrschaftszusammenhangsist deshalb im Rahmen des bestehenden Wissenschaftssystems unmöglich:+Was ich herauszustellen versuche, ist, daß die Wissenschaft aufgrund ihrer eigenen Methode undBegriffe e<strong>in</strong> Universum entworfen und beför<strong>der</strong>t hat, wor<strong>in</strong> Naturbeherrschung mit <strong>der</strong> Beherrschungdes Menschen verbunden blieb […] So verschmilzt die rationale Hierarchie mit <strong>der</strong> gesellschaftlichen.Wenn dem so ist, würde die Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Richtung des Fortschrittes, die dieses verhängnisvolle Bandlösen könnte, auch die Struktur <strong>der</strong> Wissenschaft selbst bee<strong>in</strong>flussen – den Entwurf <strong>der</strong> Wissenschaft.*(Marcuse: Der e<strong>in</strong>dimensionale Mensch; S. 180f.)Jürgen Habermas’ Analyse des Zusammenhangs von Herrschaft, Wissenschaft und Technikerfolgt <strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Position Marcuses. In se<strong>in</strong>em bekannten Aufsatz +Technikund Wissenschaft als ›Ideologie‹* (1968), <strong>der</strong> Marcuse zum 70. Geburtstag gewidmet ist (unddem auch, wie angegeben, das erste hier wie<strong>der</strong>gegebene Marcuse-Zitat entnommen wurde), 130setzt er sich allerd<strong>in</strong>gs von dessen Sichtweise ab. Habermas, <strong>der</strong> die +zweite Generation*<strong>der</strong> Kritischen Theorie verkörpert, arbeitet hier – ganz ähnlich zu se<strong>in</strong>en Vorgängern – heraus,


124 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEwie die ökonomische Zweckrationalität im historischen Prozeß langsam die gesamte Gesellschaftdurchdr<strong>in</strong>gt und wie Wissenschaft (ab <strong>der</strong> Mitte des 19 Jahrhun<strong>der</strong>ts) immer mehr zu e<strong>in</strong>erbloßen Produktivkraft +verkommt*.131Se<strong>in</strong>e Sicht und Interpretation von Technik ist jedochnicht e<strong>in</strong>seitig negativ und pessimistisch, wie bei Horkheimer, Adorno und auch Marcuse.Er ist sich darüber im klaren, daß wir auf Technik als Hilfsmittel angewiesen s<strong>in</strong>d und diesesich deshalb auch nicht e<strong>in</strong>fach +abschaffen* läßt:+Es gilt vielmehr, e<strong>in</strong>e politisch wirksame Diskussion <strong>in</strong> Gang zu br<strong>in</strong>gen, die das gesellschaftliche Potentialan technischem Wissen und Können zu unserem praktischen Wissen und Wollen rational verb<strong>in</strong>dlich<strong>in</strong> Beziehung setzt.* (Technischer Fortschritt und soziale Lebenswelt; S. 118)Diese Sicht geht (unter gewandelten, +diskurstheoretischen* Vorzeichen) e<strong>in</strong> Stück zurückzur grundsätzlich Technik und Wissenschaft bejahenden, trotzdem aber ambivalenten Positionvon Marx und Engels (siehe hierzu auch nochmals Anmerkung 125). Habermas weist daraufh<strong>in</strong>, daß jede wissenschaftliche Erkenntnis von bestimmten Interessen geleitet ist, also niemalsobjektiven Charakter hat (vgl. Erkenntnis und Interesse). Und er stellt klar: +GesellschaftlicheInteressen bestimmen Tempo, Richtung und Funktion des technischen Fortschritts* (PraktischeFolgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts; S. 345). Genau das verweist allerd<strong>in</strong>gsauf die Gestaltbarkeit des Fortschritts. Technik stellt ke<strong>in</strong> (sekundäres) +Naturverhältnis* dar,sie unterliegt ke<strong>in</strong>er Eigengesetzlichkeit, die uns zw<strong>in</strong>gt, uns ihren +Sachzwängen* unterzuordnen,wie es die +konservative* Lesart nahe legt (vgl. ebd.; S. 340–344 und siehe hier S. 142ff.).Technik ist aber auch nicht e<strong>in</strong>fach <strong>der</strong> (unproblematische) +verlängerte Arm* des Menschen,wie die +liberale* Interpretation lautet (vgl. ebd.; S. 337ff.). Technik und Wissenschaft bedürfennach Habermas <strong>der</strong> ständigen kritischen Reflexion und <strong>der</strong> öffentlichen Diskussion ihrer praktischenImplikationen vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> lebensweltlichen Erfahrung (vgl. Verwissenschaftlichte<strong>Politik</strong> und öffentliche Me<strong>in</strong>ung; S. 144f.).Marx, Horkheimer, Adorno, Marcuse und Habermas – diese Theorie-L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>er kritischenWissenschafts- und Techniksoziologie bzw. -philosophie wurde hier bisher (<strong>in</strong> groben Strichen)nachgezeichnet. Doch <strong>der</strong> vor allem die +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* durchdr<strong>in</strong>gende extremeKulturpessimismus und die verwendete Term<strong>in</strong>ologie wollen irgendwie nicht mehr so recht+zeitgemäß* ersche<strong>in</strong>en. Nur vere<strong>in</strong>zelt wird deshalb <strong>in</strong> <strong>der</strong> neueren Literatur auf Marx unddie Kritische Theorie zurückgegriffen.132E<strong>in</strong>es dieser eher seltenen Beispiele stellt Stanley


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 125Aronwitz’ Buch +Science as Power* (1988) dar. Er weist hier <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf die problematischeTrennung zwischen +re<strong>in</strong>er* Wissenschaft und ihrer Anwendung h<strong>in</strong>. Für ihn s<strong>in</strong>d Wissenschaftund Technik Praktiken, die die soziale Welt spiegeln (vgl. S. 7). Und wenn Tochter +Nona*– kaum ist sie vom Stuhl gefallen o<strong>der</strong> gegen e<strong>in</strong>e Wand gelaufen – aus ihrer k<strong>in</strong>dlichen Perspektiveheraus verkündet: +Der Stuhl war’s* bzw. +Die Wand war’s*, so offenbart sie laut Aronwitzdamit e<strong>in</strong>e ähnliche Haltung wie all jene, die Börsencrashs vere<strong>in</strong>fachend mit <strong>der</strong> Selbstläufigkeitvon Computerprogrammen erklären – und übersehen, daß diese nach ganz bestimmten Vorgabenprogrammiert wurden (vgl. ebd.; S. 4f.).Derart aufbereitet und lebensnah illustriert kl<strong>in</strong>gt die These von <strong>der</strong> Technik als Ausdruck<strong>der</strong> sozialen (Macht-)Verhältnisse für heutige Ohren schon eher akzeptabel. Zudem wirdim Text nicht nur auf Marx und die Kritische Theorie Rekurs genommen, son<strong>der</strong>n Aronwitzstellt auch Bezüge zum (<strong>Post</strong>-)Strukturalismus (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Bachelard) her,133was sich dar<strong>in</strong>äußert, daß er Wissenschaft als e<strong>in</strong>en (hegemonialen) Diskurs begreift, <strong>der</strong> Objekte wie Erkenntnisregelnformt und so zur +gesellschaftlichen Konstruktion <strong>der</strong> Wirklichkeit* (Berger/-Luckmann) beiträgt – nur eben lei<strong>der</strong> auf Kosten +lebensweltlicher* Erkenntnisstrukturen (vgl.ebd.; S. 344f.). Deshalb plädiert er für e<strong>in</strong>e alternative Wissenschaft, die ke<strong>in</strong>en Anspruchauf Herrschaft, d.h. Wahrheit, erhebt (vgl. ebd.; S. 352).Aronwitz hat damit gewissermaßen e<strong>in</strong>e Brücke zwischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne bzw. <strong>Post</strong>strukturalismusund Kritischer Theorie geschlagen – e<strong>in</strong>e Brücke, die übrigens ke<strong>in</strong>eswegs zwei weit vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong>entfernte Ufer trennt. Denn nicht zuletzt Foucault hat durchaus Parallelen zum Denken <strong>der</strong>Frankfurter Schule e<strong>in</strong>geräumt. In e<strong>in</strong>em Interview mit Gérard Raulet bemerkt er: +Wennich die Frankfurter Schule rechtzeitig gekannt hätte, wäre mir viel Arbeit erspart geblieben*(Um welchen Preis sagt Vernunft die Wahrheit?; S. 24). Foucault wäre jedoch nicht Foucault,wenn er sich nicht sogleich wie<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Kritischen Theorie absetzte. Horkheimer undAdorno beschrieben, wie dargestellt, die Geschichte <strong>der</strong> Vernunft und <strong>der</strong> Wissenschaft alse<strong>in</strong>e Art +Spaltungsprozeß*, bei dem die <strong>in</strong>strumentell-technische Vernunft sich gegenübere<strong>in</strong>er ehemals umfassenden Vernunft verselbständigte. Für Foucault ist diese Interpretationjedoch verkürzt und geht zudem von e<strong>in</strong>er klaren historischen Entwicklungsl<strong>in</strong>ie aus (vgl.ebd.; S. 25f.). Wie bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung ausgeführt (siehe S. XLVIIf.), geht es ihm abergerade darum, das Diskont<strong>in</strong>uierliche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte, die ständig sich vollziehendenWandlungen und Brüche darzustellen.


126 POLITIK IN DER (POST-)MODERNENäher an <strong>der</strong> Kritischen Theorie als Foucault ist vielleicht sogar Lyotard – trotz <strong>der</strong> Ablehnung,die gerade auch se<strong>in</strong> philosophisches Konzept durch <strong>der</strong>en Vertreter(<strong>in</strong>nen) erfahren hat (sieheS. LXXf.). Es g<strong>in</strong>g ihm nämlich niemals um e<strong>in</strong>en Abschied, als vielmehr um e<strong>in</strong> +Redigieren*<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne,134und se<strong>in</strong>e Klage über den immanenten Terror durch ihre Metaerzählungenist nur e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Ausdruck für die +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung*, die <strong>in</strong> ihrer Entfaltung (natur)wissenschaftlicheRationalität zu e<strong>in</strong>em alles beherrschenden Pr<strong>in</strong>zip machte. Wissenschaft ist,um mit Lyotard zu sprechen, e<strong>in</strong> +Sprachspiel*, das ke<strong>in</strong>e Zweideutigkeit duldet und versucht,an<strong>der</strong>e Diskursarten mit ihrem monolithischen Wahrheitsanspruch zu dom<strong>in</strong>ieren – weshalbwie<strong>der</strong>um Feyerabend von den +Irrwegen <strong>der</strong> Vernunft* (1986) sprach (siehe S. XLVI).Der E<strong>in</strong>fluß dieser und an<strong>der</strong>er +(post)mo<strong>der</strong>ner* Wissenschaftstheoretiker wie z.B. auch Kuhnmit se<strong>in</strong>er These vom +Paradigmenwechsel*135hat alternative Interpretationsmöglichkeitenfür die neuere Wissenschafts- und Techniksoziologie eröffnet: So betonen die meisten aktuellenAutoren die Heterogenität von Technik bzw. technologischen Systemen und Netzen, dieneben d<strong>in</strong>glich-technischen auch soziale, politische, psychologische und ökonomische Komponentenund Aspekte be<strong>in</strong>halten. Es wird also die Verb<strong>in</strong>dung zwischen Gesellschaft, <strong>Politik</strong>,Ökonomie, Wissenschaft und Technik herausgestellt – ohne allerd<strong>in</strong>gs, wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> marxistischenTradition, von e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>seitigen Determ<strong>in</strong>ation von Technik und Wissenschaft durch Ökonomieund <strong>Politik</strong> auszugehen. E<strong>in</strong> weiteres Merkmal ist das Bewußtse<strong>in</strong> für die Kont<strong>in</strong>genz des+Übersetzungsprozesses* von Wissenschaft <strong>in</strong> konkrete Technologien, <strong>der</strong> ke<strong>in</strong>er Naturgesetzlichkeitunterliegt, son<strong>der</strong>n gestaltbar ist und auch – im Interesse <strong>der</strong> von Technik +Betroffenen*136– (um)gestaltet werden sollte. Deshalb bemerken Wiebe Bijker und John Law <strong>in</strong> ihrer E<strong>in</strong>leitungzu dem 1992 erschienen Sammelband +Shap<strong>in</strong>g Technology/Build<strong>in</strong>g Society*:+They might have been otherwise: this is the key to our <strong>in</strong>terest and concern with technologies.Technologies do not […] evolve un<strong>der</strong> the impetus of some necessary <strong>in</strong>ner technological or scientificlogic. They are not possessed of an <strong>in</strong>herent momentum. If they evolve or change, it is because theyhave been pressed <strong>in</strong>to that shape.* (S. 3)Das aber bedeutet, daß das primäre Interesse <strong>der</strong> Frage gilt, wie Technik so geworden ist,wie sie sich augenblicklich darstellt, und über welche Mechanismen die grundsätzlich alskonfliktträchtig geltenden Technologien etabliert und stabilisiert werden. Im Rahmen dieserGrundorientierung lassen sich (grob) drei, sich teilweise überlappende Ansätze unterscheiden:


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 127<strong>der</strong> Systemansatz, <strong>der</strong> sozialkonstruktivistische Ansatz und die Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl.ebd.; S. 12f.). 137• Der Systemansatz, <strong>der</strong> auf Thomas Hughes zurückgeht, konzentriert sich auf die Betrachtungtechnischer Großsysteme (large technological systems). Dabei wird von Hughes, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>entechnikhistorischen Ansatz verfolgt, ausdrücklich betont: +Technological systems […] are bothsocially constructed and society shap<strong>in</strong>g* (The Evolution of Large Technological Systems; S.51). Bestandteile dieser gesellschaftsformenden technischen (Groß-)Systeme s<strong>in</strong>d sowohl materiellgreifbare Elemente wie Masch<strong>in</strong>en und natürliche Ressourcen als auch nicht-physische Komponenten(Artefakte) wie Organisationen (z.B. Firmen und Banken), +Wissenschaft* (Fachartikel,universitäre Lehr<strong>in</strong>halte usw.) o<strong>der</strong> Regelwerke (z.B. technische Normen).Damit e<strong>in</strong> technologisches System aber überhaupt entstehen und sich entwickeln kann, bedarfes e<strong>in</strong>er (<strong>in</strong>itialen) Idee, e<strong>in</strong>er +radikalen Innovation*.138Diese animiert e<strong>in</strong>en +System-Bildner*,(+idealerweise* e<strong>in</strong> Erf<strong>in</strong><strong>der</strong> und Unternehmer etwa vom Schlag e<strong>in</strong>es Thomas Edison), diese(<strong>in</strong>dustriell) umzusetzen und so das System <strong>in</strong>s Leben zu rufen (Entwicklungsphase).das Wachstum des Systems, se<strong>in</strong> Ausgreifen, bedarf es <strong>der</strong> – nun allerd<strong>in</strong>gs +konservativen*– weiteren Innovation. Auch e<strong>in</strong> +Technologietransfer* <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e Kontexte, <strong>der</strong> aber immerauch mit Adaption verbunden ist, trägt zum Wachstum und zur Konsolidierung des Systemsbei. Doch nach wie vor kann es je<strong>der</strong>zeit zur Herausfor<strong>der</strong>ung durch neue radikale Innovationenkommen, die konkurrierende Systeme etablieren.140139FürE<strong>in</strong>en gewissen Schutz vor solchen Heraus-for<strong>der</strong>ungen verleiht alle<strong>in</strong>e die Größe des Systems – o<strong>der</strong> mit den Worten von Hughes ausgedrückt:+Technological systems, even after prolonged growth and consolidation, do not become autonomous;they acquire momentum. They have a mass of technical and organizational components; they possessdirection, or goals; and they display a rate of growth suggest<strong>in</strong>g velocity.* (Ebd.; S. 76)Technische (Groß-)Systeme s<strong>in</strong>d gemäß Hughes also nicht autonom und schon gar nicht autopoietisch(wie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Umstand zeigt, daß er ja von +System-Bildnern* spricht).Sie laufen ständig Gefahr, durch konkurrierende Systeme verdrängt o<strong>der</strong> absorbiert zu werden,und vielleicht ist ihre Zeit ganz allgeme<strong>in</strong> gekommen. Denn gerade jenes ihnen Stabilitätverleihende +Momentum* be<strong>in</strong>haltet e<strong>in</strong> Maß an Trägheit, das unter den gewandelten Rahmenbed<strong>in</strong>gungene<strong>in</strong>er postfordistischen Ökonomie – d.h. e<strong>in</strong>er Ablösung <strong>der</strong> +economies of scale*


128 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdurch Formen +flexibler Akkumulation* (siehe S. 81) – zu ihrem Nie<strong>der</strong>gang führen könnte(vgl. <strong>der</strong>s. Die Erf<strong>in</strong>dung Amerikas; S. 470ff.).Hughes’ Ansatz ist auch hierzulande aufgegriffen worden. E<strong>in</strong>ige Beispiele dafür f<strong>in</strong>den sichunter an<strong>der</strong>em <strong>in</strong> dem Sammelband +The Development of Large Technological Systems* (1988),den Hughes zusammen mit Renate Mayntz herausgegeben hat. Bernward Joerges, <strong>der</strong> diesenBand mit e<strong>in</strong>em Review-Artikel eröffnet, hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr <strong>in</strong>teressanten neueren Aufsatze<strong>in</strong> eigenes (systemtheoretisches) Verständnis und Konzept technischer Großsysteme entwickelt.Diese s<strong>in</strong>d für ihn <strong>in</strong> zweifacher H<strong>in</strong>sicht prekär – denn sie erzeugen die Voraussetzungenfür ihre eigene Transformierung, <strong>in</strong>itiieren immer weitere wissenschaftlich-technische Innovationund führen so geradezu zwangsläufig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Kontroll- wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vertrauenskrise (vgl. Großetechnische Systeme; S. 48ff.). Dabei kommt ihnen nicht e<strong>in</strong>fach <strong>der</strong> Statuts e<strong>in</strong>es sozialenSubsystems – ähnlich wie Wirtschaft, Bildung o<strong>der</strong> Recht – zu, son<strong>der</strong>n es handelt sich beiihnen um Systeme zweiter Ordnung, d.h. sie stellen e<strong>in</strong>e Systemebene dar, die für alle Funktionssystemerelevant ist, und bilden e<strong>in</strong>e Art (makroskopisches) +Heteronetz* aus (vgl. ebd.; S.58ff.).Joerges will mit dieser Auslegung dem Mythos <strong>der</strong> Steuer- und Beherrschbarkeit von Technik-Systemen entgegenwirken und lehnt so auch sozialkonstruktivistische Vorstellungen ab, dieja grundsätzlich von <strong>der</strong> (sozialen) Bee<strong>in</strong>flußbarkeit von Technik ausgehen, <strong>in</strong>dem sie ihrenKonstruktcharakter herausarbeiten (siehe unten). An<strong>der</strong>s als bei Hughes steht deshalb für Joergesdas autonome Moment <strong>der</strong> technischen Systeme im Vor<strong>der</strong>grund. Se<strong>in</strong> Konzept weist dar<strong>in</strong>durchaus gewisse Berührungspunkte mit Gernot Böhmes Vorstellung e<strong>in</strong>er alle persönlichenund sozialen Beziehungen durchdr<strong>in</strong>genden +Technostruktur* auf (vgl. Technische Zivilisation;S. 28ff.). Diese hat sich laut Böhme, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> kulturkritischen Tradition von Ellul und Gehlensteht (siehe S. XXXVIIf. sowie S. 142ff.), verselbständigt, und so ist es +nach Jahrhun<strong>der</strong>tendes Enthusiasmus <strong>in</strong> bezug auf Technik und Wissenschaft […] heute sehr schwierig, nichte<strong>in</strong> sehr düsteres Bild zu entwerfen* (ebd.; S. 37). Joerges wie Böhme – <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e eher +neutral*und im Pr<strong>in</strong>zip durchaus technikaufgeschlossen, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiger Stellungnahmeund technikpessimistisch – bestreiten also genau das, was den sozialkonstruktivistischen Ansatz,dem wie<strong>der</strong>um Hughes nahe steht, so +mächtig* macht: nämlich, daß er den konstruierendenSubjekten im Erkennen des Konstruierens ihre (Eigen-)Mächtigkeit, o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest doch e<strong>in</strong>Stück davon, zurückgibt.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 129• Der sozialkonstruktivistische Ansatz h<strong>in</strong>terfragt die herkömmliche Trennung von Wissenschaftund Technik, Natur und Kultur und begreift, wie <strong>der</strong> Name bereits ausdrückt, wissenschaftlicheErkenntnis wie technische Artefakte als sozial konstruiert. Lei<strong>der</strong> ist die sozialkonstruktivistischeWissenschafts- und Techniksoziologie me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach aber (noch) nicht makrotheoretischausreichend +e<strong>in</strong>gebettet*, und es überwiegt – obwohl e<strong>in</strong>e Integration von Mikro- und Makroebenegrundsätzlich angestrebt ist –141e<strong>in</strong>e (mikro)empirische Orientierung, wobei <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>eauch auf ethnographische Methoden zurückgegriffen wird (vgl. Knorr-Cet<strong>in</strong>a: The EthnographicStudy of Scientific Work). Man versucht also primär – und das ist, angesichts <strong>der</strong> langepraktizierten Vernachlässigung <strong>der</strong> Untersuchung des forschungspraktischen +Feldes*, durchausbegrüßenswert – an ganz konkreten Beispielen, den (sozialen) Konstruktionsprozeß vonWissen(schaft) und Technik nachzuvollziehen und zu analysieren.E<strong>in</strong> empirisches +Stufenprogramm* für <strong>der</strong>artige Analysen hat Harry Coll<strong>in</strong>s aufgestellt. Ine<strong>in</strong>er ersten Phase gilt es für ihn, zunächst die +<strong>in</strong>terpretative Flexibilität* wissenschaftlicher+Fakten* zu dokumentieren, die im weiteren Verlauf des wissenschaftlichen Diskurses und<strong>der</strong> +D<strong>in</strong>gwerdung* von Wissenschaft jedoch meist +verschw<strong>in</strong>det* und e<strong>in</strong>em wissenschaftlichenKonsens über +Wahrheit* Platz macht (vgl. hierzu auch Mulkay/Gilbert: Theory Choice). DieRekonstruktion dieses Schließungsmechanismus stellt den zweiten Schritt <strong>der</strong> Analyse dar.Die dritte und me<strong>in</strong>es Erachtens wichtigste Stufe wurde bisher jedoch noch nicht <strong>in</strong> befriedigen<strong>der</strong>Weise verwirklicht: nämlich aufzuzeigen, wie diese Schließungsmechanismensich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en umfassenden sozialen Kontext e<strong>in</strong>fügen.142(Vgl. Stages <strong>in</strong> the Empirical Programmeof Relativism)E<strong>in</strong>e theoretische Reflexion sowie e<strong>in</strong>en konkreten Umsetzungsversuch dieses Stufen-Programmshaben Trevor P<strong>in</strong>ch und Wiebe Bijker unternommen, welche sich am Beispiel des Fahrradreifensfragen, warum bestimmte Varianten +abstarben*, während an<strong>der</strong>e +überlebten* und sichdurchsetzten. In Fall des Fahrradreifens setzte sich <strong>der</strong> luftgefüllte Reifen gegenüber demVollgummireifen durch. Am Anfang bestand aber auch hier <strong>in</strong>terpretative Flexibilität: Fürse<strong>in</strong>en Erf<strong>in</strong><strong>der</strong>, den Ingenieur Dunlop, hatte <strong>der</strong> luftgefüllte Reifen den Vorteil ger<strong>in</strong>gererVibrationen. An<strong>der</strong>e +Experten* sahen jedoch weniger die Vorteile als vielmehr e<strong>in</strong>e erhöhteAusrutschgefahr. Die Schließung dieser Sicherheitsdiskussion erfolgte, so die Autoren, zume<strong>in</strong>en über Werbekampagnen, die diese Gefahr schlicht negierten, und über e<strong>in</strong>e Redef<strong>in</strong>itiondes Problems: Der Luftreifen wurde nicht mehr wegen se<strong>in</strong>er ger<strong>in</strong>geren Vibrationen gepriesen,


130 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEson<strong>der</strong>n weil er höhere Geschw<strong>in</strong>digkeiten ermöglichte. (Vgl. The Social Construction of Factsand Artifacts)E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es (speziell politisch) <strong>in</strong>teressantes Beispiel sozialkonstruktivistischer WissenschaftsundTechniksoziologie stellt Adri de la Bruhèzes Untersuchung über die Generierung e<strong>in</strong>erallgeme<strong>in</strong>gültigen Def<strong>in</strong>ition radioaktiven Abfalls (vermittelt durch die amerikanische Atomenergie-Kommission <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit zwischen 1945 und 1960) dar. Bruhèze zeigt, wie sich nach undnach aus e<strong>in</strong>er Reihe unterschiedlicher Interpretationen darüber, was radioaktiver Müll istund wie man damit verfahren sollte, durch Aushandlungsprozesse zwischen den relevantenAkteuren, Kompromisse und kont<strong>in</strong>gente Entscheidungen schließlich e<strong>in</strong>e stabile Def<strong>in</strong>itionherausbildete (vgl. Clos<strong>in</strong>g the Ranks). Auch <strong>in</strong> diesem Fall gilt allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> schon obengemachte E<strong>in</strong>wand, daß soziale Makrofaktoren durch die zu enge Konzentration auf die Mikroebeneausgeblendet bleiben. Noch dazu ist bei Bruhèze e<strong>in</strong> ausgeprägtes Des<strong>in</strong>teresse fürMachtungleichgewichte zu beobachten – was aufgrund <strong>der</strong> offensichtlich +politischen Natur*gerade dieses +Def<strong>in</strong>itionsproblems* beson<strong>der</strong>s defizitär ersche<strong>in</strong>t. 143• Die Akteur-Netzwerk-Theorie löst im Vergleich zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen, sowie sie sich gegenwärtig darstellen, eher den Anspruch e<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung von Mikro- undMakroebene zu leisten. Ähnlich wie bei letzteren ist auch hier e<strong>in</strong> Ziel die Dekonstruktion<strong>der</strong> (künstlichen) Trennung von Natur und Gesellschaft, Technik und Wissenschaft,nach Bruno Latour – neben Michel Callon und John Law ihr sicher wichtigster Vertreter –+konstitutiv* für die Mo<strong>der</strong>ne war (vgl. Wir s<strong>in</strong>d nie mo<strong>der</strong>n gewesen; Kap. 2). In unserer(post)postmo<strong>der</strong>nen Welt <strong>der</strong> Hybride, <strong>der</strong> Verschmelzung von Mensch und Masch<strong>in</strong>e,Gesellschaft und Technik, wie sie (<strong>in</strong> eher düsterer Ausmalung) auch Jean Baudrillard (siehezurück zu S. LV)o<strong>der</strong> (geradezu euphorisch) Donna Haraway (vgl. A Cyborg Manifesto)145 146konstatieren, wird diese Trennung nämlich zunehmend problematisch und verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t e<strong>in</strong>eadäquate Untersuchung des sozio-technischen Amalgams. Technik wird deshalb <strong>in</strong> <strong>der</strong> Akteur-Netzwerk-Theorie auch nicht als Ausfluß o<strong>der</strong> Manifestation makrostruktureller Machtverhältnisseverstanden und Wissenschaft als abhängige Variable von <strong>Politik</strong> und Wirtschaft betrachtet,son<strong>der</strong>n beide haben als solche politischen Charakter, s<strong>in</strong>d +<strong>Politik</strong> mit an<strong>der</strong>en Mitteln* (vgl.z.B. Callon/Law/Rip: How to Study the Force of Science; S. 4). Sowohl e<strong>in</strong> soziologischerReduktionismus wie <strong>der</strong> naturalistische Reduktionismus, <strong>der</strong> technische Lösungen als Ergebnise<strong>in</strong>es +objektiven* Erkenntnisprozesses begreift, wird also abgelehnt (vgl. ebd.; S. 7f.).144die


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 131Um aber e<strong>in</strong> nicht-reduktionistisches Bild zu erhalten, ist es erfor<strong>der</strong>lich, die Wissenschaftlerund Techniker bei ihrer konkreten Forschung zu beobachten, ihre Labors aufzusuchen undihre Texte zu analysieren. Nach <strong>der</strong> Devise +follow the actors* (ebd.; S. 4) begleitete so beispielsweiseJohn Law die Wissenschaftler<strong>in</strong> Rose bei ihrer täglichen Laborarbeit, die sich schließlich<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wissenschaftlichen Artikel nie<strong>der</strong>schlug (vgl. Laboratories and Texts). Wie solcheTexte funktionieren, mit welchen +literarischen* Methoden sie zu überzeugen versuchen,haben wie<strong>der</strong>um Bruno Latour und Françoise Bastide untersucht (vgl. Writ<strong>in</strong>g Science). DieReihe <strong>der</strong> Beispiele für diesen praxisbezogenen Analyseansatz ließe sich lange fortsetzen.Es genügt hier jedoch, sich klar zu machen, daß es den Autoren um die Darstellung von+Science <strong>in</strong> Action* (Wissenschaft <strong>in</strong> Aktion) geht (Latour 1987). Man will die Geheimnissedes +Laboratory-Life* (Latour/Woolgar 1979) ergründen, wobei auch hier e<strong>in</strong>e +konstruktivistische*(d.h. e<strong>in</strong>e nicht naturalistisch-realistische) Perspektive zum Tragen kommt und e<strong>in</strong>e Ausrichtungan <strong>der</strong> Empirie dom<strong>in</strong>iert.147<strong>in</strong> dem Wissenschaft hergestellt wird bzw. sich herstellt.Denn es ist die Praxis im Labor und nicht <strong>der</strong> +Elfenbe<strong>in</strong>turm*,Der (Labor-)Konstruktivismus ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Akteur-Netzwerk-Theorie, wie oben angedeutet, jedochmit e<strong>in</strong>er Art +materialistischer* Metatheorie verknüpft. Michel Callon z.B. hat e<strong>in</strong>e Theorie+techno-ökonomischer Netzwerke* entworfen, die er als komplexe Interaktionssysteme beschreibt,<strong>in</strong> denen verschiedenste Akteure und +Materialien* mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verwoben s<strong>in</strong>d. Diese Materialieno<strong>der</strong> Vermittlungsmedien (<strong>in</strong>termediaries) glie<strong>der</strong>n sich <strong>in</strong> Texte (da Wissenschaft – als Grundlagevon Technik – weitgehend als Textgewebe aufgefaßt werden kann), des weiteren natürlichdie <strong>in</strong> die technischen Objekte selbst (die untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> vernetzte Programme be<strong>in</strong>halten),(Personen und ihre ebenso vielfach vernetzten) Fähigkeiten sowie Geld (als Medium desökonomischen Austauschs). Die +eigentlichen* Akteure <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Netzwerk fungieren zwarauch als <strong>der</strong>artige Mittler, doch müssen sie im Unterschied zu jenen zusätzlich selbst zur(Re-)Produktion des Netzes beitragen, können also +Autorenschaft* (authorship) für sich beanspruchen.Deshalb def<strong>in</strong>iert Callon: +An actor is an <strong>in</strong>termediary that puts other <strong>in</strong>termediaries148<strong>in</strong>to circulation*. (Vgl. Techno-Economic Networks and Irreversibility; S. 132–141)Da zu e<strong>in</strong>em Netzwerk aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel mehrere, durchaus heterogene Akteure bzw. Akteur-Netzwerke gehören – denn je<strong>der</strong> Akteur umfaßt se<strong>in</strong>erseits jeweils e<strong>in</strong> eigenes Netzwerk– stellt sich die Frage, wie Übere<strong>in</strong>stimmung und Stabilität erreicht werden. Dafür, so CallonsAntwort, ist zunächst e<strong>in</strong> Übersetzungs- bzw. Verständigungsprozeß notwendig (translation). 149


132 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEWar die Übersetzung erfolgreich, so kommt es zur (gegenseitigen) Ausrichtung (alignment).Diese wird durch koord<strong>in</strong>ierende Übersetzungsregime bzw. Konventionen erleichtert undgeför<strong>der</strong>t. So kann schließlich e<strong>in</strong>e +annähernde* Übere<strong>in</strong>stimmung (Konvergenz) hergestelltwerden. Wenn zukünftige +Aktionen* <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Netzwerk von vergangenen Übersetzungsprozessenabhängen und e<strong>in</strong> Zurück unmöglich ist, so kann man sogar von Irreversibilitätsprechen. (Vgl. ebd.; S. 142–151)Auch Bruno Latour hat sich mit <strong>der</strong> wichtigen Frage <strong>der</strong> Stabilisierung beschäftigt. Se<strong>in</strong>e Antwortsetzt jedoch gewissermaßen am entgegengesetzten Punkt an, denn er me<strong>in</strong>t zeigen zu können,wie soziale Stabilität ganz allgeme<strong>in</strong> primär durch technische Artefakte, also durch die +D<strong>in</strong>ge*,die als +Aktanten* (auch) für Latour Akteursqualitäten besitzen, erzeugt wird. Denn <strong>in</strong> denD<strong>in</strong>gen und weniger <strong>in</strong> sozialen Verhältnissen nimmt Macht Form an und wird Macht (auf)-bewahrt. So kommt er zu dem Schluß: +Dom<strong>in</strong>ation is an effect not a cause.* (TechnologyIs Society Made Durable; S. 130)Er verdeutlicht diese Vorstellung u.a. am Beispiel +Hotelzimmerschlüssel*: Dem Wunsch <strong>der</strong>Hotelleitung nach Rückgabe des Schlüssels beim Verlassen des Hotels wird dadurch Nachdruckverliehen, daß e<strong>in</strong> Metallgewicht am ihm befestigt ist. Wäre dies an<strong>der</strong>s, so würden die meistenGäste den Schlüssel wahrsche<strong>in</strong>lich mitnehmen und ihn u.U. verlieren. E<strong>in</strong>e bloße Auffor<strong>der</strong>ungzur Rückgabe genügt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht. Je<strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung, jedem Interesse, jedem +Programm*muß also +Gewicht* verliehen werden. Dies wird durch e<strong>in</strong>e adäquate technologische Übersetzungdes Programms erreicht. In diesem Fall ist es e<strong>in</strong> tatsächliches Gewicht. Die Entwicklunge<strong>in</strong>er erfolgreichen Übersetzung hängt jedoch, auch gemäß Latour, von <strong>der</strong> Permanenz desWillens ab, das Programm durchzusetzen, sprich: den Schlüssel zurück zu bekommen (vgl.ebd.; S. 104–110). Erklärungen nach Art dieses Beispiels können für Latour allerd<strong>in</strong>gs nurnutzbar gemacht werden, wenn die Trennung zwischen materieller Infrastruktur und sozialerSuperstruktur aufgegeben wird (vgl. ebd.; S. 129). Es gilt also, den +großen Leviathan* ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zuschrauben,um zu erkennen wie die (hybriden) Akteur-Netzwerke die soziale Wirklichkeitstrukturieren (vgl. Callon/Latour: Unscrew<strong>in</strong>g the Big Leviathans).In dem letztgenannten Aufsatz vertreten Callon und Latour übrigens die Ansicht, Makroakteureseien nichts an<strong>der</strong>es als gleichsam +aufgeblasene* Mikroakteure, die es geschafft haben, sichan<strong>der</strong>e +Willen* e<strong>in</strong>zuverleiben (vgl. ebd.; S. 296).150Dieses +enrolment* liegt jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong>+Natur* <strong>der</strong> Sache, und Macht an sich wird überwiegend positiv, um mit Barnes zu sprechen:


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 133als soziale Kapazität, die (Verfügungs-)Freiheit (discretion) verleiht, aufgefaßt (vgl. The Natureof Power; S. 57ff.). Hier<strong>in</strong> zeigt sich auch e<strong>in</strong>e Parallele zu Foucault, <strong>der</strong>, obwohl selbst Kritikerdes aufklärerischen Machtapparates, ebenfalls an vielen Stellen se<strong>in</strong>es Werks die produktiveSeite <strong>der</strong> Macht herausstellte und sich weniger für ihre (makro)strukturelle Komponente alsfür ihre +Mikrophysik* <strong>in</strong>teressierte (siehe hierzu nochmals Anmerkung 48, E<strong>in</strong>leitung).John Law ist <strong>in</strong> dieser Beziehung allerd<strong>in</strong>gs gespalten: Er will sich die Möglichkeit offenhalten,Macht mit Ungleichheit und Ausbeutung zu identifizieren, und begreift diese deshalb alsrelationale Größe, die durchaus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Struktur des Netzwerks (re)präsent(iert) ist (vgl. Power,Discretion and Strategy; S. 185). In <strong>der</strong> ambivalenten Position Laws zeigt sich, daß e<strong>in</strong>igeVorstellungen <strong>der</strong> Akteur-Netzwerk-Theorie wie <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en hier dargestellten Ansätze durchausals problematisch angesehen werden können. Zwar berücksichtigt man, daß Wissenschaftund Technik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sozialen Prozeß geformt werden, verabschiedet sich von <strong>der</strong> Vorstellungwissenschaftlicher +Objektivität* und schafft e<strong>in</strong> plastisches Bild des Konstruktionsprozesseswissenschaftlicher +Fakten*, <strong>in</strong>dem man den Forschern <strong>in</strong> ihre Labors folgt. Die Akteur-Netzwerk-Theorie versucht zudem, e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung von Mikro- und Makroebene zu f<strong>in</strong>den, br<strong>in</strong>gtdie d<strong>in</strong>glich-materielle Seite von Wissenschaft und Technik wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Spiel und bemühtsich um die +Kreation* neuer, adäquaterer Begrifflichkeiten. E<strong>in</strong>ige dieser Vorzüge verkehrensich jedoch <strong>in</strong> Nachteile, wenn man e<strong>in</strong>en kritischen Horizont bewahren will. Ich möchtedeshalb anschließend e<strong>in</strong>e Reihe von Kritikpunkten zu den e<strong>in</strong>zelnen Ansätzen vorbr<strong>in</strong>gen,um darauf aufbauend (sowie unter E<strong>in</strong>beziehung des Konzepts <strong>der</strong> reflexiven VerwissenschaftlichungUlrich Becks) so etwas wie e<strong>in</strong>e +eigene*, kritische Position zu erarbeiten.Zum Ansatz von Hughes ist anzumerken, daß dieser zwar darstellt, wie die großen technischenSysteme Gesellschaften formen und strukturieren (vgl. <strong>in</strong>sb. Die Erf<strong>in</strong>dung Amerikas). Wiean<strong>der</strong>erseits soziale Makrofaktoren auf die Bildung von Technik-Systemen wirken, bleibt,wie schon oben angemerkt, lei<strong>der</strong> unterbelichtet. Insbeson<strong>der</strong>e auch die Rolle von Organisationenund <strong>der</strong>en Strukturen, die von Hughes nicht als Handlungssysteme, son<strong>der</strong>n wieTechnik als +Artefakte* verstanden werden, wird nicht näher untersucht.151Zudem ist beiihm e<strong>in</strong>e etwas fragwürdige Tendenz zur Heroisierung von System-Bildnern wie Edison, Bello<strong>der</strong> Ford auszumachen. Abgeschwächt gilt dieser Vorwurf übrigens auch für Latour, <strong>der</strong>zwar versucht zu zeigen, wie die (historischen) Umstände (und die materielle Welt des Labors)den Helden <strong>der</strong> Wissenschaft erst erschaffen (vgl. z.B. se<strong>in</strong>en +Bildband* über Pasteur). Doch


134 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEeben damit, durch die Konzentration auf die +großen Männer*, strickt Latour <strong>in</strong>direkt selbstam Mythos des +genialen Wissenschaftlers*. 152E<strong>in</strong>e ernst zu nehmende Kritik am Sozialkonstruktivismus wurde bereits mit <strong>der</strong> Position vonJoerges referiert: Konstruktivistische Ansätze tendieren leicht dazu, die (soziale und <strong>in</strong>dividuelle)Bee<strong>in</strong>flußbarkeit von Situationen zu überschätzen. Zwar ist es verkehrt, den Subjekten jeglicheHandlungsmächtigkeit abzusprechen,153und wichtig zu erkennen, wie Wirklichkeit, o<strong>der</strong>vielmehr e<strong>in</strong> Bild von Wirklichkeit, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sozialen Prozeß konstruiert wird. Genau dadurchwird e<strong>in</strong>e bestimmte Wirklichkeitsdef<strong>in</strong>ition schließlich h<strong>in</strong>terfragbar und dem (verän<strong>der</strong>ungsorientierten)Handeln verfügbar. Jedoch s<strong>in</strong>d Konstruktionen nicht beliebig, son<strong>der</strong>n f<strong>in</strong>den<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em (begrenzten) Kont<strong>in</strong>genzraum statt (siehe auch Schlußexkurs). Dieser Kont<strong>in</strong>genzraumwird nicht nur durch Mikroakteure und ihre Orientierungen, son<strong>der</strong>n auch durch makrostrukturelleDeterm<strong>in</strong>anten abgesteckt, die lei<strong>der</strong> bei den meisten bisherigen Umsetzungsversuchene<strong>in</strong>er sozialkonstruktivistischen Wissenschafts- und Techniksoziologie (genausowie im System-Ansatz von Hughes) weitgehend aus dem Analyserahmen ausgeklammert wurden.Immerh<strong>in</strong> wurde dieser schon mehrfach genannte Mangel hier teilweise erkannt.E<strong>in</strong> weiteres, damit im Zusammenhang stehendes Problem ist die Ablehnung jeglicher Objektivität,sofern es sich – wie bei e<strong>in</strong>igen Beispielen sozialkonstruktivistischer WissenschaftsundTechniksoziologie – um radikalisierte, mith<strong>in</strong> gerade +entwurzelte* konstruktivistischePositionen handelt.154Aus solcher Sicht wird nämlich alles zur schlichten Def<strong>in</strong>itions- undAushandlungsfrage. Nur, wer wollte z.B. bestreiten, daß Radioaktivität bzw. radioaktiver Abfall,wie er im Zentrum <strong>der</strong> Untersuchung von Bruhèze stand, ganz unabhängig davon, ob wires glauben o<strong>der</strong> nicht, bestimmte Wirkungen auf den menschlichen Körper hat und deshalbsorgfältig verwahrt gehört? Richtig ist natürlich, daß es sich bei dieser Annahme um e<strong>in</strong>e (vielleichtfalsche) kausale Interpretation handelt, die auf bestimmten theoretischen Vorstellungen beruht.Wir wissen also niemals, daß es wirklich <strong>der</strong> radioaktive Abfall, die von ihm ausgehendeStrahlung ist, die uns krank macht – worauf sich die Atom-Industrie ja auch gerne +herausredet*.Doch obwohl wir sie, wie sie ist, nicht erkennen können, ist es uns unmöglich, uns <strong>der</strong> Wirkung<strong>der</strong> materiellen Welt zu entziehen – was die Vertreter <strong>der</strong> Akteur-Netzwerk-Theorie gegenden Sozialkonstruktivismus ganz zu recht wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Bewußtse<strong>in</strong> gebracht haben. Deshalbdürfen wir me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach sehr wohl annehmen, daß, wenn wir uns krank fühlen,irgend etwas, also e<strong>in</strong>e tatsächliche Ursache, uns krank gemacht haben muß.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 135In <strong>der</strong> Regel haben wir über diese Ursache bestimmte Theorien, also z.B. +die Strafe Gottesfür sündhaftes Verhalten* o<strong>der</strong> eben: +krankmachende Strahlung durch radioaktiven Abfall*.Solche Theorien können mehr o<strong>der</strong> weniger mit <strong>der</strong> +tatsächlichen* Ursache <strong>der</strong> Krankheitzu tun haben. Es ist nur lei<strong>der</strong> ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>fach zu entscheiden, welche Theorie wie e<strong>in</strong>zuordnenist, da wir die wirkliche(n) Ursache(n) nicht (er)kennen (können). E<strong>in</strong>e möglicheOrientierung bietet hier me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach nur das subjektive und empirische Kriterium,wie nützlich bzw. s<strong>in</strong>nvoll sich e<strong>in</strong>e Theorie für die Bewältigung des Alltags (auch des Forschungsalltags)erweist.155Lei<strong>der</strong> setzt sich nicht immer die <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht +beste* Theorie durch.Für die Bewältigung des seefahrerischen Alltags hat es sich z.B. <strong>in</strong> den letzten Jahrhun<strong>der</strong>tenals vorteilhaft erwiesen, davon auszugehen, daß die Erde e<strong>in</strong>e Kugel ist. Lange Zeit wurdediese Theorie jedoch verworfen, da sie <strong>in</strong> Konflikt mit e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Theorie stand (<strong>der</strong> Theorie,daß die Erde e<strong>in</strong>e Scheibe sei), die von e<strong>in</strong>er sozial sehr e<strong>in</strong>flußreichen Kraft (<strong>der</strong> Kirche)favorisiert wurde. Aus <strong>der</strong> Sicht e<strong>in</strong>es entwurzelten, streng relativistischen Konstruktivismusgibt es nun jedoch ke<strong>in</strong>e +besseren* o<strong>der</strong> +schlechteren* Theorien: Alle s<strong>in</strong>d per se gleichgewichtig.E<strong>in</strong>e Rangordnung entsteht erst durch die sozialen Aushandlungsprozesse. Damitaber h<strong>in</strong>terläßt uns <strong>der</strong> radikalisierte Konstruktivismus hilflos gegenüber <strong>der</strong> Aushandlungsmachtvon bestimmten Akteuren. Wir können ke<strong>in</strong>e wie auch immer geartete +objektive* bzw. <strong>in</strong>objektiven Gegebenheiten verankerte subjektive +Wahrheit* gegen sie <strong>in</strong>s Feld führen.E<strong>in</strong> letztes Problem mit dem konstruktivistischen Ansatz gilt auch und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für dieAkteur-Netzwerk-Theorie: Die Verwischung <strong>der</strong> Begrifflichkeiten im Bemühen um e<strong>in</strong>e Dekonstruktion<strong>der</strong> begrifflichen Trennungen. Selbstverständlich s<strong>in</strong>d Begriffe Konstrukte. Begriffehaben, entgegen idealistischen und nom<strong>in</strong>alistischen Vorstellungen, nicht an sich, son<strong>der</strong>nnur für sich/uns Wirklichkeit, d.h. sie/wir erschaffen die Sache, die sie/wir bezeichnen. Deshalbberuht die begriffliche Trennung zwischen Wissenschaft und Technik, Technik und Gesellschaft,Gesellschaft und Natur etc. auf <strong>der</strong> begrifflichen Konstruktion dieser Trennung. Gerade weildas so ist, ist aber auch <strong>der</strong> (de)konstruktivistische Versuch <strong>der</strong> Auflösung dieser Trennung<strong>in</strong> Hybridkonzepte e<strong>in</strong> Akt <strong>der</strong> (Kontra-)Konstruktion, da man, um zu dekonstruieren, diezu dekonstruierenden Begriffe erstens voraussetzen muß und sie zweitens <strong>in</strong> ihrer Verschmelzungnicht aufhebt, son<strong>der</strong>n wie<strong>der</strong> herstellt. Alle<strong>in</strong>e mit <strong>der</strong> (verschmelzenden) Dekonstruktionvon Begriffen ist deshalb nichts gewonnen. Im Gegenteil: Für die Analyse und Theoriebildungs<strong>in</strong>d begriffliche Unterscheidungen s<strong>in</strong>nvoll, da nur differenzierte begriffliche Systeme die


136 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEErfassung bzw. (Re)-Konstruktion komplexerer Zusammenhänge und damit e<strong>in</strong>e Annäherungan +Wirklichkeit* erlauben – denn Wirklichkeit ist (vermutlich) komplex. Erst zwischen Wissenschaftund Technik zu unterscheiden, erlaubt es also, den Zusammenhang von Wissenschaftund Technik (differenziert) auszudrücken (und darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e Wissenschaft zu imag<strong>in</strong>ieren,die sich von ihrem <strong>in</strong>strumentellen Verwendungskontext, <strong>der</strong> Technik, emanzipiert).Doch was ist mit <strong>der</strong> Trennung Natur–Gesellschaft bzw. Natur–Technik? – Wer, gestützt aufdie Beobachtung, daß diese Trennung <strong>in</strong> unserer technikdurchdrungenen Welt praktisch aufgehobenist, deshalb auch von <strong>der</strong> konzeptionell-begrifflichen Trennung Abschied nehmenmöchte, <strong>der</strong> hat damit Natur elim<strong>in</strong>iert, sie als Möglichkeit getilgt. Nur: Welche Möglichkeitwäre Natur? – Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach läßt sich grundsätzlich zwischen zwei Naturbegriffenunterscheiden: e<strong>in</strong>em metaphysischen, <strong>der</strong> auf die +Natur <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge*, ihr +Wesen* abzielt,und e<strong>in</strong>em +physischen*, <strong>der</strong> <strong>in</strong> unserem Kontext relevant ist und Natur im weitesten S<strong>in</strong>nals (Um-)Welt versteht. Letzere Aussage muß allerd<strong>in</strong>gs noch präzisiert werden, denn nichtjede Umwelt ist +Natur*. Als Natur im engeren S<strong>in</strong>n gilt nämlich im allgeme<strong>in</strong>en Verständnisnur, +was […] ohne Zutun des Menschen existiert o<strong>der</strong> sich entwickelt* (Duden Universallexikon).Dies ist e<strong>in</strong> Naturkonzept, das sich bereits bei Aristoteles f<strong>in</strong>det (vgl. Physik; Buch II, Kap.1). Es steckt implizit <strong>in</strong> so gut wie allen gängigen Naturbil<strong>der</strong>n, egal, ob diese nun Natur alsbedrohlich und unberechenbar o<strong>der</strong> als gütig und verzeihend betrachten. 156Damit läßt sich e<strong>in</strong>e +natürliche* von e<strong>in</strong>er +technischen* Umwelt abgrenzen, denn (d<strong>in</strong>gliche)Technik kann wie<strong>der</strong>um – ebenfalls auf Aristoteles aufbauend – als die Gesamtheit dessenaufgefaßt werden, was vom Menschen hergestellt bzw. (materiell) erschaffen wurde. DieÜbergänge zwischen natürlicher und technischer Umwelt s<strong>in</strong>d jedoch fließend, und es gibtauch so etwas wie e<strong>in</strong>e technisch geformte Natur, die wir zumeist mit Begriffen wie +Kulturlandschaft*o<strong>der</strong> ähnlichem bezeichnen, die aber genau genommen die gesamte uns praktischzugängliche +Natur* umfaßt, da <strong>der</strong> anthropogene E<strong>in</strong>fluß heute (z.B. durch die Freisetzungvon +Klimagasen*) überall h<strong>in</strong> reicht (siehe auch Übersicht 3). 157Die Unterscheidung Natur–Technik (das vom Menschen Hergestellte) bzw. Natur–Gesellschaft(die menschliche Geme<strong>in</strong>schaft) beruht damit aber auf <strong>der</strong> Exklusion des Menschen aus <strong>der</strong>Natur, <strong>der</strong> über diese Differenz und die Identifizierung mit se<strong>in</strong>en Artefakten, <strong>der</strong> Technik,se<strong>in</strong>e Identität def<strong>in</strong>iert (dies galt zum<strong>in</strong>dest für e<strong>in</strong>e lange Periode westlicher Kulturgeschichte).Damit ist auch e<strong>in</strong>e Haltung verbunden, die aus <strong>der</strong> konstruierten +Tatsache* <strong>der</strong> Differenz


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 137Übersicht 3: Zur Typologie und Topologie von +Umwelt(landschaft)en*• +Natürliche* Landschaften: +Unberührte* Natur, die nicht durch menschliche E<strong>in</strong>griffe verän<strong>der</strong>t wurde.• Technisch geformte Landschaften: +Kulturlandschaften* und Gärten etc., <strong>in</strong> denen es Reste von +unberührterNatur* gibt, die aber durch (gezielte und unbeabsichtigte) technische E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> ihre spezifische Form gebrachtwurden (Natur, wie sie uns heute überwiegend entgegentritt).• Technische Landschaften: Bestehen (nahezu) ausschließlich aus +Technik* (z.B. e<strong>in</strong> Hochhaus, Autobahnen,Flugzeuge, Städte etc.)• Virtuelle Landschaften:– (Vor-)Bil<strong>der</strong>, Pläne und Ideen, nach denen technisch geformte und technische Landschaften entstehen– technische (Nach-)Bil<strong>der</strong> +natürlicher* Landschaften, z.B. Landschaftsgärten o<strong>der</strong> Zoos, die als +disneysierteNatur* e<strong>in</strong> romantisches Naturbild wi<strong>der</strong>spiegeln bzw. e<strong>in</strong> Naturerlebnis +künstlich* generieren– technisch generierte symbolische Landschaften, die e<strong>in</strong>e virtuelle Ersatzumgebung darstellen (Cyberspace)e<strong>in</strong>e Hierarchie ableitet, d.h. den Menschen als Herrn über die vom ihm unterschiedene(Rest-)Natur e<strong>in</strong>setzt und ihn ermächtigt, mit ihr nach se<strong>in</strong>em Belieben zu verfahren. Mitdem daraus nunmehr resultierenden +Ende <strong>der</strong> Natur* (McKibben) bzw. ihrer Bedrohungentstand aber die Notwendigkeit, menschliche Identität über e<strong>in</strong>e neue, umgekehrte Differenzzu (re)def<strong>in</strong>ieren: Die Differenz Mensch–Technik. Der Mensch macht sich also durch dietechnische Umgestaltung <strong>der</strong> Natur und die Technisierung se<strong>in</strong>er Umwelt selbst (wie<strong>der</strong>)zu Natur – als konstruiertem Gegensatz zur ihm immer weiter entfremdeten, reflexiv unddamit zum Problem gewordenen Technik und Wissenschaft.Dieser Umschlagspunkt markiert gewissermaßen den Übergang von <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen zur reflexivenMo<strong>der</strong>ne (siehe auch S. XLII sowie Abschnitt 5.1.2). E<strong>in</strong> wichtiges Kennzeichen <strong>der</strong> reflexivenMo<strong>der</strong>ne ist es, daß (technikerzeugte) Risiken bzw. die Risikoverteilung zu e<strong>in</strong>er sozialenGrundkategorie wird: Wir leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er +Risikogesellschaft* (Beck 1986).158Denn die latentenNebenfolgen des wissenschaftlich-technischen +Fortschritts*, dem sich die e<strong>in</strong>fache Mo<strong>der</strong>nenoch ohne Vorbehalte verschrieben hatte, wirken auf die Gesellschaft zurück und produzierenUnsicherheiten. Es stellt sich deshalb vehement die Frage <strong>der</strong> Kontrolle bzw. Kontrollierbarkeitvon Technikrisiken und wie diese <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em politischen Prozeß vermittelt und übermittelt werden(vgl. auch Irw<strong>in</strong>: Risk and the Control of Technology; <strong>in</strong>sb. Kap. 2).Der reflexive Charakter von Technik und Wissenschaft äußert sich allerd<strong>in</strong>gs auf verschiedenenEbenen: Zunächst e<strong>in</strong>mal s<strong>in</strong>d Wissenschaft und Technik deshalb reflexiv, weil sie sich zunehmendauf sich selbst beziehen. Wissenschaft nimmt Rekurs auf ihre eigenen Diskurse.


138 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEMit Luhmann könnte man darum argumentieren, daß e<strong>in</strong> rekursives System entstand, dasdurch operationelle Geschlossenheit gekennzeichnet ist (vgl. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft;Kap. 5).159Trotzdem ist auch nach ihm e<strong>in</strong>e Zirkularität von Wissenschaft und Gesellschaftgegeben, denn Wissenschaft ist e<strong>in</strong> Vorgang, <strong>der</strong> <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Gesellschaft stattf<strong>in</strong>det, d.h.sie kommuniziert mit Gesellschaft und umgekehrt (vgl. ebd.; S. 616–622). So kommt es auch,daß Wissenschaft sich immer mehr mit den (sozialen und ökologischen) Folgen von Wissenschaftbzw. ihrer Anwendung ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen muß – weshalb Ulrich Beck von +reflexiver Verwissenschaftlichung*spricht (vgl. Risikogesellschaft; S. 259ff.). Technik selbst ist wie<strong>der</strong>umdadurch reflexiv, daß sie auf an<strong>der</strong>er Technik aufbaut (z.B. Verkehrsleitsysteme auf Verkehrssystemen,Software auf Hardware etc.). Dabei wird häufig versucht, durch Technik technikerzeugteProbleme <strong>in</strong> den Griff zu bekommen (Filteranlagen, Antivirensoftware usw.) – ichmöchte hier deshalb von deflexiven (d.h. ablenkenden) Technologien sprechen. 160Die Reflexivität von Wissenschaft und Technik hat also verschiedene Gesichter. Als <strong>in</strong>terneReflexivität schließt sie Wissenschaft und Technik nach <strong>in</strong>nen ab und produziert damit <strong>in</strong>direktjene externe Reflexivität, die sie durch äußere Impulse zw<strong>in</strong>gt, sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Reflexions-Zirkel mit den Folgen <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischen Selbst-Reflexivität ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen.Externe Reflexivität me<strong>in</strong>t aber nicht nur die Rückvermittlung, son<strong>der</strong>n darüber h<strong>in</strong>aus auchdie externe diskursive Wie<strong>der</strong>spiegelung (Reflexion) technisch-wissenschaftlicher Problematiken,bedeutet demnach die gleichzeitige Demystifizierung und Entmonopolisierung wissenschaftlicherErkenntnis. Dies zeigt sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> den immer nachdrücklicheren For<strong>der</strong>ungen nache<strong>in</strong>er demokratisierten, öffentlich +verhandelten* Wissenschaft (vgl. z.B. Irw<strong>in</strong>: Citizen Scienceund siehe auch S. 147ff.). Im Zuge dieser externen Spiegelung wird Wissenschaft jedochz.T. wie<strong>der</strong>um mit Wissenschaft (z.B. durch Gegenexpertisen o<strong>der</strong> den Rekurs auf wissenschaftlicheTerm<strong>in</strong>ologien und Theorien) <strong>in</strong> Frage gestellt (vgl. hierzu auch Risikogesellschaft;S. 261ff. u. S. 266ff.). Wir haben es mit e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Externalisierung und Internalisierungvon Wissenschaft zu tun. Die Akzeptanz wissenschaftlichen Denkens drückt sich auch undgerade <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Abwehr aus.Die abwehrende externe Spiegelung von Wissenschaft ist nun aber ke<strong>in</strong>eswegs gleichmäßigüber die verschiedenen Wissenschaftsfel<strong>der</strong> verteilt (genausowenig wie e<strong>in</strong> +Gleichgewicht*<strong>in</strong>nerhalb des Wissenschaftssystems besteht).161Man könnte deshalb von e<strong>in</strong>er Reflexions-Hierarchie bzw. partieller Reflexivität sprechen. Die öffentliche Thematisierung konzentriert


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 139sich auf bestimmte, <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Wahrnehmung beson<strong>der</strong>s problematische Wissenschaftsbereicheund Technologien. Beispiele dafür s<strong>in</strong>d die Atomenergie und die Gentechnik, diesehr sensibel und genau öffentlich beobachtet werden. In Zukunft werden wahrsche<strong>in</strong>lichauch die Informationstechnologien zu diesem Kernbereich kritischer Reflexion gehören, dasie immer mehr ökonomisch wie sozial relevant werden und sich hier e<strong>in</strong>e zunehmendeZahl von Konfliktfel<strong>der</strong>n abzeichnet (Zugang zu Information, Überwachung <strong>der</strong> Informationsflüsse,Zensur <strong>der</strong> Netze etc.).Das Unbehagen an diesen und an<strong>der</strong>en Technologien spiegelt sich auf politisch-praktischerEbene vorwiegend <strong>in</strong> subpolitischen Protestbewegungen (da die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> zumeistversucht, zwischen <strong>der</strong> Position <strong>der</strong> Industrie, die e<strong>in</strong> ökonomisches Interesse an diesenTechnologien hat, und <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu vermitteln). Das Paradebeispiel für e<strong>in</strong>e solchesubpolitische Protestbewegung ist die Ökologie- und Umweltbewegung (vgl. auch Beck: Risikogesellschaft;S. 264f. sowie Gegengifte; Kap. II), die beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik großeMobilisierungsfähigkeit aufweist und mit den +Grünen* sogar e<strong>in</strong>en sehr erfolgreichen parteipolitischenArm etablieren konnte, was allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en programmatisch-strategischen +Paradigmawechsel*,e<strong>in</strong>e partielle Inklusion <strong>in</strong> das etablierte <strong>Politik</strong>system erfor<strong>der</strong>te (vgl. Wessollek:Die Ökologiebewegung; S. 79ff.).162Auch <strong>der</strong> parlamentarische Arm <strong>der</strong> Ökologiebewegunggerät aber mit dem Identifikationsangebot +Natur*, das er offeriert, <strong>in</strong> Konflikt zu an<strong>der</strong>en(<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch außerpolitischen) +Parteien*, die auf <strong>der</strong> hierarchisierenden DifferenzMensch–Natur beharren bzw. an<strong>der</strong>e Naturbil<strong>der</strong> zugrunde legen, welche mit ihren (ökonomischen)Interessen kompatibel s<strong>in</strong>d. Denn das Naturbild, das für große Teile <strong>der</strong> Ökologiebewegungkennzeichnend ist, ist die Vorstellung e<strong>in</strong>er Natur, die äußerst empf<strong>in</strong>dlich aufGleichgewichtsstörungen reagiert. Wirtschaftsunternehmen, als prädest<strong>in</strong>ierte Hauptangriffszieledes Protests, s<strong>in</strong>d dagegen zumeist +bl<strong>in</strong>d* für die durch ihre Produktionsmethoden und Produkteausgelösten möglichen Gleichgewichtsstörungen, da <strong>in</strong> ihrem Bild Natur äußerst tolerant gegenüberE<strong>in</strong>griffen ist bzw. zu se<strong>in</strong> hat.163Der Konflikt entsteht also, um mit Schwartz und Thompsonzu sprechen, die diesen Zusammenhang am Beispiel des Streits um die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>esneuartigen Sanitärprodukts herausgearbeitet haben, durch +contradictory certa<strong>in</strong>ties*: wi<strong>der</strong>sprüchlicheSicherheiten (vgl. Divided We Stand; S. 2–13). 164Naturbil<strong>der</strong> und -begriffe s<strong>in</strong>d deshalb wichtige Analysekategorien gerade im Rahmen <strong>der</strong>Beschäftigung mit Wissenschaft und Technik und <strong>der</strong> sozialen Reflexionen, die diese bewirken. 165


140 POLITIK IN DER (POST-)MODERNESie liefern mögliche Erklärungen für die Instrumentalisierung von Natur wie für den Protestgegen e<strong>in</strong>en solchen +technischen* Umgang mit Natur. Und auch dem Protest häufig zugrundeliegendeAngstprojektionen lassen sich mit bestimmten Naturvorstellungen erklären. E<strong>in</strong> Beispielfür <strong>der</strong>artige Angstprojektionen ist Rachel Carsons e<strong>in</strong>flußreiches Buch +Silent Spr<strong>in</strong>g* (1962),wo gleich zu Beg<strong>in</strong>n das Szenario e<strong>in</strong>er sterbenden Natur und e<strong>in</strong>es +verstummten Frühl<strong>in</strong>gs*entworfen wird, <strong>in</strong> dem ke<strong>in</strong>e Vogelstimmen mehr zu hören s<strong>in</strong>d. Die Quelle <strong>der</strong> Angstbil<strong>der</strong>ist auch <strong>in</strong> diesem Fall die Identifizierung mit Natur. Die wahrgenommene Bedrohung <strong>der</strong>Natur durch Technik bedroht gleichzeitig das Selbst, das sich mit Natur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s setzt – e<strong>in</strong>erNatur, die <strong>in</strong> vielen Fällen <strong>in</strong> fragwürdiger Weise idealisiert wird, als re<strong>in</strong> und unverdorbengilt. Dies kommt vor allem <strong>in</strong> bestimmten Äußerungen des New Age-Denkens und <strong>der</strong> Esoterikklar hervor, welche ja Teile <strong>der</strong> Ökologiebewegung stark bee<strong>in</strong>flußt haben (vgl. auch Mittermüller:Ideologie und Theorie <strong>der</strong> Ökologiebewegung; S. 151ff.). Die Natur wird hier als Quellevon Heilung (z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Homöopathie),166als Repräsentant<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ganzheit (vgl. z.B. Capras+Wendezeit*) o<strong>der</strong> als kraftspendende +Mutter Erde* etc. betrachtet. 167Aus dieser idyllischen, romantischen Natursicht heraus, gilt es Natur o<strong>der</strong> das, was von ihrübrig ist, zu konservieren und wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihr +Recht* zu setzen. Natur (im traditionellen S<strong>in</strong>n)bzw. die Er<strong>in</strong>nerung daran wird mit ihrem Verschw<strong>in</strong>den, ihrer technischen +Vergesellschaftung*zu e<strong>in</strong>er Wunschprojektion. Das Bestreben, diesem Natur-Wunsch (wie<strong>der</strong>) Wirklichkeit zugeben, führt zur (Neu-)Erf<strong>in</strong>dung, zur +Wie<strong>der</strong>geburt <strong>der</strong> Natur* (Sheldrake), damit aber auchzu den paradoxen, weil hochgradig +künstlichen* Phänomen +disneysierter*, vergarteter undentkontextualisierter Enklaven, die Bil<strong>der</strong> von Natur <strong>in</strong> virtuellen Landschaften (siehe nochmalsÜbersicht 3) ausstellen und zu verwalten trachten (z.B. Zoos, Aquarien, botanische Gärten,Nationalparks, Naturschutzgebiete etc.). Beck spricht <strong>in</strong> ähnlicher Weise von +Kunstnatur*und +Realnaturmuseen* (vgl. Gegengifte; S. 64). Es handelt sich also wie<strong>der</strong>um, allerd<strong>in</strong>gsauf verschobener Ebene, um e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>strumentellen Umgang mit und e<strong>in</strong> <strong>in</strong>strumentellesVerständnis von +Natur*: Diese wird zum Spiegel des idealisierten Selbstbildes und muß alsRegenerationsraum wie als +Schau(stell)platz* e<strong>in</strong>er heilen Welt dienen. Selbst <strong>in</strong> dieser Instrumentalisierungund Inszenierung ist aber als utopische Projektion e<strong>in</strong> Moment von Transzendenzenthalten, welches Natur – so wie sie sich <strong>in</strong> unserer idealisierten Vorstellung gerade nichtdarstellt (nämlich so wie sie +ist*) – immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e vage Möglichkeit eröffnet. Über den(Um-)Weg <strong>der</strong> Identifizierung wird nämlich e<strong>in</strong>e Transformation <strong>der</strong> Differenz möglich: von


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 141e<strong>in</strong>er hierarchisierenden zu e<strong>in</strong>er egalisierenden Differenz, die dem (imag<strong>in</strong>ierten) An<strong>der</strong>en<strong>der</strong> Natur e<strong>in</strong>e Chance gibt, womit potentiell e<strong>in</strong>e Vermittlung zwischen Mensch, Natur undTechnik möglich wird (vgl. auch Bloch: Das Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung; Band 2, S. 817). 168Dies wäre schon alle<strong>in</strong>e deshalb +objektiv* wünschenswert, weil beispielsweise sauberes Wasseraller alltagspraktischer wie auch wissenschaftlicher +Erfahrung* nach e<strong>in</strong>e unverzichtbare Lebensgrundlagedarstellt, und <strong>der</strong> Plastikwald, von dem Beck spricht (vgl. Gegengifte; S. 77), als(un)mögliche Alternative nicht nur unserer kulturell geprägten Vorstellung davon wi<strong>der</strong>spricht,wie <strong>der</strong> +deutsche Wald* gefälligst auszusehen hat (siehe auch nochmals Anmerkung 162).Darüber h<strong>in</strong>aus würden Plastikwurzeln als Wasserspeicher und -filter wohl kaum +funktionieren*.Wir hätten es demnach mit e<strong>in</strong>em selbst nach technischen Maßstäben +unvollkommen* Surrogatzu tun – jedenfalls, wenn man den gegenwärtigen +Stand <strong>der</strong> Technik* zugrunde legt. Undauch Vogelgezwitscher kl<strong>in</strong>gt für viele Ohren doch angenehmer als das Geräusch von Motorsägen,wenngleich es hier +natürlich* unterschiedliche Auffassungen gibt und es zudem denkbarwäre, daß e<strong>in</strong>ige Arten sich mit dem neuen Plastikwald anfreunden könnten.Selbst wo also Natur nur mehr Imag<strong>in</strong>ation ist und ihr begrifflicher S<strong>in</strong>n durch die Praxis entleertist, erwächst im Beharren auf Natur e<strong>in</strong>e (neue) Möglichkeit (für Natur). Die Aufhebung <strong>der</strong>Trennung von Natur und Technik bzw. Gesellschaft <strong>in</strong> Begriffen wie dem des +techno-ökonomischenNetzwerks*, würde (im Fall ihrer Durchsetzung) selbst das unmöglich machen,und die +Cyborgs*, die wir angeblich s<strong>in</strong>d, könnten sich nicht e<strong>in</strong>mal mehr als Hybridwesenerkennen. Begriffe s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> mächtiges Mittel <strong>der</strong> Kritik, und jede +Absperrung des Universums<strong>der</strong> Rede* (Marcuse) ist e<strong>in</strong> Angriff gegen die Möglichkeit von Kritik. Das heißt offensichtlichnicht, daß man nicht kreativ und spielerisch nach neuen Begrifflichkeiten suchen sollte, diee<strong>in</strong>er verän<strong>der</strong>ten Wirklichkeit gerecht werden. Doch es heißt auch nicht, daß man alles<strong>in</strong> undifferenzierten Hybridkonzepten auflösen sollte.Dieses Problem <strong>der</strong> Begriffsdiffusion betrifft, wie gesagt, die sozialkonstruktivistische Wissenschafts-und Techniksoziologie ebenso wie die Akteur-Netzwerk-Theorie. Letztere hat <strong>in</strong> me<strong>in</strong>enAugen jedoch noch e<strong>in</strong> zweites wesentliches Problem, das se<strong>in</strong>e Wurzel allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> ersteremhat und beson<strong>der</strong>s deutlich bei Latour zutage tritt: Wenn nämlich nicht mehr zwischenGesellschaft und Technik, Mensch und Masch<strong>in</strong>e unterschieden wird (siehe zurück zu S.132), so muß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenz des Arguments auch <strong>der</strong> Akteursbegriff, <strong>der</strong> für die Akteur-Netzwerk-Theorie schließlich zentral ist, auf die d<strong>in</strong>gliche Welt <strong>der</strong> Technik ausgedehnt werden.


142 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDie daraus resultierende Vorstellung nicht-menschlicher, d<strong>in</strong>glich-technischer Akteure bzw.Aktanten, führt jedoch ungewollt <strong>in</strong> die Nähe e<strong>in</strong>er Richtung, die von den Vertretern <strong>der</strong>Akteur-Netzwerk-Theorie explizit abgelehnt wird: nämlich zu jenem +naturalistischen Reduktionismus*,<strong>der</strong> die Objektivität, die Natur- und Eigengesetzlichkeit von Wissenschaft undTechnik unterstellt.Dieser Vorwurf bedarf <strong>der</strong> näheren Erläuterung: Wenn man die Existenz nicht-menschlicherAkteure unterstellt und also davon ausgeht, daß Technik zu e<strong>in</strong>em eigenständigen Akteur<strong>in</strong> techno-ökonomischen Netzwerken werden kann, so bedeutet dies, daß Technik über e<strong>in</strong>bestimmtes Maß von Autonomie, e<strong>in</strong>e Eigendynamik, ja, über e<strong>in</strong>e Art +eigenen Willen* verfügenmuß.169Denn e<strong>in</strong> Handeln, das sich als Akt vom bloßen Fakt unterscheidet, be<strong>in</strong>haltet immerIntentionalität und Zielgerichtetheit.170Auch Callon sche<strong>in</strong>t im Pr<strong>in</strong>zip ähnliche Vorstellungenzu teilen, <strong>in</strong>dem er +Autorenschaft* zum Def<strong>in</strong>itionskriterium des Akteurs macht – ohne allerd<strong>in</strong>gsplausibel zu darzulegen, wie dieses Kriterium von nicht-menschlichen Akteuren erfüllt werdenkönnte, die auch er unterstellt (siehe hierzu nochmals S. 131 sowie Anmerkung 148).Selbst wenn man aber jene Schwierigkeit e<strong>in</strong>mal außer acht läßt, so zeigt sich e<strong>in</strong> weiteresProblem: Indem Technik zum Mit-Akteur und eigenständigen Faktor gemacht wird, und <strong>in</strong>dem Ausmaß, <strong>in</strong> welchem man ihr (als Quasi-Objekt und -Subjekt)171Autonomie zuspricht,erhält sie den Status e<strong>in</strong>er +Quasi-Natur*. Denn Natur umfaßt schließlich nach +traditioneller*Def<strong>in</strong>ition genau das, was unabhängig (autonom) von menschlicher Existenz, d.h. ohne unserZutun besteht. Es erfolgt also e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>direkte und ungewollte Naturalisierung von Technik,während die +eigentliche* Natur sich im erweiterten Begriff des Sozialen und Technischenauflöst, aus dem Begriffs- und Bezugshorizont (tendenziell) verschw<strong>in</strong>det.Diese implizite Naturalisierung von Technik, die im Wi<strong>der</strong>spruch zu den gleichzeitig im Gebäude<strong>der</strong> Akteur-Netzwerk-Theorie vorzuf<strong>in</strong>denden konstruktivistischen Vorstellungen steht, zeigt+<strong>fatal</strong>e* Berührungspunkte zu Auffassungen, wie sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technokratietheorie (ihrer optimistischenwie ihrer pessimistischen Variante) vorherrschen. Denn Technokratietheorien beruhenschließlich genau auf <strong>der</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er Autonomie und Eigengesetzlichkeit, e<strong>in</strong>er +Naturhaftigkeit*von Technik, und schließen daraus, daß es zu e<strong>in</strong>er Übernahme <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durchTechniker (und Sozialtechniker) gekommen ist bzw. kommen sollte und muß, da jene alle<strong>in</strong>eaufgrund ihres Wissens E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Sachgesetzlichkeiten <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen (<strong>in</strong>dustriellen) Gesellschafthätten.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 143In den USA gab es schon <strong>in</strong> den 20er Jahren, aufbauend auf Veblens Schrift +The Eng<strong>in</strong>eerand the Price System* (1921),172e<strong>in</strong>e technokratische Bewegung (vgl. z.B. Kle<strong>in</strong>: The Technocrats).In Deutschland kamen technokratische Ideen dagegen erst viel später auf. Hier nahm manauch weniger auf Veblen als auf Ellul bezug. Dieser malt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +La Technique oul’enjeu du siècle* (1954) – das zehn Jahre später auch <strong>in</strong> englischer Sprache unter dem Titel+The Technological Society* erschien – e<strong>in</strong> eher düsteres Bild über die Technisierung vonGesellschaft und Staat. Die autonom gewordene Technik hat sich den Menschen unterworfen(vgl. Kap. 2). Sie ist nicht mehr Mittel für menschliche Zwecke, son<strong>der</strong>n dom<strong>in</strong>iert alles Nicht-Technische: +It destroys, elim<strong>in</strong>ates, or subord<strong>in</strong>ates the natural world* (ebd.; S. 79). Durchdie alles durchdr<strong>in</strong>gende Technisierung wird <strong>der</strong> Staat totalitär, <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Technik zur Beherrschung<strong>der</strong> Gesellschaft bemächtigt und das Leben <strong>der</strong> Bürger vollständig absorbiert (vgl.ebd.; S. 284ff.). Am Ende dieses Prozesses stehen auch bei Ellul so etwas wie Cyborgs: +Mensch-Masch<strong>in</strong>en* (vgl. ebd.; S. 395).173Deren Dase<strong>in</strong> ist von Technik normiert, sozial fragmentisiertund ohne e<strong>in</strong> geistiges Moment (vgl. ebd.; Kap. 5).Elemente dieser negativen Sicht f<strong>in</strong>den sich auch bei Gehlen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Die Seeleim technischen Zeitalter* (1957) e<strong>in</strong>e anthropologisch begründete Sozialpsychologie <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellenGesellschaft versucht (siehe auch zurück zu S. XXXVIIf.): Das +Mängelwesen* Menschschafft sich durch Technik Ersatz für se<strong>in</strong>e unzureichenden körperlichen Organe – soweitist Technik e<strong>in</strong>e Notwendigkeit für den Menschen (vgl. S. 7ff.). Aus dieser mittelhaften Technikhat sich aber e<strong>in</strong>e technische +Superstruktur* entwickelt (vgl. ebd.; S. 11ff.). Diese zw<strong>in</strong>gtuns zur Anpassung an ihre Vorgaben. Die Folgen s<strong>in</strong>d u.a. Ents<strong>in</strong>nlichung und Erfahrungsverlust(vgl. ebd. Kap. II u. III). Trotzdem aber gilt für Gehlen, daß das fragmentisierte Subjekt durchTechnik auch neue Ausdrucksformen gew<strong>in</strong>nt (vgl. ebd.; Kap. IV und IX).Bei Schelsky, <strong>der</strong> an Gehlen und Ellul anschließt, erfolgt e<strong>in</strong>e Umdeutung die politische Sphärebetreffend, und was <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei Ellul Anlaß zu Kritik ist, weicht bei Schelsky e<strong>in</strong>erKapitulation vor den angeblichen Sachzwängen, die sich aus <strong>der</strong> technischen Superstrukturergeben. Zwar kann man aus <strong>der</strong> Diktion Schelskys e<strong>in</strong>e deutliche Distanz zur +technisch-wissenschaftlichenZivilisation* heraushören, die unsere Gesellschaft kennzeichnet, doch diese hatunabän<strong>der</strong>lich e<strong>in</strong> neues Verhältnis des Menschen zu se<strong>in</strong>er Umwelt geschaffen: Die Sachgesetzlichkeit<strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriell-technischen Produktionsweise ersetzt den Naturzwang (vgl. DerMensch <strong>in</strong> <strong>der</strong> wissenschaftlichen Zivilisation; S. 449). Auch die <strong>Politik</strong>, das Verhältnis Mensch


144 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEzu Mensch, wird durch diese Sachgesetzlichkeiten bestimmt: +An die Stelle e<strong>in</strong>es politischenVolkswillens tritt die Sachgesetzlichkeit* (ebd.; S. 453), denn +die mo<strong>der</strong>ne Technik bedarfke<strong>in</strong>er Legitimität; mit ihr ›herrscht‹ man, weil sie funktioniert* (ebd.; S. 456). 174Diese Kapitulation vor e<strong>in</strong>er technokratischen Herrschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die +objektive* Erkenntnis<strong>der</strong> Sachgesetzlichkeiten politische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen ersetzt und Funktionieren Prioritätvor dem politischen Diskurs hat, ist nicht ohne Kritik geblieben.175Insbeson<strong>der</strong>e von denVertretern <strong>der</strong> Frankfurter Schule wurden technokratische Modelle heftig zurückgewiesen,was aufgrund <strong>der</strong> bereits zu Beg<strong>in</strong>n dieses Abschnitts dargestellten Auffassungen nicht verwun<strong>der</strong>nmuß. Jürgen Habermas z.B. spricht vom +Sche<strong>in</strong> <strong>der</strong> Verselbständigung* von Technik undWissenschaft. Tatsächlich stehen nämlich auch h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Objektivität <strong>der</strong> Sachzwänge gesellschaftlicheInteressen (vgl. z.B. Verwissenschaftlichte <strong>Politik</strong> und öffentliche Me<strong>in</strong>ung; S. 123).Zum deshalb also offensichtlich ideologischen Charakter des technokratischen Argumentskommt e<strong>in</strong> praktisches Problem h<strong>in</strong>zu: Gesellschaft läßt sich nicht vollständig rationalisieren.Wert- und S<strong>in</strong>nfragen können mittels re<strong>in</strong> +technischer* Diskurse nicht befriedigend beantwortetwerden (vgl. ebd.). Wenn trotzdem versucht wird, das sozial-politische Leben alle<strong>in</strong>e durchtechnokratisch-wissenschaftliches Management zu regeln, so erzeugt dies zwangsläufig (legitimatorische)Schwierigkeiten, die sogar zu e<strong>in</strong>er Legitimationskrise führen können (vgl. auchLegitimationsprobleme im Spätkapitalismus; S. 96ff.).Auch Hans-Mart<strong>in</strong> Schönherr-Mann, <strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er das soziale Band schwächenden +Hegemonie<strong>der</strong> technischen Hermeneutik* <strong>in</strong> unserer technisierten Gesellschaft ausgeht (vgl. LeviathansLabyr<strong>in</strong>th; S. 305ff.), konstatiert aus ähnlichen Überlegungen e<strong>in</strong>en +schwankenden Leviathan*(vgl. ebd.; S. 171f.). Den vom Ansatz her +soziologischsten* Ausdruck dieses Zusammenhangshat aber Peter We<strong>in</strong>gart mit e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>stitutionentheoretischen Betrachtung gefunden. Die zentraleThese se<strong>in</strong>es Aufsatzes +Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> Gesellschaft – Politisierung <strong>der</strong> Wissenschaft*(1983) lautet, daß Verwissenschaftlichung durch die von ihr bewirkte Unterm<strong>in</strong>ierung traditionalerGewißheiten und durch ihre (anwendungsbed<strong>in</strong>gte) soziale Dynamik de-<strong>in</strong>stitutionalisierendwirkt. An <strong>der</strong> damit an Wissenschaft gestellten politischen Aufgabe <strong>der</strong> Re-Strukturierung (ihrererzwungen Politisierung) scheitert sie jedoch, solange sie auf Objektivität beharrt.Die Substitution des wissenschaftlichen Objektivitätsgebots ersche<strong>in</strong>t jedoch schwierig, daWissenschaft gerade aus ihrer angenommenen Objektivität, <strong>der</strong> standpunktunabhängigen+Wahrheit* ihrer Erkenntnisse soziale Legitimität schöpft. Wer Wissenschaftlichkeit für sich


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 145beanspruchen will, muß deshalb aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichenÖffentlichkeit dem Objektivitätskriterium gerecht werden. Objektivität ist die sozial wie <strong>in</strong>nerhalb<strong>der</strong> Wissenschaften ver<strong>in</strong>nerlichte Rechtfertigungsgrundlage wissenschaftlicher Aussagen. Selbst<strong>in</strong> den verme<strong>in</strong>tlich +weicheren* Sozialwissenschaften ist das Objektivitätsparadigma (zum<strong>in</strong>destals Zielvorstellung) weith<strong>in</strong> akzeptiert. E<strong>in</strong> berühmtes und vielfach gerühmtes Dokument fürdie For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>er objektiven, +wertneutralen* (Sozial-)Wissenschaft ist Max Webersim Jahr 1917 <strong>in</strong> München gehaltene Vorlesung über +Wissenschaft als Beruf*.176Hier arbeitetWeber klar heraus, wie die großen Hoffnungen auf e<strong>in</strong>e umfassende Weltdeutung, die <strong>in</strong>ihren Anfängen noch <strong>in</strong> Wissenschaft gesetzt wurden, zwar enttäuscht wurden, enttäuschtwerden mußten, da <strong>der</strong> +S<strong>in</strong>n des Lebens* sich nun e<strong>in</strong>mal mit wissenschaftlichen Methodennicht ergründen läßt. Das Berufsethos des Wissenschaftlers erfor<strong>der</strong>t es aber für Weber geradedeshalb, daß er sich aller Wertfragen enthält und se<strong>in</strong> Engagement <strong>in</strong> den +re<strong>in</strong>en* Dienstan <strong>der</strong> Sache stellt, um den (Erkenntnis-)Fortschritt voranzutreiben (vgl. S. 15f.).Solche im Kern +positivistischen* Auffassungen s<strong>in</strong>d zwar spätestens (allerd<strong>in</strong>gs eher <strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungmit dem Kritischen Rationalismus Poppers) im sog. +Positivismusstreit* h<strong>in</strong>terfragtworden.177Und auch die dargestellten neueren wissenschaftssoziologischen Ansätze stimmenja zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>soweit übere<strong>in</strong>, daß sie sich von <strong>der</strong> Vorstellung wissenschaftlicher Objektivitätverabschiedet haben – und zwar nicht nur, was die Sozialwissenschaften betrifft, son<strong>der</strong>ngerade auch <strong>in</strong> bezug auf naturwissenschaftliche Aussagen. Denn wie schon Kar<strong>in</strong> Knorr-Cet<strong>in</strong>aherausgearbeitet hat: Bei <strong>der</strong> +Fabrikation von Erkenntnis* (1984) gibt es ke<strong>in</strong>en grundsätzlichenUnterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften, bei<strong>der</strong> Erklärungen beruhen auf Interpretationund Verstehen, nicht auf +objektiver* Messung (vgl. dort Kap. 7). Wie angemerkt,haben diese wissenschaftstheoretischen bzw. -soziologischen E<strong>in</strong>sichten jedoch nicht bewirkt,daß es auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Forschungspraxis zu e<strong>in</strong>em Abrücken von (meist quantitativen) methodischenKonzepten gekommen wäre, die zur +Sicherstellung* von Objektivität entwickelt wurden –weil Wissenschaft sich schließlich aufgrund <strong>der</strong> sozialen Fiktion ihrer Objektivität durch dargestellteund (be)greifbar gemachte Objektivität öffentlich legitimieren muß, um sich als Subsystemzu behaupten.Selbst wenn aber wissenschaftliche Objektivität nur Fiktion ist, so ist sie (wie gemäß demThomas-Theorem formuliert werden kann) auch als Fiktion real wirksam, und Wissenschaftals gesellschaftliches Teilsystem erhält die Macht, sozial verb<strong>in</strong>dlich +Wahrheit* zu def<strong>in</strong>ieren.


146 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDie Aufrechterhaltung dieser Fiktion ist jedoch logischerweise nur möglich, solange Wissenschaftunpolitisch bzw. neutral ersche<strong>in</strong>t. Besteht demnach vielleicht tatsächlich e<strong>in</strong>e +Inkommensurabilitätvon <strong>Politik</strong> und Wissenschaft* (Spaemann: Ars longa vita brevis; S. 19) und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>ee<strong>in</strong> Gegensatz zwischen Demokratie als Volksherrschaft und Technokratie als (angeblicher)Sachherrschaft (vgl. Greiffenhagen: Demokratie und Technokratie; S. 55)?Vieles sche<strong>in</strong>t für diese These zu sprechen – nicht nur, daß Wissenschaft mit <strong>der</strong> direktenÜbernahme von politischen Funktionen ihre Glaubwürdigkeit und Legitimitätsgrundlage verlierenwürde. Zwar ist richtig, daß, wo die Fiktion objektiver wissenschaftlicher Wahrheit besteht,die Versuchung naheliegt, politische Entscheidungen auf diese fiktive Wahrheit und nichtpolitische Aushandlungsprozesse zu gründen, was – etwas dezenter als die Rede von <strong>der</strong>+Technokratie* – auch mit dem Begriff <strong>der</strong> +Verwissenschaftlichung von <strong>Politik</strong>* bezeichnetwerden kann. Die Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> aber entzieht das Entscheiden demdemokratisch-politischen Diskurs, während an<strong>der</strong>erseits beständig öffentlich betont wird, wiezentral Demokratie für e<strong>in</strong> politisches Geme<strong>in</strong>wesen ist, und man <strong>in</strong> regelmäßigen AbständenWahlen abhält, die als politisches Verfahren im allgeme<strong>in</strong>en mit Demokratie identifiziert werden.Die e<strong>in</strong>e Fiktion untergräbt also die an<strong>der</strong>e, und es entsteht das, was Claus Offe, auf Habermasaufbauend, +Das Politische Dilemma <strong>der</strong> Technokratie* (1970) genannt hat.Die Formulierung, die Offe gebraucht, um dieses Dilemma auszudrücken, ist hoch <strong>in</strong>teressant,weil sie die Reflexivitäts-These Becks aus <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* (1986) vorwegzunehmensche<strong>in</strong>t:+Wie erfolgreich technokratische Strukturen bei <strong>der</strong> Erfüllung ihrer Funktion auch se<strong>in</strong> mögen […],gerade mit ihrer Etablierung schaffen sie neue, nicht weniger problematische Risikolagen […]* (S. 157)Lei<strong>der</strong> wird <strong>der</strong> <strong>in</strong> dieser Formulierung vorgezeichnete Gedanke nicht konsequent zu Endegedacht und weiterverfolgt. Offe geht nicht wirklich über Habermas h<strong>in</strong>aus und spricht +nur*davon, daß das von ihm als solches identifizierte technokratische System sich selbst gefährdet,<strong>in</strong>dem es Erwartungen erzeugt, die es (auf Dauer) nicht befriedigen kann. Offe konzentriertsich bei se<strong>in</strong>er Betrachtung freilich auf Versuche <strong>der</strong> sozialtechnischen Steuerung von Gesellschaftenmittels regulativer <strong>Politik</strong>. Daß auch und gerade die Anwendung von +produktiver*Technik (durch ihre latenten Nebenfolgen) Risikolagen und damit den Ansatzpunkt für ihreeigene Aufhebung sowie die subpolitische Sprengung <strong>der</strong> geltenden +Def<strong>in</strong>itionsverhältnisse* 178


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 147erzeugt, wird nicht ausreichend thematisiert. Genau dies ist jedoch <strong>der</strong> Kern von Becks These,auf die <strong>in</strong> diesem Zusammenhang noch e<strong>in</strong>mal zurückgegriffen werden soll.Technokratie, das ist für Beck die bürokratisch-politische Gefahrenverwaltung, die, gestütztauf Wissenschaft, das Recht für sich <strong>in</strong> Anspruch nimmt, Risiken sozial verb<strong>in</strong>dlich zu def<strong>in</strong>ieren.Doch, wie gesagt, an diesen Def<strong>in</strong>itionsverhältnissen wird heftig gerüttelt: +Kulturelle Erfahrungenund Erwartungen e<strong>in</strong>er gefahrensensibilisierten Gesellschaft kollidieren mit den Rout<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dustriell-bürokratischerRisikokalkulation und -legalisierung* (Gegengifte; S. 140). Warum ist dasso? – Die nach Beck +verselbständigte Revolution <strong>der</strong> Technik* erzeugt, wie oben ausgeführt,179soziale Reflexionen (vgl. ebd.; S. 151ff.). Die zum Labor gewordene Welt (vgl. ebd.; S.200ff. sowie <strong>der</strong>s.: Die Welt als Labor) ist durch Gefährdungen gekennzeichnet, die langsam<strong>in</strong> das Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Menschen dr<strong>in</strong>gen. Auch nach William Arnay ist deshalb <strong>in</strong> unseremZeitalter <strong>der</strong> Bedrohung durch (reflexive) Technologien wie die Kernspaltung e<strong>in</strong>e Delegitimierungdes Experten zu beobachten (vgl. Experts <strong>in</strong> the Age of Systems).180Und da Wissenschaftnichts Verb<strong>in</strong>dliches darüber aussagen kann, welche Gefährdungen +vertretbar* s<strong>in</strong>d, Risikenimmer von <strong>der</strong> Bereitschaft abhängen, diese e<strong>in</strong>zugehen, ist je<strong>der</strong> aufgerufen und kompetentmitzureden. Dieses Mitreden ist das (potentielle) subpolitische +Gegengift* gegen die +organisierteUnverantwortlichkeit* des status quo (vgl. Gegengifte; S. 144f.). 181Beck ist damit im Pr<strong>in</strong>zip gar nicht weit von Habermas entfernt, <strong>der</strong> für e<strong>in</strong>e lebensweltlicheVerankerung und e<strong>in</strong>en öffentlichen Diskurs über Wissenschaft und Technik plädiert (sieheS. 124). James D. Carroll hat 1971 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em +Science*-Artikel das Phänomen e<strong>in</strong>er +ParticipatoryTechnology*, e<strong>in</strong>er partizipatorischen Wissenschaft und Technik, sogar als ganz real und mitgroßer Dynamik im Anfang begriffene (für ihn jedoch durchaus ambivalente) Entwicklungdargestellt:+In this article I analyze the <strong>in</strong>cipient emergence of participatory technology as a countervail<strong>in</strong>g forceto technological alienation <strong>in</strong> contemporary society […] The term participatory technology refers tothe <strong>in</strong>clusion of people <strong>in</strong>to the social and technical process of develop<strong>in</strong>g, implement<strong>in</strong>g, and regulat<strong>in</strong>ga technology […]* (S. 495)Den hervorbrechenden Wunsch nach Teilhabe führt Carroll auf das Bewußtse<strong>in</strong> zurück, daßjede Anwendung von Technologie Wertentscheidungen impliziert und ausdrückt. An<strong>der</strong>erseitsist er <strong>der</strong> Auffassung, daß dieser Wunsch auch Probleme aufwirft, da nicht je<strong>der</strong> die gleiche


148 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEKompetenz hat, <strong>in</strong> wissenschaftlich-technischen Fragen zu entscheiden (vgl. ebd.; S. 501f.).Diesem häufig geäußerten Argument, dem auch Becks oben genannte Punkte entgegengebrachtwerden können, stellt sich Leslie Sklair <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz +Science, Technology and Democracy*(1973). Er plädiert hier dennoch für e<strong>in</strong> +br<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g people <strong>in</strong>to science* (S. 178), da eventuelleWissens- und Bildungslücken sich schließlich durch gezielte Information und vermehrte Bildungsanstrengungenschließen ließen (vgl. ebd.; S. 180f.). In neuerer Zeit ist es, wie bereits erwähnt(siehe S. 138), vor allem Alan Irw<strong>in</strong>, <strong>der</strong> (auch unter Bezugnahme auf Beck) e<strong>in</strong>e +CitizenScience* (1995) for<strong>der</strong>t, d.h. e<strong>in</strong>e +Wissenschaft des Volkes*, die dessen (kritischen) StimmenGehör schenkt und mit e<strong>in</strong>bezieht.Damit ist e<strong>in</strong> Bogen gespannt, <strong>der</strong> viele unterschiedliche, sich <strong>in</strong> zentralen Punkten wi<strong>der</strong>sprechendePositionen umfaßt. Doch e<strong>in</strong>es teilen <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die zuletzt dargestellten Ansätzeme<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach trotzdem: Sie gehen alle mehr o<strong>der</strong> weniger davon aus, daß sich Technikund Wissenschaft (zum<strong>in</strong>dest graduell) verselbständigt und direkt o<strong>der</strong> <strong>in</strong>direkt <strong>der</strong> Sphäre<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> bemächtigt haben.182O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ausgedrückt: Technik und Wissenschaft s<strong>in</strong>d(durch die Folgen dieser Autonomie) als solche politisch (geworden) und substituieren darüberh<strong>in</strong>aus zunehmend <strong>Politik</strong> bzw. politische Entscheidungen. Ersterer Sachverhalt ist e<strong>in</strong> zentralerAspekt <strong>der</strong> Politisierung von Wissenschaft und Technik, die sich aber auch <strong>in</strong> <strong>der</strong>en <strong>in</strong>strumentellenGebrauch für politische Zwecke zeigt (siehe unten). Der zweite Punkt me<strong>in</strong>t die(technokratische) Verwissenschaftlichung von <strong>Politik</strong>, die entwe<strong>der</strong> begrüßt o<strong>der</strong> abgelehntwird.Ich möchte betonen, daß ich, gerade was diesen zweiten Punkt betrifft, skeptisch b<strong>in</strong>. Vone<strong>in</strong>er Übernahme <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch (Sozial-)Techniker und Wissenschaftler kann me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ungnach nicht die Rede se<strong>in</strong>. Technik und Wissenschaft haben nur als soziale Subsysteme e<strong>in</strong>egewisse, e<strong>in</strong>geschränkte Teilautonomie gewonnen. In dieser H<strong>in</strong>sicht stellen sie zwar wichtigeUmweltfaktoren für <strong>Politik</strong> dar, die darauf zu reagieren hat, wenn beispielsweise neue Methoden<strong>in</strong> <strong>der</strong> Reproduktionsmediz<strong>in</strong> Elternschaft nicht mehr e<strong>in</strong>deutig zuordenbar machen o<strong>der</strong>gentechnische Innovationen den Agrarsektor umkrempeln. An<strong>der</strong>erseits es ist wichtig festzuhalten,daß Wissenschaft und Technikentwicklung eng e<strong>in</strong>gebunden s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en sozio-ökonomischenund politischen Rahmen.Forschung z.B. ist ke<strong>in</strong>eswegs +frei*, son<strong>der</strong>n von staatlichen Vorgaben und Gel<strong>der</strong>n und nochmehr von <strong>der</strong> Wirtschaft abhängig (die wie<strong>der</strong>um auch <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> Rahmenbed<strong>in</strong>gungen setzt).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 149Der Staat schafft nämlich nicht nur rechtliche Grenzen für Wissenschaft (z.B. im Gentechnikgesetz),son<strong>der</strong>n da e<strong>in</strong> (wenn auch schrumpfen<strong>der</strong>) Teil <strong>der</strong> Wissenschaft sich im universitärenBereich und <strong>in</strong> staatlichen Forschungs<strong>in</strong>stituten abspielt, kann von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> leicht E<strong>in</strong>flußgenommen werden. Diese leistet sich auch sog. +th<strong>in</strong>k tanks* – Ideenagenturen, die die eigenenPositionen argumentativ unterfüttern helfen sollen, wo also ke<strong>in</strong>esfalls nur abgeschieden, offenund kreativ +räsoniert* wird (vgl. hierzu auch Gellner: Ideenagenturen für <strong>Politik</strong> und Öffentlichkeit;S. 19ff.). Wirtschaftliche Interessen wie<strong>der</strong>um fließen <strong>in</strong> Forschung nicht nur dadurche<strong>in</strong>, daß e<strong>in</strong>e potentielle ökonomische Umsetzbarkeit von den Wissenschaftlern bereits bei<strong>der</strong> Planung ihrer Forschung antizipiert wird. Die Industrie ist immer mehr zum direktenHauptauftraggeber und F<strong>in</strong>anzier von Wissenschaft geworden (siehe Tab. 9), die damitselbstverständlich ebenfalls über die Forschungsziele (mit)bestimmt.Tabelle 9: Das Ausgabenprofil für Forschung und Entwicklung <strong>in</strong> <strong>der</strong> BundesrepublikJahr Anteil <strong>der</strong> Wirtschaft am ge- Anteile <strong>der</strong> Wirtschaft Anteil <strong>der</strong> Hochschulensamten F<strong>in</strong>anzierungsaufwand bei <strong>der</strong> Durchführung bei <strong>der</strong> Durchführung1962 49% 55% 20%1973 49% 59% 21%1987 62% 71% 13%Quelle: Simonis: Technik<strong>in</strong>novation im ökonomischen Konkurrenzsystem; Tab. 1, S. 45 (Orig<strong>in</strong>alquelle: Bundesm<strong>in</strong>isteriumfür Forschung und Technik)E<strong>in</strong>e wichtige Aufgabe <strong>der</strong> +Produktivkraft Wissenschaft* ist es dabei auch, durch weitereInnovation deflexive Technologien zu entwickeln (als Paradebeispiel kann hier <strong>der</strong> +Katalysator*dienen), die das (Selbst-)Gefährdungspotential reflexiver Technologien auffangen (siehe auchnochmals S. 138).Doch zurück zum Verhältnis Wissenschaft–<strong>Politik</strong>: Sicher, e<strong>in</strong>e gewisse +Entmündigung durchExperten* (Illich) auch des <strong>Politik</strong>ers ist gegeben.183Praktisch zeigt sich me<strong>in</strong>er Ansicht nachjedoch weniger e<strong>in</strong>e Herrschaft <strong>der</strong> Technokraten und Experten, als vielmehr e<strong>in</strong>e Herrschaftmittels Expertise. Die <strong>Politik</strong> versucht unter Zuhilfenahme des +Legitimitäts-Pools* wissenschaftlicherObjektivität, die entfaltete reflexive Dynamik deflexiv zu entschärfen. Wie dasfunktioniert, hat schon <strong>in</strong> den 70er Jahren Guy Benveniste ansatzweise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr aufschlußreichenBuch dargelegt. Dieser betont zunächst <strong>in</strong> ganz konventioneller Manier, daß <strong>der</strong>beschleunigte soziale Wandel, den wir erleben, e<strong>in</strong> erhöhtes Bedürfnis für Expertenwissen


150 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEund Planung schafft,184denn mittels ihrer läßt sich das erzeugte Gefühl <strong>der</strong> Unsicherheit redu-zieren (vgl. The Politics of Expertise; S. 3ff. u. S. 30ff).Benveniste offenbart im Rahmen dieser (vor allem, was ihren zweiten Teil betrifft) durchausplausiblen These jedoch e<strong>in</strong> <strong>in</strong> gewisser Weise naives Verständnis vom Wesen des Experten.Denn er betont die Unverzichtbarkeit des Expertenwissens als Sachwissen und geht deshalbauch davon aus, daß die <strong>Politik</strong> bzw. <strong>der</strong> Fürst (wie Benveniste <strong>in</strong> Anlehnung an Machiavelliformuliert) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Abhängigkeit zum +Fachmann*185gerät. Ronald Hitzler hat demgegenübersehr klar herausgearbeitet, daß es – im Gegensatz zum Spezialisten, von dem erwartet wird,daß er tatsächlich Wissen hat und es auch anwenden kann (vgl. Wissen und Wesen des Experten;S. 25f.) – für den (politisch beratenden) Experten genügt, +sozial zu plausibilisieren, daß erüber beson<strong>der</strong>e Kompetenzen verfügt* (ebd.; S. 27). Und beide, <strong>Politik</strong>er wie Experte, s<strong>in</strong>daufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> angewiesen (vgl. ebd.; S. 19).Ebenso Benveniste sieht jedoch, daß die Abhängigkeit des Fürsten vom Fachmann nicht totalist. Der Fachmann dient nicht nur dem Fürsten und macht sich dadurch für ihn unentbehrlich.Der Fürst bedient sich im Gegenzug des Fachmanns und versucht, diesen zu dom<strong>in</strong>ierenund zu kontrollieren. (Regierungs-)<strong>Politik</strong>er können beispielsweise Experten und Bürokratiegegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ausspielen und so ihre Position beiden gegenüber stärken (vgl. ebd.; S. 64ff.).E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Möglichkeit, wie <strong>der</strong> Fürst den Fachmann <strong>in</strong>strumentalisieren kann, ist es (sichauf ihn berufend), die Notwendigkeit zur Erstellung e<strong>in</strong>es Gutachtens vorzuschieben, umZeit zu gew<strong>in</strong>nen und ggf. gleichzeitig Fakten zu schaffen (vgl. ebd., S. 70). Ganz vorne stehtaber natürlich die bereits oben angesprochene legitimatorische Funktion <strong>der</strong> Expertise. MitWolfgang Schnei<strong>der</strong>, <strong>der</strong> sich auf empirischer Ebene mit <strong>der</strong> Verwendung (sozialwissenschaftlicher)Forschung <strong>in</strong> Verwaltung und <strong>Politik</strong> beschäftigt hat, läßt sich – entgegen <strong>der</strong>Auffassung von Benveniste – sogar von e<strong>in</strong>er Dom<strong>in</strong>anz des legitimatorischen Gebrauchs vonWissenschaft sprechen (vgl. Kooperation als strategischer Prozeß; S. 317). Gestützt auf dasGutachten des Fachmanns kann gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit dargestellt werden, daß e<strong>in</strong>ebestimmte Entscheidung auf rational-technischen Gründen beruht. Gutachten entlasten alsovon persönlich zurechenbarer Entscheidung (vgl. ebd. S. 318). So kann Protest gegenüberdieser Entscheidung auf das Wissenschaftsystem abgelenkt o<strong>der</strong> sogar schon im Vorfeld getestetwerden, ob e<strong>in</strong>e bestimmte Entscheidung zu Protest führen würde (vgl. auch Benveniste:The Politics of Expertise; S. 60f.).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 151Es handelt sich also, wenn man die Richtigkeit von Schnei<strong>der</strong>s gewonnenem E<strong>in</strong>druck unterstellt,ganz e<strong>in</strong>deutig um e<strong>in</strong>en Prozeß (primär) deflexiver Verwissenschaftlichung, mit dem wir eszu tun haben. Die politischen Auftraggeber von wissenschaftlichen Gutachten und Untersuchungen(Regierungen, Verwaltungen, Parteien etc.) s<strong>in</strong>d sich sehr wohl bewußt, daß siemit den Ergebnissen ke<strong>in</strong>e objektive Wahrheit erhalten (obwohl sie natürlich die Fiktion wissenschaftlicherObjektivität und Wahrheit gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten versuchen).Sie brauchen dabei noch nicht e<strong>in</strong>mal den Wissenschaftlern die zu produzierendenErgebnisse offen diktieren, son<strong>der</strong>n können sich auf die Antizipierung ihrer Wünsche beiihren Auftragnehmern verlassen, wie auch die von Schnei<strong>der</strong> aufgezeichnete Äußerung e<strong>in</strong>esbefragten Drogenbeauftragten belegt:+Also wenn e<strong>in</strong> Margar<strong>in</strong>ekonzern Auftragsmittel vergibt über die […] Schädlichkeit <strong>der</strong> Margar<strong>in</strong>e,kommt etwas an<strong>der</strong>es heraus als beim Butterkonzern. Und so ist es natürlich auch so, daß wenn <strong>der</strong>Drogenbeauftragte, von dem e<strong>in</strong>e ganz bestimmte Positionen bekannt s<strong>in</strong>d, Aufträge vergibt, da kommenauch ganz bestimmte Sachen raus, die er sich wünscht.* (Zitiert nach Kooperation als strategischerProzeß; S. 316)Ermöglicht bzw. erleichtert wird dieses System wissenschaftlicher Affirmation dadurch, daßneben <strong>der</strong> Abhängigkeit von +hauseigenen* Wissenschaftlern e<strong>in</strong>e Konkurrenzsituation unterden Experten und Forschungs<strong>in</strong>stituten um Aufträge gegeben ist. Will man e<strong>in</strong>e gute E<strong>in</strong>kommensquellenicht verlieren, so muß man den meist nicht schwer zu erahnenden Wünschendes Auftraggebers entgegenkommen. Beson<strong>der</strong>s leicht gel<strong>in</strong>gt die +Manipulation* <strong>der</strong> Ergenissebei Fragekomplexen, wo noch ke<strong>in</strong> wissenschaftlicher Konsens besteht (vgl. auch Benveniste:The Politics of Expertise; S. 61). Fällt e<strong>in</strong> Gutachten doch e<strong>in</strong>mal nicht wie erwünscht ausbzw. enthält es brisante Informationen, die man lieber nicht veröffentlichen will, so kann<strong>der</strong> Auftraggeber das Werk <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schublade verschw<strong>in</strong>den lassen: +Viele von diesen D<strong>in</strong>gernlanden ja nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit*, bemerkt denn auch <strong>der</strong> von Schnei<strong>der</strong> befragte undoben bereits zitierte Drogenbeauftragte (Kooperation als strategischer Prozeß; S. 321).Ulrich Beck und Wolfgang Bonß haben <strong>in</strong> diesem Zusammenhang und <strong>in</strong> Anbetracht desimmer +kreativeren* Umgangs mit den nur mehr als Interpretationsangeboten verstandenenwissenschaftlichen Resultaten, von e<strong>in</strong>er +Autonomisierung <strong>der</strong> Verwendung gegenüber demAngebot* gesprochen (vgl. Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 389 u. S. 397ff.). Als zentraleErkenntnis aus <strong>der</strong> Arbeit am DFG-Forschungsprojekt über die +Verwendungszusammenhänge


152 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEsozialwissenschaftlicher Ergebnisse*Verwendung naturwissenschaftlicher Expertisen besitzt)186(die me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach parallele Gültigkeit für die187notieren sie deshalb: +Die Verwendung<strong>der</strong> Ergebnisse hat nichts mit den Ergebnissen zu tun, die verwendet werden.* (Verwissenschaftlichungohne Aufklärung?; S. 24)Die deflexive Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>188stößt jedoch auch an Grenzen. Gerademit <strong>der</strong> Popularisierung von Wissenschaft im Zuge ihrer Instrumentalisierung (vgl. auch dies.:Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 395ff.) erfolgte ihre gleichzeitige +Entzauberung*, wie Bonßund Hartmann <strong>in</strong> Anspielung an Weber bemerken (vgl. Entzauberte Wissenschaft bzw. dort:Konstruierte Gesellschaft, rationale Deutung; S. 11ff.). O<strong>der</strong> wie man <strong>in</strong> freier Anlehnungan Gehlen formulieren könnte: Die Magie <strong>der</strong> Technik (und <strong>der</strong> Wissenschaft) hat sich mitihrer Allgegenwärtigkeit verbraucht. H<strong>in</strong>zu kommt noch, daß die schließliche Umsetzungund Verwendung, ihre praktische Übersetzung, geradezu zwangsläufig (gewissermaßen als+Übersetzungsverlust*) zu e<strong>in</strong>er Trivialisierung von Wissenschaft führt (vgl. hierzu nochmalsBeck/Bonß: Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 392ff. sowie Tenbruck: Der Fortschritt <strong>der</strong>Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß). 189Auch Dorothy Nelk<strong>in</strong> hat Grenzen <strong>der</strong> (deflexiven) Verwissenschaftlichung aufgezeigt. Siekommt am Ende ihrer Analyse <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen um den Bau e<strong>in</strong>es Kraftwerks sowieum die Erweiterung e<strong>in</strong>es Flughafens zum Schluß, daß Expertisen nicht immer zur Neutralisierungvon Konflikten beitragen. Denn jede Expertise kann durch Gegenexpertisen angefochten werden.Das untergräbt zwar auf lange Sicht die +Autorität* wissenschaftlicher Expertisen <strong>in</strong>sgesamt(die ja auf <strong>der</strong> Fiktion <strong>der</strong> E<strong>in</strong>deutigkeit wissenschaftlicher Wahrheit beruht), erhöht an<strong>der</strong>erseitsdas aktuelle Konflikt-Potential, da alle Konfliktparteien Unterstützung durch Wissenschafterfahren und sich so <strong>in</strong> ihrer Position bestärkt fühlen (vgl. The Political Impact of TechnicalExpertise; S. 202f.). Mit diesen und weiteren Dilemmata, die durch die Dynamik reflexiverTechnologien und die immanenten Grenzen deflexiver Verwissenschaftlichung entstehen,wird sich Abschnitt 3.3 noch e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> beschäftigen. Zunächst wird jedoch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>esThema im Vor<strong>der</strong>grund stehen. Denn die deflexive Instrumentalisierung <strong>der</strong> Wissenschaft(wie auch des Rechts) durch die <strong>Politik</strong> verweist auf e<strong>in</strong> bisher nur am Rande gestreiftes Thema:das Verhältnis von <strong>Politik</strong> und Öffentlichkeit.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 1532.4 ÖFFENTLICHKEIT, (NEUE) MEDIEN UND POLITISCHE INSZENIERUNG (MEDIEN-UND ÖFFENTLICHKEITSSYSTEM)Die Ausgangsthese dieses Kapitels lautete, daß wir es aktuell mit e<strong>in</strong>er Dialektik von sozioökonomischemWandel und politischer Statik zu tun haben: Während sich die +politischeUmwelt* verän<strong>der</strong>t, verharrt die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> weitgehend <strong>in</strong> ihren alten Strukturen.Diese Behauptung konnte im Bereich <strong>der</strong> Wirtschaft mit dem Beispiel <strong>der</strong> politisch nichtadäquat gespiegelten ökonomischen Globalisierung, wie ich me<strong>in</strong>e, tatsächlich plausibel gemachtwerden. In den vorangegangenen zwei Abschnitten hat sich im sche<strong>in</strong>baren Wi<strong>der</strong>spruchdazu h<strong>in</strong>gegen eher <strong>der</strong> E<strong>in</strong>druck ergeben, daß e<strong>in</strong>e Art Ko-Evolution zwischen den Subsystemen<strong>Politik</strong> und Recht bzw. Wissenschaft/Technik gegeben ist, die dazu führt, daß diese sichgegenseitig stabilisieren und reflexive Mo<strong>der</strong>nisierungspotentiale abgelenkt werden. In diesemZusammenhang habe ich u.a. von deflektorischen (Rechts-)Praxologien und deflexiver Verwissenschaftlichunggesprochen. 190Was nun das Rechtssystem betrifft, so wurde schon erläutert, daß dieses <strong>der</strong>art eng an das<strong>Politik</strong>system gekoppelt ist, daß e<strong>in</strong> Wandel des e<strong>in</strong>en Subsystems ohne e<strong>in</strong>en korrespondierenden,ausgleichenden Wandel des an<strong>der</strong>en kaum möglich ersche<strong>in</strong>t und man nur schwerlichüberhaupt e<strong>in</strong>e Trennl<strong>in</strong>ie zwischen beiden ziehen kann. Diese Überschneidung von Rechtsund<strong>Politik</strong>system kommt schon im Begriff des +Rechtsstaats* klar zum Ausdruck. Das Wissenschaftssystemüberlappt dagegen (<strong>in</strong>stitutionell) weit weniger mit dem <strong>Politik</strong>system, und dievon ihm im Verbund mit <strong>der</strong> Industrie <strong>in</strong>itiierten technologischen Umwälzungen stellen <strong>in</strong><strong>der</strong> Tat gewichtige +Umweltfaktoren* dar, mit denen sich <strong>Politik</strong> ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen hat.Die Wissenschaft hält allerd<strong>in</strong>gs gleichzeitig Mittel für die <strong>Politik</strong> bereit, die so erzeugte reflexiveDynamik abzulenken – nicht nur <strong>in</strong>dem z.B. deflexive Technologien die technikerzeugtenRisiken wie<strong>der</strong>um mit (konventioneller) Technik aufzufangen versuchen, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>edurch die wissenschaftliche Legitimierung e<strong>in</strong>er <strong>Politik</strong> des +Weiter so!*.Die auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite erzeugte Dynamik wird also auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>in</strong> Statik übersetzt.Das Gel<strong>in</strong>gen dieser Übersetzung ist jedoch <strong>in</strong> hohem Maß von e<strong>in</strong>em Faktor abhängig: <strong>der</strong>sogenannten +öffentlichen Me<strong>in</strong>ung*. Denn nur wenn die Öffentlichkeit an den im Zusammenspiel<strong>der</strong> Teilsysteme generierten deflexiven Sche<strong>in</strong> glaubt, ist <strong>der</strong> durch reflexive Dynamikenöffentlich erzeugte Handlungsdruck von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> genommen. Doch was macht e<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ungzur +öffentlichen* Me<strong>in</strong>ung? Was bedeutet überhaupt <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Alltagssprache eher diffuse


154 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEBegriff +Öffentlichkeit*? – Wer zur Klärung dieser Frage e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>schlägiges Lexikon bemüht,erhält <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel e<strong>in</strong>e Antwort wie die folgende:+Öffentlichkeit, 1) die Gesamtheit <strong>der</strong> für alle Menschen offenstehenden, zugängl. Bereiche des gesellsch.Lebens – im Unterschied zum privaten Bereich; <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n spricht man z.B. von ›öffentl. Veranstaltungen‹o<strong>der</strong> ›öffentl. Plätzen‹. 2) Die Offenheit, Zugänglichkeit, E<strong>in</strong>- und Durchsehbarkeit (Transparenz)von Tatbeständen des öffentl. (d.h. nicht privaten Lebens) für e<strong>in</strong>en grundsätzlich nicht begrenztenKreis von Personen (Ö. als Publizität). 3) Der […] Kreis von Personen, die öffentl. Vorgänge und Tatbeständewahrnehmen und an ihnen teilnehmen […] (Ö. als Publikum). 4) Der Inbegriff des ÷Staatesund se<strong>in</strong>er ÷Körperschaften, dessen/<strong>der</strong>en (öffentl.) Organe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staat die öffentl. Gewalt (÷Staatsgewalt)ausüben und öffentl. Aufgaben erfüllen […]* (Beck: Sachwörterbuch <strong>Politik</strong>)Es wird uns hier also e<strong>in</strong> vierfacher Öffentlichkeitsbegriff präsentiert: Öffentlichkeit als Sphäredes sozialen Lebens (Raumdimension), Öffentlichkeit als Transparenz und Publizität (Wissensdimension),Öffentlichkeit als Beobachten und Agieren im sozialen Raum (Akteurs-/Publikumsdimension)und Öffentlichkeit als Bereich des Politisch-Staatlichen (politische Dimension).Dabei wird gleich mehrfach betont, daß Öffentlichkeit als Gegensatz zum Privaten zu denkenist. Der Begriff <strong>der</strong> Öffentlichkeit setzt deshalb den Begriff des Privaten voraus bzw. bestehtnur <strong>in</strong> Dialektik zu diesem se<strong>in</strong>en Gegenbegriff. Versuchen wir darum zunächst e<strong>in</strong>e negativeBestimmung des Begriffs +Öffentlichkeit*.Nun könnte man allerd<strong>in</strong>gs aus gutem Grund zu dem E<strong>in</strong>druck gelangen, daß dadurch nichtsgewonnen sei. Denn wenn man versucht, sich dem Öffentlichen über se<strong>in</strong>en Gegensatz (alsodas Private) anzunähern, so kann man schließlich zu e<strong>in</strong>em Begriff des Privaten wie<strong>der</strong>umnur über e<strong>in</strong>en Begriff des Öffentlichen gelangen: e<strong>in</strong> Teufelskreis. Doch neben <strong>der</strong> (Un-)Wirklichkeit<strong>der</strong> Begriffe existiert unsere Alltagswelt, die wir ohne größere (praktische) Schwierigkeiten<strong>in</strong> beide Bereiche spalten, und wo uns das Private zum<strong>in</strong>dest näher ersche<strong>in</strong>t und deshalbmöglicherweise leichter zu (er)fassen ist als das Öffentliche.Wenn wir überlegen, so ist das Private dieser Alltagswelt – wie die Sphäre <strong>der</strong> Öffentlichkeit– zum e<strong>in</strong>en ganz offensichtlich gekennzeichnet durch e<strong>in</strong>en (konkreten) Raum: den Rückzugsraum<strong>der</strong> eigenen Wohnung, des eigenen Zimmers o<strong>der</strong> irgend e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en fest umgrenztenBereichs des Eigenen (vgl. auch Beck: Eigenes Leben; Kap. II). Es ist also auf e<strong>in</strong>er sehr greifbarenEbene <strong>der</strong> für jedes Individuum essentielle Besitz e<strong>in</strong>es zur eigenen Disposition stehendenRaumes, <strong>der</strong> das Private charakterisiert und umgrenzt. Dieser ist den Blicken und <strong>der</strong> Kontrolle


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 155<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en normalerweise entzogen, und wir alle<strong>in</strong>e bestimmen, wem wir Zugang zu dieserunserer eigensten (räumlichen) Sphäre gewähren und wem nicht.Daß jedes Individuum e<strong>in</strong>en Raum für se<strong>in</strong>e Selbstentfaltung benötigt, darauf hat schon Erv<strong>in</strong>gGoffman h<strong>in</strong>gewiesen. Goffman spricht von +Territorien des Selbst*. Diese Territorien o<strong>der</strong>+Reservate* (wie er sie auch nennt) werden, um den eigenen Besitzanspruch abzusichern,von den Individuen mittels bestimmter +Markierungen* (z.B. e<strong>in</strong>em Gartenzaun) gekennzeichnet.Das m<strong>in</strong>imale Territorium des Selbst ist aber offensichtlich <strong>der</strong> eigene Körper (vgl. Das Individuumim öffentlichen Austausch; S. 67). E<strong>in</strong>e (ungewollte) Körperberührung durch an<strong>der</strong>e (z.B.<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er überfüllten U-Bahn) wird deshalb zumeist als unangenehm empfunden, doch s<strong>in</strong>ddie Toleranzschwellen hierfür je nach Kultur verschieden. Bei Briten beispielsweise gilt esschon fast als Affront, wenn man den an<strong>der</strong>en im Kontext e<strong>in</strong>es Gesprächs berührt, wogegenebendies etwa <strong>in</strong> Italien praktisch zum Gesprächsritual gehört.Oft erstrecken sich die Territorien bzw. Reservate des Selbst allerd<strong>in</strong>gs noch viel weiter, undso bezeichnet Goffman mit se<strong>in</strong>em Begriff des +Gesprächsreservats* nicht etwa e<strong>in</strong>en bestimmten(räumlichen) M<strong>in</strong>destabstand <strong>in</strong> Gesprächssituationen, son<strong>der</strong>n damit ist geme<strong>in</strong>t, daß jedesIndividuum +e<strong>in</strong> gewisses Maß an Kontrolle darüber ausüben [will], wer es wann [worüber]zu e<strong>in</strong>em Gespräch auffor<strong>der</strong>n kann* (ebd.; S. 69). Dies verweist <strong>in</strong>direkt (<strong>in</strong> Analogie zurobigen Öffentlichkeitsdef<strong>in</strong>ition) auf e<strong>in</strong>e weitere wichtige Dimension des Privaten. Die +Territorien*des Selbst beziehen sich auch auf bestimmte Wissensvorräte. So wollen wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regelnicht, daß <strong>der</strong> Nachbar von gegenüber uns beim Entkleiden o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Morgentoilette beobachtenkann und wollen eben auch nicht, daß je<strong>der</strong> x-Beliebige über unsere F<strong>in</strong>anzsituation undunser Liebesleben Bescheid weiß. Das letztgenannte Beispiel zeigt allerd<strong>in</strong>gs, daß das Privateke<strong>in</strong> vollständig hermetischer, +asozialer* Bereich ist, son<strong>der</strong>n an<strong>der</strong>e Personen e<strong>in</strong>e (wichtige)Rolle dar<strong>in</strong> spielen. Neben den genannten Liebesbeziehungen existieren <strong>in</strong> Form von Freundschaftenund Bekanntschaften private Beziehungsgeflechte und Netzwerke, die aber, unddas ist wichtig, (eher) durch Intimität (im Gegensatz zu Formalität) gekennzeichnet s<strong>in</strong>d. 191Das heißt, wir legen bei privaten Beziehungen z.B. weniger Wert auf +Etikette* (und Etikettierungen)und wollen uns überdies auch selbst ke<strong>in</strong> so hohes Maß an Kontrolle auferlegen,wie dies bei Kontakten außerhalb unseres Privatbereichs häufig erfor<strong>der</strong>lich ist. Das bedeutetnatürlich nicht, daß nicht auch im privaten Bereich (massive) Erwartungshaltungen an Personengerichtet werden. Es besteht allerd<strong>in</strong>gs hier <strong>der</strong> explizite (und lei<strong>der</strong> oft enttäuschte) Wunsch)


156 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEso akzeptiert zu werden, +wie man ist*.192Wenn wir es vorerst mit dieser Bestimmung desPrivaten genug se<strong>in</strong> lassen, so ergibt sich folgendes:• Die Privatheit benötigt (wie die Öffentlichkeit) e<strong>in</strong>en konkreten Ort. Dieser ist durch e<strong>in</strong>en<strong>in</strong>dividuellen Besitztitel geschützt, zum<strong>in</strong>dest aber wird e<strong>in</strong> Besitzanspruch erhoben.• Das Private ist gleichzeitig <strong>der</strong> (<strong>in</strong>formelle) Bereich des Intimen (und <strong>der</strong> <strong>in</strong>timen Beziehungen),und damit auch e<strong>in</strong> Bereich exklusiven Wissens.Aus dieser durch die veranschaulichende Annäherung an den Begriff gewonnenen Charakterisierungdes Privaten wird nun hoffentlich deutlicher, warum <strong>der</strong> öffentliche Raum (Raumdimension)ke<strong>in</strong>er Zugangsbeschränkung unterliegen darf, wenn er tatsächlich als nicht-privaterRaum gelten soll, und warum zur Öffentlichkeit die Transparenz des öffentlichen, d.h. despotentiell für e<strong>in</strong>e Vielzahl von Individuen relevanten Wissens gehört (Wissensdimension).Daß e<strong>in</strong> Wissen <strong>der</strong> Öffentlichkeit bekannt ist (Publikumsdimension), macht es nämlich nochnicht zum öffentlichen Wissen im eigentlichen S<strong>in</strong>n. Denn, wie die Analyse des Privatbereichserbracht hat: Wissen hat dann privaten Charakter, wenn es sich auf die (<strong>in</strong>dividuelle) Intimsphärebezieht. Und so muß öffentliches Wissen sich entsprechend auf die (kollektive) öffentlicheSphäre beziehen. Dieser Umstand verweist auf die politische Dimension <strong>der</strong> Öffentlichkeit.Öffentliches Wissen muß also, wie <strong>der</strong> öffentliche Raum, jedem zugänglich se<strong>in</strong>. Es unterliegt,eben weil es für e<strong>in</strong>e Vielzahl von Individuen relevant ist, nicht dem Schutz des Intimen.Im Gegensatz zur Privatsphäre ist die öffentliche Sphäre also ke<strong>in</strong> Raum <strong>der</strong> Exklusion, son<strong>der</strong>ne<strong>in</strong> Raum <strong>der</strong> Inklusion und notwendig durch Offenheit charakterisiert.Auf dieser Grundlage kann nun die aktuelle soziologische Fassung des Öffentlichkeitsbegriffs(vor allem mit Blick auf das <strong>Politik</strong>system) etwas e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> beleuchtet werden. Folgt manHabermas und Luhmann (auf die ich mich hier beschränken möchte), so ist Öffentlichkeit<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong> Kommunikationszusammenhang, und ihre wichtigste (politische) Funktionliegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hervorbr<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> öffentlichen Me<strong>in</strong>ung. Nach Luhmann ist die öffentliche Me<strong>in</strong>unggar e<strong>in</strong>e Art +heiliger Geist* des Systems, die +unsichtbare Hand*, die für das Wun<strong>der</strong> <strong>der</strong>Artikulation e<strong>in</strong>es (e<strong>in</strong>heitlichen) politischen Willens trotz <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> komplexen mo<strong>der</strong>nenGesellschaft unmöglich gewordenen tatsächlichen Übere<strong>in</strong>stimmung sorgt.193Denn im Funktions-bereich <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> gilt die öffentliche Me<strong>in</strong>ung als Wahrheitsäquivalent und erfüllt damit e<strong>in</strong>eErsatzfunktion für die konkrete E<strong>in</strong>igung konkreter Individuen (vgl. Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft;


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 157194S. 122ff.). Doch wie und wodurch wirkt die unsichtbare Hand <strong>der</strong> Öffentlichkeit? – Luhmannweist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang darauf h<strong>in</strong>, daß sich öffentliche Me<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit(die er sehr stark auf das Mediensystem bezieht) selbst konstruiert:+Man kann sie als e<strong>in</strong>en durch die öffentliche Kommunikation selbsterzeugten Sche<strong>in</strong> ansehen, alse<strong>in</strong>e Art Spiegel, <strong>in</strong> dem die Kommunikation sich selber spiegelt.* (Ebd.; S. 124)(Medien-)Öffentlichkeit erfüllt damit das Kriterium e<strong>in</strong>er +Beobachtung zweiter Ordnung*. 195+Auf diese Weise wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er überkomplexen, <strong>in</strong>transparenten Welt e<strong>in</strong>e Zweitwelt <strong>der</strong>Tatsachen geschaffen* (Die Beobachtung <strong>der</strong> Beobachter im politischen System; S. 86). Dar<strong>in</strong>liegt gemäß Luhmann ihre Relevanz und +nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Art Oberherrschaft, die bestimmenkönnte, was geschehen soll* (Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 125). Schließlich bedeutet dieso erfolgte Komplexitätsreduktion nach Luhmann für das +Funktionieren* mo<strong>der</strong>ner Gesellschaftenund die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von spezifischen Vorteilen: 196• Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Sphäre agiert, beobachtet nicht nur, was an<strong>der</strong>e beobachten,son<strong>der</strong>n rechnet auch das eigene Beobachtetwerden e<strong>in</strong>, was nach Luhmann e<strong>in</strong>en diszipl<strong>in</strong>ierendenEffekt zur Folge hat. (Vgl. ebd.; S. 127)• Zudem werden den Akteuren (vom beobachtenden Publikum) immer latente Interessenunterstellt, womit Öffentlichkeit e<strong>in</strong>e kritische Tendenz aufweist. (Vgl. ebd.; 128f.)• Speziell für die politischen Akteure ermöglicht Öffentlichkeit e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schätzung ihrer Chancenim Wettbewerb um die Wählerstimmen. Dem politischen Publikum wie<strong>der</strong>um +erleichtert[…] die Beobachtung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> beobachtenden Beobachter die Entscheidung <strong>in</strong> <strong>der</strong>politischen Wahl* (ebd.; S. 128).• E<strong>in</strong>e weitere +Leistung* des Öffentlichkeitssystems ist die Verdeckung des staatlichen Gewaltverhältnisses(vgl. ebd.; S. 130) und Überführung von Latenz <strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>genz, womit Luhmannme<strong>in</strong>t, daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Me<strong>in</strong>ung ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutig fixiertes Weltbild vorherrscht unddeshalb weniger rigide, grundsätzlich wandelbare +moralische Prätentionen* dom<strong>in</strong>ieren(vgl. ebd.; S..129) – e<strong>in</strong>e These, die allerd<strong>in</strong>gs im Gegensatz zum Verständnis <strong>der</strong> öffentlichenMe<strong>in</strong>ung als herrschende Me<strong>in</strong>ung steht, die durch Verbote und Ausschließungen etc.(vgl. auch Foucault: Die Ordnung des Diskurses; S. 7ff.) e<strong>in</strong>e den öffentlichen Diskursbegrenzende +Schweigespirale* (Noelle-Neumann) <strong>in</strong> Gang setzt. 197


158 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEAuf den ersten Blick sehr ähnliche (und doch grundsätzlich verschiedene) Ansichten wie Luhmannäußert Habermas <strong>in</strong> +Faktizität und Geltung* (1992): Er def<strong>in</strong>iert (politische) Öffentlichkeithier zum e<strong>in</strong>en als e<strong>in</strong>en +Resonanzboden für Probleme […], die vom politischen Systembearbeitet werden müssen, weil sie an<strong>der</strong>norts nicht gelöst werden können* (S. 435). Darüberh<strong>in</strong>aus ist es die Aufgabe <strong>der</strong> Öffentlichkeit, +Probleme nicht nur wahr[zu]nehmen und [zu]identifizieren, son<strong>der</strong>n [diese] auch überzeugend und e<strong>in</strong>flußreich [zu] thematisieren* (ebd.;S. 435). Was ihren Charakter, ihre Struktur betrifft, so ist Öffentlichkeit für Habermas we<strong>der</strong>als Institution, noch als Normengefüge o<strong>der</strong> System beschreibbar. Trotzdem gelangt er zunächstzu e<strong>in</strong>er nahezu analogen Bestimmung wie <strong>der</strong> Systemtheoretiker Luhmann: 198+Die Öffentlichkeit läßt sich am ehesten als e<strong>in</strong> Netzwerk für die Kommunikation […] von Me<strong>in</strong>ungenbeschreiben; dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, daß sie sich zuthemenspezifisch gebündelten öffentlichen Me<strong>in</strong>ungen verdichten.* (Ebd.; S. 436) 199Der öffentliche Diskurs bleibt für Habermas dabei freilich (idealerweise) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lebensweltverwurzelt. Diese Verknüpfung mit <strong>der</strong> Lebenswelt ist wichtig, da die +zivilgesellschaftlichePeripherie gegenüber den Zentren <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> den Vorzug größerer Sensibilität für die Wahrnehmungund Identifizierung von Problemlagen besitzt* (ebd.; S. 460). Öffentlichkeit greiftjedoch selbstverständlich auch über die Sphäre <strong>der</strong> Lebenswelt h<strong>in</strong>aus, und dies hat notwendigdie Konsequenz e<strong>in</strong>er (hierarchischen) Aufspaltung <strong>in</strong> Akteure und Publikum:+Sobald sich <strong>der</strong> öffentliche Raum über den Kontext e<strong>in</strong>facher Interaktion ausgedehnt hat, tritt […]e<strong>in</strong>e Differenzierung <strong>in</strong> […] Redner und Zuhörer, <strong>in</strong> Arena und Galerie […] e<strong>in</strong>.* (Ebd.; S. 440)Die grundsätzliche +Laienorientierung* <strong>der</strong> Öffentlichkeit bleibt davon jedoch unberührt, d.h.<strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Kommunikation werden Expertensprache und Spezialkodes (so gut esgeht) vermieden.200E<strong>in</strong> Nebeneffekt <strong>der</strong> hierarchischen Struktur <strong>der</strong> Öffentlichkeit kommtden Interessen des Publikums (angeblich) sogar entgegen: +Die Kommunikationsstrukturen<strong>der</strong> Öffentlichkeit entlasten das Publikum von Entscheidungen, die aufgeschobenen Entscheidungenbleiben beschlußfassenden Institutionen vorbehalten* (ebd.; S. 437). In <strong>der</strong> Öffentlichkeitwerden die verschiedenen Me<strong>in</strong>ungen nur sortiert und fokussiert. +Was <strong>der</strong>art gebündelteMe<strong>in</strong>ungen zur öffentlichen Me<strong>in</strong>ung macht*, so Habermas weiter, +ist die Art des Zustandekommensund die breite Zustimmung, von <strong>der</strong> sie ›getragen‹ wird* (ebd.; S. 438). Für ihn


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 159bedeutet dies gemäß se<strong>in</strong>en diskurstheoretischen Vorstellungen natürlich, daß <strong>der</strong> Prozeß<strong>der</strong> öffentlichen Me<strong>in</strong>ungsbildung den prozeduralen Kriterien e<strong>in</strong>es +herrschaftsfreien Diskurses*entsprechen sollte (vgl. ebd.; S. 438f.).In dieser Betrachtung durch Habermas kommt eher als bei Luhmann zum Ausdruck, daßÖffentlichkeit nicht nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>seitiger Prozeß (des Beobachtens) ist, son<strong>der</strong>n daß – auchwenn man zwischen Publikum und Akteuren differenzieren kann – <strong>in</strong> gewissem Umfange<strong>in</strong>e reziproke Struktur gegeben se<strong>in</strong> muß.201Luhmanns Perspektive zeichnet sich dagegendurch e<strong>in</strong>e größere analytische Schärfe aus. Tatsächlich ist es e<strong>in</strong> wesentliches, von Habermasnicht <strong>in</strong> gleicher Weise herausgearbeitetes Merkmal <strong>der</strong> Öffentlichkeit, daß Individuen, die<strong>in</strong> den öffentlichen Raum treten, sich (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel) darüber bewußt s<strong>in</strong>d, daß sie beobachtetwerden (können) – d.h. ihr eigenes Beobachtetwerden beobachten. Genau diese Bewußtheitunterscheidet me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach das öffentliche vom privaten Handeln. Beide, sowohlLuhmann wie Habermas, zielen jedoch weniger auf Öffentlichkeit als (konkreten) Handlungszusammenhang,son<strong>der</strong>n betrachten, wie schon e<strong>in</strong>gangs festgestellt, Öffentlichkeit primärals Netz bzw. Medium von (massenmedial vermittelten) Kommunikation(en). 202Damit aber ist <strong>der</strong> Öffentlichkeitsbegriff von Habermas wie Luhmann e<strong>in</strong>geschränkt. DennÖffentlichkeit existiert auch jenseits <strong>der</strong> medialen Kommunikationsnetze, und Kommunikationist, wenn man so will, nur e<strong>in</strong>e spezifische Form des Handelns, d.h. e<strong>in</strong> Handeln, das daraufabzielt, an<strong>der</strong>en etwas mitzuteilen (bzw. Mitteilungen aufzunehmen). Im öffentlichen Bereich,so könnte man nun allerd<strong>in</strong>gs argumentieren, wird jede Handlung (z.B. auch das bloße Überquerene<strong>in</strong>es Platzes) zu e<strong>in</strong>em solchen symbolischen, <strong>in</strong>teraktiven Handeln – <strong>in</strong>dem manum das Beobachtetwerden weiß und deshalb mit se<strong>in</strong>en Handlungen immer auch etwasausdrückt, e<strong>in</strong>e Botschaft an (potentielle) Beobachter richtet. Doch diese Art +kommunikativenHandelns* ist, wie gesagt, bei Habermas (und auch bei Luhmann) nicht geme<strong>in</strong>t. Vielmehrdreht sich bei beiden alles um den öffentlichen Diskurs (Habermas) bzw. die (konstruierte)+Realität <strong>der</strong> Massenmedien* (Luhmann 1996), die die öffentliche Me<strong>in</strong>ung durch e<strong>in</strong>e Beobachtungzweiter Ordnung generiert bzw. spiegelt.203Um demgegenüber den konkreten Handlungs-aspekt nicht zu vernachlässigen, möchte ich nochmals auf Goffman zurückkommen.Dieser liefert <strong>in</strong> dem Band +Wir alle spielen Theater* (1959) e<strong>in</strong>e brillante Analyse <strong>der</strong> +Selbstdarstellungim Alltag*. Zum alltäglichen Rollenspiel gehört erstens, als (öffentliche) +Fassade*,e<strong>in</strong> standardisiertes Ausdrucksrepertoire, +das <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelne im Verlauf se<strong>in</strong>er Vorstellung bewußt


160 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEo<strong>der</strong> unbewußt anwendet* (S. 23), um sich den an<strong>der</strong>en mitzuteilen, sowie zweitens, daß<strong>der</strong> Darstellende das Bild, das er beim Publikum erzeugt, zu schönen versucht, <strong>in</strong>dem se<strong>in</strong>eDarstellung +dem Verständnis und den Erwartungen <strong>der</strong> Gesellschaft, vor <strong>der</strong> sie stattf<strong>in</strong>det,angepaßt wird* (ebd.; S. 35). Dazu bedarf es allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> Fähigkeit <strong>der</strong> Ausdruckskontrolle,denn <strong>der</strong> Darsteller im öffentlichen Raum +kann sich […] darauf verlassen, daß se<strong>in</strong> Publikumkle<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>weise als Zeichen für wichtige Momente <strong>der</strong> Vorstellung nimmt.204Diese bequemeTatsache hat e<strong>in</strong>e unbequeme Folge. Auf Grund eben dieser Neigung des Publikums […],kann es […] zufällige beziehungsweise versehentliche Gesten und Ereignisse […] falsch<strong>in</strong>terpretieren* (ebd.; S. 48). Deshalb bemerkt Goffman weiter:+Die notwendige Stimmigkeit des Ausdrucks bei unseren Darstellungen weist uns auf e<strong>in</strong>e Diskrepanzzwischen dem allzu-menschlichen Selbst und dem Bild <strong>der</strong> Persönlichkeit, wie es vor <strong>der</strong> Gesellschaftersche<strong>in</strong>t, h<strong>in</strong>. Als menschliche Wesen s<strong>in</strong>d wir allem Ansche<strong>in</strong> nach Kreaturen mit variablen Impulsen[…] Als Persönlichkeiten vor e<strong>in</strong>em Publikum dürfen wir uns jedoch nicht unseren Hoch- und Tiefpunktenh<strong>in</strong>geben.* (Ebd.; S. 52)Es ist also das Bewußtse<strong>in</strong> für das Beobachtetwerden, das uns auf <strong>der</strong> öffentlichen Bühnee<strong>in</strong>e relativ strenge Ausdruckskontrolle diktiert. Wir erwarten deshalb <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel ke<strong>in</strong>e sohohe Aufrichtigkeit beim +Spiel* <strong>der</strong> öffentlichen Rollen wie im privaten Bereich und entwickelnauch e<strong>in</strong>e größere Rollendistanz – obwohl es nach Goffman für e<strong>in</strong> erfolgreiches Rollenspielgrundsätzlich erfor<strong>der</strong>lich ist, daß +<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelne selbst an den Ansche<strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirklichkeit glaubt,den er bei se<strong>in</strong>er Umgebung hervorzurufen trachtet* (ebd.; S. 19).205Dem kann jedoch entgegnetwerden, daß <strong>der</strong> oben von Goffman selbst angesprochene Sachverhalt des Zwangs zur Ausdruckskontrollenotwendigerweise e<strong>in</strong>e gewisse Distanzierung bewirkt. Und die Distanz zuunseren eigenen (öffentlichen) Rollen übertragen wir auch auf die Wahrnehmung des Rollenspielsan<strong>der</strong>er, denn wir müssen damit rechnen, daß diese, wie wir selbst, uns, dem Publikum,etwas vorspielen. So schafft das Bewußtse<strong>in</strong> für das eigene Beobachtetwerden – zum<strong>in</strong>destpotentiell – tatsächlich e<strong>in</strong> kritisches Bewußtse<strong>in</strong> für die Beobachtung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en.An<strong>der</strong>erseits erfolgt mit <strong>der</strong> Praxis des Rollenspiels auch e<strong>in</strong>e Ver<strong>in</strong>nerlichung <strong>der</strong> Rolle unddes Blicks <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en auf uns. Es kommt also e<strong>in</strong> ähnlicher Mechanismus zum Tragen wieer von Foucault am Beispiel des Benthamschen Panoptikums beschrieben wurde: Der Gefangeneim gläsernen, panoptischen Gefängnis <strong>in</strong>ternalisiert den Blick des Wächters und damit dasMachtverhältnis, das zwischen beiden herrscht (siehe zurück zu S. XXXVI). Die Sphäre <strong>der</strong>


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 161Öffentlichkeit kann entsprechend als gigantisches Panoptikum aufgefaßt werden, mittels dessendie bestehenden sozialen Verhältnisse verfestigt und (praxologisch) ver<strong>in</strong>nerlicht werden. Deröffentliche Prozeß ist also zwiespältig. Er vermag e<strong>in</strong>erseits, wenn man Habermas folgen will,zwischen <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> Lebenswelt und <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> politischen Institutionen zu vermitteln.Zudem kann das Publikum, wie<strong>der</strong>um ganz gemäß Luhmann, wenn es sich se<strong>in</strong> eigenesRollenverhalten bewußt macht (d.h.: beobachtet), e<strong>in</strong> kritisches Verständnis für den Schauspielcharakterdes öffentlichen Handelns erlangen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite wird aber das Individuumgerade durch das (tägliche) Agieren <strong>in</strong> <strong>der</strong> (alltagsweltlichen) Öffentlichkeit im S<strong>in</strong>n desgesellschaftlichen Funktionierens umgeformt.Im Rahmen dieser grundsätzlichen Ambivalenz läßt sich nun allerd<strong>in</strong>gs von e<strong>in</strong>em historischen+Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit* (Habermas 1962) sprechen. An<strong>der</strong>s als Habermas (sieheauch S. XVII), möchte ich mich aber nicht auf den Wandel von <strong>der</strong> +repräsentativen* zurbürgerlichen Öffentlichkeit beschränken, son<strong>der</strong>n unterscheide (idealtypisch) vier Stufen: diekonkrete und +unbelastete* Öffentlichkeit <strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Welt, die politisierte und kodifizierteÖffentlichkeit <strong>der</strong> Aufklärung, die anonyme, <strong>in</strong>vasive und hierarchisierte Öffentlichkeit <strong>der</strong><strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft und die diffuse, fragmentisierte und <strong>in</strong>teraktive Öffentlichkeit<strong>der</strong> multimedialen Kommunikations- und Wissensgesellschaft. Diese vier Stufen möchte ichim folgenden (mit Blick auf das <strong>Politik</strong>system) näher charakterisieren:• Die konkrete und +unbelastete* Öffentlichkeit <strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Welt: Die Öffentlichkeit<strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Welt hatte ganz überwiegend den Charakter des Konkreten. Sie war durchdie aktuelle Gegenwart e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en gekennzeichnet, <strong>der</strong> im Normalfall auch ke<strong>in</strong> Frem<strong>der</strong>,son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e Person aus dem unmittelbaren Lebensumfeld war: Nachbar, Mitbewohner desDorfes o<strong>der</strong> Stadtviertels, Freund, Fe<strong>in</strong>d, Verwandter, Bekannter.206Es handelte sich alsobei den öffentlichen Handlungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel um face-to-face-Interaktionen, die zudem <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em klar def<strong>in</strong>ierten öffentlichen Raum stattfanden. Dieser öffentliche Raum war <strong>der</strong> Platzum den Dorfbrunnen, das Geme<strong>in</strong>dehaus, das Badehaus o<strong>der</strong> die Kirche etc. Interessantist, daß gerade <strong>der</strong> vielleicht wichtigste öffentliche Raum, <strong>der</strong> Marktplatz, dem Umschlagdes Privatbesitzes und se<strong>in</strong>er Mehrung diente. Das Öffentliche hatte also schon sehr frühe<strong>in</strong>e Funktion gerade für die Erfüllung privater Interessen und Bedürfnisse.noch zeigen, daß dies <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für die mittelalterliche Stadt gilt.207Es wird sich


162 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEWenn man Norbert Elias folgen will, so verlangte das öffentliche Auftreten im Mittelalter und<strong>in</strong> <strong>der</strong> frühen Neuzeit noch ke<strong>in</strong>e so hohe Affektkontrolle wie dies <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart <strong>der</strong>Fall ist (siehe auch S. XXXV) – und kann damit <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Vergleich zur stark kodifiziertenbürgerlichen Öffentlichkeit (siehe S. 166) als relativ +unbelastet* charakterisiert werden. 208Sehr e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich schil<strong>der</strong>t Elias nämlich anhand historischer Quellen, wie zum Beispiel diemittelalterlichen Tischsitten weit weniger +strikt* und damit restriktiv waren als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwartund man sich ganz ungeniert (auch <strong>in</strong> Wirtshäusern) den Mund am Ärmel abwischte, ausspuckteo<strong>der</strong> sich die F<strong>in</strong>ger ableckte.In <strong>der</strong> höfischen Öffentlichkeit, die als Folge <strong>der</strong> Zentralisierung des Staates entstanden war,setzten sich die uns heute selbstverständlichen, +zivilisierteren* Verhaltensstandards als Mittelzur Dist<strong>in</strong>ktion gegenüber dem +geme<strong>in</strong>en Volk* zuerst durch, um dann später weitgehendvom Bürgertum übernommen zu werden – weshalb Elias die Richtung des Zivilisationsprozessesim wesentlichen +von oben nach unten* verlaufen sieht (vgl. Über den Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation;Band 2, S. 409–434). Doch auch <strong>in</strong> +gehobenen Kreisen* war es z.B. sche<strong>in</strong>bar noch im15. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht selbstverständlich, sich bei <strong>der</strong> Tafel nicht <strong>in</strong> die F<strong>in</strong>ger zu schneuzen,denn e<strong>in</strong>e höfische +Benimmregel* mußte noch extra betonen: +Schneuz nicht die Nase mit<strong>der</strong> gleichen Hand, mit <strong>der</strong> du das Fleisch hältst.* (S’ensuivent les contenances de la table.Zitiert nach ebd.; Band 1, S. 195)Die Situation des geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>genommenen Mahles, auf die sich die zitierte Regel bezieht,hatte früher zumeist selbst im eigenen Zuhause den Charakter e<strong>in</strong>er +halböffentlichen* Situation– zum<strong>in</strong>dest, wenn man sich Lewis Mumford anschließt, <strong>der</strong> sich sehr <strong>in</strong>tensiv mit <strong>der</strong> Entwicklungdes menschlichen Zusammenlebens speziell <strong>in</strong> den Städten ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat.Denn im Mittelalter lebten die verschiedensten Personen unter e<strong>in</strong>em Dach, und:+[…] im Vergleich zum heutigen Leben [war] die Familie <strong>in</strong> <strong>der</strong> mittelalterlichen Stadt e<strong>in</strong>e sehr offeneGruppe, umfaßte sie doch […] nicht nur Blutsverwandte, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>e Gruppe gewerblicherArbeiter und Hausgehilfen, <strong>der</strong>en Stellung <strong>der</strong>jenigen zweitrangiger Familienangehöriger entsprach.Das galt für alle Klassen, denn die jungen Männer <strong>der</strong> Oberschicht erwarben sich ihre Weltkenntnis,<strong>in</strong>dem sie e<strong>in</strong>er vornehmen Familie aufwarteten […] Lehrl<strong>in</strong>ge und manchmal auch Gesellen lebtenim Hause ihres Meisters.* (Die Stadt; Band 1, S. 328)Alle zum Haushalt gehörenden Personen schliefen häufig <strong>in</strong> e<strong>in</strong> und demselben Zimmer (daszudem vielleicht sogar noch als Wohnraum und Küche dienen mußte). Selbst <strong>in</strong> den Behau-


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 163sungen <strong>der</strong> Wohlhaben<strong>der</strong>en herrschte relativer Platzmangel. Deshalb stellt Mumford an an<strong>der</strong>erStelle fest:+Will man die mittelalterliche Wohnung zusammenfassend schil<strong>der</strong>n, so kann man sagen, daß siesich durch e<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>en Mangel an funktionell unterschiedenen Räumen auszeichnete. In denStädten wurde dieser Mangel an <strong>in</strong>nerer Differenzierung dadurch aufgewogen, daß häusliche Funktionen<strong>in</strong> öffentlichen E<strong>in</strong>richtungen vollständiger entwickelt waren. Zwar gab es vielleicht im Haus ke<strong>in</strong>enBackofen, doch stand e<strong>in</strong> öffentlicher Backofen beim nächsten Bäcker zur Verfügung. Es gab wohlke<strong>in</strong> privates Badezimmer, aber dafür e<strong>in</strong> städtisches Badehaus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe […] Liebesleute hattenvielleicht ke<strong>in</strong> eigenes Schlafzimmer, doch konnten sie dafür vor <strong>der</strong> Stadtmauer ›im Feld zwischendem Roggen liegen‹.* (Ebd.; S. 334)Die öffentlichen E<strong>in</strong>richtungen und Plätze dienten also als +Ersatzräume* für den fehlendenPrivatraum. Doch sobald <strong>der</strong> Wohlstand sich mehrte, wollten die Menschen +für sich schlafen,für sich essen, für sich religiösen und gesellschaftlichen Pflichten nachkommen, schließlichauch für sich denken* (ebd.; S. 332). Die Vermengung von privatem Leben und öffentlicherSphäre im Mittelalter war hauptsächlich aus <strong>der</strong> Not geboren.Habermas’ Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Öffentlichkeit ist freilich e<strong>in</strong>e etwas an<strong>der</strong>e. Zwarweist auch er darauf h<strong>in</strong>, daß es zum allgeme<strong>in</strong>en Gebrauch zur Verfügung stehende E<strong>in</strong>richtungenwie öffentliche Brunnen gab. Er konzentriert sich bei se<strong>in</strong>er Betrachtung jedochauf den Aspekt <strong>der</strong> Repräsentation, <strong>der</strong> für ihn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit <strong>der</strong> vormo<strong>der</strong>nen Weltdas charakteristische Moment darstellt. Dabei geht er so weit, folgendes zu behaupten:+Öffentlichkeit als eigener, von e<strong>in</strong>er privaten Sphäre geschiedener Bereich läßt sich für die feudaleGesellschaft des hohen Mittelalters soziologisch, nämlich anhand <strong>in</strong>stitutioneller Kriterien, nichtnachweisen. Gleichwohl hießen die Attribute <strong>der</strong> Herrschaft, etwa das fürstliche Siegel, nicht zufällig›öffentlich‹ […] – es besteht nämlich e<strong>in</strong>e öffentliche Repräsentation von Herrschaft. Diese repräsentativeÖffentlichkeit konstituiert sich nicht als e<strong>in</strong> sozialer Bereich, als e<strong>in</strong>e Sphäre <strong>der</strong> Öffentlichkeit, vielmehrist sie […] so etwas wie e<strong>in</strong> Statusmerkmal […]* (Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit; S. 60f.)Diese Behauptung wird aber <strong>in</strong> gewisser Weise durch Habermas selbst wi<strong>der</strong>legt. Denn wennes e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>stitutionell von <strong>der</strong> Privatsphäre geschiedenen Bereich nicht gegeben hätte, sohätte dieser sich schwerlich für die Repräsentation von Status und Macht (also als effektivesHerrschafts<strong>in</strong>strument) nutzen lassen. Die Zurschaustellung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit diente <strong>der</strong>Aktualisierung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Hierarchien im (visuellen) +öffentlichen Bewußtse<strong>in</strong>* und


164 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEkannte natürlich auch <strong>in</strong>stitutionalisierte Formen: z.B. mit den öffentlich <strong>in</strong>szenierten höfischenSelbstdarstellungen, den vom Herrscher gewährten öffentlichen Audienzen o<strong>der</strong> auch <strong>in</strong> Form<strong>der</strong> +barbarischen* öffentlichen Strafrituale, die Foucault e<strong>in</strong>drücklich beschrieben hat (vgl.Überwachen und Strafen; S. 9–43).• Die politisierte und kodifizierte Öffentlichkeit <strong>der</strong> Aufklärung: Habermas legt, wie erwähnt,dar, daß im 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t, also zur Zeit <strong>der</strong> Aufklärung, e<strong>in</strong> Strukturwandel <strong>der</strong>Öffentlichkeit stattfand: Aus <strong>der</strong> von ihm als repräsentativ charakterisierten Öffentlichkeitdes Feudalismus entwickelte sich (mit dem kapitalistischen Zentralstaat) die bürgerliche Öffentlichkeit,die durch e<strong>in</strong> vergleichsweise hohes Maß an Politisierung gekennzeichnet war. Dabeiist es für Habermas offensichtlich, +daß dieser […] Öffentlichkeitstypus den geschichtlichenH<strong>in</strong>tergrund für die mo<strong>der</strong>nen [rationalen] Formen <strong>der</strong> Kommunikation bildet* (Strukturwandel<strong>der</strong> Öffentlichkeit; S. 17). Denn beim +öffentlichen Räsonnement* des Bürgers galten +dieMaßstäbe <strong>der</strong> ›Vernunft‹* (ebd.; S. 87). E<strong>in</strong>geübt wurde die (Gesprächs-)Form des rationalenDiskurses <strong>in</strong> <strong>der</strong> +publikumsbezogenen Subjektivität <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>familialen Intimsphäre* (ebd.),<strong>in</strong> den auf (Selbst-)Darstellung ausgerichteten Salons <strong>der</strong> (groß)bürgerlichen (Ober-)Schicht.Diese Transformation und Verdoppelung des Privaten wurde ermöglicht durch die rascheEntwicklung des Kapitalismus <strong>in</strong> jener ökonomischen Umbruchsphase, wodurch – allerd<strong>in</strong>gsnur für e<strong>in</strong>e vergleichsweise kle<strong>in</strong>e Gruppe – e<strong>in</strong>e Abgrenzung von Privatheit und Reproduktionganz nach aristokratischem Vorbild möglich wurde (vgl. ebd.; S. 88ff.). Zentral ist für Habermasjedoch, wie gesagt, die mit <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Privatsphäre e<strong>in</strong>hergehende Politisierung<strong>der</strong> Öffentlichkeit bzw. aus umgekehrter Perspektive: die +Veröffentlichung* <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, dieauf <strong>der</strong>en Charakter zurückwirkt und die Bed<strong>in</strong>gungen von Herrschaft transformiert. Denn:+Öffentliche Me<strong>in</strong>ung will, ihrer eigenen Intention nach, we<strong>der</strong> Gewaltenschranke noch selber Gewalt,noch gar Quelle aller Gewalt se<strong>in</strong>. In ihrem Medium soll sich vielmehr <strong>der</strong> Charakter <strong>der</strong> vollziehendenGewalt, Herrschaft selbst verän<strong>der</strong>n.* (Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit; S. 152f.)Allerd<strong>in</strong>gs sieht natürlich auch Habermas, daß e<strong>in</strong>e enge Verschränkung zwischen bürgerlicherÖffentlichkeit und bürgerlichem Staat gegeben war (als dieser verwirklicht worden war). Auf<strong>der</strong> Grundlage jener Verschränkung konnte <strong>der</strong> Versuch unternommen werden, die staatlicheGewalt durch öffentliche Zustimmung zu legitimieren. Das Parlament ist das Symbol für diese


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 165Rückb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> an die Stimme <strong>der</strong> Öffentlichkeit, die zuvor schon <strong>in</strong> den neu gegründeten(bürgerlichen) Publikationsorganen ihr +Medium* fand, verbreitet und geformt wurde. 209Deshalb spricht Habermas auch von e<strong>in</strong>em +<strong>in</strong>stitutionellen Zusammenhang von Publikum,Presse, Parteien und Parlament* (ebd.; S. 142).210Dieser +öffentliche Komplex* diente ganze<strong>in</strong>deutig <strong>der</strong> Durchsetzung <strong>der</strong> wirtschaftlichen und politischen Interessen des Bürgertums,das mit Exklusions-Instrumenten wie dem Zensuswahlrecht e<strong>in</strong>e Öffnung des politischen Raumesnach unten (vor allem h<strong>in</strong> zur Arbeiterschaft) zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n versuchte. Indirekter (doch umsoeffektiver) wirkten die bestehenden Bildungsschranken. Trotz dieser E<strong>in</strong>schränkungen enthältdas Modell <strong>der</strong> bürgerlichen Öffentlichkeit für Habermas aber e<strong>in</strong> +utopisches* Moment:Denn obwohl faktisch auf den Kreis des Bürgertums selbst begrenzt, war bürgerliche Öffentlichkeit(zum<strong>in</strong>dest dem Ideal nach) durch allgeme<strong>in</strong>e Zugänglichkeit gekennzeichnet, undobwohl Ausfluß des bürgerlichen Klassen<strong>in</strong>teresses, blieb öffentliche Me<strong>in</strong>ung (zum<strong>in</strong>destgemäß ihrer Rhetorik) dem allgeme<strong>in</strong>en Wohl verpflichtet. (Vgl. ebd.; S. 148–160)Man könnte Habermas aufgrund dieser Sichtweise durchaus vorwerfen, daß er den Typus<strong>der</strong> bürgerlichen Öffentlichkeit idealisiert. Dies trifft zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad auch zu. Doch<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Vorwort zur Neuauflage von 1990 distanziert er sich explizit vone<strong>in</strong>er Überhöhung des Modells <strong>der</strong> bürgerlichen Öffentlichkeit.211An<strong>der</strong>s Richard Sennett:Se<strong>in</strong> Lamento über den angeblichen aktuellen Verfall des öffentlichen Lebens gründet aufe<strong>in</strong>er ungebrochenen Glorifizierung <strong>der</strong> bürgerlichen öffentlichen Kultur des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts.Er begreift die großen Metropolen des +Ancien Régime*212(auf die er sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Analysekonzentriert) als kosmopolitische Zentren des öffentlichen Lebens, was auch die stadtplanerischenBemühungen <strong>der</strong> damaligen Zeit für ihn spiegeln:+Es war die Ära, <strong>in</strong> <strong>der</strong> große städtische Parks angelegt wurden und <strong>in</strong> <strong>der</strong> man erste Versuche unternahm,die Straßen für die speziellen Bedürfnisse des […] Fußgängers herzurichten. Es war die Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kaffeehäuser,später dann Cafés und <strong>Post</strong>gasthäuser zu gesellschaftlichen Mittelpunkten wurden.* (Verfall undEnde des öffentlichen Lebens; S. 31)In den erwähnten Kaffeehäusern blühte das Gespräch, sie waren Informationsbörsen und:+Um den Fluß <strong>der</strong> Informationen so offen wie möglich zu halten, wurden alle Rangunterschiedezeitweilig außer Kraft gesetzt* (ebd.; S. 102). Diese angeblich vorzuf<strong>in</strong>dende egalitäre Gesprächskulturwar auch nach Sennett möglich geworden, weil sich die öffentliche Sphäre vom Privaten


166 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEimmer mehr abgeson<strong>der</strong>t hatte und so +die Spannungen zwischen den Ansprüchen <strong>der</strong> Zivilisationund den Rechten <strong>der</strong> Natur* (ebd.; S. 32) durch e<strong>in</strong>e räumliche Trennung gelöst werdenkonnten. Aber noch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Aspekt wird von ihm hervorgehoben: Aufgrund des enormenWachstums verloren die städtischen Milieus jene Konkretheit, die ich für die Öffentlichkeit<strong>der</strong> Vormo<strong>der</strong>ne herausgestellt habe. Man mußte also Regeln für e<strong>in</strong>e hochgradig anonymeInteraktion f<strong>in</strong>den. Es entwickelte sich – und darauf hat, wie dargestellt, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auchElias h<strong>in</strong>gewiesen – e<strong>in</strong> stark kodifiziertes System von Umgangs- und Höflichkeitsregeln heraus.Zur Identifizierung <strong>der</strong> sozialen Position griff man dabei auf Merkmale wie Kleidung, Habitusund sprachlichen Ausdruck zurück (vgl. ebd.; S. 84–108).Die Bedeutung solcher äußerer Symbole war groß (weshalb man mit gutem Recht auch undgerade die bürgerliche Öffentlichkeit als +repräsentativ* bezeichnen könnte). Die E<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gungpersönlicher Gefühle spielte <strong>in</strong> <strong>der</strong> öffentlichen Interaktion im +Ancien Régime* dagegen nachSennett kaum e<strong>in</strong>e Rolle. Diese +Anti-Intrazeption*Öffentlichkeit.214213wird für ihn sogar zum Maßstab <strong>in</strong>takterDas öffentliche Individuum als gewissermaßen Ich- und emotionslose Persön-lichkeit, die beständig e<strong>in</strong>e Maske vor dem Selbst trägt, ist aber wohl kaum e<strong>in</strong>e Idealvorstellung.Und obwohl z.B. Christopher Lasch mit se<strong>in</strong>er Kritik an <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Narzißmus-Kulturim Pr<strong>in</strong>zip <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung weist, bemerkt er deshalb kritisch:+Die Tendenz e<strong>in</strong>er solchen Analyse geht dah<strong>in</strong>, den bürgerlichen Liberalismus als die e<strong>in</strong>zige kultivierteForm politischen Lebens […] zu überhöhen […] In se<strong>in</strong>em Eifer, zwischen öffentlicher und privater Sphärewie<strong>der</strong> zu trennen, übersieht er [Sennett] außerdem, <strong>in</strong> welch vielfältiger Weise sie immer und überallverflochten s<strong>in</strong>d. Die Sozialisierung <strong>der</strong> Jugend reproduziert politische Herrschaft auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong>persönlichen Erfahrung. In unseren Tagen ist dieser E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die Privatsphäre so umfassend geworden,daß es e<strong>in</strong> privates Leben kaum mehr gibt. Weil Sennett Ursache und Wirkung verwechselt, legt er diezeitgenössische Malaise dem E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen des Persönlichen und Privaten <strong>in</strong> den öffentlichen Bereich zurLast […] In Wirklichkeit aber rührt die Betonung des Privaten ke<strong>in</strong>eswegs aus e<strong>in</strong>er starken Geltung <strong>der</strong>Persönlichkeit, son<strong>der</strong>n aus ihrem Zusammenbruch.* (Das Zeitalter des Narzißmus; S. 50f.)Lassen wir die Richtigkeit von Laschs letztgenannter These e<strong>in</strong>mal dah<strong>in</strong>gestellt – se<strong>in</strong>e Kritiktrifft im Kern zu. Und doch möchte ich, wie Sennett (und Habermas), tatsächlich für diePhase <strong>der</strong> Emanzipation des Bürgertums von e<strong>in</strong>er vergleichsweise stark politisierten Öffentlichkeitsprechen. Denn die von ihm dom<strong>in</strong>ierte Öffentlichkeit war das Medium zur Durchsetzungse<strong>in</strong>er Herrschaftansprüche und se<strong>in</strong>er ökonomischen Interessen.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 167• Die anonyme, <strong>in</strong>vasive und hierarchisierte Öffentlichkeit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft:Folgt man – trotz aller Kritik – Sennett, so erfuhr die von ihm so überschwenglichgefeierte bürgerliche Öffentlichkeit <strong>der</strong> Aufklärung bereits im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e Erschütterung.Dieses Jahrhun<strong>der</strong>t war von e<strong>in</strong>em (neuerlichen) enormen Bevölkerungswachstum und <strong>der</strong><strong>in</strong>dustriellen Revolution geprägt. Das brachte zum e<strong>in</strong>en Platzprobleme mit sich. Zum an<strong>der</strong>enverän<strong>der</strong>ten sich die ökonomischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen: Die kapitalistischen Krisenzyklenmachten das Leben unberechenbar. Der ökonomischen Verunsicherung und <strong>der</strong> drohenden+Vermassung* versuchten die Menschen durch die Flucht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Persönlichkeitskult zuentgehen. Es kam deshalb nach Sennnett im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zu e<strong>in</strong>er +Personalisierung alleröffentlichen Ersche<strong>in</strong>ungsbil<strong>der</strong>* und e<strong>in</strong>em +Vordr<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> Persönlichkeit <strong>in</strong> die Gesellschaft*,was für ihn sogar dazu führte, daß das Individuum über die Klasse triumphierte (vgl. ebd.;S. 255–269). Doch noch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Effekt zeigte sich:+Mit dem Vordr<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> Persönlichkeit <strong>in</strong> die öffentliche Sphäre spaltetet sich die Identität des ›Öffentlichkeitsmenschen‹[…] <strong>in</strong> zwei Teile. E<strong>in</strong>ige wenige drückten sich weiterh<strong>in</strong> aktiv <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeitaus, hielten die Vorstellung des Ancien Régime vom Menschen als Schauspieler und Handelndem, demactor, aufrecht […] Daneben bildete sich e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Identität aus: die des Zuschauers.* (Ebd.; S. 225)Damit waren gemäß Sennett die Voraussetzungen für die heutigen Probleme geschaffen:Die Spaltung <strong>in</strong> Akteure und Publikum war vollzogen, und es kam zur Intimisierung des öffentlichenLebens.215Heute s<strong>in</strong>d endgültig +die Foren des öffentlichen Lebens […] im Verfallbegriffen* (ebd.; S. 16), <strong>der</strong> öffentliche Raum ist nur mehr e<strong>in</strong>e funktionale Durchgangszone<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zerstückelten StadtlandschaftE<strong>in</strong>e verstärkende Rolle spielen dabei die Massenmedien:216und wir stehen vor dem +Ende <strong>der</strong> öffentlichen Kultur*.+Die elektronische Kommunikation ist e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Faktoren, die das öffentliche Leben zum Erliegen gebrachthaben. Die Medien haben den Vorrat an Wissen, das die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong>haben, erheblich erweitert, zugleich jedoch haben sie den wirklichen Kontakt zwischen denGruppen überflüssig gemacht.* (Ebd.; S. 319)Im Text ist deshalb auch vom +elektronisch befestigten Schweigen* die Rede (ebd.; S. 319).Zudem schufen die elektronischen Medien e<strong>in</strong> +Star-System*, das den Zugang zum Publikumauf extrem wenige Akteure beschränkt, damit die Grenze zwischen Publikum und Akteuren


168 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEzementiert und für die <strong>Politik</strong> die problematische Folge aufwirft, daß weniger Parteiprogrammeo<strong>der</strong> die sachlichen Kompetenzen e<strong>in</strong>es <strong>Politik</strong>ers zählen, als vielmehr alle<strong>in</strong>e se<strong>in</strong> Charisma(vgl. ebd.; S. 330). Sennetts Sicht <strong>der</strong> (politischen) Öffentlichkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaftist also pessimistisch. Ich möchte mich diesem Pessimismus nicht une<strong>in</strong>geschränktanschließen. Allerd<strong>in</strong>gs – und dies ist <strong>der</strong> Grund, warum ich Sennett so viel Raum zugestandenhabe – ersche<strong>in</strong>en mir e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er Thesen durchaus überzeugend:• Die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Strukturen <strong>der</strong> Öffentlichkeit erfolgte <strong>in</strong> Wechselwirkung mit <strong>der</strong>entfalteten kapitalistischen Dynamik.• Die Öffentlichkeit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft war/ist stark hierarchisiert und gespalten<strong>in</strong> Akteure und Publikum (was auch mit <strong>der</strong> Etablierung elektronischer Medien zusammenhängt).• Ferner ist sie (trotz Intimisierung) durch e<strong>in</strong> hohes Maß an Anonymität gekennzeichnet(was Sennett freilich bereits für die bürgerliche Öffentlichkeit herausstellt).• Die strikte Trennung von öffentlicher Sphäre und privater Sphäre beg<strong>in</strong>nt sich tendenziellaufzulösen. 217Natürlich f<strong>in</strong>den sich die meisten dieser Punkte auch <strong>in</strong> Habermas’ Betrachtung. So verweistdieser etwa ganz analog auf die im Zuge <strong>der</strong> Entwicklung erfolgte +Verschränkung <strong>der</strong> öffentlichenSphäre mit dem privaten Bereich* (Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit; S. 225). Allerd<strong>in</strong>gsbezeichnet er damit e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Sachverhalt als Sennett: Nach Habermas kommt es nämlich,wie erwähnt, im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zu e<strong>in</strong>er +Gleichschaltung* <strong>der</strong> Interessen des Bürgertumsund <strong>der</strong> öffentlichen Gewalt, d.h. <strong>der</strong> Staat wird mit dem Aufstieg des Bürgertums für dessenprivat(wirtschaftlich)e Belange <strong>in</strong>strumentalisiert.218Durch diese Verschränkung zwischen Staatund privater Wirtschaftssphäre ist es nicht mehr möglich, öffentliche Institutionen klar vonprivaten abzugrenzen. (Vgl. ebd.; S. 225–238)Die Öffentlichkeit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft ist also bei Habermas an<strong>der</strong>s als beiSennett nicht so sehr von Intimisierung bedroht, son<strong>der</strong>n vielmehr gerade dadurch, daß diesenicht mehr die lebensweltlichen Belange gegenüber dem (Herrschafts-)System artikuliert. DerBereich des Privaten/Intimen, <strong>der</strong> Lebenswelt, wird zudem immer weiter an den Rand abgedrängtund s<strong>in</strong>nentleert. Das Erwerbsleben beispielsweise, vormals Teil <strong>der</strong> Privatsphäre, wird zurselbständigen, staatlich geregelten Berufssphäre, und die Risikoabsicherungsfunktionen <strong>der</strong>


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 169Familie werden zunehmend von öffentlichen Institutionen übernommen. Habermas sprichtdeshalb von e<strong>in</strong>er +zusammengeschrumpften Intimsphäre* (ebd.; S. 243), die funktionsentlastetund damit autoritätsgeschwächt ist. Auch er konstatiert jedoch neben dem Zusammenschrumpfen<strong>der</strong> Intimsphäre e<strong>in</strong>en Verfall <strong>der</strong> politischen Öffentlichkeit. Dieser geht e<strong>in</strong>her mit e<strong>in</strong>emvon den Massenmedien geför<strong>der</strong>ten Konsumismus:+Die Massenpresse beruht auf <strong>der</strong> kommerziellen Umfunktionierung jener Teilnahme breiter Schichtenan <strong>der</strong> Öffentlichkeit, die vorwiegend Massen überhaupt Zugang zur Öffentlichkeit zu [!] verschaffen.Ihren politischen Charakter büßt <strong>in</strong>dessen diese erweiterte Öffentlichkeit <strong>in</strong> dem Maße e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> dem dieMittel <strong>der</strong> ›psychologischen Erleichterung‹ zum Selbstzweck e<strong>in</strong>er kommerziell fixierten Verbraucherhaltungwerden konnten.* (Ebd.; S. 258)Diese massenmedial erzeugte Öffentlichkeit +ist Öffentlichkeit nur noch dem Sche<strong>in</strong>e nach*(ebd.; S. 261) und +übernimmt Funktionen <strong>der</strong> Werbung* (ebd.; S. 267). Neben <strong>der</strong> Aufgabeökonomischer Bee<strong>in</strong>flussung dient sie <strong>der</strong> politischen Manipulation <strong>der</strong> Massen. Der politischeFunktionswandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit von e<strong>in</strong>em Medium <strong>der</strong> Herrschaftskritik zur Institution<strong>der</strong> Herrschaftslegitimierung läßt sich auch am Parlament zeigen. Dieses hat sich zunehmendvon e<strong>in</strong>er disputierenden zu e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> demonstrativen Körperschaft entwickelt (vgl. ebd.;S. 300–307). O<strong>der</strong> wie Johannes Agnoli es ausgedrückt hat:+Diskutiert wird im Bundestag mit <strong>der</strong> gleichen Häufigkeit wie im englischen Unterhaus, wenn auch <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em schlechteren Stil […] und mit schwächerer Presseresonanz. Hier wie dort geht [aber] die Diskussionüber Sekundärprobleme, Personalmißstände und vere<strong>in</strong>zelte Mißbräuche. In beiden Häusern vollziehtsich <strong>der</strong> eigentliche Entscheidungsprozeß nicht öffentlich […] Das Parlament fungiert […] also als Instrumentzur Veröffentlichung von Herrschaft […]* (Die Transformation <strong>der</strong> Demokratie; S. 69 u. S. 75)Ich möchte mich hier nun nicht weiter mit den Thesen von Sennett und Habermas ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen,obwohl e<strong>in</strong>iges an Erläuterungen und Kritik noch anzumerken wäre. Vielmehr beabsichtigeich, mich noch e<strong>in</strong>mal etwas e<strong>in</strong>hegen<strong>der</strong> mit dem erfolgten Strukturwandel des Öffentlichkeitssystemszu beschäftigen, um so die drei für mich zentralen Charakteristika <strong>der</strong> +mediatisierten*Öffentlichkeit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft näher herauszuarbeiten: nämlichihre Anonymität, ihre Invasivität und vor allem ihren hierarchischen Charakter. Dabei wirdauch zu zeigen se<strong>in</strong>, welche konkreten Auswirkungen dieser Strukturwandel auf die <strong>Politik</strong>hatte bzw. <strong>in</strong>wieweit er vom politischen System gespiegelt wurde.


170 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEPeter Spangenberg hat sich mit den +Komplexitätsebenen mo<strong>der</strong>ner Öffentlichkeit* (1996)befaßt und dabei herausgestellt, daß mo<strong>der</strong>ne Öffentlichkeit immer Medien-Öffentlichkeitist, d.h. mit dem ausgelösten sozialen Differenzierungsprozeß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge gesellschaftlicherMo<strong>der</strong>nisierung erfolgte zwangsläufig e<strong>in</strong>e radikale Umstellung <strong>der</strong> Öffentlichkeit von Handlungauf (mediatisierte) Kommunikation (vgl. S. 270). Als direkte Auswirkung dieses Strukturwandelsläßt sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach von e<strong>in</strong>er Anonymisierung <strong>der</strong> Öffentlichkeit sprechen: Öffentlichkeitverliert mit ihrer Mediatisierung an Konkretheit, wird delokalisiert und entpersonalisiert. 219Dem steht ke<strong>in</strong>esfalls die Tatsache <strong>der</strong> Tendenz zu e<strong>in</strong>er Personalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> entgegen(siehe auch unten), sowie daß die Gesichter, die uns auf den Titelseiten <strong>der</strong> Illustrierten o<strong>der</strong>im Fernsehen präsentiert werden, mit <strong>der</strong> Zeit für uns e<strong>in</strong>e merkwürdige Vertrautheit erlangenund viele sogar e<strong>in</strong>e +persönliche* Beziehung +ihrem* Star aufbauen, <strong>in</strong>dem sie ihn zumGegenstand von Idealisierungen und Wunschträumen machen. Denn diese Beziehung iste<strong>in</strong>seitig und funktioniert nur aus <strong>der</strong> Entfernung. Der Star (als öffentlicher Akteur) ist bekanntund bleibt (als Mensch) doch e<strong>in</strong> unbekanntes, unerreichbares Wesen – nur das macht ihnzu e<strong>in</strong>em echten Star. Es erfolgt also ke<strong>in</strong>e Interaktion. Se<strong>in</strong> unverwechselbares und trotzdemaustauschbares Gesicht dr<strong>in</strong>gt (vermittelt über die +Kanäle* <strong>der</strong> Medien) <strong>in</strong> unsere privatenRäume e<strong>in</strong> und füllt dort e<strong>in</strong>e kommunikative Leerstelle – was gleichzeitig (siehe auch unten)auf den <strong>in</strong>vasiven Charakter <strong>der</strong> Massenmedien verweist (d.h. die technisch forcierte Wie<strong>der</strong>vermischungvon öffentlichem und privatem Raum).Die hierarchische Differenzierung <strong>in</strong> Akteure und Publikum bewirkt aber nicht nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige,son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e beidseitige Anonymisierung: Nicht alle<strong>in</strong>e die öffentlichen Akteure s<strong>in</strong>d bekannteUnbekannte für ihr Publikum, auch das Publikum bleibt weitgehend e<strong>in</strong>e unbekannte Größefür den Redakteur des Nachrichtenmagaz<strong>in</strong>s o<strong>der</strong> den Talk-Master. Deshalb muß dem Publikumund se<strong>in</strong>en Wünschen im Interesse <strong>der</strong> Wertschöpfungsfunktion des privaten Mediensystemsdurch Marktforschung nachgespürt werden. Was die politische Öffentlichkeit, das politischePublikum betrifft, so wird dieses entsprechend zum Gegenstand von Me<strong>in</strong>ungsforschung,die für das politische System Prognosen über Wahlausgänge erlauben soll.E<strong>in</strong> erster Schritt zur beschriebenen Anonymisierung <strong>der</strong> Öffentlichkeit erfolgte bereits mit<strong>der</strong> Etablierung <strong>der</strong> Pr<strong>in</strong>tmedien. Mit Hörfunk und K<strong>in</strong>o kam dann e<strong>in</strong>e audio-visuelle Transformation<strong>der</strong> öffentlichen Kommunikation, die diesen Trend verstärkte und auch e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung<strong>der</strong> Raum- und Zeitwahrnehmung bewirkte. In se<strong>in</strong>em Band +Medien-Zeit, Medien-Raum*


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 171(1995) stellt Götz Großklaus diesen Wandel (an Elias anschließend) anhand zahlreicher Beispieledar. Se<strong>in</strong>e Kernaussage lautet, daß durch e<strong>in</strong>e gleichzeitige Dehnung und Verdichtung <strong>der</strong>Raum-Zeit-Struktur durch die Medien die Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> Raumwahrnehmung durch e<strong>in</strong>eDom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> Zeitwahrnehmung abgelöst wurde (vgl. S. 103ff.), wodurch es zu e<strong>in</strong>er Erweiterungdes Gegenwarts- bzw. Jetzt-Feldes gekommen ist (vgl. ebd.; S. 21). Die Fotographie standfür Großklaus am Anfang dieser Entwicklung,220und das Fernsehen war <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sichtke<strong>in</strong>e wirklich radikale Neuerung, wie auch Spangenberg betont. Doch +trotzdem fällt dieSogwirkung auf, mit <strong>der</strong> das Fernsehen viele attraktive Angebote aus an<strong>der</strong>en Medien […]an sich ziehen konnte* (Komplexitätsebenen mo<strong>der</strong>ner Öffentlichkeit; S. 270). +Es ist zumGeneralisten geworden, <strong>der</strong> Spezialisierungen provoziert […] Im Kontakt mit dem Fernsehenentwickelte sich <strong>der</strong> Hörfunk zu e<strong>in</strong>em Aktualitäts- und Begleitmedium, das man nach Musikfarbenund aufgrund <strong>der</strong> Verkehrsnachrichten auswählt, zum Wecken benutzt und beim Bügelne<strong>in</strong>schaltet. Das K<strong>in</strong>o […] mutierte – <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er kommerziell erfolgreichen Form – zum <strong>in</strong>tensitätsorientiertenAttraktivitätsmedium […]* (Ebd.; S. 276f.)Mit dieser Sicht des Fernsehens als Ausdifferenzierungskatalysator für das Mediensystemunterschätzt Spangenberg wahrsche<strong>in</strong>lich jedoch sogar se<strong>in</strong>e Bedeutung für die (vielleichtschon +überwundene*) <strong>in</strong>dustrielle Massengesellschaft. Wenn man sich dagegen Florian Rötzeranschließt, so stellt(e) das Fernsehen das e<strong>in</strong>zige historische Massenmedium überhaupt dar,denn +e<strong>in</strong> Massenmedium zeichnet sich dadurch aus, daß es [gleichzeitig] identische Informationenan möglichst viele Empfänger übermittelt* (Interaktion – das Ende herkömmlicher Massenmedien;S. 132). +Texte <strong>in</strong> Form von Büchern, Flugblättern o<strong>der</strong> Zeitschriften haben vor denelektronischen Medien, die globale Gleichzeitigkeit ermöglichen, als Massenmedien [nur]im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Massenproduktion gewirkt* (ebd.). Diese fersehvermittelte Gleichzeitigkeit wirddurch die neuen <strong>in</strong>teraktiven Medien (siehe unten) wie<strong>der</strong> zerstört. Nur das Fernsehen schufalso tatsächlich so etwas wie e<strong>in</strong> +globales Dorf*, das Marshall McLuhan <strong>in</strong> den 60er Jahrenals Ergebnis <strong>der</strong> global ausgeweiteten Kommunikation entstanden gesehen hatte (vgl. Diemagischen Kanäle; S. 103). Dies erreichte es, <strong>in</strong>dem es e<strong>in</strong> Gefühl von allumfassen<strong>der</strong>Transparenz durch die Simultanität <strong>der</strong> Nachrichtenübermittlung und e<strong>in</strong>en (fast) weltweitenallgeme<strong>in</strong>en Zugang ermöglichte.Das Fernsehen produzierte also durch Gleichzeitigkeit e<strong>in</strong> globales öffentliches Bewußtse<strong>in</strong>.Doch dies vermochte es nur, <strong>in</strong>dem es <strong>in</strong>vasiv <strong>in</strong> die Privatsphäre e<strong>in</strong>drang. +Anstatt daß Informa-


172 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEtionen von e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zelperson verarbeitet werden […], setzt mir <strong>der</strong> Bildschirm Informationenvor, die von e<strong>in</strong>em Kollektiv für e<strong>in</strong> Kollektiv aufbereitet worden s<strong>in</strong>d* (de Kerckhove: Jenseitsdes globalen Dorfes; S. 138). Das Fernsehen, aber auch <strong>der</strong> Hörfunk, transportieren e<strong>in</strong>enAusschnitt <strong>der</strong> großen Welt <strong>in</strong> den privaten Raum und nehmen so, zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Stück weit,von ihm Besitz. Will man sich dieser Invasion, die im Radioempfänger und im Fernsehmonitorihre d<strong>in</strong>gliche Repräsentanz hat, entziehen, so ist es nur möglich, ab- o<strong>der</strong> umzuschalten.Die Information selbst ist vorgefiltert und bricht gleichsam über uns here<strong>in</strong>.Vorfilterung bzw. die Selektion von Information und Themen sowie die Konzentration aufe<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit von Akteuren s<strong>in</strong>d zwangsläufige Ersche<strong>in</strong>ungen von Öffentlichkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erMassengesellschaft. Dies gestehen auch von Habermas bee<strong>in</strong>flußte Befürworter e<strong>in</strong>es normativen,diskursiven Öffentlichkeitsmodells zu (vgl. vor allem Peters: Der S<strong>in</strong>n von Öffentlichkeit). Wirklichproblematisch wird dies nach ihnen erst, wenn die Selektion <strong>in</strong> manipulativer Absicht geschieht,<strong>der</strong> Ausschluß bestimmter Individuen o<strong>der</strong> Themen pr<strong>in</strong>zipiellen Charakter hat und Öffentlichkeitdamit nicht mehr e<strong>in</strong>e Sphäre sozialer Verständigung ist, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> ihrem Medium symbolischeGewalt ausgeübt wird (vgl. ebd.; S. 51–70).E<strong>in</strong>e Form solcher symbolischer Gewalt durch die Massenmedien ist das sog. +Agenda-Sett<strong>in</strong>g*(vgl. McCombs/Shaw: The Agenda-Sett<strong>in</strong>g Function of Mass Media).221Damit ist geme<strong>in</strong>t,daß die Medien <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und <strong>der</strong> Öffentlichkeit bestimmte Themen diktieren können (allerd<strong>in</strong>gsmuß man e<strong>in</strong>schränken, daß die Medien auch beim Agenda-Sett<strong>in</strong>g auf e<strong>in</strong>e Resonanz desPublikums für die von ihnen aufgegriffenen Themen angewiesen s<strong>in</strong>d).222Mit <strong>der</strong> <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>evon W<strong>in</strong>fried Schulz herausgestellten +Konstruktion von Realität <strong>in</strong> den Nachrichtenmedien*223(1976) haben die Medien zudem e<strong>in</strong>e wichtige Def<strong>in</strong>itionsmacht. Deshalb wurde nichtnur <strong>in</strong> Deutschland schon sehr früh <strong>der</strong> Versuch unternommen, diese Def<strong>in</strong>itionsmacht durchstaatliche Medien staatlich zu monopolisieren. Die Wochenschau im Dritten Reich und ihrePendants bei den Kriegskontrahenten Deutschlands wie überhaupt die Kriegsberichterstattungkönnen hier als beson<strong>der</strong>s drastische Beispiele gelten, e<strong>in</strong>e im S<strong>in</strong>n <strong>der</strong> eigenen Interessenfunktionale Realität +abzubilden*.224Nach dem Krieg etablierte sich hierzulande dann e<strong>in</strong>+öffentlicher* (d.h. halbstaatlicher) Rundfunk und später das +öffentlich-rechtliche* Fernsehen.Erst 1986, also vergleichsweise spät, erfolgte e<strong>in</strong>e +Liberalisierung* mit <strong>der</strong> Etablierung dessog. +dualen Systems*, d.h. <strong>der</strong> Koexistenz von privaten und +öffentlichen* Sen<strong>der</strong>n, was,wenn man Frank Marc<strong>in</strong>kowski folgt, zu e<strong>in</strong>er partiellen Entpolitisierung <strong>der</strong> Medien geführt


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 173hat: Die Unterhaltungsfunktion verdrängt zunehmend die (Des-)Informationsfunktion. In diesemS<strong>in</strong>n läßt sich – trotz immer noch gegebener Unterschiede – e<strong>in</strong>e Konvergenzthese formulieren(vgl. Politisierung und Entpolitisierung <strong>der</strong> ›Realität‹ <strong>in</strong> unterschiedlichen Medienformaten;S. 43ff.). Ob aber nicht gerade die vor<strong>der</strong>gründige Entpolitisierung die politische Systemakzeptanzdurch Mechanismen repressiver Entsublimierung för<strong>der</strong>t, kann vor allem <strong>in</strong> Anlehnung andie Argumentation <strong>der</strong> Kritischen Theorie vermutet werden. 225Medienmacht, die zusammengefaßt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bericht- und Informationsgewalt, e<strong>in</strong>er BewertungsundBeurteilungsgewalt und e<strong>in</strong>er Vermittlungsgewalt besteht (vgl. Stober: Medien als vierteGewalt; S. 29),226ist deshalb ambivalent zu bewerten und beson<strong>der</strong>s kritisch zu beurteilen,wenn – wie im z.B. im Fall Berlusconi – e<strong>in</strong>e (direkte) Verstrickung von <strong>Politik</strong>, Medien, Wirtschaftgegeben ist (vgl. auch Krempel: Das Phänomen Berlusconi). E<strong>in</strong>e solche Verstrickungwird freilich durch die grundlegende +Dialektik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft* (Münch 1991)geför<strong>der</strong>t: Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite ist <strong>der</strong> öffentliche Diskurs e<strong>in</strong> notwendiges Medium sozialenWandels (vgl. S. 108ff.). Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite hat die +entfesselte Kommunikation*, diediskursive Durchdr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> globalem Ausmaß, die wir erleben (vgl. ebd.; S. 87ff.), e<strong>in</strong>enZwang zur öffentlichen Darstellung für die <strong>Politik</strong> bewirkt (vgl. ebd.; S. 95ff.). Die so erzeugte+Inflation <strong>der</strong> Worte* soll die latenten Krisen überdecken (S. 103ff.). O<strong>der</strong> wie ich es formulierenwürde: Die (Massen-)Medien, speziell das Fernsehen, dienen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> als Medium dramaturgischerDeflexion reflexiver (öffentlichkeits<strong>in</strong>terner wie -externer) Herausfor<strong>der</strong>ungen –<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n kam es zu e<strong>in</strong>er +erfolgreichen* Anpassung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> an den Strukturwandeldes Öffentlichkeits- und Mediensystems <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft.Ulrich Sarc<strong>in</strong>elli hat aus ähnlichen Überlegungen heraus von <strong>der</strong> +Fernsehdemokratie* (1994)gesprochen. Für ihn ist das Fernsehen das +politische Leitmedium* schlechth<strong>in</strong> und zwar +sowohlfür die Wahrnehmung wie die Darstellung von <strong>Politik</strong>* (S. 32). Anschließend an die Überlegungenvon Murray Edelman (vgl. <strong>Politik</strong> als Ritual und siehe auch Abschnitt 3.4) weist Sarc<strong>in</strong>elli daraufh<strong>in</strong>, daß <strong>Politik</strong> neben ihrem +Nennwert* immer schon e<strong>in</strong>en +Symbolwert* hatte. In <strong>der</strong> Fersehdemokratieüberwiegt jedoch letzterer (vgl. Fersehdemokratie; S. 33ff.). Das hat problematischeAuswirkungen, denn es kommt – um dem +Medien-Format*227gerecht zu werden – zwangsläufigzu e<strong>in</strong>er massenmedialen Vere<strong>in</strong>fachung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, was auch die Rede von <strong>der</strong> +Videomalaise*provoziert hat (vgl. Rob<strong>in</strong>son: Public Affairs Television and the Growth of Political Malaise;S. 426ff.). 228


174 POLITIK IN DER (POST-)MODERNESarc<strong>in</strong>elli unterscheidet nun im wesentlichen vier Strategien bzw. Instrumentarien <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>vermittlungdurch Adaption an das Medienformat <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Massenmedien: E<strong>in</strong>e plakativeSprache überdeckt zum e<strong>in</strong>en die Komplexität <strong>der</strong> politischen Gegenstände für das Publikum.Um die (programmatisch verwischten) Unterschiede zwischen den politischen Lagern bzw.Parteien hervorzukehren, besteht für die politischen Akteure gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeitzum an<strong>der</strong>en auch e<strong>in</strong>e Tendenz zu polarisierenden Aussagen. Drittens ersetzen (visualisierbare)Problemlösungssurrogate konkrete Problemlösungen – Thomas Meyer spricht <strong>in</strong> diesemZusammenhang von e<strong>in</strong>er +Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s* (1992).229Solche Inszenierungen beruhen(viertens) auch auf e<strong>in</strong>er Personalisierung politischer Fragen, da Personen besser darstellbars<strong>in</strong>d als Themen. (Vgl. Massenmedien und <strong>Politik</strong>vermittlung; S. 47–54) 230E<strong>in</strong>e aufschlußreiche empirische Untersuchung <strong>der</strong> Bedeutung symbolischen Handelns <strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>Politik</strong> hat Sarc<strong>in</strong>elli am Beispiel <strong>der</strong> Wahlkampfkommunikation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublikdurchgeführt.231Diese Analyse führte ihn u.a. zur These e<strong>in</strong>er +Symbiose* politischer undmedialer Akteure (vgl. Symbolische <strong>Politik</strong>; S. 213ff.). <strong>Politik</strong>er und Medien s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tataufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> angewiesen. Es kam deshalb, so könnte man folgern, auch zwischen dem Medienunddem <strong>Politik</strong>system zu e<strong>in</strong>er deflexiven Ko-Evolution, ganz ähnlich wie sie bereits für dasRechts- und das Wissenschaftssystem von mir behauptet wurde. Für die Publikumsöffentlichkeitist diese ko-evolutive +Symbiose* nicht immer offensichtlich. Zwar wird die parteipolitischeKonkordanz e<strong>in</strong>iger Medien vom (deutschen) Publikum klar wahrgenommen – so z.B. e<strong>in</strong>eCDU/CSU-nahe Berichterstattung durch das ZDF (vgl. Schmitt-Beck: <strong>Politik</strong>vermittlung durchMassenkommunikation; S. 171). Es überwiegt <strong>in</strong>sgesamt jedoch e<strong>in</strong>e unkritische E<strong>in</strong>stellunggegenüber <strong>der</strong> Medienberichterstattung. Dabei fiel bei empirischen Studien auf, daß Zeitungsleserhäufiger als Fernsehzuschauer Unausgewogenheiten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Darstellung bemerken. Allerd<strong>in</strong>gsdom<strong>in</strong>iert auch bei ihnen e<strong>in</strong> grundsätzlicher Glaube an die Neutralität <strong>der</strong> Presse – unddies <strong>in</strong> Ost und West <strong>in</strong> ähnlichem Ausmaß (siehe Tab. 10).Die Symbiose von Medien und <strong>Politik</strong> bleibt also im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Publikums-Öffentlichkeitweitgehend verdeckt. Schließlich <strong>in</strong>szenieren sich die Medien auch selbst gerne als vierte,die <strong>Politik</strong> kontrollierende Gewalt, die über Mißstände <strong>in</strong>formiert und politische Skandaleaufdeckt. Damit ersche<strong>in</strong>en sie dem Publikum, o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>em großen Teil, als kritischeInstanz. Doch wie Richard Münch klar herausgearbeitet hat: Selbst die Aufdeckung e<strong>in</strong>esSkandals ist ke<strong>in</strong> Bruch mit dem System – im Gegenteil: Skandale haben als gesellschaftliches


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 175Tabelle 10: Wahrgenommene Bevorzugung von Parteien <strong>in</strong> Tageszeitungen durch WählerPartei Ost WestCDU/CSU 10% 22%FDP 1% –SPD 4% 10%Grüne/B90 1% –PDS 2% –Verschiedene Parteien 6% 5%ke<strong>in</strong>e Partei 78% 61%Weiß nicht – 2%Quelle: Schmitt-Beck: <strong>Politik</strong>vermittlung durch Massenkommunikation; Tab. 3, S. 171Ritual e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>igende Wirkung und festigen nur die immanente Wert- und Normenstruktur(vgl. Dialektik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft; S. 89–95).Diese Argumentationsl<strong>in</strong>ie wi<strong>der</strong>spricht allerd<strong>in</strong>gs offensichtlich <strong>der</strong> e<strong>in</strong>gangs (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>evon Luhmann herausgestellten) kritischen Tendenz des +Mediums* Öffentlichkeit (siehe S.157) bzw. ihrer (von Habermas gesehenen) Sensibilität für die Wahrnehmung und Identifizierungvon Problemlagen (siehe S. 158). Das kritische Potential, das auch me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach<strong>der</strong> Öffentlichkeit <strong>in</strong>newohnt, wird allerd<strong>in</strong>gs durch die gegebene, stark hierarchische Strukturan se<strong>in</strong>er Entfaltung geh<strong>in</strong><strong>der</strong>t. Denn durch das Zuschauen am Bildschirm, durch die Lektürevon Zeitungen, allgeme<strong>in</strong>: durch die <strong>in</strong> den Massenmedien existierende Beschränkung aufKonsumption wird die faktische Hierarchie praxologisch ver<strong>in</strong>nerlicht. Das heißt nicht notwendig,daß politisches Interesse dadurch gänzlich elim<strong>in</strong>iert würde, wie auch empirische Studienzeigen (siehe nochmals Anmerkung 228). Aber es verfestigt sich tendenziell e<strong>in</strong> systemkonformesRollenverständnis, welches das Publikum auf (s)e<strong>in</strong>e passive Rolle +tra<strong>in</strong>iert*. Die Hierarchisierung<strong>in</strong> Akteure und Publikum wird mit <strong>der</strong> Praxis dieser Hierarchie selbstverständlich und bleibtunh<strong>in</strong>terfragt. Aber betrachten wir die bestehende Hierarchisierung etwas genauer:Auf <strong>der</strong> Akteursseite stehen – bezogen auf die politische (Teil-)Öffentlichkeit – ganz offensichtlichdie Repräsentanten des <strong>Politik</strong>systems. Aber auch die Angehörigen des Mediensystems müssenzu den Akteuren gezählt werden. Denn die Medien s<strong>in</strong>d nicht nur Medien, nicht bloße Mittlerim öffentlichen Kommunikationsprozeß, son<strong>der</strong>n ihre Vertreter s<strong>in</strong>d, wie dargestellt, als +AgendaSetter* (siehe S. 172) und +Gate Keeper* (siehe Anmerkung 223) wichtige (Mit-)Akteure. Sie


176 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEentscheiden gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> letztgenannten Funktion über das Maß an medialer Aufmerksamkeit,das politische Akteure erhalten. Nicht je<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er kann sich schließlich <strong>in</strong> gleichem Umfang<strong>der</strong> öffentlichen Wahrnehmung gewiß se<strong>in</strong>. Die Medien-Zuwendung ist u.a. abhängig von<strong>der</strong> offiziellen Position und hierarchischen Stellung im <strong>Politik</strong>system, den persönlichen Beziehungenzu Medienvertretern und den f<strong>in</strong>anziellen Ressourcen (denn Öffentlichkeit <strong>in</strong> Formvon Sendezeit o<strong>der</strong> Zeitungsspalten läßt sich auch kaufen). An<strong>der</strong>erseits ist für die <strong>Politik</strong>ernicht je<strong>der</strong> Journalist gleich wichtig. Ob e<strong>in</strong>e/e<strong>in</strong>er z.B. für e<strong>in</strong> bekanntes Blatt schreibt o<strong>der</strong>für e<strong>in</strong>e unbedeutende Regionalzeitung macht e<strong>in</strong>en gewaltigen Unterschied, wenn nache<strong>in</strong>em Interview-Term<strong>in</strong> gefragt wird. Viele Parlamentarier pflegen zudem +Freundschaften*mit ausgesuchten Journalisten, denen sie auch schon mal e<strong>in</strong>e +vertrauliche* Information zukommenlassen (vgl. hierzu z.B. Buchste<strong>in</strong>er: Wir bedanken uns für dieses Gespräch).Auf <strong>der</strong> Seite des Publikums lassen sich nun, wenn man Bernhard Peters folgt, Repräsentanten,Advokaten, Experten und Intellektuelle vom +gewöhnlichen* Publikum unterscheiden. BestimmtePersonen können nämlich e<strong>in</strong>e repräsentative Sprecherrolle für Gruppierungen <strong>in</strong>nerhalbdes Publikums durch allgeme<strong>in</strong>e Zustimmung erlangen o<strong>der</strong> diese (auch z.B. als Pressesprechere<strong>in</strong>er Organisation) ganz +offiziell* <strong>in</strong>nehaben. Advokaten machen sich <strong>in</strong> ähnlicher Weise,doch eigenmächtig, zum Anwalt und Sprecher von marg<strong>in</strong>alisierten Teilen des Publikums(wie beispielsweise von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten o<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>n). Experten und Intellektuelle repräsentiereno<strong>der</strong> +verteidigen* dagegen nicht bestimmte Publikumsgruppierungen, son<strong>der</strong>n geben professionelleGutachten ab232bzw. äußern Me<strong>in</strong>ungen, die aufgrund ihres Bekanntheitsgrads undihrer +Autorität* beson<strong>der</strong>es Gewicht haben. (Vgl. Der S<strong>in</strong>n von Öffentlichkeit; 56ff.)Mit den genannten Rollen des Repräsentanten, Advokaten, Experten und Intellektuellen versuchtPeters – neben dem H<strong>in</strong>weis auf die Formierung von spezifischen Teilöffentlichkeiten – e<strong>in</strong>eDifferenzierung und Stratifikation <strong>in</strong>nerhalb des Publikums plausibel zu machen. Tatsächlichhandelt es sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach bei diesen +beson<strong>der</strong>en* Publikumsrollen jedoch eherum dezentrale, sekundäre Akteursrollen. Wenn man <strong>in</strong>nerhalb des Publikums auf hierarchischeDifferenzierungen aufmerksam machen will, so ist es aus me<strong>in</strong>er Sicht naheliegen<strong>der</strong>, nach<strong>der</strong> Bedeutung von bestimmten Publikumssegmenten für die Akteure zu fragen, d.h. zu fragen,wie wichtig ihnen bestimmten Personen(gruppen) als Adressaten für ihre Botschaften s<strong>in</strong>d.Im Wahlkampf zum Beispiel zählt nur das stimmberechtigte +Wählervolk* – Jugendliche o<strong>der</strong>Auslän<strong>der</strong>, die ke<strong>in</strong> Stimmrecht haben, s<strong>in</strong>d nur sekundäres Publikum. Man kann also von


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 177e<strong>in</strong>er doppelten Hierarchisierung <strong>der</strong> Öffentlichkeit sprechen: Erstens besteht die grundsätzlicheHierarchie zwischen Akteuren und Publikum. Zweites gibt es die Hierarchie zwischen primärenund sekundären Akteuren und primärem und sekundärem Publikum, d.h. auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seitestehen die politischen Stars und die als Me<strong>in</strong>ungs-Multiplikatoren beson<strong>der</strong>s geschätztenMitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> +Informationselite*, während auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite +H<strong>in</strong>terbänkler* und politischMarg<strong>in</strong>alisierte vom Sche<strong>in</strong>werferlicht nur gestreift werden bzw. nicht e<strong>in</strong>mal als Adressatenvon Botschaften <strong>in</strong>teressieren.• Die diffuse, fragmentisierte und <strong>in</strong>teraktive Öffentlichkeit <strong>der</strong> multimedialen Kommunikations-und Wissensgesellschaft: Die bisher beschriebenen Hierarchisierungen beschränktensich auf den Zugang zum öffentlichen Raum und die +Bedeutung* von Akteuren und Publikumssegmenten.Mit <strong>der</strong> Nennung <strong>der</strong> Rolle des Experten ist jedoch auch die Relevanz <strong>der</strong> Wissensdimensionfür Hierarchisierungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit angedeutet worden. Experten erhaltenihre exponierte öffentliche Rolle als Gutachter schließlich aufgrund <strong>der</strong> Annahme zugewiesen,daß sie über e<strong>in</strong> spezifisches, im öffentlichen Diskurs (nach)gefragtes, jedoch knappes (Fach)-Wissen verfügen. Und Experten stehen auch nicht e<strong>in</strong>em gleich gebildeten und sich bildendenPublikum gegenüber. Es ist e<strong>in</strong>e Informationshierarchisierung durch unterschiedliches Vorwissenund Informationsnutzung gegeben, wobei sich beide Faktoren, wenn man <strong>der</strong> sog. +Knowledge-Gap-These* folgen will, sogar tendenziell gegenseitig verstärken (vgl. Tichenor/Donohue/Olien:Mass Media Flows and Differential Growth <strong>in</strong> Knowledge).In <strong>der</strong> durch den +stetigen* (o<strong>der</strong> vielmehr exponentiellen) Anstieg <strong>der</strong> Information gekennzeichnetenKommunikations- und Wissengesellschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir uns aktuell bef<strong>in</strong>den bzw. diesich zum<strong>in</strong>dest doch abzeichnet, wäre demgemäß e<strong>in</strong>e noch stärkere (Wissens-)Hierarchisierung<strong>in</strong>nerhalb des Publikums zu erwarten als sie die <strong>in</strong>dustrielle Massengesellschaft prägte. MichaelJäckel verweist jedoch <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf empirische Studien, die eher konstantgebliebene Wissensabstände vermuten lassen (vgl. Auf dem Weg <strong>in</strong> die Informationsgesellschaft;S. 20). In Übertragung von Ulrich Becks These zur Transformation <strong>der</strong> Schichtungsverhältnissedurch den ökonomischen +Fahrstuhleffekt* (siehe nochmals S. XXIII) kann man me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ungnach aber von e<strong>in</strong>em ›<strong>in</strong>formativen‹ Fahrstuhleffekt sprechen: Wir alle nehmen (gezwungenermaßen)immer mehr Informationen auf, und so werden die Ungleichheitsverhältnisse imWissen allgeme<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong> höheres Niveau transponiert – allerd<strong>in</strong>gs mit <strong>der</strong> gleichzeitigen Folge


178 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEe<strong>in</strong>er durch den Zwang zur Selektion bewirkten Individualisierung <strong>der</strong> Informationsmusterund Medienkonsumstile, die wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>e Diffusion und Fragmentisierung <strong>der</strong> Öffentlichkeitbewirkt.Denn selbst das ungleich höhere allgeme<strong>in</strong>e Informationsaufnahmeniveau reicht nicht aus,die gestiegene Informationsdichte und -breite zu bewältigen – weshalb für Neil <strong>Post</strong>man nunmehrnicht nur gilt, daß wir uns zu Tode amüsieren.233Vielmehr gelangt er angesichts <strong>der</strong> erdrücken-den Informationsfülle, die uns die Medien +zumuten*, zum Schluß: +Wir <strong>in</strong>formieren unszu Tode* (1992). Etwas weniger übertreibend spricht auch Jäckel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em oben zitiertenArtikel – unter Verweis auf amerikanische und japanische Daten sowie e<strong>in</strong>e UntersuchungWerner Kroeber-Riels – von e<strong>in</strong>em +deutlichen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>klaffen von Informationsangebotund Informationsnutzung* (ebd.; S. 13). Letzterer kam für Deutschland zu dem Ergebnis,daß <strong>der</strong> Informationsüberschuß, d.h. die von den Rezipienten ignorierte Information, je nachMedium zwischen 91,7% (Zeitungen) und 99,4% (Rundfunk) liegt (vgl. Informationsüberlastungdurch Massenmedien und Werbung <strong>in</strong> Deutschland; S. 259). Im Fall des Internets, das lei<strong>der</strong>nicht berücksichtigt wurde, ist das Mißverhältnis zwischen angebotener und genutzter Informationsicher sogar noch weitaus drastischer.Je mehr Information aber angeboten wird, desto +härter*, so läßt sich nun vermuten, müssendie Selektionskriterien se<strong>in</strong>, nach denen die Informationsangebote ausgewählt werden. Wieschon oben angedeutet, entstehen so zwangsläufig fragmentisierte Teilöffentlichkeiten, dieimmer weiter zerfallen. E<strong>in</strong> wichtiger Zwischenschritt bei dieser Entwicklung war die Entstehungvon verschiedensten Spartenkanälen im Fernsehen. Mit <strong>der</strong> Aufsplittung des Programms erfolgtee<strong>in</strong>e (noch nicht abgeschlossene) Aufsplitterung <strong>der</strong> Öffentlichkeit – trotz <strong>der</strong> von Marc<strong>in</strong>kowskiherausgestellten relativen Konformität <strong>der</strong> (Unterhaltungs-)Programme sowie <strong>der</strong> <strong>in</strong> Deutschlandnoch immer weitgehend <strong>in</strong>takten Institution +Tagesschau*. Neue technische Entwicklungenwie +Video on Demand* o<strong>der</strong> +<strong>in</strong>teraktives Fernsehen* werden schließlich zwangsläufig zurSprengung <strong>der</strong> +schematischen* Programmstruktur des konventionellen Fernsehens führen,und schon heute kann man sich mittels entsprechen<strong>der</strong> Internet-Dienste e<strong>in</strong>e (elektronische)+Zeitung* ganz nach <strong>in</strong>dividuellen Vorlieben zusammenstellen (lassen). Nicholas Negropontespricht angesichts <strong>der</strong>artiger Entwicklungen und <strong>der</strong> drohenden Normalität e<strong>in</strong>es +E<strong>in</strong>personenpublikums*von e<strong>in</strong>er Individualisierung <strong>der</strong> Medien im +<strong>Post</strong><strong>in</strong>formationszeitalter* (vgl. Totaldigital; S. 201ff.).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 179Öffentlichkeit als Kollektivzusammenhang wird <strong>in</strong>folge ihrer Atomisierung, ihrer Auflösung<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>zelte Sphären immer diffuser, verliert an Trennschärfe, da immer unklarer wird, wendie durch die Medien veröffentlichten Botschaften tatsächlich noch erreichen. Es handeltsich um e<strong>in</strong>e durch Informationsüberflutung ausgelöste, sich nach <strong>in</strong>nen drehende medialeIndividualisierungsspirale, die Öffentlichkeit auf e<strong>in</strong>en verwischten, imag<strong>in</strong>ären Punkt im Nichts<strong>der</strong> virtuellen Welten zusammenschrumpfen läßt. So läuft mit <strong>der</strong> digitalen Revolution auch<strong>der</strong> +altl<strong>in</strong>ke* Kampf um die Herstellung e<strong>in</strong>er Gegenöffentlichkeit potentiell <strong>in</strong>s Leere – jedenfallswenn man sich dem kritischen Resümee aus e<strong>in</strong>em Papier <strong>der</strong> +Agentur Bilwet*234anschließt.Denn die neuen Medien +schaffen nicht länger Massen und Öffentlichkeiten* (The DigitalSociety and Its Enemies; S. 366).Der von John Fiske vorgedachte und nachgezeichnete +Technikkampf* von M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten 235mittels <strong>der</strong> Nutzung <strong>der</strong> politisch mobilisierenden Ressourcen von Audio- und Videotechnikenzur Durchsetzung ihrer ansonsten aus dem öffentlichen Bewußtse<strong>in</strong> verdrängten Interessen(vgl. Media Matters; Kap. 5) steht deshalb vor dem Problem, daß er e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Ablösung bef<strong>in</strong>dlichesModell medialer Massenöffentlichkeit voraussetzt. Auch wenn <strong>der</strong> von Fiske u.a. angeführteFall des Rodney K<strong>in</strong>g236zeigt, daß Video(low)tech sich tatsächlich zur Mobilisierung e<strong>in</strong>erGegenöffentlichkeit nutzen läßt (vgl. ebd.; S. 126ff.), än<strong>der</strong>t dies nichts an dem Umstand,daß <strong>der</strong> von ihm propagierte +technostruggle* <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich abzeichnenden neuen Medienlandschaftwohl zum<strong>in</strong>dest an<strong>der</strong>e Formen annehmen muß.Die Gleichzeitigkeit des Erlebens, die das Fernsehen e<strong>in</strong>st so bequem für die Zuschauer aufdem heimischen Sofa wie für die politischen Akteure erzeugte, wird jedenfalls durch diefortschreitenden Fragmentisierungsprozesse bald e<strong>in</strong> Ende haben und auch an<strong>der</strong>e Mobilisierungsmechanismenfür die Formierung von Gegenöffentlichkeiten erfor<strong>der</strong>n als aufrüttelnde Fernsehbzw.Videobil<strong>der</strong>. Wir bef<strong>in</strong>den uns, um mit de Kerckhove zu sprechen (siehe auch nochmalsS. 171), +Jenseits des globalen Dorfes*. Was uns <strong>in</strong> diesem Jenseits, das vielleicht das Endedes panoptischen Systems markiert (vgl. Baudrillard: Agonie des Realen; S. 47ff.), erwartet,kann euphorisch bis kritisch <strong>in</strong>terpretiert werden (siehe unten). De Kerckhove selbst ist unsicher,was aus den sich abzeichnenden Entwicklungen, <strong>der</strong> sich ergebenden Verb<strong>in</strong>dung von privatemund öffentlichem Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er reziproken Netz-Struktur, politisch zu folgern ist. Nure<strong>in</strong>es steht für ihn fest: Die immer rascher sich ausbreitenden Netze s<strong>in</strong>d Vorboten e<strong>in</strong>ergründlich verän<strong>der</strong>ten politischen Landschaft, und +gerade als wir dachten, wir hätten sie


180 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEganz gut <strong>in</strong> den Griff bekommen, fängt die Wirklichkeit wie<strong>der</strong> an sich zu verän<strong>der</strong>n* (S.146). 237Für Alw<strong>in</strong> Toffler, den selbsternannten Propheten <strong>der</strong> neuen Technologien, ist die Richtung<strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung h<strong>in</strong>gegen klar. Nach <strong>der</strong> agrarischen Revolution, durch die Umstellung vonnomadisieren<strong>der</strong> Viehzucht auf seßhaften Ackerbau, und <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Revolution, erlebenwir momentan e<strong>in</strong>e +dritte Welle* radikalen Wandels, die nicht nur angeblich die ökonomischeBasis auf e<strong>in</strong>e Ökologie- und sozialverträgliche Produktionsweise umstellt (vgl. Die dritte Welle;S. 24ff. sowie Kap. 12), son<strong>der</strong>n die auch im politischen Bereich e<strong>in</strong>e rosige Zukunft <strong>in</strong> Aussichtstellt (vgl. Creat<strong>in</strong>g a New Civilization; S. 82). Denn die neuen Technologien versprechendurch ihre demokratischen Potentiale gewissermaßen e<strong>in</strong>e +elektronische Inklusion*, e<strong>in</strong>ewachsende Berücksichtigung von M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten sowie die Entstehung e<strong>in</strong>er semidirekten Demokratie(vgl. ebd.; S. 95ff.). Ganz ähnlich argumentiert auch Lawrence Grossman: Dieser siehtmit <strong>der</strong> elektronischen Republik <strong>der</strong> Zukunft e<strong>in</strong>en +politischen Hybriden* entstehen, <strong>der</strong>Elemente <strong>der</strong> direkten Demokratie des griechischen Stadtstaats mit Elementen <strong>der</strong> repräsentativenMassendemokratie verb<strong>in</strong>det (vgl. The Electronic Republic; S. 4 sowie S. 46ff.). In diesemKontext entwickelt Grossman auch die Cyber-Utopie e<strong>in</strong>er +Keypad Demokratie*:+People not only will be able to vote on election day by telecomputer […] By push<strong>in</strong>g a button, typ<strong>in</strong>gon-l<strong>in</strong>e, or talk<strong>in</strong>g to a computer, they will be able to tell their president, senators, members of Congress,and local lea<strong>der</strong>s what they want them to do and <strong>in</strong> what priority or<strong>der</strong>.* (Ebd.; S. 149)Selbst +echte* Plebiszite ließen sich auf elektronischen Weg schnell und e<strong>in</strong>fach durchführen(vgl. ebd.; S. 153) – womit e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> bisherigen Haupte<strong>in</strong>wände gegen mehr basisdemokratischeElemente entfiele. Grossman nennt aber auch e<strong>in</strong>ige potentielle Gefahren für die elektronischeRepublik – z.B. durch weitere Konzentrationsprozesse <strong>in</strong> <strong>der</strong> Netz- und Medienlandschaftsowie durch die Vere<strong>in</strong>nahmung <strong>der</strong> elektronischen öffentlichen Räume durch Interessenpolitik(vgl. ebd.; Kap. 8). Diese Gefahren könnten nach ihm allerd<strong>in</strong>gs durch e<strong>in</strong>e (staatliche) Medien-Reform, die <strong>in</strong>stitutionelle Absicherungen gegen die Entstehung von Monopolen enthält unde<strong>in</strong>en freien Zugang für alle Bürger ermöglicht, vermieden werden (vgl. ebd.; Kap. 9).Deutlich kritischer als Grossman und vor allem Toffler ist Florian Rötzer <strong>der</strong> neuen Medienweltgegenüber e<strong>in</strong>gestellt, die vielfach Hilflosigkeit und Vere<strong>in</strong>zelungserfahrungen produziert undvor allem zum faktischen Verschw<strong>in</strong>den des öffentlichen Raumes <strong>in</strong> <strong>der</strong> virtuellen Welt <strong>der</strong>


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 181+Telepolis* führen könnte (vgl. Telepolis; S. 211ff.). Trotzdem betont auch Rötzer das <strong>in</strong>teraktiveund reziproke Moment <strong>der</strong> neuen Medien:+Es gibt <strong>in</strong> vielen Bereichen […] e<strong>in</strong>en Sog, den distanzierten Zuschauer und Zuhörer immer weiter <strong>in</strong>das mediale Geschehen, <strong>in</strong> die Medienwirklichkeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuziehen, was letztlich heißt, daß <strong>der</strong> Benutzernicht mehr nur Abnehmer, Rezipient und Konsument e<strong>in</strong>es massenmedialen Produkts ist, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>das System als aktives und vor allem <strong>in</strong>dividuiertes Element <strong>in</strong>tegriert ist.* (Interaktion; S. 126)Alle<strong>in</strong>e daraus folgt für die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong> radikaler Wandel <strong>der</strong> Verhältnisse, <strong>der</strong> von ihr bisherwe<strong>der</strong> begriffen, geschweige denn durch adäquate Anpassungen gespiegelt worden wäre.Denn durch die <strong>in</strong>teraktive Struktur <strong>der</strong> neuen Medien (und natürlich die oben angesprochenenFragmentisierungsprozesse) läßt sich <strong>Politik</strong> nicht mehr als Massenereignis für e<strong>in</strong> beobachtendesPublikum <strong>in</strong>szenieren, da sich mit Interaktivität die scharfe Trennung von Akteuren und Publikumaufhebt. War das symbolische Medium des Fernsehens geradezu ideal geeignet für die symbolischen<strong>Politik</strong><strong>in</strong>szenierungen des <strong>in</strong>dustriellen Massenzeitalters, so verlangen die neuen<strong>in</strong>teraktiven Medien <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen +zweiten Mo<strong>der</strong>ne* (Beck) nach <strong>in</strong>teraktiven <strong>Politik</strong>darstellungenund -formen, die noch nicht gefunden wurden.Natürlich werden die neuen Medien das Fernsehen nicht völlig verdrängen. Die Durchsetzung<strong>der</strong> Fernsehtechnologie hat schließlich auch nicht zum Verschw<strong>in</strong>den <strong>der</strong> Zeitungen, son<strong>der</strong>nnur zu ihrer schw<strong>in</strong>denden Relevanz als Informationsquellen und Me<strong>in</strong>ungsbildner geführt.Ebenso hat die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> die Entwicklung auch nicht völlig verschlafen. Parteien,M<strong>in</strong>isterien, staatliche Institutionen und Organisationen etc. haben heute z.B. zumeist bereitse<strong>in</strong>e +Homepage* im Internet. Diese Seiten werden sogar e<strong>in</strong>igermaßen häufig von Interessentenaufgerufen. Nur ist man eben darauf angewiesen, daß die digitalen Räume +freiwillig*, auseigenem Antrieb heraus aufgesucht werden. Der <strong>in</strong>vasive Charakter <strong>der</strong> Medien nimmt damitab und <strong>der</strong> passive, (politisch) un<strong>in</strong>teressierte Teil <strong>der</strong> Bevölkerung wird durch die politischenNetzangebote (noch) schwerer o<strong>der</strong> gar nicht mehr erreicht. Zudem ist es bisher mit <strong>der</strong> tatsächlichenInteraktivität dieser Angebote meist nicht weit her, und es f<strong>in</strong>det (an<strong>der</strong>s als z.B.<strong>in</strong> den eher anarchischen News-Foren) auch kaum Diskussion statt. Die von Institutionenund Organisationen <strong>in</strong>s Netz gestellten Seiten beschränken sich überwiegend auf Informationund (Selbst-)Darstellung. Sie erzeugen also ke<strong>in</strong>e (aktive) politische Öffentlichkeit, son<strong>der</strong>nf<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressierte Öffentlichkeit vor, die die Informationsangebote nutzt.


182 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEIm Gegensatz dazu haben NGOs und Aktivisten mit <strong>der</strong> Versendung von Kettenbriefen,+Mailbomben*238und <strong>der</strong> Informationsverbreitung via Mail<strong>in</strong>g-Listen etc. immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>igeMöglichkeiten gefunden, politischen Protest durch das Netzwerk des Internets zu mobilisieren.Interessant ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch die Cyberpunk-Bewegung, die im Kampf fürtotale Informationsfreiheit und gegen das Establishment zu noch viel rabiateren Methodengreift, z.B. <strong>in</strong> Regierungscomputer +e<strong>in</strong>bricht*, geheime Informationen veröffentlicht o<strong>der</strong>Netze von Unternehmen mit Computer-Viren <strong>in</strong>fiziert. Die Maximen <strong>der</strong> Cyberpunk-Bewegungnach +Mondo 2000*239(e<strong>in</strong>er elektronischen Cyberpunk-Zeitschrift) lauten:• Information will frei se<strong>in</strong>• Der Zugang zu Computern und zu allem, was dich etwas darüber lehrt, wie die Weltfunktioniert, sollte unbegrenzt und total se<strong>in</strong>• Vergiß niemals den Bezug zur Praxis• Mißtraue <strong>der</strong> Autorität• Do it yourself• Bekämpfe die Macht• Füttere Rauschen zurück <strong>in</strong>s System• Surfe auf <strong>der</strong> SchneideVivian Sobchak, auf <strong>der</strong>en Darstellung ich mich oben bezogen habe, steht diesem Cyberpunk-Anarchismus jedoch kritisch gegenüber. Sie will <strong>in</strong> den zitierten Pr<strong>in</strong>zipien e<strong>in</strong>e libertäre Grundhaltungerkennen und befürchtet e<strong>in</strong>e Privatisierung des elektronischen öffentlichen Raumesdurch e<strong>in</strong>e entpolitisierte Ideologie <strong>der</strong> freien Information, +was sowohl zu <strong>der</strong> Struktur e<strong>in</strong>esanarchistischen Individualismus als auch zu den Strukturen e<strong>in</strong>es korporativen Kapitalismuspaßt* (Demokratisches ›Franchise‹ und die elektronische Grenze; S. 334).240Aber bei allerberechtigter Kritik am vielleicht zuallererst e<strong>in</strong> wenig naiv zu nennenden Cyberpunk-Aktivismus– Sobchak verkennt me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach das subversive, subpolitische Potential, das durchaus<strong>in</strong> den neuen Medientechnologien steckt und das von den Cyberpunks für ihre Ziele trickreichgenutzt wird. Mit dem sich abzeichnenden Verschw<strong>in</strong>den <strong>der</strong> lokal bzw. national zentriertenMassenöffentlichkeit, eröffnen sich neue Möglichkeiten für dezentrierte globale Netzwerkesubpolitischer Bewegungen, die sich durch Nutzung technologischer +Tunnel* zu e<strong>in</strong>flußreichenSuböffentlichkeiten formieren und aufschaukeln können. Der von Fiske propagierte +techno-


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 183struggle* (siehe oben) muß sich also <strong>der</strong> neuen Möglichkeiten bedienen lernen, um nichttechnisch zu +veralten* und <strong>in</strong>s Leere zu laufen. Wie auch immer man aber die subpolitischenPotentiale <strong>der</strong> neuen Medien betrachten mag – e<strong>in</strong>es gilt mit Sicherheit: +Information technologyis highly political.* (Media Matters; S. 219)Wenn man auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> dargestellten Positionen und Entwicklungen nun e<strong>in</strong> Resümeeziehen sollte, so müßte man auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite durch die stattf<strong>in</strong>dende Transformation desMediensystems e<strong>in</strong>e Fragmentisierung und Diffusion von Öffentlichkeit konstatieren. Auf <strong>der</strong>an<strong>der</strong>en Seite ergäbe sich aber auch e<strong>in</strong>e neue Reziprozität und Interaktivität. Beides wirftProbleme für die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> auf, <strong>der</strong>en Bühne schrumpft, während sie vor<strong>in</strong>teraktive Herausfor<strong>der</strong>ungen gestellt wird. Die Chancen, die me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach damitgleichzeitig für Subpolitik entstehen, wären mit <strong>der</strong> grundsätzlichen Gefahr verbunden, daßsich Öffentlichkeit als politische Handlungssphäre <strong>in</strong> den virtuellen Landschaften des Cyberspaceauflöst, den Bezug zum konkreten Raum und Handeln verliert (vgl. hierzu auch Thu Nguyen/-Alexan<strong>der</strong>: The Com<strong>in</strong>g of Cyberspacetime and the End of the Polity). 241Gerade die (entd<strong>in</strong>glichte) Immanenz <strong>der</strong> (neuen) Medien, verweist jedoch, um mit Kamperzu sprechen, auf die gleichsam +transzendentale Körperlichkeit* des Menschen (vgl. Medienimmanenzund transzendentale Körperlichkeit). Ganz ähnlich setzt auch Theo Roos <strong>der</strong> flachenWelt <strong>der</strong> Bildschirme, dem +digitalen Sche<strong>in</strong>* (Rötzer 1991),242die wi<strong>der</strong>ständige +Rauheitdes Realen* entgegen. Die D<strong>in</strong>glichkeit, die Materialität <strong>der</strong> Welt, so könnte man aus e<strong>in</strong>er+materialistischen* Position heraus argumentieren, stellt sich <strong>der</strong> simulierten +Hyperrealität*<strong>der</strong> Medien (Baudrillard) entgegen, und die virtuellen neuen Welten prallen an <strong>der</strong> Schnittstellezwischen Mensch und Masch<strong>in</strong>e +automatisch* auf das alte animal sociale mit vermutlichnoch immer denselben Wünschen und Bedürfnissen wie ehedem. Zur <strong>der</strong>en Verwirklichungkann die neue Medienwelt nur als Medium beitragen. Die Netze müssen also zwischen den+realen* Welten vermitteln, müssen diese vernetzen, wenn sie für die Individuen und alsRäume für politische Öffentlichkeit(en) wirkliche Relevanz erlangen sollen.E<strong>in</strong> oben schon angedeutetes Problem <strong>in</strong> diesem Zusammenhang ist – neben <strong>der</strong> ungleichenVerteilung <strong>der</strong> technologischen Ressourcen, die bestimmte Personen(gruppen) und Räumevom Zugang zu den neuen Medienwelten ausschließt –, daß auch dem wichtigsten neuenMedium, dem (ursprünglich im militärischen Kontext entwickelten und dann vor allem imuniversitären Kontext ausgebreiteten) Internet, die Kommerzialisierung droht.243Mit <strong>der</strong> Schaffung


184 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdes graphisch orientierten +World-Wide-Web* (1990) und se<strong>in</strong>en Multimedia-Möglichkeitenwurde nämlich das vormals eher +elitäre*, weil kryptische und re<strong>in</strong> textbasierte Internet erstmalsnicht nur attraktiv für die Masse <strong>der</strong> Computernutzer, son<strong>der</strong>n auch geeignet zur Präsentationvon Produkten, für Werbung und für Handel (vgl. z.B. Sterne: World Wide Web Market<strong>in</strong>g).Wer die Schlüsselsoftware zur Erschließung <strong>der</strong> sich langsam öffnenden Onl<strong>in</strong>e-Märkte offeriert,kann sich deshalb <strong>in</strong> Zukunft (wahrsche<strong>in</strong>lich) auf großartige Geschäfte freuen.244Nur so istz.B. <strong>der</strong> (auch gerichtlich ausgetragene) +Browser-Krieg* zwischen <strong>der</strong> jungen, <strong>in</strong>novativenFirma +Netscape* und dem die neue Entwicklung be<strong>in</strong>ahe verschlafen habenden Software-Hegemon +Microsoft* zu verstehen (vgl. hierzu z.B. Kizer: The Browser War).Ob mit dieser drohenden Kommerzialisierung des Netzes auch se<strong>in</strong> (sub)politisches Potentialschw<strong>in</strong>det, o<strong>der</strong> ob sich neben <strong>der</strong> kommerziellen Netzwelt e<strong>in</strong>e Nische für +freie* politischeÖffentlichkeiten erhält, bleibt abzuwarten. Der Wandel im Mediensystem wird jedoch, soo<strong>der</strong> so, Auswirkungen auf den Charakter des Öffentlichkeitssystems zeigen, dem sich die<strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> weit mehr als bisher zu stellen haben wird – nicht nur, wie aktuell,mit dem simplen Versuch <strong>der</strong> Ausweitung <strong>der</strong> staatlichen Kontrolle auf die Netz<strong>in</strong>halte (vgl.zu letzterem Aspekt z.B. Bredekamp: Leviathan und Internet). 2452.5 WERTEWANDEL, INDIVIDUALISIERUNG UND POLITISCHE KULTUR(UM)BRÜCHE(KULTUR UND SOZIALSTRUKTUR)Das Öffentlichkeitssystem, dessen Wandlungen bezogen auf das <strong>Politik</strong>system im vorangegangenenAbschnitt verfolgt wurden, kann e<strong>in</strong>erseits zum politischen Mesosystem gerechnet werden,da das für die Herstellung von Öffentlichkeit <strong>in</strong> Massendemokratien erfor<strong>der</strong>liche Mediensystemnicht nur <strong>in</strong>formell, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel auch <strong>in</strong>stitutionell mit dem <strong>Politik</strong>system verflochtenist (z.B. durch staatliche Aufsichtsbehörden). In <strong>der</strong> Bundesrepublik gibt es mit dem +öffentlichrechtlichen*Rundfunk sogar e<strong>in</strong>e weit darüber h<strong>in</strong>ausgehende <strong>in</strong>stitutionelle Überlappung,die den politischen Akteuren den Zugang zur öffentlichen Bühne garantiert. Versteht manunter Öffentlichkeit dagegen primär das beobachtende Publikum, so muß man das Öffentlichkeitssystemdem Exosystem <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zuordnen – denn es gibt zwischen Beobachternund Akteuren <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Öffentlichkeit ke<strong>in</strong>e permanente <strong>in</strong>stitutionelle Brücke, son<strong>der</strong>nnur e<strong>in</strong>e praxologische Verklammerung <strong>in</strong> Form <strong>der</strong> periodischen Wahlrituale.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 185Trotzdem ist Öffentlichkeit, wie hoffentlich deutlich wurde, natürlich e<strong>in</strong>e Art Referenzsystemfür die <strong>Politik</strong>: Der Bezug zur Öffentlichkeit legitimiert und formt <strong>Politik</strong>, und im Medium<strong>der</strong> Öffentlichkeit wird diese nicht nur gespiegelt, son<strong>der</strong>n es aktualisiert sich <strong>der</strong> Bestandsozialer Normen, an dem <strong>Politik</strong> bzw. politisches Handeln gemessen wird. In dieser H<strong>in</strong>sichtist Öffentlichkeit aber auch e<strong>in</strong> Medium des kulturellen Makrosystems. Denn unter Kulturim engeren S<strong>in</strong>n möchte ich, analog zu Parsons, das (übergeordnete) Wertesystem verstehen,das für die Strukturerhaltung <strong>der</strong> Gesellschaft sorgt (siehe auch S. XXI).Werte formen also soziale Strukturen, an ihnen und um sie bildet sich das +Gesicht* e<strong>in</strong>erGesellschaft aus. Manchmal verbirgt jedoch dieses Gesicht se<strong>in</strong>e +Lebensgeschichte*, diezugrundeliegenden Prägeformen s<strong>in</strong>d verdeckt. Die formale Soziologie Simmels hat deshalbversucht, das Soziale nur über se<strong>in</strong>e formalen, nicht über se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltlichen Aspekte zu erfassen.246Alle<strong>in</strong>e durch diese spezifische wissenschaftliche Abstraktion ist für Simmel Soziologievon an<strong>der</strong>en soziale Prozesse betrachtenden Diszipl<strong>in</strong>en wie Ökonomie o<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> abgrenzbar(vgl. Soziologie; S. 6). Aber das ist e<strong>in</strong> (wenn auch bewußt) reduktionistischer Ansatz, <strong>der</strong>die Formen <strong>der</strong> Vergesellschaftung nicht auf ihre Formgebung, die manifesten wie latentenMachtstrukturen und normativen Grundmuster, zurückführen kann. Form verweist immerauf e<strong>in</strong>en Inhalt, auch wenn sie ihn verdeckt o<strong>der</strong> verschleiert.An<strong>der</strong>erseits ist – worauf Simmel abhob (vgl. ebd.; S. 5) – <strong>der</strong> Inhalt <strong>der</strong> sozialen Formennicht greifbar, wenn er sich nicht vergegenständlicht und Form annimmt. Zudem werdensoziale Inhalte häufig gerade über die Kont<strong>in</strong>uität <strong>der</strong> Form(en) tradiert (z.B. <strong>der</strong> politischeWert <strong>der</strong> +Demokratie* über den fixierten Text <strong>der</strong> Verfassung, die <strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> gegossene Institutiondes Parlaments und die oben angesprochenen Wahlrituale etc.). Zur Kultur (im weiteren S<strong>in</strong>n)gehören deshalb (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nicht-reduktionistischen Perspektive) neben dem Wertesystem (alsse<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen Dimension) auch dessen Manifestationen <strong>in</strong> materiellen, diskursiven,strukturellen und symbolischen Formen (sowie <strong>der</strong>en ästhetische Dimension).Dies deutet allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> mögliches Problem an, das auftaucht, wenn die Formen <strong>in</strong>haltsloswerden bzw. ihre E<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong> das zugrundeliegende Wertesysteme verlieren. E<strong>in</strong> solcherE<strong>in</strong>bettungsverlust ist häufig für die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als kulturelles Phänomen behauptet worden.Betrachtet man die kulturellen Formen, so ergibt sich nämlich gemäß <strong>der</strong> gängigen Interpretatione<strong>in</strong>e Zersplitterung und Auffächerung (Pluralisierung) bei <strong>der</strong> gleichzeitigen Betonung undVerselbständigung des Formaspekts (Ästhetisierung).


186 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEE<strong>in</strong>e Reihe von Bemerkungen zur postmo<strong>der</strong>nen Pluralisierung s<strong>in</strong>d schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitunggemacht worden: So wurde etwa Achille Bonito Oliva mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung diskont<strong>in</strong>uierlicherVerschiedenheit für die Kunstwerke e<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nen Trans-Avantgarde zitiert (siehe S.XLIV). Charles Jencks plädierte ganz ähnlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Architektur für e<strong>in</strong>e (radikal eklektische)Erweiterung <strong>der</strong> Formen-Sprache (siehe S. XLV), und auch He<strong>in</strong>rich Klotz befürwortete e<strong>in</strong>eBedeutungs- und Stilvielfalt (siehe S. XLVI). Beson<strong>der</strong>s aber Feyerabends Pr<strong>in</strong>zip des +anyth<strong>in</strong>ggoes* (siehe ebd.) ist zum Schlagwort für e<strong>in</strong>en +diffusen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus* (Welch) geworden,und so haben (kritische) Beobachter denn auch e<strong>in</strong>e gewisse Beliebigkeit <strong>der</strong> (post)mo<strong>der</strong>nenKultur konstatiert. Die rationalistische Metaphysik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird abgelöst durch e<strong>in</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nGam<strong>in</strong>g* (Küchler 1994). Alles löst sich auf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bunten Melange, es kommt zue<strong>in</strong>er +Pastichisierung* (Jameson) – o<strong>der</strong> wie Marshall Berman es <strong>in</strong> Anlehnung an e<strong>in</strong> Marx-Zitatformuliert hat: +All That Is Solid Melts Into Air* (1982).Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite kann die postmo<strong>der</strong>ne Vielfalt auch als bloßes Oberflächenphänomene<strong>in</strong>er entgrenzten Warenkultur gedeutet werden (und hat damit e<strong>in</strong>e durchaus +materielle*Grundlage). In <strong>der</strong> Tat weist <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus als anti-avantgardistische künstlerischeBewegung Bezüge zur Massenkultur auf, die aber schon ihrerseits ästhetisch überformt ist.Denn die +ästhetische Produktion ist [aufgrund des ökonomischen Drucks, immer neue Schübeimmer neuer Waren zu produzieren] <strong>in</strong>tegraler Bestandteil <strong>der</strong> Warenproduktion geworden*(Jameson: Zur Logik <strong>der</strong> Kultur im Spätkapitalismus; S. 48). Der Tauschwert des ästhetischenSche<strong>in</strong>s dom<strong>in</strong>iert über den Gebrauchswert (vgl. Haug: Kritik <strong>der</strong> Warenästhetik). So kommtes <strong>in</strong> unserer +Zuvielisation* (Guggenberger) zu e<strong>in</strong>er immer weiter gehenden +Ästhetisierungdes Alltagslebens* (Featherstone).247Das Ästhetische (als Ausdruck des Nichtidentischen) ersche<strong>in</strong>tdeshalb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nen Ausprägung nicht mehr als potentielle Rettung aus den rationalistischenAporien <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung wie etwa beim späten Adorno (vgl. ÄsthetischeTheorie; S. 14ff.), son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Konsumismus <strong>der</strong> +ästhetischen Gesellschaft* (Giehle)<strong>der</strong> verspielte +Populismus* <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Kunst und Architektur (als das radikal Identische)s<strong>in</strong>d die kulturellen Manifestationen e<strong>in</strong>er entfesselten, (spät)kapitalistischen Dynamik unterden Bed<strong>in</strong>gungen +flexibler Akkumulation* (Harvey).Diese kritische Sicht des +post<strong>in</strong>dustriellen* Konsumismus und des an die Massenkultur angelehnten<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus wird auch von vielen konservativen Denkern geteilt (vgl. z.B. Bell:Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus und siehe auch S. 262). In die Analyse mischt248und


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 187sich hier jedoch zumeist die Klage über e<strong>in</strong>en angeblichen Werteverfall, e<strong>in</strong>en +Verlust <strong>der</strong>Tugend* (MacIntyre 1981), <strong>der</strong> sich gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vielzahl <strong>der</strong> aktuell aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>prallendenMoralvorstellungen zeigt:+[…] <strong>der</strong> endlose und gestörte Charakter vieler mo<strong>der</strong>ner [aktueller] Moraldebatten [entsteht] durch dieVielzahl heterogener und nicht vergleichbarer Vorstellungen […] In dieser Mischung aus Begriffen f<strong>in</strong>detsich, im Kampf mit mo<strong>der</strong>nen [klassisch neuzeitlichen] Begriffen wie Nützlichkeit und Recht, e<strong>in</strong>e ganzeReihe von Tugendbegriffen […] Es fehlt allerd<strong>in</strong>gs je<strong>der</strong> klare Konsens sowohl über die Stellung <strong>der</strong> Tugendbegriffeim Verhältnis zu an<strong>der</strong>en Moralbegriffen als auch darüber, welche Dispositionen <strong>in</strong> den Katalogvon Tugenden […] aufgenommen werden sollen.* (S. 301)Die hier angeprangerte Wertepluralisierung, die <strong>der</strong> Gesellschaft ihre angeblich notwendige(konsensuelle) moralische Basis entzieht, wird häufig auch <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit Individualisierungals sozialem Des<strong>in</strong>tegrationsprozeß bzw. als sozialstrukturellem Destrukturierungs-Phänomengebracht (vgl. z.B. ebd.; S. 54f.), die damit die postmo<strong>der</strong>ne kulturelle Pluralisierung auf <strong>der</strong>Ebene <strong>der</strong> Sozialstruktur spiegelt bzw. <strong>der</strong>en sozialstrukturelles Fundament darstellt.249Dochkann nicht an<strong>der</strong>erseits gerade als Folge von Individualisierungsprozessen von e<strong>in</strong>er neuenSozialmoral auf <strong>der</strong> Grundlage postmaterieller Werte und e<strong>in</strong>er zu neuem Leben erwachten(subpolitisch transformierten) politischen Alltagskultur gesprochen werden?Individualisierung wurde bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung (<strong>in</strong> Anlehnung an van <strong>der</strong> Loo/van Reijen)als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wesentlichen Teilprozesse <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne radikalisierenden Mo<strong>der</strong>nisierungdargestellt – dort allerd<strong>in</strong>gs nicht so sehr als (sozial)struktureller Transformationsprozeß,son<strong>der</strong>n eher bezogen auf die (ambivalente) Freisetzung des Individuums aus sozialen Zwängen(siehe S. XXVI–XXX). Mo<strong>der</strong>nisierung auf struktureller Ebene wurde dagegen als sozialer Differenzierungsprozeßcharakterisiert (siehe S. XXII–XXVI). An<strong>der</strong>erseits habe ich bereits bemerkt,daß Individualisierung und Differenzierung mehr o<strong>der</strong> weniger zwei Seiten e<strong>in</strong> und <strong>der</strong>selbenMedaille darstellen (siehe S. XXVI). Demgemäß erzeugt soziale Differenzierung, die e<strong>in</strong> gewissesMaß übersteigt, geradezu zwangsläufig Individualisierungsersche<strong>in</strong>ungen. Individualisierungist deshalb auch <strong>der</strong> Ausdruck für e<strong>in</strong> bestimmtes Niveau sozialer Differenzierung. Diese Interpretation,die Individualisierung als Differenzierungs-(Sub)phänomen begreift, deckt sich zwarnicht hun<strong>der</strong>tprozentig mit Ulrich Becks Konzept, dessen Schrift +Jenseits von Stand und Klasse*(1983) den zentralen Bezugspunkt <strong>der</strong> neueren Individualisierungsdebatte – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong><strong>der</strong> Bundesrepublik – darstellt. Doch immerh<strong>in</strong> bezieht auch Beck, wie schon <strong>der</strong> Titel se<strong>in</strong>es


188 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEAufsatzes zeigt, den Individualisierungsbegriff auf e<strong>in</strong>en Wandel <strong>der</strong> Sozialstruktur. In diesemZusammenhang verweist er zunächst auf e<strong>in</strong> Paradox:+Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite weist die Struktur sozialer Ungleichheit <strong>in</strong> den entwickelten Län<strong>der</strong>n alle Attributee<strong>in</strong>er historisch-politisch genau betrachtet eigentlich überraschenden Stabilität auf […] Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>enSeite ist […] das Ungleichheitsthema […] konsequent von <strong>der</strong> Tagesordnung des Alltags, <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und<strong>der</strong> Wissenschaften verschwunden.* (S. 35f.)Beck löst diese Paradoxie auf, <strong>in</strong>dem er den Befund <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gt, daß die Stabilität <strong>der</strong>Ungleichheitsrelationen mit e<strong>in</strong>er drastischen Niveauverschiebung, was E<strong>in</strong>kommen und Bildungsstandbetrifft, e<strong>in</strong>hergegangen ist, wodurch +subkulturelle Klassenidentitäten zunehmendweggeschmolzen, ›ständisch‹ e<strong>in</strong>gefärbte Klassenlagen enttraditionalisiert und Prozesse e<strong>in</strong>erDiversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen ausgelöst wurden,die das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterlaufen und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Realitätsgehaltzunehmend <strong>in</strong> Frage stellen* (ebd.; S. 36). In <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* (1986) hat Beckdiese Individualisierung durch e<strong>in</strong>e Erhöhung des Wohlstandssockels sehr e<strong>in</strong>drücklich mitdem Begriff des +Fahrstuhleffekts* gefaßt (vgl. S. 124f.), auf den hier ja bereits verschiedentliche<strong>in</strong>gegangen wurde.Das so verbildlichte Individualisierungstheorem Becks stellt +naturgemäß* e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ungsowohl marxistischer Klassentheorie, <strong>der</strong> soziologisch lange Zeit dom<strong>in</strong>ierenden Schichtungsansätzewie auch Webers immer wie<strong>der</strong> aufgegriffener Theorie <strong>der</strong> durch Marktlagen unde<strong>in</strong>e spezifische Lebensführung geformten +sozialen Klassen* dar, die dieser <strong>in</strong> +Wirtschaftund Gesellschaft* (1921) skizziert hat (vgl. Band 1, S. 177–180).250Beck kann für se<strong>in</strong>e immernoch umstrittene These jedoch gute empirische Belege <strong>in</strong>s Feld führen. Untersuchungen zeigennicht nur e<strong>in</strong>e zunehmende Erosion des subjektiven Klassenbewußtse<strong>in</strong>s und <strong>der</strong> noch <strong>in</strong><strong>der</strong> Vorkriegszeit so klar abgrenzbaren klassischen +sozialmoralischen Milieus* (Lepsius) 251(vgl. z.B. Mooser: Auflösung <strong>der</strong> proletarischen Milieus). Statistisches Material weist für dieNachkriegsära e<strong>in</strong>e egalisierende Bildungsexpansion und e<strong>in</strong>e drastische allgeme<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>kommensverbesserungauf, die vor allem auf <strong>der</strong> unteren Stufe <strong>der</strong> +Schichtungshierarchie* zue<strong>in</strong>em qualitativen Wandel <strong>der</strong> Lebensverhältnisse führten.Die Quellen, auf die Beck sich bezieht, belegen u.a. e<strong>in</strong>en starken Anstieg höherer Bildungsabschlüsse(jedoch bei <strong>der</strong>en gleichzeitiger Entwertung), und auch <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Studienanfänger,


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 189die aus <strong>der</strong> Arbeiterschicht stammen, hat sich von 1951 (4%) bis 1982 (17,3%) mehr alsvervierfacht (vgl. Risikogesellschaft; S. 127f.). Damit verwischen zunehmend die Klassen-,Schicht- und Milieugrenzen, die zu e<strong>in</strong>em großen Teil auch durch symbolisch-kulturelle Barrierenverfestigt worden waren, und die erfolgten E<strong>in</strong>kommenssteigerungen erlauben selbst Arbeitnehmerne<strong>in</strong> Konsumverhalten auf +gehobenem* Niveau, das zur Entfaltung <strong>in</strong>dividualisierterLebensstile führt – e<strong>in</strong> Phänomen, was <strong>in</strong> den USA bereits <strong>in</strong> den 70er Jahren beschriebenwurde (vgl. Zablocki/Kanter-Moss: The Differentiation of Life-Styles). E<strong>in</strong> immer ger<strong>in</strong>gererTeil des E<strong>in</strong>kommens muß nämlich für das Lebensnotwendige aufgewendet werden. In Anlehnungan Mooser (siehe oben) bemerkt Beck:+Noch bis 1950 verschlangen Nahrung, Kleidung und Wohnung [bei Arbeitern] drei Viertel des Haushaltsbudgets,während dieser Anteil 1973 – bei e<strong>in</strong>em qualitativ erhöhten Niveau – auf 60% sank. Gleichzeitigkam es zu e<strong>in</strong>er Art ›Demokratisierung‹ von symbolischen Konsumgütern – Radio, Fernsehgerät, […] Eisschrankund das Auto […] Es reichte sogar für die Bildung persönlichen Besitzes […] Die Sparquote stieg beträchtlichvon 1–2% 1907 auf 5,6% im Jahre 1955 und verdoppelte sich noch e<strong>in</strong>mal bis zum Jahre 1974 auf 12,5%[…] Sogar das ›Traumziel‹ des Haus- und Wohnungseigentums wurde für viele erschw<strong>in</strong>glich. Warenes 1950 6% <strong>der</strong> Arbeiterhaushalte, die sich ihren Wunsch von den eigenen vier Wänden erfüllen konnten,so wuchs diese Zahl 1968 auf 32% und 1977 auf 39% an.* (Risikogesellschaft; S. 123)Allerd<strong>in</strong>gs muß gerade aufgrund neuerer Daten relativierend angemerkt werden, daß dasReale<strong>in</strong>kommen abhängig Beschäftigter seit Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublikweitgehend stagniert, so daß die E<strong>in</strong>kommenskluft <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zwischen den Selbständigen(die ihre ökonomische Position erheblich verbessern konnten) und den Arbeitnehmern tatsächlichwie<strong>der</strong> zunimmt (vgl. Welzmüller: Differenzierung und Polarisierung).252In den USA mußtenauf <strong>der</strong> Arbeitnehmerseite sogar erhebliche E<strong>in</strong>kommense<strong>in</strong>bußen h<strong>in</strong>genommen werden,so daß dort die Zahl <strong>der</strong> sog. +work<strong>in</strong>g poor* stark zugenommen hat (vgl. z.B. Swartz/Weigert:America’s Work<strong>in</strong>g Poor).253Das än<strong>der</strong>t aber nichts daran, daß <strong>der</strong> Wohlstandssockel <strong>in</strong> denmeisten +fortgeschrittenen* Gesellschaften noch immer beträchtlich ist.In den vergangenen Jahrzehnten hat also – trotz <strong>der</strong> gemachten E<strong>in</strong>schränkungen – e<strong>in</strong>dramatischer Wandel <strong>der</strong> Verhältnisse stattgefunden, und so steht Beck mit se<strong>in</strong>er Analysedenn auch ke<strong>in</strong>eswegs alle<strong>in</strong>e auf weiter Flur. Die (allerd<strong>in</strong>gs aus e<strong>in</strong>em grundsätzlichen+Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität* heraus formulierte) Rede von <strong>der</strong> +Pluralisierung <strong>der</strong> sozialenLebenswelten* (Berger/Berger/Kellner) zum Beispiel weist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ganz ähnliche Richtung,


190 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEaber auch schon Theodor Geiger und Helmuth Schelsky hatten nach dem Krieg von e<strong>in</strong>er+Klassengesellschaft im Schmelztiegel* bzw. e<strong>in</strong>er +nivellierten Mittelstandsgesellschaft* gesprochen.Aktuelle Versuche, zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> wenig Ordnung <strong>in</strong> +die neue Unübersichtlichkeit* (Habermas)zu br<strong>in</strong>gen, bemühen deshalb Begriffe wie +Subkultur* und +Lebensstil* etc. (vgl. Hradil: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>neSozialstruktur?; S. 137f.)254o<strong>der</strong> verwenden e<strong>in</strong>en aufgeweichten Schichtbegriff(vgl. z.B. Geißler: Schichten <strong>in</strong> <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft). 255Die Stärke und die Schwäche von Becks Argumentation liegt allerd<strong>in</strong>gs genau <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenzse<strong>in</strong>er Individualisierungsthese – und dar<strong>in</strong>, daß er die sozialstrukturelle Transformation <strong>der</strong>+klassischen* Industriegesellschaft auf die +Dynamik von Arbeitsmarktprozessen unter denBed<strong>in</strong>gungen wohlfahrtsstaatlicher Massendemokratie* bezieht (Jenseits von Stand und Klasse;S. 41), womit auf den immanenten Zusammenhang von ökonomischen, politischen und sozialenFaktoren h<strong>in</strong>gewiesen wird. Der demokratische Wohlfahrtsstaat, wie er sich <strong>in</strong> den fortgeschrittenenGesellschaften als politisches Modell herausgebildet hat, sorgt nämlich durch staatlicheUmverteilung für die Partizipation breiter Massen am hohen ökonomischen Niveau und sichert(z.B. durch kostenfreie Ausbildungssysteme und Studienbeihilfen) den allgeme<strong>in</strong>en Zugangzu Bildung (vgl. Risikogesellschaft; S. 127ff.). Damit ist auch für die +gerechte* Distributiondes +kulturellen Kapitals* (Bourdieu) gesorgt. Der Arbeitsmarkt wie<strong>der</strong>um erzw<strong>in</strong>gt vom e<strong>in</strong>zelnenBildungsanstrengungen, Mobilität und e<strong>in</strong>e gekonnte Selbstdarstellung – beson<strong>der</strong>s unter denaktuellen Bed<strong>in</strong>gungen +flexibel-pluraler Unterbeschäftigung* (vgl. ebd.; S. 222ff.). Selbstdie Lebens(lauf)planung hat – an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit, wo die soziale Ausgangspositionweitgehend über den Lebensweg entschied – <strong>in</strong> Eigen<strong>in</strong>itiative zu erfolgen, und die <strong>in</strong>dividuelleBiographie muß <strong>in</strong> kreativer Weise zu e<strong>in</strong>em stimmigen Bild zusammengesetzt werden, weshalbRonald Hitzler und Anne Honer von <strong>der</strong> +Bastelexistenz* (1994) gesprochen haben.Doch was ist, wenn <strong>der</strong> Wohlfahrtsstaat erodiert und <strong>der</strong> Arbeitsmarkt die Individuen, wieoben angedeutet, immer weniger <strong>in</strong> die <strong>in</strong>dividualisierte Gesellschaft <strong>in</strong>tegriert, son<strong>der</strong>n zue<strong>in</strong>em Exklusionsmechanismus gerät?256Unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen ist Individualisierung gefährdetund gefährdend, die freilich von Beck von vorne here<strong>in</strong> nicht als e<strong>in</strong>dimensionaler, son<strong>der</strong>nals ambivalenter Prozeß gedacht worden ist, <strong>der</strong> mit den Chancen, die er eröffnet, auch neueZwänge – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zur Gestaltung des eigenen Lebens – für das Individuum schafft undneben Gew<strong>in</strong>nern auch +Mo<strong>der</strong>nisierungsverlierer* wie z.B. die Langzeitarbeitslosen produziert(vgl. Risikogesellschaft; S. 143ff.).257Auf diese neuen Zwänge und die +neue Armut*, die als


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 191vorübergehendes Phänomen sogar immer mehr Menschen betrifft (vgl. Leiser<strong>in</strong>g: ZwischenVerdrängung und Dramatisierung; S. 499ff.), wird häufig mit Unmut bzw. mit e<strong>in</strong>em Gefühl<strong>der</strong> Marg<strong>in</strong>alisierung und teilweise sogar mit +des<strong>in</strong>tegrativer Gewalt* reagiert (vgl. hierzu<strong>in</strong>sb. Heitmeyer: Entsicherungen – Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse und Gewalt). 258Die Individualisierungsfrustration ist, so darf man annehmen, dann beson<strong>der</strong>s hoch, wenndie +Zumutungen* <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft bestehen bleiben, die Chancen zur Verwirklichung<strong>der</strong> mühevoll erarbeiteten Lebensentwürfe und -ziele jedoch gleichzeitig reduziertwerden. Als Katalysator für e<strong>in</strong>e solche problematische Entwicklung könnten sich <strong>in</strong> Zukunftverstärkt die ökonomischen Globalisierungsprozesse erweisen (siehe Abschnitt 2.1), die esdem Kapital ermöglichen, die wohlfahrtsstaatlichen Steuer-Klippen zu umschiffen (siehe Abschnitt3.1) und so dem Individualisierungsprozeß se<strong>in</strong>e ökonomische Basis rauben, <strong>in</strong>dem <strong>der</strong> Fahrstuhl,um <strong>in</strong> Becks Bild zu bleiben, wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>ige Etagen nach unten gefahren wird. Ausgerechnet<strong>der</strong> (natürlich auch auf kultureller Ebene greifende)259+Wandlungsmotor* Globalisierung könntealso möglicherweise zu e<strong>in</strong>em neuen Hervortreten <strong>der</strong> alten Klassenverhältnisse führen (vgl.hierzu auch Brock: Rückkehr <strong>der</strong> Klassengesellschaft?). Die <strong>in</strong>dividualisierte Gesellschaft istalso e<strong>in</strong>e historisch kont<strong>in</strong>gente Gesellschaftsformation, die auf reversible ökonomische Verhältnissegegründet ist und so nur allzu leicht (z.B. durch die angesprochenen ökonomischenGlobalisierungsprozesse) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Krise steuern kann. In diesem Fall wäre den <strong>in</strong>dividualisiertenLebensstilen als kulturellen Manifestationen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft die ökonomischeBasis weggebrochen, obwohl sie als Formen, <strong>in</strong> die die Individuen +e<strong>in</strong>gelebt* s<strong>in</strong>d, (zum<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>e Zeitlang) notwendig überdauern. Das erzeugt e<strong>in</strong>e Irrationalität und Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit<strong>der</strong> Lebensformen <strong>in</strong> bezug auf die sozio-ökonomische Lebenswirklichkeit (siehe hierzu auchAbschnitt 3.5).Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ist Individualisierung, wie oben bereits angedeutet, auch mit e<strong>in</strong>emWertewandel verbunden – <strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs nicht, wie von MacIntyre diagnostiziert, zu e<strong>in</strong>erdiffusen Wertepluralisierung führt, son<strong>der</strong>n eher als gerichteter Wandlungsprozeß verstandenwerden sollte und e<strong>in</strong>e neue +Sozialmoral des eigenen Lebens* hervortreten läßt.260Diese+bejaht, was öffentlich beklagt wird: den Durchgang des Sozialen durch das Individuelle*(Beck: Eigenes Leben; S. 166)261und gründet auf +<strong>der</strong> von <strong>in</strong>nen her erfahrenen Not undNotwendigkeit, das eigene Leben zu begrenzen, um es überhaupt s<strong>in</strong>nvoll und gestaltbarwerden zu lassen. Das ›Material‹ dieser Selbstbegrenzung und Selbstgestaltung s<strong>in</strong>d die Ansprüche


192 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEan<strong>der</strong>er […], für die ich […] das eigene Leben e<strong>in</strong>schränke, aufgebe, um auf diese Weiseim Erleben des Wi<strong>der</strong>stands des an<strong>der</strong>en das Eigene des eigenen Lebens zu erfahren undzu gestalten.* (Ebd.)Die Behauptung, daß Individualisierung zu e<strong>in</strong>er Wertediffusion o<strong>der</strong> gar e<strong>in</strong>er völligen +Entwertung*führt, beruht gemäß Beck nämlich auf zwei Mißverständnissen. Das erste Mißverständnisist das +egoistische Marktmißverständnis*, das davon ausgeht, Individualisierung als Prozeßbeziehe sich primär auf die ökonomische Entfaltung des Individuums <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er liberalistischenEllbogengesellschaft (vgl. ebd; S. 168). Das zweite Mißverständnis ist das traditionalistische+Mißverständnis <strong>der</strong> Wir-Moral*. +Hier wird fälschlich von <strong>der</strong> Ablehnung traditional und organischvorgegebener Solidaritätsformen und -normen auf die A- o<strong>der</strong> Antimoral <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisiertenGesellschaft geschlossen* (ebd.), die allerd<strong>in</strong>gs gemäß den obigen Ausführungen ja geradeauf <strong>der</strong> Selbstbegrenzung und Selbsts<strong>in</strong>ngebung des Individuums beruht. Vor diesem H<strong>in</strong>tergrundhat sich, wie bereits an an<strong>der</strong>er Stelle erläutert (siehe S. 55f.), auch e<strong>in</strong> verän<strong>der</strong>tes <strong>Politik</strong>verständnisherausgebildet, das se<strong>in</strong>e Entsprechung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wandel <strong>der</strong> politischen Kulturf<strong>in</strong>det: Das Politische wird immer weniger <strong>in</strong> den staatlichen Institutionen und politischenOrganisationen verortet, son<strong>der</strong>n wan<strong>der</strong>t <strong>in</strong> die Alltagspraxis <strong>der</strong> Subpolitik ab (vgl. auch<strong>der</strong>s.: Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; S. 154ff.).Ganz ähnliche Aussagen wie Beck trifft Anthony Giddens mit se<strong>in</strong>em ebenfalls schon dargelegtenKonzept <strong>der</strong> +life politics* (vgl. Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity; S. 209ff. und siehe hier S. 56f.).Die +lebens(weltliche)* <strong>Politik</strong>, von <strong>der</strong> Giddens spricht, zielt nämlich genau auf die Schaffungmoralisch rechtfertigbarer Lebensformen <strong>in</strong> Anbetracht <strong>der</strong> globalisierten Risiken und Interdependenzenunserer Gegenwart (vgl. ebd.; S. 215). Dabei treten e<strong>in</strong>e ganze Reihe von neuenmoralischen und politischen Fragestellungen hervor: Welche Verantwortung hat die Menschheitgegenüber <strong>der</strong> Natur? Welche Rechte haben die Ungeborenen? Welches s<strong>in</strong>d die Grenzenwissenschaftlicher und technischer Innovation? Welche Rolle darf Gewalt <strong>in</strong> den zwischenmenschlichenund <strong>in</strong>ternationalen Beziehungen spielen? Welche Rechte und Pflichten habendie Individuen gegenüber ihrem Körper? Etc. (Vgl. ebd.; S. 227)Die <strong>in</strong>dividualisierte Gesellschaft ist also durch das Hervortreten neuer moralisch-politischerFragen gekennzeichnet und zeigt eher Tendenzen zu e<strong>in</strong>er – durchaus nicht e<strong>in</strong>seitig zu begrüßenden– (Re-)Moralisierung und Politisierung des sozialen Lebens als zu e<strong>in</strong>em +Verlust<strong>der</strong> Tugend*. Das deckt sich auch mit den empirischen Befunden Ronald Ingleharts.262Dieser


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 193stellte bereits Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre – ausgehend von eigenen Erhebungsdaten, die er <strong>in</strong>verschiedenen westeuropäischen Staaten sammelte –263die These e<strong>in</strong>es Vordr<strong>in</strong>gens post-materialistischer (also weniger auf Wohlstand und Sicherheit als auf die Möglichkeit zu persönlicherEntfaltung zielen<strong>der</strong>) Werte auf (vgl. The Silent Revolution <strong>in</strong> Europe). Ende <strong>der</strong> 80erJahre legte Inglehart dann e<strong>in</strong>en Band vor, <strong>in</strong> dem er e<strong>in</strong>e Zusammenschau se<strong>in</strong>er an dieseerste Studie anschließenden empirischen Untersuchungen darbietet. Die von ihm hier zusammengetragenenErgebnisse ließen ihn zu dem Resümee gelangen, +daß sich zwischen 1970 und1988 e<strong>in</strong>e Verschiebung von materialistischen zu postmaterialistischen Werten vollzogen hat*und +daß diese Werteverschiebung zu e<strong>in</strong>em umfassenden Syndrom des <strong>in</strong>tergenerationellenKulturwandels gehört; dabei werden Lebensqualität und Selbstverwirklichung immer stärkerbetont, während traditionelle politische, religiöse, moralische und soziale Normen an Bedeutungverlieren.* (Kultureller Umbruch; S. 90) 264Es zeigte sich im Detail, daß zwar materialistische Werte (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e unter älteren Menschen)noch deutlich überwiegen. Bei <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> 15–24jährigen dom<strong>in</strong>iert aber bereits e<strong>in</strong>epostmaterialistische Orientierung (vgl. ebd.; Abb. 2.1, S. 103).265Zudem ist <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong><strong>Post</strong>materialisten unter den Gebildeteren und Personen aus wohlsituierten Elternhäusern beson<strong>der</strong>shoch (vgl. ebd.; Tab. 5.3 u. 5.4; S. 212 bzw. S. 214). Und schließlich konnte auch imZeitverlauf e<strong>in</strong>e Entwicklung zugunsten postmaterieller Werte festgestellt werden (vgl. ebd.;Abb. 2.5, S. 114),266wobei sich im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich e<strong>in</strong>e Korrelation <strong>der</strong> Werteorien-tierung mit allgeme<strong>in</strong>en Wirtschaftsdaten wie <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Inflationsrate zeigte (vgl.ebd.; Tab. 2.5; S. 127). Damit spricht alles dafür, daß die Werteorientierung nicht direkt,son<strong>der</strong>n nur vermittelt über e<strong>in</strong>en +generativen Effekt* altersabhängig ist und <strong>der</strong> zunehmendeE<strong>in</strong>fluß postmaterialistischer Werte zum großen Teil auf sozio-ökonomische Faktoren zurückzuführenist.267Dazu Inglehart:+Das bislang ungekannte Maß wirtschaftlicher und physischer Sicherheit <strong>der</strong> Nachkriegszeit hat zu e<strong>in</strong>er<strong>in</strong>tergenerationellen Verschiebung von materialistischen h<strong>in</strong> zu postmaterialistischen Wertvorstellungengeführt. Junge Menschen legen viel größeren Wert auf postmaterialistische Ziele als ältere Menschen.Die Kohortenanalyse zeigt, daß hier überwiegend Auswirkungen des Generationswechsels und nicht desÄlterwerdens vorliegen.* (Ebd.; S. 136)Wie mit den obigen Ausführungen bereits angedeutet, bietet Inglehart zur Erklärung se<strong>in</strong>erBefunde zwei (e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ergänzende) Kausal-Hypothesen an:


194 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Die behavioristischen Modellen entlehnte Mangelhypothese besagt, daß man denjenigenD<strong>in</strong>gen den subjektiv größten Wert zumißt, die relativ knapp s<strong>in</strong>d (<strong>in</strong> den wohlhabendenwestlichen Gesellschaften und dort <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e unter den +Bessergestellten* s<strong>in</strong>d dasnaheliegen<strong>der</strong>weise immer weniger materielle Sicherheit und Wohlstand als eben Lebensqualitätund Selbstverwirklichung). 268• Die Sozialistionshypothese wie<strong>der</strong>um besagt, daß Normen und Werte erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em (langwierigen)Sozialisationsprozeß ver<strong>in</strong>nerlicht werden müssen (so daß sich bezogen auf dieökonomische Entwicklung e<strong>in</strong>e Zeitverschiebung beim Wertewandel ergibt und die postmaterialistischenWerte nur +langsam* vordr<strong>in</strong>gen). (Vgl. ebd.; S. 92)Politisch äußert sich <strong>der</strong> stattf<strong>in</strong>dende Wertewandel nach Inglehart vor allem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Verschiebungvon <strong>der</strong> schicht- zur wertorientierten politischen Polarisierung (vgl. ebd.; S. 324ff.). 269In diesem Zusammenhang geht er auch auf die neuen sozialen Bewegungen e<strong>in</strong> (vgl. ebd.;Kap. 11),270die hier weiter unten als Beispiel für die zunehmende Bedeutung <strong>der</strong> Subpolitik<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft und den damit im Zusammenhang stehenden Umbruch<strong>der</strong> +politischen Kultur*271noch e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> behandelt werden (siehe S. 199ff.). Zuvor solltejedoch die schon oben aufgeworfene Frage geklärt werden, ob nicht <strong>der</strong> von Inglehart postulierteWertewandel, ebenso wie Individualisierung, potentiell durch negative ökonomische Entwicklungengefährdetet ist. Genau hier setzt Helmut Klages an. Auch er sieht zwar zwischen demBeg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> 60er Jahre und Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre e<strong>in</strong>en +Wertewandlungsschub* gegeben. 272An<strong>der</strong>erseits gibt es für Klages (entgegen den Daten Ingleharts) aufgrund verschiedener empirischerUntersuchungen, die Ende <strong>der</strong> 70er/Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre angestellt wurden, deutlicheAnzeichen für e<strong>in</strong>en Abschluß dieses Wertewandlungsschubs (vgl. Werteorientierungen imWandel; S. 123f. u. S. 129ff.). Wie Inglehart, so nennt auch Klages zwei mögliche Kausal-Hypothesen zur Erklärung für diese (umgekehrten) Befunde:• Die Sättigungshypothese: Nach diesem (analog zu Ingleharts erster Hypothese ebenfallsbehavioristischen) Erklärungsmodell ist das Bedürfnis nach Selbstentfaltung (durch dieSchaffung von Selbstentfaltungsräumen) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft mittlerweile gesättigt, so daßpostmaterialistischen Werten ke<strong>in</strong>e so große Bedeutung mehr beigemessen wird.• Die Abbremsungshypothese: Diese unterstellt, daß die (strukturellen) Bed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>enweiteren Wandel <strong>der</strong> Werteorientierung weggefallen s<strong>in</strong>d. (Vgl. ebd.; S. 125)


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 195Die Sättigungshypothese wird von Klages im folgenden jedoch verworfen, da nach allen verfügbaren(und auch Ingleharts) Daten die große Mehrheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung noch immer Selbstentfaltungswertenur <strong>in</strong> sehr ger<strong>in</strong>gem Ausmaß teilt, also kaum e<strong>in</strong> Sättigungseffekt wirksamse<strong>in</strong> kann (vgl. ebd.; S. 126). Die Abbremsungshypothese ersche<strong>in</strong>t dagegen durchaus plausibel,da sich seit Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre mit dem Aufkommen <strong>der</strong> Massenarbeitslosigkeit und e<strong>in</strong>emE<strong>in</strong>bruch im Wirtschaftswachstum tatsächlich die strukturellen Bed<strong>in</strong>gungen für den Wertewandel+verschlechtert* haben (vgl. ebd.; S. 127ff.).Auch <strong>der</strong> Wandel h<strong>in</strong> zu (+<strong>in</strong>dividualisierten*) postmaterialistischen Werten sche<strong>in</strong>t also angünstige ökonomische Rahmenbed<strong>in</strong>gungen gebunden und erweist sich als grundsätzlich reversiblerkultureller Transformationsprozeß, so daß, unter ungünstigen Voraussetzungen, selbste<strong>in</strong>e Rückkehr zur Tradition möglich ersche<strong>in</strong>t – dies ist jedenfalls e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> von Klages aufgemachtenZukunftsszenarios (vgl. ebd.; S. 153ff.). An<strong>der</strong>erseits ist es, sollte InglehartsSozialisationshypothese zutreffen, me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach eher wahrsche<strong>in</strong>lich, daß die e<strong>in</strong>malsozial ausgebreiteten postmaterialistischen Werte lange Zeit selbst bei gegenläufigen ökonomischenEntwicklungen bestehen bleiben, so daß die soziale Kultur (o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest relevanteSubkulturen) nicht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en formalen, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>haltlichen Wi<strong>der</strong>spruchzu den ökonomischen +Realitäten* gerät, was die Grundlage für – möglicherweise durchaus+produktive* – soziale Konflikte schaffen kann (die die herrschende ökonomische Praxis <strong>in</strong>Frage stellen und damit möglicherweise Potentiale zur ihrer Verän<strong>der</strong>ung freisetzen).Die an<strong>der</strong>en von Klages genannten Szenarios s<strong>in</strong>d, so betrachtet, weniger +problematisch*:Bei wie<strong>der</strong>um günstigeren ökonomischen Voraussetzungen sieht er die Möglichkeit zu e<strong>in</strong>em+Durchbruch nach vorne* für die neuen Selbstentfaltungswerte gegeben (vgl. ebd.; S. 156ff.).Das Pendel könnte aber nicht nur vor- o<strong>der</strong> zurückschw<strong>in</strong>gen: Unter Umständen könntees auch zu e<strong>in</strong>er Wertesynthese kommen (vgl. ebd.; S. 164ff.),273wenngleich aktuell nur e<strong>in</strong>Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> von traditionellen Pflicht- und Akzeptanzwerten und den postmaterialistischenSelbstentfaltungswerten festzustellen ist, was auch als mittelfristiges Zukunftsszenario am realistischstenersche<strong>in</strong>t (vgl. ebd.; S. 147ff.). Deshalb bietet es sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach an,bezüglich <strong>der</strong> Werteorientierung nach verschiedenen Milieus zu differenzieren – trotz <strong>der</strong>Schwierigkeit e<strong>in</strong>er klaren Milieu-Abgrenzung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft.Für die Bundesrepublik haben Mitarbeiter des Heidelberger SINUS-Instituts e<strong>in</strong>e Milieu-Typisierung erarbeitet, auf die sehr häufig Bezug genommen wird und die als grobes Schema


196 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEAbbildung 5: Soziale Milieus nach SINUS <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik 1982Kle<strong>in</strong>bürgerliches MilieuTraditionsloses Arbeitermilieu28,0%10,0%Traditionelles Arbeitermilieu10,0%21,0%4,0%9,0%Alternativ-l<strong>in</strong>kes MilieuAufstiegsorientiertes Milieu9,0%9,0%Technokratisch-liberales MilieuHedonistisches MilieuKonservativ-gehobenes Milieuauch e<strong>in</strong>igermaßen brauchbar ersche<strong>in</strong>t (vgl. Flaig/Meyer/Ueltzhöffer: Alltagsästhetik und politischeKultur; S. 51ff.).274Dabei wurde zunächst zwischen acht Milieus differenziert: demtraditionellen Arbeitermilieu, dem traditionslosen Arbeitermilieu, dem kle<strong>in</strong>bürgerlichen Milieu,dem aufstiegsorientierten Milieu, dem hedonistischen Milieu, dem konservativ-gehobenenMilieu, dem technokratisch-liberalen Milieu und dem alternativ-l<strong>in</strong>ken Milieu (vgl. ebd.; S.72 und siehe Abb. 5). Das hedonistische und das alternativ-l<strong>in</strong>ke Milieu – die beide im konventionellenSchichtungsraster eher <strong>der</strong> Mittel- bis Oberschicht zugeordnet werden können –weisen überwiegend e<strong>in</strong>e postmaterialistische Orientierung auf, während sonst e<strong>in</strong>e traditionellmaterialistischeOrientierung dom<strong>in</strong>iert. Dieses Modell wurde zwischenzeitlich um das sog.+neue Arbeitermilieu* ergänzt, so daß sich nunmehr neun Milieus ergeben (vgl. ebd.; S. 73und siehe Abb. 6),275die sich vere<strong>in</strong>fachend (aber dafür sehr übersichtlich) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em jeweilsdreigeteilten, nach Schicht und Werteorientierung differenzierenden Raster e<strong>in</strong>ordnen lassen(vgl. ebd.; S. 74 und siehe Tab. 11). 276Man kann sich nun natürlich berechtigterweise fragen, ob dieses Milieu-Modell nicht vielleichtweniger auf tatsächlichen Unterschieden beruht, son<strong>der</strong>n vielmehr e<strong>in</strong> empirisch reproduziertesTheoriekonstrukt darstellt, das zur Schichtzugehörigkeit nur e<strong>in</strong>e weitere Dimension (nämlichdie Werteorientierung) h<strong>in</strong>zunimmt. Das ist jedoch ke<strong>in</strong> allzu großes Manko, wenn man davonausgeht, daß +objektive* Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeiten noch immer entscheidendüber Lebenschancen (mit)bestimmen, trotzdem aber auch <strong>in</strong>nerhalb von und damit gleichzeitig


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 197Abbildung 6: Soziale Milieus nach SINUS <strong>in</strong> Deutschland (West) 1992Kle<strong>in</strong>bürgerliches MilieuNeues ArbeitermilieuTraditionsloses Arbeitermilieu22,0%5,0%12,0%24,0%5,0%2,0%9,0%Traditionelles ArbeitermilieuAlternativ-l<strong>in</strong>kes MilieuAufstiegsorientiertes Milieu13,0%8,0%Technokratisch-liberales MilieuKonservativ-gehobenes MilieuHedonistisches Milieuquer zu Klassen und Schichten Individualisierungs- und Wertewandelprozesse stattgefundenhaben, die diese objektiv wie subjektiv transzendieren, womit neue +Bündel* geschnürt werdenmüssen (vgl. hierzu auch Hradil: Sozialstrukturanalyse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fortgeschrittenen Gesellschaft;<strong>in</strong>sb. S 162ff.). E<strong>in</strong> Milieu-Modell, das völlig bl<strong>in</strong>d gegenüber <strong>der</strong> gegebenen Latenz gesellschaftlicherKlassen- und Schichtungshierarchien ist, die Re<strong>in</strong>hard Kreckel sogar von+Klassenverhältnissen ohne Klasse* sprechen läßt (vgl. Politische Soziologie <strong>der</strong> sozialen Ungleichheit;S. 141–149), wäre demgemäß ebenso <strong>in</strong>adäquat wie Klassen- bzw. Schichtungsmodelle,die die Dynamik von Individualisierungsprozessen ignorieren. Im Raster <strong>der</strong> untenstehendenTabelle sche<strong>in</strong>en jedoch beide Momente auf. Es sollte gerade deshalb auch relativ gute Rückschlüsseauf die politische Orientierung erlauben, die – so darf man wohl annehmen – mit<strong>der</strong> sozialen Position wie mit <strong>der</strong> Werteorientierung korreliert.Tab. 11: Soziale Milieus nach SINUS im Schicht- und WerteorientierungsrasterSchicht/Werteorientierung traditionell materialistisch postmaterialistischOberschicht: Konservativ-gehobenes Technokratisch-libera- Alternatives MilieuMilieules MilieuMittelschicht: Kle<strong>in</strong>bürgerliches Milieu Aufstiegsorientiertes Hedonistisches MilieuMilieuUnterschicht: Traditionelles Arbeiter- traditionsloses Arbeiter- Neues Arbeitermilieumilieumilieu


198 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEÜbersicht 4: Kurzcharakterisierung <strong>der</strong> Typen gesellschaftspolitischer Grunde<strong>in</strong>stellungen(<strong>Politik</strong>stile) nach Vester et al. (1993):Sozial<strong>in</strong>tegrative: Moralische Gerechtigkeitsvorstellungen. Plädieren für e<strong>in</strong>e stärkere politische Beteiligung<strong>der</strong> Bürger.Radikaldemokraten:Reformorientierte,gesellschaftskritischeE<strong>in</strong>stellung.HumanistischeEmanzipationsansprüche.Skeptisch-Distanzierte: Desillusioniert. E<strong>in</strong>stellung zur <strong>Politik</strong> reicht von zynischer Distanz bis zu starkemEngagement.Gemäßigt-Konservative: Identifikation mit <strong>der</strong> Leistungsgesellschaft. Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>: Gewährleistung vonStabilität, Sicherheit und sozialer Harmonie.Traditionell-Konservative: Grundsätzliches Vertrauen <strong>in</strong> das bestehende politische System und sozialdarw<strong>in</strong>istischeVorstellungen.Enttäuscht-Apathische: Soziale und politische Hierarchien werden als gegeben und unabän<strong>der</strong>lich h<strong>in</strong>genommen.Ke<strong>in</strong>erlei politisches Engagement.Enttäuscht-Aggressive: Befürworten die Leistungsgesellschaft, empf<strong>in</strong>den sich aber als +Verlierer* und pflegenausgeprägte Ressentiments.Michael Vester und se<strong>in</strong>e Mitautor(<strong>in</strong>n)en haben nun, auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Auswertungumfangreicher Fragebögen, sieben Typen gesellschaftspolitischer Grunde<strong>in</strong>stellungen erarbeitetund diese auf die SINUS-Milieus bezogen. Doch +dabei erwies es sich*, wie die Autorenfeststellen, +daß die politischen E<strong>in</strong>stellungstypen nicht unbed<strong>in</strong>gt mit den Lebensstiltypenvon SINUS übere<strong>in</strong>stimmen […] Je nach ihren biographischen Konflikt- und Vergeme<strong>in</strong>schaftungserfahrungenkönnen die Akteure e<strong>in</strong>es bestimmten ›Lebensstilmilieus‹ zu verschiedenenLernprozessen und Identitäten gelangen, um sich dann darüber verschiedenen ›<strong>Politik</strong>stilmilieus‹[siehe Übersicht 4 und Abb. 7] zuzuordnen.* (Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel;S. 328)Es zeigten sich aber trotz fehlen<strong>der</strong> Deckungsgleichheit auch nach Vester et al. e<strong>in</strong>e Reihevon Überschneidungen bzw. e<strong>in</strong>e überproportionale Repräsentanz bestimmter SINUS-Milieusbei bestimmten <strong>Politik</strong>stil-Clustern: So ist beispielsweise bei den +Sozial<strong>in</strong>tegrativen* wie beiden +Skeptisch-Distanzierten* das hedonistische Milieu überrepräsentiert. Bei den +Radikaldemokraten*wie<strong>der</strong>um f<strong>in</strong>det man das neue Arbeitermilieu und das Alternativmilieu, aber auchdas technokratisch-liberale Milieu überdurchschnittlich vertreten. Die +Gemäßigt-Konservativen*haben dagegen e<strong>in</strong>en erhöhten Anteil von Personen aus dem aufstiegsorientierten (Mittelschicht)-Milieu aufzuweisen, während +Traditionell-Konservative* sich zu fast 60% aus dem konservativgehobenenMilieu und dem kle<strong>in</strong>bürgerlichen Milieu rekrutieren (die <strong>in</strong>sgesamt nur ca. 30%ausmachen). Bei den +Enttäuschten* schließlich (den +apathischen* wie den +aggressiven*)


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 199Abbildung 7: Prozentanteile <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong>stile* nach Vester et al. (1993)Skeptisch-DistanzierteRadikaldemokraten17,7%10,8%Sozial<strong>in</strong>tegrative12,8%Gemäßigt-Konservative17,6%13,8%13,8%13,4%Enttäuscht-AggressiveTraditionell-KonservativeEnttäuscht-Apathisches<strong>in</strong>d ebenfalls das kle<strong>in</strong>bürgerliche, aber auch das traditionelle und traditionslose Arbeitermilieuüberrepräsentiert. (Vgl. ebd.; Abb. 40, S. 353)Wie man sieht, besteht also doch e<strong>in</strong> gewisser, wenn auch ke<strong>in</strong> ausgeprägter Zusammenhangzwischen <strong>der</strong> (SINUS-)Milieu-Zugehörigkeit und <strong>der</strong> gesellschaftspolitischen Grunde<strong>in</strong>stellung.Die aufschlußreichste Erkenntnis, die die Untersuchung von Vester und se<strong>in</strong>en KollegInnenvermittelt, dürfte jedoch se<strong>in</strong>, daß nach den von ihnen ermittelten Zahlen (siehe nochmalsAbb. 7) mehr als e<strong>in</strong> Viertel aller Personen aufgrund von wie auch immer gearteten +Enttäuschungen*dem bestehenden <strong>Politik</strong>system den Rücken zugekehrt hat, mit dem sich nurnoch e<strong>in</strong> knappes Drittel (die Gemäßigt- und die Traditionell-Konservativen) mehr o<strong>der</strong> wenigeridentifiziert. Beim verbleibenden Rest ist e<strong>in</strong>e bewußt kritische Distanz bis kritisches Engagementauszumachen, und nur bei dieser letzten Gruppe <strong>der</strong> kritisch Engagierten liegt das Rekrutierungspotentialfür die neuen sozialen Bewegungen, um die es im folgenden als Beispiel für diedurch Individualisierungsprozesse ausgelöste subpolitische Dynamik gehen wird.Die neuen sozialen Bewegungen – d.h. Phänomene wie die amerikanische Bürgerrechtsbewegung,die Ökologie-,277die Anti-Atomkraft-, die Friedens- o<strong>der</strong> die Homosexuellenbewegung– stellen als subpolitische Formationen, die wie<strong>der</strong>um als handlungslogische Hybride zwischenKle<strong>in</strong>gruppen und formalen Organisationen charakterisiert werden können (vgl. Rucht: Mo<strong>der</strong>nisierungund neue soziale Bewegungen; S. 81), sowohl e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung für die klassischeL<strong>in</strong>ke wie für die traditionelle Rechte und die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> dar. Denn sie s<strong>in</strong>d


200 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>der</strong> Ausdruck für e<strong>in</strong>en Bruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Kultur, d.h. den politischen Werten undBeteiligungsformen, <strong>in</strong>dem sie mit ihrem Protest <strong>in</strong> Gestalt von Blockaden und Boykott-Aktionen,Straßentheater und Performances etc. die alten Pfade verlassen, für die Rechte von M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitene<strong>in</strong>treten, sich zum Anwalt <strong>der</strong> +Natur* sowie <strong>der</strong> kommenden Generationen machen undfür e<strong>in</strong>e +gerechtere*, friedliche Welt streiten. 278<strong>Politik</strong>, das bedeutete für die oppositionelle L<strong>in</strong>ke marxistischer Prägung nämlich lange Zeitausschließlich (revolutionären) Klassenkampf, dem mit <strong>der</strong> Ablösung bzw. <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ungklassenbasierter sozialer Bewegungen wie <strong>der</strong> Gewerkschaftsbewegung durch die quer zuden alten Klassenlagen sich formierenden neuen sozialen Bewegungen die soziale Basis abgebröckeltzu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t (vgl. zum Überblick Pakulski: Social Movements and Class). SchonAntonio Gramsci hatte zwar <strong>in</strong> den 20er Jahren auf die Bedeutung kultureller Faktoren auchfür die revolutionäre Praxis h<strong>in</strong>gewiesen (vgl. Sozialismus und Kultur).279Die dogmatischeL<strong>in</strong>ke versperrte sich jedoch lange Zeit selbst gegen diese E<strong>in</strong>sicht, und noch immer könnenTeile <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ke sche<strong>in</strong>bar nicht begreifen, daß die neuen sozialen Bewegungen mit den überwiegendpostmateriell zu nennenden Werten, die sie <strong>in</strong> die öffentliche Arena +transportieren*,zumeist für +l<strong>in</strong>ke* Ziele e<strong>in</strong>treten und Sozialismus auch etwas an<strong>der</strong>es bedeuten könnte,als die Verstaatlichung <strong>der</strong> Industrien o<strong>der</strong> (<strong>in</strong> <strong>der</strong> +gemil<strong>der</strong>ten* sozialdemokratischen Variante)zum<strong>in</strong>dest doch e<strong>in</strong>e gewisse staatliche Umverteilung des Reichtums. So mußte John Keanenoch kurz vor dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus für e<strong>in</strong> verän<strong>der</strong>tes,nicht mehr so sehr staatszentriertes Sozialismusverständnis plädieren, <strong>in</strong> dem auch die neuensozialen Bewegungen Platz haben und das für e<strong>in</strong> Mehr an Demokratie und Partizipationsteht (vgl. Democracy and Civil Society; S. 1ff.).Ernesto Laclau und Chantal Mouffe argumentieren – allerd<strong>in</strong>gs schon vor dem H<strong>in</strong>tergrunddes Endes <strong>der</strong> sozialistischen Staatenwelt – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ganz ähnliche Richtung: Angesichts <strong>der</strong>Probleme, vor denen l<strong>in</strong>kes Denken <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Situation steht, sollte man die positivenAnsätze, die die neuen Protestbewegungen be<strong>in</strong>halten, nicht übersehen. Der hegemonialemarxistische Diskurs muß dafür jedoch verlassen werden (vgl. Hegemonie und radikale DemokratieS. 33f.). Die neue L<strong>in</strong>ke sollte nämlich gemäß ihrer Auffassung offen für Vielfalt se<strong>in</strong>se<strong>in</strong>, sie muß e<strong>in</strong>e radikale und plurale Demokratie anstreben, um das liberal-konservativeHegemonialprojekt <strong>der</strong> Gegenwart, die Diktatur des Marktes, zu transzendieren (vgl. ebd.;S. 239ff.).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 201In dieses liberal-konservative Hegemonialprojekt s<strong>in</strong>d nun aber selbst l<strong>in</strong>ke Parteien und Organisationenverstrickt, sofern sie sich, wie die Sozialdemokratie und <strong>der</strong> überwiegende Teil <strong>der</strong>Gewerkschaftsbewegung, entschlossen haben, sich an das kapitalistische, neoliberale Umfeldanzupassen, <strong>in</strong> dem sie (gegen)wirken wollen. Das beste Beispiel dafür ist wohl +New Labour*<strong>in</strong> Großbritannien. Aber die Sozialdemokratie ist schließlich <strong>in</strong>sgesamt schon lange <strong>in</strong>tegralerBestandteil des Systems <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong>, und die sieht sich durch die neuensozialen Bewegungen, die ihr das <strong>Politik</strong>monopol abspenstig machen, logischerweise herausgefor<strong>der</strong>t.Das wie<strong>der</strong>um ruft konservative Kritiker auf den Plan, denn e<strong>in</strong> starker Staat und +schlagkräftige*staatliche Institutionen waren schließlich schon immer e<strong>in</strong> wesentliches Anliegen <strong>der</strong> konservativenRechten (siehe hierzu auch S. 35ff.). Aber auch auf konservativer Seite gibt es Befürworterfür e<strong>in</strong>ige Ziele <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen – allerd<strong>in</strong>gs spricht man hier lieber von <strong>der</strong>+Büger<strong>in</strong>itiativbewegung* (Mayer-Tasch 1976), die als Ausdruck e<strong>in</strong>es berechtigten Unbehagens<strong>der</strong> Bürger am Parteien-, Verbände und Verwaltungsstaat mit se<strong>in</strong>en Struktur- und Funktionsschwächengilt (vgl. dort v.a. Abschnitt II). Und so betont denn auch Peter Koslowski (sieheauch S. LXVII), daß die neuen sozialen Bewegungen als +Reaktion auf die Krise <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne*gedeutet werden müssen (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Kultur; S. 68) und auf die nunmehr immer offensichtlicherenSteuerungsmängel des Marktes und <strong>der</strong> Demokratie verweisen (vgl. ebd.; S.77ff.). Selbst besitzen die neuen sozialen Bewegungen für ihn jedoch – an<strong>der</strong>s als für Mayer-Tasch, <strong>der</strong> angesichts von Zielen wie Ökologie und Frieden (den Richtwerten des sichankündigenden +neuen Zeitalters*) sogar von e<strong>in</strong>er +historischen Mission* spricht (vgl. DieBürger<strong>in</strong>itiativbewegung; S. 228–233) – ke<strong>in</strong>e politische +Substanz*. Die Rettung aus denpluralistischen Verirrungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, die ihre Vielheit nicht mehr aus <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit schöpft,liegt gemäß Koslowski alle<strong>in</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em postmo<strong>der</strong>nen Essentialismus begründet (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>neKultur; S. 26).Doch trotz solcher eher zweifelhafter Denkfiguren ergibt sich e<strong>in</strong>e erstaunliche Überschneidungmit +neul<strong>in</strong>kem* Gedankengut, das versucht, die Legitimität von Basisbewegungen wie denneuen sozialen Bewegungen theoretisch auszuleuchten. Denn auch nach Bernd Guggenbergerund Claus Offe steht politische Praxis grundsätzlich vor e<strong>in</strong>em Problem: +Wie wird aus VielheitE<strong>in</strong>heit?* (<strong>Politik</strong> aus <strong>der</strong> Basis; S. 8) In mo<strong>der</strong>nen Massendemokratien lautet die Lösungsformelschlicht +Mehrheitsentscheid*. Mit dieser +Lösung* ergeben sich jedoch gemäß Guggenberger


202 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEund Offe (und nun wird die Intention ihrer Ausgangsfrage verständlich) zwei Probleme: Erstensdas Problem <strong>der</strong> Sicherstellung, daß tatsächlich nichts an<strong>der</strong>es als die Entscheidung <strong>der</strong> Mehrheitausschlaggebend ist (und nicht etwa latente Machtstrukturen wirken) sowie zweitens das Problem,wie die Individuen auf den getroffenen Mehrheitsentscheid verpflichtet werden können (vgl.ebd.; S. 8ff.). Selbst wenn man das erste Problem vernachlässigt, tritt das zweite Problemumso schärfer hervor, sobald Grundfragen des Überlebens berührt werden (vgl. ebd.; S. 16ff.).Hier meldet sich <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitenprotest, <strong>der</strong> schon nach Serge Moscovici e<strong>in</strong>e wichtigeRolle im Prozeß des sozialen Wandels spielt (vgl. Sozialer Wandel durch M<strong>in</strong>oritäten),280berech-tigterweise auch gegen bestehende Mehrheiten zu Wort, und wir stehen somit +An den Grenzen<strong>der</strong> Mehrheitsdemokratie*. 281In dieser Argumentationsfigur ist das Grundproblem von +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft*(Gottwies 1988) angedeutet. Die reflexive Dynamik <strong>der</strong> Zivilisationsrisiken wirkt sich nämlichauch auf die politische Kultur und das politische Bewußtse<strong>in</strong> aus (vgl. S. 360–367). Die <strong>in</strong>stitutionalisierte<strong>Politik</strong> mit ihrem (zu) kurzen Zeithorizont, <strong>der</strong> durch die Wahlperiode bestimmtist, geht aufgrund <strong>der</strong> vielen schleichenden, erst über vergleichsweise lange Zeiträume zutagetretenden Gefährdungen e<strong>in</strong> +risk-tak<strong>in</strong>g* e<strong>in</strong> und reagiert auf die Bedrohungen durch dielatenten Nebenfolgen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Produktionsweise nur mit e<strong>in</strong>em +peripheren E<strong>in</strong>griff*(Mayer-Tasch), <strong>der</strong> die Risiken nicht beseitigt, son<strong>der</strong>n nur verspätet, dadurch aber umsoheftiger hervortreten läßt (vgl. ebd.; S. 359).Dieses Defizit ist auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Bürger über die Grenzen <strong>der</strong> klassischen politischen Lagerh<strong>in</strong>weg wahrgenommen worden, und so engagieren sich <strong>in</strong> den neuen sozialen Bewegungen+L<strong>in</strong>ke* wie +Rechte*. Damit entstehen Konturen e<strong>in</strong>er +zivilen* Gesellschaft +Jenseits vonRechts und L<strong>in</strong>ks* (Giddens 1994), während die organisierte L<strong>in</strong>ke aufgrund <strong>der</strong> gegenwärtigenökonomischen Tendenzen weitgehend zu e<strong>in</strong>er +konservativen* Kraft geworden ist, <strong>der</strong> esalle<strong>in</strong>e darum geht, die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zu verteidigen, und dieklassischen konservativen Parteien (zum<strong>in</strong>dest auf wirtschaftspolitischer Ebene) schon vorgeraumer Zeit <strong>in</strong>s neoliberale Lager übergewechselt s<strong>in</strong>d (vgl. Beyond Left and Right; S. 2f.und siehe auch Anmerkung 147, Kap. 1).e<strong>in</strong>e neue +zivile Kultur* (Almond/Verba)282283Die neuen sozialen Bewegungen dagegen pflegen– und dar<strong>in</strong> (weniger <strong>in</strong> ihren konkreten Zielen)liegt zum<strong>in</strong>dest nach Cohen und Arato ihr zentraler Beitrag für die +Bürgergesellschaft* <strong>der</strong>Zukunft (vgl. Civil Society and Political Theory; S. 562).


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 203Natürlich ist das e<strong>in</strong>e sehr vage, ungenaue Aussage (was nicht so sehr Cohen und Arato alsvielmehr me<strong>in</strong>er notwendigerweise verkürzenden Darstellung geschuldet ist). Beschäftigenwir uns also abschließend noch etwas e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> mit dem Charakter des durch Individualisierungsprozesseausgelösten Umbruchs <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Kultur sowie vor allem mit <strong>der</strong>damit verbundenen Frage, was eigentlich das spezifisch Neue <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungenausmacht: Alberto Melucci, <strong>der</strong> Ende <strong>der</strong> 70er Jahre den Begriff +neue soziale Bewegungen*prägte, hat sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Nomads of the Present* (1989) sowie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em späterenAufsatz explizit zu dieser häufig gestellten Frage geäußert. Er <strong>in</strong>terpretiert hier die neuen sozialenBewegungen als +Botschaften* bzw. +Zeichen*, die auf e<strong>in</strong>e vielgestaltige Weise Kunde vonden aktuellen strukturellen Problemen <strong>in</strong> unserer <strong>in</strong>dividualisierten und globalisierten Informationsgesellschaftgeben, <strong>in</strong> <strong>der</strong> symbolische Konflikte <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund getreten s<strong>in</strong>d (vgl.dort Kap. 2 sowie The New Social Movements Revisited; S. 113ff.). Genau diese Vielgestaltigkeitund die Dom<strong>in</strong>anz symbolischer Konflikte ist gemäß Melucci das spezifisch neue Element.Das schließt auch e<strong>in</strong>e Verlagerung h<strong>in</strong> zu neuen politischen Konflikträumen mit e<strong>in</strong>: Es kommtfür Melucci (ganz analog zu Beck und Giddens) zu e<strong>in</strong>er Demokratisierung bzw. Politisierungdes Alltagslebens (vgl. Nomads of the Present; Kap 8).Oberflächlich betrachtet kl<strong>in</strong>gt diese Interpretation Meluccis sehr ähnlich zu den VorstellungenAla<strong>in</strong> Toura<strong>in</strong>es (siehe auch zurück zu S. LIIf.), <strong>der</strong> ebenfalls zu den Pionieren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie(neuer) sozialer Bewegungen zählt. Denn auch für Toura<strong>in</strong>e kämpfen die von <strong>der</strong> Klassensemantik+emanzipierten* sozialen Bewegungen <strong>der</strong> Gegenwart +um die Kontrolle kulturellerPatterns* (Soziale Bewegungen; S. 145).284In e<strong>in</strong>er Gesellschaft, die nicht mehr vom Mo<strong>der</strong>nitäts-Konsens zusammengehalten wird, ist die Beschäftigung mit sozialen Bewegungen, die alskollektive Akteure neue kulturelle Muster durchzusetzen versuchen, für ihn deshalb sogare<strong>in</strong> zentrales Feld <strong>der</strong> Sozialanalyse (vgl. ebd.; S. 147–152), und die Rede vom +Ende <strong>der</strong>Geschichte* (Fukuyama) verkennt die kulturelle (Konflikt-)Dynamik des post<strong>in</strong>dustriellen (Spät-)Kapitalismus (vgl. <strong>der</strong>s. Beyond Social Movements?). Doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konzeption Toura<strong>in</strong>es gibtes auch klare Wi<strong>der</strong>sprüche zu Melucci. Für letzteren s<strong>in</strong>d die neuen sozialen Bewegungennämlich nicht automatisch die Manifestation e<strong>in</strong>es Systemkonflikts bzw. e<strong>in</strong>er Systemkrise(vgl. Nomads of the Present; S. 38ff.) – was an<strong>der</strong>erseits für Toura<strong>in</strong>e notwendig zu <strong>der</strong>enCharakter gehört: Soziale Bewegungen, als Ausdruck <strong>der</strong> historischen Dialektik, s<strong>in</strong>d gemäßihm nämlich immer Träger e<strong>in</strong>er neuen sozialen Ordnung, und die Kraft e<strong>in</strong>er sozialen Bewegung


204 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEliegt genau <strong>in</strong> ihrer Kapazität, die alte Ordnung umzukippen und die Wi<strong>der</strong>sprüche des bestehendenSystems offenzulegen (vgl. Production de la société; S. 430).Auch Herbert Blumer, als weiterer +Klassiker*, betont das für soziale Bewegungen typischeBestreben, Innovationen durchzusetzen (vgl. Social Movements; S. 60).285Er unterscheidetallerd<strong>in</strong>gs weniger zwischen alten und neuen, als vielmehr zwischen allgeme<strong>in</strong>en (d.h. sozialeGrundfragen aufgreifenden) und spezifischen sozialen Bewegungen, die sich ganz konkretenProblemen widmen (vgl. ebd.; S. 61–64).286Von diesen beiden Typen grenzt er re<strong>in</strong> expressiveBewegungen ab, die ke<strong>in</strong>e sozialen Verän<strong>der</strong>ungen anstreben (vgl. ebd.; S. 76ff.).parallele Differenzierung nimmt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart Dieter Rucht vor, <strong>der</strong> bezüglich ihrer Handlungslogik<strong>in</strong>strumentelle von expressiven Bewegungen abgrenzt.288287E<strong>in</strong>eAls zweite Unterscheidungs-Dimension dient Rucht die Stellung <strong>der</strong> Bewegung zum Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß, die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>emRaster entwe<strong>der</strong> promo<strong>der</strong>n, antimo<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> ambivalent ist (vgl. Mo<strong>der</strong>nisierung und neuesoziale Bewegungen; S. 82ff.).289Neue soziale Bewegungen, die zwar an bestimmten Pr<strong>in</strong>zipien<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (wie Egalität o<strong>der</strong> Emanzipation) festhalten, an<strong>der</strong>erseits aber scharfe Kritik amökonomisch-technischen Mo<strong>der</strong>nisierungsmodell üben, müßten offensichtlich, wenn mandieses Schema anwendet, durch e<strong>in</strong>e ambivalente Position gegenüber Mo<strong>der</strong>nisierung gekennzeichnetse<strong>in</strong> (vgl. auch ebd.; S. 153ff.).Bei ihrer +Bewegung* handelt es sich also offensichtlich nicht um e<strong>in</strong>en antimo<strong>der</strong>nen, neoromantischenProtest – auch wenn es gewisse Ähnlichkeiten zur romantischen Strömung gibt,die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne die erste Welle <strong>der</strong> Zivilisationskritik repräsentierte (vgl. Brand:Neue soziale Bewegungen – E<strong>in</strong> neoromantischer Protest?; S. 131ff.). Die neuen sozialenBewegungen formulieren zwar auch Zivilisationskritik, sie s<strong>in</strong>d jedoch nicht e<strong>in</strong>seitig rückwärtsgewandt,son<strong>der</strong>n haben auch e<strong>in</strong>e mo<strong>der</strong>nisierende Funktion, s<strong>in</strong>d sogar +Hauptakteuredes gesellschaftlichen Transformationsprozesses* (ebd.; S. 138). Was nun ihre OrganisationsundProtestformen betrifft, so gibt es e<strong>in</strong>e gewisse Kont<strong>in</strong>uität vor allem mit <strong>der</strong> 68er-Bewegung.Auch von dieser unterscheiden sie sich jedoch: durch e<strong>in</strong>en weitgehenden Vertrauensverlust<strong>in</strong> das befreiende Potential <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne. Und zur Arbeiterbewegung, als <strong>der</strong>vielleicht wichtigsten sozialen Bewegung <strong>der</strong> Vergangenheit, besteht nicht nur e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltlicheDifferenz (d.h. Fragen <strong>der</strong> Lebensweise treten gegenüber Verteilungsfragen <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund),son<strong>der</strong>n sie s<strong>in</strong>d auch an<strong>der</strong>s als diese dezentral und autonom organisiert. (Vgl. <strong>der</strong>s.: Kont<strong>in</strong>uitätund Diskont<strong>in</strong>uität <strong>in</strong> den neuen sozialen Bewegungen)


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 205Zusammenfassend läßt sich also mit Klaus E<strong>der</strong> sagen: Die neuen sozialen Bewegungen s<strong>in</strong>de<strong>in</strong> ambivalentes Phänomen. Zum e<strong>in</strong>en stehen sie <strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>uität zum (produktivistischen)Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (als <strong>der</strong> Selbstassoziation <strong>der</strong> Bürger); zum an<strong>der</strong>en verkörpern sie e<strong>in</strong>en(anti-produktivistischen) Kont<strong>in</strong>uitätsbruch mit dem progressivistischen Ideal (vgl. Soziale Bewegungund kulturelle Evolution; S. 339f.). In dieser Ambivalenz halten sie die Mo<strong>der</strong>ne +offen*(vgl.; ebd.; S. 355) – und s<strong>in</strong>d gleichzeitig das Zeichen für e<strong>in</strong>en Bruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischenKultur, e<strong>in</strong>er Verschiebung h<strong>in</strong> zu postmateriellen Werten und <strong>der</strong> subpolitischen Infragestellung<strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong>, die ihre Wurzel <strong>in</strong> <strong>der</strong> (reversiblen und ökonomisch dependenten)Dynamik von Individualisierungsprozessen hat. Der sich formierende Protest beruht dabeiauch auf dem Bewußtse<strong>in</strong> für die globale (Risiko-)Dimension <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne, wievor allem Giddens und Beck (und an diesen anschließend Gottwies) dargelegt haben. Dochobwohl e<strong>in</strong>e Transnationalisierung von NGOs wie +Greenpeace* o<strong>der</strong> +amnesty <strong>in</strong>ternational*ausgemacht werden kann (siehe S. 95f.), ist <strong>der</strong> Nationalstaat und se<strong>in</strong> politisches Systemnoch immer <strong>der</strong> primäre Protestadressat, weshalb Charles Tilly selbst für unsere Gegenwartim Zeichen <strong>der</strong> Globalisierung von +nationalen sozialen Bewegungen* spricht (vgl. Social Movementsand National Politics; S. 304ff.). 290Dieser Protestadressat ist jedoch, um abschließend auf die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> zu sprechenzu kommen, durch die neuen sozialen Bewegungen <strong>in</strong> zweifacher H<strong>in</strong>sicht überfor<strong>der</strong>t: Erstensverweisen diese das +System* schon als solche auf se<strong>in</strong>e Unzulänglichkeiten und Begrenztheit.Aber auch auf ihre Botschaften hat man sich (zweitens) im <strong>in</strong>stitutionellen Kontext me<strong>in</strong>erMe<strong>in</strong>ung nach nicht genügend e<strong>in</strong>gelassen. Der subpolitische Protest wird deflektiert undnicht reflektiert.291Am +geschicktesten* reagiert die etablierte <strong>Politik</strong> dabei noch, wenn versuchtwird, die Bewegungen zu umarmen (um sie zu erdrücken). Diese Taktik (die allerd<strong>in</strong>gs, wennsie durchschaut wird, auch +nach h<strong>in</strong>ten losgehen* kann) konnte man z.B. bei den jüngstenStudentenprotesten beobachten, wo sich <strong>Politik</strong>er aller Parteien mit den Studenten und ihrenZielen solidarisch erklärten – ohne freilich konkret auf ihre For<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>zugehen (vgl.auch Weck: An die Arbeit!). In ähnlicher Weise absorptiv ist <strong>der</strong> Versuch, Themen (neuer)sozialer Bewegungen, wie z.B. Frieden o<strong>der</strong> Umweltschutz, (parteiprogrammatisch) zu besetzen,um das Protestpotential – allerd<strong>in</strong>gs re<strong>in</strong> symbolisch – zu re<strong>in</strong>tegrieren.Sehr häufig ist jedoch auch e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e, weniger +geschickte* Reaktionsweise <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zubeobachten: nämlich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz des staatlichen Gewaltmonopols (wenn z.B. Sitzblockaden


206 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEmittels e<strong>in</strong>es Polizeie<strong>in</strong>satzes beseitigt werden). Die <strong>in</strong>stitutionelle Blockade <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und<strong>der</strong> Wandel <strong>in</strong> den Köpfen kann so allerd<strong>in</strong>gs sicher nicht aufgehoben bzw. rückgängig gemachtwerden. E<strong>in</strong> ironisches Paradox ist es dabei, daß die staatlichen Organe, gerade wo sie (konservierendund gemäß ihrer erlernten Handlungslogik) versuchen, die +nationale Wohlfahrt*(zum Zweck <strong>der</strong> Stärkung <strong>der</strong> sozialen Integration) zu sichern, den Individualisierungsmotoram Laufen halten und damit <strong>in</strong>direkt die Grundlage für ihre eigene Infragestellung bereiten.Doch dies ist nur e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> (die subpolitischen Aufsprengungs-Impulse tendenziell verstärkenden)Dilemmata <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong>, um die es im folgenden Kapitel gehen wird. Bevorich aber auf +Die Ant<strong>in</strong>omien ›klassischer‹ <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft* zu sprechenkomme, möchte ich e<strong>in</strong>en Überblick über die (durchaus zweideutigen) +Ergebnisse* diesesKapitels geben:Im letzten Abschnitt des ersten Kapitels dieser Arbeit wurde dargelegt, daß e<strong>in</strong>e Reihe von<strong>Politik</strong>konzepten im theoretischen Diskurs aufgetaucht s<strong>in</strong>d, die das Politische nicht mehrzw<strong>in</strong>gend an das Staatliche gebunden sehen, son<strong>der</strong>n es (wie<strong>der</strong>) im gesamten Bereich dessozialen Lebens ansiedeln und sich zudem durch e<strong>in</strong> gesteigertes Bewußtse<strong>in</strong> für Kont<strong>in</strong>genzauszeichnen. Diese (postmo<strong>der</strong>ne) +Horizonterweiterung* des <strong>Politik</strong>begriffs habe ich auf+außerpolitische* soziale Transformationsprozesse zurückgeführt, welche, so me<strong>in</strong>e These,die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> nicht adäquat gespiegelt hat. Die damit von mir ausgemachte +Dialektikvon sozio-ökonomischem Wandel und politischer Statik*, die ich hier anhand e<strong>in</strong>er nach+Teilsystemen* bzw. nach den wichtigsten sozialen +Fel<strong>der</strong>n* differenzierenden Betrachtunganalysieren wollte, konnte am Beispiel <strong>der</strong> Globalisierung <strong>der</strong> Ökonomie und <strong>der</strong> gleichzeitignoch immer gegebenen Fixierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> auf den Nationalstaat me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nachdeutlich aufgezeigt werden (Abschnitt 2.1).E<strong>in</strong> ähnliches +Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>klaffen* war – wie jedoch ohneh<strong>in</strong> aufgrund <strong>der</strong> gegebenen engenstrukturellen Kopplung dieser beiden +Funktionsbereiche* von mir nicht erwartet wurde –im Vergleich zur Entwicklung im Rechtssystem nicht auszumachen (Abschnitt 2.2). Vielmehrzeigte sich, daß es zu e<strong>in</strong>er für beide Systeme teils belastenden, überwiegend aber +vorteilhaften*Verrechtlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (und e<strong>in</strong>er umgekehrten Politisierung <strong>der</strong> Justiz) gekommen ist:Von <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> werden Rechtsverfahren +benutzt*, um durch die +Übersetzung*<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en juristischen Diskurs politische Streitfragen zu entschärfen.


KAP. 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK 207Auch Technologie und Wissenschaft (Abschnitt 2.3) sowie das mediale Öffentlichkeitssystem(Abschnitt 2.4) können von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> als Deflexions-Ressourcen genutzt werden. Allerd<strong>in</strong>gszeigte sich hier e<strong>in</strong> weit ambivalenteres Bild als im Fall des Rechtssystems. Im E<strong>in</strong>klang mit<strong>der</strong> Ausgangsthese wurden nämlich <strong>in</strong> beiden Bereichen durchaus Wandlungsprozesse deutlich,die für die <strong>Politik</strong> problematisch s<strong>in</strong>d und nicht adäquat von ihr gespiegelt wurden. Zwarkann die <strong>Politik</strong> wissenschaftliche Expertisen noch immer für ihre Zecke e<strong>in</strong>setzen und sichso durch wissenschaftliche +Objektivität* legitimieren. Aber die (nebenfolgenreiche) zunehmende+Reflexivität* von Technologien und – auch immer mehr sich selbst h<strong>in</strong>terfragendes – Wissenschafts-Wissenbr<strong>in</strong>gen das <strong>Politik</strong>system zuweilen aus se<strong>in</strong>em Gleichgewicht.Ähnlich +zweischneidig* ist die Entwicklung im Bereich <strong>der</strong> Medien und <strong>der</strong> Öffentlichkeit.<strong>Politik</strong>er s<strong>in</strong>d auf +Öffentlichkeit* angewiesen und gehen deshalb häufig mit Medienvertretern,die ihrerseits Informationen benötigen, symbiotische Beziehungen e<strong>in</strong>. An<strong>der</strong>erseits deckendie Medien nur allzu gerne politische Skandale auf und s<strong>in</strong>d so auch +Gegner* <strong>der</strong> politischenAkteure. Aber dieses schon ohneh<strong>in</strong> ambivalente Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> wird noch problematischerdurch den sich abzeichnenden neuerlichen +Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit*, <strong>der</strong> Etablierungneuer, <strong>in</strong>teraktiver Medien, die die politische Inszenierung allgeme<strong>in</strong> erschweren.Wie sich <strong>in</strong> diesen Bemerkungen bereits andeutete, gel<strong>in</strong>gt also das deflexive Zusammenspielnicht immer, son<strong>der</strong>n es be<strong>in</strong>haltet auch Risiken. Primär drohen Entfremdungsersche<strong>in</strong>ungen.Diese können e<strong>in</strong>er subpolitischen Dynamik (wie sie <strong>in</strong> diesem Abschnitt anhand des Beispiels<strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen verdeutlicht wurde) Auftrieb geben – allerd<strong>in</strong>gs gilt dieseben nur dann, wenn auch die ökonomischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen +stimmen*. Der Abschnitt3.1, <strong>der</strong> das durch Globalisierungsprozesse ausgelöste Dilemma des nationalen Wohlfahrtsstaats<strong>in</strong> den Blickpunkt rückt, wird aber plausibel machen, daß genau das nicht zu erwarten ist.Die bisher dargestellten (reflexiven) Transformationsprozesse und die ausgleichenden Deflexionsbemühungen<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> müssen also noch e<strong>in</strong>mal kritisch betrachtet und problematisiertwerden. War dieses Kapitel <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong> rekonstruktives, <strong>in</strong>dem die (abgetrennten) Diskursenachgezeichnet wurden, so ist das folgende Kapitel, folglich e<strong>in</strong> primär dekonstruktives –das bedeutet, die dilemmatische Seite <strong>der</strong> aktuellen Transformationsprozesse und die Ant<strong>in</strong>omien,die die im Diskurs manifestierte Konstruktion <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Systeme bewirkt,sollen (allerd<strong>in</strong>gs noch immer <strong>in</strong> den Grenzen dieser Konstruktion) aufgezeigt und entfaltetwerden.


3 DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALENRISIKOGESELLSCHAFT


210 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE3 DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALENRISIKOGESELLSCHAFTDie <strong>Politik</strong> steht vor e<strong>in</strong>er Wand. Es s<strong>in</strong>d die Zäune, die sie sich selbst, zu ihrem Schutz,aufgestellt hat. Sie mauert sich e<strong>in</strong>, immer höher, r<strong>in</strong>gsherum, zieht ihre Gräben. Immer engerwird dadurch <strong>der</strong> Raum, <strong>der</strong> beschritten werden kann, immer mehr Platz nehmen die Mauernund die Gräben e<strong>in</strong>, immer beschränkter wird die Sicht, während man sorgsam darauf bedachtist, dieses schw<strong>in</strong>dsüchtige Territorium zu verteidigen. Doch von unten her wird rastlos, beständiggegraben, und das br<strong>in</strong>gt die Mauern zum Wanken. Auch von <strong>der</strong> Seite her werden die Grenzzäunee<strong>in</strong>gedrückt und die Gräben zugeschüttet. Von oben schließlich droht e<strong>in</strong> Platzregen,die Erde aufzuweichen, so daß alles im Schlamm vers<strong>in</strong>kt.Das ist e<strong>in</strong> Bild. Es hängt schief an <strong>der</strong> Wand. Der Maler – auch das e<strong>in</strong> Bild – hat obendre<strong>in</strong>die Farben zu kräftig aufgetragen. Aber gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Überzeichnung verdeutlicht es, wasgegenwärtig mit <strong>Politik</strong> geschieht (o<strong>der</strong> besser nicht geschieht): Die (unterschiedlich starkausgeprägten, auch deflexive, ko-evolutive Elemente be<strong>in</strong>haltenden und zudem <strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchlichen)Verän<strong>der</strong>ungsprozesse <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Umwelt erzeugen e<strong>in</strong>e transitorischeGesellschaftsformation, die für die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> jedoch zu Handlungsblockadenund <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von komplexen Dilemmata führt: das ökonomische Dilemma des nationalenWohlfahrtsstaats (Abschnitt 3.1), das sich aus <strong>der</strong> wirtschaftlichen Globalisierung (siehe Abschnitt2.1) ergibt und <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> immer weniger Spielraum zur (notwendigen) Umverteilung desgesellschaftlichen Reichtums läßt, das <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Dilemma (Abschnitt 3.2), welchessich aus <strong>der</strong> Dialektik von Politisierung und Verrechtlichung speist (siehe Abschnitt 2.2) unde<strong>in</strong>e +<strong>in</strong>stitutionelle Starre* <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> erzeugt, das technologisch-wissenschaftliche Dilemma(Abschnitt 3.3), das auf <strong>der</strong> reflexiven H<strong>in</strong>terfragung wissenschaftlicher Expertisen sowie denGefährdungspotentialen von Technik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verwissenschaftlichten Gesellschaft beruht (sieheAbschnitt 2.3) und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er reflexiv-deflexiven Technik- und Wissenschaftsfalle endet, dasDilemma von Präsentation und Repräsentation (Abschnitt 3.4), das aus den Adaptionsversuchen<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> an die Mediensemantik erwächst (siehe Abschnitt 2.4), um damit gleichzeitig e<strong>in</strong>e


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 211Beschränkung <strong>der</strong> politischen Semantik zu bewirken, und schließlich das politische Dilemma<strong>der</strong> Individualisierung (Abschnitt 3.5), das e<strong>in</strong>em kulturellen Umbruch sowie e<strong>in</strong>em Wandel<strong>der</strong> Sozialstruktur geschuldet ist (siehe Abschnitt 2.5), was sich wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gleichzeitigenPolitisierung und Entpolitisierung äußert.Doch damit alles und nichts gesagt. Denn <strong>der</strong> obenstehende Satz versucht zwar im Vorausgriffauf die folgenden Erläuterungen e<strong>in</strong>e Zusammenfassung zu geben, ist aber e<strong>in</strong>erseits vielzu +komplex* und unübersichtlich gebaut, an<strong>der</strong>erseits zu abstrakt, reduziert und unterkomplex<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Aussagen. Es gilt also, die oben nur angerissenen Punkte differenziert darzustellenund <strong>in</strong>haltlich aufzufüllen.3.1 DAS ÖKONOMISCHE DILEMMA DES NATIONALEN WOHLFAHRTSSTAATSDer vierte Weltkrieg hat bereits begonnen! Und das, nachdem endlich <strong>der</strong> (+kalte*) dritteWeltkrieg, die geopolitische Konfrontation zwischen den USA und <strong>der</strong> Sowjetunion, durch<strong>der</strong>en kläglichen Abtritt von <strong>der</strong> +großen Weltbühne* e<strong>in</strong>geschmolzen ist (und e<strong>in</strong> im Vergleichzu den Desastern des ersten und zweiten Weltkriegs +glückliches* Ende gefunden hat). Dasist – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> etwa – die Auffassung des +Subcomandante* Marcos, Führer <strong>der</strong> (neo)zapati-estischen Rebellen aus <strong>der</strong> mexikanischen Prov<strong>in</strong>z Chiapas. (Vgl. La 4 guerre mondiale a com-mencé)Nur: Welcher Krieg ist mit dem om<strong>in</strong>ösen vierten Weltkrieg geme<strong>in</strong>t, <strong>der</strong> nach Marcos dochschon begonnen haben soll? – Es handelt sich um jenen +Weltwirtschaftkrieg* (Luttwak), 1<strong>in</strong> dem die Staaten (im Interesse <strong>der</strong> nationalen Wohlfahrt) ihren mit <strong>der</strong> zunehmenden <strong>in</strong>ternationalenKonkurrenz im Zeitalter <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung immer unsichererenAnteil an den Flüssen des globalen Kapitals abzuzweigen trachten und sich dabei gegenseitig2Investitionen und Arbeitsplätze abjagen. Dieser verzweifelte Kampf führt nach Marcos imEndeffekt nur zu e<strong>in</strong>er Globalisierung <strong>der</strong> Ausbeutung und e<strong>in</strong>er +Wie<strong>der</strong>auferstehung* <strong>der</strong>Armut (die <strong>in</strong> den <strong>in</strong>dustrialisierten Wohlfahrtsstaaten doch fast <strong>der</strong> Vergangenheit anzugehörenschien) – während sich <strong>der</strong> Reichtum <strong>in</strong> den Händen weniger konzentriert (vgl. ebd.; S. 4).Dagegen wie<strong>der</strong>um kämpfen +postmo<strong>der</strong>ne* Revolutionäre wie er, die nicht nur, wie e<strong>in</strong>st<strong>der</strong> legendäre Che, mit <strong>der</strong> Kalaschnikow <strong>in</strong> den Händen den sich entfachenden Wi<strong>der</strong>standorganisieren (vgl. ebd.; S. 5), son<strong>der</strong>n auch geschickt die Waffen <strong>der</strong> Publizität e<strong>in</strong>zusetzen


212 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEverstehen und sich unbefangen dabei selbst neuer Kommunikationstechnologien wie demInternet bedienen, das sich (zum<strong>in</strong>dest als Katalysatormedium) für <strong>der</strong>lei Zwecke vielleichtsogar am besten eignet (siehe auch nochmals S. 182f.). 3An<strong>der</strong>erseits ist die Kriegsmetapher e<strong>in</strong> eher plattes Bild für die stattf<strong>in</strong>denden Transformationsprozesse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sich globalisierenden Markt (die ich <strong>in</strong> ihren verschiedenen Dimensionen<strong>in</strong> Abschnitt 2.1 ja bereits ausführlich sowie um Differenzierung bemüht dargestellt habe).Wenn man es genauer betrachtet, so erkennt man nämlich, daß <strong>der</strong> von den +Banden* desNationalstaats entfesselte Kapitalismus <strong>der</strong> vierten Welle (siehe Übersicht 1, S. 76) allenfallse<strong>in</strong>en Krieg gegen sich selber führt. Dies wird lediglich dadurch überdeckt, daß die Selbstorganisationdes Kapitals aufgrund <strong>der</strong> Geschw<strong>in</strong>digkeit <strong>der</strong> Transaktionen und ihrer breiten <strong>in</strong>ternationalenStreuung im Moment noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, das System stabil zu halten (siehe auchS. 80f.). Indem sich <strong>der</strong> Kapitalismus aber weiter globalisiert, wird dieses labile Gleichgewichtdurch die Wucht se<strong>in</strong>er eigenen Dynamik gefährdet: Das Kapital strebt nach Expansion –nur damit werden eben auch die Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus auf globale Maßstäbe ausgedehnt.Der globale Kapitalismus benötigt deshalb (vielleicht noch mehr als <strong>der</strong> alte +nationale* Kapitalismus)die regulierende Intervention <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (vgl. auch Bienefeld: Capitalism and the4Nation State <strong>in</strong> the Dog Days of the Twentieth Century; S. 106ff.). Doch <strong>in</strong>dem sich dieWirtschaft globalisiert, entmachtet sie gleichzeitig die <strong>Politik</strong>, so daß diese mit e<strong>in</strong>er unlösbarenAufgabe konfrontiert ist (vgl. z.B. Dallemagne: Grenzen <strong>der</strong> Wirtschaftspolitik; <strong>in</strong>sb. S. 111–135). 5Wir haben es also mit <strong>in</strong>härenten Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung und des Wettbewerbs zu tun,welche die <strong>Politik</strong> vor Probleme stellen, vor denen sie – unter den gegenwärtigen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen(und aufgrund ihrer <strong>in</strong>ternen Systemlogik) – kapitulieren muß.Bevor ich mich allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>er genaueren Analyse <strong>der</strong> Gründe für diese Ohnmacht <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>zuwende, ist es angebracht, die angesprochenen <strong>in</strong>härenten Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung unddes <strong>in</strong>ternationalen Wettbewerbs etwas näher auszuleuchten. Die Literatur, auf die <strong>in</strong> diesemZusammenhang zurückgegriffen werden kann, ist überaus reichlich. Seitdem nämlich dieMitglie<strong>der</strong> des +Club of Rome* 1972 ihre e<strong>in</strong>schneidende Studie über die (ökologischen)+Grenzen des Wachstums* vorlegten (siehe auch S. 244f.), ist das Aufzeigen von Grenzen<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> ökonomischen Entwicklungsdynamik e<strong>in</strong> beliebter Topos für Autoren verschiedensterFachrichtungen und Couleur.


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 213Beleg dafür ist nicht nur die bereits oben zitierte Schrift von Jean-Luc Dallemagne. Fred Hirschzeigte z.B. 1976 mit e<strong>in</strong>drücklichen Argumenten +Die sozialen Grenzen des Wachstums* auf,wobei se<strong>in</strong>e zentrale These lautet, daß die kapitalistische Wachstumsideologie im Verbundmit <strong>der</strong> Ökonomisierung <strong>der</strong> Sozialbeziehungen auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>in</strong>dividueller Nutzenkalkülehohe +gesellschaftliche Kosten* verursacht und zu e<strong>in</strong>er problematischen Verschärfung <strong>der</strong>6Ungleichheit führt (vgl. <strong>in</strong>sb. Kap. 7 u. 8). Aus e<strong>in</strong>er im Grundansatz ähnlichen Haltung heraus,jedoch <strong>in</strong> umfassen<strong>der</strong>er Perspektive, formulierte auch die +Gruppe von Lissabon* um denitalienischen Ökonomen Ricardo Petrella jüngst ihre Thesen über +Die Grenzen des Wettbewerbs*(1995). 7Am <strong>in</strong>teressantesten aus dieser ke<strong>in</strong>eswegs vollständig aufgezählten – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong>8Gegenwart wie<strong>der</strong> stark anwachsenden – Reihe <strong>der</strong> sich mit den Grenzen des Marktes und<strong>der</strong> kapitalistischen Ökonomie beschäftigenden Publikationen ersche<strong>in</strong>t mir jedoch <strong>der</strong> Versuchvon Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf, die +Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung* (1996) darzulegen: 9In ihrer umfangreichen Arbeit <strong>in</strong>terpretieren Altvater und Mahnkopf den sich verselbständigendenKapitalismus <strong>der</strong> angebrochenen postfordistischen Ära (siehe auch S. 81f.) als e<strong>in</strong>en globalenEntbettungsmechanismus. 10Der Entbettungsprozeß f<strong>in</strong>det auf verschiedenen Ebenen statt: Zum e<strong>in</strong>en erfolgt e<strong>in</strong>e Herauslösung<strong>der</strong> Wirtschaft aus <strong>der</strong> Gesellschaft (vgl. S. 109–116). Darauf hatte schon Karl Polanyih<strong>in</strong>gewiesen (vgl. The Great Transformation und siehe auch S. 76). Doch damit nicht genug:Es kommt (und hier schließen Altvater und Mahnkopf an Giddens an)11<strong>in</strong>folge <strong>der</strong> Durchkapi-talisierung <strong>der</strong> Welt ebenfalls zu e<strong>in</strong>em umfassenden kulturellen +Disembedd<strong>in</strong>g*, zu e<strong>in</strong>erHerrschaft des Kapitals über die Raum- und Zeitstrukturen (vgl. Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung;S. 120–127). Denn im globalen Wettbewerb gilt, so banal es vielleicht kl<strong>in</strong>gen mag: Zeitist Geld – und damit für +produktive* Tätigkeiten reserviert.Der Raum <strong>in</strong> <strong>der</strong> +globalen Stadt* wie<strong>der</strong>um ist nur mehr e<strong>in</strong> bloßer (Ver)markt(ungs)platz,<strong>der</strong> sich auf die Bedürfnisse des Handels und des Kapitals auszurichten hat. Davon künden– als Wahrzeichen <strong>der</strong> Dom<strong>in</strong>anz e<strong>in</strong>es entbetteten Geldes, das immer weniger als konkretesZahlungsmittel dient, son<strong>der</strong>n als abstrakt-symbolisches Spekulationsmedium e<strong>in</strong>gesetzt wird(vgl. ebd. S. 129–132) – die Hochhaustürme <strong>der</strong> Banken und Versicherungen, die die +Skyl<strong>in</strong>e*so vieler Metropolen beherrschen. Und um den Motor <strong>der</strong> rastlosen globalen Wirtschaft amLaufen zu halten, die sich solche +Denkmale* setzt, erfolgt e<strong>in</strong>e rücksichtslose, für den Menschen


214 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEwie die Umwelt problematische Ausbeutung fossiler Brennstoffe: entbettete Energien (vgl.ebd.; 127f.).All diese hier nur kurz angerissenen Entbettungsmechanismen machen den Weltmarkt zue<strong>in</strong>em (auch von immer mehr Individuen so empfundenen, sozial-kulturelle Entfremdunghervorrufenden) +Sachzwang* (siehe auch S. 88),12und die durch die kapitalistische +Masch<strong>in</strong>erie*<strong>in</strong> Gang gesetzte Globalisierung stößt somit an ökonomische, ökologische wie an politischeGrenzen. Schon gar nichts hat sie aber mit wirklicher Globalität <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er (egalitären) Weltgesellschaftzu tun (vgl. ebd.; S. 133–144).In den hier von mir recht freizügig zusammengefaßten Grundthesen von Altvater und Mahnkopfkommt e<strong>in</strong>e (durchaus nicht unbegründete) Kapitalismus-Kritik zum tragen, die ihren (alt)l<strong>in</strong>kenUrsprung nicht verbergen kann. Doch auch <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht eher +unverdächtige* Autorenwie <strong>der</strong> amerikanische Ökonom Lester Thurow (<strong>der</strong> am renommierten MIT lehrt) beurteilen+Die Zukunft des Kapitalismus* (1996) eher skeptisch.13Thurow identifiziert aktuell fünf, fürsich genommen ke<strong>in</strong>eswegs recht orig<strong>in</strong>elle +Tektonikplatten* <strong>der</strong> weltökonomischen Ordnung,die <strong>in</strong> ihrer Zusammenstellung aber e<strong>in</strong>e hilfreiche Übersicht vermitteln:1. das Ende <strong>der</strong> sozialistischen Staatenwelt (womit die Systemkonkurrenz des +Kommunismus*entfallen ist), 2. die immer bedeuten<strong>der</strong> werdenden Informationstechnologien (die klassischeWettbewerbsvorteile wie das Verfügen über Rohstoffe zum Verschw<strong>in</strong>den br<strong>in</strong>gen und denFaktor Ausbildung/Wissen dafür immer wichtiger werden lassen),143. das Wachstum <strong>der</strong> Weltbe-völkerung (das den Lohndruck erhöht und gleichzeitig an<strong>der</strong>weitig benötigtes Investitionskapitalblockiert und absorbiert), 4. (natürlich) die Globalisierung <strong>der</strong> Wirtschaft (die, wie obenangesprochen, die notwendige politische Regulation <strong>der</strong> Ökonomie erschwert) und 5. dasentstandene multipolare Staatensystem ohne Hegemon (das dieses Problem noch verschärft).(Vgl. Kap. 3–7)Alles <strong>in</strong> allem betrachtet, leben wir nach Thurow <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er +Periode des gestörten Gleichgewichts*(vgl. ebd.; Kap. 14), wobei vor allem <strong>der</strong> extrem kurze Zeithorizont <strong>der</strong> ökonomischen Zweckrationalitätproblematisch ist (die nach möglichst schnellem Profit strebt und so langfristigeZusammenhänge – egal, ob das ökonomische System selbst o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Bereiche wie z.B.die +Umwelt* betreffend – aus ihrem Horizont zwangsläufig ausblendet). Aber es gibt nochzwei weitere von Thurow gesehene Probleme: Der Kapitalismus ist – auch das (siehe oben)ke<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>s orig<strong>in</strong>elle Feststellung – im Kern +<strong>in</strong>dividualistisch*, ihm fehlt die soziale


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 215Komponente. Und: +In e<strong>in</strong>em sehr tiefgreifenden S<strong>in</strong>ne liegen auch die kapitalistischen Wertvorstellungenmit dem Kapitalismus im Krieg. Erfolg o<strong>der</strong> Mißerfolg hängen von den getätigtenInvestitionen ab. Dennoch predigt <strong>der</strong> Kapitalismus e<strong>in</strong>e Theorie des Konsumismus.* (Ebd.;S. 447) 15Der Kapitalismus unterm<strong>in</strong>iert damit se<strong>in</strong>e eigene Basis, er ist selbstwi<strong>der</strong>sprüchlich. Aus dieserWi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Kapitalismus folgert Thurow allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>en Zusammenbruchdes kapitalistischen Systems analog zu jenem <strong>der</strong> +sozialistischen* (Fehl)plan(ungs)wirtschaften<strong>in</strong> Osteuropa – denn das von ihm unter Punkt e<strong>in</strong>s genannte, eben daraus resultierende Fehlen<strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung des Kapitalismus durch e<strong>in</strong> konkurrierendes System ist <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sichtstabilisierend: +Ohne Wettbewerber […] kann <strong>der</strong> Kapitalismus […] nicht von <strong>in</strong>nen herauszerstört werden* (ebd.; S. 476). So sieht Thurow nur die Gefahr e<strong>in</strong>er unproduktiven Stagnationgegeben (vgl. ebd.) – e<strong>in</strong>e Gefahr, die für e<strong>in</strong> auf Wachstum aufgebautes Wirtschaftssystemjedoch nicht unterschätzt werden sollte.Zum Abschluß dieser sehr selektiven, trotzdem wohl aber e<strong>in</strong>igermaßen +repräsentativen* 16Literaturübersicht und -exegese möchte ich die auf verschiedenen Ebenen zum Tragenkommenden, hier jeweils nur kurz angerissenen Wi<strong>der</strong>sprüche des globalen Kapitalismusbzw. <strong>der</strong> Globalisierung noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> vier Punkten zusammenfassen und sie aus me<strong>in</strong>erSicht verdeutlichen:• Es gibt ökonomische Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung, die primär <strong>in</strong> <strong>der</strong> Instabilität erzeugenden+Überhitzung* durch das ungezügelte Wachstum e<strong>in</strong>es nicht regulierten Marktes und <strong>der</strong>zunehmenden, <strong>in</strong> gleicher Weise <strong>in</strong>stabilisierend wirkenden Abstraktion des Handels begründetliegen, aber auch aus <strong>der</strong> den Warenabsatz hemmenden kapitalistischen Ungleichheitsproduktionresultieren (siehe zum letzten Punkt nochmals Anmerkung 4).• Es gibt sozial-kulturelle Grenzen des globalen Kapitalismus, die aus <strong>der</strong> Abkopplung <strong>der</strong>Wirtschaft von ihrem sozialen Kontext, <strong>der</strong> oben angesprochenen, sozial des<strong>in</strong>tegrierendenUngleichheitsproduktion und <strong>der</strong> Entfremdung hervorrufenden kulturellen Dom<strong>in</strong>anz desKapitals und <strong>der</strong> Wirtschaft herrühren.• Es gibt ökologische Grenzen <strong>der</strong> kapitalistischen Produktion, die – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wenn <strong>in</strong>dustriegesellschaftlicheKonsummuster sich global verbreiten (was geschehen muß, um weiteresWachstum zu gewährleisten) – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökologische Sackgasse führen.


216 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Und es gibt politische Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung. Sie liegen nicht etwa <strong>in</strong> den Staatengrenzen(die dem Kapital e<strong>in</strong>st Schutz gewährten). Es hat diese (nachdem sie es aktuell mehr beh<strong>in</strong><strong>der</strong>nals beför<strong>der</strong>n) bereits weitgehend überwunden (siehe Abschnitt 2.1). Vielmehrliegen die politischen Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung <strong>in</strong> den Regulationsdefiziten, die demglobalen Kapital <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart zwar nutzen, da ihm die Schwäche <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> immenseProfitmöglichkeiten eröffnet. Doch dies könnte <strong>der</strong> Wirtschaft <strong>in</strong> Zukunft vielleicht teuerzu stehen kommen. Denn wenn die Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung aus ihrer selbstentfaltetenDynamik heraus überschritten werden, ohne daß die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>schreitet, könnten nichtnur ökologische und soziale Krisen die Folge se<strong>in</strong> (die wie<strong>der</strong>um auf das Wirtschaftsgeschehennegativ rückwirken), son<strong>der</strong>n es könnten auch ökonomische Beben auftreten. Die Globalisierungdes Kapitals entzieht <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> jedoch die Machtbasis für ihre notwendigen regulierendenE<strong>in</strong>griffe. Denn (ökonomische) Globalisierung unterm<strong>in</strong>iert den Staat als wirtschaftlicheund soziale E<strong>in</strong>heit und damit das (bestehende) ökonomisch-politische Gehäuse. 17Im folgenden soll speziell dieses ökonomische Dilemma des nationalen Wohlfahrtstaats näherdargelegt werden. Dabei drängen sich zunächst zwei Fragen auf: Was geschieht mit demalten Nationalstaat im Kontext e<strong>in</strong>er globalisierten Ökonomie, und welche Maßnahmen könntedie <strong>Politik</strong> ergreifen, um nicht vor <strong>der</strong> entfalteten ökonomischen Dynamik zu kapitulieren?Neben vielen an<strong>der</strong>en hat sich auch Ulrich Beck hier jüngst um Antworten bemüht und dabeiauf e<strong>in</strong>en ebenso naheliegenden wie verbreiteten (im Pr<strong>in</strong>zip bereits von Kant vorgezeichneten) 18Gedanken zurückgegriffen, <strong>der</strong> be<strong>in</strong>haltet, was ich das Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> nennenmöchte. Die <strong>Politik</strong> sollte gemäß dieser Strategie versuchen, durch regionale bzw. <strong>in</strong>ternationaleKooperation im Globalisierungswettlauf mit <strong>der</strong> Ökonomie aufzuholen. Das politische Gehäusemuß also erweitert, muß +transnationalisiert* werden, um es zu stablisieren:+Die zentrale E<strong>in</strong>sicht lautet: Ohne Europa gibt es ke<strong>in</strong>e Antwort auf Globalisierung […] Nur im transnationalenRaum Europa kann die e<strong>in</strong>zelstaatliche <strong>Politik</strong> vom Objekt drohen<strong>der</strong> zum Subjekt gestalten<strong>der</strong>Globalisierung werden […] Der <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Deregulierung <strong>der</strong> transnationalen Organisationen wäre dieFor<strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>er Regulierung, <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>führung sozialer und ökologischer Standards, entgegenzusetzen.*(Beck: Was ist Globalisierung?; S. 261f.)Das (transnationalistische) Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (das Beck im Zitat auf den IntegrationsraumEuropa bezieht) sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e logische Antwort auf ökonomische Globalisierung zu se<strong>in</strong>:


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 217Die <strong>Politik</strong> gew<strong>in</strong>nt, <strong>in</strong>dem sie die Hülle des zu eng gewordenen Nationalstaats abstreift und<strong>in</strong> die <strong>in</strong>ter- bzw. transnationale Sphäre expandiert, wie<strong>der</strong> an E<strong>in</strong>flußmöglichkeiten und Gestaltungsfreiräumen.Nutzt sie diese positiv, so kann auf regionaler (und später vielleicht sogarglobaler) Ebene erreicht werden, was im Kontext des Nationalstaats lange Zeit gelang: dieWi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus latent zu halten.19Und das impliziert natürlich auch die Mil-<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> vom kapitalistischen Wirtschaftssystem bewirkten sozialen Spannungen und Ungleichheitensowie die Vorsorge gegen (ökologisch <strong>fatal</strong>e) ökonomische Kurzsicht. Die <strong>Politik</strong> versuchtalso im Expansionsmodell mit ihrer Ausweitung zusammenzuhalten, was ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>driftet,und reagiert durch die Bemühung um e<strong>in</strong>e neue koord<strong>in</strong>ierende Verregelung auf die vonaußen über sie here<strong>in</strong>brechenden Denationalisierungsprozesse (vgl. auch z.B. Zürn: Jenseits<strong>der</strong> Staatlichkeit sowie Habermas: Jenseits des Nationalstaats). 20Doch dieses Expansionsmodell ist offensichtlich nicht <strong>der</strong> Weg, <strong>der</strong> überwiegend von <strong>der</strong><strong>Politik</strong> beschritten wird, um auf Globalisierungsprozesse zu reagieren. Wie <strong>in</strong> Abschnitt 2.1dargestellt, gibt es <strong>der</strong>zeit nur e<strong>in</strong>ige wenige Ansätze zur Transnationalisierung <strong>der</strong> (<strong>in</strong>stitutionellen)<strong>Politik</strong>. Am ausgeprägtesten s<strong>in</strong>d solche Prozesse <strong>der</strong>zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Europäischen Union,wo die regionale Integration sich auch immer weiter auf die politische Ebene erstreckt (sieheS. 93f.). Die Entwicklung <strong>in</strong> <strong>der</strong> EU kann jedoch nicht als stellvertretend für die gesamte Weltangesehen werden. Und selbst hier kollidiert die fortschreitende politische Integration zuweilenmit den real fortbestehenden (kulturellen) Nationalismen (vgl. auch Smith: Nations andNationalism <strong>in</strong> a Global Era; Kap. 6). Zudem ist die ausgedehnte Übertragung von nationalenHoheitsrechten auf EU-Organe solange unter Demokratiegesichtspunkten zum<strong>in</strong>dest problematisch,wie diese ke<strong>in</strong>e ausreichende demokratische Legitimation besitzen (vgl z.B. Classen:Europäische Integration und demokratische Legitimation).Doch was vielleicht sogar noch wichtiger ist: Das Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> berücksichtigtnicht die dem politischen Institutionensystem immanente Systemlogik, die die <strong>Politik</strong>er daranh<strong>in</strong><strong>der</strong>t, gemäß <strong>der</strong> im Expansionsmodell vorgeschlagenen Strategie zu handeln. Die <strong>Politik</strong>als Funktionssystem (um es <strong>in</strong> systemtheoretisch-funktionalistischer Term<strong>in</strong>ologie auszudrücken)hat zwar – <strong>in</strong>nerhalb ihres nationalstaatlichen Gehäuses bzw. Makrosystems – e<strong>in</strong>en gewissenGrad an Autonomie gewonnen, dabei jedoch e<strong>in</strong>e auf diesen Nationalstaat fixierte Handlungslogikentwickelt und darüber h<strong>in</strong>aus auch ihre Reproduktionsmechanismen (z.B. mit dem+Inlän<strong>der</strong>*-orientierten aktiven und passiven Wahlrecht) an se<strong>in</strong>e räumlichen Strukturen ge-


218 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEbunden. Das aber heißt: <strong>Politik</strong>er lernen zwangsläufig <strong>in</strong> Kategorien und Unterkategoriendes Nationalstaats (wie dem +Brutto<strong>in</strong>landsprodukt* o<strong>der</strong> dem +Landesverband*) zu denken,wenn sie <strong>in</strong> diesem System erfolgreich se<strong>in</strong> wollen. Daß sich e<strong>in</strong>e solche nationalstaatsfixierteHandlungslogik und Reproduktionsstruktur im System <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> etabliert hat, ist allerd<strong>in</strong>gsnicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, denn die +mo<strong>der</strong>ne* <strong>Politik</strong> hat sich (historisch betrachtet) gleichzeitigund im Verbund mit dem +mo<strong>der</strong>nen* Industrialismus entwickelt, und dieser beruhte aufdem Nationalstaat als wirtschaftlicher wie politischer Basis-E<strong>in</strong>heit, die e<strong>in</strong>igermaßen berechenbareVerhältnisse zu gewährleisten versprach (vgl. v.a. Hobsbawm: Nationen und Nationalismus;S. 37ff. und siehe auch Abschnitt 1.4).Das alles soll nicht besagen, daß die <strong>Politik</strong> im Nationalstaat, den John Holloway treffendals +verfestigte Form gesellschaftlicher Verhältnisse* charakterisiert (Globales Kapital und nationalerStaat; S. 15), e<strong>in</strong>e bloße Unterfunktion <strong>der</strong> Ökonomie wäre (wenngleich natürlich das politischeSystem stark von den ökonomischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen abhängt). Wie schon oben <strong>in</strong> Anlehnungan funktionalistische Argumentationsmuster angedeutet wurde, verfügt <strong>Politik</strong> dadurch,daß sie <strong>in</strong>stitutionell und formal vom Wirtschaftssystem abgrenzbar ist, über e<strong>in</strong>e gewisse(Teil-)Autonomie. Sie muß sogar über diese Autonomie verfügen, wenn sie ihre (faktische)Funktion im nationalen Kontext, das +Systemmanagement*, erfolgreich ausfüllen soll. Dennohne e<strong>in</strong> (größeres o<strong>der</strong> kle<strong>in</strong>eres) eigenständiges Moment könnte <strong>Politik</strong> schließlich nichtregulierend und stabilisierend <strong>in</strong>s (nationale) Marktgeschehen e<strong>in</strong>greifen. Darüber h<strong>in</strong>aus eröffnetdie Trennung <strong>in</strong> die verschiedenen Sphären (wie im zweiten Kapitel vor allem anhand <strong>der</strong>Bereiche Justiz und Wissenschaft dargestellt wurde) die Möglichkeit e<strong>in</strong>er translatorischenwie fragmentisierenden Deflexion: +Kämpfe werden <strong>in</strong> politische und ökonomische Formenkanalisiert, von denen ke<strong>in</strong>e Raum läßt für Fragen zur Struktur <strong>der</strong> Gesellschaft als Ganzer*(ebd.; S. 17). 21Die <strong>Politik</strong> ist, wie gesagt, aufgrund ihrer +genetisch* bed<strong>in</strong>gten System- und Handlungslogiknoch immer fixiert auf dieses deflexive Zusammenspiel <strong>der</strong> formal getrennten Sphären imalten +Conta<strong>in</strong>er-Staat* (vgl. Taylor: The State as a Conta<strong>in</strong>er),22<strong>der</strong> freilich – wenn er je wirklich+dicht* war – längst zu lecken begonnen hat (vgl. ebd; S. 157–161 sowie <strong>der</strong>s.: BeyondConta<strong>in</strong>ers). Vor allem das Kapital hat sich, wie schon oben (und <strong>in</strong> Abschnitt 2.1) festgestellt,vom (nationalen) Territorium weitgehend emanzipiert.23So resümiert denn auch Holloway:+Der Nationalstaat ist nicht mehr das, was er e<strong>in</strong>mal war. Als Moment des globalen Kapital-


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 219verhältnisses hat er nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher.* (Globales Kapital und nationalerStaat; S. 30)Die Mobilität des Kapitals, das sich dem staatlichen Zugriff +elegant* durch globale Transaktionenund Verschiebungen entzieht, stellt vor allem die wohlfahrtsstaatliche Umverteilungspolitikvor große Probleme, da ihr durch die +Flüchtigkeit* des Kapitals zunehmend die Mittel fehlen,um jene Redistribution durchzuführen, die den sozialen Frieden (und damit <strong>in</strong>direkt auchdie Stabilität des politischen und ökonomischen Systems) so lange sicherte. Ich werde unten(siehe S. 224–230) noch näher auf diese Problematik e<strong>in</strong>gehen. Wenn die nationale <strong>Politik</strong>aber auf diese Bedrohung aufgrund ihrer Systemlogik nicht mit transnatioanler Expansionreagieren kann (o<strong>der</strong> will), um das flüchtige Kapital wie<strong>der</strong> +e<strong>in</strong>zufangen*, wie versucht siedann, dem Dilemma zu entgehen? – Sie verfolgt dazu das, was ich die nationale Strategienennen möchte, und die im Grunde auf e<strong>in</strong>em liberalistischen Wettbewerbsmodell beruht,betreibt also e<strong>in</strong>e Selbstökonomisierung. Dazu Joachim Hirsch:+Grob gesprochen, konzentriert sich staatliche <strong>Politik</strong> zunehmend darauf, e<strong>in</strong>em global flexibler agierendenKapital <strong>in</strong> Konkurrenz mit an<strong>der</strong>en Staaten günstige Verwertungsvoraussetzungen zu verschaffen.* (Dernationale Wettbewerbsstaat; S. 103)Die Logik dieser Strategie ist denkbar e<strong>in</strong>fach: Man läßt sich auf jenen zu Beg<strong>in</strong>n diesesAbschnitts mit Marcos und Luttwak an die Wand gemalten (vierten) +Welt(wirtschafts)krieg*e<strong>in</strong>, hofft im Konkurrenzkampf mit den an<strong>der</strong>en Nationen zu bestehen und sich so e<strong>in</strong> möglichstgroßes Stück vom globalen +Verteilungskuchen* zu sichern. Dazu öffnet man den eigenenMarkt, senkt die sozialen Standards, erhebt niedrige Kapitalsteuern (o<strong>der</strong> verzichtet ganz darauf)und gewährt <strong>in</strong>vestitionswilligen Unternehmen Vergünstigungen (wie kostenlose Baugrundstücke)o<strong>der</strong> Son<strong>der</strong>rechte (wie die Nichte<strong>in</strong>haltung von Schadstoffbegrenzungen bei <strong>der</strong> Produktion)etc.24Durch diese (segmentäre) +Liberalisierung* und Deregulierung erstrebt man e<strong>in</strong>en Erhaltbzw. die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Ankurbelung <strong>der</strong> Wirtschaft.Und über die Besteuerung des Konsums und <strong>der</strong> E<strong>in</strong>kommen <strong>der</strong> Arbeitnehmer, die weitschwerer flüchten können als das Kapital, sollen dann Gel<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Staatskassen fließen,die e<strong>in</strong>e wohlfahrtsstaatliche Grundsicherung garantieren, so daß die sozialen Spannungenauf e<strong>in</strong>em +erträglichen* Niveau bleiben – wenn das Globalisierungsargument nicht ohneh<strong>in</strong>nur (ideologisch) vorgeschoben wird, um den Abbau des Sozialstaats zu betreiben.


220 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDie nationale Strategie wird heute von vielen Län<strong>der</strong>n verfolgt, und das alle<strong>in</strong>e reicht aus,um sie (über den entstandenen Anpassungs- und Wettbewerbsdruck) auch <strong>der</strong> restlichenWelt mehr o<strong>der</strong> weniger aufzuzw<strong>in</strong>gen. Hirsch sieht im Zuge dieser Entwicklung sogar e<strong>in</strong>enneuen, +dezentrierten* Typ des kapitalistischen Staates – eben den +nationalen Wettbewerbsstaat*– entstehen, <strong>der</strong> nur noch e<strong>in</strong>e beschränkte Vermittlungsfunktion wahrnimmt (vgl. ebd.;25S. 114ff.), wodurch e<strong>in</strong>e neuerliche +Transformation <strong>der</strong> Demokratie* (Agnoli) <strong>in</strong> Gang gesetztwird.26Denn mit dem Rückzug <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> laufen auch die demokratischen Prozesse <strong>in</strong>s Leere,was die Defizite <strong>der</strong> liberalen Demokratie nach Hirsch noch stärker als bisher hervortretenläßt. So kommt es zu e<strong>in</strong>er (politikmüden) Entfremdung vom System bzw. e<strong>in</strong>er Delegitimierung<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> den Augen <strong>der</strong> Bevölkerung (vgl. ebd.; S. 136ff.) – wofür es (z.B. mit s<strong>in</strong>kendenWahlbeteiligungen und e<strong>in</strong>em auch empirisch +meßbaren* Vertrauensverlust) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat gewisseAnzeichen gibt (siehe hierzu auch nochmals S. 199). Auf e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Problem im Zusammenhangmit <strong>der</strong> Abdankung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im nationalen Wettbewerbsstaat, dem +Machtwechsel vomStaat zum Markt*, <strong>der</strong> auch die <strong>in</strong>ternationalen Asymmetrien verschärft, weist Susan Strangeh<strong>in</strong>.27Denn für sie tun sich gefährliche +Lücken <strong>in</strong> <strong>der</strong> Exekutivgewalt* (gaps <strong>in</strong> government)auf, die <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das weltweite organisierte Verbrechen zu nutzen weiß (vgl. The Limitsof Politics).Nicht nur deshalb läßt sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach behaupten: Die nationale Strategie ist letztendliche<strong>in</strong>e <strong>fatal</strong>e Strategie.28Was sie anstrebt (die Sicherung <strong>der</strong> nationalen Wohlfahrt),untergräbt sie <strong>in</strong> Wirklichkeit. In <strong>der</strong> gegenseitigen Konkurrenz schwächen sich die Staatenund entziehen sich Gestaltungsfreiräume wie ökonomische Ressourcen, denn <strong>in</strong>dem sie sich<strong>der</strong> kapitalistischen Wettbewerbslogik unterordnen, geht ohneh<strong>in</strong> begrenzte politische Autonomieverloren, und <strong>in</strong>dem sie sich gegenseitig unterbieten, um Kapital anzulocken, muß <strong>in</strong>sgesamtvon <strong>der</strong> Kapitalseite immer weniger Transfer an die Gesellschaft geleistet werden (vgl. auchAsp<strong>in</strong>wall: The Unholy Social Tr<strong>in</strong>ity; S. 130f.).29Der <strong>in</strong>ternationale +Weltwirtschaftskrieg*(nicht <strong>der</strong> <strong>der</strong> Unternehmen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>der</strong> Staaten) ist global betrachtet für die <strong>Politik</strong>deshalb e<strong>in</strong> +M<strong>in</strong>ussummenspiel*, e<strong>in</strong> +Wettlauf ohne Sieger* (Altvater).30Die Ökonomisierung<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die nationale Strategie trägt so zur Verschlimmerung des unten behandeltenDilemmas des Wohlfahrtsstaates bei. Bevor dieses aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en verschiedenen Dimensionendargestellt werden kann, steht es noch aus, drei weitere mögliche politische Strategien aufdie ökonomische Globalisierung kurz zu thematisieren: die (subnationalistische) Strategie <strong>der</strong>


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 221Übersicht 5: Politische Strategien auf ökonomische Globalisierung• Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (Evolution <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong>): Übertragung bzw. Ausweitung <strong>der</strong>Interventionspolitik des Nationalstaats auf transnationale politische Strukturen• Nationale Strategie (liberalistisches Wettbewerbsmodell): Sicherung e<strong>in</strong>er begrenzten nationalen Wohlfahrtdurch die Attraktion des globalen Kapitals mittels <strong>der</strong> Schaffung +attraktiver* Rahmenbed<strong>in</strong>gungen (Abbaudes Sozialstaats, ger<strong>in</strong>ge Kapitalbesteuerung etc.)• Lokalisierungsstrategie (Subnationalismus): +Downsiz<strong>in</strong>g* des Staates auf kle<strong>in</strong>e, kulturell und ökonomischrelativ homogene, +natürliche* geographische (Wirtschafts-)Räume mit hoher Effizienz• Delokalisierungsstragegie (virtueller Staat): Entterritorialisierung des Staates <strong>in</strong> Reaktion auf die Entterritorialisierung<strong>der</strong> Ökonomie• Globale Subpolitisierung (+revolutionäres* Expansionsmodell): Ablösung <strong>der</strong> (nationalen) <strong>Politik</strong> durch globalesubpolitische SelbstorganisationLokalisierung, die Strategie <strong>der</strong> Delokalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im virtuellen Staat und die (+revolutionäre*)Strategie <strong>der</strong> globalen Subpolitisierung (siehe auch Übersicht 5). 31Ich möchte mit <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> Strategie <strong>der</strong> Lokalisierung beg<strong>in</strong>nen und werde dabeiauf die Überlegungen von Kenichi Ohmae zurückgreifen. Ohmae war lange Zeit Direktor<strong>der</strong> weltweit agierenden Unternehmensberatung +McK<strong>in</strong>sey & Company*, die den von ihnenbetreuten Firmen vorzugsweise e<strong>in</strong> +Gesundschrumpfungsprogramm* verschreibt. +Downsiz<strong>in</strong>g*und +Lean Management* etc. s<strong>in</strong>d hier die Stichworte. Und so empfiehlt Ohmae analog auchso etwas wie e<strong>in</strong> +Downsiz<strong>in</strong>g* des politischen Territoriums als Ausweg aus <strong>der</strong> +Globalisierungsfalle*(Mart<strong>in</strong>/Schumann) e<strong>in</strong>er grenzenlosen Ökonomie, die dem Nationalstaat auch nachOhmae die Basis raubt (vgl. The End of the Nation State; <strong>in</strong>sb. Kap. 1 u. 5).Die Ökonomie ist für ihn nämlich längst eher <strong>in</strong> überschaubaren, dynamischen (allerd<strong>in</strong>gsden weltweiten Markt anvisierenden) Regionen als <strong>in</strong> <strong>in</strong>effizienten nationalstaatlichen Großräumenorganisiert. Diese Regionen (wie z.B. Baden-Württemberg, Norditalien o<strong>der</strong> Kalifornien)stellen – im Gegensatz zum Nationalstaat – sozusagen +natürliche* und wachstumsträchtigeZonen dar (vgl. ebd.; Kap. 7 sowie <strong>der</strong>s.: The Rise of the Region State). Um nun mit <strong>der</strong> ökonomischenEntwicklung Schritt zu halten und um effizienter zu werden, muß sich auch die<strong>Politik</strong> verstärkt regional bzw. lokal organisieren (vgl. The End of the Nation State; Kap. 8u. 9). 32Was Ohmae hier vorschlägt, ist letztlich aber nur e<strong>in</strong>e Art Subnationalismus, <strong>der</strong> für prosperierendeRegionen vielleicht als geeigneter Weg ersche<strong>in</strong>en mag, um sich aus allzu leichtdurchschaubaren Motiven von ihren weniger prosperierenden Kontexten abzukoppeln. Aus


222 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEe<strong>in</strong>er +globaleren* Perspektive be<strong>in</strong>haltet sie jedoch genau dieselben Wi<strong>der</strong>sprüche, wie dienationale Strategie – denn es ist egal, wie groß bzw. kle<strong>in</strong> und +homogen* die politischenRäume s<strong>in</strong>d, die <strong>in</strong> Konkurrenz zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> treten. Immer wird die Folge e<strong>in</strong>er solchen, andie kapitalistische Wettbewerbslogik angepaßten Konkurrenz e<strong>in</strong> Verlust an politischenFreiräumen se<strong>in</strong>. Das Lokale hätte nur dann e<strong>in</strong>e wirkliche Chance, wenn es sich vorherglobal vernetzt, also die Lokalisierungsstrategie im Kontext e<strong>in</strong>es +fö<strong>der</strong>ativen* Expansionsmodellsangewandt wird.Interessanter und (theoretisch) +vielversprechen<strong>der</strong>* als die Strategie <strong>der</strong> fragmentisierendenLokalisierung ist die Strategie <strong>der</strong> Delokalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im virtuellen Staat – wenn sieauch e<strong>in</strong> eher unrealistisches Modell darstellt. Der virtuelle Staat ist, folgt man RichardRosecrance, e<strong>in</strong> politisches Gebilde, bei dem sich auch die <strong>Politik</strong> – als Reaktion auf die sichentterritorialisierende Wirtschaft – nicht mehr auf das Territorium fixiert:+The virtual state is a country whose economy is reliant on mobile factors of production […] it housesvirtual corporations and presides over foreign direct <strong>in</strong>vestment by its enterprises. But more than this,it encourages, stimulates, and […] coord<strong>in</strong>ates such activities.* (The Rise of the Virtual State; S. 47)In dieser Formulierung ist <strong>der</strong> virtuelle Staat natürlich nicht viel mehr als <strong>der</strong> politische Erfüllungsgehilfee<strong>in</strong>er globalen virtuellen Ökonomie, d.h. Rosecrance stellt e<strong>in</strong> (gleichermaßen)ökonomistisches Gegenmodell zum territorialen +Regionen-Staat* Ohmaes auf, <strong>der</strong> sogar gemäßse<strong>in</strong>er Selbste<strong>in</strong>schätzung die Gefahr e<strong>in</strong>er +zivilen Krise* impliziert (vgl. ebd.; S. 59f.). Aberes lassen sich auch an<strong>der</strong>e Strukturen für virtuelle politische Geme<strong>in</strong>schaften imag<strong>in</strong>ieren,die weniger auf <strong>der</strong> bloßen politischen Doppelung ökonomischer Prozesse beruhen, als auf<strong>der</strong> Faktizität globaler <strong>in</strong>terpersonaler Netzwerke:+The age-old <strong>in</strong>ternational or<strong>der</strong>, which was limited to territorial states, needs to be expanded to makeroom for nations that are not organized territorially <strong>in</strong>to <strong>in</strong>dependent states. A non-territorial system ofnations has <strong>in</strong> fact existed for much of history, though it was never given a formal expression by statesjealous of their sovereign authority. It consists of nations bound across ties of k<strong>in</strong>ship, sentiments, aff<strong>in</strong>ity,culture and loyalty.* (Gottlieb: Nations Without States; S. 105)Zur Konstitution solcher virtueller Nationen müßten die bestehenden territorialen Staatengrenzennach Gottlieb nicht e<strong>in</strong>mal aufgehoben werden. Die virtuellen Nationen sollen diese vielmehr


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 223nur politisch und kommunikationstechnisch transzendieren, während die alten staatlichenTerritorialstrukturen parallel weiterexistieren. Freilich müßten die transnationalen virtuellenGeme<strong>in</strong>schaften, um nicht bedeutungslos zu bleiben, auch mit gewissen +nationalen Rechten*ausgestattet se<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 106).Es ist allerd<strong>in</strong>gs fraglich, ob die Staaten sich dazu bereitf<strong>in</strong>den würden, virtuelle Nationenmit solchen Rechten auszustatten. Um dieses Problem zu beseitigen, müßte man schon dasPolitische wirklich vom Territorium lösen (d.h. die Territorialstaaten abschaffen). Das ist natürliche<strong>in</strong> noch unrealistischerer Vorschlag als <strong>der</strong> Gottliebs – vor allem, weil es unklar bliebe, wiesich die nur mehr virtuellen politischen Körper an die auch für sie notwendige materielleBasis ankoppeln könnten und wie sie ihre getroffenen politischen Entscheidungen durchsetzensollten. Zudem wäre das eigentliche Dilemma <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung so auchnicht gelöst, denn re<strong>in</strong> virtuelle politische Gebilde stünden dem virtuellen wie dem realenökonomischen Druck wahrsche<strong>in</strong>lich noch schwächer und hilfloser gegenüber als die aktuellenTerritorialstaaten. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ergäbe sich <strong>der</strong> Vorteil, daß sich im globalen virtuellenpolitischen Raum multidimensionale politische Landschaften problemlos(er) so abbilden ließen,wie sie <strong>in</strong> den Lebens(unter)welten bestehen. Denn die lebensweltliche Realität entsprichtzweifellos nicht <strong>der</strong> zweidimensionalen territorialen Kartierung des bestehenden politischenSystems, da im +privaten* Bereich vielfache Überlappungen bestehen.33Nur: Die Delokalisierung<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im virtuellen politischen Raum ist, wie gesagt, e<strong>in</strong> +unrealistisches* Modell.Ebenso unrealistisch ist die Strategie <strong>der</strong> globalen Subpolitisierung, die an<strong>der</strong>erseits, wennsie gelänge, tatsächlich e<strong>in</strong>e erfolgversprechende Antwort auf ökonomische Globalisierungdarstellen könnte. Im Pr<strong>in</strong>zip ist sie e<strong>in</strong>e Variante des Expansionsmodells, jedoch mit e<strong>in</strong>emgewichtigen Unterschied: Sie beruht gerade nicht – wie letztlich auch von Ulrich Beck, demeigentlichen Schöpfer Begriffs, mit se<strong>in</strong>em Konzept des +Transnationalstaats* vorgeschlagen(siehe Anmerkung 19) – auf <strong>der</strong> evolutionären Transnationalisierung <strong>der</strong> nur subpolitischergänzten <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong>, son<strong>der</strong>n gerade auf <strong>der</strong> wirklichen Substitution <strong>der</strong> +großen<strong>Politik</strong>* durch globale subpolitische Strukturen. Globale Subpolitisierung im hier von mirvorgeschlagenen S<strong>in</strong>n stellt also gewissermaßen e<strong>in</strong>e +revolutionäre* Transformation <strong>der</strong> globalenpolitischen Ordnung dar: (Lokale) subpolitische Bewegungen, die schließlich auch gemäßBeck häufig +effektvoller* agieren als staatliche Institutionen (vgl. Was ist Globalisierung?;S. 175f.), vernetzen sich global, bilden e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>standsnetz aus gegen die sozialen wie ökolo-


224 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEgischen Zumutungen des globalen Marktes und überw<strong>in</strong>den die (Ver)fest(ig)ungen des politischenSystems. Die politische Selbstorganisation <strong>der</strong> reflexiv-bewußten Individuen wird so dementbetteten ökonomischen Individualismus und e<strong>in</strong>er diesen (deflexiv) spiegelnden <strong>in</strong>stitutionellen<strong>Politik</strong> entgegengestellt. 34Mit Sicherheit würden aber bereits Ansätze zu e<strong>in</strong>er solchen (+revolutionären*) globalen Subpolitisierung– welche damit nicht nur die territorialen Grenzen, son<strong>der</strong>n auch die Grenzezur +echten* <strong>Politik</strong> überschritten hätte – vielfache Wi<strong>der</strong>stände hervorrufen. Insbeson<strong>der</strong>ewären heftige Gegenreaktionen von <strong>der</strong> Seite des Kapitals und <strong>der</strong> herausgefor<strong>der</strong>ten <strong>in</strong>stitutionellen<strong>Politik</strong> zu erwarten, die beide erhebliche Machtpotentiale besitzen. Auch ist es mehrals zweifelhaft, ob die Individuen (aktuell) überhaupt <strong>in</strong> relevantem Umfang bereit wären,sich zu e<strong>in</strong>er mühevollen Selbstorganisation zu bewegen. Schließlich dom<strong>in</strong>iert – trotz feststellbarerIndividualisierungstendenzen – weitgehend e<strong>in</strong> +politischer Konsumismus*, das heißt,man ist ganz zufrieden damit, daß e<strong>in</strong> soziales Subsystem existiert, das für politische Fragen+zuständig* ist. (Gemäßigter) Unmut regt sich nur dann, wenn das politische System die vonihm z.B. durch Wahlversprechen geweckten und an es gerichteten Erwartungen nicht erfüllt.An<strong>der</strong>erseits besitzt Subpolitik e<strong>in</strong>en gewissen +Globalisierungsvorsprung* vor <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten<strong>Politik</strong> (siehe auch S. 96f.), da sie nicht (o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest nicht aus Gründen<strong>der</strong> Selbst- und Systemerhaltung, son<strong>der</strong>n nur notgedrungen) auf die Staatengrenzen Rücksichtnehmen muß. Subpolitik ist also von vorne here<strong>in</strong> weniger nationalstaatsfixiert als die <strong>in</strong>stitutionalisierte<strong>Politik</strong>.Wie oben ausgeführt, ist aber genau die Nationalstaatsfixierung e<strong>in</strong> zentrales Problem imKontext ökonomischer Globalisierung, und die nationale Strategie, die von <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten<strong>Politik</strong> aufgrund ihrer system<strong>in</strong>tern herausgebildeten Handlungslogik favorisiert wird (sieheoben), verschärft die Probleme also eher, als daß sie sie löst. Das sieht man deutlich, wennman e<strong>in</strong>en Blick auf die dilemmatische aktuelle Situation des nationalen Wohlfahrtsstaatswirft, <strong>der</strong> lange Zeit die Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus durch se<strong>in</strong>e ausgleichende <strong>Politik</strong>überdecken konnte: <strong>der</strong> +große Leviathan* als <strong>der</strong> große +Umverteiler*, <strong>der</strong> die Individuendurch Konsum praxologisch <strong>in</strong> das System <strong>in</strong>tegriert. 35Doch Wohlfahrtsstaat war und ist nicht gleich Wohlfahrtsstaat. Vielmehr lassen sich mit GøstaEsp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen +drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus* unterscheiden, die die ihnen gestellteAufgabe <strong>der</strong> +De-Kommodifizierung*36auf unterschiedliche Weise meistern: Zum e<strong>in</strong>em gibt


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 225es das Modell des +liberalen Wohlfahrtsstaats*, <strong>der</strong> nur mit m<strong>in</strong>imalen E<strong>in</strong>griffen versucht,das System <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Nutzenmaximierung im +freien* Markt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Balance zu halten(typisches Beispiel s<strong>in</strong>d für Esp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen die Vere<strong>in</strong>igten Staaten). E<strong>in</strong> zweites Modell ist<strong>der</strong> +korporatistische Wohlfahrtsstaat*. Hier herrscht e<strong>in</strong> stärker staats- wie geme<strong>in</strong>schaftszentriertesDenken vor, und <strong>der</strong> Markt gilt nicht als alle<strong>in</strong>iger Garant des Volkswohlstands.An<strong>der</strong>erseits werden die gegebenen Hierarchien im +Sozialkörper* nicht <strong>in</strong> Frage gestellt,und es wird nur e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Umverteilung angestrebt. Als typisches Beispiel für dieses Modellgilt Esp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen Deutschland.37Die dritte Variante ist <strong>der</strong> +sozialdemokratische Wohl-fahrtsstaat*, <strong>der</strong> mit dem korporatistischen Wohlfahrtsstaat die Ablehnung des liberalen Marktmodellsgeme<strong>in</strong> hat und auf gezielte staatliche Interventionen baut, an<strong>der</strong>s als jener jedoche<strong>in</strong>en hohen Grad an Gleichheit anstrebt und e<strong>in</strong> ausgeprägtes Bewußtse<strong>in</strong> für soziale Gerechtigkeitzeigt. Wenig überraschend führt Esp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen hier Schweden als stellvertretendesBeispiel an. (Vgl. The Three Worlds of Welfare Capitalism; S. 26ff.)Auf die aktuelle, Arbeitskräfte freisetzende +<strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrialisierung* <strong>der</strong> Wirtschaft – d.h aufdie zunehmende (postfordistische) Rationalisierung, Flexibilisierung und Tertiärisierung (sieheauch S. LII–LV u. 81f.) – wurde <strong>in</strong> diesen drei Welten unterschiedlich reagiert: In den USAhat man durch die hier betriebene Liberalisierungspolitik als Ausgleich für die weggefallenenArbeitsplätze im +produktiven* Sektor viele schlecht bezahlte +junk-jobs* vor allem im Dienstleistungsgewerbe(speziell <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergnügungs<strong>in</strong>dustrie) geschaffen, die oft allerd<strong>in</strong>gs so niedrigbezahlt werden, daß gleich mehre Stellen angenommen werden müssen, um e<strong>in</strong> erträglichesAuskommen zu sichern (siehe auch S. 189).38Das ist <strong>der</strong> Preis, den die Amerikaner offensichtlichfür ihre vergleichsweise niedrige Arbeitslosenquote zu zahlen gewillt s<strong>in</strong>d.39In Deutschlandist man dazu nicht breit, hat dafür aber mit dem Phänomen e<strong>in</strong>es +jobless growth* (o<strong>der</strong>aktuell wohl vielmehr eher e<strong>in</strong>er +jobless stagnation*) zu kämpfen. Denn die <strong>Politik</strong> hat sogut wie nicht auf den Schwund <strong>der</strong> Arbeitsplätze <strong>in</strong> den +traditionellen* Industrien reagiertund baut noch immer auf die Funktionsfähigkeit des bestehenden Sozialversicherungssystems.In diesem +Kapitalismus ohne Arbeit* (Beck), <strong>der</strong> unbeabsichtigt das sozial sehr wirksame+Kontroll<strong>in</strong>strument* <strong>der</strong> Erwerbsarbeit aushebelt,40besteht durchaus die Gefahr e<strong>in</strong>er zuneh-menden Polarisierung <strong>der</strong> Gesellschaft – nicht so sehr, wie <strong>in</strong> den USA, zwischen den Inhabern+guter* und +schlechter* Jobs, son<strong>der</strong>n zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen.41E<strong>in</strong>e solchesoziale Polarisierung konnte dagegen <strong>in</strong> Schweden weitgehend vermieden werden. Der Staat


226 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEbemühte sich hier nämlich aktiv um e<strong>in</strong>e Anpassung an die Verhältnisse e<strong>in</strong>er post<strong>in</strong>dustriellenÖkonomie: durch Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramme, die gleichzeitig auch e<strong>in</strong> höheres42Maß an Geschlechtergleichheit sichern sollten. (Vgl. ebd.; S. 221–229)Esp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen berücksichtigt bei diesen (im Jahr 1990 veröffentlichten) Überlegungen allerd<strong>in</strong>gskaum die Wirkung von Globalisierungsprozessen. Auf post<strong>in</strong>dustriellen Wandel alle<strong>in</strong>e vermagdas sozialdemokratische Modell (das mit se<strong>in</strong>er nationalen Interventionsstrategie letztendliche<strong>in</strong> ebenso +konservatives* nationalistisches Projekt verfolgt wie <strong>der</strong> korporatistische Wohlfahrtsstaat)vielleicht noch adäquate Antworten parat haben – auf e<strong>in</strong>e <strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrialisierung imglobalen Kontext aber wohl kaum mehr. So droht mit Globalisierung die Vere<strong>in</strong>heitlichung<strong>der</strong> drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus, und zwar <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Anpassung nach +unten*,d.h. an das +liberale* Modell. Der <strong>in</strong>ternationale Wettbewerb begrenzt nämlich die Interventionsfähigkeit<strong>der</strong> nationalen <strong>Politik</strong>. Das mußte man <strong>in</strong> den letzten Jahren auch <strong>in</strong> Schwedenerfahren, wo drastische Umbauten des Wohlfahrtsstaats <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>er Liberalisierung vorgenommenwurden (vgl. z.B. Åkermann/Granatste<strong>in</strong>: Welfare States <strong>in</strong> Trouble).43Nur so konnteauf den <strong>in</strong>ternationalen Wettbewerbsdruck reagiert werden. Auch <strong>der</strong> Fall Schweden belegtdamit die global feststellbare Tendenz zu e<strong>in</strong>er ›Re-Kommodifizierung‹ <strong>der</strong> Arbeit (vgl. Neyer/-Seelaib-Kaiser: Arbeitsmarktpolitik nach dem Wohlfahrtsstaat).Der amerikanische Ökonom (und ehemalige Arbeitsm<strong>in</strong>ister <strong>der</strong> Cl<strong>in</strong>ton-Adm<strong>in</strong>istration) RobertReich hat die angesprochene, e<strong>in</strong>e neue Hierarchie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeitswelt bewirkende +Re-Kommodifizierung* <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Die neue Weltwirtschaft* (1991) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en ganz e<strong>in</strong>deutigenZusammenhang mit dem auch von ihm gesehenen Ende <strong>der</strong> nationalen Ökonomie und <strong>der</strong>+klassischen* Industriegesellschaft gebracht.44Dort bemerkt er e<strong>in</strong>leitend:+Wir durchleben <strong>der</strong>zeit e<strong>in</strong>e Transformation, aus <strong>der</strong> im kommenden Jahrhun<strong>der</strong>t neue Formen von<strong>Politik</strong> und Wirtschaft hervorgehen werden […] Das Grundkapital e<strong>in</strong>es jeden Landes werden die Kenntnisseund Fähigkeiten se<strong>in</strong>er Bürger bilden. Vorrangige Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wird es se<strong>in</strong>, gegen die Zentrifugalkräfte<strong>der</strong> Wirtschaft anzugehen, die die nationale Bürgerschaft zu zerreißen drohen – <strong>in</strong>dem diejenigen mitden besten Fachkenntnissen und Fertigkeiten reichlich belohnt und die weniger ausgebildeten Hilfskräftezu e<strong>in</strong>em s<strong>in</strong>kenden Lebensstandard verurteilt werden.* (S. 9)Die erste, die Gew<strong>in</strong>ner-Gruppe, von <strong>der</strong> Reich hier spricht, charakterisiert er im folgendenals +Symbol-Analytiker*: hoch gefragte Wissensarbeiter, die ihre Dienste global offerieren.Die zweite, weniger privilegierte (Verlierer-)Gruppe rekrutiert sich überwiegend aus den (<strong>in</strong>du-


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 227striellen) +Rout<strong>in</strong>earbeitern*, die Tätigkeiten mit niedrigem Anfor<strong>der</strong>ungsprofil ausüben unddamit voll <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Konkurrenz unterliegen (d.h. ihre Arbeitsplätze können leicht+ausgelagert* werden). Das trifft für die dritte Arbeitnehmer-Kategorie, die Reich identifiziert,die +Dienstleistenden*, nicht unbed<strong>in</strong>gt zu, denn ihre Tätigkeiten s<strong>in</strong>d zum großen Teil kundenbezogenund darum ortsgebunden. Allerd<strong>in</strong>gs haben sie aufgrund ihres ebenfalls meist ger<strong>in</strong>genQualifikationsniveaus, das auch sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es e<strong>in</strong> Überangebot an Arbeitskräftengibt, leicht ersetzbar macht, ke<strong>in</strong>e große Verhandlungsmacht im +Lohnpoker*, weshalbsie analog mit stagnierenden o<strong>der</strong> sogar s<strong>in</strong>kenden E<strong>in</strong>kommen rechnen müssen. (Vgl. ebd.;S. 191–206)E<strong>in</strong> Weg, <strong>der</strong> die soziale Sprengkraft dieser Entwicklung mil<strong>der</strong>n könnte, wäre gemäß Reiche<strong>in</strong>e stark progressive Steuer (verbunden mit e<strong>in</strong>er Schließung aller +Schlupflöcher*), so daß<strong>der</strong> Staat wie<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Umverteilungsaufgabe wahrnehmen könnte (vgl. ebd.; S. 276f.). 45Doch dabei geht er davon aus, das ausgerechnet die global vernetzten Symbol-Analytikerlokal fixiert s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest starke lokale Präferenzen haben, was für mich e<strong>in</strong>e eherunrealistische Annahme darstellt.46Vielmehr könnten die Staaten, gemäß <strong>der</strong> von ihnen bevor-zugten nationalen Strategie, versucht se<strong>in</strong>, um die durchaus global mobilen Symbol-Analytikerdurch niedrige E<strong>in</strong>kommensteuerhöchstsätze untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu konkurrieren – mit <strong>der</strong> Folge<strong>der</strong> analogen Verschärfung ihres Dilemmas wie bei <strong>der</strong> Konkurrenz um das globale Kapital.Und so gilt auch +global*, was Jürgen Neyer auf Westeuropa bezogen festgestellt hat:+Es genügt heute immer weniger, e<strong>in</strong>fach nur Deutscher, Franzose o<strong>der</strong> auch EU-Europäer zu se<strong>in</strong>, ume<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>igermaßen akzeptablen Lebensstandard erwarten zu können.* (Globaler Markt und territorialerStaat; S. 300)Die ökonomische +Schicksalsgeme<strong>in</strong>schaft* <strong>der</strong> Nation – wenn sie denn jemals wirklich bestandund nicht nur im Interesse des Eigentumsschutzes behauptet wurde – ist zerbrochen, sie wirdnur noch politisch aufrecht erhalten. Aber auch hier ist mit dem weitgehenden Wegfall <strong>der</strong>atomaren Bedrohung und <strong>der</strong> Selbstauflösung des retrospektiv betrachtet völlig ungerechtfertigterweiserso gefürchteten real existierenden +Sozialismus* viel E<strong>in</strong>endes verschwunden.Aus dieser Perspektive ist die +verzweifelte* Suche nach neuen Fe<strong>in</strong>dbil<strong>der</strong>n (schließlich liegtnach Carl Schmitt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Unterscheidung zwischen Freund und Fe<strong>in</strong>d sogar das Wesen desPolitischen) nur allzu verständlich – egal ob man den neuen Gegenspieler des Westens <strong>in</strong>


228 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEe<strong>in</strong>em erstarkenden (fundamentalistischen) Islam sieht, o<strong>der</strong> ganz allgeme<strong>in</strong>, wie Samuel Hunt<strong>in</strong>gton,die These e<strong>in</strong>es drohenden +Clash of Civilizations* (1993), e<strong>in</strong>es +Kampfs <strong>der</strong> Kulturen*,<strong>in</strong> den Raum stellt.Doch diese Überlegungen führen weg von <strong>der</strong> eigentlichen Thematik. Hier geht es schließlichum das ökonomische Dilemma des nationalen Wohlfahrtsstaats, das, wie schon <strong>in</strong> den obigenAusführungen deutlich anklang, auch e<strong>in</strong> Dilemma von Produktion und Beschäftigung ist –<strong>der</strong> global gestreuten, postfordistisch flexibilisierten und geschrumpften (materiellen) Produktione<strong>in</strong>er zunehmend symbolischen Ökonomie sowie <strong>der</strong> daraus resultierenden schrumpfendenBeschäftigung. Folgt man Karl Georg Z<strong>in</strong>n, so hat die sich somit abzeichnende tertiäre Krisevor allem zwei Gründe: Erstens könnte das momentan noch Arbeitsplätze schaffende (unddamit den Arbeitsplatzverlust im <strong>in</strong>dustriellen Bereich zum<strong>in</strong>dest teilweise auffangende)Wachstum des Dienstleistungssektors,47analog zur Produktion <strong>in</strong>dustrieller Güter, bald ane<strong>in</strong>e Sättigungsgrenze stoßen. Zweitens bietet <strong>der</strong> Dienstleistungssektor vermutlich auch deshalbke<strong>in</strong> dauerhaftes Arbeitsplatzreservoir, da erhebliche ungenutzte Rationalisierungspotentialevorhanden s<strong>in</strong>d und Dienstleistungen nicht nur rationeller erbracht, son<strong>der</strong>n zudem durchIndustriegüter (wie z.B. elektronische Auskunftssysteme o<strong>der</strong> Fahrkartenautomaten) substituiertwerden können. (Vgl. Auf dem Weg <strong>in</strong> die tertiäre Krise?; S. 62ff.)Nach Jeremy Rifk<strong>in</strong> droht sogar +Das Ende <strong>der</strong> Arbeit* (1995): Durch (weitere) technologischeInnovation, vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mikroelektronik (vgl. Teil II), kommt es zu dem schon von Marxprognostizierten Phänomen e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Unterbeschäftigung und Überproduktion (vgl.ebd.; Teil I). Dies führt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zu weiten Teilen +arbeitslose* und deshalb polarisierte Gesellschaft(vgl. ebd.; Teil III u. IV) – soweit wie gehabt. Doch <strong>der</strong> (kle<strong>in</strong>egeschriebene) Untertitel vonRifk<strong>in</strong>s Abgesang auf die Arbeitsgesellschaft lautet: +und ihre Zukunft*. Es ist also noch nichtalles verloren. Doch um die Zukunft <strong>der</strong> Arbeit zu sichern, ist nach Rifk<strong>in</strong> die <strong>Politik</strong> gefragt.Sie steht nach ihm vor <strong>der</strong> Wahl, entwe<strong>der</strong> immer mehr Geld für Verbrechensbekämpfungauszugeben48o<strong>der</strong> (von Rifk<strong>in</strong> favorisiert) Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung e<strong>in</strong>zuleiten(vgl. ebd.; Teil V).Dieser geradezu klassische Interventions-Ansatz deckt sich auch mit den Vorstellungen vonEthan Kapste<strong>in</strong>, <strong>der</strong> betont, daß es <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Situation wichtiger sei, wie<strong>der</strong> Wachstumsimpulsezur Beschäftigungsankurbelung zu geben, als die defizitären Staatshaushalte zu konsolidieren(vgl. Workers and the World Economy).49Rifk<strong>in</strong>, dessen Buch e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> umfassendsten


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 229Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen mit den aktuellen Wi<strong>der</strong>sprüchen <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft darstellt, gehtaber noch weiter und ist auch +radikaleren* Gedanken wie z.B. dem e<strong>in</strong>es +Bürgere<strong>in</strong>kommens*im Pr<strong>in</strong>zip gegenüber aufgeschlossen. Dieses vielfach aufgegriffene, von Robert Theobaldschon Anfang <strong>der</strong> 60er Jahre <strong>in</strong> die Debatte e<strong>in</strong>gebrachte Modell beruht (da auch Theobalddas Ende <strong>der</strong> Vollbeschäftigung kommen gesehen hatte) auf <strong>der</strong> Annahme, daß nur übere<strong>in</strong>e +negative Steuer* bzw. e<strong>in</strong> staatlich garantiertes M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen <strong>der</strong> Massenkonsumweiterh<strong>in</strong> als Wirtschaftsmotor dienen könne. Überdies würde durch diese Maßnahme kreativesunternehmerisches Potential entfesselt (vgl. Free Man and Free Markets sowie The GuaranteedIncome). Rifk<strong>in</strong> betont allerd<strong>in</strong>gs weniger letzteren Effekt, son<strong>der</strong>n plädiert dafür, daß dievom Wirtschaftssystem freigesetzten Personen geme<strong>in</strong>nützige Tätigkeiten verrichten sollten(vgl. Das Ende <strong>der</strong> Arbeit; S. 193ff.). In e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung weist aktuell auch Ulrich Beckmit se<strong>in</strong>en Überlegungen zum +Modell Bügerarbeit* (1999). 50Wie auch immer: Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach ist kaum geklärt, woher die Mittel für diese (pr<strong>in</strong>zipielldurchaus wünschenswerte) wohlfahrtsstaatliche Initiative kommen sollten.51Selbst im Fall<strong>der</strong> (immer noch) wohlhabenden Bundesrepublik würde e<strong>in</strong> garantiertes M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommenvon nicht allzu üppigen 1.000 DM pro Monat e<strong>in</strong>e jährliche Belastung des Staatshaushaltsvon fast e<strong>in</strong>er Billiarde Mark bedeuten – und damit mehr als die Hälfte <strong>der</strong> gesamten öffentlichenE<strong>in</strong>nahmen aufzehren.52Der Staat müßte also, um das +Bürgergeld* auszuzahlen und umse<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>en Aufgaben nicht zu vernachlässigen, kurzfristig se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>nahmen steigern, wasihm jedoch gerade unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> globalen Konkurrenz nahezu unmöglich gemachtwird – denn das Potential <strong>der</strong> Besteuerung von (über das M<strong>in</strong>deste<strong>in</strong>kommen h<strong>in</strong>ausgehenden)Arbeitse<strong>in</strong>kommen ist, zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> Deutschland, fast ausgeschöpft, und das Kapital wirdsich e<strong>in</strong>em verstärkten staatlichen Zugriff durch Abwan<strong>der</strong>ung zu entziehen wissen.Doch warum muß das eigentlich so se<strong>in</strong>? Könnte es nicht geschehen, daß die Wirtschaft(<strong>in</strong> ihrem eigenen Interesse) die Idee e<strong>in</strong>es Bürgere<strong>in</strong>kommens subventioniert? Stephan Leibfriedund Elmar Rieger haben nämlich ganz recht, wenn sie darauf verweisen, daß die Funktionsfähigkeitdes Wohlfahrtsstaats e<strong>in</strong>e Voraussetzung für e<strong>in</strong>e günstige Entwicklung des Kapitalismuswar und ist. Schließlich war +das Zentrum* (d.h. die westlichen Industrienationen) nicht zufälligökonomisch so überaus erfolgreich: Se<strong>in</strong>e hohe politische Stabilität und soziale Integrationstellte e<strong>in</strong>en nicht zu unterschätzenden Wettbewerbsvorteil <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Konkurrenzdar (vgl. Wohlfahrtsstaat und Globalisierung; S. 218f.).53Doch das letztgenannte Argument


230 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEverbleibt <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> global betrachtet zum Scheitern verdammten Logik e<strong>in</strong>er nationalenStrategie (d.h. die Wohlfahrt <strong>der</strong> Zentrumsnationen g<strong>in</strong>g +natürlich* auf Kosten <strong>der</strong> Wohlfahrt<strong>der</strong> Peripherie) und überschätzt zudem die aktuellen ökonomischen Vorteile e<strong>in</strong>er Wohlfahrtsökonomie.Aufstrebende NICs wie Ch<strong>in</strong>a s<strong>in</strong>d hierfür <strong>der</strong> Beweis.Der Grundgedanke ist jedoch trotzdem richtig. Das Kapital hätte +objektiv* durchaus e<strong>in</strong> Interessean sozialer und politischer Stabilität (und müßte dementsprechend auch bereit se<strong>in</strong>, <strong>der</strong>enKosten zu tragen). Nur +subjektiv* trifft dies (lei<strong>der</strong>) weniger zu. Historisch betrachtet mußtedie Kapitalseite (aufgrund <strong>der</strong> bereits angesprochenen +angeborenen* Kurzsichtigkeit <strong>der</strong> ökonomischenZweckrationalität) geradezu +zu ihrem Besten* (d.h. zu e<strong>in</strong>er begrenzten Umverteilung)gezwungen werden – durch die Androhung von Revolution und Enteignung. Dies geschahim Wechselspiel von proletarischer Organisation (im proletarischen Selbst<strong>in</strong>teresse) und politischerbzw. staatlicher Intervention (im Interesse des Systemerhalts). Beide +Spieler* s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellenSituation jedoch so geschwächt, daß sie (ob gewollt o<strong>der</strong> ungewollt) die kapitalistische Ökonomienicht mehr vor ihren eigenen Wi<strong>der</strong>sprüchen schützen können – die <strong>Politik</strong> aus dem obengenannten Grund ihrer Präferenz für die nationale Strategie mit <strong>der</strong> daraus zwangsläufig folgendenDom<strong>in</strong>anz des Kapitals; das Proletariat (o<strong>der</strong> sprechen wir – weniger klassenkämpferisch– lieber von ArbeitnehmerInnen), weil dieses bzw. diese aufgrund <strong>der</strong> historischen Erfahrung<strong>der</strong> (illusionär gewordenen) Idee e<strong>in</strong>er nationalen Wohlfahrt anhängen, so daß sie sich nicht<strong>in</strong>ternational solidarisieren, was sie müßten, um e<strong>in</strong>e spürbare Gegenmacht zum globalenKapital zu formieren. Ansätze zu e<strong>in</strong>er globalen Solidarisierung s<strong>in</strong>d, wie oben ausgeführt,gegenwärtig nur <strong>in</strong> den allerd<strong>in</strong>gs noch wenig tragfähigen subpolitischen Netzen zu beobachten.So arbeitet <strong>der</strong> Markt gegen den Markt, die <strong>Politik</strong> gegen die <strong>Politik</strong> und das +Proletariat*gegen das +Proletariat*.Halten wir abschließend also nochmals fest: Die mit zunehmen<strong>der</strong> Dynamik erfolgende(ökonomische) Globalisierung ist e<strong>in</strong> ambivalenter Prozeß. Insbeson<strong>der</strong>e durch se<strong>in</strong>e problematischenökologischen und sozialen Folgen, aber auch aufgrund se<strong>in</strong>er latenten immanentenWi<strong>der</strong>sprüchlichkeit, +verlangt* er geradezu nach politischer Regulation. Wie die Analyse<strong>in</strong> Abschnitt 2.1 allerd<strong>in</strong>gs zeigte, ist die Transnationalisierung <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> (unddamit auch ihre Interventionsfähigkeit) h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> ökonomischen Entwicklung deutlich zurückgeblieben.Die Gründe für dieses Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>klaffen wurden von mir im Vorangegengenenprimär darauf zurückgeführt, daß von <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> – aufgrund ihrer system<strong>in</strong>tern


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 231herausgebildeten Handlungslogik – e<strong>in</strong>e auf Konkurrenz statt auf Kooperation beruhendenationale Strategie verfolgt wird, die jedoch global betrachtet kaum geeignet ersche<strong>in</strong>t, dasökonomische System dauerhaft zu stabilisieren. Und auch die politischen Handlungsspielräume,die alle<strong>in</strong>e durch die ökonomischen +Grenzüberschreitungen* bereits genug e<strong>in</strong>geengt s<strong>in</strong>d,werden durch ihre Anwendung aktiv weiter reduziert. Das an die Wettbewerbslogik angepaßte+M<strong>in</strong>ussummenspiel* <strong>der</strong> nationalen Strategie verstärkt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das durch die parallellmit <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierung stattf<strong>in</strong>denen Tertiärisierungsprozesse (und die <strong>in</strong> ihrerFolge bewirkte +Verengung* des Arbeitsmarktes) ohneh<strong>in</strong> enorme f<strong>in</strong>anzielle wie <strong>in</strong>stitutionelleDilemma des nationalen Wohlfahrtsstaates. Diesem fehlen zunehmend die Mittel für se<strong>in</strong>eUmverteilungsprojekte, so e<strong>in</strong>erseits die praxologische Integration <strong>der</strong> Gesellschaft durch Konsumerschwert wird, während an<strong>der</strong>erseits das soziale Kontroll<strong>in</strong>strument <strong>der</strong> (Erwerbs-)Arbeitan Macht e<strong>in</strong>büßt. Bemühungen um e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ter- bzw. transnationale Verregelung, wie im Expansionsmodell<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> vorgeschlagen, wären deshalb s<strong>in</strong>nvoll, um durch gegensteuerndeMaßnahmen auf übergeordneter Ebene e<strong>in</strong>e (Re-)Stabilisierung des Systems zu erreichen.Doch wie <strong>der</strong> folgende Abschnitt zeigen wird, impliziert das politische Instrument <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionell-rechtlichenRegulation ebenfalls e<strong>in</strong>e Reihe Dilemmata.3.2 DAS INSTITUTIONELL-RECHTLICHE DILEMMADas Recht und das Rechts- bzw. Justizsystem (als se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionelle +Rahmung*) stellt, wiedie Analyse <strong>in</strong> Abschnitt 2.2 ergab, e<strong>in</strong>e zentrale Ressource und e<strong>in</strong> zentrales Medium fürdie <strong>Politik</strong> dar: E<strong>in</strong>erseits wird <strong>Politik</strong> im Rechtsstaat nicht nur am (Verfassungs-)Recht +gemessen*,son<strong>der</strong>n besteht – zum<strong>in</strong>dest formal – sogar primär <strong>in</strong> Rechtsetzung (Legislative) und -umsetzung(Exekutive). An<strong>der</strong>erseits eröffnet die rechtsförmige Fassung und die Übermittlung von politischenProblemen an die Judikative die Möglichkeit zur Deflexion: Der politische (d.h. <strong>der</strong> +willkürliche*,dezisionale) Charakter e<strong>in</strong>er Entscheidung wird durch den Wechsel <strong>der</strong> +Diskursart* (alsodie Übertragung e<strong>in</strong>es politischen Problems <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e rechtliche Fragestellung) +verschleiert*,um das politische System von Entscheidungsdruck o<strong>der</strong> Entscheidungsrechtfertigung zu entlasten.E<strong>in</strong> Beispiel für e<strong>in</strong>e solche politische Instrumentalisierung des Rechtssystem wurde mit <strong>der</strong>Analyse des Verfassungsgerichtsverfahrens zum Somalia-E<strong>in</strong>satz <strong>der</strong> Bundeswehr gegeben(siehe S. 111ff.).


232 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDie Übersetzung von <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> (<strong>in</strong>stitutionalisierte) Rechtsverfahren und rechtliche Regulationwirft allerd<strong>in</strong>gs auch Probleme auf. Schon die Frage, ob und wie e<strong>in</strong>e Sache rechtsförmiggeregelt werden sollte, ist schwierig zu beantworten und be<strong>in</strong>haltet potentielle +Fallstricke*.Denn genauso, wie jede unterlassene Regulation problematisch werden kann, impliziert auchjede erfolgte Regulation e<strong>in</strong> +Risiko* (ist also nicht immer erfolgreich). Dieses grundsätzlicheregulative Dilemma zeigt sich deutlich an dem <strong>in</strong> Kapitel 4 behandelten Fallbeispiel +BSE*(siehe <strong>in</strong>sb. S. 292f.). Das <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Dilemma reicht allerd<strong>in</strong>gs tiefer: Die rechtsförmigvollzogene politische Intervention endet letztendlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verrechtlichung des Gegenstands,d.h. es werden formalisierte Regeln und Verfahren angewandt o<strong>der</strong> im Zuge <strong>der</strong> politischrechtlichenProblembearbeitung (weiter)entwickelt, die vorzugsweise auf etablierten Institutionen(und Organisationen) aufbauen. Nur falls sich diese als ungenügend herausstellen, werden– um e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche Bearbeitung des Problemfelds zu sichern – neue (Rechts-)Institutionengeschaffen (Institutionalisierung). Verrechtlichungsprozesse und die mit ihnen verbundenenInstitutionalisierungsprozesse haben allerd<strong>in</strong>gs trotz <strong>der</strong> Vorteile, die sie zweifellos implizieren(Sicherheit, Berechenbarkeit <strong>der</strong> Verhältnisse, Zuweisbarkeit von Zuständigkeiten etc.), generelle<strong>in</strong>e Reihe negativer Neben- und Folgeeffekte. Und sie s<strong>in</strong>d zudem <strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchlich.In diesem Zusammenhang lassen sich drei Hauptargumente nennen: 1. das Erstarrungsargument,2. das Entfremdungsargument und 3. das Entpolitisierungsargument.Das Erstarrungsargument hat schon Georges Gurvitch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Grundzüge <strong>der</strong> Soziologiedes Rechts* (1940) treffend auf den Punkt gebracht. Dort bemerkt er:+[…] die Starrheit des Systems <strong>der</strong> Gesetzes- und Vertragssouveränität, die nur das organisierte, im vorausfixierte Recht zu Hilfe nehmen kann, beschleunigt […] se<strong>in</strong>en Ru<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem es heftige Konflikte mit demspontanen, flexiblen, von <strong>der</strong> ökonomischen Gesellschaft erzeugten Sozialrecht hervorruft.* (S. 200f.)Gurvitch hebt hier darauf ab, daß <strong>der</strong> Charakter des rechtsstaatlichen Systems aufgrund se<strong>in</strong>erimmanenten Logik +konservativ* ist, d.h. es wird vor Modifizierungen und Neuregelungen,wie auch schon oben angesprochen, zunächst immer versucht, Probleme im Rahmen bestehen<strong>der</strong>Regeln, Institutionen und Verfahren zu lösen, denn Rechtsstaatlichkeit besteht schließlichgenau <strong>in</strong> <strong>der</strong> B<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> staatlichen Gewalt an das geltende Recht, das so zu fassen ist,daß es möglichst <strong>in</strong> allen auftretenden Fällen anwendbar ist. Es hat also notwendig abstrakten,formalen Charakter und ist nicht auf den konkreten E<strong>in</strong>zelfall fixiert. Diese Formalität des


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 233Rechts macht es flexibel und starr zugleich: Es läßt sich zwar auf e<strong>in</strong>e Vielzahl von Fällenanwenden, bleibt selbst jedoch unverän<strong>der</strong>t. Problematisch wird diese zunächst vorteilhafteKont<strong>in</strong>uität <strong>der</strong> rechtlichen +Formen*, wenn sie <strong>der</strong> Dynamik von sozialen Wandlungsprozessennicht mehr gerecht wird. E<strong>in</strong>e immer detaillierte und immer weiter ausufernde Regulationist – genauso übrigens wie e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Rechtsunsicherheit und Entrechtlichung mündendeDeregulation (siehe S. 237f.) – ke<strong>in</strong>e adäquate Lösung für dieses Dilemma. Denn die durchsie bewirkte +legal explosion* (siehe S. 116f.) erzeugt nur e<strong>in</strong>e Selbstlähmung des legislativenund judikativen Systems (das, wie weiter unten noch dargestellt wird, dadurch zudem <strong>in</strong>immer größere Abhängigkeit von se<strong>in</strong>er Umwelt gerät).E<strong>in</strong>e ähnliche Problematik gilt auch für die am politisch-rechtlichen Regelungsprozeß beteiligtenInstitutionen: Ihr Netz stellt e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche Struktur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er verän<strong>der</strong>lichen Welt dar,die auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite Sicherheit verspricht, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite aber umso größere Unsicherheitproduziert, sobald Situationen entstehen, die im Rahmen dieser Institutionen nicht+gemeistert* werden können. So hat denn auch Ulrich Beck im Kontext <strong>der</strong> Diskussion umden +Mo<strong>der</strong>nisierungskonflikt*, <strong>in</strong> dem sich die fortgeschrittenen Gesellschaften aktuell bef<strong>in</strong>den,e<strong>in</strong> +<strong>in</strong>stitutional lag* diagnostiziert: Das bestehende (politische) Institutionensystem, das immernoch auf <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen +Wirklichkeit* längst überholten Modellen wie <strong>der</strong> +<strong>in</strong>dustriellenKlassengesellschaft* und <strong>der</strong> +Vater-Mutter-K<strong>in</strong>d-Kle<strong>in</strong>familie*54beruht, hält mit dem Tempodes sozialen Wandels, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Bereich <strong>der</strong> Lebenswelt, nicht Schritt und tendiertdazu, gegenüber <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>gesellschaftlichen Entwicklung zurückzufallen (vgl. Der Konflikt<strong>der</strong> zwei Mo<strong>der</strong>nen; S. 42ff.).Paradoxerweise droht diese Gefahr e<strong>in</strong>es +Zurückfallens* gerade dann, wenn Teilsystemeund ihre Institutionen beson<strong>der</strong>s erfolgreich bei <strong>der</strong> Regelung ihrer Konflikte waren bzw. s<strong>in</strong>d.Erfolg +verführt* nämlich zu e<strong>in</strong>em Festhalten an veralteten Strukturen, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Strukturkrisemanifestieren kann. Walter Bühl hat diesen Zusammenhang so ausgedrückt:+Nichts führt leichter zur (dann sehr schmerzhaft empfundenen) Krise als e<strong>in</strong> ›Wirtschaftswun<strong>der</strong>‹, nichtsgefährdet die Reaktionsfähigkeit und Umweltanpassung mehr als die Erfolgsgewißheit e<strong>in</strong>er Partei- undVerbandsführung […]* (Strukturkrise und Strukturwandel; S. 158)E<strong>in</strong>e latente Instabilität (als Folge von Wandlungsunfähigkeit) ist also die häufige Schattenseitedes +Erfolgs*. Makrostabilität setzt gerade Mikrovariabilität voraus, denn nur so bleibt die Fähigkeit


234 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdes Systems zur Selbstregulation erhalten (vgl. ebd.; S. 141f.) – o<strong>der</strong> wie ich es ausdrückenmöchte: Deflexion gel<strong>in</strong>gt nur dauerhaft, wenn reflexives Potential ernst genommen und(re)<strong>in</strong>tegriert wird. Dann droht auch ke<strong>in</strong>e Entfremdung vom System – <strong>der</strong> zweiten +Gefahr*im Kontext von Verrechtlichungs- und Institutionalisierungsprozessen.Das Problem Entfremdung steht <strong>in</strong>soweit im direkten Zusammenhang mit dem Problem <strong>der</strong>Starrheit des rechtlichen (und <strong>in</strong>stitutionellen) Formalismus, als es als se<strong>in</strong>e direkte Folge gedeutetwerden kann. So betont schon Hans Ach<strong>in</strong>ger (im Kontext <strong>der</strong> Diskussion um den wohlfahrtsstaatlichenInterventionismus), daß die juristischen Standardisierungen <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> sozialenProblemlagen nicht gerecht werden können, und stellt fest: +Das Recht entfremdet die Partnerdes sozialpolitischen Geschäfts.* (Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik; S. 88)Ach<strong>in</strong>ger nimmt damit (se<strong>in</strong> Text stammt aus dem Jahr 1971) zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Element <strong>der</strong>Verrechtlichungskritik von Habermas vorweg,55<strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs mit se<strong>in</strong>en Thesen zur +Koloniali-sierung <strong>der</strong> Lebenswelt* durch das Recht im Rahmen se<strong>in</strong>er +Theorie des kommunikativenHandelns* (1981) noch e<strong>in</strong>en Schritt weiter geht: Wie bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.2 kurz dargestellt(siehe S. 102) folgt für Habermas aus dem <strong>in</strong>terventionistischen Übergreifen des Systems aufdie Lebenswelt durch sozialstaatliche Rechtsnormen und bürokratische +Fürsorge*-Organisationene<strong>in</strong> problematischer E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die lebensweltliche +Autonomie*. Denn um bürokratisch-rechtlichbearbeitet werden zu können, müssen <strong>in</strong> konkrete Lebensgeschichten und Lebensformene<strong>in</strong>gebettete Situationen e<strong>in</strong>er +gewalttätigen Abstraktion* unterworfen werden, womit häufigdas genaue das Gegenteil <strong>der</strong> durch die Intervention erhofften sozialen Integration erreichtwird (vgl. Band 2, S. 532ff.) – zumal <strong>der</strong> soziale Rechtsstaat zusätzlich durch e<strong>in</strong> weiteresDilemma geprägt ist:+Bei allen gesetzlichen Lösungen im e<strong>in</strong>zelnen zeigt sich nämlich sofort, daß <strong>der</strong> soziale Rechtsstaat nichtnur jeweils <strong>in</strong> sich unlösbare und ihn daher überfor<strong>der</strong>nde Aufgaben übernommen hat, son<strong>der</strong>n daßsich se<strong>in</strong>e Anstrengungen zusätzlich dadurch paralysieren, daß e<strong>in</strong> Fortschritt <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Richtung durche<strong>in</strong>en Rückschritt <strong>in</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Richtung erkauft wird. Die Mittel, die er benötigt, um se<strong>in</strong>er sozialenGarantenstellung gerecht zu werden, kann er sich meist nicht verschaffen, ohne daß Kollisionen mit an<strong>der</strong>enGrundrechten (Eigentum, Gleichbehandlung usw.) auftreten […] Der Klassengegensatz ist also nicht gelöst,son<strong>der</strong>n verewigt sich <strong>in</strong> fortlaufen<strong>der</strong> Verrechtlichung.* (Bock: Recht ohne Mass; S. 231f.).Die Lebenswelt steht folglich unter e<strong>in</strong>em dauernden und zunehmenden <strong>in</strong>stitutionell-rechtlichen+Anpassungsdruck*, auf den zuweilen +unwillig* reagiert wird. Die sich <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchen


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 235und Zielkonflikten manifestierenden Steuerungsimperative bedrohen so die System<strong>in</strong>tegrationund die Sozial<strong>in</strong>tegration; es kommt zu Legitimitätsproblemen, die sich irgendwann zu e<strong>in</strong>erLegitimitätskrise verdichten können (vgl. Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus;S. 96ff.). Aber selbst bürokratie<strong>in</strong>tern wird Verrechtlichung zuweilen als problematischer Prozeß<strong>in</strong>terpretiert. Schon 1978 beklagte <strong>der</strong> damalige Oberregierungsrat Hans-Dietrich Weiß <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Aufsatz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift +Die öffentliche Verwaltung*:+Durch die Verrechtlichung des menschlichen Lebens erhält das Recht e<strong>in</strong>e Überfunktion, die das Rechtdem Menschen fe<strong>in</strong>dlich werden läßt […] So ist <strong>der</strong> Gesetzgeber aufgerufen, dem überquellenden Rechtim Interesse des Menschen und <strong>der</strong> mit diesem Recht judizierenden Rechtsprechung E<strong>in</strong>halt zu gebieten.*(Verrechtlichung als Selbstgefährdung des Rechts; S. 601)Damit ist <strong>in</strong>direkt <strong>der</strong> dritte (negative) Neben- und Folgeeffekt von Verrechtlichungs- undInstitutionalisierungsprozessen angesprochen: die Entpolitisierung. Das Problem <strong>der</strong> Entpolitisierungwurde ebenfalls bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.2 kurz thematisiert, und zwar dort primär imZusammenhang mit <strong>der</strong> Diskussion des Recht als Deflexionsressource (siehe z.B. S. 115). 56Doch auch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Aspekt klang schon an (siehe S. 118f.): Durch die im Zuge <strong>der</strong> Gesetzesdurchführungerfolgende Übertragung von weitreichenden Kompetenzen auf die staatlichenInstitutionen und bürokratischen Organisationen erfolgt e<strong>in</strong>e relative Schwächung <strong>der</strong> eigentlichenpolitischen Organe (vgl. auch Böhret: Öffentliche Verwaltung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Demokratie). Denn dieBürokratie erarbeitet nicht nur nach Maßgabe <strong>der</strong> (politischen) Exekutivspitze die Rechtsvorschriften(die dann von <strong>der</strong> Legislative +abgesegnet* werden), son<strong>der</strong>n übt zudem (zusammenmit <strong>der</strong> Judikative) e<strong>in</strong>e +Interpretationsherrschaft* aus (vgl. hierzu auch Hegenbarth: Von<strong>der</strong> legislatorischen Programmierung zur Selbststeuerung <strong>der</strong> Verwaltung; S. 134ff.).Es handelt sich bei dieser als +Subsystem* immer autonomer handelnden Bürokratie folglichum e<strong>in</strong> politisch +entbettetes* Umsetzungssystem, und deshalb gilt (so paradox es kl<strong>in</strong>genmag): Verrechtlichung kann auch als Entrechtlichungsprozeß aufgefaßt werden (d.h. als e<strong>in</strong>eschleichende Unterhöhlung des Rechtsstaats). Hierfür ist, wenn man Ingeborg Maus folgt,<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Vordr<strong>in</strong>gen von unbestimmten Generalklauseln (also wie<strong>der</strong>um Formalisierung)verantwortlich, was +die Koord<strong>in</strong>ations- und Entscheidungstätigkeit automatisch [von den rechtsetzenden]<strong>in</strong> die rechtsanwenden und vollziehenden Instanzen* verlagert (Verrechtlichung,Entrechtlichung und <strong>der</strong> Funktionswandel von Institutionen; S. 282).


236 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEWas hier – aus kritischer Perspektive – allerd<strong>in</strong>gs als e<strong>in</strong>e fragwürdige, <strong>in</strong> Entpolitisierungmündende Erweiterung und Überdehnung <strong>der</strong> Kompetenzen des +bürokratischen Subsystems*<strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> ersche<strong>in</strong>t, trifft – wenn man genau h<strong>in</strong>sieht – nur bed<strong>in</strong>gt zu. Denngerade durch die im Zuge von Verrechtlichungsprozessen erfolgende Ausdehnung <strong>der</strong> Handlungsräumedes <strong>in</strong>stitutionell-rechtlichen Systems erfolgt <strong>in</strong>direkt e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung se<strong>in</strong>ereigenen Handlungsspielräume:+Je mehr Bereiche <strong>in</strong> wachsen<strong>der</strong> Detaillierung Gegenstand <strong>der</strong> staatlichen Adm<strong>in</strong>istration s<strong>in</strong>d, destohäufiger und <strong>in</strong>tensiver wird das politisch-adm<strong>in</strong>istrative System zum Handeln und E<strong>in</strong>greifen gezwungen,desto mehr For<strong>der</strong>ungen werden an es herangetragen, desto mehr wird es bloß reaktiv handeln können[…], wobei die Situation diktiert, was zu tun ist.* (Türk: Handlungsräume und Handlungsspielräume rechtsvollziehen<strong>der</strong>Organisationen; S. 166f.)Ausgerechnet die durch Verrechtlichung gesteigerte Autonomie von Rechtssystem und Bürokratieführt also – da sich ihre formal verselbständigte Logik real sehr wohl <strong>in</strong> Beziehung zur <strong>Politik</strong>und zur lebensweltlichen Wirklichkeit setzen muß – zu e<strong>in</strong>er steigenden Umweltabhängigkeit,weshalb Gunther Teubner von e<strong>in</strong>em +Trilemma* <strong>der</strong> Verrechtlichung spricht:• Erstens entsteht aufgrund <strong>der</strong> Inkompatibilität <strong>der</strong> unterschiedlichen Semantiken e<strong>in</strong>e wechselseitigeIndifferenz: So s<strong>in</strong>d etwa politische Kompromisse, die schließlich Gesetzesformannehmen, oft nicht mehr juristisch nachzuvollziehen und justitiabel. Die Folge ist danne<strong>in</strong>e wachsende Indifferenz des Rechtssystems gegenüber <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Doch selbst wenndie Umsetzung von politischen Aushandlungsprozessen <strong>in</strong> Recht +geglückt* ist, so könnensich immer noch die geregelten Lebensbereiche, die e<strong>in</strong> nicht zu unterschätzendes Wi<strong>der</strong>standspotentialbesitzen, gegen die erlassenen Regelungen sperren, so daß das betreffendeGesetz zu e<strong>in</strong>em bloßen +Papiertiger* gerät.• Zweitens droht soziale Des<strong>in</strong>tegration durch die schon oben angesprochenen Verechtlichungsfolgeeffekte<strong>der</strong> Entfremdung und <strong>der</strong> Entpolitisierung.• Drittens ist im Zuge <strong>der</strong> Ausweitung des Rechtssystems auch e<strong>in</strong>e rechtliche Des<strong>in</strong>tegrationzu befürchten: Indem sich das Recht an die Logik se<strong>in</strong>er Umwelt (also sowohl <strong>der</strong> Logik<strong>der</strong> politischen Steuerung als auch <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> regulierten Sozialbereiche) anpaßt, kommtes zu (negativen) Rückwirkungen auf die <strong>in</strong>nere Struktur des Rechtssystems: Se<strong>in</strong>e selbstreproduktiveOrganisation wird gefährdet. (Vgl. Verrechtlichung; S. 317–323)


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 237Dieses von Teubner anhand e<strong>in</strong>er Reihe von Beispielen herausgearbeitete +Trilemma* verweistauf die Grenzen <strong>der</strong> (zentralisierten) politischen Steuerung durch das Recht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er hochgradigkomplexen Welt. Deshalb wird von Rüdiger Voigt (vgl. auch Grenzen des Rechts; S. 3f.) alsAusweg aus dieser im doppelten S<strong>in</strong>n des Wortes +verfahrenen* Situation e<strong>in</strong>e +reflexive*Entregelung und Dezentralisierung vorgeschlagen, d.h. es wird auf die Lernfähigkeit e<strong>in</strong>esbürokratisch +entflochtenen* Systems gebaut, das sich flexibel an die sich wandelnden Bedürfnisseanpaßt und sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em diskursiven Prozeß ständig selbst h<strong>in</strong>terfragt (vgl. <strong>der</strong>s.: Steuerungdurch Anpassung?) – was allerd<strong>in</strong>gs z.B. für die Bürokratie wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Dilemma zwischenRegeltreue und Bürgernähe führen kann (vgl. ebd.; S. 53). Zudem ist es mehr als zweifelhaft,ob das organisationelle Institutionensystem aufgrund se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tern herausgebildeten Kultur(die schließlich an technokratischer Rationalität und den Maßstäben rechtlicher Formalitätorientiert ist) überhaupt zu e<strong>in</strong>em solchen Wandel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage wäre.Der Vorschlag e<strong>in</strong>er +polyzentrischen* Steuerung (vgl. auch Brohm: Polyzentrische Steuerungdurch das Recht) ist also se<strong>in</strong>erseits nicht unproblematisch und wi<strong>der</strong>spruchsfrei. Dies giltumso mehr, wenn man ihn im Kontext <strong>der</strong> +Privatisierung* betrachtet. Privatisierung bedeutet,daß bestimmte öffentliche Aufgaben (Fernmeldewesen, Bahn, Polizei etc.) nicht mehr (ausschließlich)von staatlichen Institutionen erfüllt, son<strong>der</strong>n (ganz o<strong>der</strong> teilweise) privaten Organisationenund Firmen übertragen werden. Das soll freilich nicht nur bürokratische Verkrustungenaufbrechen, son<strong>der</strong>n vor allem E<strong>in</strong>sparungen (durch angenommene Effizenzsteigerungen <strong>in</strong>folgedes ausgelösten Wettbewerbs) ermöglichen. Diese +Liberalisierungsideologie* läßt sich auchan den (1993) auf e<strong>in</strong>em Symposium zum Thema gemachten Äußerungen des parlamentarischenStaatssekretärs Joachim Grünewald ablesen:+Wir brauchen e<strong>in</strong>en Abschied von <strong>der</strong> Vollkasko-Mentalität, das heißt von e<strong>in</strong>em ausufernden Anspruchsdenken.Dies ist – auch politisch – unstrittig. Wir müssen auch Abschied nehmen von <strong>der</strong> Omnipotenzstaatlicher Regulierungsfähigkeit. Weniger staatliche Regelungen, Vorschriften und Betätigungen s<strong>in</strong>d dasGebot <strong>der</strong> Stunde.* (Privatisierung öffentlicher Aufgaben; S. 15)Aus <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht, daß die staatliche Regelungsfähigkeit – mit <strong>der</strong> zunehmenden Komplexität(post)mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften – an ihre Grenzen stößt, wird hier, <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong> +ausuferndesAnspruchsdenken* gebrandmarkt wird, e<strong>in</strong>e me<strong>in</strong>es Erachtens fragwürdige Schlußfolgerunggezogen: daß weniger staatliche Regelungen automatisch auch e<strong>in</strong>e Beschneidung von +ma-


238 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEteriellen* Rechten heißen muß/sollte. In dieser Formulierung zielt Deregulierung (die aktuellnoch eher +utopischen* Charakter hat) nicht auf die Vergrößerung von Autonomiefreiräumen(siehe das Modell von Voruba unten), son<strong>der</strong>n bedeutet primär die Aushöhlung und S<strong>in</strong>nentleerungdes (sozialen) Rechtsstaats. Indem nämlich e<strong>in</strong>e sozial bl<strong>in</strong>de Deregulierung denRechtsstaat nicht nur entformalisiert son<strong>der</strong>n auch +entmaterialisiert*, erfolgt e<strong>in</strong>e Entrecht-(lich)ung, die zwar die wohlfahrtsstaatliche Kolonialisierung <strong>der</strong> Lebenswelt zurückschraubt,letzterer aber gleichzeitig die materiellen Ressourcen zu ihrer Entfaltung entzieht, was eventuellzu e<strong>in</strong>em noch drastischeren Legitimitätsentzug als im ersten Fall führt: E<strong>in</strong> Staat, <strong>der</strong> (zunächst)<strong>in</strong> die <strong>in</strong>dividuelle Lebenssphäre regulierend e<strong>in</strong>greift, als Ausgleich für diese (störende) Interventionaber zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> gewisses Maß an materieller Sicherheit gewährt, sich dann aberauf beiden Ebenen zurückzieht, ersche<strong>in</strong>t zwar nicht mehr als +Kolonisator*, son<strong>der</strong>n machtsich <strong>in</strong> den Augen <strong>der</strong> von diesem doppelten Rückzug Betroffenen gänzlich überflüssig. DiePraxis e<strong>in</strong>er <strong>der</strong>artigen Deregulierung vernichtet also gleichzeitig die Freiheitsspielräume undChancen, die sie eröffnet, und potenziert damit die soziale Frustration.Bei e<strong>in</strong>em vollkommen an<strong>der</strong>en Verständnis von Deregulierung setzt Georg Voruba an. Zunächstwendet er sich gegen die Verrechtlichungskritik von Ach<strong>in</strong>ger bis Habermas und betont: +Verrechtlichungim System sozialer Sicherung bedeutet die Möglichkeit des Rückgriffs auf sozialeDienst- und Geldleistungen <strong>in</strong> voraussehbarer Qualität und Höhe* (Autonomiegew<strong>in</strong>ne; S.172). Die auch se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung nach aktuell stattf<strong>in</strong>denden Entrechtlichungsprozesseunterm<strong>in</strong>ieren diese Erwartungssicherheit (vgl. ebd.; S. 172ff.). Entrechtlichung und Deregulierungs<strong>in</strong>d aber für ihn nicht gleichbedeutend, son<strong>der</strong>n Deregulierung und Verrechtlichung erweiternvielmehr auf je unterschiedliche Art die <strong>in</strong>dividuellen Handlungsspielräume – Verrechtlichung<strong>in</strong>dem sie, wie im Zitat betont, Erwartungssicherheit herstellt, und Deregulierung, <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong>schränkendeRegulationen zurückgenommen werden. So kommt Voruba zu dem Resümee:+Entscheidend ist: Verrechtlichung und Deregulierung konvergieren <strong>in</strong> Autonomiegew<strong>in</strong>nen für <strong>in</strong>dividuellesHandeln. Allerd<strong>in</strong>gs wirken sie auf unterschiedliche Voraussetzungen von Handlungsfreiheit. Verrechtlichungvermehrt <strong>in</strong>dividuell nutzbare Handlungsressourcen, Deregulierung eröffnet Handlungsfel<strong>der</strong>.* (Ebd.; S.175)In diesem S<strong>in</strong>n verstanden wären Verrechtlichung und Deregulierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat begrüßenswerteEntwicklungen. Lei<strong>der</strong> besteht im Augenblick me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung nach aber e<strong>in</strong>e exakt gegen-


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 239läufige Dialektik. Sie manifestiert sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er immer weiter voranschreitenden Normierung<strong>der</strong> meisten Lebensbereiche durch immer mehr und immer detailliertere Gesetze und Verordnungensowohl auf nationaler Ebene (siehe S. 116f.) wie auch auf transnationaler Ebene (wassich am Beispiel des ausufernden europäischen Geme<strong>in</strong>schaftsrechts zeigen läßt), währendes gleichzeitig bei den sozialen Sicherungssystemen zu e<strong>in</strong>er +Liberalisierung* (im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>erEntrechtlichung) kommt. Gerade auch <strong>in</strong> vielen +fortgeschrittenen* Gesellschaften hat es, aufgrunddes sich zuspitzenden ökonomischen Dilemmas des nationalen Wohlfahrtsstaates (siehe nochmalsAbschnitt 3.1), drastische E<strong>in</strong>schnitte <strong>in</strong>s soziale Netz gegeben: Die Unterstützungsleistungenfür die immer zahlreicheren Arbeitslosen werden gekürzt, Beihilfen für Bedürftige werdenauf e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum reduziert, sogar im öffentlichen Gesundheitswesen wird am Notwendigengespart, um nur e<strong>in</strong>ige Punkte zu nennen. Damit werden die (post)<strong>in</strong>dustriegesellschaftlichenDase<strong>in</strong>srisiken zunehmend +<strong>in</strong>dividualisiert*. Anrechte, die die Individuen +materiell* e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>denund damit e<strong>in</strong>e zentrale +Ligatur* darstellen, entfallen, und so könnten <strong>in</strong> Zukunft verstärktanomische Ersche<strong>in</strong>ungen auftreten.57Wenn es, wie bisher, nur zu e<strong>in</strong>er Entfremdung zwischen<strong>Politik</strong> und Lebenswelt kommt, so kann dies als e<strong>in</strong>e noch relativ harmlose Konsequenz vonVerrechtlichung und verrechtlichter Deregulierung (denn auch Deregulierung erfolgt schließlichzunächst <strong>in</strong> Form von Deregulierungs-Gesetzen) angesehen werden.Aus den hier dargestellten Wi<strong>der</strong>sprüchen <strong>der</strong> Verrechtlichung (die <strong>in</strong> Abschnitt 4.2 am Fallbeispiel+BSE* konkret gemacht werden sollen) folgt also, daß politische Deflexion durchRecht nur bed<strong>in</strong>gt erfolgversprechend ist. Denn durch Verrechtlichung selbst wird e<strong>in</strong> Prozeß<strong>der</strong> reflexiven H<strong>in</strong>terfragung von Rechtsnormen und den politischen Rechtsetzungs<strong>in</strong>stanzenausgelöst. Auch Deregulierung (wenn sie sich als Entrechtlichung manifestiert) stellt hier ke<strong>in</strong>enAusweg dar. E<strong>in</strong>e ähnliche Problematik gilt für die nachfolgend behandelten DeflexionsressourcenTechnik und Wissenschaft.3.3 DAS TECHNOLOGISCH-WISSENSCHAFTLICHE DILEMMA58Mart<strong>in</strong> Heidegger hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Die Technik und die Kehre* die Technik (o<strong>der</strong> vielmehrihr +Wesen*, um das es ihm primär geht) als +Gestell* charakterisiert. Was me<strong>in</strong>t er mit diesernur auf den ersten Blick unmittelbar e<strong>in</strong>leuchtenden Bezeichnung? – Heidegger schließt <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er Betrachtung zunächst an die beiden von ihm identifizierten konventionellen Def<strong>in</strong>ition


240 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEan, die Technik e<strong>in</strong>erseits als e<strong>in</strong> Mittel für Zwecke (+<strong>in</strong>strumentale Bestimmung*) und an<strong>der</strong>erseitsals e<strong>in</strong> Tun des Menschen (+anthropologische Bestimmung*) begreifen. Als solches istaber Technik immer e<strong>in</strong> Hervorbr<strong>in</strong>gen, und im Hervorbr<strong>in</strong>gen auch e<strong>in</strong> Entbergen – auf e<strong>in</strong>ersehr konkreten Ebene zum Beispiel von im Schoß <strong>der</strong> Erde verborgenen Bodenschätzen wieKohle. Für Heidegger geschieht durch dieses ganz allgeme<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Technik bewirkte Sichtbarmachendes Verborgenen jedoch zugleich e<strong>in</strong> +tiefer* wirkendes Entbergen, e<strong>in</strong> Entbergen<strong>der</strong> +Wahrheit* des Se<strong>in</strong>s, also von Wirklichkeit. Mit <strong>der</strong> Anwendung <strong>der</strong> Technik stellt sichdem Menschen diese durch die Technik entborgene Wahrheit <strong>in</strong> den Weg und for<strong>der</strong>t ihndamit gleichsam heraus. Genau diese Herausfor<strong>der</strong>ung, <strong>der</strong> man sich nicht entziehen kann,macht nun den ihr wesenhaften Gestell-Charakter <strong>der</strong> Technik aus. In <strong>der</strong> für ihn typischen,so gar nicht technischen (also entbergenden), son<strong>der</strong>n den S<strong>in</strong>n eher verschleiernden Diktionformuliert Heidegger:+Wir nennen jetzt jenen herausfor<strong>der</strong>nden Anspruch, <strong>der</strong> den Menschen dah<strong>in</strong> versammelt, das Sichentbergendeals Bestand zu bestellen – das Ge-stell […]* (Ebd.; S. 19)Und an an<strong>der</strong>er +Stelle* heißt es:+Ge-stell heißt das Versammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d.h. herausfor<strong>der</strong>t, das Wirkliche<strong>in</strong> <strong>der</strong> Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen. Ge-stell heißt die Weise des Entbergens, die imWesen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Technik waltet und selber nichts Technisches ist.* (Ebd.; S. 20)Zweifellos entfaltet Heidegger, <strong>in</strong>soweit se<strong>in</strong>e Botschaft entschlüsselbar ist, hier e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante(technik-)philosophische Denkfigur. Ich möchte mir jedoch se<strong>in</strong>e Metapher genau im vonihm nicht geme<strong>in</strong>ten, +banalen* S<strong>in</strong>n zu eigen machen, um so e<strong>in</strong>en wichtigen Aspekt destechnologisch-wissenschaftlichen Dilemmas zu verdeutlichen, das im Zentrum dieses Abschnittsstehen wird. Betrachten wir dazu, ganz <strong>in</strong> marxistischer Tradition, die Technik als e<strong>in</strong> tatsächlichesGestell, als +e<strong>in</strong> Gestänge und Geschiebe und Gerüst* (ebd.), d.h. schlicht: diematerielle Manifestation menschlichen Wissens. Denn viel eher <strong>in</strong> dieser Materialität, denn<strong>in</strong>dem ihr hervorbr<strong>in</strong>gendes Wesen +Wahrheit* zu entbergen vermöchte, stellt sie me<strong>in</strong>erMe<strong>in</strong>ung nach e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung für das Se<strong>in</strong> des Menschen dar. Ihre D<strong>in</strong>glichkeit, dasSperrige des Gegenstandes, zw<strong>in</strong>gt – wie auch <strong>in</strong> Anlehnung an Latour formuliert werdenkann (siehe S. 132) – zur Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit ihm.


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 241Überall s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> unserer technisierten und +zivilisierten* Welt menschliche Artefakte anzutreffen,sie +bevölkern* selbst die kümmerlichen Reste <strong>der</strong> +natürlichen* Landschaften, s<strong>in</strong>d sozusagen<strong>in</strong> diese h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gestellt, und formieren darüber h<strong>in</strong>aus ihrerseits technische Landschaften, dieganz aus solchen Artefakten zusammengefügt s<strong>in</strong>d (siehe auch nochmals Übersicht 3, Abschnitt2.3). Ernst Bloch bemerkt dazu sehr aufschlußreich (vor allem, was den Schlußteil se<strong>in</strong>erSentenz anbelangt):+Das Leben ist […] mit e<strong>in</strong>em Gürtel künstlicher, vorher nicht dagewesener Geschöpfe umgeben. Mitihnen wird das menschliche Haus ungeheuer erweitert, es wird immer bequemer und [gleichzeitig]abenteuerlicher.* (Das Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung; Band 2, S. 731)Technik steht also <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt, daß man sich auf das +Abenteuer Technik*zwangsläufig e<strong>in</strong>lassen muß, daß man sich ihr we<strong>der</strong> entziehen, noch sie übersehen kann.Autos, Hochhäuser, Schornste<strong>in</strong>e, Kräne, Strommasten: Sie verstellen im wahrsten S<strong>in</strong>n desWortes den freien Blick. Der Horizont ist, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> technischen Landschaft <strong>der</strong>Stadt, e<strong>in</strong>geschränkt. Der Wan<strong>der</strong>er <strong>in</strong> den Straßenschluchten Manhattans sieht den Himmelnur stückchenweise – und schirmt sich so möglicherweise auch von <strong>der</strong> Transzendenz ab:jener kritischen Transzendenz, die das Bestehende h<strong>in</strong>terfragt. Alle<strong>in</strong>e also, <strong>in</strong>dem Technikexistiert, schränkt sie den Raum <strong>der</strong> Reflexion e<strong>in</strong>, reduziert sie die vielfältigen Möglichkeitenvon Vernunft auf die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technik manifestierte <strong>in</strong>strumentelle Vernunft. Dieses Argumentf<strong>in</strong>det sich auch bei André Gorz, <strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>er Kritik ökonomischer Zweckrationalität wie<strong>der</strong>uman Gedanken <strong>der</strong> Kritischen Theorie (siehe S. 122ff.) anschließt:+Das Übergewicht <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft ist im Funktionalismus unserer täglichen Gebrauchsgegenstände[…] e<strong>in</strong>geschrieben […] Alles läuft darauf h<strong>in</strong>aus und alles regt dazu an, die Lebens-Umwelt<strong>in</strong>strumentell zu behandeln, die Natur zu vergewaltigen und unseren Körpern wie denen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>enGewalt anzutun.* (Kritik <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft; S. 130)Das Allgegenwärtige (und bereits dar<strong>in</strong> Gewalttätige, weil Ausschließende) <strong>der</strong> Technik besetztalso, genau durch ihre ausschließende Allgegenwart, den Horizont des Denkens, und die<strong>in</strong>strumentell-technische, letztlich für Gorz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ganze +Gewalt-Kultur* mündende Gewaltver<strong>in</strong>nerlicht sich uns vollständig <strong>in</strong> <strong>der</strong> täglichen Anwendung von Technik, d.h. diese wirktim hier def<strong>in</strong>ierten S<strong>in</strong>n praxologisch (siehe S. 104 sowie Abschnitt 5.3.2): Indem sie bereit


242 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEsteht, uns zu dienen, und <strong>in</strong>dem wir sie benutzen, macht Technik sich nicht nur unentbehrlich,son<strong>der</strong>n tilgt die Möglichkeit, daß wir uns e<strong>in</strong>e Welt ohne ihre Präsenz vorstellen können– selbst wenn wir sie <strong>in</strong>sgeheim verfluchen mögen. Nur so ist jener +<strong>in</strong>dustrielle Fatalismus*(Beck) zu erklären, <strong>der</strong> dazu führt, daß wir Technik zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad als +Schicksal*begreifen (müssen) und ihre Zumutungen (die Zeitabsorption durch die nicht immer unterhaltendeUnterhaltungselektronik, die Abgasemission durch Kraftfahrzeuge, das Leben mit demRisiko des +Supergaus* etc.) <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel ohne größeres Aufbegehren ertragen.Doch ke<strong>in</strong>e Regel ohne Ausnahmen: Mit <strong>der</strong> Technisierung kam auch die Technik-Kritik aufden Plan, die freilich durch die materiale und +seiende* Gewalt <strong>der</strong> Technik sowie die diskursiveHegemonie des Fortschrittsdenkens lange Zeit nur e<strong>in</strong>e schwache Stimme hatte. Allerd<strong>in</strong>gskönnte die Ausnahme, wenn man sich (mit Ulrich Beck) +optimistisch* gibt, sogar zur Regelwerden – dann nämlich, wenn das implizite Risikopotential je<strong>der</strong> Technologie gerade durchden weiteren ungebremsten wissenschaftlich-technischen Fortschritt immer offener zutagegeför<strong>der</strong>t (d.h. ganz im von Heidegger geme<strong>in</strong>ten S<strong>in</strong>n +entborgen*) wird und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folgereflexive Reflexe im +System des Fortschritts* selbst wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen Umwelt stattf<strong>in</strong>den,die zu e<strong>in</strong>em Umdenken und zu e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>terfragung des +Mythos <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>e* (Mumford) 59führen (siehe auch Abschnitt 2.3, S. 137f.). So könnte endlich e<strong>in</strong>e Vermittlung zwischenMensch, Natur und Technik möglich werden (vgl. Bloch: Das Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung; Band 2, S.817 und siehe auch hier S. 141). Die sich <strong>in</strong>stitutionalisierende, <strong>in</strong>sgesamt allerd<strong>in</strong>gs durchausambivalent zu betrachtende Ökologiebewegung (siehe S. 139f.) ist nur e<strong>in</strong>e von vielen Manifestationen<strong>der</strong> sich hier (vielleicht) abzeichnenden +reflexiven Kehre*.In diesem Zusammenhang möchte ich noch e<strong>in</strong>mal auf Heidegger und se<strong>in</strong> Konzept <strong>der</strong>+Kehre* zurückkommen. Auch für ihn hat Technik – jedoch aus e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en, als demoben genannten Grund – etwas +(ge)schicksalhaftes*:+Das Wesen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Technik br<strong>in</strong>gt den Menschen auf den Weg jenes Entbergens, wodurch dasWirkliche überall, mehr o<strong>der</strong> weniger vernehmlich, zum Bestand wird. Auf den Weg br<strong>in</strong>gen – dies heißt<strong>in</strong> unserer [!] Sprache: schicken. Wir nennen jenes versammelnde Schicken, das den Menschen erst aufe<strong>in</strong>en Weg des Entbergens br<strong>in</strong>gt, das Geschick […] Wenn wir […] das Wesen <strong>der</strong> Technik bedenken,dann erfahren wir das Ge-stell als e<strong>in</strong> Geschick <strong>der</strong> Entbergung.* (Die Technik und die Kehre; S. 24f.)Technik wirkt also für Heidegger durch ihre (entfaltete) Dynamik, durch ihre <strong>in</strong>nere Antriebskraftals e<strong>in</strong> +Geschick* für den Menschen. Und <strong>in</strong> diesem Geschickhaften, <strong>in</strong> ihrem wesenhaften


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 243Wirken, nicht aber <strong>in</strong> ihr selbst, d.h. ihrer D<strong>in</strong>ghaftigkeit, liegt nach Heidegger das Gefahrenpotential<strong>der</strong> Technik:+Das Gefährliche ist nicht die Technik. Es gibt ke<strong>in</strong>e Dämonie <strong>der</strong> Technik, wohl dagegen das Geheimnisihres Wesens. Das Wesen <strong>der</strong> Technik ist als e<strong>in</strong> Geschick des Entbergens die Gefahr.* (Ebd.; S. 27f.)Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technik implizite und durch sie hervorgebrachte Gefahr aber, <strong>in</strong> die wir – <strong>in</strong> existentialistischerTerm<strong>in</strong>ologie ausgedrückt – +geworfen* s<strong>in</strong>d, leitet nun <strong>in</strong>direkt e<strong>in</strong>e +Kehre* e<strong>in</strong>,die ke<strong>in</strong>e Umkehr bedeutet, son<strong>der</strong>n im Gegenteil e<strong>in</strong>e Öffnung für das gefährdende Wesen<strong>der</strong> Technik, welche somit gleichzeitig e<strong>in</strong> rettendes Potential (ver)birgt. Heidegger beruftsich <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch auf Höl<strong>der</strong>l<strong>in</strong>: +Wo aber die Gefahr ist, wächst das Rettendeauch* (ebd.; S. 28), so zitiert er den von ihm so geschätzten Dichter. Trifft dies zu, +dannmuß […] gerade das Wesen <strong>der</strong> Technik [als geschickhafte und stellende Gefahr] das Wachstumdes Rettenden <strong>in</strong> sich bergen* (ebd.), und umgekehrt gilt: +Die Gefahr ist das Rettende, <strong>in</strong>sofernsie aus ihrem verborgen kehrigen Wesen das Rettende birgt.* (Ebd.; S. 41) Das ist e<strong>in</strong> Argument,das (zwar nur entfernt, aber doch <strong>in</strong> +bezeichnen<strong>der</strong>* Weise) an die oben nochmals kurzskizzierte Reflexivitäts-These Becks er<strong>in</strong>nert: Untergründig erzeugt das Bedrohende (<strong>der</strong>+Nebenfolgen* des technischen Fortschritts), <strong>in</strong>dem es als Bedrohung bewußt wird, e<strong>in</strong>eMöglichkeit zur Aufhebung <strong>der</strong> Bedrohung. Diese (im Konzept Becks allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>eswegsgewisse) Hoffnung auf e<strong>in</strong>e reflexive Umkehr(ung) <strong>der</strong> Verhältnisse, auf e<strong>in</strong>e +positive* Wende,ist me<strong>in</strong>er Ansicht nach allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong>soweit problematisch, als sie tendenziell übersieht, daßim +Rettenden* möglicherweise e<strong>in</strong>e ebenso große Gefahr liegt wie im Gefährdenden selbst,man also formulieren könnte: Das Rettende ist (auch) Gefahr.Die mögliche +Rettung* hat zwei Gesichter: technologische Deflexion (siehe auch nochmalsS. 138) und e<strong>in</strong>e reflexive Transformation des Systems durch subpolitischen Protest. Das Dilemma<strong>der</strong> technologischen Deflexion besteht nun dar<strong>in</strong>, daß re<strong>in</strong> deflexive Technologien, die diereflexiven Protestpotentiale nur durch technologische Innovation ablenken, selbst aber <strong>in</strong><strong>der</strong> alten +Techno-Logik* verbleiben, (wie jede Technologie) immer auch potentiell risikobehaftets<strong>in</strong>d. So könnte es sich beispielsweise nach e<strong>in</strong>er gewissen Zeit herausstellen, daß die heuteverwendeten Ersatzstoffe für FCKWs genauso (o<strong>der</strong> <strong>in</strong> nich höherem Maße) +klimaschädlich*s<strong>in</strong>d als die ursprünglich verwendeten Substanzen. Hier wirkt das +prometheische Gefälle*zwischen dem Menschen und <strong>der</strong> von ihm +freigesetzten* Technik: Denn die +Starrheit* unseres


244 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEphysischen, aber auch unseres kognitiven Apparates führt dazu, daß wir uns die möglichenEffekte unserer Artefakte nicht e<strong>in</strong>mal mehr vorstellen können, weshalb Günther An<strong>der</strong>s vone<strong>in</strong>er +Antiquiertheit des Menschen* (1980) gesprochen hat. 60Das Dilemma des reflexiven Protests auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite besteht dar<strong>in</strong>, daß eventuell gerade<strong>der</strong> Protest – durch die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Folge ergriffenen deflexiven Maßnahmen gegen die erkanntenBedrohungen (sofern sie tatsächlich +effektiv* s<strong>in</strong>d) – das <strong>in</strong>s Schwanken geratene wissenschaftlich-technischeSystem (und das mit ihm verknüpfte <strong>in</strong>dustrielle System) <strong>der</strong>art stabilisiert,daß se<strong>in</strong> Zusammenbruch so lange h<strong>in</strong>ausgezögert wird, bis die Katastrophe total und unaufhaltsamist. Bernd Blanke scheut sich aus se<strong>in</strong>er funktionalistisch bee<strong>in</strong>flußten Perspektive nicht,die Risikobewältigung durch Risikosteigerung gar als Entwicklungsgesetz sozialer Systeme zupostulieren (vgl. Zur Aktualität des Risikobegriffs; S. 282ff.). Denn mo<strong>der</strong>ne Gesellschaftens<strong>in</strong>d risikobehaftet, weil sie def<strong>in</strong>itionsgemäß komplex s<strong>in</strong>d, so daß sich (die Möglichkeit <strong>der</strong>Katastrophe be<strong>in</strong>haltende) Risiken niemals ausschließen lassen. +Die Bewältigung dieser Gefahr*,so Blanke, +kann wie<strong>der</strong>um nur von e<strong>in</strong>em erneuten gewaltigen Schub an Komplexitätssteigerungerwartet werden. Die Risiken <strong>der</strong> Zivilisation werden dadurch aber, so ist zu vermuten, ke<strong>in</strong>eswegsger<strong>in</strong>ger. Denn Risikosteigerung ist <strong>der</strong> Preis, <strong>der</strong> für die Bestandserhaltung auf immerkomplexerem Niveau bezahlt werden muß.* (Ebd.; S. 285) Die <strong>Politik</strong> ist deshalb dazu +verdammt*,e<strong>in</strong> technologisches +risk tak<strong>in</strong>g* e<strong>in</strong>zugehen, wenn sie ihre (konservative) Aufgabe<strong>der</strong> +Bestandserhaltung* erfolgreich wahrnehmen will (die ihr faktisch zukommt).Doch wie zwangsläufig ist e<strong>in</strong>e solche +reflexiv-deflexive Risikospirale* tatsächlich, und stößtdie (technologische) Komplexitätssteigerung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft nicht auch an +materielle*Limitierungen? Dies ist zum<strong>in</strong>dest die These, die im +Bericht zur Lage <strong>der</strong> Menschheit* des+Club of Rome* dargelegt wurde. Als jener (e<strong>in</strong> sehr negatives Bild zeichnende) Report 1972unter dem Titel +Die Grenzen des Wachstums* veröffentlicht wurde, löste er e<strong>in</strong>e breite Diskussionaus. Dennis Meadows und se<strong>in</strong>e Koautoren trafen mit ihrer (im Grunde gar nichtso neuen, son<strong>der</strong>n vielmehr geradezu klassisch malthusianischen) Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriegesellschaftlichenWachstumsideologie den Nerv <strong>der</strong> Zeit (vgl. v.a. Kap. I u. II). Sie zeigten nichtnur auf, daß die Nahrungsmittelproduktion auf Dauer unmöglich mit <strong>der</strong> exponentiell wachsendenMenschheit Schritt halten kann (vgl. ebd.; S. 37ff.), son<strong>der</strong>n wiesen ebenso auf dieProblematik <strong>der</strong> Verzögerung ökologischer Prozesse h<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 69ff.). TechnologischeInnovation kann nach Meadows et al. diese Probleme mil<strong>der</strong>n, die Grenzen des Wachstums


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 245zeitweilig ausdehnen: z.B. durch Recycl<strong>in</strong>gverfahren o<strong>der</strong> gesenkten Rohstoffverbrauch (vgl.ebd.; S. 118ff.). Auch Umwelt(schutz)technologien (vgl. ebd.; S. 120ff.), verbesserte landwirtschaftlicheProduktionsmethoden, die höhere Erträge ermöglichen, und Geburtenkontrollmaßnahmens<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Zusammenhang zu nennen (vgl. ebd; S. 124ff.). Aber diesetechnologischen +Deflexionsstrategien* f<strong>in</strong>den ihre Anwendung im Kontext e<strong>in</strong>er begrenztenWelt (vgl. ebd.; S. 73f.), und selbst durch die <strong>in</strong>novativste Technologie, die zudem immer(un<strong>in</strong>tendierte) Nebenwirkungen haben kann (vgl. ebd; S. 132ff.), ist es nicht möglich, diesegrundsätzliche Begrenztheit aufzuheben (vgl. ebd.; S. 128ff.). Das beweist sich für Meadowsund se<strong>in</strong>e (bzw. ihre)61Mitstreiter auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Retrospektive e<strong>in</strong>deutig. In dem 20 Jahre später(also 1992) vorgelegten Band +Die neuen Grenzen des Wachstums* sehen die Autoren aufgrundihrer Modellrechnungen ke<strong>in</strong>en Anlaß zur Revision ihrer Thesen. Im Gegenteil: +Sie [müssen]jetzt [noch] entschiedener formuliert werden*, heißt es im Vorwort (S. 13).Neben <strong>der</strong> Faktizität <strong>der</strong> wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die ihre Transzendierungpraxologisch erschwert, besteht also auch e<strong>in</strong>e materielle Grenze <strong>der</strong> technologischen Deflexionerkannter Risiken, die, <strong>in</strong>dem sie als +reale* Grenze erfahren o<strong>der</strong> auch nur als Grenze gedachtwird, erneut reflexive Prozesse <strong>der</strong> Infragestellung des aufgeweichten +Fortschrittskonsensus*auszulösen vermag. Hier<strong>in</strong> liegt die (vage) Chance e<strong>in</strong>er Überschreitung <strong>der</strong> Weggrenzen<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne, also e<strong>in</strong>es Verlassens des e<strong>in</strong>geschlagenen Wegs, <strong>der</strong> – aufgrund<strong>der</strong> materiellen Limitierungen und <strong>der</strong> Selbstaufhebungstendenzen des ihm zugrunde liegendenRationalismus (siehe unten) – e<strong>in</strong>e Sackgasse ist.Nur: Die +positive* Überschreitung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne (durch ihre +negative* Reflexion)ist, wie gesagt, nur e<strong>in</strong>e vage Chance. Allzu leicht bewirkt reflexives Bewußtse<strong>in</strong>, das nichtradikal genug die sich auftuenden Wi<strong>der</strong>sprüche spiegelt und die praktischen Konsequenzendaraus zieht, sich auf partikularen Protest beschränkt und sich mit Anpassungen (+updates*)des Systems zufrieden gibt, anstatt e<strong>in</strong>e (notwendige) +Neuprogrammierung* zu betreiben,e<strong>in</strong>e (ungewollte) Stabilisierung des status quo (siehe ebenso Abschnitt 5.2.2). Zudem wohntdem +großen technologischen System*, zu dem die Welt als Ganze geworden ist, um mitThomas Hughes zu sprechen (siehe S. 127), e<strong>in</strong> geradezu unvorstellbares +Momentum* <strong>in</strong>ne.Die Trägheit <strong>der</strong> technologischen und <strong>der</strong> humanen +Masse* absorbiert (erfolgreich undfolgenreich) das reflexive Potential <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft – womit ich wie<strong>der</strong> aufme<strong>in</strong> E<strong>in</strong>gangsargument zurückkomme: Die +Gravitation* <strong>der</strong> Technik zw<strong>in</strong>gt mit <strong>der</strong> Gewalt


246 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdes Seienden zurück auf die Bahn des +fortschrittlichen* Gleichschritts. H<strong>in</strong>zu kommt noche<strong>in</strong> Element <strong>der</strong> Verführung, das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technik liegt. Denn sie hat das menschliche Haus,wie Bloch bemerkte (siehe oben), nicht nur bequemer gemacht, son<strong>der</strong>n übt (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Präzisionihrer Bauteile, im Schillern e<strong>in</strong>er Compact-Disk, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschw<strong>in</strong>digkeit <strong>der</strong> mikroelektronischenRechenoperationen) e<strong>in</strong>e kaum zu leugnende Fasz<strong>in</strong>ation aus, und sie vermittelt (als Staudamm,Kontrazeptivum o<strong>der</strong> Düngemittel) darüber h<strong>in</strong>aus die +befreiende* Illusion <strong>der</strong> Beherrschbarkeit<strong>der</strong> +Naturprozesse*.Doch die Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> Technik, die zwar Risiken birgt, jedoch zur (deflexiven)Abwehr dieser Risiken wie<strong>der</strong>um benötigt wird und schon durch ihre Gegenwart die Zukunft(mit)bestimmt, ist nur die e<strong>in</strong>e Seite des Dilemmas. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en steht das Dilemma <strong>der</strong>Wissenschaft, <strong>der</strong>en Konstrukte <strong>der</strong> technischen Konstruktion und Entwicklung zugrunde liegen.Auch das wissenschaftliche Denken hat – ganz analog zu dem, was von mir über die d<strong>in</strong>glicheWelt <strong>der</strong> Technik gesagt wurde – +Gestell-Charakter*, d.h. es verstellt, und dies nicht nur<strong>in</strong>direkt (wie die Praxologie des Technischen), son<strong>der</strong>n als rationalistische Ideologie, mit se<strong>in</strong>enausschließenden Pr<strong>in</strong>zipien die Räume <strong>der</strong> (gedanklichen) Reflexion, normiert und kanalisiertals hegemonialer Diskurs den +stream of consciousness*. Aber die +wissenschaftliche* Verengungdes Denkens muß hier nicht mehr en detail dargestellt werden. Die E<strong>in</strong>seitigkeit und <strong>der</strong>immanente Herrschaftsanspruch des wissenschaftlichen Rationalismus wurde schließlich bereits<strong>in</strong> Abschnitt 2.3 im Kontext <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Positionen <strong>der</strong> Kritischen Theorie bis zu Foucaultund Feyerabend h<strong>in</strong>reichend thematisiert (siehe S. 122–126).Allerd<strong>in</strong>gs wurde dort ebenso herausgestellt, daß Wissenschaft (durch Expertisen und Beratungsgremienetc.) als äußerst wirkungsvolle Deflexionsressource für die <strong>Politik</strong> dient (siehe S. 149ff.).Als solche hat sie e<strong>in</strong>en doppelt ideologischen Charakter: Wissenschaft wehrt nicht nur diezu ihrem rationalistischen Pr<strong>in</strong>zip <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch stehenden Äußerungen des Se<strong>in</strong>s und desDenkens ab. Sie ist darüber h<strong>in</strong>aus <strong>der</strong> Versuch <strong>der</strong> bewußten argumentativen Deflexion vonkritischem reflexiven Potential. Doch diese Deflexionsversuche <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> unter Rückgriffauf die wissenschaftliche +Autorität* s<strong>in</strong>d ihrerseits nicht unproblematisch. Sie be<strong>in</strong>halten ihreeigenen Grenzen und Wi<strong>der</strong>sprüche – wie sich auf konkreter Ebene auch anhand des <strong>in</strong>Kapitel 4 thematisierten Fallbeispiels +BSE* zeigen wird (siehe Abschnitt 4.3). Allgeme<strong>in</strong> isthier zum e<strong>in</strong>en natürlich die schon oben angesprochene Selbstaufhebungstendenz <strong>der</strong> wissenschaftlichenVernunft zu nennen. Das rationale Denken mußte (gerade aufgrund se<strong>in</strong>er strikten


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 247Rationalität, welche die logische und wi<strong>der</strong>spruchsfreie Begründung e<strong>in</strong>er jeden Aussage verlangt)früher o<strong>der</strong> später zwangsläufig erkennen, das es se<strong>in</strong>e eigene Grundlage, nämlich diesesRationalitätspr<strong>in</strong>zip selbst, unmöglich (rational) begründen kann. So ist schon im Fundament<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft die f<strong>in</strong>ale Aporie <strong>der</strong> spätmo<strong>der</strong>nen Wissenschafts- und Erkenntnistheoriee<strong>in</strong>gegossen (siehe unten). Das Projekt <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne, das wesentlich auf<strong>der</strong> wissenschaftlichen Vernunft, auf dem Versuch e<strong>in</strong>er rationalen Begründung des Se<strong>in</strong>sund des (politischen) Handels beruhte, war deshalb e<strong>in</strong> Projekt, das – gerade <strong>in</strong>dem es versuchte,so jegliche Ambivalenz zu tilgen – e<strong>in</strong>e umso größere Ambivalenz entfaltete.Es handelte sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Anfängen um e<strong>in</strong>e geradezu kopflose +Flucht <strong>in</strong>sRationale*, die aufgrund <strong>der</strong> Erschütterung des mittelalterlichen Weltbilds unternommen wurde,um so das mit den traditionalen Sicherheiten zu erodieren drohende Selbst des neuzeitlichenIndividuums zu stabilisieren (siehe auch Abschnitt 5.1.1). Denker wie z.B. Descartes, Machiavellio<strong>der</strong> Hobbes stehen für dieses Projekt: Descartes suchte nach e<strong>in</strong>er sicheren, nicht mehrvernünftig anzweifelbaren Grundlage für die Philosophie (siehe auch S. XIVf.). Machiavelliszweckrationalistische Pragmatie <strong>der</strong> Macht zielte auf e<strong>in</strong>e Kontrolle <strong>der</strong> Launen <strong>der</strong> Fortuna(siehe S. 20ff.). Hobbes wollte den Text (d.h. den grundlegenden Gesellschaftsvertrag) füre<strong>in</strong>e stabile soziale Ordnung durch se<strong>in</strong>e +geometrische Methode* zw<strong>in</strong>gend (re)konstruierenund damit endgültig festschreiben (siehe S. 21ff.).Aber diese aus <strong>der</strong> Suche nach e<strong>in</strong>em neuen Fundament geborene Bewegung, die die +Positivität*<strong>der</strong> Wissenschaft <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund rückte und ihr damit quasireligiösen Status verlieh,konnte nur für e<strong>in</strong>e begrenzte Zeit die Selbstaufhebungstendenz <strong>der</strong> wissenschaftlichen Rationalitätüberdecken. Denn je systematischer sich Wissenschaft mit sich selbst beschäftigte undaus ihrer Eigendynamik heraus zu e<strong>in</strong>em selbstreflexiven Unternehmen geriet, umso klarermußte sie sich ihre letztliche Irrationalität beweisen. Bewußt wurde dies auch angesichts <strong>der</strong>+praktischen* Katastrophen des Jahrhun<strong>der</strong>ts, <strong>der</strong> <strong>fatal</strong>en Verwirklichung <strong>der</strong> nach Horkheimerund Adorno geradezu zwangsläufig <strong>in</strong> den Schornste<strong>in</strong>en von Auschwitz endenden +Dialektik<strong>der</strong> Aufklärung*, die, über sich selbst aufgeklärt, nicht(s) mehr aufzuklären vermag – jedenfallsnicht im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es +Enlightenment*.Dieses grundsätzliche Dilemma <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wissenschaft sche<strong>in</strong>t bereits auf, wenn MaxWeber ernüchtert (doch im Pathos des +rechtschaffenen* Wissenschaftsarbeiters) für e<strong>in</strong>eTrennung von politischen Wertfragen und wissenschaftlichen Sachaussagen plädiert (vgl.


248 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEWissenschaft als Beruf; S. 45 und siehe auch S. XXXII). Es sche<strong>in</strong>t auf, wenn <strong>der</strong> +KritischeRationalismus* von <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Beweisbarkeit von Sätzen Abschied nimmt und dasnegative Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Falsifizierung an ihre Stelle setzt, um den positivistischen Glauben anden Erkenntnisfortschritt zu retten (siehe auch Anmerkung 82, Prolog). Und es sche<strong>in</strong>t auf,wenn im postmo<strong>der</strong>nen Denken – ohne große Trauer, son<strong>der</strong>n im Gegenteil geradezuenthusiastisch – <strong>der</strong> wissenschaftliche Selbstzweifel dah<strong>in</strong>gehend radikalisiert wird, daß <strong>der</strong>wissenschaftliche Diskurs nur noch gleichberechtigt als e<strong>in</strong>er unter vielen ersche<strong>in</strong>t (sieheS. XLVIff). In <strong>der</strong> aktuellen Wissenschaftssoziologie greift <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge die Reflexivität so weit,daß die Annahme <strong>der</strong> Relativität, die vormals nur die +Resultate* <strong>der</strong> ethnographisch abgebildetenForschungsprozesse betraf, auch auf die eigenen Aussagen ausgedehnt wird (vgl. z.B.Woolgar/Ashmore: The Next Step).Die Stärke dieser Konzeptionen liegt dar<strong>in</strong>, daß sie sich ihrer eigenen Schwäche(n) bewußts<strong>in</strong>d. Doch <strong>der</strong>art betreibt Wissenschaft, die ursprünglich genau e<strong>in</strong> Reflex <strong>der</strong> Abwehr vonSchwäche war, ihre eigene +Entzauberung* (vgl. auch nochmals Bonß/Hartmann: EntzauberteWissenschaft) – und unterm<strong>in</strong>iert damit ihre soziale Geltungs- und Legitimitätsgrundlage, diedarauf beruht, daß ihr jenes Wahrheitsmonopol zugeschrieben wird, das e<strong>in</strong>st die Theologie<strong>in</strong> Beschlag hatte (siehe auch S. 144ff.). Durch diese schleichende, aber fortschreitendeDelegitimierung und Relativierung <strong>der</strong> Wissenschaft wird sie als Instrument <strong>der</strong> Deflexionfür die <strong>Politik</strong> zunehmend unbrauchbar.Der Prozeß <strong>der</strong> Entzauberung wird noch dadurch verschärft, daß es gerade im Zuge <strong>der</strong>Ausbreitung und Popularisierung von Wissenschaft zu e<strong>in</strong>em +Trivialisierungsprozeß* kommt.Der Begriff <strong>der</strong> Trivialisierung wurde von Friedrich Tenbruck <strong>in</strong> den 70er Jahren <strong>in</strong> die (selbstredendwissenschaftliche) Wissenschafts-Debatte geworfen. Tenbrucks Trivialisierungsbegriffbezeichnet allerd<strong>in</strong>gs etwas sehr ähnliches, wie das oben beschriebene Dilemma <strong>der</strong> wissenschaftlichenRationalität. Er führt nämlich aus, daß im Zuge <strong>der</strong> wissenschaftlichen EntwicklungWissenschaft (zwangsläufig) e<strong>in</strong>en immer <strong>in</strong>strumentelleren, versachlichten Charakter erhält,und ihr +metaphysisches* bzw. hermeneutisches Element (d.h. ihr Moment als BedeutungsundS<strong>in</strong>nquelle) zugunsten ihres bloßen Nutzwertes zurücktritt. Genau diesen Prozeß <strong>der</strong>+Ents<strong>in</strong>nlichung* von Wissenschaft me<strong>in</strong>t Tenbruck, wenn er von Trivialisierung spricht (vgl.Der Fortschritt <strong>der</strong> Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß; S. 23f. und siehe auch Anmerkung189, Kap. 2).


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 249E<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Begriff von Trivialisierung entwickeln dagegen Ulrich Beck und Wolfgang Bonß:Sie weisen darauf h<strong>in</strong>, daß es mit <strong>der</strong> (politischen) Verwendung von Forschung (also ihrerdeflexiven Nutzung) zu e<strong>in</strong>em Verschw<strong>in</strong>den bzw. zu e<strong>in</strong>er Transformation <strong>der</strong> Forschungs<strong>in</strong>haltekommt. Denn <strong>in</strong>dem Wissenschaft +praktisch* wird, muß sie sich an die (politische) Praxisanpassen. In dieser Anpassung geht e<strong>in</strong> Teil ihres Gehalts verloren, d.h. es kommt zu e<strong>in</strong>erTrivialisierung im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Vere<strong>in</strong>fachung und Banalisierung (siehe ebd. und vgl. Soziologieund Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 392ff.). In diesem Zusammenhang habe ich bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.3ergänzend von e<strong>in</strong>em +Übersetzungsverlust* gesprochen (siehe nochmals S. 152): Mit demKontextwechsel än<strong>der</strong>t und reduziert sich durch die notwendig gewordene Übertragungsarbeitauch <strong>der</strong> Text(<strong>in</strong>halt).Man kann aber sogar darüber h<strong>in</strong>aus behaupten, daß (verwendungsorientierte) Wissenschaftalle<strong>in</strong>e dadurch trivial wird, daß sie +gebraucht* wird. Denn um brauchbar zu se<strong>in</strong>, muß sienicht nur die Komplexität ihrer eigenen Semantik reduzieren, son<strong>der</strong>n sich nach <strong>der</strong> Semantikihrer Verwendungskontexte ausrichten, sie darf sich also nicht gegen die Interessen ihrer Auftraggeberwenden o<strong>der</strong> läuft Gefahr +kassiert* zu werden (d.h. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schublade zu verschw<strong>in</strong>den)bzw. nicht mehr zu +kassieren* (d.h. ke<strong>in</strong>e Aufträge und damit auch ke<strong>in</strong>e Mittel mehr zuerhalten). Das ist jedoch natürlich selbst e<strong>in</strong>e eher triviale Enthüllung. Der <strong>in</strong>strumentelleGebrauch <strong>der</strong> Verwendungsforschung ist <strong>der</strong> Öffentlichkeit bewußt, und so verbraucht sichmit ihrem Gebrauch automatisch das Deflexionspotential von Wissenschaft. Die Aussage e<strong>in</strong>esGutachters beispielsweise wird alle<strong>in</strong>e deshalb zum<strong>in</strong>dest +fragwürdig*, weil sie im Kontexte<strong>in</strong>es Gutachtens formuliert wird, so daß <strong>der</strong> Kontext – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Kontext <strong>der</strong> Deflexion– oft relevanter ist, als <strong>der</strong> Inhalt (Text) e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Aussage (vgl. hierzu auchBonß/Hohlfeld/Kollek: Kontextualität – E<strong>in</strong> neues Paradigma <strong>der</strong> Wissenschaftsanalyse?). Damitwird aber zugleich <strong>der</strong> erhoffte Zweck des Gutachtens konterkariert: nämlich gestützt aufwissenschaftliche Autorität politische Entscheidungen zu legitimieren. Die konfliktneutralisierende,deflexive Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wird <strong>der</strong>gestalt immer problematischer.Dieses Dilemma wird dadurch verschärft, daß heute im Konfliktfall <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel alle Konfliktparteienversuchen, sich auf wissenschaftliche +Objektivität* zu berufen, und so jedes Gutachtene<strong>in</strong> Gegengutachten provoziert, was zu e<strong>in</strong>er nur vor<strong>der</strong>gründigen Aufwertung des wissenschaftlichenDiskurses führt. Wissenschaft dient damit nämlich immer weniger als +neutraler*Streitschlichter (und gew<strong>in</strong>nt Autorität), son<strong>der</strong>n sie gerät zum Medium des Streits (und verliert


250 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEan sozialem Ansehen, das schließlich genau auf <strong>der</strong> Fiktion ihrer Objektivität beruht). Dabeikann es sogar so weit kommen, daß die öffentliche Konfliktdynamik durch sich wi<strong>der</strong>sprechendeExpertisen noch angefacht wird. Das hat Dorothy Nelk<strong>in</strong> mit ihrer bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.3erwähnten Analyse <strong>der</strong> Konflikte um den Bau e<strong>in</strong>es Atomkraftwerks am Cayuga Lake undum die Erweiterung des Bostoner Flughafens sehr e<strong>in</strong>drücklich aufgezeigt. Sie stellt hier dar,wie wissenschaftliche Kontroversen als direkter Stimulus für (sub)politischen Protest wirken.Alle<strong>in</strong>e die Tatsache <strong>der</strong> Une<strong>in</strong>igkeit <strong>der</strong> Gutachter verstärkte nämlich <strong>in</strong> den von ihr untersuchtenFällen das öffentliche Mißtrauen. Mit <strong>der</strong> eigenen Haltung konforme wissenschaftliche Aussagenwurden dagegen als +moralischer Support* aufgefaßt – wobei die Akteure jedoch zugleichbetonten, daß die Konfliktlösung aus ihrer Sicht ke<strong>in</strong>esfalls alle<strong>in</strong>e von wissenschaftlichtechnischenArgumenten abh<strong>in</strong>ge (vgl. The Political Impact of Technical Expertise; S. 199ff.).So äußerte e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Betroffenen im Fall des umstrittenen Kraftwerkbaus:+To say that our future is out of our hands and entrusted to scientists and technicians is an arrogantassumption […] We suggest that the op<strong>in</strong>ions of area residents who care deeply about their environmentand its future are of equal if not greater importance.* (Jane Rice im Ithaca Journal vom 14.5.1973, zitiertnach ebd.; S. 200)Auch deshalb möchte ich deutliche Zweifel an <strong>der</strong> Sicht Wolfgang van den Daeles anmelden,<strong>der</strong> im zwar nicht naiven, doch weitgehend anachronistischen Vertrauen auf die Macht desvernünftigen Diskurses behauptet:+Im Diskurs stellen Experten und Gegenexperten geme<strong>in</strong>sam die Differenzierungen wie<strong>der</strong> her, die <strong>in</strong><strong>der</strong> Expertenkritik e<strong>in</strong>gerissen werden (zwischen Wissen und Interessen, zwischen Tatsachen und Werten),und sie <strong>in</strong>tegrieren Wissenskonzepte, zwischen denen Inkommensurabilität behauptet wird (Alltagswissenund Wissenschaft, unterschiedliche Diszipl<strong>in</strong>en). Im Ergebnis rehabilitiert <strong>der</strong> [wissenschaftliche] Diskurssowohl die Idee <strong>der</strong> objektiven Erkenntnis als auch die Zuständigkeit <strong>der</strong> Wissenschaft als Kontroll<strong>in</strong>stanzfür empirische Behauptungen.* (Objektives Wissen als politische Ressource; S. 301)Was hier von van den Daele implizit negiert wird, ist <strong>der</strong> notwendig politische Charaktervon politischen Entscheidungen, <strong>der</strong> sich nicht auf +technische* Fragen reduzieren läßt. ImExpertendiskurs werden politische Konflikte auf die Ebene von wissenschaftlichen Sachaussagentransformiert, bleiben aber natürlich ihrem Charakter nach trotzdem politisch (d.h. sie betreffendas soziale Zusammenleben und unterliegen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen, subjektiven Willensentscheidung),


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 251was im objektivierenden wissenschaftlichen Diskurs aber verschw<strong>in</strong>det, so daß durch dieseEntpolitisierung e<strong>in</strong> umgekehrter Translationsverlust wie oben konstatiert werden kann: Derpolitische Diskurs wird durch Verwissenschaftlichung ebenso trivialisiert wie <strong>der</strong> wissenschaftlicheDiskurs durch Politisierung.Beide Systeme – <strong>Politik</strong> und Wissenschaft – laufen deshalb im deflexiven Zusammenspielzusätzlich Gefahr, daß sie an Legitimität e<strong>in</strong>büßen. Die Wissenschaft (<strong>der</strong>en tatsächliche Macht<strong>in</strong> <strong>der</strong> Setzung von kognitiven und technologischen Standards im Zusammenspiel mit <strong>der</strong>Industrie und dem Bildungssystem liegt) läßt sich auf dieses Spiel e<strong>in</strong>, weil sie als Ausgleichfür den politischen Rückgriff auf ihren Legitimitätspool nicht nur materiell entlohnt wird, son<strong>der</strong>ne<strong>in</strong>e sche<strong>in</strong>bare politische Def<strong>in</strong>itionsmacht erhält, die nur sche<strong>in</strong>bar ist, weil Wissenschaftdurch ihre Politisierung eher <strong>in</strong> Abhängigkeit zur <strong>Politik</strong> gerät, als daß es zu e<strong>in</strong>er wirklichenHerrschaft <strong>der</strong> Experten kommen würde (siehe hierzu me<strong>in</strong>e Bemerkungen auf S. 149ff.).Diese Instrumentalisierung <strong>der</strong> Wissenschaft erkennt auch die Öffentlichkeit, wodurch Wissenschaftihr Wahrheitsmonopol zunehmend verliert.Aber nicht nur für die Wissenschaft selbst, son<strong>der</strong>n gleichermaßen für die <strong>Politik</strong> ist das (zudemja immer schwieriger werdende) Zehren vom wissenschaftlichen Legitimitätspool +gefährlich*.Macht <strong>Politik</strong> zu exzessiv von <strong>der</strong> Ressource Wissenschaft gebrauch und ersche<strong>in</strong>t sie imBlick <strong>der</strong> Öffentlichkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge als zu +versachlicht*, so droht (ganz analog zur <strong>in</strong> Abschnitt3.2 aufgezeigten Problematik <strong>der</strong> Verrechtlichung) e<strong>in</strong>e Entfremdung zwischen <strong>Politik</strong> undPublikum, welches sich durch Verwissenschaftlichung (noch mehr als ohneh<strong>in</strong>) vom politischenDiskurs ausgeschlossen fühlt. Das Resultat e<strong>in</strong>er solchen Entfremdung kann e<strong>in</strong>e resignierendeAbwendung <strong>der</strong> Menschen von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, dem politischen Institutionensystem se<strong>in</strong> (Entpolitisierung).Es kann aber – durch das reflexive Bewußtse<strong>in</strong> für die Problematik <strong>der</strong> technischenEntwicklung – auch e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>terfragung dieses Systems stattf<strong>in</strong>den und somit kritisches politischesPotential entfesselt werden, das sich <strong>in</strong> neuen Formen politisch organisiert (subpolitischeRepolitisierung). Für diesen ambivalenten Prozeß des politischen Kulturwandels lassen sichauch empirische Belege f<strong>in</strong>den (siehe nochmals Abschnitt 2.5). Die hier beschriebene gegenseitigeSchwächung und Delegitimierung von <strong>Politik</strong> und Wissenschaft durch Deflexionsversuchereflexiver Potentiale und Prozesse tritt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dann e<strong>in</strong>, wenn die Deflexion an e<strong>in</strong>ematerielle Grenzen stößt, daß heißt, wenn sich konkrete Gefahren <strong>in</strong> den Weg stellen, diere<strong>in</strong> deflexiv nicht o<strong>der</strong> nur schwer zu meistern s<strong>in</strong>d.


252 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEWill man abschließend e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Fazit ziehen, so ergibt sich, daß Wissenschaft undTechnik durch <strong>der</strong>en eigene Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit (d.h. die technologische Risikoproduktionund die Selbstaufhebungstendenz <strong>der</strong> wissenschaftlichen Vernunft) für die <strong>Politik</strong> zu immerunverläßlicheren Deflexionsressourcen werden. Ihre für die Öffentlichkeit durchsichtige politischeInstrumentalisierung verstärkt noch diese Erosion des wissenschaftlich-technischen Deflexionspotentials,obwohl Wissenschaft an<strong>der</strong>erseits für e<strong>in</strong>e Aufdeckung drohen<strong>der</strong> Gefahrenund die Entwicklung von Techniken zu ihrer Kontrolle wie<strong>der</strong>um +gebraucht* wird. Zudems<strong>in</strong>d Wissenschaft und Technik durch ihre Allgegenwart praxologisch festgeschrieben, lassensich also trotz ihrer Ambivalenz ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>fach reflexiv transzendieren, son<strong>der</strong>n werdendurch e<strong>in</strong>e begrenzte Reflexion sogar vielmehr eher stabilisiert. Sie zw<strong>in</strong>gen damit gewissermaßen<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wi<strong>der</strong>sprüchliche Situation h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, und es entfaltet sich e<strong>in</strong>e möglicherweise <strong>fatal</strong>eDialektik von Reflexion und Deflexion (siehe dazu auch Abschnitt 5.4).3.4 DAS DILEMMA VON PRÄSENTATION UND REPRÄSENTATIONIn Abschnitt 2.4 wurde aufgezeigt, daß das Gel<strong>in</strong>gen von +rechtlicher* und +wissenschaftlicher*Deflexion (mittels <strong>der</strong> Übersetzung von politischen Diskursen <strong>in</strong> rechtliche und wissenschaftliche)erheblich von e<strong>in</strong>em Faktor abhängig ist: <strong>der</strong> öffentlichen Me<strong>in</strong>ung. Diese stellt sich im öffentlichenDiskurs her, wobei die Massenmedien <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaften die(notwendigen) Medien dieses Diskurses s<strong>in</strong>d. <strong>Politik</strong> ist deshalb auf Massen(medien)öffentlichkeitangewiesen, um sich darzustellen. Murray Edelman stellt demgemäß <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er (bereits dorterwähnten) Schrift +<strong>Politik</strong> als Ritual* (1964/1971)62heraus, daß politische Akte neben ihrer<strong>in</strong>strumentellen, immer auch e<strong>in</strong>e expressive, symbolische Seite haben, und betont dabei:+Vielleicht kann <strong>Politik</strong> sogar nur deshalb für e<strong>in</strong>ige Leute nüchtern und erfolgbr<strong>in</strong>gend se<strong>in</strong>, weil sie füran<strong>der</strong>e (o<strong>der</strong> für uns alle?) etwas Zwanghaftes, Mythisches, Emotionales hat. Diese symbolische Seite <strong>der</strong><strong>Politik</strong> verdient unser Interesse; denn wir können uns nur selber erkennen, wenn wir wissen, was wirtun und welche Umwelt uns umgibt und bee<strong>in</strong>flußt.* (<strong>Politik</strong> als Ritual; S. 1)Der Ritus und <strong>der</strong> Mythos s<strong>in</strong>d die beiden wichtigsten, sich gegenseitig ergänzenden undverstärkenden symbolischen Formen. Sie durchdr<strong>in</strong>gen unsere nur vor<strong>der</strong>gründig so +versachlicht*ersche<strong>in</strong>enden politischen E<strong>in</strong>richtungen. Durch die politischen Rituale (bzw. Praxologien)


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 253wird <strong>der</strong> Zusammenhalt <strong>der</strong> politischen Geme<strong>in</strong>schaft und <strong>der</strong> Konformismus geför<strong>der</strong>t, unddie politischen Mythen (o<strong>der</strong> Ideologien) überdecken und legitimieren die bestehenden sozialenUngleichheiten (vgl. ebd.; S. 13ff.). Überhaupt wirken Symbole vielfach als Rationalitätsersatz<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (vgl. ebd.; S. 27ff.), denn wie Edelman im Vorwort zur Neuauflage se<strong>in</strong>es Buchesvon 1990 bemerkt: +Mit <strong>der</strong> Behauptung, daß politisches Handeln rationale Entscheidungenwi<strong>der</strong>spiegle, maskiert die politische Alltagssprache die Banalität und den ritualhaften Charakter,die den Großteil politischer Äußerungen und Handlungen kennzeichnet* (ebd.; S. XI). Wasaber macht Symbole <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht so wirksam? – Edelman verweist darauf, daß es mitihrem Gebrauch möglich wird, Inhalte so zu reduzieren, daß sie sich <strong>in</strong> bestehende Bedeutungszusammenhängee<strong>in</strong>ordnen lassen (vgl. ebd.; S. 95). Auf diese Weise können Inhalteund Handlungen im symbolisch-ästhetischen Rekurs auf die +Tradition* legitimiert werden.Die Verpflichtung zu rationaler Begründung entfällt. 63Thomas Meyer nimmt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em (ebenfalls bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.4 zitierten) Buch +Die Inszenierungdes Sche<strong>in</strong>s* (1992) auf Edelman Bezug. Dort bemerkt er: +Der Sche<strong>in</strong> ist für dieAnschauung, was die Ideologie für den Diskurs ist.* (S. 39) Man könnte also, wie ich hiermitvorschlagen möchte, von e<strong>in</strong>er +Optologie* sprechen, die ihre Wirksamkeit <strong>der</strong> visuellen Fixierungdes Menschen verdankt: +Bil<strong>der</strong> lügen nicht, me<strong>in</strong>t unser Gedächtnis […] Darum ist die Inszenierungdes Sche<strong>in</strong>s <strong>der</strong> Konstruktion von Ideologien turmhoch überlegen.* (Ebd.; S. 49) Nebendem visuellen, dem +Augensche<strong>in</strong>* existiert gemäß Meyer allerd<strong>in</strong>gs auch +Sprachsche<strong>in</strong>*und +Handlungssche<strong>in</strong>* (vgl. ebd. S. 39ff.) – geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d politische Wortblasen (ich möchtehier den Begriff +Logologie* vorschlagen) und die schon oben angesprochenen politischenRituale (Praxologien). 64Diese +<strong>Politik</strong> des Sche<strong>in</strong>s* muß <strong>in</strong> <strong>der</strong> komplexen, +funktional differenzierten* Gesellschaftnotwendig immer bedeuten<strong>der</strong> werden, da die wachsende Komplexität das tatsächliche undumfassende Verstehen <strong>der</strong> politischen und sozialen Zusammenhänge zunehmend unmöglichmacht – das, so Meyer, ist zum<strong>in</strong>dest die Argumentation +funktionalistischer* Autoren (vgl.ebd.; S. 58ff. und siehe auch Abschnitt 2.4). Selbst eher +kritische* Wissenschaftler lassensich auf ähnliche Argumentationen e<strong>in</strong> (vgl. z.B. Peters: Der S<strong>in</strong>n von Öffentlichkeit und siehehier S. 172).65Meyer will sich jedoch nicht e<strong>in</strong>em +funktionalistischen Fatalismus* ergebenund nennt die so erfolgte Ausblendung von ablehnenden Reflexen des Publikums auf dieseals zwangsläufigen Automatismus dargestellte Entwicklung zynisch (vgl. Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s;


254 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE66S. 151ff.). Als Gegenstrategien empfiehlt er deshalb e<strong>in</strong>e +naive* Suche nach +vernünftigenAlternativen zu den Funktionen, die sich das System, autopoietisch, selbst gesucht hat* (ebd.;S. 193) und for<strong>der</strong>t +e<strong>in</strong>e Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> ontologischen Differenz zwischen erfahrenerLebenswelt und erlebter Bild<strong>in</strong>szenierung* (ebd.; S. 196) durch e<strong>in</strong>e kritische Medienpädagogikund politische Kulturarbeit – auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form +radikaler* Theorien wie z.B. <strong>der</strong> These vomSimulakrum Baudrillards (siehe S. LVf.), welche nach Meyer gerade <strong>in</strong> ihrer ÜbertreibungMöglichkeiten zu e<strong>in</strong>er Verän<strong>der</strong>ung des bestehenden Systems aufzeigen kann. 67Die sich bei Baudrillard (und auch Meyer) Ausdruck verleihende kritische Distanz zur konstruierten+Medienrealität* verweist auf die Ambivalenz <strong>der</strong> politischen Inszenierung und die immanente+Dialektik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft* (Münch). Insofern diese noch den Charaktere<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft trägt, ist ihr Öffentlichkeitssystem, wie <strong>in</strong> Abschnitt 2.4dargestellt (siehe S. 167–177) durch Anonymität, Hierarchisierung und +E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glichkeit*(Invasivität) gekennzeichnet. Die Anonymisierung <strong>der</strong> Öffentlichkeit ist dabei, auch wennMeyer e<strong>in</strong>e solche Argumentation zynisch nennen mag, e<strong>in</strong>e logische Folge <strong>der</strong> im Zuge <strong>der</strong>Ausweitung <strong>der</strong> öffentlichen Kommunikation notwendig gewordenen Mediatisierung desöffentlichen Diskurses, was auch die Ausdifferenzierung von spezifischen Publikums- undAkteursrollen (und somit Hierarchisierung) bewirkte. Die Invasivität <strong>der</strong> Öffentlichkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong><strong>in</strong>dustriellen Massengesellschaft ist dagegen eher e<strong>in</strong>e Folge des Charakters +ihrer* Medien(also Illustrierte, Hörfunk und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Fernsehen), die <strong>in</strong> den privaten Raum mitihren vorselektierten Angeboten sowie d<strong>in</strong>glich e<strong>in</strong>- und durchdr<strong>in</strong>gen. H<strong>in</strong>zu kommt dieschon angesprochene Bildfixierung des Fernsehen und auch <strong>der</strong> Pr<strong>in</strong>tmedien. In dieser spezifischenKomb<strong>in</strong>ation bot das Öffentlichkeitssystem <strong>der</strong> +klassischen* Industriegesellschaft westlicherPrägung günstige Voraussetzungen für e<strong>in</strong>e dramaturgische Deflexion durch die <strong>Politik</strong>,die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Massendemokratie über öffentliche Zustimmung legitimieren muß und darumauf e<strong>in</strong> Mediensystem angewiesen ist, das es ihr erlaubt, sich darzustellen. Die +Popularisierung*<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> erfolgte also +mediengerecht* durch Inszenierung.Aber dramaturgische Deflexion war gerade deshalb auch unter diesen günstigen Rahmenbed<strong>in</strong>gungenniemals unproblematisch. Jede Anpassung an das Medienformat durch die <strong>Politik</strong>führt zwangsläufig zu Verlusten: an politischen Inhalten und Differenzierungen, aber auchan Wahlmöglichkeiten für Handlungsalternativen. Wie analog schon im Fall <strong>der</strong> Ökonomisierung<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die Übernahme <strong>der</strong> ökonomischen Wettbewerbslogik (Abschnitt 3.1), im


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 255Fall <strong>der</strong> Verrechtlichung (Abschnitt 3.2) und im Fall <strong>der</strong> Verwissenschaftlichung (Abschnitt3.3) herausgestellt, bedeutet e<strong>in</strong>e deflexive, an die Mediensemantik angepaßte +Veröffentlichung*von <strong>Politik</strong> also e<strong>in</strong>e Entpolitisierung und Selbstentmachtung – nicht nur durch e<strong>in</strong>e Auf- undÜbergabe von politischen Kompetenzen, son<strong>der</strong>n auch durch die automatisch erfolgendeReduzierung <strong>der</strong> politischen Gehalte durch <strong>der</strong>en +Übersetzung*.Wenn dieser deflexive Zusammenhang, mit dem sich die <strong>Politik</strong> sich selbst und dem Publikumentfremdet, wahrgenommen wird, dann muß mit e<strong>in</strong>em (zum<strong>in</strong>dest partiellen) Legitimitätsentzuggerechnet werden. Die dramaturgische Deflexion hat dann allerd<strong>in</strong>gs natürlich ihr explizitesZiel, nämlich Legitimität +symbolisch*, anstatt durch rationale Begründungen zu schaffen,verfehlt. Die politische Inszenierung wurde also entwe<strong>der</strong> schlecht an das Medienformatangepaßt o<strong>der</strong> die Haltung und die +Reflexivität* <strong>der</strong> Öffentlichkeit wurde falsch e<strong>in</strong>geschätzt(wie dies me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach beson<strong>der</strong>s deutlich für das <strong>in</strong> Kapitel 4 behandelte Fallbeispiel+BSE* gilt). Solche Defizite <strong>der</strong> dramaturgischen Deflexion s<strong>in</strong>d nicht grundsätzlicher Natur,son<strong>der</strong>n ließen sich durch e<strong>in</strong>e +Verbesserung* <strong>der</strong> politischen Darstellungen beheben. DieAnpassung an die Mediensemantik und die Publikumsorientierung erzeugt allerd<strong>in</strong>gs auchnicht vermeidbare +objektive* Probleme. Dazu zählt <strong>der</strong> oben angesprochene Übersetzungsverlust,welcher sich bei <strong>der</strong> Übertragung von politischen Fragen <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e Kontexte zwangsläufigergibt – allerd<strong>in</strong>gs nicht nur +Verluste* produziert, son<strong>der</strong>n auch den Vorteil e<strong>in</strong>er Komplexitätsreduktione<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt, weshalb es schließlich überhaupt zu Übersetzungen kommt.Viel +dramatischer* ist e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e notwendige Folge <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>* (Hartley),Adaption an das Medienformat: Da <strong>der</strong> Zeithorizont <strong>der</strong> Medien (wie jener <strong>der</strong> Ökonomie)von Kurzfristigkeit, von e<strong>in</strong>er Dom<strong>in</strong>anz des Jetzt-Feldes geprägt ist (siehe auch S. 299 sowiedie Thesen von Großklaus <strong>in</strong> Abschnitt 2.4, S. 170f.), ist die <strong>Politik</strong> gezwungen, sich an diesene<strong>in</strong>geschränkten Zeithorizont anzupassen, wenn sie ihr Publikum erreichen will (was sie muß,um sich zu legitimieren). Die <strong>Politik</strong> im Geschw<strong>in</strong>digkeitsrausch <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und ihrer beschleunigten,zeitlich entbetteten Medienrealität, wird so <strong>fatal</strong>er Weise dazu getrieben, schnelleEntscheidungen zu treffen und langfristige Entwicklungen auszublenden – was noch durchden kurzen Rhythmus <strong>der</strong> Legislaturperioden verstärkt wird (vgl. auch Virilio: Geschw<strong>in</strong>digkeitund <strong>Politik</strong> sowie Spaemann: Ars longa vita brevis).Erschwerend h<strong>in</strong>zu kommt die Tatsache, daß die Medien e<strong>in</strong> grundsätzlich ambivalenter Faktors<strong>in</strong>d, wie auch Barbara Adam aufweist: e<strong>in</strong>erseits spiegeln sie den status quo, an<strong>der</strong>erseits68<strong>der</strong>


256 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEstellen sie ihn <strong>in</strong> Frage, s<strong>in</strong>d Informationsquellen, Analysten, Vermittler und Konstrukteurevon Realität zugleich (vgl. Timescapes of Mo<strong>der</strong>nity; Kap. 5) – und untergraben gerade <strong>in</strong>letztgenannter +Funktion* die politische Def<strong>in</strong>itionsmacht. Weiterh<strong>in</strong> läßt sich e<strong>in</strong> latenterInteressengegensatz von Medien und <strong>Politik</strong> unterstellen. Als Teile des ökonomischen Systems(d.h. wenn es sich nicht um staatliche, son<strong>der</strong>n +private* Medien handelt) s<strong>in</strong>d sie alle<strong>in</strong>eo<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest überwiegend dem (kurzfristigen) Kapital<strong>in</strong>teresse verpflichtet, währenddie <strong>Politik</strong> neben <strong>der</strong> Selbstreproduktion ihres Subsystems auch den allgeme<strong>in</strong>en Systemerhaltim Auge haben muß/sollte. In diesem doppelten Interesse versucht die <strong>Politik</strong>, die Medienfür ihre Selbstdarstellungen zu <strong>in</strong>strumentalisieren (und als Instrumente werden sie von <strong>der</strong><strong>Politik</strong> deshalb auch benötigt). Die Medien wenden sich jedoch mit ihren +Enthüllungen*manchmal auch gegen die <strong>Politik</strong>. In Anlehnung an Richard Münchs bereits dargelegte Argumentation(siehe S. 174f.) muß allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>geschränkt werden, daß dadurch das System <strong>in</strong>sgesamtnicht unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> Frage gestellt, son<strong>der</strong>n eher stabilisiert wird. Doch wie auch immer: Selbste<strong>in</strong> nur partieller (Ziel-)Konflikt mit <strong>der</strong> +Medienwelt* macht die politische Inszenierungproblematisch und risikobehaftet für die <strong>Politik</strong>, die zudem immer mehr unter KommunikationsundDarstellungszwänge gerät (vgl. auch <strong>der</strong>s. Dynamik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft; S.82–93).Das Risiko und vor allem <strong>der</strong> zu erbr<strong>in</strong>gende +E<strong>in</strong>satz* bei <strong>der</strong> dramaturgischen Deflexionerhöht sich noch weiter mit <strong>der</strong> <strong>in</strong> Abschnitt 2.4. beschriebenen (sich aktuell abzeichnenden)Transformation <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriegesellschaftlichen Massenöffentlichkeit zu e<strong>in</strong>er eher diffusen,fragmentisierten und <strong>in</strong>teraktiven öffentlichen Mediensphäre (siehe S. 177–184). Erstens machtdie zu erwartende fortschreitende Pluralisierung <strong>der</strong> Formate die politische Adaption aufwendigerund schwieriger. Zudem ist immer unklarer, wer wie und durch welche Medien erreichbarist, wenn nicht gar e<strong>in</strong>e totale Individualisierung und Unberechenbarkeit <strong>der</strong> Mediennutzung<strong>in</strong>folge des diversifizierten Angebots e<strong>in</strong>tritt. Dramaturgische Deflexion läuft so zwangsläufigGefahr zu scheitern, während sie an<strong>der</strong>erseits <strong>in</strong>effizienter zu werden droht. Und auch dieKonkurrenz auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Darsteller nimmt durch globale Vernetzung und den (aktuell)vergleichsweise ger<strong>in</strong>gen technischen Aufwand für e<strong>in</strong>e Präsenz <strong>in</strong> neuen Medien wie demInternet zu, was e<strong>in</strong>erseits staatliche Kontrolle erschwert und an<strong>der</strong>erseits den hierarchischenCharakter <strong>der</strong> Öffentlichkeit zurücktreten läßt, <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> (+offiziellen*) politischenInszenierung entgegenkam.69Mit <strong>der</strong> Interaktivität vieler neuer Medien wird die <strong>in</strong> dieser


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 257H<strong>in</strong>sicht ebenfalls für die <strong>Politik</strong> funktionale strikte Abgrenzung zwischen Akteuren und Publikumh<strong>in</strong>fällig.Welches Fazit läßt sich also abschließend ziehen? – Die politische Medien<strong>in</strong>szenierung warund ist für die <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong> wichtiges Mittel zur Selbstdarstellung, wobei Medien und <strong>Politik</strong>häufig zusammenwirken, aber auch antagonistische Momente zum Tragen kommen. Die<strong>Politik</strong> muß für ihre +symbolische* Anpassung an das Medienformat, die ihr Ablenkung vonProtest und öffentliche Legitimation ermöglicht, allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> jedem Fall den Preis e<strong>in</strong>es Verlustsan politischen Inhalten und an Handlungsmöglichkeiten <strong>in</strong> Kauf nehmen. Wird ihr +Spiel*durchschaut, droht ihr sogar umgekehrt Legitimitätsentzug. Und selbst wenn die politischeInszenierung +funktioniert*, hat symbolische <strong>Politik</strong> zur Folge, daß <strong>der</strong> repräsentative Charakter<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zugunsten <strong>der</strong> Präsentation zurücktritt. Das Volk (und se<strong>in</strong>e Interessen) werdennicht vertreten (wie es zum<strong>in</strong>dest die +offizielle* Ideologie repräsentativer Demokratie for<strong>der</strong>t),son<strong>der</strong>n die Volksvertretung präsentiert sich (im Interesse ihres Machterhalts). Dieses umgekehrteVerhältnis von Präsentation und Repräsentation resultiert daraus, daß die Struktur <strong>der</strong> öffentlichenKommunikation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mediengesellschaft auf die Struktur <strong>der</strong> politischen Beziehungen (d.h.das Verhältnis von Vertretern und Vertretenen) rückwirkt. Repräsentation ist (durch den gewähltenpolitischen Reproduktionsmechanismus <strong>der</strong> politischen Wahl) daran gebunden, daß demPublikum (das vertreten werden soll) die eigene Kompetenz dargestellt werden kann – womitdie Möglichkeiten zur Darstellung die Chancen <strong>der</strong> Repräsentanten bestimmen. 70Was aber passiert, wenn es <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>es neuerlichen +Strukturwandels <strong>der</strong> Öffentlichkeit*zu e<strong>in</strong>er Pluralisierung und Fragmentisierung des Mediensystems kommt, welche die Pluralisierungs-und Fragmentisierungsprozesse im Bereich <strong>der</strong> Kultur und Sozialstruktur (siehe Abschnitt2.5) spiegelt? – E<strong>in</strong> solches Öffentlichkeitssystem wäre (wie oben ausgeführt) für die <strong>Politik</strong>und ihre Inszenierungen weit schwieriger zu kalkulieren und zu <strong>in</strong>strumentalisieren. Unddiese Transformation würde sicherlich auch neue Fragen zum Verhältnis von <strong>Politik</strong> und(Wähler-)Publikum aufwerfen. So verweist das beschriebene Dilemma von Präsentation undRepräsentation – das hier nur relativ knapp dargelegt wurde, dafür aber <strong>in</strong> Abschnitt 4.4 umso<strong>in</strong>tensiver bezogen auf das Fallbeispiel +BSE* herausgearbeitet werden soll – <strong>in</strong>direkt auf dasim folgenden behandelte politische Dilemma <strong>der</strong> Individualisierung.


258 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE3.5 DAS POLITISCHE DILEMMA DER INDIVIDUALISIERUNGOne man, one vote! Dieses heute weitgehend durchgesetzte, lange Zeit jedoch ke<strong>in</strong>esfallsselbstverständliche Pr<strong>in</strong>zip ist <strong>der</strong> Ausdruck des egalitaristischen Moments wie <strong>der</strong> egalitärenIdeologie <strong>der</strong> (westlichen) Demokratie.71Die <strong>in</strong>dividuelle Verschiedenheit und das faktischeUngleichgewicht <strong>der</strong> sozialen Kräfte soll <strong>in</strong> <strong>der</strong> formalen Gleichheit <strong>der</strong> politischen Stimmen(symbolisch) zum Verschw<strong>in</strong>den gebracht werden (und wird <strong>in</strong> <strong>in</strong>terventionistischen Wohlfahrtsstaaten– <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e des +sozialdemokratischen* Typus – durch e<strong>in</strong>e begrenzte Umverteilungsowie e<strong>in</strong>e aktive Gleichstellungspolitik auf materieller Ebene ergänzt).72Die Glie<strong>der</strong>des +politischen Körpers* erhalten auf diese Weise, trotz ihrer sozialen und +funktionalen*Differenzierung, e<strong>in</strong>e imag<strong>in</strong>äre, aber zugleich erfahrbare +Identität*. Im Ritual <strong>der</strong> Wahl wirdalso <strong>der</strong> politische Mythos <strong>der</strong> sozialen E<strong>in</strong>heit des Staatswesens (<strong>der</strong> die Grundlage so gutwie je<strong>der</strong> traditionalen wie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>nen* politischen Ordnung imNationalstaat bildet) praxologisch rekonstruiert und aktualisiert.Das Verfahren <strong>der</strong> politischen Wahl ist damit die +praktische* Lösung für das politische Paradoxdes Liberalismus: Die gefor<strong>der</strong>te E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Vielheit wird <strong>in</strong> ihr hergestellt – und das geradedurch e<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Konkurrenz um Stimmen beruhendes Wettbewerbsmodell. Der Theorie<strong>der</strong> liberalen Demokratie (siehe auch S. 44ff. sowie Abschnitt 1.4) gelten die tendenziellgegensätzlichen Partikular<strong>in</strong>teressen sozialer Teilgruppen, die sich auf <strong>der</strong> politischen Ebene<strong>in</strong> Verbänden und Parteien organisieren, nämlich nicht nur als unvermeidlich und legitim,son<strong>der</strong>n die Konkurrenz <strong>der</strong> politischen Gruppierungen/Eliten untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> wird vielmehrals sozial produktiv angesehen (d.h. sofern sich die Interessenorganisationen <strong>in</strong> das <strong>in</strong>stitutionelleSystem e<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>n und sich an dessen +Spielregeln* halten). Das Parlament, das durch dieWahlen hervorgeht, spiegelt (und bündelt) die pluralen Interessen des von ihm repräsentiertenVolkes und bildet gemäß <strong>der</strong> liberalen Theorie genau <strong>in</strong> dieser weitgehenden Kongruenze<strong>in</strong>e voll legitimierte (doch fiktive) Handlungse<strong>in</strong>heit – die durch die ungleichen Kräfteverhältnissezwischen den Regierungsparteien und <strong>der</strong> Opposition allerd<strong>in</strong>gs +real* wird.Mit diesem Zusatz ist implizit dargelegt, was e<strong>in</strong>gangs nur behauptet wurde – nämlich daßes sich bei <strong>der</strong> liberalen Demokratietheorie um e<strong>in</strong>e Ideologie zur Verdeckung von Machtungleichgewichtenhandelt. Denn alle Interessen, die nicht zur Herrschaft gelangen, werdenzwar repräsentiert, doch können sie sich (praktisch), aufgrund <strong>der</strong> bestehenden Mehrheitsregel,nicht durchsetzen. Es kann dabei durchaus angezweifelt werden, daß alle Interessen die gleiche


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 259Chance haben, zu +herrschenden Interessen* werden – und das nicht nur, weil sie e<strong>in</strong>e unterschiedlicheVerankerung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung haben, son<strong>der</strong>n weil sich aufgrund bestehen<strong>der</strong>struktureller Ungleichgewichte manche Gruppen im +Spiel* <strong>der</strong> Interessenpolitik besser durchsetzenkönnen als an<strong>der</strong>e (vgl. dazu auch Offe: Politische Herrschaft und Klassenstrukturen). 73H<strong>in</strong>zu kommt noch, daß im repräsentativen System (ohne imperatives Mandat und plebiszitäreElemente) alle<strong>in</strong>e die M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Vertreter Beschlußbefugnisse besitzt, während +die großeMasse* notwendig und erwünschter Weise (d.h. aus pragmatischen Motiven wie aus Gründene<strong>in</strong>er angenommenen politischen +Unzurechenbarkeit* <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Wahlbürger) vom konkretenpolitischen Entscheidungsprozeß ausgeschlossen ist. Deshalb verweist auch Edelman auf denprimär rituellen Charakter <strong>der</strong> politischen Wahl, bei <strong>der</strong> es nur vor<strong>der</strong>gründig darauf ankommt,wer gew<strong>in</strong>nt o<strong>der</strong> verliert. Denn Wahlen haben die latente (doch für das Funktionieren <strong>der</strong>repräsentativen Demokratie entscheidende) Aufgabe, +den Glauben an die politische Mitbestimmungdes Volkes zu vermitteln* (<strong>Politik</strong> als Ritual; S. 98) – erzeugen also das, was Luhmannals +Legitimation durch Verfahren* (1969) bezeichnet.Die bloße Aufdeckung dieser Ideologie genügt für e<strong>in</strong>e politische Analyse jedoch genausowenigwie die letztendlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Affirmation des Bestehenden endende Beschränkung auf dieFunktionsbeschreibung <strong>der</strong> Wahl als (legitimitätsstiftendes) Verfahren zur Hervorbr<strong>in</strong>gung <strong>der</strong>Regierung. Versteht man die politische Wahl <strong>in</strong> Anlehnung an Claude Lefort und MarcelGauchet dagegen als (praxologischen Deflexions-)Mechanismus zur symbolischen Reduktionvon sozialen Konflikten, so verweist dies über e<strong>in</strong>e simple Ideologiekritik h<strong>in</strong>ausgreifend aufdie Notwendigkeit zur ständigen symbolischen Erneuerung <strong>der</strong> politischen Machtgrundlage,weil sonst Legitimitätsentzug und e<strong>in</strong> Aufbrechen <strong>der</strong> auf diese Weise latent gehaltenen sozialenKonflikte droht. Die durch Wahlen etablierte und legitimierte politische Macht ist deshalbke<strong>in</strong>esfalls stabil, son<strong>der</strong>n permanent gefährdet. Dazu heißt bei Lefort und Gauchet:+Für denjenigen, <strong>der</strong> die politische Macht ausübt, geht es darum, sich <strong>in</strong> jedem Augenblick se<strong>in</strong>er Stellungzu vergewissern, sie unaufhörlich wie<strong>der</strong> herstellen zu müssen […] Als Individuum […] das die Allgeme<strong>in</strong>heitverkörpern soll, wird er unablässig genötigt se<strong>in</strong>, die Spuren auszulöschen, durch die se<strong>in</strong>e Partikularitätvon neuem sichtbar wird.* (Über die Demokratie; S. 98)Die +Macht* ist also dazu verdammt, sich immer wie<strong>der</strong> neu selbst zu schaffen und zu legitimieren.Sie nutzt dabei das praxologisch ver<strong>in</strong>nerlichte Verfahren <strong>der</strong> politischen Wahl,


260 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdas sie temporalisiert wie entpersonalisiert und damit weniger offensichtlich ersche<strong>in</strong>en läßt.Doch was passiert, wenn dieser im System <strong>der</strong> liberalen Demokratie zentrale Mechanismus<strong>der</strong> Machtlegitimation und rituellen E<strong>in</strong>heitsstiftung durch soziale Transformationsprozesseauf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Sozialstruktur und <strong>der</strong> Kultur unterm<strong>in</strong>iert wird?Es sche<strong>in</strong>t aktuell <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat angebracht, sich diese Frage zu stellen. Denn wie (<strong>in</strong> Abschnitt2.5) beschrieben, hat e<strong>in</strong>e immense Wohlstandssteigerung <strong>in</strong> den +fortgeschrittenen* Industriegesellschaftenzu e<strong>in</strong>er weitgehenden Auflösung <strong>der</strong> alten Klassen- bzw. Schichtungsverhältnissegeführt, was mit dem Begriff <strong>der</strong> +Individualisierung* soziologisch zu fassen versucht wurde.Dieser verweist auf e<strong>in</strong>e Pluralisierung und Auffächerung <strong>der</strong> kulturellen Muster wie <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellenAusdrucks- und Lebensformen. Individualisierung ist jedoch, obwohl die ästhetischeDimension <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat an Bedeutung gew<strong>in</strong>nt, ke<strong>in</strong> bloßes Oberflächenphänomen, son<strong>der</strong>nmit ihr ist auch e<strong>in</strong> tiefgreifen<strong>der</strong> Wertewandel h<strong>in</strong> zu postmateriellen Werten verbunden,was sich auf politischer Ebene <strong>in</strong> den verschiedenen Ersche<strong>in</strong>ungsformen <strong>der</strong> Subpolitik (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>eden neuen sozialen Bewegungen) manifestiert, die die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> zunehmendherausfor<strong>der</strong>n. E<strong>in</strong>igen Beobachtern ersche<strong>in</strong>t dieser Wandel, <strong>der</strong> die bestehenden Verhältnisse<strong>in</strong> Frage stellt, als sozialer Auflösungsprozeß, als Werteverfall und Orientierungsverlust etc.Diese e<strong>in</strong>seitig negative Interpretation wird von mir, wie unter Verweis auf die ArgumenteBecks dargelegt (siehe S. 191f.), nicht geteilt – wenngleich natürlich die Frage nach <strong>der</strong> sozialenOrientierung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft sicherlich berechtigt ist (vgl. dazu auchDettl<strong>in</strong>g: <strong>Politik</strong> und Lebenswelt; Kap. 4).74Ferner habe ich kritisch herausgestellt, daß dieneue +Sozialmoral des eigenen Lebens*, von <strong>der</strong> Beck spricht, genauso wie die Aufrechterhaltung<strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Lebensstile, durch ungünstige ökonomische Entwicklungen gefährdetwird. E<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zwischen ökonomischer Basis und den kulturellen Formen und Inhaltentut sich auf, <strong>der</strong> zu Frustrationen und (daraus resultierend) zu Apathie o<strong>der</strong> zu Ersche<strong>in</strong>ungenvon des<strong>in</strong>tegrativer Gewalt führen kann (siehe S. 190f. und S. 195).Diese Problematik e<strong>in</strong>er ökonomisch +entbetteten* Individualisierung (wie wir sie aktuell erleben),die verstärkt den +häßlichen Bürger* (Beck) hervortreten läßt, hat notwendig auch Auswirkungenauf die <strong>Politik</strong>. Im Wahlverhalten zeigt sie sich e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abgabe von +Proteststimmen*für +radikale* Randparteien und an<strong>der</strong>erseits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en Wahlmüdigkeit. Auf dieseWeise wird <strong>der</strong> erzeugten Frustration Luft gemacht und Enttäuschung durch e<strong>in</strong>e Abwendungvon <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ausgedrückt, was sich ganz konkret eben <strong>in</strong> s<strong>in</strong>kenden Wahlbeteiligungen


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 261und e<strong>in</strong>er Aufsplitterung <strong>der</strong> Parteienlandschaft zeigt (wo nicht, wie <strong>in</strong> den USA, das Mehrheitswahlrechtsolche zentrifugalen Tendenzen abmil<strong>der</strong>t).75Aber nicht nur die Hervorbr<strong>in</strong>gunge<strong>in</strong>er funktionsfähigen Regierung (d.h. die manifeste Funktion <strong>der</strong> politischen Wahl) wirdso erschwert. Aufgrund <strong>der</strong> mangelnden +Beteiligung* kann aus dem Wahlritual immer wenigerLegitimität abgeleitet werden, und se<strong>in</strong>e (latente) Funktion <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heitsstiftung wird geschwächt.Die Delegitimierung <strong>der</strong> politischen Institutionen schreitet damit voran und die mit ihnenverknüpften Verfahren zur E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Individuen verlieren an Wirksamkeit, währendsich an<strong>der</strong>erseits auch ke<strong>in</strong>e neuen, auf an<strong>der</strong>en Ebenen angesiedelten Mechanismen <strong>der</strong>Inklusion (wie etwa durch e<strong>in</strong>e aktive Selbstbeteiligung <strong>der</strong> Bürger) abzeichnen, da – durchdie ökonomische Entbettung <strong>der</strong> Individualisierung – nur wenige ihre Abwendung von <strong>der</strong>etablierten <strong>Politik</strong> mit subpolitischem Engagement +kompensieren* (siehe auch unten sowieS. 198f.). Die subpolitische +Entgrenzung* des Politischen, die schon an sich e<strong>in</strong>e ambivalenteErsche<strong>in</strong>ung ist (siehe Abschnitt 5.2), trifft also auf e<strong>in</strong> ökonomisches Hemmnis, was die <strong>in</strong>nereWi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Prozesses zusätzlich erhöht. 76Das ist, grob skizziert, <strong>der</strong> Problemkreis, aus dem das politische Dilemma <strong>der</strong> Individualisierungerwächst, dem sich dieser Abschnitt widmen wird. Niklas Luhmanns Überlegungen zum Zusammenhangzwischen +Inklusion und Exklusion* (1994) sollen hier nun als Ausgangspunkt füre<strong>in</strong>e etwas weiter ausholende Betrachtung genommen werden: Luhmann legt dar, daß <strong>in</strong>segmentären und stratifizierten Gesellschaften soziale Inklusion bzw. Exklusion über e<strong>in</strong>ee<strong>in</strong>fache Zugehörigkeitsbestimmung geregelt ist. Denn so wie jedes Individuum quasi automatischdurch die (meist mit Geburt erworbene) Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>em spezifischen Gesellschaftssegment,e<strong>in</strong>er Kaste, e<strong>in</strong>em Stand etc. vollständiger Teil des +sozialen Körpers* wird, so fallenall jene, die nicht auf e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige Zugehörigkeit verweisen können, aus dem sozialenZusammenhang weitgehend heraus o<strong>der</strong> werden nur am Rand geduldet (vgl. ebd.; S. 21ff.). 77An<strong>der</strong>s (differenzierter) stellt sich die Situation <strong>in</strong> <strong>der</strong> funktional differenzierten (d.h. unserer+mo<strong>der</strong>nen*) Gesellschaft dar. Die Inklusion erfolgt hier nicht vermittelt über e<strong>in</strong>e den sozialenStatus umfassend def<strong>in</strong>ierende Gruppenzugehörigkeit, son<strong>der</strong>n sie wird den nach getrenntenLogiken und Regeln operierenden autonomen Teilsystemen <strong>der</strong> Gesellschaft überlassen (vgl.ebd.; S. 25ff.). Das aber bedeutet gleichzeitig: Die Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>em sozialen Teilsystemführt nicht notwendig zur Aufnahme <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e Teilsysteme (so folgt etwa aus dem Staatsbürgerstatuske<strong>in</strong>e bestimmte Religionszugehörigkeit, und aus <strong>der</strong> Berufsposition können ke<strong>in</strong>e


262 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEpolitischen Rechte abgeleitet werden).78Was diese +gesplittete* Inklusion so problematischmacht, ist <strong>der</strong> Umstand, daß umgekehrt <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen Praxis – allerd<strong>in</strong>gs im Wi<strong>der</strong>spruchzur eigentlichen Logik funktionaler Differenzierung – <strong>der</strong> Ausschluß aus e<strong>in</strong>em Teilsystemhäufig auch zum Ausschluß aus an<strong>der</strong>en führt (ohne Bildungszertifikate ke<strong>in</strong> Arbeitsplatz;ohne Ausweis ke<strong>in</strong>e Sozialleistungen etc.).79Luhmann folgert daraus, daß die Gesellschaft,so paradox dies kl<strong>in</strong>gen mag, im Exklusionsbereich hoch <strong>in</strong>tegriert ist, während sie ihre sozialeSchließung nach <strong>in</strong>nen durch die nach Funktionsbereichen getrennte, gewissermaßen +dezentrierte*Inklusion nicht befriedigend geregelt hat (vgl. ebd.; S. 39ff.).Der Inklusionsbereich und <strong>der</strong> Exklusionsbereich kommen also nicht mehr unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> Deckungzue<strong>in</strong>an<strong>der</strong>: Das System <strong>der</strong> Ausschließung ist (kurz)geschlossen, während die von <strong>der</strong> +Lebenswelt*auf die Funktionssysteme übertragene Integrationsfunktion mit ihrer +Aufspaltung* gesamtgesellschaftlichdysfunktional zu werden droht.80Daraus könnten leicht ernste Krisen erwachsen,denn mit <strong>der</strong> Entkopplung von System- und Sozial<strong>in</strong>tegration – so hat Jürgen Habermas denWandel <strong>der</strong> Verhältnisse im Inklusionsbereich durch +funktionale Differenzierung* begrifflichgefaßt –81eröffnen sich nicht nur Räume für +Lebensstilkämpfe* (vgl. Hörn<strong>in</strong>g/Michailow:Lebensstil als Vergesellschaftungsform), son<strong>der</strong>n das soziale und politische Gleichgewicht ist<strong>in</strong>sgesamt gefährdet (vgl. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus).Das sehen auch konservative Betrachter ganz ähnlich, wenn sie, wie Daniel Bell, versuchen,+Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus* (1976) zu beschreiben – welche tatsächlichallerd<strong>in</strong>gs wohl treffen<strong>der</strong> die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche e<strong>in</strong>er post<strong>in</strong>dustriellen (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>nezu nennen wären (vgl. dazu auch Frankel: The Cultural Contradictions of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity).Doch wie auch immer: Für Bell erklären sich die von ihm ausgemachten Probleme westlicherDemokratien aus e<strong>in</strong>em Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>fallen jener drei grundlegenden Bereiche, <strong>in</strong> die sichfür ihn Gesellschaft glie<strong>der</strong>t: nämlich die techno-ökonomische Struktur, die politische Ordnungund die Kultur. Erstere ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> +mo<strong>der</strong>nen* Gesellschaft durch funktionale Rationalität (alsodas Effizienz-Pr<strong>in</strong>zip) geprägt, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Präferenz für hierarchische Strukturen äußert.Im Bereich <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> gilt dagegen (zum<strong>in</strong>dest formal) das <strong>Post</strong>ulat <strong>der</strong> Gleichheit, und Partizipation,d.h. e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> Individuen <strong>in</strong> das Geme<strong>in</strong>wesen, wird angestrebt.schließlich die Sphäre <strong>der</strong> Kultur betrifft, so hat sich das bisher dom<strong>in</strong>ante mo<strong>der</strong>nistischeErneuerungsstreben verbraucht, und es herrscht nur noch e<strong>in</strong> Kult um das maßlos überhöhteIndividuum. (Vgl. Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus; <strong>in</strong>sb. S. 19–23)82Was


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 263Es ist offensichtlich, daß die Pr<strong>in</strong>zipien, die Bell den e<strong>in</strong>zelnen Bereichen zuordnet, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emSpannungsverhältnis zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stehen. H<strong>in</strong>zu kommt noch, daß <strong>der</strong> Kapitalismus e<strong>in</strong>erseitsim Produktionsbereich e<strong>in</strong> asketisches Arbeitsethos (er)for<strong>der</strong>t, an<strong>der</strong>erseits e<strong>in</strong>en hedonistischenKonsumismus för<strong>der</strong>n muß, um s<strong>in</strong>e Waren absetzen zu können, was mit <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>enTendenz <strong>der</strong> Kultursphäre zur Ich-Bezogenheit überlappt (vgl. ebd.; Kap. 1). E<strong>in</strong> Potentialzur Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> sich damit auftuenden Wi<strong>der</strong>sprüche läge laut Bell <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Erneuerungdes Sakralen (vgl. ebd.; Kap. 4) sowie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>bes<strong>in</strong>nung auf die öffentlichen Tugenden<strong>der</strong> liberalen Tradition (vgl. ebd.; S. 315–320). Die +Selbstbezüglichkeit* <strong>der</strong> (post-)mo<strong>der</strong>nistischenKultur soll also durch +Rückbezüglichkeit* transzendiert werden.So wenig dieser konservative +Lösungsvorschlag* Bells konsensfähig se<strong>in</strong> dürfte: Auf deskriptiverund analytischer Ebene kann – trotz unterschiedlicher Formulierungen und Akzentuierungen– e<strong>in</strong>e erstaunliche Übere<strong>in</strong>stimmung zwischen Bell (+Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>fallen <strong>der</strong> Bereich*), Habermas(+Entkopplung von System<strong>in</strong>tegration und Sozial<strong>in</strong>tegration*) und Luhmann (+Differenz vonInklusion und Exklusion*) konstatiert werden. Die analog unterstellte defizitäre bzw. +gelockerte*Integration fortgeschrittener Gesellschaften wird also auf e<strong>in</strong>e, wie auch immer geartete, strukturelleEntkopplung zurückgeführt, und die im Individualisierungsprozeß freigesetzten Individuenkönnen nicht mehr +produktiv* sozial e<strong>in</strong>gebunden werden.Was auf <strong>der</strong> Ebene des Nationalstaats übere<strong>in</strong>stimmend als hoch problematisch ersche<strong>in</strong>t,kann aus <strong>der</strong> +globalisierten* Sicht <strong>der</strong> neueren +cultural theory* positiv o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest ambivalentgedeutet werden. Gerade die auch hier gesehene fortschreitende Unverbundenheitvon Ökonomie, <strong>Politik</strong> und Kultur (auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> globalen Austauschprozesse), eröffnetnämlich Handlungsspielräume für lokale Akteure, und Homogenisierungsprozesse werdendurch e<strong>in</strong>e parallele +Indigenisierung* überformt. Roland Robertson zieht deshalb, wie bereitsdargelegt, den Hybridbegriff +Glocalization* dem Globalisierungsbegriff vor (siehe S. 73), undArjun Appadurai bemerkt:+The new global cultural economy has to be un<strong>der</strong>stood as a complex, overlapp<strong>in</strong>g, disjunctive or<strong>der</strong>,which cannot any longer be un<strong>der</strong>stood <strong>in</strong> terms of exist<strong>in</strong>g center-periphery models […]* (Disjuctureand Difference <strong>in</strong> the Global Cultural Economy; S. 296)Appadurai, dessen Ansatz <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Debatte wachsende Bedeutung zukommt, schlägtentsprechend e<strong>in</strong>en neuen Analyse-Rahmen für die Betrachtung globaler (kultureller) Beziehungen


264 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEvor. Dieser Rahmen wird durch fünf Dimensionen abgesteckt: +Ethnoscapes* (also die bewegteund global vernetzte +Landschaft* <strong>der</strong> Personen), +Technoscapes* (d.h. die immer schnellersich ausbreitende technologische Struktur), +F<strong>in</strong>ancescapes* (d.h. die deterritorialisierten Flüssedes globalen Kapitals), +Mediascapes* (d.h. audio-visuelle Medien und ihre Bild-Inhalte) sowie+Ideoscapes* (d.h. die globale Landschaft <strong>der</strong> Ideen und Ideologien). Alle diese Dimensionendes globalen Feldes haben sich – obwohl sie natürlich zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> Beziehung stehen –zu e<strong>in</strong>em hohen Grad verselbständigt. (Vgl. ebd.; S. 296–303)Aber was bedeutet das für die politische Sphäre? – Auch Appadurai sieht hier Spannungenentstehen. Werte wie +Selbstverwirklichung* und +Demokratie* haben sich (obwohl sie natürlichjeweils an die lokalen Verhältnisse +angepaßt* werden) global verbreitet und treffen auf konkurrierendelokale Vorstellungswelten.83Dies manifestiert sich e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> Separatismus, politischenUnruhen und Flüchtl<strong>in</strong>gsbewegungen etc. An<strong>der</strong>erseits tun sich durch die Unverbundenheit<strong>der</strong> globalen Flüsse Lücken auf, die für progressive transnationale Allianzen genutzt werdenkönnen und die die <strong>in</strong>dividuellen Horizonte erweitern (vgl. ebd.; S. 308). Beides kulm<strong>in</strong>iert<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neuen kulturell-politischen Herausfor<strong>der</strong>ung für den Nationalstaat (vgl. auch ebd.;84S. 303ff.). Appadurai zeigt also <strong>in</strong>direkt auf, wie stattf<strong>in</strong>dende Individualisierungsprozesseund das oben herausgestellte Integrationsdefizit <strong>der</strong> funktional dividierten Nationalstaatsgesellschaftdurch e<strong>in</strong>e globalisierte funktionale Differenzierung zusätzlich verstärkt werden.entstehen so zwar neue (nationale wie transnationale) Räume für subpolitische Aktivitäten,doch für die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> zeigt sich immer mehr e<strong>in</strong> Dilemma: Die ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>driftenden,autonomisierten Funktionsbereiche wie die <strong>in</strong>dividualisierte politische +Masse* könnenimmer schwieriger im begrenzten, zu eng gewordenen staatlichen +Conta<strong>in</strong>er* (politisch) zusammengehalten,koord<strong>in</strong>iert und kontrolliert werden.Wor<strong>in</strong> besteht also, um es nach diesem theoretischen Exkurs nochmals auf den Punkt zubr<strong>in</strong>gen, <strong>der</strong> Kern des politischen Dilemmas <strong>der</strong> Individualisierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> +funktional differenziertenGesellschaft*?86– Je komplexer <strong>der</strong> soziale Zusammenhang wird, je differenziertersich Gesellschaft darstellt und je größer die <strong>in</strong>dividuellen Möglichkeitsräume (sowohl durchsoziale Differenzierung selbst wie durch e<strong>in</strong>e Erhöhung des allgeme<strong>in</strong>en +Wohlstandssockels*)werden, desto mehr hat sich <strong>Politik</strong> mit <strong>der</strong> Problematik <strong>der</strong> Differenz ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen.Es wird nämlich unter den Bed<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>genten Sozialordnung (wie ich die +multioptionale*87<strong>in</strong>dividualisierte Gesellschaft <strong>der</strong> Gegenwart umschreiben möchte) fast unmöglich,85Es


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 265die Reaktionen des politischen Publikums zu berechnen und politische E<strong>in</strong>heit durch denBezug auf geme<strong>in</strong>same +Codes* herzustellen.88Genauso wie die sozialen Bereiche ause<strong>in</strong>-an<strong>der</strong>fallen – was <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> die (translatorische) Deflexion von reflexiven Impulsen auf <strong>der</strong>e<strong>in</strong>e Seite natürlich erleichtert –, fragmentisieren und fraktalisieren sich die Bereiche <strong>in</strong>tern– was (rituell-<strong>in</strong>tegrative) Deflexion allerd<strong>in</strong>gs verkompliziert: Soziale Differenzierung unddie Diffusion <strong>der</strong> Kultursphäre machen die Lebenswelten undurchsichtig, und <strong>in</strong> dieser Undurchsichtigkeitentziehen sie sich immer mehr <strong>der</strong> Kolonialisierung durch das (politische) System,aber auch die praxologische E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung durch legitimitäts- und e<strong>in</strong>heitsstiftende politischeVerfahren wie Wahlen wird durch Fragmentisierungsprozesse erschwert (die sogar auf diesubjektiven Identitäten übergreifen). 89E<strong>in</strong>en (temporären) Ausweg aus diesem Dilemma stellt(e) das Mittel <strong>der</strong> ästhetisch-symbolischenIntegration dar. Wenn man davon ausgeht, daß <strong>der</strong> formal-ästhetische Aspekt <strong>in</strong> <strong>der</strong> (post-)mo<strong>der</strong>nenKultur e<strong>in</strong>e Aufwertung erfahren hat, dann ist es naheliegend, zum Zweck <strong>der</strong> Herstellungvon sozialer und politischer E<strong>in</strong>heit auf die Bil<strong>der</strong>welt <strong>der</strong> Medienlandschaft (Mediascapes)zu bauen, anstatt auf politische Ideenwelten (Ideoscapes) mit nachlassen<strong>der</strong> gesellschaftlicher+Durchdr<strong>in</strong>gung* zu rekurrieren.90Doch diese potentiell <strong>in</strong> Entpolitisierung endende Ästhetisierungund Kulturalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, die umgekehrt allerd<strong>in</strong>gs die Kultursphäre (und ihre Inhalte)immer mehr zu e<strong>in</strong>er politischen Kampfszene macht (vgl. auch Münch: Dialektik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft;S. 265f. u. S. 302f.), ergibt nur so lange S<strong>in</strong>n, wie e<strong>in</strong> Reservoir an geme<strong>in</strong>samenBil<strong>der</strong>welten existiert und politische Inszenierungen auf e<strong>in</strong> Massenpublikum hoffenkönnen. Die fortschreitende ästhetische Differenzierung (auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> schon obenherausgestellten Pluralisierung <strong>der</strong> Lebensstile und -welten) und die parallele Aufsplitterung<strong>der</strong> Medienlandschaft selbst versperrt immer mehr auch diese Möglichkeit für die <strong>Politik</strong> (woraufbereits im vorangegangenen Abschnitt h<strong>in</strong>gewiesen wurde).Wenn nun auch noch (durch die <strong>in</strong> Abschnitt 3.1. dargelegten Wi<strong>der</strong>sprüche des nationalenWohlfahrtsstaates) die ökonomische Basis für den ausgelösten Individualisierungsprozeß wegbricht,+postmaterialistische* Werteorientierungen aber gleichzeitig schon so weit ausgebreitets<strong>in</strong>d, daß sie nicht e<strong>in</strong>fach dadurch <strong>in</strong> sich zusammenfallen, so besteht e<strong>in</strong>e doppelte Gefahrfür die (<strong>in</strong>stitutionalisierte) <strong>Politik</strong>: E<strong>in</strong>erseits drohen durch die ausgelöste +Frustration* (wieschon oben unter Verweis auf Abschnitt 2.5 und die dort referierten empirischen Befundeangesprochen) e<strong>in</strong>e auf breiter Ebene stattf<strong>in</strong>dende apathische Abwendung vom +System*


266 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEwie (allerd<strong>in</strong>gs eher diffuse) anomische, aggressive Reaktionen. Daneben besteht aber me<strong>in</strong>esErachtens auch die Möglichkeit, daß sich die Individuen verstärkt subpolitisch mobilisieren– gerade als Gegenreaktion auf die ökonomische E<strong>in</strong>schränkung <strong>der</strong> lieb gewonnenen Individualisierungsfreiräumesowie ausgelöst durch die <strong>in</strong> Kapitel 2 dargestellten Transformationsprozesse 91und <strong>in</strong> die <strong>in</strong> den vorangegangen Abschnitten herausgearbeitete Ambivalenz <strong>der</strong> politischenDeflexionsversuche.Allerd<strong>in</strong>gs dürfte voraussichtlich nur e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit auf letztere Weise reagieren, dennbei diesen +Verstärkt-Mobilisierten* muß sich e<strong>in</strong> hohes Bewußtse<strong>in</strong> für die Problematik <strong>der</strong>eigenen Lage und die +Reflexivität* des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses mit e<strong>in</strong>er tief verankerten+neuen Sozialmoral* verb<strong>in</strong>den, so daß tatsächlich Handlungsimpulse freigesetzt werden.Beides zugleich kann aber alle<strong>in</strong>e aufgrund <strong>der</strong> Tatsache <strong>der</strong> immer noch ger<strong>in</strong>gen Verbreitungvon postmateriellen Werten nur auf sehr wenige zutreffen (siehe nochmals S. 193f.). DieLücke, die sich im <strong>in</strong>stitutionellen System auftut, kann deshalb wahrsche<strong>in</strong>lich nicht subpolitischaufgefüllt werden (das wäre nur vorstellbar, wenn die materielle Basis des Individualisierungsprozesseswie<strong>der</strong> gestärkt würde, was e<strong>in</strong>erseits zwar e<strong>in</strong>e ökonomische Re<strong>in</strong>tegration <strong>der</strong>Individuen zur Folge hätte, an<strong>der</strong>erseits aber genau mit dem dadurch beför<strong>der</strong>ten Wertewandeldie politische Herausfor<strong>der</strong>ung für die etablierte <strong>Politik</strong> möglicherweise erhöhte).92Doch mitSubpolitik und ihrer Ambivalenz werde ich mich e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> erst an späterer Stelle beschäftigen(siehe Abschnitt 5.2). Im folgenden sollen die <strong>in</strong> diesem Kapitel eher anhand theoretischerErörterungen dargelegten Dilemmata <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> durch die Analyse des vonmir gewählten Fallbeispiels +BSE* plastisch veranschaulicht werden. Deshalb hier nochmalse<strong>in</strong> kurzes Resümee:• In Abschnitt 3.1 wurde das ökonomische Dilemma des nationalen Wohlfahrtsstaates beschrieben,das sich aus Globalisierungs- und Tertiärisierungsprozessen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft ergibt(die <strong>in</strong> Abschnitt 2.1 deskriptiv dargestellt wurden). Mit <strong>der</strong> globalen Freizügigkeit und +Flüssigkeit*kann immer weniger Kapital vom Staat zur Umverteilung abgeschöpft werden, und immerweniger Menschen können durch die zunehmende +tertiäre* Rationalisierung <strong>in</strong> den Arbeitsmarkt<strong>in</strong>tegriert werden. Die <strong>Politik</strong> reagiert auf diese Bedrohung(en) mit e<strong>in</strong>er +nationalen Strategie*,welche die Probleme <strong>in</strong>sgesamt gesehen jedoch eher erhöht als m<strong>in</strong><strong>der</strong>t, da sich die Staatenim Wettstreit untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gegenseitig unterbieten und so von <strong>der</strong> Kapitalseite (global betrachtet)


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 267immer weniger Transfer an die Gesellschaft(en) geleistet werden muß. Dieses Dilemma könntevielleicht durch e<strong>in</strong>e Expansion, durch e<strong>in</strong>e Transnationalisierung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> beseitigt werden– was letztlich auch dem Interesse des Kapitals dienlich wäre, dessen entfesselte Dynamikpotentiell nicht nur ökonomische, son<strong>der</strong>n auch ökologische und soziale Krisen heraufbeschwört,vor <strong>der</strong>en Konsequenzen es nur e<strong>in</strong>e starke <strong>Politik</strong> +schützen* könnte. Doch aufgrund <strong>der</strong>bereits e<strong>in</strong>getretenen Schwächung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die globalisierten Marktprozesse undaufgrund ihrer system<strong>in</strong>tern herausgebildeten Handlungslogik, die auf nationalstaatlichenStrukturen aufbaut, werden die Möglichkeiten zu e<strong>in</strong>er transnationalen Regulation von <strong>der</strong><strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> nicht genügend ausgeschöpft (nur im Kontext <strong>der</strong> EU s<strong>in</strong>d ausgeprägtereBemühungen <strong>in</strong> diese Richtung zu beobachten).• In Abschnitt 3.2, <strong>in</strong> dem das <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Dilemma <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im Zentrum stand,wurde darauf verwiesen, daß grundsätzlich jede Regulation e<strong>in</strong> Risiko be<strong>in</strong>haltet (und mansomit auch die Risikodimension transnationaler Verregelungsprozesse im Auge behalten muß,was anhand me<strong>in</strong>er fallbezogenen Ausführungen <strong>in</strong> Abschnitt 4.2 noch deutlich werden wird).Zudem droht mit den <strong>in</strong> Abschnitt 2.2 aufgezeigten Verrechtlichungsprozessen e<strong>in</strong>e Überlastungund Erstarrung des <strong>in</strong>stitutionellen Systems (das sich gerade durch se<strong>in</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verrechtlichungslogikverbleibenden Anpassungsbemühungen Möglichkeiten zum Wandel entzieht). Dadurchausgelöst kommt es zu Entfremdungsersche<strong>in</strong>ungen, die wie<strong>der</strong>um dazu führen können, daßdas Legalitätspr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> verrechtlichten <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Legitimitätsentzug für diese endet.Der Legitimitätsentzug kann auch auf das Rechtssystem übergreifen, das umgekehrt e<strong>in</strong>erseitsimmer mehr gezwungen wird, sich politische Sichtweisen und Fragestellungen zu eigen zumachen, und an<strong>der</strong>erseits auch mit e<strong>in</strong>er lebensweltlichen +Realität* konfrontiert ist, <strong>der</strong> es+gerecht* werden muß. Die entpolitisierende deflexive Übersetzung von politischen Diskursen<strong>in</strong> rechtliche ist deshalb sowohl für die <strong>Politik</strong> wie für das Rechtssystem ambivalent.• In Abschnitt 3.3 (+Das technologisch-wissenschaftliche Dilemma*) wurde <strong>in</strong> Umkehrung<strong>der</strong> Argumentation Heideggers darauf verwiesen, daß Technik als d<strong>in</strong>ghaftes +Gestell* dieHandlungs- und Denkräume absperrt, die durch e<strong>in</strong>e ver<strong>in</strong>nerlichte <strong>in</strong>strumentelle (technologischwissenschaftliche)Vernunft ohneh<strong>in</strong> schon genügend e<strong>in</strong>geschränkt s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs führt die+Reflexivität* von Technik zu Gefährdungen, die – wenn sie wahrgenommen werden –anpassende Reaktionen bewirken. Nur haben diese Reaktionen überwiegend deflexivenCharakter, <strong>in</strong>dem sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen +Techno-Logik* verbleiben und versuchen, technik-


268 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEerzeugte Probleme wie<strong>der</strong>um technisch zu lösen. Das Dilemma e<strong>in</strong>er <strong>der</strong>artigen technologischenDeflexion besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> möglichen +Produktion* neuer Risiken. Aber auch <strong>der</strong> sich potentiellentfaltende reflexive Protest ist nicht e<strong>in</strong>deutig zu beurteilen, da er – wenn er nicht +radikal*genug ist – nur e<strong>in</strong>e reflexiv-deflexive Risikospirale <strong>in</strong> Gang setzt, d.h. Anpassungen des Systems<strong>in</strong>itiiert, die die Risikodimension (un<strong>in</strong>tendiert) erhöhen. E<strong>in</strong>e deflexive +Mil<strong>der</strong>ung* <strong>der</strong> Radikalitätvon reflexivem Protest gel<strong>in</strong>gt durch die angesprochenen, <strong>in</strong> sich ambivalenten technologischen+Lösungsversuche*, die den Protest (praxologisch) befrieden können. Und sie gel<strong>in</strong>gt (ideologisch)durch den Rückgriff auf die (Legitimations-)Ressource Wissenschaft. Allerd<strong>in</strong>gs wird dieserRückgriff auf Wissenschaft (wie bereits <strong>in</strong> Abschnitt 2.2 angedeutet wurde) für die <strong>Politik</strong>immer problematischer, denn erstens betreibt Wissenschaft e<strong>in</strong>e Selbstentzauberung durchdie wissenschaftstheoretische H<strong>in</strong>terfragung ihrer Wahrheitsansprüche, und zweitens trägt<strong>der</strong> deflexive und trivialisierende Gebrauch von Wissenschaft zu ihrer Delegitimierung bei.Auch kann e<strong>in</strong>e zu stark verwissenschaftlichte <strong>Politik</strong> die durch Verrechtlichungsprozesseausgelöste Entfremdung vom Publikum noch verstärken, womit sich das technologischwissenschaftlicheDilemma, ebenso wie die an<strong>der</strong>en dargestellten Dilemmata, als hoch komplexerweist.• In Abschnitt 3.4 wurde das Dilemma von Präsentation und Repräsentation, aufbauend aufden Erörterungen <strong>in</strong> Anschnitt 2.4, dargelegt: Symbolische <strong>Politik</strong> ermöglicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellenMassengesellschaft mit ihrer Massen(medien)öffentlichkeit dramaturgische Deflexion. Derpolitische Rückgriff auf +Symbolwelten* ist dabei e<strong>in</strong> fast zwangsläufiger Effekt <strong>der</strong> erfolgtenKomplexitätssteigerung: Inhalte können aufgrund ihrer Komplexität nicht mehr <strong>in</strong>haltlich,son<strong>der</strong>n nur noch symbolisch dargestellt werden, weshalb die <strong>Politik</strong> (die selbst kaum nochdie komplexe Welt durchschauen kann) weniger +aufklärt*, als (sich) <strong>in</strong>szeniert. Aus Volksrepräsentantenwerden so Darsteller, und <strong>der</strong> politische Gehalt reduziert sich <strong>in</strong>folge <strong>der</strong>(erzwungenen) Anpassung an die Mediensemantik – was allerd<strong>in</strong>gs zu e<strong>in</strong>em gewissen Graddurchaus vom beobachtenden Publikum wahrgenommen wird und sich wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong> Entfremdungsersche<strong>in</strong>ungenund Legitimitätsentzug äußern kann. Zudem s<strong>in</strong>d die Medienvertreter(auf die die <strong>Politik</strong> für ihre Selbstdarstellungen angewiesen ist und die umgekehrt auf die<strong>Politik</strong> als wichtigen Berichterstattungsgegenstand angewiesen s<strong>in</strong>d) selbst Akteure, die +Realität*konstruieren, die politische Agenda (mit)bestimmen und manchmal auch – <strong>in</strong>soweit sie auchAkteure des ökonomischen Systems s<strong>in</strong>d – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Interessengegensatz zur <strong>Politik</strong> geraten.


KAP. 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT 269Aber selbst wenn man von dieser Problematik e<strong>in</strong>er latent antagonistischen Symbiose absieht:Mit dem sich abzeichnenden (neuerlichen) Strukturwandel <strong>der</strong> (Medien-)Öffentlichkeit wirddramaturgische Deflexion für die <strong>Politik</strong> immer schwieriger. Denn die verstärkte Interaktivität<strong>der</strong> neuen Medien läßt den <strong>in</strong>vasiven und hierarchischen Charakter des Öffentlichkeitssystems,<strong>der</strong> den politischen Inszenierungen entgegen kam, zurücktreten. Darüber h<strong>in</strong>aus werdendie Medienangebote wie auch die Mediennutzung immer +<strong>in</strong>dividualisierter*. Die diffuseund fragmentisierte Öffentlichkeit <strong>der</strong> neuen Medienwelten ist damit für die <strong>Politik</strong> immerschwerer zu kalkulieren, und sie steht vor dem Problem, wie sich die Massen zukünftig erreichenund manipulieren lassen.• Im vorangegangenen Abschnitt 3.5 wurde schließlich das eng mit dem Dilemma von Präsentationund Repräsentation <strong>in</strong> Zusammenhang stehende politische Dilemma <strong>der</strong> Individualisierungherausgearbeitet, das (grob vere<strong>in</strong>facht) dar<strong>in</strong> besteht, daß mit kultureller und sozialstrukturellerIndividualisierung politische +E<strong>in</strong>heitsstiftung* immer schwieriger wird und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dannanomische Reaktionen zu erwarten s<strong>in</strong>d, wenn dem Individualisierungsprozeß die ökonomischeBasis wegbricht.All die hier kurz zusammengefaßten Dilemmata sollen nun (auch <strong>in</strong> ihren Bezügen untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>)anhand <strong>der</strong> Betrachtung <strong>der</strong> politischen Bearbeitung <strong>der</strong> BSE-Krise näher veranschaulichtwerden – wobei es aber zu beachten gilt, daß dieses Fallbeispiel sich natürlich nicht zurHerausarbeitung sämtlicher dilemmatischer Aspekte von <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaftgleichermaßen gut eignet.


4 DER FALL +BSE*: VON UNGLÜCKLICHEN KÜHEN UND EINERVERUNGLÜCKTEN BINNENMARKTPOLITIK


272 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE4 DER FALL +BSE*: VON UNGLÜCKLICHEN KÜHEN UND EINERVERUNGLÜCKTEN BINNENMARKTPOLITIK+Betroffen waren zunächst ansche<strong>in</strong>end nur Milchr<strong>in</strong><strong>der</strong>. Hochbe<strong>in</strong>iger, staksiger Gang fiel auf <strong>der</strong> Weideauf; manche standen untypisch – wie Pferde – vom Boden auf, an<strong>der</strong>e spielten mit den Ohren wiebeunruhigte Esel, leckten sich fast zwanghaft das Maul o<strong>der</strong> die Flanken, scheuerten den Kopf an Gegenständeno<strong>der</strong> kratzten sich mit den Klauen die H<strong>in</strong>terbe<strong>in</strong>e. Ärgerlich für die Landwirte war, daß mancheübernervösen Kühe sogar bissen o<strong>der</strong> die Melkanlagen demolierten. Und abwechselnd mit ihrer Aggressivitätwaren sie plötzlich ängstlich <strong>in</strong> altbekannten Situationen, aber auch gegenüber ihnen bekannten Menschen[…]* (Köster-Lösche: R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n; S. 11) 1Der Grund für dieses merkwürdige Verhalten (wie <strong>der</strong> Titel des oben zitierten Buches erahnenläßt): +R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n*. Doch welche Verrücktheit, welcher Wahn könnte es se<strong>in</strong>, <strong>der</strong> diee<strong>in</strong>st angeblich so glücklichen Kühe befallen hat? Es muß sich hier jedenfalls um e<strong>in</strong>e seltsame(Ab-)Art des Wahns<strong>in</strong>ns handeln. Denn <strong>der</strong> Wahns<strong>in</strong>n ist, um mit Foucault zu sprechen, dasAn<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Vernunft: Wo dieses An<strong>der</strong>e, dem e<strong>in</strong>mal – <strong>in</strong> +dunkler* Vergangenheit – gardie Fähigkeit zugesprochen worden war, verborgene Wahrheiten kund zu tun, hervorbrach,wurde es, als die Vernunft noch nicht so fest wie heute im Sattel saß, e<strong>in</strong>gesperrt, von denBildfläche verbannt, da diese den Anblick ihres eigenen Scheiterns, ihres Versagens nichtertragen konnte. Später, als man sich <strong>der</strong> eigenen Vernünftigkeit vergewissert hatte, ließ sich<strong>der</strong> Versuch wagen, mit den Mitteln <strong>der</strong> Vernunft an die +Heilung* des Wahns<strong>in</strong>ns – zum<strong>in</strong>destse<strong>in</strong>er +milden* Formen – zu gehen. Die Psychoanalyse ist das beste Beispiel für dieses Bestreben.Erst wenn dem Patienten <strong>der</strong> (Un-)S<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>es (wahns<strong>in</strong>nigen) Denkens und Tuns bewußtwird, ergibt sich die Möglichkeit zur erfolgreichen Therapie. Nur wer vernünftig ist, kannwahns<strong>in</strong>nig werden, und nur wer e<strong>in</strong>en Rest von Vernunft bewahrt hat, kann vom Wahngeheilt werden. (Vgl. z.B. Wahns<strong>in</strong>n und Gesellschaft sowie Die Ordnung des Diskurses; S.8ff. und siehe auch hier S. XXXVI)Da aber e<strong>in</strong>e Kuh (zum<strong>in</strong>dest <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Auffassung nach) nicht vernünftig ist, so kannsie wohl kaum wahns<strong>in</strong>nig werden. Und e<strong>in</strong>e Heilung ist deshalb beim R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n, <strong>der</strong>


KAP. 4: DER FALL +BSE* 273nach dem Auftreten <strong>der</strong> ersten Symptome meist schon nach zwei bis drei Monaten zum2Verenden <strong>der</strong> Tiere führt, folglich ebensowenig zu erwarten. Doch das +Heil* <strong>der</strong> Kühe liegtohneh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zig <strong>in</strong> ihrem Dienst an <strong>der</strong> Menschheit. Zuletzt +opfern* sie sich dann auf <strong>der</strong>Schlachtbank. Der aktuelle Wahn <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong> besteht dar<strong>in</strong>, sich ihrer (vernünftigen) Verwertungdurch Krankheit zu entziehen (da ihr Fleisch durch den im +Volksmund* und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Presseso bezeichneten +R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n* unbrauchbar ersche<strong>in</strong>t). Und für diesen Wahn bezahlensie mit ihrem nunmehr völlig +nutzlosen* Tod, ihrer prophylaktischen +Notschlachtung*. Dasist <strong>der</strong> Wahns<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Gesellschaft, die sich von <strong>der</strong> Vernunft durch ihre Vernünftigkeitverabschiedet hat.Der R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n o<strong>der</strong> die +Mad Cow Disease* (denn es ist e<strong>in</strong>e Krankheit, die bishere<strong>in</strong>e merkwürdige +Vorliebe* für britisches R<strong>in</strong>d zeigte) hat auch e<strong>in</strong>en wissenschaftlichenNamen: +BSE* o<strong>der</strong> +Bov<strong>in</strong>e Spongiforme Enzephalopathie* – e<strong>in</strong>e +schwammartige* Degenerationdes Hirns beim R<strong>in</strong>d. BSE ist aber ebenso die Geschichte und das Kürzel für e<strong>in</strong>Scheitern <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>: British (Policy) Self Execution. Beide +Geschichten* (die wissenschaftlicheund die politische) sollen im folgenden erzählt werden. Die wissenschaftliche Geschichtebildet dabei den theoretischen H<strong>in</strong>tergrund, <strong>der</strong> <strong>in</strong> diesem Fall aber ganz em<strong>in</strong>ente praktischeRelevanz hat (wie noch deutlich werden wird). Die zweite, die politische, ist e<strong>in</strong> stellvertretendesBeispiel für die im vorangegangenen Kapitel herausgearbeiteten Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> +klassischen*<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> +globalen Risikogesellschaft* (Beck), die mittels des hier ausgebreiteten Fallbeispielsveranschaulicht und konkret gemacht werden sollen. Doch zunächst zur (kurzen) Geschichte<strong>der</strong> Ereignisse: 3Der erste Fall e<strong>in</strong>er seltsamen, bisher unbekannten R<strong>in</strong><strong>der</strong>-Krankheit, die <strong>in</strong> ihrer Symptomatikund im Verlauf <strong>der</strong> Schaf-Seuche Scrapie glich (auch das e<strong>in</strong>e spongiforme Enzephalopathie,welche <strong>in</strong> Großbritannien seit Anfang des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts bekannt ist) wurde dem britischen4Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isterium (MAFF) vermutlich bereits im Jahr 1983 gemeldet. Das M<strong>in</strong>isteriumreagierte jedoch auf diese (und eventuelle weitere) Anzeigen alle<strong>in</strong>e mit (Ver-)Schweigen.Als bei e<strong>in</strong>em Farmer aus Kent (Südengland) im Jahr 1986 gleich mehrere Tiere an <strong>der</strong>mysteriösen Krankheit starben und e<strong>in</strong>e tierärztliche Obduktion vorgenommen wurde, ließsich die Sache jedoch nur noch schwerlich geheim halten. Schnell wurden immer mehr ähnlichgelagerte Fälle bekannt. Ende 1987 veröffentlichten dann schließlich Mitarbeiter des MAFF


274 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE40000350003668234370300002803225000239442000015000141811430010000713780165000017 48621841986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996Abbildung 8: Offiziell gemeldete BSE-Fälle <strong>in</strong> Großbritannien bis Ende 1996 (Quelle: MAFF)e<strong>in</strong> (eher kurzgefaßtes) Papier, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e neue Form spongiformer Enzephalopathie beimR<strong>in</strong>d beschrieben wurde: BSE (vgl. Wells et al.: A Novel Progressive Spongiform Encephalopathy<strong>in</strong> Cattle). 5Der Leiter <strong>der</strong> vom M<strong>in</strong>isterium im folgenden geschaffenen BSE-Arbeitsgruppe, RichardSouthwood, beeilte sich – noch bevor irgendwelche näheren Erkenntnisse vorlagen – gegenüber<strong>der</strong> Öffentlichkeit zu verkünden, daß BSE (wie Scrapie) für Menschen ungefährlich sei, solangediese ke<strong>in</strong> Fleisch von bereits erkrankten Tieren äßen (welches selbstverständlich aus demVerkehr gezogen würde). Zugleich mit dieser Beschwichtigungsstrategie leitete man ersteGegenmaßnahmen e<strong>in</strong>: Da man vermutete, daß Scrapie durch Tiermehl auf die R<strong>in</strong><strong>der</strong> über-6tragen worden war, das man v.a. zur Erhöhung <strong>der</strong> Milchleistung unter das Kraftfutter mischte,wurde im Juli 1988 jede weitere Verfütterung von Tiermehl an die (ohneh<strong>in</strong> ja eigentlich7+vegetarisch* lebenden) R<strong>in</strong><strong>der</strong> untersagt. Zudem führte man e<strong>in</strong>e Meldepflicht für BSE e<strong>in</strong>.Erkrankte Tiere wurden geschlachtet und ihre Körper +vernichtet*. 1989 verbot man schließlichgenerell die Verwertung von R<strong>in</strong><strong>der</strong>-Hirn, -Rückenmark, -Tonsillen, -Thymus, -Milz sowie8des Darmtrakts (die man als beson<strong>der</strong>s +<strong>in</strong>fektiös* erachtete), und e<strong>in</strong>e m<strong>in</strong>isterienübergreifendewissenschaftliche Beratungs- und Untersuchungskommission für BSE wurde geschaffen: das+Spongiform Encephalopathy Advisory Committee* (SEAC).


KAP. 4: DER FALL +BSE* 275Die erwähnten Verkaufse<strong>in</strong>schränkungen galten aber nur für das Inland und nicht für denExport. Die Bundesrepublik reagierte deshalb im Mai 1989 mit e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>fuhrsperre für Tiermehl9aus Großbritannien. Im Juli 1989 (also genau e<strong>in</strong> Jahr nach den ersten Schritten <strong>der</strong> britischenRegierung) beschloß dann die Europäische Kommission e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fuhrstopp für R<strong>in</strong><strong>der</strong> ausGroßbritannen, die bis dah<strong>in</strong> älter als e<strong>in</strong> Jahr waren (was offensichtlich die sofortige Wirksamkeit<strong>der</strong> Anti-BSE-Maßnahmen unterstellte). Im Februar 1990 wurde dieses Import-Verbot verschärft.Man gestattete nunmehr lediglich die E<strong>in</strong>fuhr von Kälbern unter sechs Monaten aus +BSE-freien* 10Beständen (wenngleich nicht ganz klar ersche<strong>in</strong>t, welche Bedrohung lebende Tiere selbstfür den fleischverzehrenden EG-Bürger darstellten).EG-weite Meldepflicht für BSE e<strong>in</strong>geführt.1211Im folgenden Monat wurde auch e<strong>in</strong>eWas schließlich den zentralen Punkt des Handelsmit Fleisch betrifft, so durfte ab Juni 1990 +nur noch* Ware aus seit m<strong>in</strong>destens zwei JahrenBSE-freien Betrieben une<strong>in</strong>geschränkt <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e EG-Staaten exportiert werden. 13Diese (sehr begrenzte) Export- bzw. Importsperre für britisches R<strong>in</strong>dfleisch korreliert zeitlichmit <strong>der</strong> ersten Welle größerer, auch <strong>in</strong>ternationaler Medienaufmerksamkeit: Aufgrund vonTierversuchen (siehe unten) machten sich Spekulationen breit, daß BSE doch durch Fleischverzehrauf den Menschen übertragen werden könne. Die offiziellen Stellen betonten aber nach wievor, daß diese Angst unbegründet sei. Im Dezember 1994 lockerte die Europäische Kommissionsogar (entgegen vor allem deutschem Wi<strong>der</strong>stand) die E<strong>in</strong>fuhrbeschränkungen für R<strong>in</strong>dfleischaus Großbritannien, und zwar mit dem H<strong>in</strong>weis darauf, daß schließlich bereits seit 1988 dortke<strong>in</strong>e Tiermehle mehr verfüttert würden. Zu diesem Zeitpunkt waren die BSE-Fallzahlen <strong>in</strong><strong>der</strong> Tat schon im Abs<strong>in</strong>ken begriffen (siehe Abb. 8), und wenn man e<strong>in</strong>e Aufschlüsselungnach Geburtskohorten vornimmt, zeigt sich, daß beim Geburtsjahrgang 1988/89 (also dennach dem Fütterungsverbot geborenen Tieren) e<strong>in</strong> starker Rückgang gegenüber dem Peakbeim Jahrgang davor zu verzeichnen war (siehe Abb. 9). 14Doch 1994/95 erfolgte e<strong>in</strong>e neue breite Berichterstattungswelle <strong>in</strong> den Medien, nachdeme<strong>in</strong> gehäuftes Auftreten <strong>der</strong> Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK) – wie Kuru o<strong>der</strong> die letale familiäreInsomnie (LFI) e<strong>in</strong>e Form <strong>der</strong> spongiformen Enzephalopathie beim Menschen (siehe Tab.15 1612) – unter britischen Farmern immer wahrsche<strong>in</strong>licher schien. Auch fand man heraus,daß e<strong>in</strong>e Reihe <strong>der</strong> CJK-Fälle aus <strong>der</strong> jüngeren Vergangenheit sich nicht mit dem klassischenBild deckte, son<strong>der</strong>n im Hirnbefund eher BSE glich (vgl. Will et al.: A New Variant of Creutzfeldt-Jakob Disease <strong>in</strong> the United K<strong>in</strong>gdom).17Dies veranlaßte (auf Anraten des SEAC) am 20. März


276 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE40000350003647130000250002239120000150001228012712100005000081995218559319681 0 0 4 11 14 61 127 3846952173/74 74/75 75/76 76/77 77/78 78/79 79/80 80/81 81/82 82/83 83/84 84/85 85/86 86/87 87/88 88/89 89/90 90/91 91/92Abbildung 9: BSE-Fälle <strong>in</strong> Großbritannien bis Ende 1994, aufgeschlüsselt nach Geburtskohorten(Quelle: Wilesmith: Recent Observations on the Epidemiology of Bov<strong>in</strong>e SpongiformEncephalopathy; Tab. 4.1, S. 46)1996 die britische Regierung – namentlich Gesundheitsm<strong>in</strong>ister Dorrell und Landwirtsschaftsm<strong>in</strong>isterHogg – entgegen den bisherigen Beteuerungen zu verlautbaren, daß man nicht ausschließenkönne, daß BSE auf den Menschen übertragbar sei. Daraufh<strong>in</strong> wurde von <strong>der</strong> EU endliche<strong>in</strong> totales Importverbot für britische R<strong>in</strong><strong>der</strong> und britisches R<strong>in</strong>dfleisch sowie r<strong>in</strong><strong>der</strong>gewebshaltigeProdukte (wie z.B. bestimmte Arzneimittel und Kosmetika) erlassen. Und natürlich löste dasbritische +E<strong>in</strong>geständnis* auch e<strong>in</strong>e neue Welle <strong>der</strong> +Medienhysterie* aus.Soweit vorerst zur Abfolge <strong>der</strong> Ereignisse. Es sche<strong>in</strong>t aber schon jetzt offensichtlich, daß dieentfaltete öffentliche Dynamik von e<strong>in</strong>er theoretischen Annahme wesentlich angefacht wurde:daß es sich bei BSE um e<strong>in</strong>e (auf den Menschen) übertragbare <strong>in</strong>fektiöse Krankheit handelt.Diese Annahme ist nicht unbegründet. Im Fall von Scrapie ist die Möglichkeit e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen+horizontalen*18Übertragung sogar schon seit den 30er und 40er Jahren gut dokumentiert.So hatte beispielsweise 1935 die Impfung von Schafen mit e<strong>in</strong>em Scrapie-verseuchten Vakz<strong>in</strong>gegen e<strong>in</strong>e Viruserkrankung zur Infektion e<strong>in</strong>er Vielzahl von Tieren geführt, und auch experimentellgelang die Übertragung von Scrapie durch subkutane Injektion (vgl. Gordon: Advances<strong>in</strong> Veter<strong>in</strong>ary Research). In den 60er Jahren zeigten schließlich Versuche, daß Schimpansen


KAP. 4: DER FALL +BSE* 277Kuru-ähnliche Symptome entwickeln, wenn man ihnen Hirn-Material von erkrankten Personendirekt <strong>in</strong>trazerebral verabreicht (vgl. Gajdusek et al.: Experimental Transmission of a Kuru-LikeSyndrome to Chimpanzees). Seitdem haben e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Studien erbracht, daß praktischalle bisher bekannten spongiformen Enzephalopathien – selbst jene, die angeblich genetischenUrsprungs s<strong>in</strong>d, wie z.B. das GSS-Syndrom (siehe nochmals Tab. 12) – sich nicht nur <strong>in</strong>nerhalbe<strong>in</strong>er Spezies, son<strong>der</strong>n (allerd<strong>in</strong>gs nur begrenzt und manchmal unter Schwierigkeiten) auchvon e<strong>in</strong>er Spezies auf die an<strong>der</strong>e übertragen lassen.19Von den Medien aufgeregt zitierte Unter-suchungen, die e<strong>in</strong>e Übertragbarkeit von BSE auf Mäuse zeigten (vgl. Fraser et al.: Transmissionof Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy to Mice), mußten deshalb kaum verwun<strong>der</strong>n.20Es gibtbis jetzt allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>en +Beweis* dafür, daß BSE auch für den Menschen gefährlich ist –wenngleich e<strong>in</strong> gewisses Risiko selbst nach (strengen) +wissenschaftlichen Maßstäben* durchausplausibel ersche<strong>in</strong>t (vgl. z.B. Johnson: Real and Theoretical Threats to Human Health Posedby the Epidemic of Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy).Daß spongiforme Enzephalopathien grundsätzlich <strong>in</strong>fektiös s<strong>in</strong>d und damit e<strong>in</strong>e zum<strong>in</strong>destpotentielle Gefährdung des Menschen durch BSE gegeben ist, sche<strong>in</strong>t also nach allen bishervorliegenden Erkenntnissen durchaus wahrsche<strong>in</strong>lich zu se<strong>in</strong>.21Doch was könnte <strong>der</strong> Erregerdieser Infektion bzw. <strong>der</strong> eigentliche Auslöser <strong>der</strong> Erkrankung se<strong>in</strong>? Dies ist e<strong>in</strong>e zentraleFrage vor allem, wenn es um die E<strong>in</strong>schätzung des +tatsächlichen* Gefährdungspotentialsund um die Beurteilung <strong>der</strong> Wirksamkeit <strong>der</strong> getroffenen Gegenmaßnahmen geht (von e<strong>in</strong>erTherapie e<strong>in</strong>mal ganz abgesehen). Da wir uns aber gegenwärtig noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Phase +<strong>in</strong>terpretativerFlexibilität* bef<strong>in</strong>den (siehe zu diesem Begriff S. 129), gibt es <strong>der</strong>zeit, auch wennsich e<strong>in</strong>e Schließung <strong>der</strong> Debatte abzuzeichnen sche<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong>e Reihe konkurrieren<strong>der</strong> Theorien:die (konservative) Virus-Theorie, die (+herausfor<strong>der</strong>nde*, aber im wissenschaftlichen Diskursimmer mächtiger gewordene) Prionentheorie und die (Außenseiter-)Theorie e<strong>in</strong>er Organophosphat-Vergiftungals Auslöser für die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Prionentheorie postulierte pathogene Konformationdes Prion-Prote<strong>in</strong>s.• Die konservative Theorie: E<strong>in</strong> Virus als Erreger. Lange Zeit g<strong>in</strong>g man davon aus, daßes sich bei den (übertragbaren) spongiformen Enzephalopathien um Viruserkrankungen handelnmüsse. Schon <strong>in</strong> den 30er Jahren konnten nämlich Versuche mit Mikrofiltern zeigen, daßes sich bei Scrapie, das am besten untersucht ist, nicht um e<strong>in</strong>e bakterielle Infektion handeln


278 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEkann (was nach dem damaligen Theorie- und Wissensstand die zweite Möglichkeit gebildethätte).22Und wie bei vielen Viren ließ sich die Infektiosität von aufbereitetem Gewebematerialdurch Hitzebehandlung und +denaturierende Agenzien*23herabsetzen bzw. (je nach Temperaturund e<strong>in</strong>gesetzter Substanz) völlig beseitigen. Ganz beson<strong>der</strong>s spricht aber für die Virus-Hypothese,daß es gelungen ist, verschiedene +Erreger-Stämme* über spezifische Unterschiede bezüglich<strong>der</strong> Inkubationszeit <strong>der</strong> Krankheit, dem Symptombild und dem Hirn-Befund zu identifizieren,die sogar gelegentlich +Mutationen* aufwiesen, d.h. es traten unvermittelte Än<strong>der</strong>ungen dieserParameter auf – und dies auch, wenn +cloniertes*24(d.h. mit Sicherheit unvermischtes) Materialverwendet wurde. (Vgl. Rohwer: The Scrapie Agent – A Virus by Any Other Name sowie Bruce/-Fraser: Scrapie Stra<strong>in</strong> Variation and Its Implications)Es gibt aber e<strong>in</strong> großes Problem <strong>der</strong> Virustheorie: Es ließ sich – auch mit mo<strong>der</strong>nsten Verfahren– bisher ke<strong>in</strong> <strong>in</strong> Frage kommendes Virus o<strong>der</strong> Viroid (so die Bezeichnung für sehr kle<strong>in</strong>e Viren)auff<strong>in</strong>den. Das veranlaßte e<strong>in</strong>ige Forscher <strong>in</strong> Erwägung zu ziehen, daß man es vielleicht mite<strong>in</strong>er unkonventionellen neuen, noch kle<strong>in</strong>eren (und deshalb extrem schwer zu identifizierenden)Form von Viren (sog. Vir<strong>in</strong>os) zu tun haben könnte, die noch nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e eigene Hüllebesitzen (vgl. Dick<strong>in</strong>son/Outram: Genetic Aspects of Unconventional Virus Infections – TheBasis of the Vir<strong>in</strong>o Hypothesis). Der Arbeitsgruppe um He<strong>in</strong>o Dir<strong>in</strong>ger vom Robert-Koch-Institut(Berl<strong>in</strong>) ist es mittlerweile gelungen, tatsächlich solche Virus-ähnlichen Partikel <strong>in</strong> befallenemGewebe elektronenmikroskopisch aufzuspüren, die <strong>in</strong> +gesunden* Proben nicht gefundenwurden (vgl. Dir<strong>in</strong>ger/Özel: Übertragbare spongiforme Enzephalopathien), und auch <strong>der</strong> britischeWissenschaftler Harash Narang me<strong>in</strong>t diesbezüglich fündig geworden zu se<strong>in</strong> (vgl. Evidencethat Homologous ssDNA Is Present <strong>in</strong> Scrapie, CJD, and BSE).25E<strong>in</strong> letztendlicher +Beweis*für die Virus- bzw. die Vir<strong>in</strong>o-Hypothese (sofern man gewillt ist, naturwissenschaftlich-technischeMaßstäbe anzulegen) s<strong>in</strong>d diese Ergebnisse aber ke<strong>in</strong>eswegs – auch wenn damit, sowie aufgrunde<strong>in</strong>iger an<strong>der</strong>er neuerer Untersuchungen (siehe S. 280), e<strong>in</strong> konservatives +roll-back* nichtmehr ausgeschlossen sche<strong>in</strong>t.• Die (gelungene?) Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Orthodoxie: Prus<strong>in</strong>er und die Prionentheorie.Es ist e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Paradigmen <strong>in</strong> Biologie und Mediz<strong>in</strong>, daß nur über genetische Information(also DNS o<strong>der</strong> RNS) verfügende Krankheitserreger sich selbst reproduzieren und damit <strong>in</strong>fektiöseKrankheiten auslösen können. Die im wissenschaftlichen Diskurs nach anfänglicher großer


KAP. 4: DER FALL +BSE* 279Tabelle 12: Humane spongiforme Enzephalopathien <strong>in</strong> <strong>der</strong> ÜbersichtKuruCreutzfeldt-Jakob-Krankheit(CJK)Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker-Syndrom(GSS)Letale familiäreInsomnie (LFI)Vermutete Quelle(n):Infektion durchrituellen KannibalismusSpontanes Entstehen,ererbteMutation im PrP-Gen, Infektiondurch ärztlicheBehandlungErerbte Mutationim PrP-GenErerbte Mutationim PrP-GenTypische Symptome:Verlust <strong>der</strong> Bewegungskoord<strong>in</strong>ation,DemenzVerlust <strong>der</strong> Bewegungskoord<strong>in</strong>ation,DemenzVerlust <strong>der</strong> Bewegungskoord<strong>in</strong>ation,DemenzSchlaflosigkeit,Verlust <strong>der</strong> Bewegungskoord<strong>in</strong>ation,DemenzVerbreitung undHäufigkeit:Nur im Hochlandvon Papua-Neugu<strong>in</strong>ea;etwa2600 bekannteFälleWeltweit; ca. 1Fall auf 1 Mio.E<strong>in</strong>wohner (davonca. 10 bis 15 Prozenterblich bed<strong>in</strong>gt;nur ca. 100bekannte Fälledurch Infektion)Weltweit ca. 50betroffene VerwandtschaftskreisebekanntWeltweit nur 9betroffene VerwandtschaftskreisebekanntIn Anlehnung an Prus<strong>in</strong>er: Prionen-Erkrankungen; S. 46Skepsis heute dom<strong>in</strong>ierende Prionen-Theorie von Stanley Prus<strong>in</strong>er – die allerd<strong>in</strong>gs (von Prus<strong>in</strong>erzumeist unterschlagen) <strong>in</strong> ihren wesentlichen Grundgedanken auf Überlegungen von J. S.Griffith zurückgreift (vgl. Self-Replication and Scrapie) – bricht mit diesem Paradigma.26Starkvere<strong>in</strong>facht dargestellt beruht diese Theorie zur Erklärung <strong>der</strong> Pathogenese spongiformer Enzephalopathiendarauf, daß bestimmte Eiweißmoleküle, von Prus<strong>in</strong>er Prionen genannt, trotzidentischer Primärstruktur (Am<strong>in</strong>osäuresequenz) verschiedene Konformationen (Anordnungen)annehmen können. In ihrer zellulären (d.h. +natürlichen*) Form s<strong>in</strong>d diese unschädlich für27 28den Organismus. In ihrer pathogenen Form bewirken sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Art Kettenreaktion dieUmwandlung von zellulärem Prionen-Eiweiß (PrP) <strong>in</strong> e<strong>in</strong> pathogenes Prote<strong>in</strong> (PrP ),sich an bestimmten Rezeptoren <strong>der</strong> Nervenzellen <strong>in</strong> Form <strong>der</strong> schon <strong>in</strong> Anmerkung 17 angesprochenenPlaques bzw. Amyloide ansammelt und zur Erkrankung führt (vgl. zur Übersicht Prus<strong>in</strong>er:Prionen-Erkrankungen sowie Horwich/Weissman: Deadly Conformations). 30Zur Hypothese, daß etwas an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong> Virus die Ursache für Scrapie (und damit wahrsche<strong>in</strong>lichauch den an<strong>der</strong>en übertragbaren spongiformen Enzephalopathien) se<strong>in</strong> mußte,gelangte man schon <strong>in</strong> den 60er Jahren durch Experimente mit UV-Bestrahlung. Viren, dieSc 29das


280 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEUV-anfällige Nukle<strong>in</strong>säuren enthalten, können normalerweise durch UV-Licht <strong>in</strong>aktiviert werden.Das untersuchte <strong>in</strong>fizierte Gewebematerial blieb aber auch nach <strong>der</strong> UV-Bestrahlung weiterh<strong>in</strong><strong>in</strong>fektiös (vgl. Alper et al.: Does the Agent of Scrapie Replicate Without Nucleic Acid?). Aufgrunddieser und an<strong>der</strong>er Befunde wurde Prus<strong>in</strong>er veranlaßt, <strong>in</strong> Erwägung zu ziehen, daß Prote<strong>in</strong>e<strong>der</strong> Auslöser für spongiforme Enzephalopathien se<strong>in</strong> könnten.31Um diese Hypothese experi-mentell zu bestätigen, versuchte er, mittels <strong>der</strong> systematischen Testung <strong>der</strong> Infektiosität vonHirnfraktionen erkrankter Tiere, e<strong>in</strong>e +gere<strong>in</strong>igte* Probe zu gew<strong>in</strong>nen, was ihm schließlichauch gelang. Diese hoch<strong>in</strong>fektiöse Probe bestand aus Eiweißmolekülen e<strong>in</strong>er bestimmtenLänge und enthielt ke<strong>in</strong>e (nachweisbaren) Nukle<strong>in</strong>säuren. Nach e<strong>in</strong>er weiteren Aufbereitungkonnte dann die genaue Struktur dieses nach <strong>der</strong> Theorie von Prus<strong>in</strong>er krankmachenden(Prion-)Eiweißes ermittelt und schließlich auch das Gen charakterisiert werden, das für diesesProte<strong>in</strong> codiert. 32Damit war e<strong>in</strong> wichtiger Schritt getan. Allerd<strong>in</strong>gs gelang die gentechnische Herstellung vonScpathogenem (Scrapie-)Prion-Prote<strong>in</strong> (PrP ) nicht. Bisher konnte auf diesem Weg nur die zelluläreVariante erzeugt werden. Bei allen (auch den von Prus<strong>in</strong>er angestellten) Übertragungsexperimentenkam deshalb alle<strong>in</strong>e aus kranken Tieren und Menschen gewonnenes Prion-Prote<strong>in</strong>zum E<strong>in</strong>satz – d.h. es ist nicht auszuschließen, daß <strong>in</strong> diesem Material Viren +versteckt* waren.E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es, schwerwiegen<strong>der</strong>es Problem <strong>der</strong> Prionen-Theorie stellt die oben angesprocheneIdentifizierung verschiedener Erreger-Stämme und ihre Mutation dar. Prus<strong>in</strong>er ist gezwungenzu lavieren, wenn er diese Befunde im Rahmen se<strong>in</strong>er Theorie erklären will. Er postuliertdazu mehrere mögliche pathogene Konformationen des Prion-Prote<strong>in</strong>s. Dies ersche<strong>in</strong>t zwarpr<strong>in</strong>zipiell möglich. Das ebenfalls beschriebene Phänomen <strong>der</strong> (spontanen) Mutation kannso aber nicht plausibel gemacht werden. Die bekannten erblichen Formen spongiformer Enzephalopathiebeim Menschen (GSS und LFI), die von <strong>der</strong> Virus-Theorie wie<strong>der</strong>um nur bed<strong>in</strong>gtabgedeckt werden können, erklärt Prus<strong>in</strong>er dagegen relativ elegant mit e<strong>in</strong>em vererbten Defektim PrP-Gen, für den es tatsächlich nach angestellten Genanalysen Indizien gibt.Indizien gibt es nach neueren Untersuchungen aus dem Umkreis von Prus<strong>in</strong>er allerd<strong>in</strong>gs auchdafür, daß noch e<strong>in</strong> weiterer, bisher unbekannter Faktor bei <strong>der</strong> Pathogenese spongiformerEnzephalopathien beteiligt ist.33Ob dieser om<strong>in</strong>öse +Faktor X* – entgegen den Vermutungen<strong>der</strong> Prionen-Theorie-Anhänger – wohl e<strong>in</strong> Virus-Produkt se<strong>in</strong> könnte, das die Umwandlungdes Prion-Prote<strong>in</strong>s (mit) auslöst? Und wie lassen sich aktuelle Experimente erklären, bei denen


KAP. 4: DER FALL +BSE* 281es gelang, BSE auf Mäuse zu übertragen, ohne daß +pathogenes* Prion-Prote<strong>in</strong> zum E<strong>in</strong>satzkam (vgl. Lasmézas et al.: Transmission of the BSE Agent to Mice <strong>in</strong> the Absence of AbnormalPrion Prote<strong>in</strong>)? Ähnliche Rätsel geben auch Forschungen aus den USA auf, die eher für e<strong>in</strong>elatente Virus-Infektion als für die Prionen-These sprechen (vgl. Manuelidis/Manuelidis: A TransmissibleCreutzfeldt-Jakob Disease-Like Agent Is Prevalent <strong>in</strong> the Human Population).Die (attraktive) Außenseiter-Theorie e<strong>in</strong>es Betroffenen: Die Fliege, das Gift und die Kühe.Zuweilen geschieht es, daß (notgedrungen) aus Betroffenen (wissenschaftliche) Experten werden.Aber selbst wenn diese Betroffenen ihren Expertenstatus durch die Aneignung des wissenschaftlichenCodes plausibilisieren und sich <strong>in</strong> ihrer Argumentation an wissenschaftliche Standardsanpassen, so haben sie meist e<strong>in</strong>en schweren Stand. Sie verfügen, da ihnen die Zertifikateund Insignien des Expertentums (akademische Grade, Auszeichnungen, Preise etc.) fehlen,über ke<strong>in</strong>e Reputation (die im Wissenschaftsbetrieb enorm wichtig, wenn nicht hauptsächlichausschlaggebend ist, um Gehör zu f<strong>in</strong>den). Schließlich will man se<strong>in</strong>e durch langjähriges Studiumund <strong>in</strong>terne Machtkämpfe gewonnene Position nicht so e<strong>in</strong>fach aufgeben und den eigenenExpertenstatuts durch die Anerkennung von +Betriebsfremden* entwerten. Darüber h<strong>in</strong>ausmangelt es den Betroffenen-Experten zumeist an den notwendigen materiellen Ressourcenfür ihre Forschung. Sie s<strong>in</strong>d und bleiben so ausgeschlossen aus <strong>der</strong> exklusiven +scientificcommunity*.Trotzdem gibt es im Fall von BSE e<strong>in</strong>e auch nach +wissenschaftlichen* Maßstäben durchausnicht abwegige +Außenseiter-Theorie*, die sogar e<strong>in</strong> relativ großes Medien-Echo gefundenhat und so selbst das MAFF zw<strong>in</strong>gt, sich mit ihr ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen:34Der Bio-Farmer MarkPurdey vertritt die These, daß <strong>der</strong> Ausbruch von BSE auf den E<strong>in</strong>satz von Pestiziden auf Organophosphat-Basiszurückzuführen ist (vgl. Are Organophosphate Pesticides Involved <strong>in</strong> the Causationof Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy?).35Solche Pestizide wurden <strong>in</strong> Großbritannien e<strong>in</strong>gesetzt,um die +warble fly* zu bekämpfen – e<strong>in</strong> Parasit, <strong>der</strong> vorwiegend R<strong>in</strong><strong>der</strong> und Schafe befällt(vgl. auch <strong>der</strong>s.: Mad Cows and Warble Flies).36Zu dieser <strong>in</strong>teressanten Vermutung gelangtePurdey aufgrund des Umstands, daß die regional stark differierende Verbreitung von BSEmit den geographischen Schwerpunkten des Parasitenbefalls und deshalb auch mit <strong>der</strong> fürbestimmte Gegenden unterschiedlichen Intensität <strong>der</strong> staatlicherseits vorgeschriebenen Schädl<strong>in</strong>gsbekämpfungkorreliert (die meisten BSE-Fälle traten im Südwesten auf, wo auch am


282 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEhäufigsten Organophosphat-Pestizide zum E<strong>in</strong>satz kamen).37Das aktuelle Abnehmen <strong>der</strong>Fallzahlen kann nach Purdey darauf zurückgeführt werden, daß zwischen 1989 und 1991drei <strong>der</strong> von ihm verdächtigten Pestizide vom Markt genommen wurden (vgl. ebd.; S. 53f.sowie The UK Epidemic of BSE; Teil 2, S. 449ff.).E<strong>in</strong>e bloße Korrelation erklärt aber natürlich noch nicht die Entstehung <strong>der</strong> Krankheit. Purdeygeht diesbezüglich davon aus, daß die e<strong>in</strong>gesetzten Organophosphate e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>itiale Rolle bei<strong>der</strong> Konformation des auch gemäß ihm krankmachenden Prion-Prote<strong>in</strong>s spielen (vgl. zur Übersichtebd.; Teil 1). Insoweit steht Purdeys Ansatz also im E<strong>in</strong>klang mit <strong>der</strong> Prionen-Theorie.Wie erbliche bed<strong>in</strong>gte SE-Syndrome wie GSS o<strong>der</strong> LFI entstehen,38warum nicht mehr Farmererkranken (die doch auch bei <strong>der</strong> Behandlung ihrer Tiere den Pestiziden ausgesetzt waren)und vor allem die BSE-Fälle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz (siehe nochmals Anmerkung 12), wo ke<strong>in</strong>e Organophosphatezum E<strong>in</strong>satz kamen, aber beträchtliche Mengen Tiermehl verfüttert wurden,39kanner allerd<strong>in</strong>gs nicht o<strong>der</strong> nur schlecht erklären. Restlos alle Phänomene werden aber, wiedargelegt, schließlich auch von den an<strong>der</strong>en Theorien nicht abgedeckt.Vor diesem allgeme<strong>in</strong>en Kenntnis-H<strong>in</strong>tergrund über den Ablauf <strong>der</strong> Ereignisse sowie die zentralentheoretischen (aber durchaus praktisch relevanten) Konzepte zur Erklärung <strong>der</strong> Pathogenesevon +BSE*, kann nunmehr daran gegangen werden, die <strong>in</strong> Kapitel 3 herausgearbeiteten Dilemmataplastisch anhand <strong>der</strong> politischen +Bearbeitung* des Falls +BSE* zu veranschaulichen.Dabei werde ich spiegelbildlich zur Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> vorangegangenen Kapitel vorgehen undnache<strong>in</strong>an<strong>der</strong> die ökonomischen, rechtlichen, wissenschaftlich-technischen, medialen undkulturell-sozialstrukturellen Aspekte des +BSE-Dramas* beleuchten.4.1 ÖKONOMISCHE ASPEKTE DES BSE-DRAMASDer +R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n* hat ohne Zweifel auch e<strong>in</strong>e erhebliche ökonomische Dimension, unddiese vermag – vor allem, wenn man die D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> ihren sozio-kulturellen Kontext e<strong>in</strong>bettet– e<strong>in</strong>en zentralen Aspekt des Dilemmas <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im Kontext <strong>der</strong> ökonomischen Globalisierungbzw. Regionalisierung plastisch zu verdeutlichen. Sicher: Viehwirtschaft hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> hochgradigvirtualisierten Ökonomie <strong>der</strong> (post)<strong>in</strong>dustriellen, sog. +fortgeschrittenen* Gesellschaften nichtmehr dieselbe Bedeutung wie bei +archaischen* nomadisierenden Viehhalterkulturen, <strong>der</strong>en


KAP. 4: DER FALL +BSE* 283Strukturen nur am +Rande <strong>der</strong> Zivilisation*, etwa bei den ostafrikanischen Massai, überlebthaben und auch dort zunehmend unter Druck geraten (vgl. Kalter: Die materielle Kultur <strong>der</strong>Massai und ihr Wandel). Trotzdem ist <strong>der</strong> Vieh- und Fleischhandel – denn Fleisch ist, wieuns die Werbung glauben machen will, +e<strong>in</strong> Stück Lebenskraft* – selbst <strong>in</strong> westlichen +Industrienationen*e<strong>in</strong> nicht zu unterschätzen<strong>der</strong> Wirtschaftsfaktor. In den USA beispielsweise, diewir aus <strong>der</strong> romantisierenden Perspektive <strong>der</strong> Wildwestfilme als das Land <strong>der</strong> +Cowboys*und <strong>der</strong> riesigen R<strong>in</strong><strong>der</strong>herden kennen, hält man <strong>der</strong>zeit (unter allerd<strong>in</strong>gs eher unromantischenVerhältnissen) ca. 100 Millionen R<strong>in</strong><strong>der</strong> für die Fleischproduktion (vgl. auch Rifk<strong>in</strong>: Das Imperium<strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>; Kap. 1).40Die Fleisch<strong>in</strong>dustrie, die diese R<strong>in</strong><strong>der</strong> +verarbeitet*, hatte Anfang <strong>der</strong>90er Jahre e<strong>in</strong>en Jahresumsatz von ca. 70 Milliarden Dollar (vgl. Hillstrom: Ecyclopedia ofAmerican Industries; Vol. 1, SIC 2011, S. 1). 41Aber es gab, wie mit dem Beispiel <strong>der</strong> Massai schon angedeutet wurde, e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Abschnitt<strong>der</strong> Menschheitsgeschichte, <strong>in</strong> dem die Viehwirtschaft sogar den Kern <strong>der</strong> Ökonomie ausmachte:jene längst vergangene Zeit, als Tiere nicht mehr nur bloße Jagdobjekte waren (wie während<strong>der</strong> länge währenden +prähistorischen* Phase <strong>der</strong> Jäger- und Sammlerkultur), son<strong>der</strong>n mandamit begann, Nutztiere <strong>in</strong> Herden zu halten und auf <strong>der</strong> Suche nach Weidegründen mitihnen umherwan<strong>der</strong>te. Noch <strong>in</strong> dieser Epoche <strong>der</strong> Jungste<strong>in</strong>zeit begannen dann sogar ersteseßhafte Ackerbaukulturen aufzukommen, wo Viehhaltung zwar e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielte,aber nicht mehr die alle<strong>in</strong>ige Grundlage <strong>der</strong> Ernährung bildete. Gordon Childe spricht <strong>in</strong>diesem Zusammenhang von <strong>der</strong> +neolithischen Revolution* (vgl. Stufen <strong>der</strong> Kultur; S. 60ff.). 42Häufig prallten nun nomadisierende Viehhalter-Kulturen auf seßhafte Gesellschaften. E<strong>in</strong>igereligiöse Erzählungen künden noch von diesem Zusammenprall – so etwa, wenn die Bibelvon den Wan<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Israeliten und ihren Konflikten mit den Babyloniern und Ägypternberichtet. Auch das <strong>in</strong>dische Kastensystem ist (allerd<strong>in</strong>gs mit umgekehrten Vorzeichen) dasErgebnis e<strong>in</strong>er solchen Konfrontation zwischen Viehalter-Nomaden und frühen Siedlern: Die+arischen* Stämme,43die ca. 1500 v. Chr. vom Nordwesten her e<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ten, unterwarfen– kriegerisch überlegen – die eher auf Ackerbau gegründete drawidische +Hochkultur*, diesich entlang des Indus entwickelt hatte.44Die +Aryas* etablierten, als sie schließlich <strong>in</strong> Indienseßhaft wurden, e<strong>in</strong> +Apartheidssystem*, das e<strong>in</strong>e Vermischung mit den dunkelhäutigerenDrawidas verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n sollte und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en vedischen Mythos gegossen wurde.45Zu dieser Zeitwaren Opferrituale, bei denen unzählige R<strong>in</strong><strong>der</strong> geschlachtet wurden, noch e<strong>in</strong> zentraler


284 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEBestandteil <strong>der</strong> brahmanistischen Religion <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>er.Kuh, die Milch und Dung4746Erst <strong>in</strong> späterer Zeit wurde dieund damit +Leben* spendete, von e<strong>in</strong>em Opfertier zu e<strong>in</strong>em+geheiligten* Wesen umdef<strong>in</strong>iert, für das <strong>in</strong> <strong>der</strong> h<strong>in</strong>duistischen Gesellschaft e<strong>in</strong> strenges Tötungsverbotgilt. 48Und damit s<strong>in</strong>d wir über e<strong>in</strong>en Umweg wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart angelangt: Denn genaudieser Umstand bewog e<strong>in</strong>en Vertreter <strong>der</strong> traditionalistisch h<strong>in</strong>duistischen Organisation VHP 49dazu, <strong>der</strong> britischen Regierung, die im Zuge <strong>der</strong> BSE-Bekämpfung plante, e<strong>in</strong>en großen Teil<strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>bestände schlachten zu lassen (siehe unten), e<strong>in</strong> +großzügiges* Angebot zu unterbreiten:nämlich den von <strong>der</strong> Schlachtungsaktion bedrohten Tiere <strong>in</strong> Indien +Asyl* zu gewähren(vgl. H<strong>in</strong>duism Today 6/96).50Die britische Regierung g<strong>in</strong>g auf dieses Angebot jedoch nichte<strong>in</strong>. Die religiöse Vorstellungswelt des H<strong>in</strong>duismus, die <strong>der</strong> +<strong>in</strong>dischen Lösung* zugrundelag, und die (allerd<strong>in</strong>gs nur vor<strong>der</strong>gründig) re<strong>in</strong> zweckrationale Denkweise e<strong>in</strong>es +mo<strong>der</strong>nen*technokratischen Krisen-Managements waren wohl zu <strong>in</strong>kompatibel.Doch welche Strategie wurde im Rahmen jenes technokratischen Krisenmanagements von<strong>der</strong> britischen <strong>Politik</strong> verfolgt und welche ökonomischen Auswirkungen hatte diese? – Hierlassen sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach drei (sich natürlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Realität überlappende) Programmstufenunterscheiden: Die erste Stufe bestand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Verschweigen, e<strong>in</strong>er Verschleierungund e<strong>in</strong>er Negation <strong>der</strong> Krise. Als diese Strategie nicht mehr griff, wechselte man über zue<strong>in</strong>er Strategie <strong>der</strong> Deflexion, d.h. man versuchte (abgestützt durch wissenschaftliche Expertisenund durch Medien<strong>in</strong>szenierungen) die Gefahr herunterzuspielen, ergriff aber gleichzeitig überden Verordnungsweg abwehrende Gegenmaßnahmen – die freilich teilweise völlig <strong>in</strong>adäquatwaren und nur <strong>der</strong> Ablenkung öffentlicher Besorgnis dienten.51Als auch diese Taktik nichtmehr +funktionierte*, kam e<strong>in</strong>e Strategie <strong>der</strong> politischen Schadensbegrenzung zum E<strong>in</strong>satz,die mit e<strong>in</strong>er radikalen tabula rasa verlorenes Vertrauen wie<strong>der</strong>herzustellen versucht. Imfolgenden werde ich diese drei Stufen <strong>in</strong> kurzer Form darstellen. Zuvor aber, um ihre Abfolgeverstehen zu können, e<strong>in</strong>ige Bemerkungen zur britischen +R<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>in</strong>dustrie* allgeme<strong>in</strong>:Die R<strong>in</strong><strong>der</strong>haltung hat <strong>in</strong> Großbritannien nicht nur Tradition, son<strong>der</strong>n noch immer e<strong>in</strong>en bedeutendenAnteil am landwirtschaftlichen Sektor und ist deshalb (analog zum oben genanntenBeispiel <strong>der</strong> USA) auch e<strong>in</strong> relevanter Wirtschaftsfaktor. Auf britischen Höfen – überwiegendGroßbetriebe mit über 1.000 Tieren Bestand – wurden vor dem Ausbruch von BSE und denergriffenen Gegen- bzw. Schlachtungsmaßnahmen immerh<strong>in</strong> ca. 11 Millionen Kühe und Bullen


KAP. 4: DER FALL +BSE* 285gehalten. 500.000 Arbeitsplätze hängen direkt o<strong>der</strong> <strong>in</strong>direkt von <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>zucht ab. (Vgl.Hacker: Stichwort BSE; S. 87ff.)Dabei wird bzw. wurde nicht nur für den nationalen, son<strong>der</strong>n auch für den <strong>in</strong>ternationalenMarkt +produziert*: In großen Stückzahlen verkaufte man R<strong>in</strong><strong>der</strong> vor allem nach Frankreich,die Nie<strong>der</strong>lande und die an<strong>der</strong>en Beneluxstaaten.52Auch Tiermehl und Fleisch wurde vorallem <strong>in</strong> die EG bzw. EU exportiert, doch selbst so entfernte Län<strong>der</strong> wie Japan o<strong>der</strong> Zairezählten (<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Mengen) zu den Abnehmern des berühmten +British Beef*.53Es handeltsich also bei <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Fleisch<strong>in</strong>dustrie, die sogar noch 1995 e<strong>in</strong>en Export-Umsatzvon 1,4 Milliarden DM machte, gewiß um ke<strong>in</strong>en völlig peripheren Bereich <strong>der</strong> britischenWirtschaft – vor allem, wenn man bedenkt, daß alles, was mit Ernährung zusammenhängt,e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Relevanz für die Verbraucher hat. Hier zeigt sich e<strong>in</strong>mal mehr, was schonim Prolog von mir herausgestellt wurde: Selbst die (post)<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft ist, da auchsie ihre (Mit-)Glie<strong>der</strong> ernähren muß, im Kern immer noch e<strong>in</strong>e Agrargesellschaft (siehe S.LIX) – wenngleich die mo<strong>der</strong>ne Agro-Industrie (die mit ihrer exportorientierten Massenproduktione<strong>in</strong> ihrem +Output* und ihrer <strong>in</strong>ternationalen Verflechtung entsprechendes hohes Risiko-Potentialbe<strong>in</strong>haltet) natürlich e<strong>in</strong> ganz an<strong>der</strong>es Gesicht trägt, als die eher Subsistenz- und lokal orientierteLandwirtschaft <strong>der</strong> vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>te, und <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Sektoren vielleicht auch größereSummen akkumuliert werden.Stufe 1 – Schweigen, Verschleierung und Negation: +The three monkeys of politics*. E<strong>in</strong>eneuartige R<strong>in</strong><strong>der</strong>seuche wie BSE, für die das britische Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isterium, ohne aberirgend etwas darüber zu verlautbaren, (wie erwähnt) wahrsche<strong>in</strong>lich bereits 1983 erste Anhaltspunktehatte, stellte e<strong>in</strong>e Gefahr für den mit starker politischer Lobby versehenen Wirtschaftszweig<strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Fleisch<strong>in</strong>dustrie dar – allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e Gefahr, an die man (wegenden sich aus ihr ergebenden unangenehmen Folgen) nicht glauben wollte, solange man nichtan sie glauben mußte. Vor allem sollte, bis nicht <strong>der</strong> +letzte Beweis* erbracht war, ke<strong>in</strong>esfallsetwas an die Öffentlichkeit dr<strong>in</strong>gen, um die Verbraucher nicht zu +irritieren*. Das MAFFuntersagte deshalb, von se<strong>in</strong>em Weisungsrecht gebrauch machend, den für es arbeitendenWissenschaftlern, öffentlich über die neue Seuche zu sprechen, und erlaubte (mit dem aufS. 273 zitierten Artikel von Wells et al.) erst Ende 1987 e<strong>in</strong>e Veröffentlichung von spärlichenDaten. BSE existierte offiziell also erst, als selbst nach <strong>der</strong> m<strong>in</strong>isterialen Statistik schon mehrere


286 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEhun<strong>der</strong>t Fälle bekannt waren und täglich neue h<strong>in</strong>zu kamen (siehe nochmals Abb. 4).54Dochauch dann noch verschloß man demonstrativ die Augen vor <strong>der</strong> Dimension <strong>der</strong> Gefahr.Insbeson<strong>der</strong>e e<strong>in</strong> Risiko für den Menschen wurde +prophylaktisch* negiert, und die <strong>Politik</strong>erbetonten ritualhaft, daß durch BSE ke<strong>in</strong>e Gefährdung für die Verbraucher gegeben sei. Dochdiese nichts sehen-, nichts hören-, nichts-offen-aussprechen-Strategie stieß mit dem dramatischenAnstieg <strong>der</strong> Fallzahlen ab 1988/89 an ihre Grenzen und wurde durch die Veröffentlichungvon Experimenten, die e<strong>in</strong>e grundsätzliche Übertragbarkeit von BSE auf an<strong>der</strong>e Spezies (undsomit vielleicht auch auf den Menschen) zeigten (siehe S. 277), gänzlich unmöglich.Stufe 2 – (Symbiotische) Deflexion: +British beef is safe – says science, too, and reportthe media*. Die (späte) Nachricht von <strong>der</strong> neuen R<strong>in</strong><strong>der</strong>seuche BSE und ihre möglicheInfektiosität löste bei den Verbrauchern kritische Reflexe aus. Die <strong>Politik</strong> mußte deshalb handeln.Also verbot man im Juli 1988 die Verfütterung von Tiermehl an R<strong>in</strong><strong>der</strong> (das man als Infektionsquellebetrachtete, trotzdem aber weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> die ganze übrige Welt exportierte) unduntersagte 1989 die Verwendung von als +beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>fektiös* geltenden R<strong>in</strong><strong>der</strong>teilen fürdie menschliche Ernährung (siehe S. 274f.). Insbeson<strong>der</strong>e zeigte man sich aber im Auslandbesorgt. Der britische R<strong>in</strong>dfleischexport war bedroht. Deutschland, Italien und Frankreichverhängten 1989 e<strong>in</strong>seitige Importsperren, die erst nach britischem Druck auf die EU-Organewie<strong>der</strong> aufgehoben wurden (siehe Anmerkung 9). Die britische <strong>Politik</strong> nutzte zur Erreichungdieses Ziels gezielt wissenschaftliche Deflexionsressourcen (siehe auch Abschnitt 4.3). Insbeson<strong>der</strong>edie Mitarbeiter des MAFF bemühten sich (neben e<strong>in</strong>er Verharmlosung des Übertragungsrisikos),die britische Regierung mit epidemiologischem Material zu munitionieren, dase<strong>in</strong> baldiges Ende <strong>der</strong> Seuche versprach. Dazu schreckte man auch nicht vor +statistischemBetrug* zurück: d.h. man wies z.B. Anfang <strong>der</strong> 90er Jahre gegenüber <strong>der</strong> EU (ganz richtig)darauf h<strong>in</strong>, daß unter den nach dem Tiermehl-Fütterungsverbot von 1988 geborenen Tierenso gut wie ke<strong>in</strong>e BSE-Fälle aufgetreten waren – ohne aber gleichzeitig zu sagen, daß die meistenKühe erst im Alter von 5 Jahren BSE entwickeln (siehe auch Anmerkung 14).55Kritische Stimmenwurden, soweit möglich, unterdrückt (siehe nochmals Anmerkung 25 sowie S. 296).Auch die britischen Medien dienten <strong>der</strong> Deflexion (siehe auch Abschnitt 4.4, <strong>in</strong>sb. S. 297ff.).Zum e<strong>in</strong>en, <strong>in</strong>dem <strong>Politik</strong>er demonstrativ vor laufen<strong>der</strong> Kamera britisches R<strong>in</strong>dfleisch verzehren+durften*. Zum an<strong>der</strong>en, <strong>in</strong>dem vor allem die Presse die BSE-Problematik (auf Anregung <strong>der</strong>


KAP. 4: DER FALL +BSE* 287<strong>Politik</strong>) zu e<strong>in</strong>er nationalen und handelspolitischen Frage umdef<strong>in</strong>ierte. So deutete man dieExportbeschränkungen für britisches R<strong>in</strong>dfleisch <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie als protektionistische Maßnahmedes Auslands, wobei die BSE-Problematik angeblich nur als Vorwand diente. Diese Deflexions-Strategie gelang allerd<strong>in</strong>gs nicht mehr, als im März 1996 selbst die britische Regierung aufgrundmediz<strong>in</strong>ischer Studien e<strong>in</strong>e Übertragbarkeit von BSE auf den Menschen nicht mehr ausschließenwollte (siehe nochmals S. 275). Ergebnis dieses E<strong>in</strong>geständnisses war e<strong>in</strong> (kurzfristiger) Rückgangdes <strong>in</strong>nerbritischen R<strong>in</strong>dfleischkonsums um ca. 30% und alle<strong>in</strong>e bis Mitte 1996 e<strong>in</strong> Verlustvon etwa 10.000 Arbeitsplätzen. In Deutschland, woh<strong>in</strong> – zum<strong>in</strong>dest auf direktem Weg – 56kaum britisches R<strong>in</strong>dfleisch exportiert worden war, sank <strong>der</strong> R<strong>in</strong>dfleisch-Absatz zeitweisegar um bis zu 50% (vgl. Hacker: Stichwort BSE; S. 89).Stufe 3 – Schadensbegrenzung durch tabula rasa: +Fury <strong>in</strong> the slaughterhouse*. DieNegationsstrategie und die Strategie e<strong>in</strong>er primär symbolischen Deflexion <strong>in</strong> +Kooperation*mit Wissenschaft und Medien war somit für die <strong>Politik</strong> zu e<strong>in</strong>em relativen Desaster geraten.Man hatte auf sie zurückgegriffen, weil man die Interessen <strong>der</strong> britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Fleisch<strong>in</strong>dustriezu schützen versuchte (die im nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> betrachtet natürlich im Gegenteil immensgeschädigt wurden). Überhaupt ist die gesamte BSE-Problematik <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das Ergebnise<strong>in</strong>er extrem kurzsichtigen politischen Stützung re<strong>in</strong> ökonomischer Interessen – gerade wennman sich die +offizielle* These <strong>der</strong> Übertragung von Scrapie auf die R<strong>in</strong><strong>der</strong> durch unzureichendaufbearbeitetes Tiermehl zu eigen macht.57Denn warum, wenn nicht auf Drängen <strong>der</strong> Tiermehl-Hersteller, hätte sich die britische Regierung veranlaßt fühlen sollen, die Bestimmungen fürdie Tierkörperverarbeitung Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre zu lockern? So aber konnten die ProfitundExportchancen (zunächst) gesteigert werden. Sicherheitserwägungen und +öffentlicheInteressen* spielten offensichtlich nur e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle. Das rächt sich nun.Um das verlorene Vertrauen <strong>in</strong> die R<strong>in</strong>dfleisch<strong>in</strong>dustrie und vor allem <strong>in</strong> die <strong>Politik</strong> wie<strong>der</strong>herzustellen,versucht man deshalb mit drastischen Maßnahmen zu demonstrieren, daß mandas Problem zu lösen gewillt ist und die Situation im Griff hat. Freilich bekämpft man tatsächlichweniger BSE als die <strong>in</strong> Großbritannien lebenden R<strong>in</strong><strong>der</strong>. Der 1996 <strong>in</strong> Verhandlungen mit<strong>der</strong> EU beschlossene Anti-BSE-Plan sieht die Tötung von sämtlichen Tieren über dem Altervon 30 Monaten sowie die Tötung von Tieren aus beson<strong>der</strong>s betroffenen Herden vor: Dass<strong>in</strong>d ca. 4,5 Mio. R<strong>in</strong><strong>der</strong>, von denen wahrsche<strong>in</strong>lich nur e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Bruchteil BSE-<strong>in</strong>fiziert


288 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEist (vgl. Krönig: Ohne S<strong>in</strong>n und Verstand). Viele Stimmen, vor allem aus an<strong>der</strong>en EU-Staaten,plädierten sogar für e<strong>in</strong>e Vernichtung des gesamten Bestands, und auch Großbritanniensehemaliger Gesundheitsm<strong>in</strong>ister Dorrell sprach sich dafür aus, falls die CJK-Fälle ansteigensollten (vgl. Hacker: Stichwort BSE; S. 87). Doch die Vernichtungsaktion (egal wie weit sieletztendlich ausgreifen wird) ist, wie gesagt, eher e<strong>in</strong>e politische Willensdemonstration, alsdaß sie zur BSE-Bekämpfung effektiv wäre.58Denn wenn e<strong>in</strong>e Gefährdung <strong>der</strong> Verbraucherdurch R<strong>in</strong>dfleisch gegeben ist, dann durch das bereits <strong>in</strong> den 80er Jahren verzehrte, als dieSeuche unter den R<strong>in</strong><strong>der</strong>n noch weit verbreitet war und das Fleisch relativ frei <strong>in</strong> den Handelgelangte. Die nachträgliche Massenschlachtung, die zudem große organisatorische Problemeaufwirft (denn es s<strong>in</strong>d nicht genügend +Vernichtungskapazitäten* vorhanden), ist also e<strong>in</strong>eweitgehend überflüssige Aktion, die nur als politischer Symbolakt e<strong>in</strong>e gewisse Logik offenbart:Die <strong>Politik</strong> will sich mit dem Blut <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong> re<strong>in</strong>waschen, wobei sich dieses +rituelle Opfer*allerd<strong>in</strong>gs sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> technokratisches Gewand verhüllt. Um sich auf diese fragwürdige Weisepolitisch zu entlasten, scheut man auch nicht die immensen Kosten von fast 8 MilliardenDM, welche die EU zu 70% tragen wird (vgl. ebd.; S. 89). 59Doch was sagt uns dieses Beispiel konkret über das durch Globalisierungsprozesse ausgelösteökonomische Dilemma des nationalen Wohlfahrtsstaats? Denn schließlich sollen hier die <strong>in</strong>Kapitel 3 theoretisch dargelegten Dilemmata anhand des Falls +BSE* plastisch veranschaulichtwerden. Hierzu ist zunächst zu bemerken, daß es natürlich weniger die <strong>in</strong> Abschnitt 3.1herausgearbeitete, durch die Konkurrenz <strong>der</strong> Staaten um das globale Kapital bewirkte Unterm<strong>in</strong>ierungdes Sozialstaates ist, die im Kontext von BSE zutage tritt. Die nationale Wohlfahrtersche<strong>in</strong>t durch BSE auf e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e, jedoch kaum weniger <strong>fatal</strong>e Weise bedroht: Wennsich BSE durch Fleischverzehr auf den Menschen übertragen lassen sollte, so wäre dies nichtnur <strong>in</strong> Großbritannien e<strong>in</strong>e Gefahr für die +Volksgesundheit*,60son<strong>der</strong>n auch überall dort,woh<strong>in</strong> britisches R<strong>in</strong>dfleisch <strong>in</strong> größeren Mengen exportiert wurde – also vor allem Frankreich,Italien und die Beneluxstaaten (siehe Anmerkung 53). Der freie (regionale) Markt hätte diesenStaaten damit sehr hohe Kosten aufgebürdet. Sie müßten sich nicht nur als EU-Mitglie<strong>der</strong>an den Massenschlachtungen <strong>in</strong> Großbritannien f<strong>in</strong>anziell beteiligen,61son<strong>der</strong>n hätten die(sozialen wie ökonomischen) Folgen <strong>der</strong> zu erwartenden stark vermehrten CJK-Erkrankungenzu tragen. E<strong>in</strong>e schon jetzt reale Auswirkung <strong>der</strong> britischen BSE-Krise ist aber das Abs<strong>in</strong>ken


KAP. 4: DER FALL +BSE* 289des R<strong>in</strong>dfleischkonsums auch <strong>in</strong> vielen Nachbarstaaten und damit e<strong>in</strong>e Schädigung <strong>der</strong> dortigenFleisch<strong>in</strong>dustrie. Das Beispiel BSE zeigt also deutlich, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er regional und erst recht<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er global vernetzten Ökonomie lokal getroffene politische Entscheidungen (wie beispielsweisedie Herabsetzung <strong>der</strong> Verarbeitungsstandards bei <strong>der</strong> Tierkörperverwertung <strong>in</strong> Großbritannien)große Effekte auch auf das <strong>in</strong>ternationale politische Umfeld haben können – welchesauf diese Entscheidungen ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluß hat.Solche auf nationaler und lokaler Ebene getroffenen politischen Entscheidungen werden allerd<strong>in</strong>gsunter den Bed<strong>in</strong>gungen ökonomischer Globalisierung häufig gerade mit Blick auf den globalenMarkt getroffen. Denn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verfolgung <strong>der</strong> von ihr bevorzugten nationalen Strategie ist dienationalstaatliche <strong>Politik</strong> schließlich primär darauf bedacht, dem Kapital möglichst günstigeRahmenbed<strong>in</strong>gungen zu verschaffen, um es an das eigene Territorium zu b<strong>in</strong>den. Die potentiellenormen +gesellschaftlichen Kosten* werden – wie sich im Fall von BSE klar zeigte – bei dieserRechnung selten e<strong>in</strong>kalkuliert. Es droht auf diese Weise durch Prozesse ökonomischer Globalisierungund die von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> verfolgte nationale Strategie nicht nur e<strong>in</strong>e Polarisierung <strong>der</strong>Gesellschaft und die Unterm<strong>in</strong>ierung des Wohlfahrtsstaates, son<strong>der</strong>n auch die verstärkteUmwälzung <strong>der</strong> Produktionsrisiken auf die globale Geme<strong>in</strong>schaft.62E<strong>in</strong> möglicher Auswegaus diesem Dilemma wären, wie im Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> gefor<strong>der</strong>t, Anstrengungenzu e<strong>in</strong>er verstärkten <strong>in</strong>ternationalen Verregelung (siehe zurück zu S. 216f.) – wobei <strong>der</strong> folgendeAbschnitt jedoch nochmals verdeutlichen wird, daß jede Regulation an sich ambivalent undrisikobehaftet ist.4.2 RECHTLICHE ASPEKTE DES BSE-DRAMASIn Abschnitt 3.2 wurde dargelegt, daß +Recht* und <strong>der</strong> Rückgriff auf Rechtsverfahren e<strong>in</strong>ezweischneidige Ressource für die <strong>Politik</strong> darstellt. E<strong>in</strong>erseits erlaubt die Übersetzung vonpolitischen <strong>in</strong> juristische Diskurse die Deflexion (<strong>in</strong>ner)politischer Konflikte. An<strong>der</strong>erseits drohendurch Verrechtlichungsprozesse e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionelle Erstarrung und Entfremdungsersche<strong>in</strong>ungen.Zudem be<strong>in</strong>haltet jede Regulation, wie bereits oben angemerkt wurde, e<strong>in</strong> Risiko, da rechtlicheIntervention schließlich e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> (lebenweltliche und systemische) Handlungszusammenhängedarstellt und somit positive, aber auch negative Folgen haben kann. Letzteres wirdanhand <strong>der</strong> politisch-rechtlichen Regulation <strong>der</strong> BSE-Krise beson<strong>der</strong>s deutlich:


290 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDas BSE-Problem wurde, wie schon oben anklang, durch e<strong>in</strong>e ganze Reihe von rechtlichenE<strong>in</strong>griffen politisch bearbeitet. Dabei verließ man sich zur Informationsbeschaffung, zur Durchführung<strong>der</strong> beschlossenen Maßnahmen und zu <strong>der</strong>en Überwachung auf bestehende Institutionenwie das +Department for Animal Health* des MAFF und an<strong>der</strong>e Regierungsorgane. Alle<strong>in</strong>eberatenden Charakter hatten dagegen das Southwood-Komitee sowie das SEAC (siehe S.274ff.). Im Kontext des politischen Managements <strong>der</strong> BSE-Krise spielten diese +unabhängigen*wissenschaftlichen, ad hoc geschaffenen Gremien also nur e<strong>in</strong>e eher passive, ke<strong>in</strong>e aktiv <strong>in</strong>tervenierendeRolle und waren primär im Kontext <strong>der</strong> wissenschaftlichen Deflexion <strong>der</strong> durchBSE ausgelösten Verbraucherängste relevant (siehe Abschnitt 4.3).Was den Modus <strong>der</strong> rechtlichen Interventionen durch die <strong>Politik</strong> im Kontext von BSE betrifft,so handelt(e) es sich fast ausschließlich um exekutive Verordnungen und nicht um (legislativerBeschlußfassung unterliegende) Gesetze – die <strong>in</strong>stitutionell-rechtliche Handhabung <strong>der</strong> BSE-Kriselief sozusagen am Parlament (und damit am +Souverän* bzw. dessen gewählter Vertretung)vorbei. Das ist zwar nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, denn erstens mußte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen aufgrundaktueller Entwicklungen relativ schnell reagiert werden (was e<strong>in</strong> formales Gesetzgebungsverfahrenre<strong>in</strong> zeitlich ausschloß), und zweitens existierten gesetzliche Grundlagen wie <strong>der</strong> +AnimalHealth Act* von 1981, <strong>der</strong> dem MAFF sehr weitreichende Befugnisse e<strong>in</strong>räumt, auf welchedie exekutiven Verordnungen gestützt waren (vgl. hierzu auch Fulbrook: Legal Implications;S. 9f.). Es zeigt sich allerd<strong>in</strong>gs hier<strong>in</strong> deutlich, welche zentrale, um nicht zu sagen +übergewichtige*Bedeutung <strong>der</strong> Exekutive <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Praxis (vor allem <strong>in</strong> akuten Situationen)zufällt, die nicht nur <strong>in</strong> Wirklichkeit h<strong>in</strong>ter den meisten vom Parlament beschlossenen Gesetzensteckt, son<strong>der</strong>n auch mit <strong>der</strong> ihr +übertragenen* Aufgabe <strong>der</strong> Gesetzesdurchführung e<strong>in</strong>e großeGestaltungsmacht besitzt (siehe hierzu auch S. 235).Da BSE (durch die Tiermehl-, R<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Fleischexporte) aber ke<strong>in</strong> ausschließlich britischesProblem war (und ist), wurde die britische Regierung bei dem von ihr e<strong>in</strong>geschlagenen Wegdes Krisenmanagements durch externe Interventionen und Regelungsversuche +gestört*: Nichtnur an<strong>der</strong>e Staaten sahen sich durch die drohende Ausbreitung von BSE auf ihr Territoriumsowie e<strong>in</strong>e mögliche Gefährdung ihrer heimischen Verbraucher zum Handeln gezwungen,son<strong>der</strong>n auch die EG- bzw. EU-Organe nahmen sich nach anfänglichem Zögern <strong>der</strong> Sachean. Es lassen sich demzufolge im Zusammenhang <strong>der</strong> politisch-rechtlichen Regulation <strong>der</strong>BSE-Krise nationale (und hier <strong>in</strong>nerbritische und außerbritische) von transnationalen Verordnungen


KAP. 4: DER FALL +BSE* 291unterscheiden. Beispiele für die erste Kategorie s<strong>in</strong>d das Tiermehlverfütterungsverbot vomJuli 1988 o<strong>der</strong> die (nur kurze Zeit wirksamen) E<strong>in</strong>fuhrverbote für britisches R<strong>in</strong>dfleisch durchdie Bundesrepublik, Italien und Frankreich vom November 1989. Letzere wurden, wie erwähnt,auf Druck <strong>der</strong> britischen Regierung aufgehoben, da im europäischen Integrationsraum nursolche Regelungen Gültigkeit haben, die mit dem Geme<strong>in</strong>schaftsrecht <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang stehen.Die europäischen Verträge sehen nun allerd<strong>in</strong>gs Freizügigkeit im Warenverkehr vor (was erstrecht seit den Beschlüssen von Maastricht gilt), und diese Freizügigkeit kann nur unter sehrrestriktiven Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>geschränkt werden – z.B. wenn durch den freien Warenhandele<strong>in</strong>e Gefährdung <strong>der</strong> öffentlichen Sicherheit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesundheit von Menschen o<strong>der</strong> Tieren<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Mitgliedsstaat besteht (vgl. Upson: The Beef Crisis – Free Trade Issues <strong>in</strong> EuropeanLaw).Die britische Regierung konnte sich, wie gesagt, mit ihrer Auffassung durchsetzten, daß dieImportverbote durch Deutschland, Italien und Frankreich unangemessen waren und ke<strong>in</strong>etatsächliche Gefahr durch das britische R<strong>in</strong>dfleisch ausg<strong>in</strong>g, so daß diese im Juni 1990 fürungültig erklärt wurden. Mit e<strong>in</strong>er sehr e<strong>in</strong>geschränkten europaweiten Regelung wurde jedochkurz darauf e<strong>in</strong> +Kompromiß* gefunden: Im Juli 1990 e<strong>in</strong>igte man sich darauf, daß nur entbe<strong>in</strong>tessowie von sichtbarem Lymph- und Nervengewebe befreites britisches R<strong>in</strong>dfleisch une<strong>in</strong>geschränktim geme<strong>in</strong>samen Markt verkauft werden durfte, sofern es aus BSE-Betrieben stammte (fürden Handel mit Fleisch aus +BSE-freien* Betrieben gab es ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkungen). Dieseerste transnationale BSE-Verordnung diente also offensichtlich nicht dem Verbraucherschutz,son<strong>der</strong>n hatte re<strong>in</strong> deflexiv-praxologischen Charakter: Ihre <strong>in</strong>haltlichen Bestimmungen warenso +schwach*, daß nur e<strong>in</strong>e symbolische Ausstrahlung von ihr ausg<strong>in</strong>g. Dagegen stellte dasTiermehlverfütterungsverbot e<strong>in</strong>e tatsächliche abwehrende politisch-rechtliche Deflexion desBSE-Risikos dar (allerd<strong>in</strong>gs nur, sofern man sich <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>ierenden These e<strong>in</strong>er Übertragungvon Scrapie auf die R<strong>in</strong><strong>der</strong> durch verseuchtes Tiermehl anschließt).Es bietet sich damit e<strong>in</strong>e weitere Unterscheidungsdimension an: nämlich ob die getroffenenRegelungen nur <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen (praxologischen) Deflexion (d.h. e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> symbolischen Ablenkung<strong>der</strong> Gefahren) o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er tatsächlichen Abwehr des Risikos (mit deflexiven Maßnahmen gemäßdem Modell e<strong>in</strong>es Effizienz-orientierten technokratischen Krisenmanagements) dienten.63Auchbezüglich <strong>der</strong> Inhalte <strong>der</strong> getroffenen Verordnungen läßt sich differenzieren: Die auf nationalerund transnationaler Ebene e<strong>in</strong>geführten Meldepflichten beispielsweise (siehe S. 274f.) dienten


292 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>der</strong> Informationsbeschaffung über das Ausmaß <strong>der</strong> Seuche. Der Handel wurde durch Exportbzw.Importverbote (Außenhandel) sowie durch das <strong>in</strong>nerbritische Verkaufsverbot von bestimmtenR<strong>in</strong><strong>der</strong>produkten bzw. -bestandteilen e<strong>in</strong>geschränkt (+SBO-Ban*). E<strong>in</strong>e Reihe von Verordnungendienten auch – sei es nun, wie oben unterschieden, tatsächlich o<strong>der</strong> nur vor<strong>der</strong>gründig –<strong>der</strong> Bekämpfung und Kontrolle <strong>der</strong> Krankheit (hier s<strong>in</strong>d, wie ausgeführt, <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie dasTiermehlverfütterungsverbot sowie die beschlossenen Schlachtungsmaßnahmen zu nennen).Aufgrund letzterer mußten schließlich Regelungen für die Entschädigung <strong>der</strong> Bauern getroffenwerden. 64Anhand des letzten Punkts läßt sich übrigens sehr deutlich demonstrieren, wie e<strong>in</strong>e Verrechtlichungsspirale<strong>in</strong> Gang gesetzt wird: Regulationen erzeugen die Notwendigkeit von neuenRegulationen und zwar entwe<strong>der</strong>, weil (wie oben) die Folgen <strong>der</strong> rechtlichen E<strong>in</strong>griffe weitergehende(ausgleichende) Regelungen erzw<strong>in</strong>gen, die ursprünglichen Bestimmungen nichtden beabsichtigten Erfolg haben (was Modifizierungen und Ergänzungen erfor<strong>der</strong>t) o<strong>der</strong> unerwünschteNebeneffekte auftreten, die mit neuen Regelungen bearbeitet werden müssen.BSE ist auch für letzteres e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s passendes Beispiel. Denn wie bereits angemerkt:Ironischerweise wurde BSE (wie<strong>der</strong>um vorausgesetzt, man schließt sich <strong>der</strong> +offiziellen* Theoriean) durch e<strong>in</strong>e – liberalisierende – Modifikation <strong>der</strong> Bestimmungen für die Tiermehlverarbeitung+ausgelöst*. Dieser auf den ersten Blick +periphere E<strong>in</strong>griff* (Mayer-Tasch), <strong>der</strong> e<strong>in</strong>drücklichdie oft unterschätze Risikodimension politisch-rechtlicher Regulation verdeutlich, hatte sehrweitreichende Folgen, die zu immer weitreichen<strong>der</strong>en Interventionen zwangen – teils umdas Problem BSE tatsächlich <strong>in</strong> den Griff zu bekommen, teils um von se<strong>in</strong>er Risiko-Dimensionabzulenken. Doch die erstrebte Kontrolle se<strong>in</strong>es +reflexiven* Risiko-Potentials gelang nur bed<strong>in</strong>gt:E<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Verbraucher blieb skeptisch, wie die Rückgänge beim R<strong>in</strong>dfleischkonsum zeigen(siehe S. 287 sowie Anmerkung 67). Das regulatorische Handeln führte so, da se<strong>in</strong> primärpraxologisch-symbolischer Charakter durchschaut wurde, zu e<strong>in</strong>er (zum<strong>in</strong>dest partiellen)Entfremdung zwischen <strong>Politik</strong>, Verbrauchern und Fleisch<strong>in</strong>dustrie.Das Phänomen e<strong>in</strong>er Entfremdung ist (wie <strong>in</strong> Abschnitt 3.2 näher erläutert) e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> grundsätzlichen+Gefahren* <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei regulatorischen E<strong>in</strong>griffen durch staatliche Institutionenund Recht <strong>in</strong> die Sphäre(n) <strong>der</strong> +Lebenswelt*. Deshalb, wie auch aufgrund <strong>der</strong> oben schonmehrfach angesprochenen Risikodimension je<strong>der</strong> Entscheidung, wird von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> häufig,solange es möglich ist, e<strong>in</strong>e Taktik <strong>der</strong> Nicht-Intervention verfolgt – was freilich se<strong>in</strong>erseits


KAP. 4: DER FALL +BSE* 293problematisch wird, wenn dadurch die Probleme <strong>der</strong>art anwachsen, daß sie nicht mehr lösbars<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> nur mit ungleich höheren Kosten, als wenn +rechtzeitig* gehandelt worden wäre.Auch dafür ist +BSE* e<strong>in</strong> treffendes Beispiel. Rechtlich-bürokratische Erstarrungsersche<strong>in</strong>ungenkönnen dieses Problem zusätzlich verstärken. Je +aufgebähter* e<strong>in</strong>e Bürokratie ist und je mehrRegelungen bestehen, die beim <strong>in</strong>stitutionellen Handeln und bei Entscheidungen berücksichtigtwerden müssen, desto +träger* wird die Reaktion <strong>der</strong> Institutionen. So läßt sich z.B. die relativspäte Reaktion <strong>der</strong> EG auf die BSE-Krise erklären.Aufgrund <strong>der</strong>artiger Probleme und <strong>der</strong> re<strong>in</strong> im juristischen Diskurs nicht zu beantwortendennormativen Fragen, die durch Versuche politisch-rechtlicher Regulation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er grundsätzlichrisikobehafteten (Technik-)Welt aufgeworfen werden, kann man mit Ra<strong>in</strong>er Wolf, <strong>der</strong> sichwie<strong>der</strong>um an Beck anlehnt, e<strong>in</strong>e +Antiquiertheit des Rechts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft* (1987)konstatieren. Die (latente) Risikodimension von Technologien ist allerd<strong>in</strong>gs nur e<strong>in</strong> Unteraspekt<strong>der</strong> im folgenden dargelegten wissenschaftlich-technischen Aspekte des BSE-Dramas.4.3 WISSENSCHAFTLICH-TECHNISCHE ASPEKTE DES BSE-DRAMASBSE ist greifbar und doch unwirklich. Es ist e<strong>in</strong>e konkrete materielle Existenzgefährdung fürdie britischen Bauern und noch mehr für die R<strong>in</strong><strong>der</strong>, die ihre Schlachtung +befürchten* müssen.Für die Konsumenten britischen R<strong>in</strong>dfleisches stellt BSE dagegen kaum mehr als e<strong>in</strong>e dunkleDrohung dar. Und während sich <strong>in</strong> den Hirnen <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong> die Seuche ganz manifest <strong>in</strong>schwammartigen Verän<strong>der</strong>ungen, <strong>in</strong> Eiweiß-Ablagerungen und Vakuolen äußert, so ist <strong>der</strong>d<strong>in</strong>gliche Auslöser, <strong>der</strong> +Erreger* für diese Erkrankung ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>deutig identifiziert. Gewiß,die Prionentheorie, die von Stanley Prus<strong>in</strong>er seit Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre propagiert wird, hatsich im wissenschaftlichen Diskurs weitgehend durchgesetzt (siehe S. 278f.). Prus<strong>in</strong>er wurdefür se<strong>in</strong>e Arbeit 1997 sogar mit dem Mediz<strong>in</strong>-Nobelpreis ausgezeichnet (siehe auch nochmalsAnmerkung 26). An<strong>der</strong>erseits ist diese Auszeichnung durch das sonst eher +konservative* Nobel-Komitee für viele e<strong>in</strong> nicht m<strong>in</strong><strong>der</strong>es Mysterium als <strong>der</strong> BSE-Erreger selbst. Denn (bis jetzt)ist die Prionentheorie <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>e vielversprechende Spekulation, die nicht nur mitbiologischen Paradigmen bricht, son<strong>der</strong>n, wie dargelegt, auch bestimmte Aspekte <strong>der</strong> BSE-Erkrankung schlecht o<strong>der</strong> gar nicht erklären kann. Viele Wissenschaftler halten deshalb an<strong>der</strong> konventionellen Virus-Theorie fest (siehe S. 277f.), die aber ebenso ihre Schwachstellen


294 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEhat. Darum haben <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen Situation selbst Außenseitertheorien wie die des Bio-FarmersMark Purdey, <strong>der</strong> BSE auf den E<strong>in</strong>satz von Organophosphat-Pestiziden zurückführt (sieheS. 281f.), noch immer e<strong>in</strong>e, wenn auch ger<strong>in</strong>ge, Chance zur Durchsetzung.Die Unbestimmtheit des wissenschaftlichen Diskurses und die <strong>in</strong>terpretative Flexibilität, die<strong>der</strong>zeit herrscht, stehen im merkwürdigen Kontrast zur Bestimmtheit des politischen Krisenmanagements.Nach <strong>der</strong> anfänglichen Negierung und <strong>der</strong> darauffolgenden primär symbolischenDeflexion <strong>der</strong> Krise hat man sich nämlich, wie dargestellt, mittlerweile für e<strong>in</strong>e +Strategie<strong>der</strong> tabula rasa* entschieden und, aufgrund <strong>der</strong> Reflexivität des BSE-Risikos (d.h. vor allemauch se<strong>in</strong>er Wahrnehmung durch die Verbraucher), e<strong>in</strong> umfassendes Tötungsprogramm beschlossen.Dieses Tötungsprogramm ist e<strong>in</strong> Versuch <strong>der</strong> (se<strong>in</strong>erseits risikobehafteten) technologischenDeflexion des BSE-Risikos – wenn auch auf e<strong>in</strong>er technologisch eher +primitiven*Ebene, da Medikamente o<strong>der</strong> Impfstoffe augenblicklich (und wohl auch auf absehbare Zeit)nicht zur Verfügung stehen. So bleibt, weil Heilung unmöglich ist, sche<strong>in</strong>bar als e<strong>in</strong>ziger Auswegdie Tötung <strong>der</strong> Tiere, um die Seuche zu kontrollieren (bzw. um zum<strong>in</strong>dest den E<strong>in</strong>drucke<strong>in</strong>er Kontrollierbarkeit zu erzeugen).Die Tötung <strong>der</strong> Tiere ist technologisch, <strong>in</strong>soweit sie Tötungstechnik erfor<strong>der</strong>t. Jene ist zwarre<strong>in</strong> konventioneller Natur, denn sie schreibt nur die alltägliche Praxis <strong>in</strong> den Schlachthäusernfort, aber sie stellt, was die Größenordnung anbelangt, doch e<strong>in</strong>e logistische Herausfor<strong>der</strong>ungdar. Insbeson<strong>der</strong>e die Tierkörpervernichtungskapazitäten s<strong>in</strong>d knapp. Deflexiv ist die Tötung<strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>, <strong>in</strong>soweit sie im Rahmen gängiger (technokratischer) Lösungsstrategien verbleibtund die Grundlagen des eigenen Handelns von den <strong>in</strong>stitutionellen Akteuren nicht h<strong>in</strong>terfragtwerden.Allerd<strong>in</strong>gs kann man durchaus anzweifeln, daß das beschlossene Tötungsprogramm zur Abwehrdes BSE-Risikos tatsächlich wirksam ist. Vielmehr kann man, wie schon mehrfach angemerkt,durchaus den E<strong>in</strong>druck gew<strong>in</strong>nen, daß es sich hier um e<strong>in</strong>e eher symbolische Deflexion handelt,die primär auf e<strong>in</strong>e Beruhigung <strong>der</strong> Öffentlichkeit abzielt. Denn erstens ist es noch immernicht gewiß, daß BSE sich tatsächlich durch Fleischverzehr übertragen läßt. Zweitens hat e<strong>in</strong>eVielzahl von Verbrauchern wahrsche<strong>in</strong>lich bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit genügend +<strong>in</strong>fiziertes*R<strong>in</strong>dfleisch gegessen, um sich <strong>in</strong>fiziert zu haben, wenn e<strong>in</strong>e Infektion auf diesem Weg stattf<strong>in</strong>denkann. Kritische Wissenschaftler wie Stephen Dealler gehen deshalb im ungünstigsten Falldavon aus, daß nahezu alle erwachsenen britischen Verbraucher von BSE betroffen se<strong>in</strong>


KAP. 4: DER FALL +BSE* 295könnten.65Drittens ist ke<strong>in</strong>eswegs gesagt, daß BSE (vor allem durch den noch lange Zeit nachAusbruch <strong>der</strong> Seuche praktizierten Export von britischem Tiermehl) nicht auch schon aufR<strong>in</strong><strong>der</strong>populationen außerhalb Großbritanniens übergegriffen hat und es dort nur noch nichtzum Ausbruch gekommen ist – weshalb die Vernichtung des britischen Bestands, wo dieFallzahlen schließlich bereits drastisch zurückgegangen s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e falsche Sicherheit wiegenkönnte. Viertens wäre es denkbar, daß sich gerade durch die Schlachtung zusätzliche Personenanstecken: nämlich jene Arbeiter, die mit <strong>in</strong>fektiösem Material beim Töten <strong>der</strong> Tiere <strong>in</strong> Berührungkommen. Fünftens schließlich besteht e<strong>in</strong>e nicht ger<strong>in</strong>ge Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, daß – trotzangeordneter Vernichtung – Fleisch von britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> relevanten Mengen illegal aufden Markt gelangt. Hierfür gibt es bereits e<strong>in</strong>e Reihe von Beispielfällen (vgl. z.B. Blüthmann/-Reicherzer: Betrug leichtgemacht).Die beschlossene Tötungsaktion vermittelt also nicht viel mehr als die Illusion, daß die SeucheBSE +beherrschbar* ist. Indem man die R<strong>in</strong><strong>der</strong> auslöscht, suggeriert man, das Problem seidamit gelöst. Doch <strong>der</strong> Kern dieses Problems besteht wahrsche<strong>in</strong>lich eher im <strong>in</strong>strumentellenUmgang mit Lebenwesen und unserer Umwelt als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Existenz <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong> – denn dieses<strong>in</strong>d schließlich gerade gemäß <strong>der</strong> +offiziellen* Theorie nur deshalb erkrankt, weil man ScapieverseuchtesTiermehl an sie verfütterte, um den Milchertrag zu steigern. E<strong>in</strong> solcher nichtnur ethisch problematischer, son<strong>der</strong>n immer Risiken be<strong>in</strong>halten<strong>der</strong> <strong>in</strong>strumenteller Umgangmit +Umwelt* fußt auf <strong>der</strong> abstrakten (d.h. objektivierenden, +entbetteten*) Vernunft des wissenschaftlichenDenkens <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit ökonomischer Zweckrationalität. Natürlich: Wissenschafthat im Fall von BSE wesentlich zur Aufdeckung <strong>der</strong> Risiken beigetragen, die drohende Gefahrerst bewußt gemacht. Durch ihre +Enthüllungen* trägt sie also wesentlich zur sozialenGefahrenkonstruktion bei, und erst mit <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> Untersuchungsergebnisse<strong>der</strong> Veter<strong>in</strong>äre des MAFF erhielt BSE se<strong>in</strong>en Namen und war damit im öffentlichen Diskurspräsent. Zudem muß berücksichtigt werden, daß es schließlich Wissenschaftler waren, diemit Übertragungsexperimenten sowie Vergleichsstudien e<strong>in</strong>en Zusammenhang zwischen BSEund CJK nahe legten und so die <strong>Politik</strong> zu e<strong>in</strong>er Aufgabe ihrer Negationsstrategie zwangen.Aber Wissenschaft war im Kontext von BSE immer e<strong>in</strong> ambivalenter Faktor. Sie hat nichtnur das BSE-Risiko +reflektiert*, son<strong>der</strong>n sich auch <strong>in</strong> den Dienst <strong>der</strong> politischen Deflexiongestellt. So haben sogar namhafte Forscher – als ke<strong>in</strong>erlei nähere Erkenntnisse vorlagen undselbst dann noch, als das Gegenteil bereits wahrsche<strong>in</strong>lich war o<strong>der</strong> doch zum<strong>in</strong>dest hätte


296 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEmöglich ersche<strong>in</strong>en müssen – <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit den Beteuerungen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> fortgesetztbehauptet, daß ke<strong>in</strong>e Gefahr für die Verbraucher durch R<strong>in</strong><strong>der</strong>produkte bestünde. E<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>saugenfälliges (und deshalb mißglücktes) Beispiel für wissenschaftliche Deflexion im Dienst<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> nennt Barbara Adam: Sie berichtet, wie sich <strong>der</strong> Vorsitzende des SEAC, ProfessorPattison, dadurch unglaubwürdig machte, daß er zunächst (als die britische Regierung erstmalsdie Möglichkeit e<strong>in</strong>er Übertragung von BSE auf Menschen e<strong>in</strong>geräumt hatte) von e<strong>in</strong>er möglichenOpferzahl von bis zu 500.000 Personen sprach, er am nächsten Tag jedoch darauf bestand,daß durch die von den offiziellen Stellen getroffenen Maßnahmen das Erkrankungsrisiko m<strong>in</strong>imalsei – was die Vermutung nahe legte, daß se<strong>in</strong> Me<strong>in</strong>ungswechsel nur aufgrund <strong>der</strong> Ausübungvon Druck zustande gekommen se<strong>in</strong> konnte (vgl. Timescapes of Mo<strong>der</strong>nity; S. 167).Durch das <strong>der</strong> Öffentlichkeit im Zuge solcher Inkonsistenzen immer stärker bewußte deflexiveZusammenspiel erfolgt zwangsläufig <strong>der</strong> <strong>in</strong> Abschnitt 3.3 angesprochene gegenseitige Legitimitätsentzugund e<strong>in</strong>e bei<strong>der</strong>seitige +Trivialisierung* von <strong>Politik</strong> und Wissenschaft. Damit dieWissenschaft im Kontext von BSE überhaupt noch als Deflexionsressource für die <strong>Politik</strong> dienenkonnte, war es notwendig, die bestehende <strong>in</strong>terpretative Flexibilität, welche die wissenschaftlicheGlaubwürdigkeit <strong>in</strong> den Augen <strong>der</strong> Öffentlichkeit unterhöhlt, gewaltsam e<strong>in</strong>zuengen und dieDebatte durch E<strong>in</strong>satz von Machtmitteln zu schließen. Wissenschaftler, die von <strong>der</strong> durchdie <strong>Politik</strong> vorgegebenen L<strong>in</strong>ie abweichend dachten, forschten und vor allem sich äußerten,wurden also unter Druck gesetzt o<strong>der</strong> – sofern sie öffentliche Angestellte waren – <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällensogar entlassen. Dafür lassen sich mehrere Beispielfälle anführen. Stephen Dealler, <strong>der</strong> sichmit se<strong>in</strong>en oben zitierten Schätzungen unbeliebt gemacht hatte, mußte se<strong>in</strong> Engagement mitdem Ende se<strong>in</strong>er Karriere bezahlen. Auch <strong>der</strong> Mikrobiologe Harash Narang, <strong>der</strong> sich mit <strong>der</strong>Entwicklung e<strong>in</strong>es BSE-Unr<strong>in</strong>tests befaßt hatte, wurde von se<strong>in</strong>em Dienst bei den staatlichen+Public Health Service Laboratories* suspendiert (vgl. Mart<strong>in</strong>: The Mad Cow Deceit).66Selbst<strong>in</strong> Deutschland hat es ähnlich gelagerte Fälle gegeben. So wurde e<strong>in</strong>e Schlachthoftierärzt<strong>in</strong>,die verschiedene BSE-Verdachtsfälle diagnostiziert hatte, zuerst auf Unterlassung und Schadensersatzvom Schlachthofbetreiber verklagt. Schließlich wurde sie von ihrem Arbeitgeber (demKreis Segeberg) wegen angeblichen Fehlverhaltens fristlos entlassen (vgl. Köster-Lösche: R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n;S. 109f.).All die oben genannten Deflexionsmaßnahmen unter Ausnutzung wissenschaftlich-technischerRessourcen (sowie die im folgenden Abschnitt thematisierten öffentlichen Inszenierungen


KAP. 4: DER FALL +BSE* 297<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>) sollten das reflexive Protestpotential ablenken, das durch BSE freigesetzt wurde.Allerd<strong>in</strong>gs war dieses im Fall von BSE von vorne here<strong>in</strong> nur sehr begrenzt. Dagegen sprichtauch nicht die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat meßbare Reaktion <strong>der</strong> Verbraucher. Denn selbst wo diese +verschreckt*wurden und sich den Angeboten <strong>der</strong> R<strong>in</strong>dfleisch<strong>in</strong>dustrie entzogen, wurde meist nur auf an<strong>der</strong>eFleischsorten +ausgewichen*. So stieg <strong>in</strong> Großbritannien <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> BSE-Ängste <strong>der</strong> Absatzvon Schwe<strong>in</strong>e- und Lammfleisch an, und schon nach kurzer Zeit war e<strong>in</strong>e +Normalisierung*auch beim R<strong>in</strong>dfleischkonsum festzustellen.67Diese +gemäßigte* Reaktion <strong>der</strong> Verbraucherist me<strong>in</strong>es Erachtens aber nur begrenzt auf den Erfolg <strong>der</strong> politischen Deflexionsversuchezurückzuführen. Der Fleischverzehr, <strong>der</strong> an sich Ausdruck e<strong>in</strong>es problematischen <strong>in</strong>strumentellenUmgangs mit an<strong>der</strong>en Lebewesen ist und (so +exzessiv* wie er betrieben wird) überdies e<strong>in</strong>e+<strong>in</strong>humane* Massentierhaltung erfor<strong>der</strong>t, stellt <strong>in</strong> <strong>der</strong> britischen und auch <strong>der</strong> kont<strong>in</strong>entalenKultur e<strong>in</strong>e unh<strong>in</strong>terfragte Selbstverständlichkeit dar, und speziell R<strong>in</strong>dfleisch hat <strong>in</strong> Großbritanniene<strong>in</strong>e hohe (nationale) symbolische Bedeutung (siehe auch Abschnitt 4.5). Dieüberwiegende Mehrheit <strong>der</strong> Menschen ist zudem zu träge, ihre Gewohnheiten grundlegendzu än<strong>der</strong>n, und man geht lieber e<strong>in</strong> Risiko e<strong>in</strong>, so lange dieses nicht konkret und faßbar ist,d.h. wenn nicht wirklich klar ist, daß das tägliche Stück Fleisch auf dem Teller nicht nur fürdas Schlachtvieh, son<strong>der</strong>n auch für den Esser tödlich ist. Abgestützt wird diese Trägheit <strong>der</strong>Konsumenten durch das enorme +Momentum* <strong>der</strong> R<strong>in</strong>dfleisch<strong>in</strong>dustrie. Die eher hilflosenDeflexionsversuche hätten also vielleicht, wenn man sich auf die Seite <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten<strong>Politik</strong> stellt, lieber gleich ganz unterlassen bleiben sollen. Anstatt durch allzu durchsichtigeManöver die eigene Legitimität zu untergraben, wäre es klüger gewesen, auf die Selbstbegrenzung<strong>der</strong> Reflexivität durch bestehende Trägheitsmomente zu bauen.4.4 MEDIALE ASPEKTE DES POLITISCHEN BSE-DRAMASWas bewog – ausgerechnet – e<strong>in</strong>en britischen Landwirtschaftsm<strong>in</strong>ister dazu, se<strong>in</strong>e Tochtervor laufenden Kameras mit e<strong>in</strong>er amerikanischen Fast-Food-Spezialität zu +beglücken*, dieirreführen<strong>der</strong> Weise +Hamburger* genannt wird – obwohl doch die +Güte* solcher Kost imallgeme<strong>in</strong>en eher bezweifelt wird und e<strong>in</strong> +echter* Brite sich im beson<strong>der</strong>en schon ausPatriotismus <strong>der</strong>lei eher +unbritischen* Gaumenfreuden verweigern müßte? Und was bewogan<strong>der</strong>erseits die Tochter jenes britischen Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isters dazu, diesen Hamburger


298 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE(bei dem es sich <strong>in</strong> Wahrheit natürlich um e<strong>in</strong>en +Beef Burger* handelte), nachdem die Kamerasausgeschaltet waren, ihrem Vater zum Verzehr zu überlassen, <strong>der</strong> diesen – noch verwun<strong>der</strong>licher– tatsächlich aufaß?Der S<strong>in</strong>n jenes durchaus kuriosen, allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>eswegs erdachten, son<strong>der</strong>n vielmehr aus<strong>der</strong> (Medien-)Wirklichkeit gegriffenen Schauspiels erschließt sich e<strong>in</strong>em sofort, wenn drei– mittlerweile recht vertraute – Buchstaben <strong>in</strong>s Spiel kommen: BSE. Denn im Kontext <strong>der</strong>BSE-Krise wird verständlich, was an<strong>der</strong>enfalls doch eher irritierend wirkt: e<strong>in</strong> britischer Landwirtschaftsm<strong>in</strong>ister(John Gummer), <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Tochter dazu veranlaßt, vor versammelter Presse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Hamburger zu beißen. Sobald jedoch klar ist, daß BSE den H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> Darstellungabgibt, ist auch klar, daß es eigentlich weniger um Töchter von M<strong>in</strong>istern o<strong>der</strong> Hamburgerg<strong>in</strong>g, son<strong>der</strong>n daß <strong>der</strong> öffentlich <strong>in</strong>szenierte Biß <strong>in</strong> das amerikanische Hackfleischbrötchennur e<strong>in</strong>es demonstrieren sollte: Ke<strong>in</strong>e Gefahr für die Verbraucher durch BSE – und deshalbauch ke<strong>in</strong> Verschulden <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Erst <strong>der</strong> Kontext <strong>der</strong> politischen Darstellung verweist alsoauf ihren +taktischen* Charakter und läßt die <strong>der</strong> Darstellung, dem dramaturgischen politischen+Text*, implizite Botschaft hervortreten (vgl. auch Edelman: Construct<strong>in</strong>g the Political Spectacle;Kap. 7). In <strong>der</strong> Dramaturgie des Symbolakts werden gleichzeitig Fragen gestellt und Antwortengegeben. Bezogen auf das obige Beispiel lauten sie: Würde e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>ister, <strong>der</strong> me<strong>in</strong>t (o<strong>der</strong>gar weiß), daß BSE e<strong>in</strong>e reale Gefahr für das Leben <strong>der</strong> Briten darstellt, se<strong>in</strong>e eigene Tochter(und sich selbst) e<strong>in</strong>em Ansteckungsrisiko aussetzen? – Wohl kaum! Diese affirmative +Message*ist es, die die <strong>Politik</strong> im Kontext von BSE mit solchen symbolischen Akten vermitteln will,die die Medien transportieren und die das Publikum aufnimmt.Und doch, letztendlich ist allen bewußt: Es handelt sich um e<strong>in</strong>e Inszenierung. Denn wiebereits dargelegt wurde, besteht im Bereich des öffentlichen Handelns e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere Aufrichtigkeitserwartungund damit e<strong>in</strong>e von vorne here<strong>in</strong> kritischere E<strong>in</strong>stellung des Publikums gegenüberden Darstellungen <strong>der</strong> Akteure als im Privatbereich (siehe S. 157ff.). Die sich <strong>in</strong>szenierende<strong>Politik</strong> hofft nun aber, daß ihr trotz dem bestehenden Bewußtse<strong>in</strong> für den Inszenierungscharakterihrer Aktionen geglaubt wird, da man – wohl nicht zu Unrecht – auf die +Macht <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>* 68vertraut. Die Medien lassen sich, <strong>in</strong>dem sie die Inszenierung ihrerseits <strong>in</strong> Szene setzen, <strong>in</strong>strumentalisieren,weil sie vom +Show-Effekt* <strong>der</strong> politischen Inszenierungen profitieren, und<strong>in</strong>strumentalisieren so im Gegenzug die <strong>Politik</strong> für ihre (kommerziellen) Interessen, welchesich schließlich <strong>in</strong> den öffentlichen politischen Inszenierungen an die Medien-Semantik anpaßt.


KAP. 4: DER FALL +BSE* 299Das Publikum, um dessen Gunst Medien und <strong>Politik</strong> – allerd<strong>in</strong>gs aus unterschiedlichen Motiven– werben, weiß, wie gesagt, um den Schauspielcharakter solcher Aktionen, sieht aber trotzdemgebannt zu und läßt sich unterhalten (manchmal sogar, dann allerd<strong>in</strong>gs eher auf unterschwelligerEbene, überzeugen).Beson<strong>der</strong>s, wenn – wie im oben beschriebenen Fall – e<strong>in</strong> Moment <strong>der</strong> Gefahr <strong>in</strong>s Spiel kommt,gew<strong>in</strong>nt das politische Spektakel an Reiz für das ansonsten von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> doch eher gelangweiltePublikum. Dieser Reiz <strong>der</strong> Gefahr wirkte denn wohl auch, um e<strong>in</strong> weiters Beispiel zu geben,als <strong>der</strong> (damalige) deutsche Umweltm<strong>in</strong>ister Klaus Töpfer 1988 durch den Rhe<strong>in</strong> schwamm,um dessen verbesserte Wasserqualität <strong>der</strong> Öffentlichkeit plastisch zur Schau zu stellen. 1985hatte Töpfer nämlich (zu dieser Zeit noch Umweltm<strong>in</strong>ister des Bundeslandes Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz)bekundet, er würde den stark schadstoffbelasteten Fluß im Verlauf se<strong>in</strong>er Amtszeit so wirksamsanieren, daß man bald wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihm baden könne, und er wolle selbst dafür den Beweisantreten. Er wagte das Risiko e<strong>in</strong>es Rhe<strong>in</strong>bades dann allerd<strong>in</strong>gs nur mit e<strong>in</strong>em Rettungsschwimmer-Tauchanzug,Taucherflossen und Badekappe ausgestattet. Und er versuchte denoffensichtlichen Schauspielcharakter dieser von den Medien begleiteten Aktion (<strong>der</strong> ebendurch se<strong>in</strong>e Offensichtlichkeit natürlich die Wirksamkeit <strong>der</strong> Inszenierung <strong>in</strong> Frage stellte)damit herunterzuspielen, daß er versicherte, er wolle den Rhe<strong>in</strong> mit se<strong>in</strong>er Durchschwimmungke<strong>in</strong>esfalls zum Badegewässer hochstilisieren. (Vgl. ausführlicher zu diesem Beispiel Meyer:Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s; S. 79ff.)Doch zurück zum Fall BSE: Das Moment <strong>der</strong> (drohenden) Gefahr ist hier kaum zu übersehen.Ist BSE durch Fleischverzehr und r<strong>in</strong><strong>der</strong>gewebshaltige Produkte auf den Menschen übertragbar?Und wenn ja: Wie viele Opfer s<strong>in</strong>d zu erwarten? Ist sogar e<strong>in</strong>e Ansteckung durch Bluttransfusionen(siehe auch Anmerkung 60) möglich? All das s<strong>in</strong>d im Zusammenhang von BSE <strong>der</strong>zeitbrennende Fragen. Trotzdem spielt das mögliche Gesundheitsrisiko durch die neuartige R<strong>in</strong><strong>der</strong>seucheim medialen öffentlichen Diskurs <strong>in</strong> Großbritannien nur e<strong>in</strong>e relativ untergeordneteRolle. Darauf hat <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Barbara Adam im Zusammenhang ihrer am Fall +BSE* dargelegtenÜberlegungen zum +mediatisierten Wissen* (siehe auch S. 296) h<strong>in</strong>gewiesen: Der wissenschaftlicheErkenntnisstand ist zwar noch äußerst unsicher. Die Mediensemantik verlangt allerd<strong>in</strong>gsnach berichtbaren +Fakten*. (Vgl. Timescapes of Mo<strong>der</strong>nity; S. 165ff.). 69Wahrsche<strong>in</strong>lich ist genau dies <strong>der</strong> Grund, warum sich die meisten britischen Medien aufden Versuch <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, sich mittels e<strong>in</strong>er Redef<strong>in</strong>ition des Problems aus <strong>der</strong> Affaire zu ziehen,


300 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEe<strong>in</strong>gelassen haben: E<strong>in</strong>e Gesundheitskrise wurde – um vom Gefährdungspotential durch BSEabzulenken – zu e<strong>in</strong>er (primär ökonomisch thematisierten) R<strong>in</strong><strong>der</strong>krise umdef<strong>in</strong>iert (vgl. ebd.;S. 184ff.). Denn die +hard news* ökonomischer Schadensrechnungen (und natürlich auchsymbolische Akte von <strong>Politik</strong>ern) lassen sich leichter mediengerecht aufbereiten als unsichere(und hoch komplexe) wissenschaftliche Aussagen über potentielle Risiken für Verbraucher.Trotzdem war und ist die Thematisierung von BSE <strong>in</strong> den Medien natürlich, wie dies für +Umweltkrisen*allgeme<strong>in</strong> gilt, durch e<strong>in</strong>e hybride Mischung von solchen +hard news* (also Faktenmit schnell verfallendem Aktualitätswert) und eher unspezifischen, dafür aber zeitlich nichtso limitierten +soft news* gekennzeichnet (vgl. ebd.; S. 169f.).Hierauf aufbauend kommt es allerd<strong>in</strong>gs im Kontext <strong>der</strong> BSE-Krise auch noch auf an<strong>der</strong>e Artund Weise zu e<strong>in</strong>er deflexiven Redef<strong>in</strong>ition, bei <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und Medien (symbiotisch) zusammenwirken:Das Problem BSE wird externalisiert und ersche<strong>in</strong>t dadurch nicht mehr selbsterzeugt,son<strong>der</strong>n vielmehr durch äußere E<strong>in</strong>flüsse verursacht. Die aktive Konstruktion e<strong>in</strong>es neuenProblems/Konfliktfeldes dient so zur Ablenkung von e<strong>in</strong>em bestehenden an<strong>der</strong>en und vielleichtbrennen<strong>der</strong>en Problem (vgl. auch Edelman: Construct<strong>in</strong>g the Political Spectacle; S. 27f.).Um <strong>der</strong>art e<strong>in</strong>e Entlastung zu erreichen, appellierte man <strong>in</strong> Großbritannien an nationalistischeGefühle, und versuchte, e<strong>in</strong>en äußeren Fe<strong>in</strong>d zu konstruieren.Prädest<strong>in</strong>iert für die Rolle des äußeren Fe<strong>in</strong>des ist <strong>in</strong> Großbritannien +traditionell* Europa,<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>ent (zu dem sich das britische Inselreich nicht zählt) und hier <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Deutschland,das sich als Fe<strong>in</strong>dfigur deshalb beson<strong>der</strong>s gut eignet, weil es Kriegsgegner im ZweitenWeltkrieg war, welcher für die Briten trotz ihres Stehens auf <strong>der</strong> Siegerseite auch das Endeihres kolonialen Empires (jedenfalls weiter Teile davon) mit sich brachte. Deshalb herrschen<strong>in</strong> Großbritannien noch immer ambivalente Gefühle, wenn an diesen Krieg gedacht wird,und es besteht offenbar e<strong>in</strong> latentes Verlangen, die Schlacht noch e<strong>in</strong>mal zu schlagen. Verstärktwird diese Tendenz dadurch, daß <strong>der</strong> Kriegsverlierer Deutschland nach dem Krieg Großbritannienwirtschaftlich überflügelte. Die deutsche Wi<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>igung im Jahr 1990 schließlich schürtezusätzlich die untergründige Furcht vor e<strong>in</strong>em neuen Großdeutschland, das <strong>in</strong> Kooperationmit Frankreich, dem an<strong>der</strong>en +Erzfe<strong>in</strong>d* <strong>der</strong> Briten,70e<strong>in</strong>e aus britischer Sicht zu starke Über-macht darstellt.Bei den Verhandlungen zur Handhabung <strong>der</strong> BSE-Krise mit <strong>der</strong> EU (die man als von Deutschlandund Frankreich dom<strong>in</strong>iert ansieht) bemühte die britische Presse denn auch ausgiebig die


KAP. 4: DER FALL +BSE* 301Kriegsmetapher. So titelte die +Daily Mail* mit <strong>der</strong> Schlagzeile, daß Major <strong>in</strong> den Krieg (gegenEuropa) ziehe, und auch die +Press Association* sprach von <strong>der</strong> Bildung e<strong>in</strong>es +Kriegskab<strong>in</strong>etts*(vgl. Kettle: Als wäre <strong>der</strong> Krieg ausgebrochen…). Selbst die altehrwürdige +Times* fragte: +Howcan we use beef to beat Kohl* (Ausgabe vom 24.5.1996). Intensiviert wurde dieses durchBSE angefachte anti-europäische und vor allem anti-deutsche Ressentiment noch durch denErfolg <strong>der</strong> deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei den Europameisterschaften <strong>in</strong> Englandvom Sommer 1996 – auch wenn viele Briten sich für die drastischen Töne des Boulevard-Blattes+Sun* schämten, das auffor<strong>der</strong>te +Let’s Blitz Fritz* (Haut die Deutschen weg!), und als +Service*se<strong>in</strong>en Lesern 20 Möglichkeiten aufzeigte, rüde zu den Deutschen zu se<strong>in</strong>.H<strong>in</strong>ter dieser +nationalistischen Hetze* <strong>in</strong> <strong>der</strong> britischen Presse steckte die Absicht von konservativgeprägten Verlagshäusern, <strong>der</strong> (damaligen) konservativen Regierung Schützenhilfe zu leisten,die bei <strong>der</strong> Bevölkerung immer unpopulärer wurde. Und auch die Blätter von +ausländischen*Medienmagnaten wie Rupert Murdoch (u.a. Besitzer <strong>der</strong> oben erwähnten Titel +Times* und+Sun*) stimmten unüberhörbar <strong>in</strong> diesen Tenor mit e<strong>in</strong>, da Murdoch aus wirtschaftlichen Motivenantieuropäische Ziele verfolgt. Manchmal wird sogar offen ausgesprochen, was sonst nurunter vorgehaltener Hand zugegeben wird. So äußerte <strong>der</strong> Cambridge-Historiker und KolumnistAndrew Roberts <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Sunday-Times*, daß wenn die antideutsche Stimmungsmache geholfenhabe, den Wi<strong>der</strong>stand gegen Europa zu stärken, sei dies e<strong>in</strong> +willkommener Nebeneffekt*gewesen. (Vgl. Krönig: Orgiastische Beschwörung nationaler Leidenschaft)Die auch <strong>in</strong> Großbritannien unter den Bed<strong>in</strong>gungen von Globalisierung und Individualisierungzu erodieren drohende nationale Identität sollte also nach dem Pr<strong>in</strong>zip +Inklusion durchExklusion*, d.h. mittels <strong>der</strong> Konstruktion e<strong>in</strong>es (äußeren) Gegners, stabilisiert werden. Dazukam die BSE-Krise gelegen, von <strong>der</strong>en <strong>in</strong>nenpolitischer Sprengkraft so gleichzeitig abgelenktwerden konnte. Diese Art <strong>der</strong> außenpolitischen Ablenkung von <strong>in</strong>nenpolitischen Problemenist übrigens ganz allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e sehr +beliebte* politische Deflexionsstrategie. E<strong>in</strong> partikularesInteresse (im Fall von BSE: die Interessen <strong>der</strong> britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>in</strong>dustrie sowie <strong>der</strong> Machterhalt<strong>der</strong> politischen Klasse <strong>in</strong> Großbritannien) wird zum nationalen Interesse erklärt (vgl. auchEdelman: <strong>Politik</strong> als Ritual; S. 72). +Auf diese Weise werden gegensätzliche Interessen undÄngste <strong>in</strong> <strong>der</strong> Innenpolitik nicht mehr als solche wahrgenommen; sie werden zu e<strong>in</strong>em außenpolitischenKonflikt umstilisiert* (ebd.; S. 73). Man <strong>in</strong>szenierte also durch die Redef<strong>in</strong>itionvon BSE zur R<strong>in</strong><strong>der</strong>krise e<strong>in</strong>en symbolischen Konflikt mit <strong>der</strong> EU und den Deutschen, um


302 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdie +diffuse* politische Masse e<strong>in</strong>erseits wie<strong>der</strong> zur Nation zu e<strong>in</strong>en (was auch größere Kontrolleüber sie verspricht), und um sie an<strong>der</strong>erseits als potentielle Quelle von politischem Protestgegen das verfehlte (an<strong>der</strong>erseits dramatisch übersteigerte) BSE-Krisenmanagement zu immobilisieren(vgl. auch ebd.; S. 83f.). 71Daß <strong>der</strong> +Fe<strong>in</strong>d* Europa als übermächtig <strong>in</strong> diesem Konflikt ersche<strong>in</strong>t, dient nur <strong>der</strong> Sache.Denn zur Konstruktion e<strong>in</strong>es Gegners und zur Schürung e<strong>in</strong>es Konflikts eignen sich, woraufUli Bielefeld verweist, nicht nur <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wenig konkrete allgeme<strong>in</strong>e Fe<strong>in</strong>d-Bil<strong>der</strong> (wiedies für +Europa* ohne Zweifel gilt), da nämlich, sobald <strong>der</strong> Fe<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles Gesichterhält, automatisch auch Ansatzpunkte zur Identifizierung gegeben s<strong>in</strong>d (vgl. Das Konzeptdes Fremden und die Wirklichkeit des Imag<strong>in</strong>ären; S. 103).72Der (ideale) Konfliktgegner sollteüberdies groß und mächtig wirken, weil er nur so Angst auszulösen vermag und damit dazudienen kann, dem (kollektiven) +Ich* die bestehende Ambivalenz zu nehmen, <strong>in</strong>dem dieeigene Furcht auf den konstruierten Gegner übertragen wird (vgl. ebd.; S. 104f.). Die Angst<strong>der</strong> Briten wird also nach außen projiziert und so verdrängt und abgewehrt. Die Sorge vor<strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung durch den übermächtigen Kont<strong>in</strong>ent ersetzt die (real viel bedrohlichere,doch gleichzeitig viel schwerer +bewältigbare*) Furcht vor dem Tod durch BSE.Die deflexive Projektion <strong>der</strong> Angst nach außen wird (im Innen) durch die symbolische Schaffungvon +Vertrauen* unterstützt. Als Beispiel kann hier wie<strong>der</strong>um die e<strong>in</strong>gangs karikierte Inszenierungdes britischen Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isters Gummer dienen, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Tochter demonstrativ <strong>in</strong>e<strong>in</strong>en Hamburger beißen ließ. E<strong>in</strong>en ähnlichen Effekt erzielen die ständigen Beteuerungen<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, daß ke<strong>in</strong>e Gefahr durch BSE gegeben sei (wenngleich diese natürlich weit weniger+spektakulär* s<strong>in</strong>d). Edelman spricht <strong>in</strong> solchen Fällen von <strong>in</strong>szeniertem Selbstbewußtse<strong>in</strong>sowie <strong>in</strong>szenierter Zuversicht und verweist darauf, daß speziell verängstigte Menschen gerneglauben, daß die politische Spitze (weil sie die politische Spitze ist), weiß, was sie tut, weshalbdas Publikum den (auch wissenschaftlich abgestützten) politischen Darstellungen von KompetenzGlauben schenkt (vgl. <strong>Politik</strong> als Ritual; S. 99). Die politischen Führung dient hier gewissermaßenselbst als +Zeichen* ihrer Kompetenz (vgl. auch <strong>der</strong>s.: Construct<strong>in</strong>g the Political Spectacle;Kap. 3) bzw. rekurriert auf Autoritäten, die nicht <strong>der</strong> Autorität des politischen Systems unterstelltersche<strong>in</strong>en.Das kann am Beispiel BSE nochmals konkret gemacht werden: BSE ist seit 1986, also se<strong>in</strong>er+offiziellen Geburtsstunde*, e<strong>in</strong> Thema für die Medien. Die Dynamik <strong>der</strong> Medien-Berichterstatt


KAP. 4: DER FALL +BSE* 303war und ist jedoch weitgehend losgelöst von <strong>der</strong> +objektiven* Entwicklung, verläuft sogarvielmehr quer zu ihr: Dies zeigt sich beson<strong>der</strong>s deutlich, wenn man die Intensität <strong>der</strong> Berichterstattung(gemessen an <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> zum Thema verfaßten Artikel) und die Entwicklung<strong>der</strong> BSE-Fallzahlen mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> vergleicht. Wie aus Abbildung 4 (S. 274) abzulesen ist, erfolgtezunächst es e<strong>in</strong> relativ rasches, kont<strong>in</strong>uierliches Hochschnellen <strong>der</strong> BSE-Fälle, wobei <strong>der</strong>Höhepunkt <strong>der</strong> Seuche mit 36.682 erkrankten Tieren auf 1992 fällt. Danach ist e<strong>in</strong> fast ebensoschnelles und kont<strong>in</strong>uierlich Abs<strong>in</strong>ken festzustellen, so daß <strong>der</strong>zeit nur mehr relativ wenigeFälle beobachtet werden können.Ganz an<strong>der</strong>s verlief die Medienberichterstattung: (Erster) Höhepunkt <strong>der</strong> Thematisierung vonBSE <strong>in</strong> den Medien war nach den von <strong>der</strong> +Glasgow Media Studies Group*73ermittelten Zahlene<strong>in</strong>deutig 1990. E<strong>in</strong> leichter Peak war auch 1994 festzustellen (als es aufgrund von wissenschaftlichenExperimenten deutliche Indizien für e<strong>in</strong>e Übertragbarkeit <strong>der</strong> Krankheit auf denMenschen gab), während es 1992, also dem Jahr <strong>der</strong> meisten toten Tiere, eher ruhig umdas Thema BSE war. 1996, das lei<strong>der</strong> nicht mehr von den schottischen Medien-Wissenschaftlernbei ihrer Auswertung erfaßt wurde, kam es dann, wie je<strong>der</strong> selbst nachvollziehen kann, ausgelöstdurch das E<strong>in</strong>geständnis <strong>der</strong> britischen Regierung, daß BSE auch für den Menschen e<strong>in</strong>e Gefahrdarstellen könnte, zu e<strong>in</strong>er wahren Inflation von Beiträgen.Was also auffällt, ist die Diskont<strong>in</strong>uität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Medienberichterstattung, die im Gegensatz zumeher kont<strong>in</strong>uierlichen An- und Abschwellen <strong>der</strong> BSE-Fälle steht. Diese Diskont<strong>in</strong>uität <strong>der</strong> Berichterstattungist <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie mit <strong>der</strong> schon oben mit Adam angesprochenen Ereignisfixierung<strong>der</strong> Medien zu erklären. Michael Burton und Trevor Young gelangen nun bei ihrer Untersuchungdes Mediene<strong>in</strong>flusses auf das Verbraucherverhalten im Kontext <strong>der</strong> BSE-Krise zu dem Ergebnis,daß sich e<strong>in</strong>e Korrelation <strong>der</strong> Konsumgewohnheiten mit <strong>der</strong> Intensität <strong>der</strong> Medienberichterstattungzeigt, wobei <strong>der</strong> kurzfristige negative Effekt auf den R<strong>in</strong>dfleischkonsum relativ groß ist, <strong>der</strong>erwartete langfristige Effekt allerd<strong>in</strong>gs etwas gemäßigter ausfällt (vgl. Measur<strong>in</strong>g Meat Consumers’Response to the Perceived Risks of BSE <strong>in</strong> Great Brita<strong>in</strong>). Die Diskont<strong>in</strong>uität und die Hysterie<strong>der</strong> Medienberichterstattung übersetzt sich damit, sollte sich diese Prognose als richtig erwiesen,im Verbraucherverhalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Kont<strong>in</strong>uität auf gesenkten Aufmerksamkeitsniveau.Ähnliches läßt sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach auch für die politischen Reaktionen auf den Mediendiskursaufzeigen. Denn die <strong>Politik</strong>er orientierten sich bei ihren Dr<strong>in</strong>glichkeitse<strong>in</strong>schätzungenoffenbar auch an <strong>der</strong> Intensität <strong>der</strong> Berichterstattung und entfalteten immer, wenn das Thema


304 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEim Zentrum <strong>der</strong> öffentlichen Aufmerksamkeit stand, hektische Aktivität. An<strong>der</strong>erseits +vergaß*die <strong>Politik</strong> das Problem auch nicht so schnell wie die ständig nach neuen Berichterstattungsthemensuchenden Medien, son<strong>der</strong>n bearbeitete es kont<strong>in</strong>uierlicher und traf sogar e<strong>in</strong>e begrenzteVorsorge.Die wichtigsten Anti-BSE-Maßnahmen <strong>der</strong> britischen Regierung fallen nämlich, wie sich bereitsaus den e<strong>in</strong>leitenden Bemerkungen ergibt, <strong>in</strong> den Zeitraum 1988 bis 1990 – erfolgten alsoschon etwas vor dem ersten Höhepunkt <strong>der</strong> Berichterstattung. An<strong>der</strong>erseits fällt <strong>der</strong> obenerwähnte +spektakuläre* Medienauftritt von Landwirtschaftsm<strong>in</strong>ister Gummer mit se<strong>in</strong>er Tochtergenau <strong>in</strong> die Zeit <strong>der</strong> ersten <strong>der</strong> großen Medienhysterie. Und bezeichnen<strong>der</strong>weise wurde<strong>der</strong> <strong>in</strong> Abstimmung mit <strong>der</strong> EU erarbeitete Tötungsplan für die britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong> 1996beschlossen. Als die öffentliche Aufmerksamkeit beson<strong>der</strong>s groß war (und zusätzlich äußererDruck ausgeübt wurde), wurde also +dramatisch* gehandelt. Die +Objektivität* wissenschaftlicherErkenntnisse, die wie<strong>der</strong>um die öffentliche Dynamik mit angefacht hat, kann nicht als primäreErklärung für die Drastik des politischen Krisenmanagements dienen, da es warnende Stimmenaus <strong>der</strong> Wissenschaft schon zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Krise gegeben hatte und die wichtigsten wissenschaftlichenErgebnisse, die für die öffentliche Aufregung mit verantwortlich waren, <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>(durch ihre Berater und eigene Auftragsforschungen) auch meist schon früher bekannt warenals <strong>der</strong> (Medien-)Öffentlichkeit.4.5 KULTURELLE UND SOZIALSTRUKTURELLE ASPEKTE DES BSE-DRAMASIch habe bereits <strong>in</strong> Abschnitt 4.1 dargelegt, daß die R<strong>in</strong><strong>der</strong>haltung lange Zeit e<strong>in</strong> zentralerAspekt <strong>der</strong> Ökonomie war – und deshalb ebenso e<strong>in</strong>e hohe kulturell-symbolische Bedeutunghatte und hat. Insbeson<strong>der</strong>e Indien diente mir hier als Beispiel (siehe S. 282f.). Doch auchdas imperiale +Mutterland* dieser ehemaligen britischen Kronkolonie ist zutiefst von <strong>der</strong> +R<strong>in</strong><strong>der</strong>kultur*geprägt, und nicht zufällig werden die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> königlichen Wache +Beefeaters*genannt. Diese Bezeichnung verweist auf ihre herausgehobene Stellung, die ihnen (ehemals)das begehrte +Privileg* des Konsums von R<strong>in</strong>dfleisch e<strong>in</strong>räumte.Schon <strong>in</strong> keltischer Zeit hatte das R<strong>in</strong>d und se<strong>in</strong> Fleisch nämlich e<strong>in</strong>e zentrale (ökonomischewie kulturelle) Bedeutung <strong>in</strong> Britannien. Jeremy Rifk<strong>in</strong>, auf den ich mich im folgendenhauptsächlich beziehen möchte, bemerkt: +The English were the great beef eaters of Europe*


KAP. 4: DER FALL +BSE* 305(Beyond Beef; S. 52).74So blieb es auch während <strong>der</strong> römischen Besatzung <strong>der</strong> britischenInsel und bis weit <strong>in</strong> die Gegenwart h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Es ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung zu machen:Auf dem täglichen Speiseplan fand sich R<strong>in</strong>d <strong>in</strong> früherer Zeit lediglich bei den Angehörigen<strong>der</strong> Adelsschicht, die es beson<strong>der</strong>s schätzte, weil se<strong>in</strong> Verzehr gemäß den damaligen VorstellungenMännlichkeit und Stärke zu geben versprach. Doch selbst noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeitwaren Ansichten wie die folgende durchaus verbreitet: +You f<strong>in</strong>d more courage among thosewho eat their fill of flesh than among those who make shift with lighter foods.* (Zitiert nachebd.; S. 53)Aufgrund solcher, tief im +kollektiven Bewußtse<strong>in</strong>* verankerter Vorstellungen konsumierteman beson<strong>der</strong>s im mittelalterlichen England wahre Unmengen R<strong>in</strong>dfleisch und demonstrierteso auch se<strong>in</strong>en sozialen Rang und se<strong>in</strong>en Wohlstand (vgl. auch Montanari: The Culture ofFood; S. 75). König Edward II. hatte sich 1283 gar genötigt gesehen, die Zahl <strong>der</strong> zulässigenFleischgänge (je nach Stand) zu regeln. Die Masse <strong>der</strong> Armen war jedoch, wie schon obenangemerkt, ohneh<strong>in</strong> alle<strong>in</strong>e durch ihre mangelnden f<strong>in</strong>anziellen Möglichkeiten vom karnivoren+R<strong>in</strong><strong>der</strong>kult* ausgeschlossen. So mußte man auf das (billigere) +white meat* ausweichen:Milchprodukte wie Käse und Butter (aber auch Geflügelfleisch). Erst Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>tskonnten sich durch die allgeme<strong>in</strong>e Wohlstandssteigerung auch Arbeiterfamilien immer häufigerR<strong>in</strong>dfleisch leisten. Diese (allerd<strong>in</strong>gs schon früher e<strong>in</strong>setzende) Ausweitung des R<strong>in</strong>dfleischkonsumsmachte es selbstverständlich notwendig, auch die R<strong>in</strong><strong>der</strong>haltung auszudehnen, umdie Nachfrage zu befriedigen. Doch da die Weideflächen begrenzt waren, mußte immermehr R<strong>in</strong>d aus Schottland und Irland e<strong>in</strong>geführt werden. Später kam diese Rolle als Fleischlieferantenzu e<strong>in</strong>em großen Anteil den (ehemaligen) Überseekolonien USA, Australien undNeuseeland zu. (Vgl. Beyond Beef; S. 54f.)Der +ökonomische Fahrstuhleffekt* führte also, wie <strong>in</strong> Anlehnung an Beck formuliert werdenkann, zunächst zu e<strong>in</strong>er Angleichung <strong>der</strong> Konsumgewohnheiten, und zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form e<strong>in</strong>erÜbernahme von Ernährungsgewohnheiten aus <strong>der</strong> Adelsschicht. Zunächst griff die ausgeprägteVorliebe für R<strong>in</strong>dfleisch auf bürgerliche Kreise über, später wollte selbst die +Unterklasse*nicht auf ihr tägliches Stück R<strong>in</strong>d verzichten. Um diese, ganz dem +klassischen* Zivilisations-Modell von Elias entsprechende egalisierende vertikale Diffusion und Expansion <strong>der</strong> adligenErnährungsmuster nach unten zu erklären (siehe zu Elias auch S. XXXV), genügt es jedochnicht, alle<strong>in</strong>e auf den +Fahrstuhleffekt* h<strong>in</strong>zuweisen. Die bloße Tatsache, daß man sich R<strong>in</strong>d-


306 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEfleisch leisten konnte, macht nämlich noch nicht verständlich, daß man es sich tatsächlichleistete. Was mochten also die Gründe für das <strong>in</strong> Großbritannien so ausgeprägte Verlangennach +red meat* se<strong>in</strong>? – Zum e<strong>in</strong>en versuchte man sicher, die Konsumptionsgewohnheiten<strong>der</strong> jeweils +höheren* Schicht zu imitieren, um sich ihr damit (symbolisch) gleichzustellen.Untergründig wirkte aber sicher auch noch jene oben angesprochene +Mythologie* weiter,die den Verzehr von R<strong>in</strong>dfleisch mit Männlichkeit und Stärke <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung brachte. DieAusgebeuteten konnten sich durch den Konsum von R<strong>in</strong>dfleisch also wenigstens an <strong>der</strong>heimischen +Tafel* mächtig und stark und <strong>der</strong> herrschenden Schicht ebenbürtig fühlen – obwohlnatürlich +Die fe<strong>in</strong>en Unterschiede* (Bourdieu 1979)75auch <strong>in</strong> Großbritannien bestehen bliebenund von <strong>der</strong> +leisure class* selbverständlich zwischenzeitlich längst an<strong>der</strong>e Formen des +demonstrativenKonsums* (Veblen)gefunden wurden.76 77Betrachtet man diese (e<strong>in</strong>geschränkte) +Demokratisierung* <strong>der</strong> Ernährungsmuster im Kontextvon BSE, so zeigt sich, daß mit ihr entsprechend auch e<strong>in</strong>e <strong>fatal</strong>e +Demokratisierung* desdurch BSE erzeugten Risikos bewirkt wurde. Ulrich Beck spricht sogar ganz allgeme<strong>in</strong> davon,daß (Zivilisations-)Risiken +demokratischen* Charakter haben, <strong>in</strong>dem er auf die territorialeund soziale Grenzen ignorierende Gefährdungsdimension <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Risiken verweist(vgl. Risikogesellschaft; S 46ff.). Dem kann man nun entgegnen, daß materielle Ressourcenzum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e bedeutende Abmil<strong>der</strong>ung von Gefährdungslagen erlauben und auch Territoriendurch materiellen Aufwand von bestimmten Risiken abgeschirmt werden können. Denn selbstwenn – wie Beck betont – alle sozialen Schichten an <strong>der</strong>selben Wasserleitung hängen, sokönnen sich nicht alle, falls das Wasser aus dieser Leitung von ungenügen<strong>der</strong> Qualität ist,e<strong>in</strong> Ausweichen auf teures M<strong>in</strong>eralwasser leisten. Und selbst wenn alle Meeresanra<strong>in</strong>erstaatenvon e<strong>in</strong>er zu erwartenden Erhöhung des Meeresspiegels <strong>in</strong>folge anthropogener Klimaverän<strong>der</strong>ungengleichmäßig betroffen se<strong>in</strong> sollten (was allerd<strong>in</strong>gs unwahrsche<strong>in</strong>lich ist), so könntensich e<strong>in</strong>ige Staaten aufgrund ihres technischen und f<strong>in</strong>anziellen Potentials (wahrsche<strong>in</strong>lich)mit umfangreichen E<strong>in</strong>deichungsmaßnahmen schützen. Aber so wichtig diese kritischenRelativierungen se<strong>in</strong> mögen – im Kontext von BSE liegen die Verhältnisse ohneh<strong>in</strong> etwas an<strong>der</strong>s:Zunächst muß e<strong>in</strong> genaueres und aktualisiertes Bild <strong>der</strong> Ernährungsgewohnheiten als bishergezeichnet werden. Denn die oben herausgestellte Nivellierung ist immer mehr e<strong>in</strong>er erneutenDifferenzierung gewichen. R<strong>in</strong>d spielt heute für die Ernährung <strong>in</strong> Großbritannien ke<strong>in</strong>e sozentrale Rolle wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit und hat nur noch e<strong>in</strong>en Anteil von 25–30% am


KAP. 4: DER FALL +BSE* 307verkauften Fleisch. Das ist auch e<strong>in</strong>e Folge <strong>der</strong> BSE-Krise (vgl. nochmals Burton/Young: Measur<strong>in</strong>gMeat Consumers’ Response to the Perceived Risks of BSE <strong>in</strong> Great Brita<strong>in</strong>), hat aber zusätzlichan<strong>der</strong>e Gründe: So wird aus Gesundheitserwägungen z.B. mittlerweile von vielen Verbraucherndas, ehemals als m<strong>in</strong><strong>der</strong>wertig erachtete, (fettärmere) Geflügelfleisch vorgezogen. Auch dieVarianz des täglichen Speiseplans hat sich – vor allem mit <strong>der</strong> Globalisierung bzw. Internationalisierung<strong>der</strong> Küche (durch Reisen und den Zuzug von Personen aus den ehemaligenKolonien etc.) – allgeme<strong>in</strong> erhöht, was als Nebeneffekt dazu führte, daß das R<strong>in</strong>dfleischzunehmend durch an<strong>der</strong>en Sorten ergänzt und verdrängt wird. E<strong>in</strong>e steigende Zahl vonVerbrauchern verzichtet aus den unterschiedlichsten Motiven (religiöse Vorschriften, ethischeBedenken gegen das Töten von Tieren, ernährungsphysiologische Gründe etc.) ganz aufFleischkonsum (vgl. auch Massimo: The Culture Food; S. 165ff.).Mit dieser erneuten (allerd<strong>in</strong>gs eher diffusen als dist<strong>in</strong>kten) Differenzierung ist auch das BSE-Risiko(sozial bzw. nach Konsum- und Lebensstilen) differenziert: Nicht alle s<strong>in</strong>d gleichermaßenvon <strong>der</strong> durch BSE vermutlich ausgehenden Gefahr betroffen, denn je weniger (britisches)R<strong>in</strong>dfleisch jemand konsumiert (hat), desto ger<strong>in</strong>ger ist wahrsche<strong>in</strong>lich das Risiko an <strong>der</strong> durchBSE ausgelösten Variante von CJK zu erkranken. E<strong>in</strong>en totalen Ausschluß dieses Risikos gibtes jedoch nicht. Selbst wer als Vegetarier lebt o<strong>der</strong> me<strong>in</strong>t, er könne sich dadurch schützen,daß er sich (außerhalb Großbritanniens) nur auf dem lokalen Markt versorgt, hat sich vermutlichgetäuscht. Das R<strong>in</strong>d selbst ist nämlich zu e<strong>in</strong>er globalen und diffusen Handelsware geworden.So s<strong>in</strong>d R<strong>in</strong><strong>der</strong>bestandteile <strong>in</strong> Produkten enthalten, wo sie nicht e<strong>in</strong>mal vermutet werden(z.B. <strong>in</strong> Kosmetika, Medikamenten o<strong>der</strong> Süßwaren). Es ist damit e<strong>in</strong>e schleichende +bov<strong>in</strong>eDurchdr<strong>in</strong>gung* <strong>der</strong> Warensphäre auf e<strong>in</strong>em unterschwelligen Niveau gegeben.78Und <strong>der</strong>+Rohstoff* R<strong>in</strong>d wird, wie die aus ihm hergestellten Produkte, zunehmend <strong>in</strong>ternational gehandelt(siehe auch Abschnitt 4.1), wenngleich trotzdem natürlich britische Verbraucher noch immerdie primären Abnehmer für britisches R<strong>in</strong>dfleisch und <strong>der</strong>ivate Produkte s<strong>in</strong>d. Es besteht alsoim Fall von BSE e<strong>in</strong>erseits tatsächlich e<strong>in</strong>e Globalisierung und soziale Entgrenzung des Risikos– allerd<strong>in</strong>gs durchaus mit gewissen Abstufungen, was die Dimension anbelangt.Die nationale +Stufung* des BSE-Risikos ist dabei sozusagen die +materielle Basis* für dieim vorangegangenen Abschnitt dargestellten Versuche <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, im Zusammenspiel mit<strong>der</strong> Presse e<strong>in</strong>erseits die nationale britische Identität zu stärken und gleichzeitig von <strong>der</strong>möglichen Gesundheitsbedrohung durch BSE abzulenken. Gerade weil BSE aus <strong>der</strong> Sicht


308 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>der</strong> überwiegenden Mehrheit e<strong>in</strong>e +objektive* Gefahrenkomponente be<strong>in</strong>haltet, war e<strong>in</strong>egewisse Bereitschaft vorhanden, sich auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>enden Grundlage <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>samen Gefährdung,<strong>der</strong> risikologisch wie<strong>der</strong>hergestellten +Schicksalsgeme<strong>in</strong>schaft*, als nationale E<strong>in</strong>heit zu betrachtenund im selben Moment diese wahrgenommene Bedrohung zu verdängen und zu externalisieren,<strong>in</strong>dem man sich auf das durch die Medienberichterstattung unterstütze Interpretationsangebot<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>ließ, BSE als handelspolitischen Konfliktfall mit <strong>der</strong> EU und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>eDeutschland zu betrachten. E<strong>in</strong>e Strategie, die jedoch (wie sich u.a. an <strong>der</strong> Ablösung <strong>der</strong>konservativen Regierung durch den Wahlsieg von +New Labour* 1997 zeigt) nur begrenztaufg<strong>in</strong>g und durch die angesprochenen (diffusen) <strong>in</strong>nerbritischen Differenzierungen <strong>der</strong> KonsumundLebensstile zudem von vorne here<strong>in</strong> fraglich war.Freilich beruhte <strong>der</strong> gleichzeitig deflexive und +konstruktive* Umgang <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> mit demThema +BSE* nicht nur auf <strong>der</strong> +Objektivität* <strong>der</strong> wahrgenommenen Gefährdung, son<strong>der</strong>nauch auf <strong>der</strong> zu Beg<strong>in</strong>n dieses Abschnitts herausgestellten Mächtigkeit <strong>der</strong> kulturellen Symbolikdes R<strong>in</strong>ds und se<strong>in</strong>es Fleisches <strong>in</strong> Großbritannien: Wer Brite ist, ißt R<strong>in</strong>dfleisch, denn nurwer +me<strong>in</strong>* Fleisch ißt, ist von me<strong>in</strong>em +Fleisch* – +British Beef* als Zeichen <strong>der</strong> britischenNation und <strong>der</strong> (ritualisierte) Biß <strong>in</strong> den +Beef Burger* als Akt <strong>der</strong> Kommunion. Doch auch<strong>in</strong> diesem Punkt zeigt sich das <strong>in</strong> Abschnitt 3.5 theoretisch herausgearbeitete politische Dilemma<strong>der</strong> Individualisierung: Die Nation hat sich nicht nur sozialstrukturell <strong>in</strong>dividualisiert, son<strong>der</strong>nauch die <strong>in</strong>dividuellen wie geme<strong>in</strong>schaftlichen Symbolwelten und Wertvorstellungen habensich mit den Individualisierungsprozessen gewandelt und differenziert. So konnte die britischeRegierung bei ihrem (sei es bewußten o<strong>der</strong> unbewußten) Rekurs auf die archaischen Symbolweltendes +R<strong>in</strong><strong>der</strong>kults* nicht mehr jene (kulturelle) E<strong>in</strong>heit voraussetzen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong>Vergangenheit weitgehend gegeben war.Doch damit genug zum Fall +BSE*. Denn auch wenn es zweifellos noch e<strong>in</strong>e ganze Reiheweiterer sozialstruktureller und kultureller Aspekte des BSE-Dramas gibt und zu den an<strong>der</strong>enAbschnitten dieses Kapitel sicher ebenso noch viele Ergänzungen zu machen wären – diedilemmatische Situation +klassischer* <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> globalen Risikogesellschaft ist me<strong>in</strong>es Erachtensbereits anhand <strong>der</strong> erfolgten Ausführungen e<strong>in</strong>igermaßen plastisch geworden, und damit ist<strong>der</strong> +Zweck* dieses Fallbeispiels erfüllt. Vielversprechen<strong>der</strong> als e<strong>in</strong>e weitere Vertiefung <strong>der</strong>Analyse <strong>der</strong> politischen +Verstrickungen* im Kontext von BSE ersche<strong>in</strong>t an dieser Stelle e<strong>in</strong>e


KAP. 4: DER FALL +BSE* 309Klärung <strong>der</strong> Frage, warum die gegenwärtige Situation e<strong>in</strong>en <strong>der</strong>art dilemmatischen Charakterangenommen hat. Zu ihrer Aufhellung soll die im folgenden abschließenden Kapitel beabsichtigte(meta)theoretische Erörterung beitragen. Dabei wird me<strong>in</strong> Hauptaugenmerk (ausgehend vone<strong>in</strong>er dialektischen Re-Interpretation des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses) auf dem <strong>in</strong> den vorangegangenenKapiteln nur angedeuteten dialektischen Zusammenhang von Reflexion undDeflexion liegen.


5 REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSIONDES POLITISCHEN+Ich zeichne mit me<strong>in</strong>en Wortene<strong>in</strong>en Käfig um denSchrecken, bis <strong>der</strong> nächsteSchrecken auf mich zukommtund mich zerfleischen will.Bevor er zum tödlichen Biß <strong>in</strong>me<strong>in</strong>er Gurgel ansetzen kann,werfe ich das Netz me<strong>in</strong>erSprache aus. Ist aber e<strong>in</strong>mal<strong>der</strong> Schrecken schneller als dieSprache, so b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong>e Zeitlangvollkommen gelähmt, bisich entschlüpfe und, michversteckend vor <strong>der</strong> Welt, ane<strong>in</strong>em neuen Sprachnetzknüpfe, das ich bei <strong>der</strong> nächstenGelegenheit dem Schrekkenüber den Kopf werfe.*Josef W<strong>in</strong>kler


312 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE5 REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSIONDES POLITISCHENNachdem nunmehr das Mosaik <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* aus den Versatzstücken<strong>der</strong> fragmentisierten Diskurse gebildet wurde, die Praktiken und Taktiken erforscht, <strong>in</strong> ihrenWi<strong>der</strong>sprüchlichkeiten rekonstruiert wie dekonstruiert wurden und mit dem Fall +BSE* zurSichtbarmachung <strong>der</strong> Dilemmata und untergründigen Querverb<strong>in</strong>dungen auch <strong>in</strong> den +Nie<strong>der</strong>ungen*<strong>der</strong> Mikropolitik gewühlt wurde, ist e<strong>in</strong>e erneute Entfernung, e<strong>in</strong> Schritt zurück, angebracht,so daß sich das +po<strong>in</strong>tilistische* Gemälde – möglicherweise – zu e<strong>in</strong>em Gesamtbildzusammenfügt. Aus <strong>der</strong> Distanz erkennt man: Es gibt Lücken <strong>in</strong> diesem Mosaik. Vieles istnoch im Unklaren. Der weite Bogen, <strong>der</strong> um die <strong>Politik</strong> geschlagen wurde, hat sich also nichtzu e<strong>in</strong>em +offenbarenden* Zirkel geschlossen, die langsame Annäherung und E<strong>in</strong>kreisung,die vorgenommen wurde, hat noch nicht zu e<strong>in</strong>er Herausschälung des (nebulösen) +Kerns*geführt.Doch trotz <strong>der</strong> Lücken kann man bereits erahnen, was dieses Bild darstellt, und so ist esmöglich, aus <strong>der</strong> Entfernung nunmehr die Szenerie +imag<strong>in</strong>är* zu vervollständigen. Was durchdie +Mikroskopie* <strong>der</strong> – primär textbezogenen – +Empirie*, durch das Nachspüren <strong>der</strong> Verzweigungen<strong>der</strong> Diskurse, nicht möglich war, soll deshalb nun im +Weitblick* <strong>der</strong> Theorie kompensiertwerden. Der metatheoretische Entwurf, <strong>der</strong> hier im folgenden gezeichnet werden wird, istallerd<strong>in</strong>gs se<strong>in</strong>em Charakter nach ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>em Totalisierungsstreben verfallene wissenschaftlicheMetaerzählung, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e +partikulare*, subjektiv gefärbte Folie <strong>der</strong> Interpretation. Es wirddeshalb von mir ke<strong>in</strong>e (ohneh<strong>in</strong> unmögliche) +Objektivität* und (ohneh<strong>in</strong> unbestimmbare)+Wahrheit* dieses Entwurfs behauptet. Vielmehr wird im <strong>in</strong>terpretativen +Übergriff* <strong>der</strong> Theorie,die sich um e<strong>in</strong>e deutende +Begründung* bemüht, nur e<strong>in</strong> Puzzle, e<strong>in</strong>e Gedanken-Collagekomplettiert, die auch an<strong>der</strong>s zu Ende gedacht werden könnte.Am Anfang dieser +Collage* stand die Beschäftigung mit <strong>der</strong> Etymologie und praktischen Semantikdes Begriffs +<strong>Politik</strong>*, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Wandlungen nicht nur entlang e<strong>in</strong>er Zeit-, son<strong>der</strong>nauch entlang e<strong>in</strong>er sozial-politischen Raumachse +codiert*. Historisch wurden die Brüche


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 313und Umbrüche <strong>der</strong> politischen Begrifflichkeit(en) und Faktizität von <strong>der</strong> Antike bis <strong>in</strong> die+postmo<strong>der</strong>ne* Gegenwart verfolgt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> immer vehementer h<strong>in</strong>terfragt wird, was langeZeit den Horizont von <strong>Politik</strong> prägte: nämlich die neuzeitliche Trennung <strong>der</strong> politischen von<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en sozialen Sphäre, wobei diese +Abspaltung* mit e<strong>in</strong>er säkularisierten Heilserwartungund <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>em +Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>g. Ausdruck und+materielle Hülle* jenes verselbständigten <strong>Politik</strong>verständnisses war <strong>der</strong> Nationalstaat, und<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Rahmen formierten sich auch die +klassischen* politischen Lager, die bis an dieGrenze <strong>der</strong> Gegenwart die quas<strong>in</strong>atürliche Raumachse <strong>der</strong> politischen Codierung bildeten.Nun aber lösen sich diese Lager, gleichzeitig mit dem (national)staatlichen Gehäuse, zunehmendauf, und das Politische wird – praktisch wie <strong>in</strong> den +vorausschauenden* theoretischen Projektionen– wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Lebenswelt(en) +zurückgeworfen*. Genau damit nähern sich die politischenKonzepte <strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*, die den Rahmen des etablierten politischen Systems und desimmer noch dom<strong>in</strong>anten nationalstaatlichen politischen Denkens sprengen, wie<strong>der</strong> an das+umfassende* <strong>Politik</strong>verständnis <strong>der</strong> Antike an, das noch nicht, wie das politische Denken<strong>der</strong> Neuzeit, von e<strong>in</strong>er Trennung <strong>der</strong> Sphären von Staat und Gesellschaft ausg<strong>in</strong>g. Wo allerd<strong>in</strong>gsnicht e<strong>in</strong>e bloße Rückwärtsbewegung beschrieben wird, f<strong>in</strong>det, wie ausgeführt, e<strong>in</strong> +transformativesRecycl<strong>in</strong>g* statt: An<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit besteht heute die relativierende Vorstellunge<strong>in</strong>es kont<strong>in</strong>genten, d.h. von immer größeren Möglichkeitsräumen erfüllten sozialen Se<strong>in</strong>s,das ke<strong>in</strong>e festgefügten Ordnungen kennt.Warum kommt es jedoch ausgerechnet heute zu e<strong>in</strong>er solchen Umorientierung? – Der Schlüsselzur Beantwortung dieser Frage wurde von mir <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen +Umwelt* und ihren Wandlungenverortet. Deshalb wurde nach den im ersten Kapitel erfolgten Grundierungsarbeitenim zweiten Kapitel den gegenwärtig stattf<strong>in</strong>denden sozialen Transformationsprozessen nachgegangen.Die dort zu Beg<strong>in</strong>n aufgestellte These e<strong>in</strong>er +Dialektik von sozio-ökonomischem Wandelund politischer Statik* zeigte sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rekonstruktion <strong>der</strong> auch mit empirischem Material+untermauerten* Diskursbestände allerd<strong>in</strong>gs als nur bed<strong>in</strong>gt zutreffend. In e<strong>in</strong>igen Bereichenergab sich zwar im Zuge <strong>der</strong> näheren Ausmalung tatsächlich das Bild e<strong>in</strong>er im politischenSystem weitgehend ungespiegelten Dynamik, aber es wurden auch Prozesse <strong>der</strong> +Ko-Evolution*deutlich. Die <strong>Politik</strong> kann aufgrund dieser Ko-Evolution im Zusammenspiel mit an<strong>der</strong>en +Teilsystemen*ihr statisches Gleichgewicht trotz untergraben<strong>der</strong> Wandlungsprozesse aufrecht erhaltenund besitzt mächtige Ressourcen für die Abwehr reflexiver Herausfor<strong>der</strong>ungen.


314 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDoch das bedeutet ke<strong>in</strong>eswegs, daß die Situation für die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> nicht +prekär*wäre, wie die genauere Betrachtung des Vorgezeichneten im dritten Kapitel zeigte: WoTransformationsprozesse stattf<strong>in</strong>den (die me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung nach am deutlichsten <strong>in</strong> denBereichen Wirtschaft und Kultur und Sozialstruktur zutage treten), droht die <strong>Politik</strong> den Anschlußan die +Wirklichkeit*, d.h. ihre Umwelten, zu verlieren. Und selbst dort, wo (wie im Bereichdes Rechts) e<strong>in</strong>e ausgeprägte Ko-Evolution mit <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> zu beobachten ist, könnte paradoxerweiseausgerechnet dieses +Zusammenspiel* die Stabilität gefährden, <strong>in</strong>dem man sichnicht nur gegenseitig stützt, son<strong>der</strong>n auch blockiert. Wo e<strong>in</strong>e Gleichzeitigkeit von Wandelund Ko-Evolution gegeben ist (die Bereiche Wissenschaft/Technik und Medien können hierals Beispiele dienen), ergibt sich für die <strong>Politik</strong> sogar e<strong>in</strong>e doppelt wi<strong>der</strong>sprüchliche Situation,da mit den Wandlungsprozessen neue Herausfor<strong>der</strong>ungen auftauchen, während sich dieProbleme <strong>der</strong> Ko-Evolution an<strong>der</strong>erseits tendenziell zuspitzen. All das sollte im vorangegangenenvierten Kapitel mit dem Fallbeispiel +BSE* plastisch veranschaulicht werden.Nur: Wie hängen die e<strong>in</strong>zelnen (Auflösungs-)Prozesse zusammen? Und wie erklärt sich dieWi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> entfalteten Entwicklung? Um hierauf me<strong>in</strong>e partikularen, aber aufdas +Ganze* zielenden Antworten zu geben, werde ich zu den Themenkreisen des Prologszurückschreiten, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>leitend nach den (autopoietischen) Differenzen und Überschneidungenvon +Mo<strong>der</strong>ne* und +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* fragte. E<strong>in</strong>e zyklische Vorgehensweise vermag im Kontextdieser Fragestellungen nämlich vielleicht am ehesten aus dem +reflexiven Spiegelkab<strong>in</strong>ett*<strong>der</strong> Gegenwart zu führen. Denn die Gründe für die Ant<strong>in</strong>omien und Aporien <strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*,die e<strong>in</strong>e radikalisierte, reflexive und sich <strong>in</strong> ihrer Reflexivität gleichzeitig verspiegelnde Mo<strong>der</strong>neist, können me<strong>in</strong>es Erachtens <strong>in</strong> <strong>der</strong> (Selbst-)Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung lokalisiertwerden. Und um diese Wi<strong>der</strong>sprüche und (deflexiven) Verspiegelungen zu (ent)spiegeln,ist es notwendig, die wahrgenommene Dynamik auf den Ausgangspunkt <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>ne (rück) zu beziehen. Für dieses Vorhaben ist e<strong>in</strong>e radikal dialektische, d.h. ke<strong>in</strong>edialektische Synthese mehr anstrebende Betrachtung des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses die vielversprechendstetheoretische +Option*, weil sie im (dekonstruktiven) Aufzeigen <strong>der</strong> Dialektikdie Gegensätze <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne nicht nur erfaßt, son<strong>der</strong>n entwickelt und +freisetzt* (sieheauch S. 413ff.). Auf diese Weise wird, im Bewußtse<strong>in</strong> und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entfaltung des Wi<strong>der</strong>sprüchlichen,<strong>der</strong> Differenz – und damit auch dem Wi<strong>der</strong>spruch – ihr Raum gegeben. Demgemäßwäre e<strong>in</strong>e kritische und dialektische Erweiterung <strong>der</strong> Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, so


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 315wie sich <strong>der</strong>zeit darstellt, anzustreben, und die zu leistende +kreative* Aufgabe ist <strong>der</strong> – hierallerd<strong>in</strong>gs nur auf e<strong>in</strong>e erste Skizze beschränkte – Entwurf e<strong>in</strong>er kritisch-dialektischen Theoriereflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung.E<strong>in</strong>e solche kritisch-dialektische Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung schließt für mich notwendigan das <strong>in</strong> den 30er Jahren von Max Horkheimer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Traditionelle und kritischeTheorie* formulierte Projekt e<strong>in</strong>er kritischen Gesellschaftstheorie an – überschreitet es jedochzugleich. Mit Horkheimer teile ich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> Anbetracht <strong>der</strong> sich tendenziell immermehr <strong>in</strong> abgetrennte E<strong>in</strong>zelfragestellungen verzettelnden Sozialwissenschaft <strong>der</strong> Gegenwartdie Auffassung, daß +zu e<strong>in</strong>er Konzeption übergegangen werden [muß], <strong>in</strong> <strong>der</strong> die E<strong>in</strong>seitigkeit,welche durch die Abhebung <strong>in</strong>tellektueller Teilvorgänge von <strong>der</strong> gesamtgesellschaftlichenPraxis notwendig entsteht, wie<strong>der</strong> aufgehoben wird* (S. 216). Für Horkheimer ist es dabeiaber durchaus erfor<strong>der</strong>lich – und auch hier<strong>in</strong> stimme ich mit ihm übere<strong>in</strong> –, sich auf konkretesoziale +Realität* zu beziehen: +Das kritische Denken […] hat […] bewußt e<strong>in</strong> bestimmtesIndividuum <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en wirklichen Beziehungen […] zum Subjekt.* (ebd.; S. 227) und ist –<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n – e<strong>in</strong> +e<strong>in</strong>ziges entfaltetes Existentialurteil* (ebd.; S. 244).Der Anspruch auf e<strong>in</strong>e +umfassende* (historische) Urteilsfähigkeit, <strong>der</strong> damit gleichzeitig erhobenwird, ersche<strong>in</strong>t mir aber nicht nur wissenschaftstheoretisch unhaltbar, son<strong>der</strong>n vielmehr darüberh<strong>in</strong>aus gerade für das formulierte kritische Projekt, das schließlich e<strong>in</strong>e Transzendierung <strong>der</strong>bestehenden Verhältnisse/Wahrheiten anstrebt, kontraproduktiv. Denn <strong>in</strong> dem von Horkheimerimplizit vertretenen (objektiven) Wahrheitsanspruch ist die +traditionelle* Kritische Theorieunkritisch und – ungewollt – Teil jener von ihr selbst angegriffenen wissenschaftlichen Metaerzählung,die mit ihrer ausschließenden Objektivität und ihrer verabsolutierten Vernunftdie Imag<strong>in</strong>ations- und Möglichkeitsräume <strong>der</strong> sozialen Subjekte absperrt. 1(Bewußte) S<strong>in</strong>gularität, die an<strong>der</strong>erseits den Bezug auf den sozialen Zusammenhang bewahrt,muß deshalb Objektivität und Universalität als Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Theorie ersetzen. Dabei ist es,um es nochmals zu betonen, gerade für die Praxis e<strong>in</strong>er +kritischen* Wissenschaft unabd<strong>in</strong>gbar,sich auf konkrete soziale Gegenwart – d.h. so wie sie vom Wissenschaftler/<strong>der</strong> Wissenschaftler<strong>in</strong>wahrgenommen wird und wie sie sich ihm/ihr darstellt – zu beziehen. Nur ist soziale Gegenwarteben immer auch sozial konstruiert und nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em essentiellen S<strong>in</strong>n +wirklich*. Genaudiese (allerd<strong>in</strong>gs nicht beliebige) Kont<strong>in</strong>genz und +Konstruktivität* macht soziale Wirklichkeitverän<strong>der</strong>bar und für e<strong>in</strong> kritisches Wissenschaftsprojekt zugänglich, welches das Bestehende


316 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEimmer nur auf <strong>der</strong> Basis des Bestehenden, aber im Licht se<strong>in</strong>er unvermittelten, und dochbestimmten Negation sowie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausrichtung auf e<strong>in</strong>en nihilistischen, im eigentlichen S<strong>in</strong>ndes Wortes +utopischen* Horizont h<strong>in</strong>terfragt (vgl. auch Bhaskar: Reclaim<strong>in</strong>g Reality). 2Für die Frage, welche Gestalt dieses kritische Projekt annehmen soll, ist e<strong>in</strong>e weitere AussageHorkheimers aufschlußreich und als Ansatzpunkt für e<strong>in</strong>e Überschreitung geeignet. Dennnach Horkheimer s<strong>in</strong>d +die Interessen des kritischen Denkens […] allgeme<strong>in</strong>, aber nicht allgeme<strong>in</strong>anerkannt […] Wenngleich die kritische Theorie nirgends willkürlich und zufällig verfährt,ersche<strong>in</strong>t sie <strong>der</strong> herrschenden Urteilsweise subjektiv und spekulativ, e<strong>in</strong>seitig und nutzlos.*(Ebd.; S. 235) Doch warum, so frage ich, soll sie <strong>der</strong> herrschenden Urteilsweise nur nutzlosersche<strong>in</strong>en, warum soll sie (für diese) – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat ganz und gar unzufällig – nicht so nutzloswie möglich se<strong>in</strong>? Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach liegt die +kritische Masse* des kritischen Denkensgenau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er willkürlichen (d.h. gewollten), bewußten E<strong>in</strong>seitigkeit und (nicht-identischen)+Subjektivität*, die sich <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung durch die Verwalter des status quo zu entziehentrachtet. Der hier im folgenden von mir vorgelegte theoretische Entwurf wird sich deshalbbemühen, so +unbrauchbar* wie nur möglich zu se<strong>in</strong>, um sich vor <strong>der</strong> +Verbrauchung* se<strong>in</strong>eskritischen Potentials zu schützen.Dies (und an<strong>der</strong>es mehr) könnte e<strong>in</strong>e +zeitgemäße* kritische Theorie vom durchaus oppositionellen,subversiven poststrukturalistischen Diskurs lernen (vgl. auch Ryan: Marxism and3Deconstruction). Und vielleicht möchte ich – +grund-los* und +ohne je Gewißheit zu haben*,aber bestimmt und +aus Sorge um die Gerechtigkeit* – e<strong>in</strong>es jener von Derrida ausgemachten+Marx-Gespenster* se<strong>in</strong>, das <strong>der</strong> furchte<strong>in</strong>flößenden, weil un(an)greifbaren +neuen Internationale*4angehört (vgl. Marx’ Gespenster; S. 274). Denn:+Man erzittert vor <strong>der</strong> Hypothese, daß, begünstigt durch e<strong>in</strong>e jener Metamorphosen, von denen Marxso oft gesprochen hat […], e<strong>in</strong> neuer ›Marxismus‹ nicht mehr die Gestalt haben könnte, unter <strong>der</strong> manihn zu identifizieren und <strong>in</strong> die Flucht zu schlagen man sich gewöhnt hatte. Vielleicht hat man nichtmehr Angst vor den Marxisten, wohl aber hat man noch Angst vor gewissen Nicht-Marxisten, die aufdas Marxsche Erbe nicht verzichtet haben, Krypto-Marxisten, Pseudo- o<strong>der</strong> Para-›Marxisten‹, die bereitwären, die Ablösung zu übernehmen, mit B<strong>in</strong>destrichen o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Anführungszeichen, die zu demaskierendie verängstigten Experten des Antikommunismus nicht geübt genug wären.* (Ebd.)Auf diese (gespenstische) Weise kann vielleicht gerade <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er aktuell durch den Zusammenbruchdes +real existierenden Sozialismus* noch verschärften Krise e<strong>in</strong>e Erneuerung und Befreiung


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 317des von Marx auf den Weg gebrachten kritischen Projekts erfolgen, die mit ihrer Ablehnung<strong>der</strong> identifizierenden und auf diskursiver Gewalt beruhenden dogmatischen Metaerzählungdes Historischen Materialismus ke<strong>in</strong>e Schwächung, son<strong>der</strong>n vielmehr e<strong>in</strong>e Radikalisierungdes +ursprünglichen* kritischen Anspruchs bedeutet und den Subjekten ihre Historizität undVerän<strong>der</strong>lichkeit – für e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung – vor Augen führt (vgl. auch Docherty: After Theory;5S. 205ff.). In e<strong>in</strong>em ganz ähnlichen S<strong>in</strong>n, d.h. um e<strong>in</strong>en neuen Marxismus denken und umsetzenzu können, bemerkte schon Louis Althusser (1978):+Endlich ist die Krise des Marxismus zum Ausbruch gekommen! Endlich ist sie sichtbar geworden, undendlich beg<strong>in</strong>nen wir, ihre Elemente zu erkennen!* (Über die Krise des Marxismus; S. 59)Mit ihren kritischen, nicht ausbeutbaren, spekulativen Begriffen – möglicherweise aber auch<strong>in</strong>dem sie umgekehrt +etablierte* Begriffe für ihre Sprache (miß)braucht und diese Begriffedadurch ebenso demaskiert wie sie sich mit ihnen maskiert, dem identifizierenden Zugriffentzieht – versucht die fiktive, aber schon als Fiktion mächtige +neue Internationale*, <strong>der</strong>ich mich (ebenso fiktiv) +anschließen* möchte, deshalb ke<strong>in</strong>e Eroberung <strong>der</strong> Diskurshoheitmit fadensche<strong>in</strong>igen Wahrheitsansprüchen, fixiert sich auf ke<strong>in</strong>e Dogmatik und pocht auchnicht auf die +revolutionäre Praxis* (<strong>der</strong> Arbeiterklasse), son<strong>der</strong>n dr<strong>in</strong>gt subversiv, vom (<strong>in</strong>tellektuellen)+Rand* her kommend <strong>in</strong> den sozialen Raum – und verän<strong>der</strong>t so untergründig die+Wirklichkeit*, öffnet sie mit ihren alternativen Interpretationsangeboten für die Subjekte. 6In diesem S<strong>in</strong>n ist sie +reflexiv* und e<strong>in</strong>gebunden <strong>in</strong> die +doppelte Hermeneutik* <strong>der</strong> Sozialwissenschaften,die ihren Gegenstand nicht nur erfaßt, son<strong>der</strong>n gleichzeitig auch verän<strong>der</strong>tund von diesem erfaßt wird.Der Begriff <strong>der</strong> +doppelten Hermeneutik* geht auf Anthony Giddens zurück, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>er <strong>der</strong>wesentlichen (Vor-)Denker <strong>der</strong> hier dialektisch zu erweitern versuchten Theorie reflexiverMo<strong>der</strong>nisierung ist (und unten, zusammen mit ihren an<strong>der</strong>en wichtigen Exponenten, noch7ausführlicher gewürdigt werden wird). Mit diesem Begriff will Giddens ausdrücken, daß ese<strong>in</strong>en beständigen Austausch zwischen den Bedeutungsrahmen <strong>der</strong> handelnden +Laien* undjenen <strong>der</strong> Sozialwissenschaftler(<strong>in</strong>nen) gibt, und er leitet daraus nicht nur die Möglichkeit,son<strong>der</strong>n die zw<strong>in</strong>gende Notwendigkeit e<strong>in</strong>er +kritischen*, d.h. selbst- und sozial reflexivenSozialwissenschaft ab, die immer auch +<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er praktischen Weise mit dem gesellschaftlichenLeben befaßt* ist (Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 49). 8


318 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDieses (doppelt) +hermeneutische* Kritikverständnis, das folglich den S<strong>in</strong>nwelten <strong>der</strong> Institutionenund ihren Bezügen zur +Lebenswelt* große Aufmerksamkeit schenkt (vgl. auch Consequencesof Mo<strong>der</strong>nity sowie Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity), unterscheidet sich offensichtlich vom eher+materialistischen* Ansatzpunkt <strong>der</strong> +klassischen* Kritischen Theorie. Trotzdem versteht Giddensse<strong>in</strong>en Ansatz explizit als e<strong>in</strong>e +Kritische Theorie <strong>der</strong> Spätmo<strong>der</strong>ne* (1992), und auch er wille<strong>in</strong>en umfassenden, nicht auf E<strong>in</strong>zelphänomene beschränkten Blick auf Gesellschaft werfen(vgl. S. 18). Das impliziert für Giddens, trotz des durch den <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskurs geschärftenBewußtse<strong>in</strong>s für die epistemologischen Aporien verabsolutierter wissenschaftlicher Wahrheitsansprüche,das Festhalten an den Pr<strong>in</strong>zipien des (methodischen) Zweifels und des (rationalen)Begründens, wie sie sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne etabliert haben (vgl. ebd.; S. 19ff.).Und er betont <strong>in</strong> diesem Zusammenhang noch e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong> reflexives wie praxisbezogenesKritikverständnis:+E<strong>in</strong> Charakteristikum <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ist, daß Begriffe, Theorien und Erkenntnisse […] nicht unabhängigs<strong>in</strong>d von den Handlungsfel<strong>der</strong>n, auf die sie sich beziehen o<strong>der</strong> die sie beschreiben. Sie gehen rout<strong>in</strong>emäßig<strong>in</strong> diese Fel<strong>der</strong> e<strong>in</strong> und rekonstruieren sie, <strong>in</strong>dem sie Teil <strong>der</strong> menschlichen Handlungen selbst werden.E<strong>in</strong> reflexives Bewußtse<strong>in</strong> über die[se] <strong>in</strong>stitutionelle Reflexivität seitens des beobachtenden Sozialwissenschaftlersist e<strong>in</strong>e Grundvoraussetzung kritischer Theorie und br<strong>in</strong>gt Sensibilität für die unmittelbar praktischenImplikationen von Sozialwissenschaft hervor.* (Ebd.; S. 23)Auch Scott Lash stellt, wie Giddens, die +Reflexivität* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> den Mittelpunkt se<strong>in</strong>ertheoretischen Praxis und sieht speziell <strong>in</strong> <strong>der</strong> +zeitdiagnostischen* Ausrichtung das kritischePotential <strong>der</strong> Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, so wie sie von Giddens – und auch UlrichBeck (siehe unten) – ausformuliert wurde. Letzteres kann für Lash freilich nur dann wirklichentfaltet werden, +wenn man sie radikal gegen den Strich bürstet* (Reflexivität und ihre Doppelungen;S. 195). Für ihn konzentrieren sich Beck und Giddens nämlich zu e<strong>in</strong>seitig auf dieSelbstreflexivität <strong>der</strong> Individuen und die Freisetzungsdimension des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses,anstatt das +System* als solches zu thematisieren (vgl. auch ebd.; S. 241). Denn im Zeitalter<strong>der</strong> postfordistisch +flexibilisierten Akkumulation* des globalisierten Kapitalismus mit se<strong>in</strong>enstark gewandelten Kommunikations- und Produktionsstrukturen entstehen neue (strukturelle)+Grenzen* für Freiheit, die es theoretisch zu reflektieren gilt. Diese Überlegung führt Lash<strong>in</strong> Anlehnung an Adornos (posthegelianische) +Negative Dialektik* (1966) und dessen +ÄsthetischeTheorie* (1970) zu e<strong>in</strong>er Betonung <strong>der</strong> +Ästhetische[n] Dimension Reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung*


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 319(1992), d.h. zu e<strong>in</strong>er Analyse <strong>der</strong> symbolischen (Macht-)Strukturen <strong>der</strong> globalen Kultur<strong>in</strong>dustrie(vgl. auch <strong>der</strong>s./Urry: Economies of Signs and Space).Zu Lashs Ansatz, <strong>der</strong> – wie die Überlegungen von Giddens – wichtige Impulse für das vonmir anvisierte Theorieprojekt zu geben vermag, werde ich an späterer Stelle noch nähereErläuterungen machen. Wenn es aber darum geht, e<strong>in</strong>e kritisch-dialektische Erweiterung <strong>der</strong>Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung vorzunehmen, so ersche<strong>in</strong>t mir dazu die von Ulrich Beckentworfene Theorievariante – obwohl sie nicht explizit mit e<strong>in</strong>em +kritischen* Anspruch auftritt– als geeignetster Ausgangspunkt. Denn Becks latent materialistischer Reflexivitätsbegriff be<strong>in</strong>haltet,an<strong>der</strong>s als bei Giddens und Lash, nicht alle<strong>in</strong>e gedankliche (kognitive) o<strong>der</strong> ästhetischeund hermeneutische Reflexion bzw. Reflexivität, son<strong>der</strong>n betont vielmehr die ökologischeRisiken produzierende +Nebenfolgenhaftigkeit* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung, die die Mo<strong>der</strong>ne (ungewollt)9auf sich selbst verweist und so (potentiell) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e +zweite Mo<strong>der</strong>ne* überführt (siehe zurückzu S. XLII und vgl. auch <strong>der</strong>s.: Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen?; S. 289ff.). Genau dieses +materialistischeMoment* im Theorierahmen Becks ist <strong>der</strong> mögliche Fix- und Wendepunkt füre<strong>in</strong>e kritisch-dialektische Um<strong>in</strong>terpretation (die allerd<strong>in</strong>gs – da mit ihr schließlich e<strong>in</strong>e doppelteÜberschreitung angestrebt wird – auch die Momente kognitiver, ästhetischer und hermeneutischerReflexivität nicht ignoriert).Der (entfernten) Nähe zum Historischen Materialismus und damit zu Marx ist Beck sich natürlichdurchaus bewußt. Er bemerkt: +Daß die Dynamik <strong>der</strong> Industriegesellschaft ihre eigenen Grundlagenaufhebt, er<strong>in</strong>nert an die Botschaft von Karl Marx: Der Kapitalismus ist <strong>der</strong> Totengräberdes Kapitalismus* (Das Zeitalter <strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 44).Als +Neomarxisten*, <strong>der</strong> dem Historischen Materialismus e<strong>in</strong>e +ökologische Wendung* gibt,sieht Beck sich allerd<strong>in</strong>gs – und das durchaus zu Recht – mißverstanden. Denn nach ihms<strong>in</strong>d es +erstens nicht die Krisen, son<strong>der</strong>n die Siege […] des Kapitalismus, die die neuegesellschaftliche Gestalt erzeugen. Damit ist zugleich zweitens gesagt: nicht <strong>der</strong> Klassenkampf,son<strong>der</strong>n […] Weitermo<strong>der</strong>nisierung, löst die Konturen <strong>der</strong> klassischen Industriegesellschaftauf* (ebd.). Zudem gilt <strong>in</strong> <strong>der</strong> (ökonomisch nivellierten und damit +<strong>in</strong>dividualisierten*) Risikogesellschaft<strong>der</strong> +zweiten Mo<strong>der</strong>ne*, e<strong>in</strong>e gewandelte Verteilungslogik, <strong>in</strong> <strong>der</strong> nicht mehr sosehr Probleme <strong>der</strong> Reichtumsverteilung, son<strong>der</strong>n Probleme <strong>der</strong> Risikoverteilung im Mittelpunktstehen: +In Klassenlagen bestimmt das Se<strong>in</strong> das Bewußtse<strong>in</strong>, <strong>in</strong> Risikolagen umgekehrt dasBewußtse<strong>in</strong> (Wissen) das Se<strong>in</strong>.* (Ders.: Risikogesellschaft; S. 70)10+Das läuft auf e<strong>in</strong>e bemerkens-


320 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEwerte Umkehrung <strong>der</strong> Feuerbach-Marx-Kontroverse heraus: Das Denken muß verän<strong>der</strong>t werden,damit die Welt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne an ihren eigenen Ursprüngen und Ansprüchen erneuert werdenkann.* (Das Zeitalter <strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 26)Diese von Beck vorgenommene Abgrenzung könnte man nun zwar auf e<strong>in</strong> spezifischesMißverständnis <strong>der</strong> Theorie Marx’ zurückführen. Denn erstens s<strong>in</strong>d es auch im von Marxbegründeten +Denk-System* die +Siege* des Kapitalismus, d.h. die vom ihm bewirkte Entfesselung<strong>der</strong> Produktivkräfte, die die (materiell-ökonomische) Basis <strong>der</strong> anvisierten neuen Gesellschaftsformdes Kommunismus schaffen. Zweitens ist es im marxistischen Denken ke<strong>in</strong>eswegs erst <strong>der</strong>Klassenkampf, <strong>der</strong> die Konturen <strong>der</strong> kapitalistischen Ordnung auflöst – dieser ist nur das (zwangsläufige)Produkt, die Äußerung ihrer <strong>in</strong>neren Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit und Selbstauflösungstendenz.Und außerdem stellt es natürlich e<strong>in</strong>e Verkürzung <strong>der</strong> Marxschen Thesen dar, wenn mandie gegen den (deutschen) Idealismus gerichtete Betonung <strong>der</strong> materiellen Basis mit e<strong>in</strong>er+Vergessenheit* für die Wissens- und Bewußtse<strong>in</strong>sdimension verwechselt.11Im Gegenteil:Für Marx bestimmt das Wissen um die Verhältnisse des Se<strong>in</strong>s (+Klassenbewußtse<strong>in</strong>*) wesentlichdas Handeln (+revolutionäre Praxis*). Dieses Bewußtse<strong>in</strong> ist jedoch we<strong>der</strong> <strong>in</strong> Klassen- noch<strong>in</strong> Risikolagen (völlig) losgelöst von <strong>der</strong> – im Bewußtse<strong>in</strong> allerd<strong>in</strong>gs nie erfaßbaren, son<strong>der</strong>nnur (re)konstruierbaren – (materiellen) Faktizität. Denn Bewußtse<strong>in</strong> ist immer Bewußtse<strong>in</strong>(<strong>in</strong>) <strong>der</strong> Welt und damit durch ebendiese, dem Menschen ver<strong>in</strong>nerlichtes +Außen* gegenübertretendeWelt sowie ihre sozio-ökonomischen Äußerungen/Strukturen bestimmt. Soweit me<strong>in</strong>(Miß-)Verständnis von Marx.Mit diesen parallelisierenden Relativierungen will ich nun ke<strong>in</strong>eswegs behaupten, daß sichBecks Ansatz problemlos <strong>in</strong> Deckung mit den Positionen des Marxismus br<strong>in</strong>gen ließe. Esgibt durchaus e<strong>in</strong>e Reihe von Elementen, die Beck deutlich von Marxisten und Neomarxistenunterscheiden (wenn es auch vielleicht eher an<strong>der</strong>e s<strong>in</strong>d, als jene, die Beck selbst herausstellt). 12Viel <strong>in</strong>teressanter ist, daß Beck me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach Marx <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zentralen Punkt kritischüberschreitet. Diese kritische Überschreitung besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> expliziten Skepsis gegenüber deneigenen Prämissen, die Beck daran h<strong>in</strong><strong>der</strong>t, den von ihm <strong>in</strong> den Raum gestellten Prozeß <strong>der</strong>Selbstüberw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (geschichtsphilosophisch), wie Marx, als +historische Notwendigkeit*zu denken, die aus den Gesetzmäßigkeiten <strong>der</strong> Geschichte folgt.13Was vor<strong>der</strong>gründig(vielleicht sogar gerechtfertigterweise) als +affirmative*, allzu +positive* Sicht auf die Gegenwartersche<strong>in</strong>en mag und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Behauptung e<strong>in</strong>es aus sozialstrukturellen wie <strong>in</strong>stitutionellen Zwängen


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 321+freisetzenden* Individualisierungs- und Subpolitisierungsprozesses die Maske des Optimismusträgt (siehe auch Abschnitt 2.5), ist tatsächlich – d.h. wie ich es sehe – <strong>der</strong> Ausdruck des<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, entgegen den Intentionen ihrer +Väter*, gesteigerten Ungewissen.Die Entfesselung <strong>der</strong> Produktivkräfte, die bei Marx noch <strong>in</strong> das +Reich <strong>der</strong> Freiheit* führt(wenn sie +sozialistisch umgebogen* wird), erhält bei Beck deshalb den Charakter e<strong>in</strong>esgrundsätzlich ambivalenten Phänomens. Und er ist sich ebenso bewußt, daß Individualisierungnicht nur +Gew<strong>in</strong>ner*, son<strong>der</strong>n auch +Verlierer* produziert und jede Freisetzung mit neuenFormen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung und mit neuen Zwängen verbunden ist – und sei es dem +Zwangzur Freiheit*. Nur zieht er daraus nicht die für e<strong>in</strong>e kritisch-dialektische Theorie notwendigeKonsequenz und konzentriert sich bei se<strong>in</strong>en Betrachtungen weniger auf die Restriktionenreflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung (durch Selbstbegrenzungen wie durch deflexive Gegenbewegungen),als auf ihre Chancen.14Soweit jedenfalls me<strong>in</strong> (Miß-)Verständnis von Beck.Was könnte dieser damit sozusagen +auf halbem Weg steckengebliebene* Ansatz e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>en+kritischen Dialekt* sprechenden Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung mit auf ihren Weg geben,was könnte er ihr sagen? – Die Antwort lautet: Gerade <strong>in</strong> dem, was dieser Ansatz nicht sagt,könnte er sie weiterführen, denn er könnte ihr – und nichts ist produktiver – <strong>in</strong> diesem+Schweigen* Fragen stellen: Was s<strong>in</strong>d die Gründe für die +Beharrlichkeit* <strong>der</strong> (<strong>in</strong>stitutionellen)Strukturen <strong>der</strong> +e<strong>in</strong>fachen* Mo<strong>der</strong>ne? Durch welche Prozesse und welche Mechanismen wird<strong>der</strong> Übergang von <strong>der</strong> ersten <strong>in</strong> die zweite (radikalisierte, reflexive) Mo<strong>der</strong>ne blockiert? Welche(neuen) Zwänge br<strong>in</strong>gt die radikalisierte Mo<strong>der</strong>ne (reflexiv) hervor? Wor<strong>in</strong> liegen ihre Wi<strong>der</strong>sprüche?Im Bewußtse<strong>in</strong> dieser Fragen und Probleme gilt es, im folgenden (Abschnitt 5.1)noch e<strong>in</strong>mal den disparaten, schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Anfängen wi<strong>der</strong>sprüchlichen Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeßvon <strong>der</strong> Neuzeit bis an die Grenze <strong>der</strong> +postmo<strong>der</strong>nen* Gegenwart zu verfolgen. Vor allemmit Bezug auf +Die Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (1944) von Horkheimer und Adorno sowie ZygmuntBauman soll die +ursprüngliche* Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne dabei als e<strong>in</strong> (Angst-getriebenes)Projekt <strong>der</strong> Elim<strong>in</strong>ierung von Ambivalenzen aufgefaßt werden – e<strong>in</strong> Projekt allerd<strong>in</strong>gs, dasnur deshalb Ungewißheit und Ambivalenz so vehement bekämpft, weil es selbst zutiefstambivalent ist, <strong>in</strong>dem es den Wi<strong>der</strong>spruch von Freiheit und Sicherheit synthetisch zu vere<strong>in</strong>enversucht. Aus eben dieser +Grund-legenden* Ant<strong>in</strong>omie <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, die ihr doppeltesVersprechen doppelt une<strong>in</strong>lösbar macht und Freiheit wie Sicherheit <strong>in</strong> ihr Gegenteil (Zwang)verkehrt, kann die Beharrlichkeit und die implizite Gewalt <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Ordnung erklärt


322 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEwerden (Abschnitt 5.1.1). Doch <strong>in</strong> ihrer gewaltvollen Entfaltung steigert sie (ungewollt) nurihre Ambivalenz, welche sich ihr schließlich dadurch verstärkt zum Bewußtse<strong>in</strong> br<strong>in</strong>gt: DieMo<strong>der</strong>ne erkennt sich selbst <strong>in</strong> ihrem Wi<strong>der</strong>spruch. Sie wird reflexiv und damit +objektiv*,d.h. sie wird sich zu e<strong>in</strong>em Objekt und Gegenstand und vernichtet damit genau jene Gewißheit(en),die zu suchen und wie<strong>der</strong>herzustellen sie sich aufmachte (Abschnitt 5.1.2).Diese +gegenständliche* Verunsicherung ihrer ursprünglichen Impulse manifestiert sich zuweilen<strong>in</strong> Resignation, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er +posthistoristischen Lähmung*. An<strong>der</strong>erseits: Die reflexive Objektivierung<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne entfesselt die Subjekte – potentiell – aus den Zwängen <strong>der</strong> (Selbst-)Gewißheitund schafft damit auch die Basis für e<strong>in</strong>e neue +Bewegung*, für e<strong>in</strong>e theoretische und praktischeUmorientierung (Abschnitt 5.2). Das löst auch e<strong>in</strong>e latente Erosion <strong>der</strong> sozialen Institutionen<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne aus. Es kommt also – allerd<strong>in</strong>gs nur, wenn die materiellen und strukturellenBed<strong>in</strong>gungen kritische +Reflexionen* begünstigen – zu jener schon oben mit Beck angesprochenenSubpolitisierung, d.h. <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> wird <strong>der</strong> +Grund* entzogen und gleichzeitigerfolg e<strong>in</strong>e entgrenzende Politisierung des gesamten sozialen Lebens. Subpolitik stellt damit– implizit und explizit – die Frage nach <strong>der</strong> politischen (Def<strong>in</strong>itions-)Macht und <strong>der</strong> politischenOrganisation <strong>der</strong> Gesellschaft, sie ist Meta- und Superpolitik (Abschnitt 5.2.1). Doch das istnur ihre e<strong>in</strong>e Seite: Subpolitik, die nicht zugleich selbst-bewußt und subversiv ist und – sichselbst begrenzend – vor <strong>der</strong> Überschreitung <strong>der</strong> +Systemgrenzen* zurückschreckt, kann un<strong>in</strong>tendiertauch zu e<strong>in</strong>er Diffusion und Zersplitterung des Politischen führen, das sich immer mehr<strong>in</strong> abgespaltene E<strong>in</strong>zelfragestellungen +auflöst* (Abschnitt 5.2.2).Subpolitik begrenzt sich also selbst. Aber sie wird auch durch ihre +systemische* Umweltbegrenzt, und die kritischen Reflexionen, die sie bewirkt, werden von dort zurückgeworfenund – entschärfend – abgelenkt (Abschnitt 5.3). Wie sich im Verlauf <strong>der</strong> Analyse des politischen+Rahmens* <strong>in</strong> Kapitel 2 und 3 zeigte (und auch hier rückblickend bereits angesprochen wurde),besitzen die e<strong>in</strong>gespielten Akteurszusammenhänge <strong>der</strong> etablierten (Sub-)Systeme mächtigeRessourcen für solche Deflexionsversuche. Grundsätzlich läßt sich im Zusammenhang <strong>der</strong>Deflexion zwischen Ideologien (Abschnitt 5.3.1) und Praxologien (Abschnitt 5.3.2) unterscheiden.Die wichtigste Deflexionsideologie ist me<strong>in</strong>es Erachtens die funktionalistische Theorie von<strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Systeme, da sie die zentralen Praxologien <strong>der</strong> Übersetzung und <strong>der</strong> rituellenIntegration als Überbau abstützt. +Aktive* (d.h. gezielt betriebene) Deflexion ist jedoch dieAusnahme. Untergründiger, +von <strong>in</strong>nen* wirkend und deshalb vermutlich weit effektiver ist


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 323passive Deflexion, d.h. das <strong>in</strong> ihrer Masse begründete +Momentum* <strong>der</strong> Systeme sowie die+rout<strong>in</strong>isierte* Trägheit des Denkens und Handelns, die reflexives Bewußtse<strong>in</strong> und reflexiveHandlungsalternativen blockiert.Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung kann aufgrund dieser Limitierungen nie vollständig reflexiv se<strong>in</strong>.Die +objektive* (d.h. materielle) Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung durch ihre Nebenfolgen wirddeshalb nicht immer +objektiv* (d.h. selbst-thematisierend) gedanklich gespiegelt (kognitiveReflexion). Und auch die sich aus <strong>der</strong> weitergehenden Mo<strong>der</strong>nisierung ergebende Reflexivität<strong>der</strong> sozialen S<strong>in</strong>nwelten und Symbole wird durch die +ents<strong>in</strong>nlichende* Prägekraft <strong>der</strong> globalenKultur<strong>in</strong>dustrie kaum kritisch reflektiert (ästhetisch-hermeneutische Reflexivität). Deshalb gibtes auch ke<strong>in</strong>e weitreichenden praktischen Reflexionen, ke<strong>in</strong>e Spiegelungen <strong>der</strong> +objektivenReflexivität* im Handeln. So besteht aktuell – wenngleich durch Ideologien und Praxologien<strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen wie <strong>in</strong>dividuellen Wahrnehmung weitgehend +verdrängt* – e<strong>in</strong>e Dialektik vonreflexiven und deflexiven Prozessen (Abschnitt 5.4). Das Aufzeigen dieser Dialektik ist deshalbdie zentrale Aufgabe e<strong>in</strong>er kritischen Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung.Die Dialektik von Reflexion und Deflexion ist jedoch für die +Evolution sozialer Systeme*,um die Sprache <strong>der</strong> Systemtheorie zu benutzen, bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad sogar +funktional*.Denn das System benötigt reflexive +Inputs*, um sich an potentielle und konkrete Herausfor<strong>der</strong>ungenanpassen zu können. Allerd<strong>in</strong>gs besteht mit <strong>der</strong> deflexiven Integration reflexiver Impulsedie Gefahr e<strong>in</strong>er reflexiv-deflexiven Risikospirale, d.h. die (die Reflexionen auslösenden) Wi<strong>der</strong>sprüchedes bestehenden Systems werden durch se<strong>in</strong>e +konservative* Adaption auf e<strong>in</strong> immerhöheres Niveau transformiert. Politisch betrachtet führt e<strong>in</strong>e solche risikopotenzierende reflexivdeflexiveDialektik sehr wahrsche<strong>in</strong>lich zu e<strong>in</strong>er entpolitisierenden Diffusion: Die <strong>in</strong>stitutionelle<strong>Politik</strong> versucht sich dadurch vor den Reflexionen ihrer Wi<strong>der</strong>sprüche zu retten, daß sie sichselbst entpolitisiert, um ke<strong>in</strong>e Angriffspunkte mehr zu bieten, und die ohneh<strong>in</strong> +zerstreute*,fragmentisierte Subpolitik beschränkt sich – <strong>der</strong>art +befriedet* – auf das Subpolitische.In diesem Zusammenhang stellt sich allerd<strong>in</strong>gs die generelle Frage: Welche E<strong>in</strong>stellungen,Umstände und Verhaltensweisen s<strong>in</strong>d im hier gebrauchten S<strong>in</strong>n +reflexiv* bzw. +deflexiv*zu nennen? E<strong>in</strong>e ausführlichere Antwort darauf wird lei<strong>der</strong> erst an späterer Stelle erfolgenkönnen (siehe Anschnitt 5.3). Für den Augenblick soll es genügen klarzustellen, daß es sichhier um e<strong>in</strong>e theoretisch gesetzte (re<strong>in</strong> begriffliche) Unterscheidung handelt, die weniger mitdem Anspruch antritt, e<strong>in</strong> objektives, e<strong>in</strong>deutiges und +operationalisierbares* Kriterium angeben


324 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEzu können, son<strong>der</strong>n vielmehr e<strong>in</strong>em analytisch-heuristischen Zeck dient. Dabei berufe ichmich jedoch durchaus auf die (<strong>in</strong>dividuelle) Erfahrung e<strong>in</strong>er +Realität*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> beide Elementezwar vorhanden s<strong>in</strong>d, aber immer nur +vermischt* und niemals klar geschieden. E<strong>in</strong>e +reflexive*Haltung bestünde nun genau dar<strong>in</strong>, diese Une<strong>in</strong>deutigkeit und Ambivalenz des Se<strong>in</strong>s wahrzunehmenund zu spiegeln, anstatt sie zu verdrängen und von ihr abzulenken. Es handelt sichbei den begriffen +Reflexion* und +Deflexion* also um subjektiv-hermeneutische Kategorien,die die Art und Weise <strong>der</strong> Betrachtung ebenso charakterisieren, wie mit ihnen sie Zuordnungenvorgenommen werden, die jedoch immer auch +problematischen* Charakter haben, <strong>in</strong>demsie sich (durch ihre subjektive, +empirische* Färbung) nicht +objektivieren* lassen.Reflexion bedeutet dabei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ersten Annäherung die bewußte und aufrichtige Spiegelung(<strong>der</strong> Ambivalenz) <strong>der</strong> Welt im Denken wie im Handeln, während Deflexion demgegenüberals bewußte o<strong>der</strong> unbewußte (dann allerd<strong>in</strong>gs alle<strong>in</strong>e von <strong>in</strong>nen heraus nicht erkennbare)Unaufrichtigkeit, als +mauvaise foi* (Sartre) zu bezeichnen wäre, die Reflexionen begrenztund auf E<strong>in</strong>deutigkeit beharrt. Was die E<strong>in</strong>ordnung +äußerer* Umstände und +fremden*Verhaltens anbelangt, so gibt es natürlich notwendigerweise immer nur Indizien und Vermutungen.Doch seien wir – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em reflexiven S<strong>in</strong>n – spekulativ, haben wir den Mut zurVermutung! Denn Spekulation ist <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Weg, Aussagen über e<strong>in</strong>e Welt zu machen,<strong>in</strong> <strong>der</strong> es ke<strong>in</strong>e Gewißheit gibt ist. Die subjektive +Evidenz* und die nach außen vermittelte,aber nicht opportunistisch allgeme<strong>in</strong>e Zustimmungsfähigkeit erstrebende, son<strong>der</strong>n verne<strong>in</strong>endgerade gegen den +common sense* gerichtete +Plausibilität* <strong>der</strong> Kennzeichnung e<strong>in</strong>es Umstandso<strong>der</strong> Verhaltens als reflexiv bzw. deflexiv soll und muß genügen. Und es gibt beispielsweisedurchaus plausible Gründe für die hier im folgenden vertretene Annahme, daß <strong>in</strong> +Systemzusammenhängen*die deflexive Komponente grundsätzlich stärker ausgeprägt ist als <strong>in</strong> den (<strong>in</strong>dividuellen)Lebenwelten, da erstere abstrakter und durch e<strong>in</strong>e deutlichere +Entfremdung* geprägts<strong>in</strong>d. Abstraktion und Entfremdung schaffen zwar größere Möglichkeiten für kognitive Reflexionen,aber sie beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n die für +kritische* Reflexionen notwendige Öffnung nach <strong>in</strong>nenwie nach außen: die konkrete Wahrnehmung als bestimmte Negation.Was aber, wenn die Lebenswelten, wie aktuell, <strong>in</strong> erheblichem Maß durch das System +kolonialisiert*s<strong>in</strong>d? Wo könnte dann <strong>der</strong> Ansatzpunkt <strong>der</strong> transzendierenden Negation liegen?Wir stecken <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dilemma, e<strong>in</strong>e Aporie tut sich auf. Aber die Aporie ist, zum<strong>in</strong>dest gemäß<strong>der</strong> dialektischen +Hebammenkunst* des Sokrates, immer auch e<strong>in</strong> möglicher Umschlagspunkt.


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 325Damit Dialektik sich allerd<strong>in</strong>gs bis zum Umschlagspunkt <strong>der</strong> Aporie entfalten kann, die <strong>der</strong>Potentialität des Se<strong>in</strong>s Raum gibt, muß <strong>der</strong> Aktualität des Se<strong>in</strong>s etwas entgegengesetzt werden.Negativität, die sich <strong>der</strong> +Positivität* <strong>der</strong> sozialen +Wirklichkeit* versperrt, stellt darum diee<strong>in</strong>zige +mögliche* theoretische und praktische Option dar, die die bestehenden Verhältnisseüberw<strong>in</strong>den kann. Auch diese Negativität speist sich <strong>in</strong>dessen aus dem Se<strong>in</strong>. Sie f<strong>in</strong>det ihrenhaltlosen Rückhalt im eigenen Se<strong>in</strong> und dessen +Bestimmungen*, das sich – <strong>in</strong> bestimmterNegation – auf das an<strong>der</strong>e Se<strong>in</strong> bezieht, sich an diesem reibt und stößt. Sie speist sich aus<strong>der</strong> (Un-)Möglichkeit des +authentischen* Selbst, das sich gegen die entäußernde Unterdrückung<strong>der</strong> Vielheit se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Stimmen <strong>in</strong> <strong>der</strong> pluralen, aber e<strong>in</strong>dimensionalen Marktgesellschaftwehrt, <strong>der</strong>en Optionen selektiv s<strong>in</strong>d. Se<strong>in</strong>e nicht-identische (Nicht-)Identität richtet sich, vonaußen angestoßen und nach <strong>in</strong>nen +geworfen*, gegen die Absperrung se<strong>in</strong>er Potentiale. Derartwerden Reflexionen ver<strong>in</strong>nerlichter Machtstrukturen und deflexiver Praktiken <strong>in</strong> Gang gesetzt,die e<strong>in</strong>e Überschreitung ermöglichen können, <strong>in</strong>dem sie sich <strong>der</strong> Faktizität des Seiendennegativ entziehen. Und nur auf diese negative Weise werden die im Wirken <strong>der</strong> Wirklichkeitsich auftuenden Kont<strong>in</strong>genzräume für die +Utopie* sozialer Konvergenz genutzt, die die Individuenwie<strong>der</strong> ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong> annähert, ohne sie mit dem Zwang zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>heitlichen Selbstund e<strong>in</strong>em vere<strong>in</strong>heitlichenden Konsens zu bedrängen. Denn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Negation wird e<strong>in</strong> Möglichkeitsraumoffen gehalten, <strong>der</strong> alle<strong>in</strong>e von den Individuen <strong>in</strong> ihrem +freien* Zusammenwirkenausgestaltet und nicht positiv +vorbestimmt* werden kann (siehe auch Exkurs).Diese hier nur grob skizzierten Vorstellungen e<strong>in</strong>er kritisch-dialektischen Theorie reflexiverMo<strong>der</strong>nisierung s<strong>in</strong>d so wi<strong>der</strong>sprüchlich und paradox, wie die Welt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> und für die siegedacht wurden. Sie s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> sich selbst wi<strong>der</strong>sprechende Ausdruck <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeitdes Se<strong>in</strong>s, die dem Se<strong>in</strong>, so wie es ist, wi<strong>der</strong>sprechen. Das bedeutet, daß es darum geht,möglichst wi<strong>der</strong>(ge)spenstige Gedanken produzieren, die sich <strong>in</strong> den Weg stellen, zur Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung+zw<strong>in</strong>gen*, zu ihrer Verwerfung und Diffamierung aufrufen, aber auch zur Selbstverwerfungund -überschreitung. Die Dialektik muß – um <strong>der</strong> Ambivalenz des Se<strong>in</strong>s gerechtzu werden – entfesselt werden, und so ist auch dieser Text nichts an<strong>der</strong>es, als <strong>der</strong> ambivalente(und damit auch +fragwürdige*) Versuch e<strong>in</strong>er Entfaltung von Dialektik. Der Horizont dieserbefreiten und befreienden, aus <strong>der</strong> bestimmten Negation gespeisten negativen Dialektik imBewußtse<strong>in</strong> des Nichtidentischen (vgl. auch Adorno: Negative Dialektik; S. 16) ist die u-topischeUtopie, jener negative Nicht-Ort, <strong>der</strong> die Begrenzungen des sozialen Raumes, dem Ort <strong>der</strong>


326 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEGegenwart, sprengt und e<strong>in</strong>em Denken <strong>der</strong> Differenz Raum gibt sowie dem Handeln dasan<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Zukunft erschließt. Doch vor <strong>der</strong> Frage nach den Möglichkeiten für e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>esKünftiges steht notwendig die Beschäftigung mit dem (eigenen) Vergangenen, mit den – immerwie<strong>der</strong> neuen – Anfängen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.5.1 +REFLEXIVE* MODERNISIERUNG ALS +OBJEKTIVE* MODERNISIERUNG UND DASUNVOLLENDETE PROJEKT DER MODERNEDie Mo<strong>der</strong>ne ist, wie ich sie begreife, ke<strong>in</strong> Zustand, ke<strong>in</strong>e abgegrenzte Epoche, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>eBewegung. Sie hat sich selbst unter den permanenten, unerbittlichen Zwang gesetzt, sichimmer wie<strong>der</strong> zu erneuern und zu erschaffen. Sie muß werden, um zu se<strong>in</strong>, denn sie willdie immer wie<strong>der</strong> neue Zeit se<strong>in</strong>. Die Mo<strong>der</strong>ne ist ihrem Wesen nach folglich nicht statischund fixierbar, son<strong>der</strong>n dynamisch; sie kann nur als Prozeß gedacht werden.15Vielleicht istsie deshalb als Phänomen so schwer zu (er)fassen und zu (be)greifen. Vielleicht gibt es deshalbso viele unterschiedliche Mo<strong>der</strong>nitätsbegriffe und historische E<strong>in</strong>ordnungsmöglichkeiten. Aufdiese unübersichtliche Vielfalt <strong>der</strong> Konzepte und Datierungen wurde von mir bereits im Rahmenme<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>leitenden Bemerkungen ausführlich e<strong>in</strong>gegangen (siehe S. XIII–XXXVIII). Allerd<strong>in</strong>gs:Die vielgesichtige Rastlosigkeit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne erklärt sich nicht aus sich heraus. Was also istdie treibende Kraft ihrer disparaten Entwicklung? Wo liegt ihr (vor sich selbst verheimlichter)Ausgangspunkt?Doch das ist, so könnte man gerade vermuten, wenn man sich ebendieser Sicht <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>neanschließt, e<strong>in</strong>e +falsche* Fragestellung, e<strong>in</strong>e Frage die ihren eigenen Ausgangspunkt ignoriert,e<strong>in</strong> zum Scheitern verurteilter Versuch <strong>der</strong> Umfassung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne: Ihre Fixierung kannnicht gel<strong>in</strong>gen, da sie sich schließlich <strong>in</strong> ihrer Bewegtheit je<strong>der</strong> starren +Positionierung* entzieht.Und doch muß man sich e<strong>in</strong>en solchen +Ursprung* zwangsläufig denken, wenn man sichan die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne deutend annähern will, ihre (wi<strong>der</strong>sprüchliche) Dynamik zuerklären versucht. Denn gerade die Haltlosigkeit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Bewegung verweist auf e<strong>in</strong>euntergründige Antriebskraft, die, um zu wirken, e<strong>in</strong>en Angriffspunkt benötigt. Und um selbste<strong>in</strong>e (hermeneutische) Bewegung zu entfalten, müssen auch die Gedanken e<strong>in</strong>en Ansatzpunkthaben. Nur, wo ließe sich e<strong>in</strong> solcher Punkt ausmachen, von wo aus ließe sich die Bewegung<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne fortdenken?


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 327Der Ansatzpunkt für e<strong>in</strong> (kritisches) +Verstehen* <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne kann offensichtlichke<strong>in</strong> theoretischer und historischer Nullpunkt se<strong>in</strong>, denn e<strong>in</strong>e Bewegung beg<strong>in</strong>nt niemalsaus dem +Nichts* heraus. Viel eher schon ist gerade die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (wie ihreReflexion) e<strong>in</strong>e explizite +Nichtung* des Vergangenen und Gegenwärtigen und steht so <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em nichtenden, aber Grund-legenden Bezug zu ihm. Deshalb ist es erfor<strong>der</strong>lich, die +fundamentalen*Bruchl<strong>in</strong>ien im kont<strong>in</strong>uierlichen Diskont<strong>in</strong>uum <strong>der</strong> Geschichte aufzuspüren. Inden Verwerfungen und +De-Strukturen* sche<strong>in</strong>t auf, was sonst allzu oft im Verborgenen bleibt,nämlich die bewegenden (Ab-)Gründe <strong>der</strong> Zeitläufte. Die abgründige Konstruktion e<strong>in</strong>es Anfangs,die für den +Genealogen* Foucault so irreführende +Chimäre des Ursprungs* (vgl. Nietzsche,die Genealogie, die Historie und siehe auch hier S. XLVII), öffnet damit – wenn man sichdieser Konstruiertheit bewußt ist – die Möglichkeit für e<strong>in</strong>e Dekonstruktion <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nenSelbst-Begründungen und Selbst-Konstruktionen. Setzen wir also im Bemühen um die Dekonstruktion<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne e<strong>in</strong>en (fiktiven) Anfangspunkt für die Interpretation ihrer Bewegung.Aber hüten wir uns davor, diesen Anfangspunkt als tabula rasa anzusehen, denn das wäree<strong>in</strong>e Annäherung an die Mo<strong>der</strong>ne, die <strong>in</strong> <strong>der</strong>en selbst gezogenen Grenzen verbleibt, stattsie zu sprengen, und die den Mythos <strong>der</strong> +revolutionären* Geburt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, von demnoch zu sprechen se<strong>in</strong> wird, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Methode ihrer Erzählweise rekonstruiert, statt ihn zuh<strong>in</strong>terfragen. Die tabula rasa, <strong>der</strong> Umsturz und Neubeg<strong>in</strong>n, mag vielleicht das Programm<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne se<strong>in</strong>, aber nicht ihr (möglicher) +Ursprung*. Dieser Ursprung o<strong>der</strong> Beweg-Grundkann me<strong>in</strong>es Erachtens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz an<strong>der</strong>en Moment gesehen werden: <strong>in</strong> <strong>der</strong> verunsicherndenUngewißheit, <strong>der</strong> Furcht, <strong>der</strong> Angst. 16Die Verb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne mit <strong>der</strong> Angst ist – obwohl sie <strong>in</strong> dekonstruktiverAbsicht geschieht – ke<strong>in</strong>e +umstürzende*, ke<strong>in</strong>e neue Interpretation. Sie greift natürlich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>eauf die <strong>in</strong> ihren Grundzügen bereits dargelegte Argumentation von Horkheimer undAdorno <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (1944) zurück und rekurriert ebenso auf die an dieseklassische Schrift anschließenden Gedanken Zygmunt Baumans über +Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz*(1991). In <strong>der</strong> Unruhe <strong>der</strong> frühen Neuzeit und <strong>der</strong> beg<strong>in</strong>nenden Aufklärung, die von vielen+Kommentatoren* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als ihr historischer Beg<strong>in</strong>n angesehen wird (und die auchhier als e<strong>in</strong>e +erschließende* Umbruchstelle betrachtet werden soll), erfolgte e<strong>in</strong>e Erschütterung<strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen und kollektiven Se<strong>in</strong>sgewißheit(en), was e<strong>in</strong>e geradezu +kopflose* Flucht<strong>in</strong>s Rationale auslöste, um die erodierende traditionale Ordnung auf den Wegen <strong>der</strong> Vernunft


328 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEzu rekonstruieren. Die Biographien und Philosophien von Descartes und Hobbes könnenhierfür als Beispiele dienen (siehe unten). Was nicht <strong>in</strong>s Bild paßte, nicht <strong>in</strong> die neue rationalistische+Kosmopolis* (Toulm<strong>in</strong> 1990) <strong>in</strong>tegriert werden konnte, mußte (im Denken wie <strong>in</strong><strong>der</strong> Praxis) ausgeschlossen werden.Die +Irrwege <strong>der</strong> Vernunft* (Feyerabend 1986) führten so <strong>in</strong> die +große Ausschließung* (Foucault),<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Aufklärung erhoffte +Ausgang des Menschen aus se<strong>in</strong>er selbstverschuldeten Unmündigkeit*(Kant), die erstrebte Befreiung (von <strong>der</strong> Angst), zwängte letztendlich das, wasbefreit werden sollte – das Subjekt (<strong>der</strong> Angst) – e<strong>in</strong> (Abschnitt 5.1.1). Das Angst-getriebenedoppelte Versprechen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne von Freiheit und Sicherheit, das über die (gewaltvolle)Tilgung <strong>der</strong> Ambivalenz synthetisch verwirklicht werden sollte, entfaltete aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeite<strong>in</strong>e um so größere Ambivalenz, und die nicht nur strukturierende, son<strong>der</strong>nauch +fragende* Gewalt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne richtete sich schließlich gegen sich selbst: Die (dialektische)Bewegung treibt das mo<strong>der</strong>ne Denken aus se<strong>in</strong>er rationalistischen +Gefangenschaft* heraus,<strong>in</strong>dem es sich, mit se<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>sprüchen konfrontiert, zu se<strong>in</strong>em eigenen Gegenstand macht.Die Mo<strong>der</strong>ne wird reflexiv und vernichtet damit +objektiv* die Gewißheiten, die sie suchte(Abschnitt 5.1.2). Doch zunächst, wie angekündigt und um e<strong>in</strong>en Anfang zu machen, zuden zweideutigen, brüchigen +Anfängen* dieser angstvollen und vielleicht tragischen (Selbst)-Suche:5.1.1 NEUZEITLICHE VERUNSICHERUNGEN UND DIE FLUCHT INS RATIONALE – DIE UNEINLÖSBARENVERSPRECHEN DER (EINFACHEN) MODERNEIn <strong>der</strong> hier unternommenen (Unter-)Suchung <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird also die Angstund das Denken <strong>der</strong> Angst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit des Umbruchs betrachtet. Erzeugte <strong>der</strong> Umbruchdie Angst? O<strong>der</strong> die Angst den Umbruch? Wie immer es sich verhalten mag (wenn es sichüberhaupt auf e<strong>in</strong>e dieser Weisen verhält): Beide – Umbruch und Angst – werden hier jedenfallsals zusammengehörig betrachtet. Denn damit sich e<strong>in</strong> Bild ergeben kann, muß e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>tergrundvorhanden se<strong>in</strong>. Dieser hier zugrunde gelegte H<strong>in</strong>tergrund ist die Angst im Umbruch und<strong>der</strong> Umbruch <strong>in</strong> Angst, e<strong>in</strong>e historische Situation und ihre +Äußerung*, e<strong>in</strong>e Bef<strong>in</strong>dlichkeitund ihre Dynamik. Die Angst, von <strong>der</strong> ich im folgenden sprechen werde, ist also zwangsläufiggerade <strong>in</strong> ihrer +H<strong>in</strong>tergründigkeit*, nur e<strong>in</strong>e erzählte und vor-gestellte. Und <strong>der</strong> mit ihr verbun-


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 329dene Umbruch – <strong>in</strong>sofern er +real* ist – wurde zwar nicht vollzogen (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dungdes Brüchigen), aber er ist, so wie er sich damals darstellte, zwangsläufig vergangen. Diebeschriebene Angst (wenn sie auch womöglich – <strong>in</strong>sofern sie +tatsächlich* war – nicht verschwundenund aufgelöst se<strong>in</strong> mag) ist deshalb nicht +wirklich*, nicht gegenwärtig. Sie kann – als(Re-)Konstrukt – nur dazu dienen, zu vergegenwärtigen, d.h. uns selbst, unsere Gegenwartzu verstehen. Sie ist als solche die (gegenwärtige) Möglichkeit des Irrtums (über das Vergangene).Der mögliche Irrtum allerd<strong>in</strong>gs soll ke<strong>in</strong>e Angst auslösen. Lassen wir ihn geschehen.Doch bevor wir uns <strong>in</strong>s Geschehen(e) +stürzen*, bevor die treibende Angst <strong>in</strong> den Umbrüchen<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne konkret gemacht wird, muß gefragt werden, was Angst überhaupt bedeutet,und ob sie – was immer sie bedeutet – nicht zu +unbedeutend* ist, um ihr hier e<strong>in</strong> so großes(erklärendes und deutendes) Gewicht zu geben. Angst ist schließlich als Affekt zwar e<strong>in</strong> allgegenwärtigerBegleiter des menschlichen Dase<strong>in</strong>s, aber als solcher, so könnte man vermuten, vielleichteher e<strong>in</strong> Beschäftigungsfeld für die (Individual-)Psychologie als für die aufgeworfenen Fragestellungenwirklich relevant.Folgt man h<strong>in</strong>gegen Franz Neumann, so ist die Analyse <strong>der</strong> Angst gar <strong>der</strong> zentrale Schlüsselum soziale, politische und historische Entwicklungen zu verstehen (und im Verstehen gestaltenzu können). Se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach war es nämlich ke<strong>in</strong>esfalls zufällig, daß Frankl<strong>in</strong> D. Rooseveltzu den von ihm 1941 gegen die Achsenmächte <strong>in</strong>s Feld geführten +Vier Freiheiten* auchdie Freiheit von Not und die Freiheit von Furcht zählte. Beide s<strong>in</strong>d – im Gegensatz zur Me<strong>in</strong>ungsundzur Religionsfreiheit (den an<strong>der</strong>en von Roosevelt gefor<strong>der</strong>ten Freiheiten) – negativeFreiheiten, und man könnte sogar behaupten, daß die Furcht bzw. die Angst17geradezu das(negative) an<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Freiheit darstellt. Denn Angst macht es laut Neumann unmöglich, freizu entscheiden. (Vgl. Angst und <strong>Politik</strong>; S. 261)Was Neumanns konkretes Angst-Konzept betrifft, so knüpft er an das klassische psychoanalytischeModell Freuds an.18Freud unterscheidet die sog. +Realangst* von +neurotischer Angst*. Währenddie Realangst als etwas +Rationelles und Begreifliches* ersche<strong>in</strong>t und +als Äußerung des Selbsterhaltungstriebes*angesehen werden kann, also e<strong>in</strong>e nachvollziehbare Reaktion auf e<strong>in</strong>e+objektive* Gefährdung darstellt, fehlt <strong>der</strong> neurotischen Angst – die sich <strong>in</strong> diffusen Angstneurosen,<strong>in</strong> Phobien und <strong>in</strong> hysterischer Angst äußert – dieser +reale* H<strong>in</strong>tergrund (vgl. Vorlesungenzur E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Psychoanalyse; S. 309–314). An<strong>der</strong>erseits zeigt Freud auf, daßauch die neurotischen Formen <strong>der</strong> Angst, die gewissermaßen vom +Ich* produziert s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>en


330 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE+materiellen* und psycho-logischen H<strong>in</strong>tergrund haben, denn sie können als Fluchtreaktionenvor den zur Verwirklichung drängenden Äußerungen <strong>der</strong> das ver<strong>in</strong>nerlichte Ich-Ideal bedrohendenLibido gedeutet werden (vgl. ebd.; S. 318). 19Je nachdem, ob die +reale* o<strong>der</strong> die +neurotische* Komponente überwiegt, kann Angst lautNeumann verschiedene Funktionen und Konsequenzen haben: Als Realangst vermag sie vordrohenden Gefahren zu warnen und zu schützen. Wurde e<strong>in</strong>e Gefahrensituation erfolgreichüberstanden, so kann sogar e<strong>in</strong> +kathartischer Effekt* e<strong>in</strong>treten.20Dom<strong>in</strong>iert dagegen dasneurotische, +irreale* Element, so hat das Phänomen <strong>der</strong> Angst, das Neumann generell ausEntfremdungserfahrungen ableitet, e<strong>in</strong>e destruktive Wirkung und macht unfähig, zu handeln(vgl. Angst und <strong>Politik</strong>; S. 264ff.). Doch wie ist letztere Aussage mit <strong>der</strong> hier vertretenen Ansichtvere<strong>in</strong>bar, daß Angst <strong>der</strong> treibende +Ursprung* <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ist? Denn offensichtlichwird diese Bewegung <strong>in</strong> ihrer Rastlosigkeit und ihrer gewaltvollen Vehemenz vonmir eher als +zwanghaft* und +neurotisch* und nicht als +kathartisch* o<strong>der</strong> +befreiend* angesehen.21Doch es ist paradoxerweise gerade ihr +Bewegungsdrang*, <strong>der</strong> die Mo<strong>der</strong>ne para-lysiert: Sie kann <strong>in</strong> ihrem stetigen Werden nicht se<strong>in</strong> und deshalb auch nicht Se<strong>in</strong>-lassen,Nachsicht (gegen sich selbst und ihre – imag<strong>in</strong>ären – Gegner) üben. Die bewegende Angst<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne fixiert also die Mo<strong>der</strong>ne, <strong>in</strong>dem sie diese im +stahlharten Gehäuse* (Weber)ihres rigorosen Rationalismus gefangen hält, sie auf ihrem e<strong>in</strong>geschlagen Fluchtweg <strong>der</strong> rationalistischenAmbivalenz-Tilgung immer weiter vorantreibt.Dieses regressive Element <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* haben, wie schon oben erwähntwurde, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Horkheimer und Adorno herausgearbeitet (denen Neumann als zeitweiligerMitarbeiter des emigrierten +Instituts für Sozialforschung* sehr nahe stand): +Der Fluch desFortschritts ist die unaufhaltsame Regression* (S. 42), so bemerken sie unter dem E<strong>in</strong>druck<strong>der</strong> Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Aufklärung, die ehemals angetretenwar, zur Befreiung des Menschen +die Mythen auf[zu]lösen und E<strong>in</strong>bildung durch Wissen[zu] stürzen* (ebd.; S. 9), entwickelte sich zu e<strong>in</strong>em gewaltvollen und +totalitären* System,denn +nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewaltantut* (ebd.; S. 10). +Ihren eigenen Ideen von Menschenrecht ergeht es dabei nicht an<strong>der</strong>sals den älteren Universalien.* (Ebd.; S. 12)Streng genommen war aber bereits <strong>der</strong> Mythos selbst <strong>der</strong> Beg<strong>in</strong>n des Aufklärungsdenkens,denn dieser will darstellen und erklären und damit (erzählend) Macht über Mensch und Natur


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 331gew<strong>in</strong>nen (vgl. ebd.; S. 14).22Im weiteren Verlauf geht so schließlich +<strong>der</strong> Mythos […] <strong>in</strong>die Aufklärung über und die Natur <strong>in</strong> die bloße Objektivität* (ebd.; S. 15). Allerd<strong>in</strong>gs ist diegewonnene Herrschaft über die <strong>in</strong>nere wie die äußere Natur zwiespältig: +Die Menschenbezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit <strong>der</strong> Entfremdung von dem, worüber sie die Machtausüben* (ebd.). Die Quelle dieses die Entfremdung immer weiter steigernden Herrschaftsstrebensist die Angst, die sich damit – da sie sich wie<strong>der</strong>um aus Entfremdung speist – latent potenziert.So kommen Horkheimer und Adorno, wie bereits im Prolog zitiert (siehe S. XXXII), zu demSchluß: +Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst.* (Ebd.; S. 22)In dieser parallelen Radikalisierung von Angst und Aufklärung geht die ursprüngliche Dialektikschließlich <strong>in</strong> E<strong>in</strong>dimensionalität über, und die zu e<strong>in</strong>em alles durchdr<strong>in</strong>genden System ausgeweitetekapitalistische Kultur<strong>in</strong>dustrie br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> identisches Individuum hervor, das mitallem identisch se<strong>in</strong> darf, nur nicht mit sich selbst (vgl. ebd.; S. 128ff. sowie Marcuse: Dere<strong>in</strong>dimensionale Mensch). Derart von se<strong>in</strong>er +authentischen Basis* abgeschnitten, wird dasSelbst <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zu e<strong>in</strong>em regressiven Selbst, und die +entfesselte* (subjektive) Vernunftentäußert sich aller (objektiven) Grundlagen, so daß <strong>in</strong> ihrem Namen nunmehr selbst dieschrecklichste +Barbarei* möglich und rechtfertigbar wird (vgl. Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung; S.177ff.). Die tabula rasa, die Revolution <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, ist also tatsächlich e<strong>in</strong> Regreß, unddie <strong>in</strong> ihrer Bewegung radikalisierte und +aufgestaute* Angst, die das verunsicherte Selbst<strong>in</strong> das schützende wie e<strong>in</strong>engende Gehäuse <strong>der</strong> rationalistischen Ordnung flüchten läßt (unddie so verdrängt wird), entlädt sich potentiell <strong>in</strong> Gewalt. Das gleichzeitige Versprechen vonFreiheit und Sicherheit bleibt auf diesem Weg une<strong>in</strong>lösbar. Was sich <strong>der</strong> mühevoll hergestelltenOrdnung wi<strong>der</strong>setzt, muß vernichtet werden, denn sonst stürzt das Individuum zurück <strong>in</strong>die Bodenlosigkeit <strong>der</strong> Angst.Diese Sicht ist aber natürlich selbst e<strong>in</strong> (mo<strong>der</strong>ner) Mythos, e<strong>in</strong>e Erzählung, die die verborgenenPotentiale <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Angst und <strong>der</strong> Aufklärung nicht spiegelt und entfaltet, son<strong>der</strong>n<strong>in</strong> <strong>der</strong> ihrerseits e<strong>in</strong>dimensionalen Interpretation dieses Zusammenhangs ausblendet.23In ihrerimmer weiteren Radikalisierung könnte die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne sich nämlich vielleichtauch selbst überschreiten bzw. e<strong>in</strong>e neue Richtung e<strong>in</strong>schlagen. Sie könnte dann – wennsie sich auf sich selbst zubewegt, <strong>in</strong>dem sie sich zu h<strong>in</strong>terfragen beg<strong>in</strong>nt und ihre Ängste ernstnimmt – möglicherweise <strong>der</strong> Ambivalenz, <strong>der</strong> Differenz und dem Wi<strong>der</strong>spruch ihren Raumlassen. Dies ist e<strong>in</strong>e Auffassung, wie sie ganz ähnlich auch Zygmunt Bauman vertritt. Allerd<strong>in</strong>gs


332 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEzeigt Bauman, im expliziten Anschluß an die Thesen <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung*, zu Beg<strong>in</strong>nse<strong>in</strong>er Ausführungen über +Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz* (1991) zunächst ebenfalls die gewaltvollen,Angst-getriebenen Tendenzen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf, alles Ambivalente zu tilgen.Ambivalenz, das von <strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dung von Kontrollverlusten begleitete Une<strong>in</strong>deutige, ist lautBauman paradoxerweise e<strong>in</strong> Produkt <strong>der</strong> Klassifizierungsbemühungen des mo<strong>der</strong>nen Rationalismus,<strong>der</strong> Ordnung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Begriffssystemen herzustellen bestrebt ist (vgl. S. 13ff.): Sche<strong>in</strong>tAmbivalenz auf, so wird <strong>der</strong> Versuch gemacht, neue, differenziertere Klassen zu bilden, wasaber zwangsläufig immer auch neue Möglichkeiten für Ambivalenz hervorbr<strong>in</strong>gt. Die Bewegung<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne schafft also <strong>in</strong> ihren klassifizierenden E<strong>in</strong>- und Ausschließungen Ambivalenzen,die im Bemühen um die Herstellung von Ordnung immer vehementer bekämpft werden(vgl. ebd.; S. 15f.). Die Mo<strong>der</strong>ne ist demgemäß e<strong>in</strong>e ordnende Sisyphusarbeit, e<strong>in</strong> nie enden<strong>der</strong>Krieg gegen die Ambivalenz und das Chaos. Und im Ordnen und Trennen ist die Mo<strong>der</strong>neso (ohn)mächtig wie gewaltvoll. Was zweideutig und vermischt ist, untergräbt ihre trennendeMacht und muß deshalb getilgt werden (vgl. ebd.; S. 19f. u. S. 25ff.).Das die Ambivalenz vernichtende (und ungewollt erzeugende) Ordnungsstreben <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>neerstreckt sich aber natürlich nicht alle<strong>in</strong>e auf die Sprache und das Denken, son<strong>der</strong>n manifestiertsich auch im Bereich des Politischen: Der Staat soll als +Gärtner* <strong>in</strong> den +sozialen Wildwuchs*(beschneidend) e<strong>in</strong>greifen (vgl. ebd.; S. 40ff.). In <strong>der</strong> territorial und sozial abgegrenzten imag<strong>in</strong>ärenGeme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong> +Nation* wird also – aus Angst vor dem Unbestimmten – E<strong>in</strong>heitund Homogenität angestrebt und somit e<strong>in</strong> Kampf gegen die Unbestimmtheit des (freilichnur sozial konstruierten) Fremden geführt (vgl. ebd.; S. 83ff. u. S. 97f.). Doch gerade <strong>der</strong>Fremde, dessen +Prototyp* nach Bauman <strong>der</strong> Jude ist, kann – wo er dem Assimilationsdrucknicht nachgibt und sobald er se<strong>in</strong>e erzwungene Fremdheit (die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Assimilation natürlichnur umso deutlicher hervortritt) reflektiert – aus se<strong>in</strong>er Position <strong>der</strong> gleichzeitigen Nähe undDistanz heraus <strong>der</strong> Gesellschaft den Spiegel vorhalten (vgl. ebd.; S. 105ff.): Er verfügt überdas +Gift <strong>der</strong> Heimatlosigkeit* als se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tellektuelle Waffe (vgl. ebd; S. 118). In diesem S<strong>in</strong>nliegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Fremdheit e<strong>in</strong>e Chance zur Erkenntnis. Und da Fremdheit mit <strong>der</strong>weitergehenden Mo<strong>der</strong>nisierung als trennende (und entwurzelnde) Differenzierung zu e<strong>in</strong>erallgeme<strong>in</strong>en, universalen Erfahrung wird (vgl. ebd.; S. 123), könnte die Mo<strong>der</strong>ne, <strong>in</strong>dem sieEntfremdungserfahrungen produziert, nicht nur Angst auslösen, son<strong>der</strong>n – im Bewußtse<strong>in</strong>und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reflexion <strong>der</strong> Angst – diese transzendieren (vgl. ebd.; S. 127ff.).


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 333Doch bevor nach den Möglichkeiten für e<strong>in</strong>e reflexive +Überschreitung* <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>ne gefragt wird, bevor die Mo<strong>der</strong>ne +reflektiert* werden kann, müssen ihre angstvollen+Ursprünge* noch e<strong>in</strong>mal näher und vor allem konkret beleuchtet werden. Dies kann geschehen,<strong>in</strong>dem man die <strong>in</strong> ihr so dom<strong>in</strong>ante Ideologie des Rationalismus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en historisch-biographischenKontext stellt, anstatt sie abstrakt und abgetrennt von ihrer +Genese* zu untersuchen.Bauman stellt sich dieser Aufgabe <strong>in</strong> ihrer historischen Dimension nicht sehr ausführlich. Erbeschränkt sich darauf, den britischen Historiker Stephen Coll<strong>in</strong>s zu zitieren, <strong>der</strong> sich im Rahmense<strong>in</strong>er Betrachtung <strong>der</strong> Grundlegung des mo<strong>der</strong>nen Staates im England <strong>der</strong> Renaissance auchmit dem Ordnungsdenken Thomas Hobbes’ ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat und bemerkt: +Hobbesbegriff, daß e<strong>in</strong>e im Fluß bef<strong>in</strong>dliche Welt natürlich war und Ordnung geschaffen werdenmußte, um das, was natürlich war, zu unterdrücken.* (Zitiert nach ebd.; S. 17) 24Hobbes, dessen <strong>in</strong>strumentelle E<strong>in</strong>stellung zur +Natur* Coll<strong>in</strong>s hier treffend charakterisiert,ist für mich e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> <strong>in</strong>teressanten Figuren des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts, <strong>in</strong> welchem das rationalistischeDenken antrat, <strong>in</strong> <strong>der</strong> theoretischen wie praktischen Krise <strong>der</strong> alten Ordnung die Hoheit zuerobern. Allerd<strong>in</strong>gs sticht Hobbes weniger wegen se<strong>in</strong>er philosophischen Brillanz hervor, son<strong>der</strong>nweil sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Biographie wie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk die wi<strong>der</strong>sprüchlichen Tendenzen <strong>der</strong>Angst-getriebenen Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne so deutlich wie bei kaum e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Denkerse<strong>in</strong>er Zeit spiegeln: Er ist e<strong>in</strong> +konservativer Revolutionär*, e<strong>in</strong> Bewahrer und Erneuerer,e<strong>in</strong>er, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> scholastischen Denk-Ordnung Abschied nimmt, um mit <strong>der</strong> ordnendenKraft <strong>der</strong> +geometrischen Methode* die bedrohte soziale Ordnung wie<strong>der</strong> herzustellen.Die sich aus dieser +gespaltenen* Position ergebenden (politik)theoretischen Folgerungen Hobbes’wurden bereits <strong>in</strong> Kapitel 1 relativ ausführlich dargestellt (siehe S. 21–25). Sie müssen deshalbhier nicht noch e<strong>in</strong>mal detailliert referiert werden. Und schon dort wurde von mir herausgestrichen,daß <strong>der</strong> Schlüssel zum Verständnis se<strong>in</strong>er zwar rational argumentierenden, aber– durch die totale (rechtliche) Entäußerung, die er den Vertragsschließenden mit se<strong>in</strong>emVertragstext +diktiert* – letztendlich irrationalen vertragstheoretischen Konstruktion <strong>in</strong> <strong>der</strong> Angstzu suchen ist, die se<strong>in</strong> Leben begleitete: 25Schon Hobbes’ Geburt im Jahr 1688 stand unter dem drohenden E<strong>in</strong>druck des E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gens<strong>der</strong> spanischen Armada <strong>in</strong> britische Gewässer, was ihn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Autobiographie zu <strong>der</strong> bekannten(und bereits zitierten) Bemerkung veranlaßt, se<strong>in</strong>e Mutter habe Zwill<strong>in</strong>ge geboren: ihn unddie Furcht. Ansonsten spielt die Mutter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en +Er<strong>in</strong>nerungen* so gut wie ke<strong>in</strong>e Rolle. Es


334 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEist nur bekannt, daß sie aus e<strong>in</strong>er bäuerlichen Familie stammte und wohl nicht sehr gebildetwar. Auch von se<strong>in</strong>em Vater, e<strong>in</strong>em als Choleriker bekannten Vikar, +erbte* er nur den Namen 26und kaum se<strong>in</strong>en immensen Wissensdurst, denn jener hatte, wie Hobbes ebenfalls <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erAutobiographie bemerkt, +ke<strong>in</strong>e Schätzung für Gelehrsamkeit, da er ihre Reize nicht kannte*(zitiert nach Tönnies: Hobbes; S. 1). Man darf annehmen, daß das als sehr begabte beschriebeneK<strong>in</strong>d nicht nur unter <strong>der</strong> +Ignoranz* se<strong>in</strong>er Eltern zu leiden hatte, son<strong>der</strong>n ebenso unter denWutausbrüchen des Vaters. Dieser mußte, nachdem er bei e<strong>in</strong>er gewalttätigen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzunge<strong>in</strong>en Amtsbru<strong>der</strong> verletzt hatte, allerd<strong>in</strong>gs aus <strong>der</strong> Stadt fliehen. Von da an übernahmThomas’ Onkel, <strong>der</strong> Bürgermeister se<strong>in</strong>es Geburtsorts Malmesbury, die Erziehung des Jungenund kümmerte sich um se<strong>in</strong>e Ausbildung. Die Schulzeit war für ihn aber trotz o<strong>der</strong> geradeaufgrund se<strong>in</strong>er Begabung vermutlich ke<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Vergnügen: Er wird als zurückgezogen undgrüblerisch geschil<strong>der</strong>t. Und die an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong> verspotten ihn. Sie nennen ihn wegen se<strong>in</strong>erschwarzen Haare +die Krähe*. Vielleicht stürzt Thomas, <strong>der</strong> Grübler, +die Krähe*, sich deshalbumso mehr <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Bücherwelt. Erst vierzehnjährig erhält er e<strong>in</strong>en Studienplatz <strong>in</strong> Oxford.Dort lehrt er auch kurze Zeit, nachdem er se<strong>in</strong> Baccalaureat abgeschlossen hat, klassischeLogik. Mit 20 Jahren nimmt er dann e<strong>in</strong>e Anstellung als Hauslehrer bei <strong>der</strong> AdelsfamilieCavendish an, was ihm auch mehrere Studienreisen auf das Festland erlaubt, wo er u.a. mitGalilei und Descartes zusammentrifft. Die erste dieser Reisen im Jahr 1610 steht allerd<strong>in</strong>gsunter dem Schock <strong>der</strong> Ermordung von He<strong>in</strong>rich IV. von Navarra (dem König von Frankreich),die ganz Europa <strong>in</strong> Ungewißheit und Schrecken versetzte und auch den jungen Descarteszutiefst erschüttert hat (siehe unten).Die folgenden Jahre verliefen (persönlich) eher ruhig. Im Vorfeld des englischen Bürgerkriegs(1642–48) ergriff Hobbes jedoch, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Abfassung eigener philosophischer und politischerSchriften begonnen hatte, mit se<strong>in</strong>em staatstheoretischen Entwurf +Elements of Law* (1640)für die Krone Partei, was ihn zwang, sich <strong>in</strong>s Exil nach Frankreich zu begeben, als sich dieLage zuspitzte. Die Bürgerkriegswirren <strong>in</strong> England erlebte er also nicht aus nächster Nähemit. Doch auch auf dem Festland war die Lage angespannt, denn dort tobten noch immer+Ausläufer* des Dreißigjährigen Kriegs. Als Lehrer des ebenfalls geflüchteten britischen Thronfolgers,<strong>der</strong> am Königshof von Frankreich Unterschlupf gefunden hatte, war er zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ersicheren Lage. Auch hatte er wegen se<strong>in</strong>er, den aufkommenden Absolutismus stützendenSchriften allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en guten Stand am Hof. Aber als er schließlich mit dem +Leviathan*


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 335(1651) <strong>in</strong>direkt Cromwells Regime rechtfertigte, <strong>der</strong> ihm wegen se<strong>in</strong>er quasimonarchischenHerrschaft wohl im nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> als e<strong>in</strong> zuverlässiger Garant <strong>der</strong> Ordnung erschien, mußteer, von Royalisten angegriffen, wie<strong>der</strong>um fliehen – diesmal zurück nach England. Als es dort(1660) zur Restauration <strong>der</strong> Stuarts kam, hatte er allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e erneute Gefahr zu befürchten,denn se<strong>in</strong> ehemaliger Schüler, <strong>der</strong> nun als König Charles II. auf den Thron gehoben wurde,blieb Hobbes trotz <strong>der</strong> geistigen Unterstützung Cromwells verbunden und protegierte ihngegen Anfe<strong>in</strong>dungen <strong>der</strong> Kirche, die ihm wegen se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>strumentellen, dem Politischen klaruntergeordneten Religionsauffassung (vgl. Leviathan; Kap. 31) Atheismus vorwarf. 27Man kann gut nachvollziehen, daß e<strong>in</strong> Denker, dessen Leben so unruhig verlief, und <strong>der</strong><strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit politischer Wirren und Kriege lebte, sich nach Ordnung sehnte. E<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> Angstgespeistes Ordnungsstreben durchdr<strong>in</strong>gt folglich das Werk Hobbes’. Er geht sogar so weit,im Vorwort von +De Cive* (1642) im Interesse <strong>der</strong> Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Ordnung zurDenunziation von +Aufwieglern* aufzurufen (siehe Anmerkung 58, Kap. 1). An<strong>der</strong>erseits ister sich durchaus bewußt, daß die alte Ordnung unwie<strong>der</strong>br<strong>in</strong>glich verloren ist und e<strong>in</strong>e neueOrdnung nur auf neuen Wegen gefunden und errichtet werden kann. Insbeson<strong>der</strong>e die klassischeMoralphilosophie hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen <strong>in</strong> ihrer Aufgabe, das politische Gebäude zu untermauern,kläglich versagt (siehe Anmerkung 54, ebd.). So wendet Hobbes sich den Naturwissenschaftenund ihren Methoden zu, um die soziale Ordnung auf e<strong>in</strong> neues, tragfähigeres Fundamentzu stellen. Denn die Geometrie und die astronomische Himmelsmechanik beschreiben (unds<strong>in</strong>d) <strong>in</strong> sich perfekte Ordnungen. Analog zu ihren methodischen Pr<strong>in</strong>zipien for<strong>der</strong>t Hobbese<strong>in</strong>e exakt def<strong>in</strong>ierende Wissenschaft und Philosophie, so daß mit dem Begriffen mathematischgenau operiert werden kann. Aus den Begriffen und Def<strong>in</strong>itionen muß also alle Zweideutigkeitgebannt werden, die <strong>in</strong>s Chaos führen würde:+E<strong>in</strong>e deutliche, durch richtige Erklärungen gehörig bestimmte und von allen Zweideutigkeiten gesäuberteArt des Vortrags ist gleichsam das Licht des menschlichen Geistes; die Vernunft macht die Fortschritte,Regeln machen den Weg zur Wissenschaft aus, und Wissenschaft hat das Wohl des Menschen zum Ziel.Metaphern aber und nichtssagende o<strong>der</strong> zweideutige Worte s<strong>in</strong>d Irrlichter, bei <strong>der</strong>en Schimmer manvon e<strong>in</strong>em Uns<strong>in</strong>n zum an<strong>der</strong>en übergeht und endlich, zu Streitsucht und Aufruhr verleitet, <strong>in</strong> Verachtunggerät.* (Ebd.; S. 45f. [Kap. 5]).Aufruhr und Streitsucht liegen laut Hobbes <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Natur* des Menschen, nur die Vernunftkann ihnen E<strong>in</strong>halt gebieten – getrieben von se<strong>in</strong>en Leidenschaften (vgl. auch ebd.; Kap.


336 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE6), strebt <strong>der</strong> Mensch nämlich nach immer mehr Macht. Die Maßlosigkeit dieses Verlangensspeist sich aus <strong>der</strong> Angst, das Erworbene zu verlieren:+Zuvör<strong>der</strong>st wird also angenommen, daß alle Menschen ihr ganzes Leben h<strong>in</strong>durch beständig und unausgesetzte<strong>in</strong>e Macht nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en sich zu verschaffen bemüht s<strong>in</strong>d, nicht darum weil sie […] sichmit e<strong>in</strong>er mäßigeren nicht begnügen können, son<strong>der</strong>n weil sie ihre gegenwärtige Macht und die Mittel,glücklich zu leben, zu verlieren fürchten, wenn sie sie nicht vermehren.* (Ebd.; S. 90f. [Kap. 11])Und diese Furcht ist es auch, die sie mißtrauisch gegen an<strong>der</strong>e macht: +Die Furcht, von e<strong>in</strong>eman<strong>der</strong>n Schaden zu erleiden, spornt uns an, dem zuvorzukommen o<strong>der</strong> sich Anhang zu verschaffen,denn e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Mittel, sich Leben und Freiheit zu sichern, gibt es nicht* (ebd.;S. 93) – zum<strong>in</strong>dest nicht im Naturzustand. Hier ist je<strong>der</strong> des an<strong>der</strong>en Fe<strong>in</strong>d, denn die gegenseitigeFurcht, läßt die Menschen im Interesse ihrer Selbsterhaltung zu List und Gewalt greifen,so daß es zum Krieg aller gegen alle kommt (vgl. ebd.; S. 114f. [Kap. 13]).Die Furcht ist an<strong>der</strong>erseits aber auch die Quelle für die vernunftgemäße Überw<strong>in</strong>dung diesesbeklagenswerten Zustands: +Die Leidenschaften, die die Menschen zum Frieden unter sichgeneigt machen können, s<strong>in</strong>d die Furcht überhaupt und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Furcht vor e<strong>in</strong>emgewaltsamen Tod*, bemerkt Hobbes (ebd.; S. 118 [Kap. 13]). Aus dieser Todesfurcht herausund dem ersten Gesetz <strong>der</strong> Natur folgend, das besagt: +Suche den Frieden und jage ihmnach* (ebd.; S. 119 [Kap. 14]), übertragen die Menschen ihr natürliches Recht auf alles(<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e das Recht zur Selbstverteidigung) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wechselseitig geschlossenen Vertrage<strong>in</strong>em Dritten – unter <strong>der</strong> Maßgabe, daß dieser für Ruhe und Ordnung sorgt, damit die vonden Menschen erarbeiteten und erworbenen Güter <strong>in</strong> Zukunft ohne Angst genossen werdenkönnen (ebd.; S. 155 [Kap. 17]).28Damit ist <strong>der</strong> staatliche Leviathan, <strong>der</strong> +sterbliche Gott*und +künstliche Mensch* geboren.Wie aus diesen Zitaten ersichtlich ist, spielt die Furcht bzw. die Angst <strong>in</strong> Hobbes’ Theoriegebäudee<strong>in</strong>e sehr zentrale Rolle. Es ist also nicht verwun<strong>der</strong>lich, daß bereits Carl Schmitt auf diesenAspekt ausführlich e<strong>in</strong>geht.29In dem Band +Der Leviathan <strong>in</strong> <strong>der</strong> Staatslehre des Thomas Hobbes*(1938) bemerkt er: +Der Schrecken des Naturzustands treibt die angsterfüllten Individuenzusammen* (S. 48). Sie flüchten, geleitet vom +Licht des Verstandes*, <strong>in</strong> die schützendenArme des Leviathan, den Schmitt allerd<strong>in</strong>gs weniger als organischen +Körper*, son<strong>der</strong>n vielmehrals e<strong>in</strong>e gewaltige Masch<strong>in</strong>e, als e<strong>in</strong>en Mechanismus <strong>der</strong> Angstbeseitigung und zur Sicherungdes diesseitigen physischen Dase<strong>in</strong>s <strong>in</strong>terpretiert (vgl. ebd.; S. 54).30Hobbes spezifische Leistung


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 337erkennt Schmitt <strong>in</strong> <strong>der</strong> mythischen Kraft, die <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bild vom Leviathan steckt, und <strong>in</strong><strong>der</strong> Existentialität <strong>der</strong> Angst, die von Hobbes, wie er me<strong>in</strong>t, so +furchtlos* zu Ende gedachtwird (vgl. ebd.; 131f.). 31Aus dieser von Schmitt bei Hobbes konstatierten Existentialität <strong>der</strong> Angst wird <strong>in</strong> BerhardWillms’ Leviathan-Interpretation gar e<strong>in</strong>e Dialektik <strong>der</strong> Angst. In Anlehnung an Herbert (vgl.Thomas Hobbes’ Dialectic of Desire)32bemerkt er: +Die Angst ist <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuell-praktischeAusdruck <strong>der</strong> unausweichlichen formalen Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> ›conditio humana‹ als Freiheit. 33Diese Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> Freiheit ist ebenso unausweichlich wie <strong>der</strong> Ausgang von dieserFreiheit selbst unvermeidlich ist.* (Die Angst, die Freiheit und <strong>der</strong> Leviathan; S. 86) Allerd<strong>in</strong>gswird nach Willms im Ausgang <strong>der</strong> Freiheit diese durch den staatlichen Leviathan (dialektischsynthetisch)verwirklicht, und so +ersche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Leviathan als Aufhebung <strong>der</strong> Freiheit geradenicht, <strong>in</strong>dem er sie beseitigt, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>dem er sie […] <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en lebbaren Zustand überführt*(ebd.; S. 88).Diese, das Moment <strong>der</strong> Freiheit im Rahmen des staatlichen Leviathan betonende, hegelianischeDeutung ersche<strong>in</strong>t mir allerd<strong>in</strong>gs aus doppeltem Grund fragwürdig: Erstens besteht die Freiheit<strong>der</strong> Staatsbürger nach Hobbes +nur <strong>in</strong> den Handlungen, welche <strong>der</strong> Gesetzgeber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enGesetzen übergangen hat* (Leviathan; S. 190 [Kap. 21]). Die bürgerliche Freiheit ist also beiihm stark beschränkt, und sie entspr<strong>in</strong>gt auch nicht aus <strong>der</strong> (Dialektik <strong>der</strong>) Furcht, son<strong>der</strong>nist bestenfalls mit ihr kompatibel.34Zweitens dient die Vernunft bei Hobbes nicht <strong>der</strong> Reflexion<strong>der</strong> Angst (womit e<strong>in</strong>e Dialektik entfaltet werden könnte), son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Rekurs auf die Ratioist, wie bereits oben anklang, vielmehr e<strong>in</strong> Fluchtpunkt: Die (an sich dialektische) Angst wirdnicht gespiegelt, gelebt und zugelassen, es kommt zu ke<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit ihr,son<strong>der</strong>n sie wird verdrängt und beseitig, rational unterworfen. Dieses deflexive Element desneuzeitlichen Rationalismus und <strong>der</strong> +ursprünglichen* Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne überhauptläßt sich auch bei René Descartes deutlich aufzeigen.Hobbes und Descartes s<strong>in</strong>d sich <strong>in</strong> Paris persönlich begegnet, und Hobbes hat zu Descartes’+Meditationes* (1641), also dessen Versuch e<strong>in</strong>er systematischen Grundlegung <strong>der</strong> Philosophie,e<strong>in</strong>e Reihe von E<strong>in</strong>wänden vorgetragen, die von Descartes auch erwi<strong>der</strong>t wurden. Der wichtigsteUnterschied zwischen beiden Denkern, <strong>der</strong> nicht nur <strong>in</strong> diesem +Dialog* deutlich wird, ist<strong>der</strong> Umstand, daß Hobbes streng materialistisch denkt, während Descartes mit se<strong>in</strong>er Unterscheidungvon res extensa und res cogitans (die im Zentrum se<strong>in</strong>er sechsten Meditation steht)


338 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEe<strong>in</strong>en Leib-Seele-Dualismus, e<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen Subjekt (Geist) und Objekt (Materie)zugrunde legt. Insgesamt betrachtet überwiegen jedoch – speziell was die geme<strong>in</strong>same Orientierungan <strong>der</strong> naturwissenschaftlich-mathematischen Methodik anbelangt – die Überschneidungen(vgl. hierzu auch Tönnies: Hobbes; S. 106ff.). 35Überschneidungen gibt es aber nicht nur auf <strong>in</strong>haltlicher Ebene, son<strong>der</strong>n auch was den +Antrieb*ihres Denkens anbelangt. Und hier komme ich wie<strong>der</strong> auf das Moment <strong>der</strong> Angst zurück:Bei beiden geschieht die Flucht <strong>in</strong>s Rationale, um e<strong>in</strong>e tief sitzende, existentielle Angst zuüberw<strong>in</strong>den. Genauso wie Hobbes zu diesem Zweck den (absoluten) Staat auf e<strong>in</strong>e strengrationale Basis stellen wollte (und deshalb die klassische Moralphilosophie und ihre theologischenBegründungen h<strong>in</strong>wegfegen mußte), so wollte Descartes e<strong>in</strong>e nicht mehr anzweifelbare, (absolut)sichere Grundlage <strong>der</strong> Philosophie im Denken hervorkehren (weshalb er gleichfalls das scholastischeSystem umstürzen mußte). Und auch bei ihm f<strong>in</strong>den sich historisch-biographischeGründe als Erklärung für diesen Versuch, mit e<strong>in</strong>er (+vernünftigen*) tabula rasa die Angst unddie Unsicherheit zu besiegen:René Descartes (bzw. Des-Cartes) wurde 1596 <strong>in</strong> La Haye (West-Frankreich) geboren.36Se<strong>in</strong>eFamilie, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich e<strong>in</strong>e Reihe von Ärzten und Universitätsgelehrten f<strong>in</strong>det, gehörte demnie<strong>der</strong>en Adel an. Se<strong>in</strong> Vater war Jurist und se<strong>in</strong>e Mutter, die nur e<strong>in</strong> Jahr nach se<strong>in</strong>er Geburtstarb, stammte aus e<strong>in</strong>er Beamtendynastie. Um e<strong>in</strong>e gute Erziehung des Jungen sicherzustellen,wurde er mit acht Jahren von se<strong>in</strong>em Vater auf das Collège Royal <strong>in</strong> La Flèche geschickt –e<strong>in</strong>e durch He<strong>in</strong>rich IV. (auf <strong>der</strong>en Gesuch h<strong>in</strong>) neu gegründete Internatsschule <strong>der</strong> Jesuiten.Die Ermordung von He<strong>in</strong>rich im Jahr 1610 und die anschließende Beisetzung se<strong>in</strong>es Herzens<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kapelle von La Flèche (die gemäß e<strong>in</strong>er früheren Abmachung zwischen He<strong>in</strong>rich und<strong>der</strong> Gesellschaft Jesu erfolgte) hat den jungen Descartes, zum<strong>in</strong>dest wenn man sich <strong>der</strong>Schil<strong>der</strong>ung von Stephen Toulm<strong>in</strong> anschließt, tief bee<strong>in</strong>druckt und geprägt. Denn He<strong>in</strong>richIV. war allgeme<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Hoffnungssymbol se<strong>in</strong>er Zeit. Er stammte aus e<strong>in</strong>em protestantischenAdelsgeschlecht, konvertierte dann jedoch, um sich den Rückhalt <strong>der</strong> +katholischen Liga*zu sichern, zum Katholizismus. Allerd<strong>in</strong>gs blieb er, solange er regierte, um e<strong>in</strong>en Ausgleichzwischen den verfe<strong>in</strong>deten Religionsgruppen bemüht. Und so bemerkt Toulm<strong>in</strong>: +Die ErmordungHe<strong>in</strong>rich IV. versetzte den Hoffnungen <strong>der</strong>er e<strong>in</strong>en tödlichen Schlag, die <strong>in</strong> Frankreich undan<strong>der</strong>swo <strong>in</strong> <strong>der</strong> Toleranz e<strong>in</strong>e Möglichkeit zur Beilegung <strong>der</strong> Bekenntnisstreitigkeiten sahen.*(Kosmopolis; S. 93)


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 339Da man die Jesuiten h<strong>in</strong>ter dem Mord an He<strong>in</strong>rich vermutete, bemühte man sich <strong>in</strong> La Flèchealles erdenkliche zu tun, um diesen Verdacht zu entkräften. Man <strong>in</strong>szenierte e<strong>in</strong>e aufwendigeFeier und am Jahrestag <strong>der</strong> Beisetzung wurde e<strong>in</strong>e Sammlung von Aufsätzen <strong>der</strong> besten Schülerdes Collège zum Ruhme He<strong>in</strong>richs druckgelegt. Die meisten dieser anonymen Texte, dieerst kürzlich wie<strong>der</strong>entdeckt wurden, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Late<strong>in</strong> o<strong>der</strong> Griechisch abgefaßt, nur wenige<strong>in</strong> Französisch. Toulm<strong>in</strong> will <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em jener Aufsätze Descartes’ +Handschrift* erkennen –denn <strong>in</strong> dem betreffenden Text wird die Entdeckung <strong>der</strong> Jupitermonde durch Galilei mitHe<strong>in</strong>rich und se<strong>in</strong>em Tod verbunden (was zu Descartes’ naturwissenschaftlicher Orientierungpassen würde). Der unbekannte Autor empfiehlt dem trauernden Frankreich nämlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emangefügten Sonnett, von den Klagen über den Verlust des geliebten Königs abzulassen, +DennGott hat ihn von <strong>der</strong> Erde versetzt/In den Himmel Jupiters, allwo er nun leuchtet/Den Sterblichenals e<strong>in</strong> himmlisches Licht* (zitiert nach ebd.; S. 105). Ob es sich beim Verfasser dieser Zeilentatsächlich um den jungen Descartes handelt o<strong>der</strong> nicht – Toulm<strong>in</strong> me<strong>in</strong>t, daß die ErmordungHe<strong>in</strong>richs <strong>in</strong> jedem Fall e<strong>in</strong> verunsicherndes Schlüsselereignis für diesen gewesen se<strong>in</strong> muß,das ihn bewog, künftig nach Ordnung und Gewißheit zu suchen.Descartes’ weiterer Lebensweg führte ihn jedoch zunächst <strong>in</strong> Krieg und Chaos, und vielleichtwaren es doch eher se<strong>in</strong>e Erfahrungen als Soldat, die ihn zu se<strong>in</strong>er Suche nach unumstößlichenWahrheiten und fundamentaler Sicherheit veranlaßt haben: 1612 verließ er das Collège vonLa Flèche, um (mit gutem Erfolg) Rechtswissenschaften <strong>in</strong> Poitiers zu studieren. Nach Abschlußdes Studiums im Jahr 1616 lehrte er allerd<strong>in</strong>gs nur kurze Zeit an <strong>der</strong> juristischen Fakultät,denn se<strong>in</strong> Vater schickte ihn 1618 zur Militärausbildung <strong>in</strong> die Nie<strong>der</strong>lande. Im Vorfeld des30jährigen Kriegs machte er dort die prägende Bekanntschaft des Physikers Isaak Beekmann,<strong>der</strong> se<strong>in</strong> schon lange bestehendes mathematisch-naturwissenschaftliches Interesse noch verstärkteund ihn zum Nachdenken über se<strong>in</strong>e Zukunft veranlaßte. 37Descartes gab aber se<strong>in</strong> Soldatendase<strong>in</strong> nicht sogleich auf, son<strong>der</strong>n schloß sich nach e<strong>in</strong>ermehrmonatigen Reise durch das östliche Europa 1619 den Truppen des Herzogs Maximilianvon Bayern an, die <strong>in</strong> Ulm überw<strong>in</strong>terten. Dort hatte er, genau e<strong>in</strong> Jahr nach se<strong>in</strong>er erstenBegegnung mit Beekmann, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacht vom 10. auf den 11. November e<strong>in</strong>e Serie von<strong>in</strong>sgesamt drei Träumen, von denen uns, gestützt auf verlorengegangene AufzeichnungenDescartes’, se<strong>in</strong> erster Biograph, Adrian Baillet, <strong>in</strong> dem Band +La vie de Monsieur Des-Cartes*(1691) berichtet.


340 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDie Träume spiegeln se<strong>in</strong>e große Unsicherheit <strong>in</strong> dieser Periode. Er weiß nicht, wo er steht,und er ist ansche<strong>in</strong>end auch erregt durch e<strong>in</strong>e Entdeckung, die er am Vortag gemacht hat,sowie durch e<strong>in</strong>en Tuberkuloseanfall noch physisch mitgenommen. Im ersten Traum mußer gegen e<strong>in</strong>en Sturm ankämpfen, <strong>der</strong> ihn vom Weg abdrängt und nie<strong>der</strong>drückt als er dieKirche des Collège von La Flèche erblickt und auf sie zustrebt. Im zweiten Traum hat er dieVision e<strong>in</strong>es furchterregenden Gewitters mit Blitz- und Donnerschlag. Im dritten Traum siehter zwei Bücher vor sich: e<strong>in</strong> +Dictionnaire* und e<strong>in</strong>e Gedichtsammlung. Beim Öffnen letztererstößt er auf den Vers +Quod vitae sectabor iter?* (Welchen Lebensweg soll ich e<strong>in</strong>schlagen?)sowie auf die vielsagende Zeile +Est et non* (Es ist und ist nicht). 38Descartes hat, wie ebenfalls von Baillet überliefert wird, selbst versucht, se<strong>in</strong>e Träume zudeuten. Den W<strong>in</strong>d im ersten Traum <strong>in</strong>terpretierte er als bösen Geist, <strong>der</strong> ihn vom rechtenWeg abbr<strong>in</strong>gen wollte, den Donnerschlag aus dem zweiten Traum verstand er dagegen als+Zeichen des Geistes <strong>der</strong> Wahrheit, <strong>der</strong> zu ihm herabstieg, um von ihm Besitz zu ergreifen*(Baillet, zitiert nach Röd: Descartes; S. 20). Der dritte Traum schließlich ruft Descartes offensichtlichzu e<strong>in</strong>er Entscheidung über se<strong>in</strong>e Zukunft auf und leitet damit se<strong>in</strong>e Metamorphosevom unsicheren Sucher zum Philosophen <strong>der</strong> Gewißheit e<strong>in</strong> (vgl. auch ebd.; S. 17). Interessantist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang e<strong>in</strong>e psychoanalytische Deutung durch Marie Louise Franz,<strong>in</strong> welcher die beiden late<strong>in</strong>ischen Gedichtzeilen als Spiegelungen <strong>der</strong> unbewußten GefühlsregungenDescartes <strong>in</strong>terpretiert werden. Ausgehend von dieser e<strong>in</strong>leuchtenden Interpretationfolgert Franz:+Er [Descartes] traut dem Leben überhaupt nicht, auch sich nicht und den an<strong>der</strong>en […] Es ist wohl <strong>der</strong>frühe Tod <strong>der</strong> Mutter, <strong>der</strong> jeden Lebensmut, jedes Vertrauen zum Leben und zum eigenen Gefühl vonihm weggenommen hat, so daß er sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> alle<strong>in</strong>igen Aktivität se<strong>in</strong>es Denkens abkapselte.* (Zitiertnach ebd.; S. 21) 39Das philosophische Denken Descartes’ wird also hier als Fluchtversuch vor <strong>der</strong> (angstauslösenden)eigenen Gefühlswelt gedeutet, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das K<strong>in</strong>dheitstrauma des frühen Todes <strong>der</strong> Mutter nochimmer nicht verarbeitet ist. Wenn man Descartes’ Kriegserfahrungen und die +Berührung*mit dem Tod He<strong>in</strong>rich von Navarras durch den Aufenthalt am Collège Royal mit berücksichtigt,so gew<strong>in</strong>nt diese Sicht, die Descartes’ strikte Rationalität auf e<strong>in</strong>e emotionale Verunsicherungzurückführt, noch an Plausibilität. Deutliche Spuren dieser Verunsicherung und <strong>der</strong> Angst


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 341f<strong>in</strong>den sich auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Schriften. Zu Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er zweiten Meditation (+Über die Naturdes menschlichen Geistes*), gesteht er zum Beispiel:+Die gestrige Betrachtung hat mich <strong>in</strong> so gewaltige Zweifel gestürzt, daß ich sie nicht mehr vergessenkann, und doch sehe ich nicht, wie sie zu lösen s<strong>in</strong>d; son<strong>der</strong>n ich b<strong>in</strong> wie bei e<strong>in</strong>em unvorhergesehenenSturz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en tiefen Strudel so verwirrt, daß ich we<strong>der</strong> auf dem Grunde festen Fuß fassen, noch zurOberfläche emporschwimmen kann. Dennoch will ich mich herausarbeiten und von neuem ebendenWeg versuchen, den ich gestern e<strong>in</strong>geschlagen hatte: nämlich alles von mir fernhalten, was auch nurden ger<strong>in</strong>gsten Zweifel zuläßt […] Und ich will so lange weiter vordr<strong>in</strong>gen, bis ich irgend etwas Gewisses,o<strong>der</strong> wenn nichts an<strong>der</strong>es, so doch erkenne, daß es nichts Gewisses gibt.* (S. 41ff. [II,1])Der zuletzt angedeuteten Möglichkeit, +daß es nichts Gewisses gibt*, hat sich Descartes, <strong>der</strong>die absolute Gewißheit zur Stabilisierung se<strong>in</strong>es verunsicherten Selbst benötigte, jedoch versperrt,und schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em +Discours de la méthode* (1637) hatte er schließlich im denkendenSubjekt die nicht mehr zu h<strong>in</strong>terfragende Grundlage philosophischer Gewißheit erblickt (vgl.dort S. 51ff. [IV,1] und siehe auch hier S. XIVf.). Im +Ich* offenbarte sich ihm – nachdemer mit dem Pr<strong>in</strong>zip des radikalen Zweifels die alten Fundamente des Wissens e<strong>in</strong>gerissenund neue Fundamente <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er an die mathematische Logik angelehnten Methode gelegthatte – e<strong>in</strong> +archimedischer Punkt* (vgl. ebd.; Abschnitt II u. III).Descartes schreckte mit dieser Angst-getriebenen Ego-Fixierung und <strong>der</strong> mit ihr e<strong>in</strong>hergehendenrationalistischen E<strong>in</strong>engung des Selbst, wie sich aus <strong>der</strong> +relativierenden* Sicht <strong>der</strong> nichtwestlichenPhilosophie-Tradition des Buddhismus heraus formulieren läßt, vor <strong>der</strong> zum Greifennahen Erkenntnis <strong>der</strong> Leerheit (+s’ )unyat)a*) und des Nicht-Ich (+anatt)a*) zurück und setzte anihre Stelle die (zweifelhafte) Gewißheit se<strong>in</strong>es +Ich denke, also b<strong>in</strong> ich* (vgl. auch Varela/-Thompson: Der Mittlere Weg <strong>der</strong> Erkenntnis; S. 197ff. sowie Hunt<strong>in</strong>gton: The Empt<strong>in</strong>ess ofEmpt<strong>in</strong>ess; S. 115f.).40Die dieser deflexiven Objektivierung des Subjekts zugrunde liegendeontologische (d.h. im Se<strong>in</strong> begründete) +cartesianische Angst*, die e<strong>in</strong>e Vermittlung zwischenObjektivismus und Relativismus verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t, ist typisch für den auf E<strong>in</strong>deutigkeit bestehendenRationalismus <strong>der</strong> (frühen) Aufklärung (vgl. auch Bernste<strong>in</strong>: Beyond Objectivism and Relativism;S. 16ff.). Statt im Wahrnehmen und im Zulassen <strong>der</strong> ambivalenten Angst Potentiale für dieerstrebte Freiheit zu f<strong>in</strong>den, kommt es zur +Flucht vor <strong>der</strong> Freiheit* (Fromm)41<strong>in</strong> die Armee<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>seitigen und herrschsüchtigen Vernunft, die – im Ausgleich für ihre vere<strong>in</strong>nahmendeUmfassung – dem verunsicherten Selbst Sicherheit und Halt zu geben verspricht.


342 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEToulm<strong>in</strong> zeigt dieser Sicht entsprechend <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em oben zitierten Buch auf, daß mit <strong>der</strong> vonDescartes und an<strong>der</strong>en frühen Aufklärern <strong>in</strong> ihrem Wissenschaftsprojekt betriebenen +<strong>Politik</strong><strong>der</strong> Gewißheit*, versucht wurde, e<strong>in</strong>e neue +Kosmopolis* zu konstruieren, d.h. e<strong>in</strong> umfassendesSystem zu erschaffen, das die menschliche und die +kosmische* Ordnung* (wie<strong>der</strong>) zu e<strong>in</strong>erlogischen, aufzeig- und sagbaren E<strong>in</strong>heit <strong>in</strong>tegrierte (vgl. Kosmopolis; S. 116ff. u. S. 120ff.). 42Dieses Streben erfor<strong>der</strong>te jedoch e<strong>in</strong>e Abwendung vom Beson<strong>der</strong>en, Lokalen und Zeitgebundenen,das <strong>in</strong> <strong>der</strong> mittelalterlichen Tradition wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Renaissance noch se<strong>in</strong>en Platz hatte,und e<strong>in</strong>e totalisierende H<strong>in</strong>wendung zum Allgeme<strong>in</strong>en, Globalen und Zeitlosen (vgl. ebd.;43S. 60–70). Trotz dieser Umorientierung, ist die angebliche völlige tabula rasa, die Revolution<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, e<strong>in</strong>e Fiktion: Die Grundlegung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Ordnung geschah schließlich<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em spezifischen historischen Kontext, und die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne verfolgt(e) dasProjekt, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit <strong>der</strong> Verunsicherung verlorene Sicherheiten wie<strong>der</strong> herzustellen. Dasläßt sich sogar anhand <strong>der</strong> Französischen Revolution aufzeigen, die nicht nur die +verrottete*Ordnung des Ancien Régime umstürzte, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e viel umfassen<strong>der</strong>e neue Ordnung errichtete(vgl. ebd.; S. 281ff.). Letztendlich ist <strong>der</strong> Impuls <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne damit +konservativ* und – <strong>in</strong><strong>der</strong> (rationalen) Verdrängung <strong>der</strong> sie vorwärtstreibenden Angst – regressiv. Der revolutionäreUrsprung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ist e<strong>in</strong> Mythos, und ihr latenter, die Ambivalenz bekämpfen<strong>der</strong>+Fundamentalismus* ist das Produkt ihrer Wi<strong>der</strong>sprüche, ihres gleichzeitigen rigorosen FreiheitsundSicherheitsbestrebens (vgl. auch Eisenstadt: Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne).Aber ist die Deutung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>der</strong> Angst, auch wenn diese ambivalentist (siehe unten), nicht zu vere<strong>in</strong>fachend? Wurde nicht schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung explizit daraufh<strong>in</strong>gewiesen, daß Mo<strong>der</strong>nisierung e<strong>in</strong> vielschichtiger Prozeß ist? Bevor die reflexiven Potentiale<strong>der</strong> Angst und die Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung im Allgeme<strong>in</strong>en erörtert werden können,muß deshalb zu diesen fragenden E<strong>in</strong>wänden Stellung bezogen werden. In <strong>der</strong> Tat: Mo<strong>der</strong>nisierungwurde von mir <strong>in</strong> Anlehnung an van <strong>der</strong> Loo und van Reijen als e<strong>in</strong> (<strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchlicher)Prozeß dargestellt, <strong>der</strong> die Dimensionen Differenzierung, Individualisierung, Rationalisierungund Domestizierung umfaßt. Man kann diesen Teilprozessen me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nachergänzend bestimmte Pr<strong>in</strong>zipien +zuordnen*: Der Differenzierung liegt das Effizienzpr<strong>in</strong>zipzugrunde, Rationalisierung beruht auf Objektivität (d.h. <strong>der</strong> vernunftgemäßen, <strong>in</strong>tersubjektivenErfassung <strong>der</strong> Welt), und Domestizierung fußt auf Kontrolle. Schon im +Entrée* wurde allerd<strong>in</strong>gsauf die enge Verb<strong>in</strong>dung zwischen Rationalisierung und Domestizierung h<strong>in</strong>gewiesen: Die


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 343Vernunft for<strong>der</strong>t die Zähmung und Beherrschung <strong>der</strong> +Natürlichkeit* des Subjekts und <strong>der</strong>Objekte <strong>der</strong> Umwelt, verlangt die Unterordnung unter ihre vorgebliche +Objektivität*. Setztman die Angst als Motor dieser +verd<strong>in</strong>glichenden Objektivierung* an, so liegt es nahe anzunehmen,daß auch das Kontrollstreben, das <strong>der</strong> Domestizierung zugrunde liegt, <strong>der</strong> Angstentspr<strong>in</strong>gt. Aus kognitionspsychologischer Sicht s<strong>in</strong>d nämlich Kontrollverluste die Hauptquellevon Angstgefühlen (vgl. Bandura: Self-Efficacy sowie Lazarus/Averill: Emotion and Cognition), 44und um die sie treibende Angst <strong>in</strong> den Griff zu bekommen, strebt die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nefolglich nach umfassen<strong>der</strong> Kontrolle.Der Differenzierungsprozeß mit se<strong>in</strong>er Grundlage im Effizienzpr<strong>in</strong>zip steht nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emso offensichtlichen Zusammenhang mit <strong>der</strong> Angst wie Rationalisierung und Domestizierung.Und doch bildet das Effizienzpr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>en +Komplex* mit den Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Objektivitätund <strong>der</strong> Kontrolle. Denn auch die Effizienz dient – zum<strong>in</strong>dest teilweise – <strong>der</strong> Absorbierung<strong>der</strong> Angst: Die arbeitsteilige Differenzierung ist nämlich vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> Angst betrachtet<strong>der</strong> Ausdruck e<strong>in</strong>er drängenden Vor-Sorge, die – wie Hobbes im Kontext se<strong>in</strong>er Naturzustandsbeschreibungherausarbeitete – nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> unaufhörlichen Steigerung <strong>der</strong> (materiellen) Mittelbefriedet werden kann, was wie<strong>der</strong>um Effizienzsteigerungen erfor<strong>der</strong>t. An<strong>der</strong>erseits br<strong>in</strong>gtdie <strong>der</strong> Vor-Sorge geschuldete Differenzierung auch e<strong>in</strong>e (positive wie negativ auffaßbare)Selbst-Sorge hervor: Die effiziente Teilung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Arbeit trennt und vere<strong>in</strong>zeltdie Individuen, die dadurch ebenso freigesetzt wie auf sich selbst gestellt und verwiesen s<strong>in</strong>d.Der Differenzierungsprozeß erzeugt so, wie schon oben dargelegt, <strong>in</strong>direkt Individualisierungsphänomene.Individualisierung be<strong>in</strong>haltet jedoch auch e<strong>in</strong> eigenständiges Moment, das imihr zugrunde liegenden Pr<strong>in</strong>zip – <strong>der</strong> Subjektivität – zum Ausdruck kommt. Dieses Pr<strong>in</strong>zip<strong>der</strong> Subjektivität bildet den potentiellen Gegenpol zum <strong>in</strong>strumentellen Komplex von Objektivität,Kontrolle und Effizienz. Insbeson<strong>der</strong>e dann, wenn sich das Subjekt nicht +vernünftig* vere<strong>in</strong>nahmenläßt (wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> rationalistischen Subjekt-Philosophie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachfolge Descartes’),son<strong>der</strong>n die Angst, die es subjektiv erfährt, spiegelt und befreit und sie damit zu e<strong>in</strong>em Objektse<strong>in</strong>er Selbst-Wahrnehmung macht, wird die Aufsprengung <strong>der</strong> kognitiven Ketten <strong>der</strong> Vernunftund des mit ihr verbundenen <strong>in</strong>strumentellen Komplexes möglich.Alle angesprochenen Teilprozesse <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung lassen sich also zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> e<strong>in</strong>enZusammenhang mit <strong>der</strong> Angst br<strong>in</strong>gen. Aber die Sicht <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>der</strong>Angst ist natürlich nur e<strong>in</strong>e (subjektive) Interpretation, e<strong>in</strong> hermeneutischer Zirkel, <strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e


344 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE(objektive) Wahrheit beanspruchen kann und will. Sie bietet allerd<strong>in</strong>gs die Möglichkeit, dierationalistischen Objektivierungen, die das Denken +verd<strong>in</strong>glichen*, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e reflexive +Objektivität*zu überführen, d.h. den Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß – im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> treibenden Angst –zu e<strong>in</strong>em Gegenstand unserer Betrachtungen zu machen. Die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne entspr<strong>in</strong>gtaus dieser Perspektive e<strong>in</strong>er +kritischen Hermeneutik* (Waldenfels) +ursprünglich* e<strong>in</strong>em deflexivenImpuls: nämlich die Angst durch +Unterdrückung* und rationale Kontrolle zu überw<strong>in</strong>den.Aber durch die latente Dialektik <strong>der</strong> Angst wie des gesamten Prozesses, kann sich die Bewegung<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auch +verkehren*. Um diese Möglichkeit e<strong>in</strong>er reflexiven Mo<strong>der</strong>ne als ihrerbewußten Selbstaufhebung und -überschreitung wird es im folgenden gehen.5.1.2 WEITERGEHENDE MODERNISIERUNG UND DAS ENDE DER GEWIßHEITEN – DIE REFLEXIVE(SELBST-)KONFRONTATION DER SICH +OBJEKTIVIERENDEN* MODERNEDer treibende +Ursprung* <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wurde von mir im Vorangegangenen<strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst verortet. Diese Angst, die ihrerseits aus e<strong>in</strong>em historischen Umbruch, <strong>der</strong> verunsicherndenAuflösung <strong>der</strong> alten Ordnung folgte, bewirkte e<strong>in</strong>e kompensatorische Flucht <strong>in</strong>s Rationale,die <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ebenso e<strong>in</strong>e (Halt) suchende Rastlosigkeit wie die gewaltvolle Tilgung <strong>der</strong>die neue rationalistische Ordnung bedrohenden Ambivalenz diktierte. Die +fundamentale*Revolution <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und ihr +Fortschreiten* ersche<strong>in</strong>t aus dieser Perspektive als Regreß,und auch ihre +gewaltigen* Leistungen beruhen letztlich auf ihrem zwanghaften Charakter.Aber <strong>in</strong> ihrem regressiven Vorwärtsstreben unterhöhlt sich die mo<strong>der</strong>ne Ordnung auch selbst.Sie entzieht sich den Boden, <strong>in</strong>dem die <strong>in</strong> ihr manifestierte Gewalt gegen sie zurückschlägtund die radikalisierte Vernunft sich gegen ihre eigenen Grundlagen richtet. Und währendweitgehend im mo<strong>der</strong>nen Bewußtse<strong>in</strong> verhaftete +Antiquare* <strong>der</strong> westlichen Aufklärung wiez.B. Agnes Heller angesichts dieses latenten +Todeswunsches* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne besorgt fragen:+Can Mo<strong>der</strong>nity Survive?* (1990),45formulieren postpostmo<strong>der</strong>ne Provokateure wie BrunoLatour (siehe auch S. 130ff.) nur lakonisch: +Wir s<strong>in</strong>d nie mo<strong>der</strong>n gewesen* (1991). 46Folgt man Peter Wehl<strong>in</strong>g, so handelt es sich bei <strong>der</strong> (nie gewesenen) Mo<strong>der</strong>ne gar um e<strong>in</strong>en+falschen* S<strong>in</strong>n stiftenden Sozialmythos: +Die angeblich entzauberte Welt br<strong>in</strong>gt neue Mythenhervor, welche die versachlichten Herrschaftsverhältnisse zugleich verschleiern und auf falscheArt bildhaft konkretisieren […]* (Die Mo<strong>der</strong>ne als Sozialmythos; S. 19). Denn h<strong>in</strong>ter dem


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 345Mythos <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne steht – wie immer deutlicher wird – e<strong>in</strong>e fragwürdige Kont<strong>in</strong>uitätsannahme,das Geschichtsbild e<strong>in</strong>es unaufhaltsamen Fortschritts, und die (soziologischen) Mo<strong>der</strong>nisierungstheorienfunktionieren als aktive Stützen im Rahmen dieser Konstruktion (vgl. ebd.: S. 31ff.). 47Das lange dom<strong>in</strong>ante Konzept <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, das diese mit Emanzipation und Freiheit verb<strong>in</strong>deto<strong>der</strong> gar gleich setzt, hätte also nach Wehl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e klar ideologische Funktion. An<strong>der</strong>erseitssche<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Mythos <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne geschwächt zu se<strong>in</strong>, wenn er so +dreist* h<strong>in</strong>terfragt werdenkann. Die mo<strong>der</strong>nen Metaerzählungen haben offensichtlich an narrativer Kraft e<strong>in</strong>gebüßt.Die Kritik an <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird immer lauter, sie durchläuft e<strong>in</strong>e Krise, e<strong>in</strong>e Dekonstruktionund Auflösung. Der Glaube an ihr befreiendes Potential schw<strong>in</strong>det (vgl. auch Toura<strong>in</strong>e: Critiquede la mo<strong>der</strong>nité; <strong>in</strong>sb. S. 111–116). Hat also die treibende Kraft <strong>der</strong> rationalistischen Fluchtbewegung<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – die Angst – nachgelassen? O<strong>der</strong> hat sich die Angst aus den Fesseln<strong>der</strong> Vernunft +befreit* und ist damit +reflexiv* geworden?In diesem Abschnitt soll den reflexiven Potentialen <strong>der</strong> Angst und <strong>der</strong> immanenten Ambivalenz<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung nachgegangen werden. Dazu ist zunächst das e<strong>in</strong>dimensionale Bild <strong>der</strong>Angst, das im Vorangegangenen gezeichnet wurde, dialektisch zu +vertiefen*: E<strong>in</strong>en explizitdialektischen Angstbegriff entwickelte erstmals Søren Kierkegaard (1813-55) – allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>gebunden<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e theologisch-christliche Dogmatik.48Der ursprüngliche Zustand <strong>der</strong> Menschheitwar nach ihm e<strong>in</strong> Zustand <strong>der</strong> Unschuld und <strong>der</strong> Unwissenheit: +In diesem Zustand ist Friedeund Ruhe; aber es ist da zu gleicher Zeit etwas an<strong>der</strong>es, was nicht Unfriede und Streit ist;denn es ist ja nichts, womit man streiten könnte. Was ist es also? Nichts. Aber welche Wirkunghat das Nichts? Es gebiert die Angst. Das ist das tiefe Geheimnis <strong>der</strong> Unschuld, daß sie zugleichAngst ist.* (Der Begriff <strong>der</strong> Angst; S. 40) Auf <strong>der</strong> +natürlichen* Unschuld lastet also nach Kierkegaardschon von Beg<strong>in</strong>n an <strong>der</strong> +Fluch* <strong>der</strong> Angst. Doch die Angst birgt <strong>in</strong> sich auch dieMöglichkeit zur Erlösung. Sie führt den Menschen, wenn er sich ihr h<strong>in</strong>gibt, zum Glaubenund damit zur Befreiung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis Gottes. Deshalb bemerkt Kierkegaard: +Die Angstist die Möglichkeit <strong>der</strong> Freiheit [im Glauben]* (ebd.; S. 141).An dieses dialektische Angst-Konzept Kierkegaards, das allerd<strong>in</strong>gs im synthetischen Motivdes Glaubens wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> E<strong>in</strong>dimensionalität aufgelöst wird, schließt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Existenzphilosophiean, +erlöst* es jedoch von se<strong>in</strong>er theologischen Komponente.49So sieht Heidegger<strong>in</strong> Anlehnung an Kierkegaard +das Fürchten als schlummernde Möglichkeit des bef<strong>in</strong>dlichenIn-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>s* an (Se<strong>in</strong> und Zeit; § 30), denn man fürchtet, ausgelöst durch e<strong>in</strong>e konkrete


346 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEBedrohung (Wovor <strong>der</strong> Furcht), immer um das Dase<strong>in</strong> (Worum <strong>der</strong> Furcht). Die greifbareDase<strong>in</strong>sfurcht (als +Realangst*) wird aber erst möglich durch die Grundbef<strong>in</strong>dlichkeit <strong>der</strong> (existentiellen)Angst. Das Wovor <strong>der</strong> Angst ist im Gegensatz zur Furcht nämlich das +In-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>*als solches. Es fällt damit zusammen mit dem Worum <strong>der</strong> Furcht (Dase<strong>in</strong>) das notwendigerweiseauch das Worum <strong>der</strong> Angst ist.Bei <strong>der</strong> Angst ist also das Worum mit dem Wovor identisch. Gerade deshalb ist die (<strong>in</strong> <strong>der</strong>Dase<strong>in</strong>ssorge vere<strong>in</strong>zelnde) Bef<strong>in</strong>dlichkeit <strong>der</strong> Angst nach Heidegger nicht negativ, son<strong>der</strong>n+befreiend* und geradezu konstitutiv für das Selbst: +Die Angst offenbart im Dase<strong>in</strong> das Se<strong>in</strong>zum eigensten Se<strong>in</strong>können, das heißt das Freise<strong>in</strong> für die Freiheit des Sich-selbst-wählensund -ergreifens.* (Ebd.; § 40) Erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst wird folglich das (<strong>in</strong>dividuelle) Dase<strong>in</strong> erfahrbar:+Das Sichängstigen ist als Bef<strong>in</strong>dlichkeit e<strong>in</strong>e Weise des In-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>s; das Wovor <strong>der</strong>Angst ist das geworfene In-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>; das Worum <strong>der</strong> Angst ist das In-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>-können.Das volle Phänomen <strong>der</strong> Angst demnach zeigt das Dase<strong>in</strong> als faktisch existierendes In-<strong>der</strong>-Weltse<strong>in</strong>.*(Ebd.; § 41) Genau deshalb ist die Angst aber nicht alle<strong>in</strong>e <strong>der</strong> bloße Ausdruck <strong>der</strong>Selbstsorge, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> ihr liegt auch e<strong>in</strong> wesentliches Moment <strong>der</strong> Fürsorge – denn da das+<strong>in</strong>-<strong>der</strong>-Welt-se<strong>in</strong>* immer e<strong>in</strong> +Mitse<strong>in</strong>* mit an<strong>der</strong>en ist, impliziert die Dase<strong>in</strong>ssorge die Fürsorgefür an<strong>der</strong>e (vgl. ebd. sowie § 26). 50Jean-Paul Sartre, <strong>in</strong> dessen +phänomenologischer Ontologie* die (Dialektik <strong>der</strong>) Angst ebenfallse<strong>in</strong>e Schlüsselrolle e<strong>in</strong>nimmt, bemerkt, bei Kierkegaard sei die Angst als Angst vor <strong>der</strong> Freiheitgekennzeichnet (d.h. sie entspr<strong>in</strong>gt, wie oben dargestellt, aus dem Nichts, vor dem das verängstigteSubjekt <strong>in</strong> die Sicherheit des Glaubens flieht), während sie bei Heidegger umgekehrtgerade die Erfassung des Nichts sei (vgl. Das Se<strong>in</strong> und das Nichts; S. 91). Beide Momenteverb<strong>in</strong>den sich nach Sartres eigener Aussage <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Konzept <strong>der</strong> Angst – wobei manallerd<strong>in</strong>gs, selbst auf <strong>der</strong> Grundlage me<strong>in</strong>er recht knappen Darstellung, sagen muß, daß ermit dieser stark vere<strong>in</strong>fachenden Sicht natürlich we<strong>der</strong> Kierkegaard und schon gar nichtHeidegger gerecht wird. 51Das bemerkenswerte an Sartres Angst-Auffassung ist jedoch nicht die gelungene (o<strong>der</strong> mißlungene)Verb<strong>in</strong>dung von Kierkegaards und Heideggers Vorstellungen, son<strong>der</strong>n daß er <strong>der</strong>Angst ausdrücklich reflexiven Charakter zuschreibt. Um diesen reflexiven Charakter <strong>der</strong> Angstherauszuarbeiten rekurriert er auf die von Kierkegaard e<strong>in</strong>geführte und von Heidegger aufgegriffeneUnterscheidung zwischen Furcht und Angst (siehe oben und auch Anmerkung 17):


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 347Während die Furcht, so Sartre, e<strong>in</strong> unreflektiertes Erfassen des Transzendenten darstellt, bedeutetAngst die reflexive Erfassung des Selbst (vgl. ebd.; S. 92), denn erst +<strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst gew<strong>in</strong>nt<strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> von se<strong>in</strong>er Freiheit* (ebd.; S. 91). Er erläutert dieses weitgehendzu Heidegger analoge Argument am Beispiel <strong>der</strong> beängstigenden Situation des Stehens vordem Abgrund. Die Furcht-Komponente ist durch die +objektiven* Gefährdungen, die Gegebenheitendes +an-sich* bestimmt: z.B. e<strong>in</strong> lockerer Ste<strong>in</strong>, <strong>der</strong> dafür verantwortlich se<strong>in</strong> könnte,daß wir h<strong>in</strong>ab stürzen. Die Angst vor dem Abgrund geht jedoch noch weit +tiefer*, sie istim +für-sich* verwurzelt: Es ist die existentielle Angst sich <strong>in</strong> den Abgrund zu stürzen, dieUnberechenbarkeit <strong>der</strong> eigenen Freiheit (vgl. ebd.; S. 91ff.).52Die Angst ist also ihrer wesent-lichen Struktur nach Freiheitsbewußtse<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 99), sie ist +das reflexive Erfassen <strong>der</strong>Freiheit durch sie selbst* (ebd.; S. 108).Allerd<strong>in</strong>gs sollte man sich vergegenwärtigen, daß Freiheit bei Sartre ke<strong>in</strong>e +utopische* (Un-)Möglichkeitist, die aus <strong>der</strong> Negation gegebener Unfreiheit die Hoffnung auf e<strong>in</strong>en erreichbarenZustand <strong>der</strong> Freiheit ableitet. Denn Freiheit bedeutet für ihn gewissermaßen +Verdammnis*,d.h. <strong>der</strong> Mensch hat ke<strong>in</strong>e Wahl, frei zu se<strong>in</strong>: <strong>in</strong>dem er ist, ist er (zwangsläufig) frei, da se<strong>in</strong>eExistenz (als für-sich) alle<strong>in</strong>e aus <strong>der</strong> das Selbst entwerfenden +Nichtung* des an-sich entsteht(vgl. ebd.; <strong>in</strong>sb. Teil IV, Kap. 1). Die Freiheit folgt also direkt aus dem (Da-)Se<strong>in</strong> und erhältsomit gewissermaßen metaphysischen Charakter (siehe hierzu auch nochmals die <strong>in</strong> Anmerkung51 dargestellte Kritik Heideggers). Die tatsächlich bei Sartre also weniger existentielle als vielmehr+essentielle* Freiheit kann nicht h<strong>in</strong>tergangen werden. Man mag die Freiheit abstreiten, dochdamit ist man im +mauvaise foi* (d.h. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zustand <strong>der</strong> Unaufrichtigkeit) verhaftet (vgl.ebd.; Teil I, Kap. 2), und <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Freiheit gleichzeitig folgenden Verantwortung kannniemand entgehen (vgl. Teil IV, Kap. 3).Mit dieser Wendung (Freiheit als Verdammnis und Verantwortung) steht Sartre dem TheologenKierkegaard näher als er beabsichtigt. Denn es ist e<strong>in</strong> geradezu klassisches Konzept <strong>der</strong> (christlichen)Moraltheologie, das Sartre anwendet: Das Subjekt wird – im Rahmen <strong>der</strong> Theologie:von Gott; bei Sartre: durch se<strong>in</strong> (Da-)Se<strong>in</strong> – mit e<strong>in</strong>em freien Willen ausgestattet bzw. <strong>in</strong>die Freiheit +geworfen*, um es für se<strong>in</strong>e Taten verantwortlich machen zu können. Das durchdie Angst zutage geför<strong>der</strong>te Freiheitsbewußtse<strong>in</strong> ist deshalb auch <strong>in</strong> Sartres +humanistischemExistentialismus*nicht mehr als e<strong>in</strong> (subtiles) Instrument <strong>der</strong> (moralischen) Unterdrückung.53 54Diese moralische +Fixierung* <strong>der</strong> Freiheit wird zwar verständlich, wenn man den historischen


348 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEKontext betrachtet, <strong>in</strong> dem Sartre se<strong>in</strong> Werk (1943) verfaßte: Er wollte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Situation <strong>der</strong>deutschen Besatzung von Paris den Wi<strong>der</strong>stand gegen das nazistische System stärken unddeshalb alle Ausflüchte für die Kollaboration mit diesem System (etwa den Verweis auf e<strong>in</strong>enangeblichen +Befehlsnotstand*) mit dem Aufweis <strong>der</strong> Unh<strong>in</strong>tergehbarkeit <strong>der</strong> Freiheit unmöglichmachen. Aber die bestehenden externen wie <strong>in</strong>ternen Zwänge des Selbst und <strong>der</strong> Gesellschaftwerden <strong>in</strong> dieser Sichtweise ausgeblendet, und Freiheit wird überdies je<strong>der</strong> utopische Gehaltgenommen.Von ähnlichen Vorstellungen geleitet – allerd<strong>in</strong>gs eher <strong>in</strong> bezug auf Heidegger – hat auchAdorno se<strong>in</strong>e Kritik am existenzphilosophischen Angst-Konzept formuliert: +Das angeblicheExistential <strong>der</strong> Angst ist die Klaustrophobie <strong>der</strong> System gewordenen Gesellschaft* (NegativeDialektik; S. 32f.). Adorno verweist hiermit darauf, daß die Angst weniger e<strong>in</strong>e existentielleGrundbef<strong>in</strong>dlichkeit, als vielmehr <strong>der</strong> Ausdruck defizitärer sozialer Verhältnisse ist, die gleichzeitigdazu drängen, diese Angst zu verdrängen, vor ihr <strong>in</strong> die Anpassung zu flüchten, anstatt siesich bewußt zu machen und sie zu reflektieren55– was wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> Ansatzpunkt zurH<strong>in</strong>terfragung und Transzendierung eben dieses auf die Angst gegründeten Systems se<strong>in</strong> könnte(vgl. auch Geyer: Angst als psychische und soziale Realität; S. 355ff.). Und so bemerkt er:+Mit <strong>der</strong> Angst und ihrem Grunde verg<strong>in</strong>ge vielleicht auch die Kälte.* (Negative Dialektik;S. 338)Die deflexive Verdrängung <strong>der</strong> Angst wie die synthetische Auflösung ihrer Dialektik ist deshalbke<strong>in</strong> Ausweg. Die Angst muß reflektiert (d.h. entfaltet) werden, um reflexiv zu wirken (d.h.die Potentiale des Selbst zu entfalten). Und Reflexion me<strong>in</strong>t deshalb gewiß ke<strong>in</strong>e +Austreibung*,ke<strong>in</strong>en +Exorzismus* <strong>der</strong> cartesianischen Angst, wie ihn Richard Bernste<strong>in</strong> – sich selbst wi<strong>der</strong>sprechend– e<strong>in</strong>for<strong>der</strong>t, um die Gegenüberstellung von Objektivismus (als <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>antenIdeologie <strong>der</strong> wissenschaftlichen Mo<strong>der</strong>ne) und Relativismus (als <strong>der</strong> dom<strong>in</strong>anten Ideologie<strong>der</strong> +nachwissenschaftlichen* <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne) zu überw<strong>in</strong>den (vgl. Beyond Objectivism andRelativism; S. 19 und S. 223–231). Denn das Verlangen nach e<strong>in</strong>er Austreibung <strong>der</strong> Angstentspr<strong>in</strong>gt natürlich selbst <strong>der</strong> im Bedürfnis nach fundamentaler Sicherheit verhafteten cartesianischenAngst. Das kann auch anhand <strong>der</strong> Ausführungen von Zygmunt Bauman verdeutlichtwerden, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>e +postmo<strong>der</strong>ne Utopie* e<strong>in</strong>es +Lebens mit Kont<strong>in</strong>genz* u.a. mittels <strong>der</strong> Analysezweier Romane verdeutlicht, die beide sehr erfolgreich verfilmt wurden: +Der Exorzist* (vonWilliam Blatty) und +Das Omen* (von David Seltzer).


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 349Es konkurrieren hier zwei Erzählungen des +Bösen* und des +Unheimlichen* mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>,die verschiedene Erzählweisen und Haltungen gegenüber <strong>der</strong> Verunsicherung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nenWelt durch dieses aus ihr verbannte Unheimliche repräsentieren: Der Exorzist des +Exorzisten*ist paradoxerweise e<strong>in</strong> Vertreter <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Sicht, auch wenn er als Geistlicher eigentlich<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en vormo<strong>der</strong>nen <strong>in</strong>stitutionellen Zusammenhang e<strong>in</strong>gebettet ist. Doch selbst die Kirchemußte sich an die mo<strong>der</strong>ne Ordnung anpassen, um <strong>in</strong> ihr zu überleben. Der mit dem Exorzismusbeauftragte Pater wehrt sich folglich mit allen Mitteln dagegen, die Wirklichkeit des Unwirklichenzu akzeptieren. Die Besessenheit des Mädchens Regan, das er von ihrem +Dämon* befreiensoll, <strong>in</strong>terpretiert er als +Zwangsverhalten, möglicherweise durch Schuldgefühle hervorgerufen,gekoppelt mit Persönlichkeitsspaltung* (zitiert nach ebd.; S. 291), und nur schwer ist er von<strong>der</strong> verzweifelten Mutter dazu zu bewegen, den Exorzismus wirklich durchzuführen, die eheran den Teufel als an psychologische Erklärungen glauben will.Selbst als er sich schließlich auf e<strong>in</strong>en +Versuch* e<strong>in</strong>läßt, besteht <strong>der</strong> Pater auf <strong>der</strong> +wissenschaftlichen*(theologischen) E<strong>in</strong>deutigkeit <strong>der</strong> Besessenheit: +Wenn ich zur Kanzlei gehenmuß […], um mir die Erlaubnis für e<strong>in</strong>en Exorzismus zu holen, muß ich zuallererst e<strong>in</strong> paarrecht e<strong>in</strong>deutige Anhaltspunkte für die Vermutung vorlegen, daß <strong>der</strong> Zustand Ihrer Tochternicht nur auf re<strong>in</strong> psychiatrischen Problemen beruht.* (Zitiert nach ebd.; S. 293) Der geplanteExorzismus erhält damit quasi den Charakter e<strong>in</strong>es wissenschaftlichen Experiments – undumgekehrt läßt sich, wie ich me<strong>in</strong>e, aufzeigen, daß das Projekt <strong>der</strong> neuzeitlichen Wissenschaftmit ihrem E<strong>in</strong>deutigkeits- und Kontrollbestreben e<strong>in</strong>e Art transformierter Exorzismus ist. Denndem Exorzisten wie dem Wissenschaftler geht es darum, mit dem Geist die (bösen) Geister(den Teufel, den Wahn, den Unglauben, die Unvernunft) auszutreiben. Alle<strong>in</strong>e die Waffenhaben sich <strong>in</strong> diesem Kampf um Kontrolle gewandelt: An die Stelle des Glaubens trat dieVernunft.Doch das +Unheimliche* läßt sich auch an<strong>der</strong>s, vielschichtiger erzählen: +Das Omen* enthälte<strong>in</strong>e Doppelbotschaft. Hier wird mit <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Wirklichkeit des Wahns und desBösen gespielt und geschickt e<strong>in</strong> unentschiedener Schwebezustand zwischen zwei <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>verwobenen Geschichten offen gehalten: In <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Geschichte ist die Welt auch <strong>in</strong> ihrerUnordnung <strong>in</strong> Ordnung, denn für all die <strong>in</strong> ihr vorf<strong>in</strong>dbare Fe<strong>in</strong>dseligkeit, die Massenmordeund Kriege, lassen sich rationale Erklärungen f<strong>in</strong>den. Doch diese rationale und e<strong>in</strong>deutigeGeschichte wird durch e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Geschichte relativiert, die diese Greuel auf e<strong>in</strong>e Ver-


350 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEschwörung des Bösen zurückführt. Allerd<strong>in</strong>gs ist ihr +Erzähler* <strong>der</strong> Insasse e<strong>in</strong>es Irrenhausesund somit von fragwürdiger Glaubwürdigkeit. Trotzdem verweist die zirkuläre Macht ihrerDeutung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das Böse durch das Böse erklärt wird, auf die Möglichkeit, daß es an<strong>der</strong>eErklärungen als die wissenschaftliche geben könnte und +stellt damit das Allerheiligste [<strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>ne] <strong>in</strong> Frage – den Glauben an die Überlegenheit des wissenschaftlichen über jedesan<strong>der</strong>e Wissen* (ebd.: S. 296).In dieser Doppelstruktur <strong>der</strong> Erzählung, ihrem Verweis auf die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Wahrheitjenseits <strong>der</strong> wissenschaftlichen Wahrheitskonstrukte ist +Das Omen* e<strong>in</strong> geradezu +postmo<strong>der</strong>ner*Roman, denn die Mo<strong>der</strong>ne erreicht e<strong>in</strong>e neue Stufe, +sobald sie fähig ist, <strong>der</strong> Tatsache <strong>in</strong>sAuge zu sehen, daß die Wissenschaft, nach allem, was man weiß und wissen kann, e<strong>in</strong>eunter vielen Geschichten ist* (ebd.; 297). In dieser neuen Stufe <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne entstehtim aus <strong>der</strong> +Verkettung* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Angst +gelösten* Kont<strong>in</strong>genzbewußtse<strong>in</strong> – wie Bauman <strong>in</strong> Parallelezu Richard Rorty formuliert (vgl. Kont<strong>in</strong>genz, Ironie, Solidarität und siehe S. 161) – die Möglichkeitund Notwendigkeit für Solidarität. Denn: +Um das emanzipatorische Potential <strong>der</strong>Kont<strong>in</strong>genz als Geschick zu entwirren [vgl. auch Heller: Hermeneutics of Social Science; S.41 und siehe hier Anmerkung 45], würde es nicht genügen, die Demütigungen des an<strong>der</strong>enzu vermeiden. Man muß sie auch respektieren […] Man muß die An<strong>der</strong>sheit im an<strong>der</strong>enehren, die Fremdheit im Fremden […] Me<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung zu dem Fremden enthüllt sichmir als Verantwortung, nicht als <strong>in</strong>differente Neutralität […] E<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Schicksal würdeauch mit wechselseitiger Toleranz auskommen; e<strong>in</strong> geteiltes Geschick [<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz] erfor<strong>der</strong>t[!] Solidarität.* (Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz; S. 286f.).Auf die Problematik dieser letzten Argumentationsfigur habe ich bereits im Zusammenhangme<strong>in</strong>er (kurzen) Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit postmo<strong>der</strong>nen, auf den Wert <strong>der</strong> Differenz abhebendenEthikkonzepten h<strong>in</strong>gewiesen (siehe S. 60f.), an die Bauman explizit anschließt (vgl. auch <strong>der</strong>s.:<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Ethics).56Denn wenn das Se<strong>in</strong> als solches kont<strong>in</strong>gent ist, dann ist es notwendigauch das Sollen. (Soziale) Werte können <strong>der</strong> +Wirklichkeit*, so wie sie sich darstellt, bestenfallsangemessen se<strong>in</strong>. Aus Kont<strong>in</strong>genzfeststellungen Normen wie Differenz o<strong>der</strong> Solidarität (zw<strong>in</strong>gend)ableiten zu wollen, ist also problematisch.57Vielversprechen<strong>der</strong> für e<strong>in</strong>e reflexive Betrachtung<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und +ihrer* aus <strong>der</strong> Angst (an)getriebenen Bewegung ist aber ohneh<strong>in</strong> Baumansbereits im vorangegangen Abschnitt (siehe S. 332) kurz umrissene These von <strong>der</strong> +Selbsterzeugung<strong>der</strong> Ambivalenz* durch die entfremdende Wirkung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung:


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 351Die ehemals +vere<strong>in</strong>zelte* Wurzellosigkeit (des Fremden) wird im Zuge <strong>der</strong> immer weitervoranschreitenden Mo<strong>der</strong>nisierung universell. Niklas Luhmann hat diesem Umstand e<strong>in</strong>ensystemtheoretischen Ausdruck verliehen, <strong>in</strong>dem er klar macht, +daß bei funktionaler Differenzierungdie E<strong>in</strong>zelperson nicht mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em und nur e<strong>in</strong>em Subsystem <strong>der</strong> Gesellschaftangesiedelt se<strong>in</strong> kann, son<strong>der</strong>n sozial ortlos vorausgesetzt werden muß* (zitiert nach ebd.;58S. 123). Aus dieser (angstvollen) Bedrohung durch die universelle +Heimatlosigkeit* (sieheauch unten, Berger et al.) entsteht aber gleichzeitig e<strong>in</strong>e Chance für reflexive Prozesse. DerBlick <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf sich +objektiviert* sich durch die <strong>in</strong>s Innen, <strong>in</strong> den +Kern*, das +Massezentrum*<strong>der</strong> Gesellschaft verlegte +Außenansicht* des <strong>in</strong> <strong>der</strong> (Fort-)Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>neentfremdeten Bewußtse<strong>in</strong>s und setzt so kritische Potentiale frei (vgl. ebd.; S. 103–122 u. S.127ff.).Die Angst, die die Mo<strong>der</strong>ne treibt, treibt deshalb gleichzeitig aus ihr heraus – allerd<strong>in</strong>gs nur,wie ich zugleich betonen möchte, wenn die erzeugte Entfremdung auch tatsächlich als Entfremdungempfunden und <strong>in</strong> diesem Empf<strong>in</strong>den negiert wird.59Ansonsten droht die Potenzierung<strong>der</strong> Angst und e<strong>in</strong>e Fortsetzung <strong>der</strong> Fluchtbewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf den alten o<strong>der</strong> neuenWegen. Damit die Untiefen des auf diesem Pfad liegenden (anti-)mo<strong>der</strong>nen +Fundamentalismus*umschifft werden können,bedarf es e<strong>in</strong>es reflexiven Bewußtse<strong>in</strong>s (durch e<strong>in</strong> +starkes* Selbst).60 61Denn die Angst muß (aktiv) gespiegelt werden, d.h. sie muß sich artikulieren können, umsich nicht – <strong>in</strong> Gewißheiten verdeckt – <strong>in</strong>s Maßlose zu steigern.E<strong>in</strong> solches, <strong>der</strong> <strong>in</strong> ihr +e<strong>in</strong>geschlossenen* Angst Aufmerksamkeit schenkendes, aber nichtvon <strong>der</strong> Angst +vere<strong>in</strong>nahmtes* reflexives Projekt <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne könnte sich <strong>in</strong> dem Versuch<strong>der</strong> sich selbst +objektivierenden* (Selbst-)Überschreitung (m<strong>in</strong>destens) auf zwei +alternative*Kulturen beziehen. Die e<strong>in</strong>e liegt – wenn man sich Stephen Toulm<strong>in</strong> anschließt – <strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenenVergangenheit <strong>der</strong> (europäischen) Mo<strong>der</strong>ne. Denn die Mo<strong>der</strong>ne verlief für Toulm<strong>in</strong> schonimmer <strong>in</strong> zwei Bahnen: Neben ihrer rationalistischen Hauptbewegung gab es den auf Toleranzgegründeten Humanismus <strong>der</strong> Renaissance <strong>in</strong> dem das Beson<strong>der</strong>e, Lokale und Zeitgebundene,wie bereits oben angemerkt wurde, noch se<strong>in</strong>en Platz hatte. Nur lei<strong>der</strong> wurde die entfalteteToleranzkultur die Renaissance schließlich durch den Rationalismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachfolge Descartes’zurückgedrängt: +Die Kultur und Gesellschaft des europäischen 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts verän<strong>der</strong>tesich [durch Kriege, Glaubensause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen etc.] so, daß die Toleranz des Humanismus<strong>der</strong> Spätrenaissance zugunsten strengerer Theorien und anspruchsvollerer Anwendungen beiseite


352 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEgesetzt wurde, und gipfelte <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuen Kosmopolis nach <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> mathematischenPhysik.* (Kosmopolis; S.267f.)Das Gerüst dieser Kosmopolis wurde durch die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne selbst im folgendenzwar Stück für Stück +demontiert*, doch erst nach <strong>der</strong> Erschütterung des Zweiten Weltkriegsund durch die sozialen Transformationen <strong>der</strong> Nachkriegszeit war die Menschheit gemäß Toulm<strong>in</strong>reif für die +Wie<strong>der</strong>erf<strong>in</strong>dung des Humanismus*. Dies zeigt sich u.a. an <strong>der</strong> +relativistischenWende* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wissenschaftsphilosophie (siehe auch Abschnitt 2.3), <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e jedochan <strong>der</strong> immer größer werdenden allgeme<strong>in</strong>en Toleranz gegenüber Ungewißheit, Mehrdeutigkeitund Me<strong>in</strong>ungsvielfalt. (Vgl. ebd.; 233–267)An diesem Konzept Toulm<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>er (postmo<strong>der</strong>nen) +Humanisierung* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne durche<strong>in</strong>e Re-Renaissance, d.h. e<strong>in</strong>e +Rückbes<strong>in</strong>nung* auf die Renaissance-Kultur (wie sie z.B. Denkerwie Erasmus von Rotterdam o<strong>der</strong> Michel de Montaigne verkörpern) läßt sich e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>wenden,daß die historische Renaissance möglicherweise gar nicht von jener ausgeprägtenToleranz geprägt war, die Toulm<strong>in</strong> ihr zuschreibt. Zum zweiten ist es fraglich, ob sich dieGegenwart tatsächlich an e<strong>in</strong>e Kultur <strong>der</strong> Toleranz annähert.62Die Richtung <strong>der</strong> aktuellenEntwicklung ist me<strong>in</strong>es Erachtens (und wie auch die Analyse <strong>der</strong> sozio-ökonomischen Wandlungsprozesse<strong>in</strong> Kapitel 2 zeigte) ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>deutig, son<strong>der</strong>n selbst zutiefst ambivalent. Darüberh<strong>in</strong>aus muß e<strong>in</strong>e transformative Transzendierung <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne auch nicht notwendig(alle<strong>in</strong>e) an die europäische Tradition anschließen.Denn wie man sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Renaissance des 16./17. Jahrhun<strong>der</strong>ts +gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend* auf dasantike Griechenland bezog, so könnte – wenn man Francisco Varela und Evan Thompsonfolgt – auch <strong>der</strong> Rekurs auf die <strong>in</strong>dische Antike (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die durch N)ag)arjuna begründetebuddhistische M)adhyamika-Schule mit ihrem +Mittleren Weg*) zu e<strong>in</strong>er Erneuerung <strong>der</strong> <strong>in</strong>den Fortschrittsgleisen +festgefahrenen* Mo<strong>der</strong>ne beitragen (vgl. Der Mittlere Weg <strong>der</strong> Erkenntnis;63S. 41ff.): Durch die +empirische Praxis* <strong>der</strong> Meditation, d.h. die Reflexion <strong>der</strong> eigenen Wahr-nehmungen (und Wahrnehmen bedeutet für den Radikalen Konstruktivisten Varela wie fürdie Buddhisten <strong>der</strong> M)adhyamika-Schule nichts an<strong>der</strong>es als konstruieren), führt <strong>der</strong> MittlereWeg nämlich zu <strong>der</strong> zirkulären Erkenntnis <strong>der</strong> Zirkularität <strong>der</strong> Erkenntnis, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das reflexivbefreiendeBewußtse<strong>in</strong> für die Leerheit (<strong>der</strong> Leerheit) – s’ )unyat)a(s’ )unyat)a) – und für die irreführendeIllusion e<strong>in</strong>es kont<strong>in</strong>uierlichen Ichs entsteht. Denn wird diese zunächst e<strong>in</strong>e cartesianischeAngst auslösende +Wahr(genommen)heit* <strong>der</strong> Leerheit und des Nicht-Ich anerkannt


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 353und zugelassen, so ermöglicht dies <strong>in</strong> ihrem (konstruierenden) Erkennen e<strong>in</strong>e Überw<strong>in</strong>dung<strong>der</strong> Identitäts- und E<strong>in</strong>deutigkeitszwänge, die aber nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em absoluten Relativismus endet(deshalb die Selbstbezeichnung als +Mittlerer Weg*), son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Leerheitdie Praxis e<strong>in</strong>es +anhaftungslosen* Mitgefühls (karun)a) ableitet (vgl. auch ebd.; <strong>in</strong>sb. S. 332ff..sowie N)ag)arjuna: Mu) lamadhyamakaka) rika); Kap. 24, Vers 40).Ich werde speziell im Schlußexkurs – im Rahmen me<strong>in</strong>er dort angestellten Überlegungenzum Zusammenhang zwischen e<strong>in</strong>em +authentischen* (nicht-identischen) Selbst, reflexivem(Kont<strong>in</strong>genz-)Bewußtse<strong>in</strong> und <strong>der</strong> +Utopie* sozialer Konvergenz – noch etwas genauer aufdie Lehre des M)adhyamika und den an Derrida er<strong>in</strong>nernden De-Konstruktivismus N)ag)arjunaszu sprechen kommen. Hier g<strong>in</strong>g es mir nur darum zu zeigen, daß sich +reflexive* Ansätzeauch <strong>in</strong> nicht-europäischen Kontexten f<strong>in</strong>den lassen. Und es g<strong>in</strong>g mir darum klarzumachen,daß die so zerstörerische wie lähmende Seite <strong>der</strong> Angst erst, <strong>in</strong>dem man sie wahrnimmt undzuläßt, +überwunden* werden kann.Mit ihrer Reflexion soll die Angst also nicht (rational) +beherrscht* werden. Dadurch würdedie Angst, wie im Vorangegangenen dargestellt wurde, nur an destruktiver Macht gew<strong>in</strong>nen,wirkte sie untergründig als unbewußte Zwangsstruktur umso +effektiver*. Die Flucht <strong>in</strong>s Rationale,die rationalistische Deflexion <strong>der</strong> Angst, wie sie die (e<strong>in</strong>fache) Mo<strong>der</strong>ne und ihre Bewegungkennzeichnete, ist also beschränkend. Sie limitiert die <strong>in</strong> ihrer Bewegung enthaltenen Möglichkeitsräume,sperrt – von <strong>der</strong> Angst getrieben – das latente Moment <strong>der</strong> +Freiheit* im Strebennach fundamentaler Sicherheit ab. Es gilt somit, um die vorhandenen Potentiale zu nutzen,die Angst bewußt zu machen und zu entfalten. Die +objektive* Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungunterstützt diesen subjektiven Reflexionsprozeß, denn sie br<strong>in</strong>gt die Angst und das Bewußtse<strong>in</strong><strong>der</strong> Angst durch die im Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß erzeugten Gefährdungen reflexiv hervor. Nichtzufällig spielt deshalb <strong>der</strong> Risikobegriff (und auch die Angst) e<strong>in</strong>e zentrale Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theoriereflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, so wie sie von Anthony Giddens und Ulrich Beck, allerd<strong>in</strong>gs mitunterschiedlichen Akzentsetzungen, entworfen wurde:Für Giddens äußert sich die Dynamik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zunehmenden Trennung vonZeit und Raum, e<strong>in</strong>em an dieser Trennung ansetzenden Prozeß <strong>der</strong> sozialen Entbettung (disembedd<strong>in</strong>g)sowie e<strong>in</strong>er gleichzeitigen reflexiven sozialen (Re-)Organisation und Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>bettung(vgl. Consequences of Mo<strong>der</strong>nity; S. 16f.). Was me<strong>in</strong>t Giddens mit diesem +Dreisatz*? – In<strong>der</strong> Neuzeit kam es zu e<strong>in</strong>er Standardisierung <strong>der</strong> Zeit. Die Zeit wurde damit immer unab-


354 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEhängiger vom konkreten Ort: (Fast) überall auf <strong>der</strong> Welt s<strong>in</strong>d heute die zeitlichen Bezugssysteme<strong>der</strong> Gregorianische Kalen<strong>der</strong> und die Greenwich-Zeit. Es kann deshalb im Vergleich zur Vergangenheit,<strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Vielzahl lokaler Zeite<strong>in</strong>teilungssysteme gegeben war, e<strong>in</strong>e (räumliche)Entleerung <strong>der</strong> Zeit konstatiert werden (vgl. ebd., S. 17f.). Neben <strong>der</strong> räumlichen Entleerung<strong>der</strong> Zeit, besteht aber auch e<strong>in</strong>e zeitliche Entleerung des Raumes durch nahezu +zeitneutrale*Transport- und Kommunikationssysteme,64und es ist e<strong>in</strong>e +Delokalisierung* bzw. +Entörtlichung*des (sozialen) Raumes – d.h. e<strong>in</strong>e Loslösung vom lebensweltlichen Umfeld – durch globaleKoord<strong>in</strong>atensysteme65und übergreifende, weltweite Netzwerke auszumachen (vgl. ebd.; 18ff.).We<strong>der</strong> ist also heute die Zeit an den Raum, noch ist <strong>der</strong> Raum an Zeit und Ort gebunden– und diese raum-zeitliche +Drift* ist wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>e wichtige Voraussetzung für die sozialenEntbettungsprozesse, welche laut Giddens die (Spät-)Mo<strong>der</strong>ne kennzeichnen.Konkret ist jedoch die Verbreitung von symbolischen Tauschmitteln (symbolic tokens) unddas Aufkommen von (entpersonalisierten) Systemen <strong>der</strong> professionellen Expertise (expert systems)für die stattf<strong>in</strong>dende Entbettung verantwortlich.66Das wichtigste symbolische Tauschmittel<strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft ist natürlich das Geld, das – an<strong>der</strong>s als früher – nicht mehrunbed<strong>in</strong>gt als Münze o<strong>der</strong> Sche<strong>in</strong> vorliegen muß, son<strong>der</strong>n immer häufiger nur noch e<strong>in</strong>espezifische digitale Information darstellt, aber gerade <strong>in</strong> dieser +Entd<strong>in</strong>glichung* se<strong>in</strong>e entfremdende(und damit entbettende) Wirkung umso fühlbarer entfalten kann. Die Systeme<strong>der</strong> Expertise, die <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften nahezu alle Bereiche direkt o<strong>der</strong> <strong>in</strong>direktbee<strong>in</strong>flussen, wirken entbettend, da <strong>der</strong> objektivierende Blick des Experten die bearbeitetenProbleme aus ihren sozialen Kontexten löst. (Vgl. ebd.; S. 21–28)Wie schon oben mit Giddens’ Konzept <strong>der</strong> +doppelten Hermeneutik* dargelegt (siehe S. 317),wirken aber nicht nur die Experten auf ihre (soziale) Umwelt, son<strong>der</strong>n das gesellschaftlicheUmfeld wirkt auf die Expertensysteme zurück. Dies ist e<strong>in</strong> wesentlicher Aspekt <strong>der</strong> Reflexivität<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (vgl. ebd.; S. 36ff.). Zum an<strong>der</strong>en muß das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit voraussetzungslosbestehende Vertrauen – das auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> fortgeschrittenen Mo<strong>der</strong>ne und vor allem für dasFunktionieren ihrer +abstrakten* Systeme (siehe Anmerkung 66) unabd<strong>in</strong>gbar ist, um die fürden sozialen Zusammenhang notwendige Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>bettung (reembedd<strong>in</strong>g) <strong>der</strong> aus den traditionalenZusammenhängen +gelösten* sozialen Glie<strong>der</strong> zu ermöglichen (vgl. ebd.; S. 29ff.u. S. 79ff.) – nunmehr aktiv erarbeitet werden (vgl. ebd.; S. 120ff. sowie <strong>der</strong>s.: Risiko, Vertrauenund Reflexivität; S. 319f.).67Die <strong>in</strong>dividuellen Konsequenzen <strong>der</strong> solchermaßen reflexiv gewor-


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 355denen Mo<strong>der</strong>ne hat Giddens <strong>in</strong> dem Band +Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity* (1991) näher herausgearbeitet,und hier kommt wie<strong>der</strong>um die Angst <strong>in</strong>s Spiel:In <strong>der</strong> traditionalen Gesellschaft konnte, wie schon oben erwähnt, Vertrauen noch unproblematischvorausgesetzt werden. Basales Vertrauen war gegeben, da die Rout<strong>in</strong>en des Alltagszu e<strong>in</strong>er +ontologischen Sicherheit*, e<strong>in</strong>er tief (emotional) verwurzelten +Se<strong>in</strong>sgewißheit* verhalfen(vgl. S. 36ff.). Mit dem Entbettungsprozeß <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung – <strong>der</strong> gleichzeitig <strong>in</strong>dividuelleFreiräume schafft – wird diese ontologische Sicherheit jedoch untergraben. Die Rout<strong>in</strong>enwerden s<strong>in</strong>nlos und +leer*, das Vertrauen erstarrt zunehmend, so daß die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nee<strong>in</strong>en zwanghaften, neurotischen Charakter annimmt (vgl. auch Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> posttraditionalenGesellschaft; S. 129ff. u. S. 166ff.). O<strong>der</strong> aber die traditionale Basis des Vertrauens wird durchdie Wucht <strong>der</strong> Entbettungsprozesse ganz zerstört. An se<strong>in</strong>e Stelle tritt dann e<strong>in</strong>e existentielleAngst (vgl. Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity; S. 42ff. u. S. 182ff.).Diese Spannung zwischen verunsichern<strong>der</strong> Angst und Freiheit führt das (spät)mo<strong>der</strong>ne Selbst<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe Dilemmata. Es ist zerrissen zwischen dem Universalismus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne undFragmentisierungen (unification vs. fragmentation), ist gleichzeitig mächtig und ohnmächtig(powerlessness vs. appropriation), wird von Expertensystemen normiert und erfährt trotzdemUnsicherheit (authority vs. uncerta<strong>in</strong>ty) – und es muß sich aktiv hervorbr<strong>in</strong>gen, bleibt <strong>in</strong> diesemschwierigen Identitätsbildungsprozeß jedoch <strong>in</strong> die beschränkenden Strukturen des Marktese<strong>in</strong>gebunden (personalized vs. commodified experience) (vgl. ebd.; S. 187–201). Das gepe<strong>in</strong>igteSelbst <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, das sich <strong>in</strong> diesem dilemmatischen Spannungsfeld bewegt, kann allerd<strong>in</strong>gs,gerade im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Unsicherheit und <strong>der</strong> posttraditionalen Risiken, die +Dualität <strong>der</strong>Struktur(en)*68auch positiv für sich nutzen und +lebenspolitische* Aktivitäten entfalten: Indemes die Entbettungserfahrungen aktiv <strong>in</strong> politische Handlungen umsetzt, die e<strong>in</strong> reflexivesSelbstprojekt verfolgen und Fragen des <strong>in</strong>dividuellen Lebens wie des globalen Überlebensthematisieren (vgl. ebd.; Kap. 7 und siehe auch hier S. 56f. sowie Abschnitt 5.2).Ganz ähnlich (und doch <strong>in</strong> wichtigen Punkten verschieden) argumentiert Ulrich Beck <strong>in</strong> <strong>der</strong>+Risikogesellschaft* (1986): Er betont hier, daß es durch die allgeme<strong>in</strong>e Wohlstandssteigerung<strong>in</strong> den +fortgeschrittenen* (Industrie-)Staaten und die gleichzeitig immer gravieren<strong>der</strong>en zivilisatorischenGefährdungen, die die Industrialisierung als latente Nebenfolgen erzeugt, zu e<strong>in</strong>erUmstellung <strong>der</strong> Verteilungslogik gekommen ist: Soziale Konflikte drehen sich immer wenigerum die Reichtumsverteilung (goods), son<strong>der</strong>n um die Vermeidung von Risiken (bads), die


356 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdamit den Charakter e<strong>in</strong>es +problematischen* (gewußten Nicht-)Wissens haben (siehe auchAnmerkung 10). Mit dieser Konzentration auf die Risikodimension wird <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeßreflexiv, d.h. +sich selbst zum Thema und Problem* (S. 26). Die Mo<strong>der</strong>neist also <strong>in</strong>soweit reflexiv, als sie zum e<strong>in</strong>en immer stärker wissensabhängig wird und sich selbstreflektiert (vgl. ebd.; S. 35ff.). Das Argument <strong>der</strong> latenten Nebenfolgen des technischen+Fortschritts* verweist jedoch zugleich auf e<strong>in</strong>e nicht-kognitive Reflexivität (vgl. auch <strong>der</strong>s.:Das Zeitalter <strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 27ff.): Die Risiken <strong>der</strong>(post)<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft s<strong>in</strong>d global und – obwohl wissens- und wahrnehmungsabhängig– +objektiv*, <strong>in</strong>dem sie (als diffuse +materielle* Bedrohungen) Schicht-, Klassen- und Nationengrenzenüberschreiten und damit gewissermaßen +demokratischen* Charakter haben (vgl.Risikogesellschaft; S. 61ff.).Aus dieser +Objektivität* <strong>der</strong> Zivilisationsrisiken könnte sich laut Beck e<strong>in</strong>e neue Form <strong>der</strong>Solidarität ableiten: anstelle <strong>der</strong> +Solidarität <strong>der</strong> Not* (wie sie die klassische Industriegesellschaftprägte) entsteht möglicherweise e<strong>in</strong>e (weltgesellschaftliche) +Solidarität <strong>der</strong> Angst* (vgl. ebd.;S. 65ff.). Diese Solidarität <strong>der</strong> Angst mündet im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Bedrohung desDase<strong>in</strong>s potentiell <strong>in</strong> subpolitische Aktivitäten <strong>der</strong> im Zuge <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung aus traditionalenZwängen freigesetzen (und somit +reflexionsfähigen*) Individuen – denn die etablierte <strong>Politik</strong>vernachläßigt aufgrund ihrer <strong>in</strong>stitutionellen Fixierung auf den Verteilungskonflikt die neuentstandenen Problemfel<strong>der</strong>. Auf e<strong>in</strong>e prägnante Kurzformel gebracht könnte man also formulieren:Aus dem angstvollen Risikobewußtse<strong>in</strong> durch die Reflexivität von Technologie <strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten, (post)<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft folgt e<strong>in</strong>e solidarische (Sub-)Politisierung,kommt es zur (Neu-)Erf<strong>in</strong>dung des Politischen (vgl. ebd.; Kap. VIII sowie <strong>der</strong>s.: Die Erf<strong>in</strong>dungdes Politischen und siehe auch hier S. 55f. sowie Abschnitt 5.2).Doch ist die Angst e<strong>in</strong>e tragfähige Grundlage von Solidarität und e<strong>in</strong>er neuen, +lebens(weltlichen)*<strong>Politik</strong>? Kann sie das +unvollendete Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* (Habermas) weiterführen? – BeiHeidegger und Sartre ist die (existentielle) Angst die (emotionale) Quelle des (freiheitlichen)Selbstbewußtse<strong>in</strong>s. Die im Individualisierungsprozeß bewirkte Freisetzung des Subjekts, die<strong>in</strong> <strong>der</strong> fortgeschrittenen Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne hervorgekehrte +Subjektivität*, hätte gemäßdiesem Modell eher ihre Grundlage <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikodimension <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wohlstandssteigerung.Und so wie Heidegger aus <strong>der</strong> Selbst-Sorge das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Für-Sorge ableitet(siehe nochmals S. 345), könnte auch aus <strong>der</strong> +objektiv* gewordenen Subjektivität <strong>der</strong> Angst


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 357(als konkrete, technikerzeugte Dase<strong>in</strong>s-Sorge) so etwas wie (für-sorgliche) +Solidarität* entstehen. 69Derart würde also die Angst, die die vere<strong>in</strong>zelten Individuen des Naturzustands <strong>in</strong> Hobbes’Modell ursprünglich dazu trieb, sich zum +großen Menschen* des Leviathan zu formieren,nunmehr als Angst gerade vor <strong>der</strong> entfesselten (Staats-)Masch<strong>in</strong>erie dieses Leviathan und se<strong>in</strong>emverselbständigten +technischen Labyr<strong>in</strong>th* (Schönherr-Mann) die Basis für e<strong>in</strong> neues +sozialesBand* schaffen.Beck hat allerd<strong>in</strong>gs den ersten Schritt nicht (wirklich) getan und sich im Kontext se<strong>in</strong>er <strong>in</strong><strong>der</strong> +Risikogesellschaft* ebenfalls dargelegten Individualisierungsthese (vgl. dort Kap. III undsiehe auch hier S. XXVIIIf. sowie Abschnitt 2.5) weniger auf die +subjektivierende* Wirkung<strong>der</strong> Angst als auf sozialstrukturelle Wandlungsprozesse konzentriert. Und er täte (und tut) 70gut daran, auch den zweiten Schritt zu unterlassen: Denn Solidarität, die erst aus und <strong>in</strong><strong>der</strong> Angst entsteht, ist genau genommen nur e<strong>in</strong>e vermittelte, bed<strong>in</strong>gte Solidarität. +Wirkliche*(d.h. unbed<strong>in</strong>gte) Solidarität muß <strong>der</strong> Angst vorgängig (o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest gleichgestellt) se<strong>in</strong>,um nicht mit <strong>der</strong> Angst zu verschw<strong>in</strong>den, die sich schließlich gerade <strong>in</strong> ihrer reflexiven Bewußtwerdungund Entfaltung +aufheben* würde und damit als Motor <strong>der</strong> deflexiven Fluchtbewegung<strong>der</strong> (e<strong>in</strong>fachen) Mo<strong>der</strong>ne wie als Quelle für-sorglicher Solidarität +abstürbe*. 71Diese Ablehnung <strong>der</strong> Angst – wie auch <strong>der</strong> Entfremdung (siehe oben) – als Grundlage e<strong>in</strong>er+postmo<strong>der</strong>nen* Solidarität bedeutet freilich nicht, daß die Dialektik <strong>der</strong> Angst hier negiertwürde. Angst impliziert tatsächlich e<strong>in</strong> bedeutendes reflexives Potential: So wie die Angst(vor <strong>der</strong> Angst) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Fluchtbewegung treibt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sie e<strong>in</strong>e untergründige, verdeckte Machtentfaltet, so kann sie, <strong>in</strong>dem sie als Angst wahrgenommen, d.h. zugelassen und emotionalwie kognitiv gespiegelt wird, <strong>der</strong> Ansatzpunkt für e<strong>in</strong>en reflexiven (Selbst-)Erkenntnisprozeßse<strong>in</strong>. Sie ist jedoch nicht als solche +positiv*. Angst verweist vielmehr immer auch – woraufAdorno abhob – auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle wie soziale +Deformation*, die die Erschütterung <strong>der</strong>Angst erst hervorbr<strong>in</strong>gt. Diese Deformation kann zwar nur behoben werden, wenn die Angstemotional geäußert und gedanklich verarbeitet wird. Aber eben alle<strong>in</strong>e <strong>in</strong> dieser Reflexion(die sie gleichzeitig transformiert) ist sie e<strong>in</strong>e Quelle <strong>der</strong> Überschreitung <strong>der</strong> Begrenzungendes Selbst und des Sozialen <strong>in</strong> <strong>der</strong> +traditionalen* Mo<strong>der</strong>ne.Deren angstgetriebene Bewegung erzeugte, wie dargestellt, e<strong>in</strong> +<strong>fatal</strong>es* Ordnungsstreben,fixierte sich auf e<strong>in</strong>e absolutistische, E<strong>in</strong>deutigkeit (er)for<strong>der</strong>nde +Objektivität* (das heißt, siebestand auf <strong>der</strong> Universalität getroffener Aussagen und standpunktunabhängiger Wahrheit).


358 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEIn ihrer Fortbewegung unterm<strong>in</strong>ierte sie jedoch diese Ordnung, denn <strong>in</strong> ihrer ebenso angstgeschuldetenVehemenz richtete sie sich schließlich gegen ihre eigenen Grundlagen – und riefGefährdungen hervor, <strong>der</strong>en +Objektivität* (d.h. gegenständliche Erfahrbarkeit) die reflexive(Selbst-)Objektivierung <strong>der</strong> (zweiten) Mo<strong>der</strong>ne (nämlich, daß diese sich selbst zum Gegenstandihrer Betrachtungen macht) hervorbr<strong>in</strong>gt. Die Betonung dieses +objektiven* Moments reflexiverMo<strong>der</strong>nisierung ist <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>e Vorzug von Becks Theorievariante gegenüber <strong>der</strong> Theorievariantevon Giddens (dem wie<strong>der</strong>um die Herausstellung <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne gegebenen+doppelten Hermeneutik* und <strong>der</strong> +Dualität von Struktur*, die nicht nur begrenzt,son<strong>der</strong>n Handlungschancen eröffnet, zugute gehalten werden muß).72Beck konzentriert sichallerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Betrachtungen zu eng auf die (Nicht-)Wissens-Seite sowie die Nebenfolgendes technologischen +Fortschritts* und blendet die +objektive* Problematik <strong>der</strong> restlichen(sozio-)kulturellen Entwicklung weitgehend aus. Das führt zum e<strong>in</strong>en dazu, daß er die Frage<strong>der</strong> ästhetischen (und hermeneutischen) Reflexivität, die Scott Lash ergänzend <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gt(siehe unten) – ebenso wie Giddens – nicht genügend berücksichtig. Zum an<strong>der</strong>en fällt dasnicht ger<strong>in</strong>ge emotionale Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur (<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne) damit tendenziell aus demBezugsrahmen.Die These vom +Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne schließt selbstverständlich an Freudskulturkritische Schriften an (siehe auch nochmals S. XXXIIIf.). Dieser stellt vor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>emSpätwerk den zwanghaften Charakter <strong>der</strong> Kultur heraus, welche die Menschen (um die notwendigeOrdnung zu gewährleisten und um das Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen) zu Triebverzichtenzw<strong>in</strong>gt, die e<strong>in</strong>e latente Kulturfe<strong>in</strong>dschaft auslösen, auch wenn die e<strong>in</strong>zelnen diekulturellen Normen (und Formen) +bewußt* bejahen (vgl. Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur; <strong>in</strong>sb.Abschnitt III). Für Freud ist dieser Zusammenhang zwischen Zwang und Kultur(entwicklung)e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>er und gesetzmäßiger: Jede Gesellschaft nötigt ihren Mitglie<strong>der</strong>n, um überhauptzu e<strong>in</strong>er Gesellschaft werden zu können, Triebverzichte ab, und je +höher* sich e<strong>in</strong>e Kulturentwickelt, je +zivilisierter* sie ersche<strong>in</strong>t, desto größer s<strong>in</strong>d die E<strong>in</strong>schränkungen <strong>der</strong> Freiheitund desto strenger und härter muß das <strong>in</strong>dividuelle Über-Ich se<strong>in</strong> (vgl. ebd.; Abschnitt VII).Dieses +Gesetz* <strong>der</strong> Zivilisation, die nach <strong>in</strong>nen gekehrte, fortschreitende Zunahme ihresZwangscharakters – Norbert Elias spricht im Rahmen se<strong>in</strong>er Zivilisationstheorie im Anschlußan Freud von <strong>der</strong> Umwandlung des Fremdzwangs <strong>in</strong> Selbstzwang (vgl. Der Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation;Band 2, S. 312ff. und siehe auch S. XXXV) – kann me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach am besten durch


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 359die treibende Angst und das aus <strong>der</strong> deflexiven Abwehr <strong>der</strong> Angst folgende Kontrollstrebenerklärt werden.Aber nicht jede kulturelle Dynamik muß sich me<strong>in</strong>es Erachtens aus <strong>der</strong> Angst speisen, unddie Angst kann, wie oben erläutert, im Vorwärtsdrängen <strong>der</strong> von ihr ausgelösten Fluchtbewegungauch e<strong>in</strong>e ihre +neurotische* Komponente zurückdrängende (reflexive) Dialektik entfalten– <strong>in</strong>dem sie sich <strong>in</strong> ihrer Steigerung hervorkehrt und damit transformativ reflektiert werdenkann. Dieser Sicht entsprechend hätte also Freud ke<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es +Gesetz* <strong>der</strong> kulturellenEntwicklung beschrieben, son<strong>der</strong>n nur die spezifische Tendenz <strong>der</strong> zu se<strong>in</strong>er Zeit sich aufihrem Höhepunkt bef<strong>in</strong>dlichen Kultur des Rationalismus und des bürgerlichen Kapitalismusoffengelegt.73Und <strong>der</strong> von Freud herausgearbeitete +Selbsthaß*, den diese auf Kontrolle undTriebverzichte gegründete Kultur notwendig produziert – Agnes Heller spricht, wie zu Beg<strong>in</strong>ndieses Abschnitt bemerkt, <strong>in</strong> Anlehnung an Freud von e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne immanenten +Todeswunsch*–, verweist zudem auf e<strong>in</strong>e Grenze ihrer Dynamik.Auf diese (psychologische) Grenze <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, die genau <strong>in</strong> dem von ihrerzwanghaften (gleichzeitig angstgetriebenen wie die Angst fliehenden) Bewegung hervorgerufenenUnbehagen liegt, weisen auch Berger, Berger und Kellner h<strong>in</strong>. Jedenfalls besteht laut ihnenaktuell e<strong>in</strong> Unbehagen, +das direkt o<strong>der</strong> <strong>in</strong>direkt aus <strong>der</strong> technisierten Wirtschaft entstammt,das dem entstammt, was Max Weber ›Rationalisierung‹ genannt hat. Die Rationalität, die<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Technologie <strong>in</strong>tr<strong>in</strong>sisch ist, zw<strong>in</strong>gt sich dem Handeln und dem Bewußtse<strong>in</strong>als Kontrolle, Beschränkung und damit als Frustration auf. Irrationale Impulse aller Art werdenfortschreitenden Kontrollen unterworfen […] Das hat e<strong>in</strong>e fortschreitende psychische Spannungzur Folge […]* (Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität; S. 157) Doch nicht nur die technischeDynamik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und die Rationalisierung lösten e<strong>in</strong> Unbehagen aus. Auch die darananschließende +Entbettung* <strong>der</strong> Beziehungen schlägt auf das <strong>in</strong>dividuelle Bewußtse<strong>in</strong> zurückund erzeugt – worauf ja auch Bauman (allerd<strong>in</strong>gs eher die Chancen dieses Entfremdungsprozessesbetonend) h<strong>in</strong>wies – e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> +Heimatlosigkeit*: +Der [auf sich verwiesene] e<strong>in</strong>zelnewird nicht nur durch S<strong>in</strong>nlosigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Arbeit bedroht, son<strong>der</strong>n auch durch denS<strong>in</strong>nverlust <strong>in</strong> weiten Bereichen se<strong>in</strong>er Beziehungen zu an<strong>der</strong>en Menschen.* (Ebd.)Berger et al. sehen <strong>in</strong> dieser umfassenden +Entwurzelung*, die geeignet ist, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewegung<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ebenso verdeckte wie fortgeschriebene Angst noch zu steigern, die Quelle fürgegenmo<strong>der</strong>ne wie entmo<strong>der</strong>nisierende Tendenzen (vgl. ebd.; Kap. 7 u. 9) – e<strong>in</strong>e Gefahr


360 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdie auch ich schon oben angedeutet habe (siehe S. 351) und die ebenfalls Ulrich Beck alsmögliche +Nachtseite* <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>nisierung herausgearbeitet hat (vgl. Die Erf<strong>in</strong>dungdes Politischen; Kap. IV).74Doch das e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> ihrer Bewegung verbreitete und verankertemo<strong>der</strong>ne Bewußtse<strong>in</strong> ist nicht so e<strong>in</strong>fach aus <strong>der</strong> Welt zu schaffen, und die soziale Realität<strong>der</strong> Gegenwart erfor<strong>der</strong>t +mo<strong>der</strong>ne*, d.h. ihrer Komplexität angemessene Institutionen (vgl.Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität; Kap. 10).Die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne läßt sich also (aufgrund ihrer +objektiven* Problematik) we<strong>der</strong>e<strong>in</strong>fach fortführen noch kann sie (aufgrund ihres +Momentum*) umgekehrt werden.75Deshalbmuß die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ihren deflexiven Charakter abstreifen und reflexiven Charakterannehmen, um nicht an ihren Wi<strong>der</strong>sprüchen zu scheitern. Dazu muß sie sich ihre regressiven+Ursprünge* bewußt machen und die oft nur latenten Wi<strong>der</strong>sprüche +entfalten*, anstatt siezu ignorieren und abzulenken. Nur so kann das Zwanghafte ihres Vorwärtsstrebens überwundenwerden. +Subjektivität* und +Objektivität* – als die antagonistischen Momente ihrer dialektischenBewegung – müssen sich, um diese Möglichkeit zu +realisieren*, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Verhältnis <strong>der</strong> +friedlichenKoexistenz* setzen. Das Beson<strong>der</strong>e muß aus <strong>der</strong> Umklammerung durch das Allgeme<strong>in</strong>e befreitwerden, darf aber nicht wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong> Allgeme<strong>in</strong>es werden. Genau dieses (problematische)Spannungsfeld zwischen Allgeme<strong>in</strong>em und Beson<strong>der</strong>em ist es, was Scott Lash als ästhetischeDimension reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung bezeichnet hat:Für Lash stehen Beck und Giddens mit ihrer Konzentration auf kognitive Reflexivität <strong>in</strong> <strong>der</strong>positivistischen Tradition, während er selbst sich eher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>terpretativ-hermeneutischgeprägten Kontext verortet.76Deshalb wendet er sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Analysen auch <strong>der</strong> ästhetischenbzw. hermeneutischen Reflexivität, d.h. den immer zentraler werdenden selbst<strong>in</strong>terpretativenProzessen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft zu. Unter Bezugnahme auf Kant stellt er klar:+Kognitiv <strong>in</strong>terpretative Reflexivität geht, wie Kants moralisches und Verstandesurteil, von <strong>der</strong> Unterordnungdes Objekts unter die Herrschaft des Subjekts, von <strong>der</strong> Beherrschung <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz durch die Ordnungaus. E<strong>in</strong> ästhetisches Verständnis von Reflexivität stellt diese Unterordnung hermeneutisch <strong>in</strong> Frage. AusKontrolle und Beobachtung wird Interpretation durch e<strong>in</strong> Subjekt, das sich die Objekte nur zum Teilund auch nur vielleicht unterordnen kann […] Hermeneutische Reflexivität ähnelt [damit] dem Kantischenästhetischen Urteil.* (Ästhetische Dimension Reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 266f.)In e<strong>in</strong>em neueren Aufsatz unterscheidet Lash allerd<strong>in</strong>gs stärker zwischen ästhetischer undhermeneutischer Reflexivität, und er lehnt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ästhetikkonzept auch eher an Adorno


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 361an, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Spätwerk immer mehr vom begrifflichen Denken abrückte und dagegendas mimetische, +e<strong>in</strong>fühlende* Element <strong>der</strong> (konkreten) S<strong>in</strong>nlichkeit hervorhob, die demBeson<strong>der</strong>en, dem Nichtidentischen und <strong>der</strong> Differenz – an<strong>der</strong>s die vere<strong>in</strong>heitlichende Allgeme<strong>in</strong>heitdes Begrifflichen – ihren Raum zugesteht (vgl. Reflexivität und ihre Doppelungen;77S. 235ff.). Das Allgeme<strong>in</strong>e muß also im Blick auf das Beson<strong>der</strong>e h<strong>in</strong> (und vom Beson<strong>der</strong>enausgehend) reflektiert werden (ästhetische Reflexivität). An<strong>der</strong>erseits benötigt Geme<strong>in</strong>schaft,wie Lash unter Bezugnahme auf den kommunitaristischen Diskurs aufweist,78geteilte S<strong>in</strong>nbezüge,um <strong>der</strong>en +Teilung* allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne, die die traditionalen Selbstverständlichkeitenverabschiedet hat, (dialogisch) gerungen werden muß (hermeneutische Reflexivität).Und <strong>in</strong> diesem Verständigungsprozeß spielt wie<strong>der</strong>um das Ästhetische e<strong>in</strong>e zunehmend bedeutendeRolle:+Geme<strong>in</strong>schaft ist […] vor allem e<strong>in</strong>e Angelegenheit geme<strong>in</strong>samer Bedeutungen. Damit stellt sich dieFrage, ob e<strong>in</strong>e reflexive Geme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong> unseren raum-zeitlich distanzierten Gesellschaften, <strong>in</strong> denenBedeutung per def<strong>in</strong>itionem entleert ist, möglich ist. Vielleicht ist <strong>der</strong> Ort, an dem man H<strong>in</strong>weise aufe<strong>in</strong>e Antwort f<strong>in</strong>den könnte, wie Bedeutung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne möglich ist, [deshalb] das Reich des Ästhetischen.*(S. 276)Allerd<strong>in</strong>gs f<strong>in</strong>det die ästhetische Bedeutungssuche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von <strong>der</strong> symbolischen Macht<strong>der</strong> globalen Kultur<strong>in</strong>dustrie geprägten sozialen Raum statt, die die Informations- und Kommunikationsstrukturenbestimmend prägt (vgl. ebd.; S. 211f. sowie <strong>der</strong>s./Urry: Economies of Signsand Space). Lash, dessen H<strong>in</strong>weis auf die ästhetische (und hermeneutische) Dimension reflexiverMo<strong>der</strong>nisierung e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag zur Diskussion darstellt, ist damit eher skeptisch,wenn Autoren wie Fredric Jameson das Ästhetische als potentielles E<strong>in</strong>fallstor des (nichtidentischen)Wi<strong>der</strong>stands <strong>in</strong> <strong>der</strong> +ästhetisierten*, symbolisch +verd<strong>in</strong>glichten* Kultur <strong>der</strong> spätkapitalistischen(<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne betrachten (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Zur Logik <strong>der</strong> Kultur im Spätkapitalismusund siehe auch hier S. LVIIIf.). E<strong>in</strong>e Skepsis, die berechtigt ist – wobei allerd<strong>in</strong>gs auch Jamesondurchaus e<strong>in</strong> kritisches Bewußtse<strong>in</strong> an den Tag legt und nicht nur die +Flachheit* <strong>der</strong> Kultur<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne herausstellt, son<strong>der</strong>n ebenso auf die Gefahren e<strong>in</strong>er zu engen lokalen Fixierung<strong>der</strong> neuen (ästhetisch +angestoßenen*) Basispolitik verweist (siehe Abschnitt 5.2.2). Reflexion– egal ob auf kognitiver o<strong>der</strong> ästhetischer und hermeneutischer Ebene – kann also auch+beschränkt* bleiben, und so ist es angebracht, sich noch e<strong>in</strong>mal näher mit den (sub)politischenWi<strong>der</strong>standspotentialen <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne zu beschäftigen.


362 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE5.2 DIE BE- UND ENTGRENZUNG DER POLITIK DURCH DIE METAPOLITISCHE SUB-POLITIK UND DIE KORRELIERENDE GEFAHR EINER DIFFUSION UND ZERSPLITTERUNGDES POLITISCHENDie Reflexivität <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart radikalisierten und damit immer deutlicher <strong>in</strong> ihrerWi<strong>der</strong>sprüchlichkeit offenbar gewordenen Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, ihre +objektive* Problematik,die sie auf sich selbst verweist und verwirft, br<strong>in</strong>gt subjektive Reflexionen ihrer +materiellen*Grundlagen wie ihrer <strong>in</strong>stitutionellen Strukturen hervor. Die Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> (post)mo<strong>der</strong>nenOrdnung (die <strong>in</strong> Kapitel 3 auf allgeme<strong>in</strong>er Ebene herausgearbeitet und mit dem Fallbeispiel<strong>in</strong> Kapitel 4 auch konkret veranschaulicht wurden) treiben somit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e reflexive Politisierung.Diese, allerd<strong>in</strong>gs eher untergründige Politisierung ist +ortlos* und zugleich ubiquitär, dennsie betrifft die gesamte gesellschaftliche Sphäre. Sie ist deshalb we<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em spezifischensozialen +Teilsystem* zuzuordnen noch <strong>in</strong>stitutionell festzumachen. In ihrer +Haltlosigkeit*erfaßt und bedrängt die untergründige Politisierung <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne jedoch auch das<strong>in</strong>stitutionelle System <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> – gerade <strong>in</strong>dem sie es umgeht (und ihm damit den legitimatorischenBoden entzieht) und <strong>in</strong>dem sie se<strong>in</strong>e festgefahrenen Strukturen wie se<strong>in</strong>efunktionale +Beschränktheit* h<strong>in</strong>terfragt.Diese H<strong>in</strong>terfragung und Untergrabung <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong> durch e<strong>in</strong>e diffuse Subpolitikstellt e<strong>in</strong>e +<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (Beck), e<strong>in</strong>e Meta- und Superpolitik dar – denn sie (re)politisiertdie strukturell verfestigten Selbstverständlichkeiten des politischen Systems, se<strong>in</strong>e Grenzziehungenund Semantik (siehe Abschnitt 5.2.1). Sie br<strong>in</strong>gt die Bedürfnisse <strong>der</strong> Individuen und ihre (reflexivhervorgekehrten) Selbstverwirklichungsansprüche, die an den Limitierungen <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellbürokratischenVorgaben abprallen, gegen die verselbständigte – und doch +kurzgeschlossene*– Logik <strong>der</strong> zunehmend sozial entbetteten (Teil-)Systeme <strong>in</strong>s Spiel. Das Beson<strong>der</strong>e des eigenenLebens steht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Subpolitik dem (abstrakten) Allgeme<strong>in</strong>en (<strong>der</strong> Systeme) gegenüber – schafftaber auch e<strong>in</strong>en neuen Bezug auf das (konkrete) Allgeme<strong>in</strong>e (als geteilte Sozial- und Lebenssphäre),<strong>in</strong>dem das reflexive Subjekt erkennt, daß se<strong>in</strong>e Selbst-Verwirklichung immer nur<strong>in</strong> Bezug auf +die an<strong>der</strong>en* und die Welt, se<strong>in</strong>e soziale wie materielle Umwelt +S<strong>in</strong>n* macht.Damit gerät potentiell alles <strong>in</strong> den Sog <strong>der</strong> subpolitischen Selbst-<strong>Politik</strong>, und es kommt zue<strong>in</strong>er +totalen* Politisierung des sozialen Lebens.Doch die, an sich bereits ambivalente, +totale* Politisierung ist nur die e<strong>in</strong>e Seite, stellt nure<strong>in</strong>e Möglichkeit dar, wie durch die Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne angestoßene (Sub-)Politisierungs-


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 363prozesse sich äußern können. Subpolitik sprengt nämlich nicht nur tendenziell den Rahmen<strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong> und def<strong>in</strong>iert das Politische neu. In ihrer entgrenzten Diffusitätund ihrer Selbst-Bezogenheit ist sie ebenso wie die <strong>in</strong>stitutionalisierte <strong>Politik</strong> +beschränkt*und tendiert zu e<strong>in</strong>er (positiv wie negativ zu begreifenden) Fixierung auf +Randprobleme*und E<strong>in</strong>zelfragestellungen. Sie ist <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht auch Nicht-<strong>Politik</strong> (siehe Abschnitt 5.2.2),da sie somit ke<strong>in</strong>en wirklich +umfassenden* sozial-politischen Horizont besitzt. Und wennes um e<strong>in</strong>schneidende Verän<strong>der</strong>ungen geht, macht Subpolitik zudem nur allzu oft vor denGrenzen <strong>der</strong> +echten* <strong>Politik</strong> Halt macht, scheut die radikalen Konsequenzen e<strong>in</strong>er +Systemrevolution*.Im folgenden soll deshalb e<strong>in</strong> kritischer Blick auf Subpolitik und ihr politischesPotential geworfen werden.5.2.1 SUBPOLITIK ALS METAPOLITIKSubpolitik ist allgegenwärtig und doch ungreifbar, entzieht sich dem +systematischen* Zugriff.Sie ist untergründige Realität und ortlose Utopie. Sie ist diffus und +nomadisch*, <strong>in</strong> ihrenFormen vielgestaltig und verspielt, und doch zuweilen von e<strong>in</strong>em +tödlichen* Ernst geprägt.Subpolitik, das ist <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuelle Entschluß, lieber auf den kollektiven Fetisch +Auto* zuverzichten, wie <strong>der</strong> neotribalistische Protest gegen +Atomtransporte*. Sie f<strong>in</strong>det auf öffentlichenPlätzen, genauso aber <strong>in</strong> den Räumen des Privaten statt. Ihr konnektives, +rhizomatisches*Netzwerk (siehe unten) schafft horizontale Querverb<strong>in</strong>dungen und durchdr<strong>in</strong>gt die gesamtesoziale Sphäre. Sie ist <strong>der</strong> Ausdruck und die Stimme des Verdrängten, Unbewußten, kehrtes hervor und gibt ihm Raum. Sie ist die Stimme <strong>der</strong> Vielheit gegen die Vere<strong>in</strong>heitlichung.Subpolitik ist haltlos und entgrenzt. Sie ist subversiv und anarchisch, und sie ist so umfassendwie s<strong>in</strong>gulär. In ihrer Entgrenzung breitet sie sich bis h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> das hierarchische System <strong>der</strong><strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> aus, h<strong>in</strong>terfragt es und schränkt se<strong>in</strong>e Handlungsmöglichkeiten e<strong>in</strong>.Sie ist das an<strong>der</strong>e <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und zugleich e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e <strong>Politik</strong>.In ihrer +An<strong>der</strong>sheit* ist Subpolitik immer auch von sich selbst verschieden; sie ist unberechenbar,greift +beliebige* Themen auf und taucht +unvermittelt* aus ihrem (Lebens-)Untergrund auf<strong>der</strong> (Medien-)Oberfläche <strong>der</strong> (politischen) Öffentlichkeit auf. Ihr Netz entspricht e<strong>in</strong>em mikropolitischen+Rhizom*. E<strong>in</strong> +Rhizom* (1976) ist nach Gilles Deleuze und Félix Guattari durchdie Pr<strong>in</strong>zipen <strong>der</strong> Konnexion, <strong>der</strong> Heterogenität und <strong>der</strong> Vielheit geprägt (vgl. S. 11ff.). +Im


364 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEUnterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verb<strong>in</strong>det das [subjekt- und objektlose] Rhizome<strong>in</strong>en beliebigen Punkt mit e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en […] Es ist we<strong>der</strong> das Viele, das vom E<strong>in</strong>en abgeleitetwird, noch jenes Viele, zu dem das E<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>zugefügt wird […] Es besteht nicht aus E<strong>in</strong>heiten,son<strong>der</strong>n aus Dimensionen.* (Ebd.; S. 34) Es stellt also im Gegensatz zur Wurzel e<strong>in</strong>e unkontrollierbareWucherung dar, die auch Brüche nicht scheuen muß, son<strong>der</strong>n von diesen unbee<strong>in</strong>drucktweiter wuchert, sich se<strong>in</strong>e eigenen Wege sucht und transversale Verb<strong>in</strong>dungenzwischen dem sche<strong>in</strong>bar Inkompatiblen herstellt (vgl. ebd; S. 16ff.). Und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wildwuchsproduziert es, wie schon oben angemerkt, das Unbewußte, kehrt die verdrängten Wünscheund Begierden (<strong>der</strong> Individuen) hervor, statt sie zu verdecken und (rational) zu beherrschen(vgl. ebd.; S. 29). Das untergründige Netzwerk des Rhizoms ist damit im dargelegten S<strong>in</strong>nreflexiv: Es verschafft den latenten Triebkräften und Wi<strong>der</strong>sprüchen Ausdruck, setzt sie <strong>in</strong>(gegenseitigen) Bezug zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und praktiziert e<strong>in</strong>e unvere<strong>in</strong>nahmbare (+ästhetische*) <strong>Politik</strong>des Beson<strong>der</strong>en und des Differenten.Jean-François Lyotard spricht von ähnlichen Vorstellungen geleitet von e<strong>in</strong>em +Patchwork<strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten* (1977) und plädiert für e<strong>in</strong>e +herrenlose* <strong>Politik</strong>, <strong>der</strong>en Ort die Wirklichkeitdes täglichen Lebens ist. +Diese Wirklichkeit ist nicht wirklicher als die <strong>der</strong> Macht, <strong>der</strong> Institutionen,des Vertrags usw., sie ist ebenso wirklich; sie ist jedoch m<strong>in</strong>oritär und deshalb zwangsläufigvielförmig und vielfältig, o<strong>der</strong>, wenn e<strong>in</strong>em das lieber ist, immer e<strong>in</strong>zeln, e<strong>in</strong>zigartigund s<strong>in</strong>gulär.* (S. 9f.) Die Subversion des Vielfältigen ersetzt damit die vere<strong>in</strong>heitlichendeNegation <strong>der</strong> klassischen (Massen-)Bewegungen. +Was sich abzeichnet ist e<strong>in</strong>e (noch zu def<strong>in</strong>ierende)Gruppe von heterogenen Räumen, e<strong>in</strong> großes patchwork [!] aus lauter m<strong>in</strong>oritärenS<strong>in</strong>gularitäten.* (Ebd.; S. 37) Die großen E<strong>in</strong>heiten <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (<strong>der</strong> Staat, die Nation, die+Imperien* des Liberalismus wie des Sozialismus) zerfallen, aber +wichtige neue Gruppierungentreten auf, die <strong>in</strong> den offiziellen Registern bisher nicht geführt wurden: Frauen, Homosexuelle,Geschiedene, Prostituierte, Enteignete, Gastarbeiter…; je stärker sich die Kategorien vermehren,desto komplizierter und schwerfälliger wird <strong>der</strong>en zentralisierte Verwaltung; dann wächstdie Tendenz, se<strong>in</strong>e Geschäfte selbst <strong>in</strong> die Hand zu nehmen, ohne all die Vermittlungendes ZENTRUMS zu passieren […]* (Ebd.; S. 38f.)Lyotard kommt mit dieser +Vision* e<strong>in</strong>es peripheren Patchworks <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten sehr nahean das Konzept <strong>der</strong> Subpolitik heran, so wie es von Ulrich Beck im Kontext se<strong>in</strong>er oben nochmals<strong>in</strong> ihren Grundzügen dargelegten Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung geprägt wurde. E<strong>in</strong>ige


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 365Bemerkungen zur Subpolitik erfolgten nicht nur dort, son<strong>der</strong>n bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung (sieheS. 55f.) sowie <strong>in</strong> Abschnitt 2.5. Trotzdem möchte ich Beck hier noch e<strong>in</strong>mal kurz +zu Wortkommen* lassen: Dieser stellt (auf Rousseaus Unterscheidung Bezug nehmend) dar, daß es<strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – nicht nur theoretisch, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong>stitutionell-praktisch – zu e<strong>in</strong>er Trennungzwischen politischem Citoyen und dem homo oeconomicus des Bourgeois gekommen sei(vgl. Risikogesellschaft; S. 301). Jene (funktionale) Trennung bewirkte zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e +Fixierungauf das politische System als exklusives Zentrum <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (ebd. S. 307), <strong>der</strong> aber an<strong>der</strong>erseitsaktuell e<strong>in</strong> gravieren<strong>der</strong> Bedeutungsverlust des Parlaments (als se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>stitutionellen Kern)entgegensteht.Die politische Macht (die soziale Wirklichkeit zu gestalten) ist nämlich durch die zunehmendeReflexivität des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses abgewan<strong>der</strong>t <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e Bereiche, und die klareScheidung von <strong>Politik</strong> und Nichtpolitik ist somit aufgehoben (vgl. ebd.; S. 302f.). Die Handlungsspielräume<strong>der</strong> +offiziellen* <strong>Politik</strong> werden durch diese Entgrenzung des Politischen e<strong>in</strong>geschränkt.Nicht nur haben technische und ökonomische Entscheidungen zunehmend politischenCharakter, weil sie Folgen für die Allgeme<strong>in</strong>heit haben, auch <strong>in</strong>dividuelle (An-)Rechteund immer nachdrücklicher formulierte Ansprüche auf politische Partizipation schränken denFreiraum des politischen Systems e<strong>in</strong>, so daß sich zugespitzt formulieren läßt: +Das Politischewird unpolitisch und das Unpolitische politisch.* (Ebd.; S. 305) Entsprechend folgert Beck:+Das ›Gesetz‹ <strong>der</strong> funktionalen Differenzierung wird durch Entdifferenzierungen (Risikokonflikteund Kooperationen, Moralisierung von Produktion, Ausdifferenzierung von Subpolitik) unterlaufenund außer Kraft gesetzt.* (Ebd.; S. 369) +<strong>Politik</strong> ist nicht länger <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Ort o<strong>der</strong> auchnur <strong>der</strong> zentrale Ort, an dem über die Gestaltung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Zukunft entschiedenwird […] Alle Zentralisationsvorstellungen stehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em umgekehrt proportionalen Verhältniszum Grad <strong>der</strong> Demokratisierung e<strong>in</strong>er Gesellschaft.* (Ebd.; S. 371)Subpolitik ist also <strong>der</strong> Ausdruck e<strong>in</strong>er Entmachtung <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong>, aber auch e<strong>in</strong>erreflexiven Demokratisierung, e<strong>in</strong>er neuen +alltagspraktischen* politischen Kultur des Zweifelsauf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> risikobewußten Aktivierung <strong>der</strong> Bürger, wobei <strong>der</strong>en kritische H<strong>in</strong>terfragungen<strong>der</strong> Grundlagen des Systems notwendig s<strong>in</strong>d, um mit dem Risikopotential <strong>der</strong> (post)-<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft fertig werden zu können (vgl. ebd.; S. 317ff. sowie Das Zeitalter<strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 69ff.). Es kommt damit <strong>in</strong> <strong>der</strong> reflexivenMo<strong>der</strong>ne nach Beck ke<strong>in</strong>eswegs zu e<strong>in</strong>er Entpolitisierung, son<strong>der</strong>n vielmehr zu e<strong>in</strong>er +Renaissance


366 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (1994) bzw. zu e<strong>in</strong>er neuen +Erf<strong>in</strong>dung des Politischen* (1993). An<strong>der</strong>erseits: Mitse<strong>in</strong>er Betonung des (radikalen) Zweifels als Grundpr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne und ihrermetapolitischen Subpolitik – e<strong>in</strong>es Zweifels allerd<strong>in</strong>gs, <strong>der</strong> nicht, wie bei Descartes, <strong>der</strong> Suchenach Gewißheit entspr<strong>in</strong>gt, son<strong>der</strong>n, wie im Skeptizismus Montaignes, e<strong>in</strong>em +antiautoritären*Impuls folgt (vgl. auch ebd.; S. 252ff.) – offenbart Beck sich als geradezu +klassisch* mo<strong>der</strong>ner(Fortschritts-)Denker. Und e<strong>in</strong> zum Pr<strong>in</strong>zip erhobener Zweifel ist, wie die Angst, ruhelos und+zwanghaft*. In se<strong>in</strong>er (Montaignes ebenso skeptischem wie gelassenem +Pragmatismus* tatsächlichkaum entsprechenden) Radikalität untergräbt er eventuell auch die eigenen Grundlagen:nämlich die notwendige +authentische* (d.h. +selbstbewußte*) Basis <strong>der</strong> kritischer Reflexion(siehe auch Schlußexkurs). Er ist nicht nur Subversion, son<strong>der</strong>n – solchermaßen +verabsolutiert*– auch Subord<strong>in</strong>ation (unter das Pr<strong>in</strong>zip des Zweifels).Gemäß Giddens ist dagegen selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne (<strong>in</strong>sofern siefähig ist, die Individuen e<strong>in</strong>zub<strong>in</strong>den) e<strong>in</strong> Moment des (zweifellosen) Vertrauens vorhanden:Dieses Moment des Vertrauens äußert sich z.B. dar<strong>in</strong>, daß man, ohne über potentielle Risikenzu reflektieren, allmorgendlich <strong>in</strong> die U-Bahn steigt o<strong>der</strong> sich darauf verläßt, daß e<strong>in</strong>e Überweisung+ankommt*. Ohne solches Vertrauen, das e<strong>in</strong>erseits auf dem <strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong>dheit erworbenen+Urvertrauen* aufbaut (vgl. Erikson: Identität und Lebenszyklus; S. 62ff. sowie W<strong>in</strong>nicott: Reifungsprozesseund för<strong>der</strong>nde Umwelt; S. 62ff.) und an<strong>der</strong>erseits durch die alltäglichen Rout<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>e Verankerung im +praktischen Bewußtse<strong>in</strong>* f<strong>in</strong>det,79könnten auch die abstrakten Systeme<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne nicht bestehen. Vertrauen ist zwar, wie bereits oben dargestellt wurde, heuteweniger selbstverständlich als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit, muß aber trotzdem gegeben se<strong>in</strong> (bzw.hergestellt werden). E<strong>in</strong> totaler und beständiger Zweifel am Funktionieren <strong>der</strong> abstrakten Systeme– sowohl <strong>der</strong> Expertensysteme wie <strong>der</strong> symbolischen Tauschmittel – würde die Grundlagen<strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne sprengen, was gemäß Giddens <strong>fatal</strong> wäre. (Vgl. Consequencesof Mo<strong>der</strong>nity; S. 79–111 sowie Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity: S. 35–47 und S. 133ff.)Die von ihm ausgemachte neue lebens(weltliche) <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne (siehe auch80S. 56f.) ist deshalb weniger +radikal* <strong>in</strong> ihrer Systemh<strong>in</strong>terfragung als Becks Subpolitik. Trotzdemist sie +metapolitisch*, <strong>in</strong>dem sie – aus dem Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Gefährdungen undDilemmata heraus – globale Fragen aufgreift und damit die (national fixierte) <strong>in</strong>stitutionelle<strong>Politik</strong> transzendiert. Die Risiken und Freiheiten <strong>der</strong> entfalteten Mo<strong>der</strong>ne erzeugen nämlich+schicksalhafte Momente* (fateful moments), <strong>in</strong> denen Entscheidungen getroffen werden müssen,


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 367die weitreichende persönliche und soziale Konsequenzen haben. In diesen schicksalhaftenMomenten wird das Selbst sich se<strong>in</strong>er und se<strong>in</strong>er sozialen Verantwortung bewußt, <strong>in</strong>demes auf die eigene Entscheidungskompetenz verwiesen wird und die Risiken und Chancense<strong>in</strong>er Entscheidungen abwägen muß (vgl. ebd.; S. 112ff.). Genau diese ambivalente Verwiesenheitdes Selbst auf sich selbst erzeugt das neuartige Phänomen <strong>der</strong> +life politics*.Unter Rekurs auf Theodore Roszak, <strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er subversiven politischen Kraft des Persönlichenspricht (vgl. Person/Planet; S. XXVIII),81betont auch Giddens dabei den subversiven Charakter<strong>der</strong> lebens(weltlichen) <strong>Politik</strong> – wobei für ihn jedoch <strong>der</strong>en reflexives Selbst-Projekt nichtschon an sich subversiv ist. Subversiv s<strong>in</strong>d vielmehr die aktuellen Transformationen des Sozialen,die von ihr nur gespiegelt werden: also die soziale Entbettung durch abstrakte Systeme o<strong>der</strong>Globalisierungsprozesse etc. (vgl. Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity; S. 209 und siehe ebenso oben).Unter dem E<strong>in</strong>fluß dieser weitreichenden Verän<strong>der</strong>ungen im Gefüge <strong>der</strong> (Hoch-)Mo<strong>der</strong>newird auch <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuelle Lebensstil und sogar <strong>der</strong> Umgang mit dem (eigenen) Körper zue<strong>in</strong>er (hoch) politischen Frage (vgl. ebd.; S. 214–220).82Deshalb hat lebens(weltliche) <strong>Politik</strong>automatisch e<strong>in</strong>e globale Dimension, und moralische Fragen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konzentration aufdie ökonomisch-technische Entfaltung vorübergehend verdeckt wurden, gew<strong>in</strong>nen wie<strong>der</strong>an Brisanz (vgl. ebd.; 220–231).Diese neue Brisanz von (globalen) moralischen Fragen läßt sich beispielsweise an <strong>der</strong> Verfassungsdebatteanläßlich <strong>der</strong> deutschen Wie<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>igung ablesen, wo (angeregt durch die Ökologiebewegung)die letztendlich sogar durchgesetzte For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> Festschreibung e<strong>in</strong>esStaatsziels +Umweltschutz* erhoben wurde – e<strong>in</strong>e Staatszielbestimmung, die für Bernd Guggenbergerangesichts <strong>der</strong> globalen ökologischen Gefährdung mehr als berechtigt ist, denn +dieWelt ist, erstmals, als ganze gefährdet […] Wollen wir sie bewahren, müssen wir sie als ganzebewahren. Zur Ökologie gibt es ebensowenig Alternativen wie zur Globalität.* Deshalb mußdas +Denken [wie die Praxis] über die Gegenwart h<strong>in</strong>aus; und […] über den Staat h<strong>in</strong>aus*(Globalität und Zukunft; S. 27).Mit dieser Feststellung, die Guggenberger mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>er weiteren, sowohlökologisch-lebensweltlichen wie weltgeme<strong>in</strong>schaftlichen +Aufstockung* des Verfassungsstaatsverb<strong>in</strong>det, knüpft er an Gedanken an, die er zusammen mit Claus Offe schon Mitte <strong>der</strong> 80erJahre (also etwa zeitgleich zu Becks +Risikogesellschaft*) entwickelt hat:83Im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong>Gefährdungsdimension <strong>der</strong> Umweltproblematik steht die klassische Mehrheitsdemokratie


368 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEan ihrer Grenze und e<strong>in</strong>e neue +<strong>Politik</strong> aus <strong>der</strong> Basis* entdeckt – nachdem Frieden, Freiheit,Gleichheit und Brü<strong>der</strong>lichkeit zum<strong>in</strong>dest auf <strong>der</strong> formalen Ebene des demokratischen RechtsundWohlfahrtsstaats weitgehend verwirklicht wurden – die Umwelt- und Lebensrechte wie<strong>der</strong>(vgl. dort S. 14 und siehe ebenso hier S. 201f.).Auch die empirische <strong>Politik</strong>forschung muß angesichts <strong>der</strong> bereits erfolgten Transformation<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die subpolitische Herausfor<strong>der</strong>ung und aufgrund <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Wandlungsprozessedes Sozialen lernen, mit neuen (ambivalenten) Kategorien zu +rechnen*. ClausLeggewie etwa spricht von +Fuzzy Politics* (1994) und stellt fest: +Ethnisch-kulturelle Fraktale[…] überlagern die Flächendimension politischer E<strong>in</strong>heiten; an ihrer Stelle gew<strong>in</strong>nen ›immaterielle‹Demarkationsl<strong>in</strong>ien an Bedeutung, die sich auf ›unsichtbare‹, aber nicht weniger realeGrenzen beziehen.* (S. 124) Diese subpolitischen, nicht im gängigen Koord<strong>in</strong>atensystem <strong>der</strong>Parteienlandschaft abbildbaren +Fraktale* mit ihren neuartigen Abgrenzungen werden durchLebensstilmilieus und neotribale Aggregationen (wie Sk<strong>in</strong>s, Punks o<strong>der</strong> Autonome) etc. gebildet.Sie können (empirisch) nur +erfaßt* werden, wenn von <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Zweiwertigkeit zu e<strong>in</strong>erpolivalenten Logik übergegangen wird (vgl. ebd.; S. 126). Die von <strong>der</strong> Systemtheorie postulierteb<strong>in</strong>äre Codierung (siehe auch S. 101) wäre jedenfalls mit dem von Leggewie ausgemachtenPhänomen <strong>der</strong> +Fuzzy Politics* endgültig +unpraktikabel* geworden.Fraglich bleibt allerd<strong>in</strong>gs, <strong>in</strong>wieweit die fraktalisierten +Fuzzy Politics* <strong>der</strong> empirischen +Realität*tatsächlich e<strong>in</strong>e subpolitische Metapolitik darstellen und ob mit ihrem Auftauchen nicht vielmehre<strong>in</strong>e Zersplitterung, e<strong>in</strong>e +M<strong>in</strong>imalisierung* und Diffusion des Politischen stattf<strong>in</strong>det. Dieser(entpolitisierende) Aspekt von Subpolitisierungsprozessen wird unten noch e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> thematisiertwerden. Aus dem Blickw<strong>in</strong>kel des Systems stellt sich h<strong>in</strong>gegen auch die umgekehrteFrage, mit welchen +Recht*, mit welcher Legitimation Subpolitik <strong>in</strong> die Sphäre <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten<strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gt und ihr Grenzen setzt. Obwohl diese Frage hier nicht vertieftwerden soll – denn sie entspricht weitgehend e<strong>in</strong>er zirkulären Kritik, die Subpolitik aufgrundihres spezifischen subpolitischen Charakters +diskreditiert* –, ist es s<strong>in</strong>nvoll, sich kurz diegrundsätzliche Ambivalenz e<strong>in</strong>er umfassenden, tatsächlich metapolitischen Subpolitisierungzu vergegenwärtigen:Zunächst ist hier auf das (formal)demokratische Defizit <strong>der</strong> Subpolitik zu verweisen. Im Gegensatzzu den gewählten Repräsentanten können sich subpolitische Akteure oft nur auf ihre +Eigenmacht*und nicht auf die rechtfertigende Macht <strong>der</strong> (praxologischen) Legitimation durch


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 369(Wahl-)Verfahren berufen. Es ist zudem unklar, zu welchem Grad die (selbsternannten) subpolitischen+Sprecher* für die Belange <strong>der</strong> Umwelt und <strong>der</strong> Lebenswelt tatsächlich für an<strong>der</strong>esprechen und handeln (dürfen/können/sollen). Die (vor-)politische +Masse* verharrt schließlichnoch zumeist schweigend und passiv. Weiterh<strong>in</strong> ist zu vermuten, daß sich <strong>in</strong> subpolitischenNetzen rasch <strong>in</strong>formelle Machtstrukturen etablieren, die nur undurchschaubarer s<strong>in</strong>d als jenedes +Systems*, nicht aber weniger ausgeprägt. Und schließlich bot die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>ne herausgebildete Trennung zwischen dem Bereich <strong>der</strong> Öffentlichkeit und dem Privaten(siehe Abschnitt 2.4) auch e<strong>in</strong>en Schutz <strong>der</strong> Lebenswelt vor E<strong>in</strong>griffen des +Systems*. Diesertrennende Schutzwall um das Private wurde bereits durch das Ausgreifen des <strong>in</strong>terventionistischenWohlfahrtsstaats durchlöchert. Durch die grenzenlose Politisierung <strong>der</strong> gesamten Sozialsphäredurch die metapolitische Subpolitik wird er ganz e<strong>in</strong>gerissen. Die Privaträume werden also+veröffentlicht*, und selbst das eigenste des eigenen Lebens gerät unter subpolitische Rechtfertigungszwänge.Damit besitzt Subpolitik auch e<strong>in</strong> +totalitäres* Potential und birgt die Gefahre<strong>in</strong>er rücksichtslosen Superpolitisierung. Ihre subversive Grenzenlosigkeit schlägt so möglicherweise<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ebenso +grenzenlose*, lebenspolitische Gewalt um, die – wie die Bewegung<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong>e (neuordnende) tabula rasa zum Ziel hat.5.2.2 SUBPOLITIK ALS DIFFUSE NICHT-POLITIKSubpolitik ist Metapolitik, <strong>in</strong>dem sie aus dem Untergrund <strong>der</strong> Lebenswelt heraus e<strong>in</strong>e <strong>Politik</strong><strong>der</strong> <strong>Politik</strong> betreibt. Sie politisiert aber auch die lebensweltliche Privatheit und kann nichtnur aufgrund dieser Entgrenzung, wie oben umrissen wurde, durchaus ambivalent beurteiltwerden. Die Ausweitung des Politischen geht notwendig mit se<strong>in</strong>er Diffusion e<strong>in</strong>her. Es verliertan Trennschärfe und – paradoxerweise – an +Allgeme<strong>in</strong>heit* (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en,+umfassenden* Bezugs). An<strong>der</strong>erseits: Wenn mit dem Phänomen <strong>der</strong> Subpolitik potentiellalles zu e<strong>in</strong>er politischen Frage wird, so ist vielleicht auch nichts mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em spezifischenS<strong>in</strong>n politisch. Es wäre somit zu klären, ob es e<strong>in</strong> spezifisch Politisches <strong>der</strong> Subpolitik gibtund wor<strong>in</strong> dieses bestände. Denn zweifellos sprengt <strong>der</strong> diffus erweiterte <strong>Politik</strong>begriff <strong>der</strong>Subpolitik übliche Def<strong>in</strong>itionen, die <strong>Politik</strong> eng an die staatliche Sphäre b<strong>in</strong>den. 84Doch selbstverständlich darf man Subpolitik nicht an den (def<strong>in</strong>itorischen) Maßstäben <strong>der</strong>+klassischen* <strong>Politik</strong> messen. Insofern sie Metapolitik ist, stellt sie schließlich genau <strong>der</strong>en


370 POLITIK IN DER (POST-)MODERNESelbstverständnis und Selbstverständlichkeiten <strong>in</strong> Frage. Vielleicht ist es – angesichts <strong>der</strong> <strong>in</strong>Kapitel 1 dargestellten (historischen) Transformationen des <strong>Politik</strong>begriffs – überhaupt <strong>der</strong>falsche Weg, das Politische <strong>in</strong> starre Def<strong>in</strong>ition zu +fassen*. Als M<strong>in</strong>imaldef<strong>in</strong>ition könnte zwarvielleicht <strong>der</strong> angesprochene Bezug auf die Allgeme<strong>in</strong>heit dienen. Aber gerade wenn mandiese M<strong>in</strong>imaldef<strong>in</strong>ition teilt, müßte man konsequenterweise auch immer das als politischansehen, was allgeme<strong>in</strong> als <strong>Politik</strong> aufgefaßt wird. Diese +pragmatische* Tautologie – <strong>Politik</strong>ist, was als <strong>Politik</strong> gilt – stellt ke<strong>in</strong>en geschlossenen Zirkel dar, son<strong>der</strong>n ermöglicht durchausweitergehende Fragen: zum Beispiel die Frage, warum <strong>in</strong> <strong>der</strong> reflexiven Mo<strong>der</strong>ne und ihrer<strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft das Private (zunehmend) politischen Charakter erhält. DieseFrage führt zurück zur Analyse <strong>der</strong> sozialen Wandlungsprozesse, die <strong>in</strong> den Kapiteln 2 und3 vorgenommen wurde.Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite kann aber nur e<strong>in</strong> normativer, <strong>in</strong>haltlich aufgefüllter <strong>Politik</strong>begriff alskritischer Maßstab und Basis <strong>der</strong> Reflexion dienen. Der bloße Verweis auf e<strong>in</strong>en empirischenWandel des <strong>Politik</strong>verständnisses erlaubt – so analytisch aufschlußreich er auch se<strong>in</strong> mag– ke<strong>in</strong>e (theoretische wie praktische) Überschreitung <strong>der</strong> sozialen und politischen Faktizität.Wenn hier von Subpolitik als Nicht-<strong>Politik</strong> gesprochen wird, so ist <strong>der</strong> Bezugspunkt deshalbe<strong>in</strong>e bestimmte <strong>in</strong>haltliche Vorstellung von <strong>Politik</strong>. Diese Vorstellung schließt nicht an e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geengtes Verständnis des Politischen als staatliche Handlungssphäre an. Vielmehr ergibtsie sich aus <strong>der</strong> +Maximalisierung* <strong>der</strong> M<strong>in</strong>imaldef<strong>in</strong>ition: <strong>Politik</strong> ist nur politisch, wenn sie(auch im Kle<strong>in</strong>en) den Bezug auf das soziale Ganze bewahrt bzw. (wie<strong>der</strong>) herstellt – und<strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat +totalitär* ist. Auch die subpolitische Mikropolitik müßte diesesGanze reflektieren, um <strong>Politik</strong> im eigentlichen, radikalisierten S<strong>in</strong>n zu se<strong>in</strong>. Daß sie diffus<strong>in</strong> den funktional abgegrenzten (und damit se<strong>in</strong>erseits bereits entpolitisierten) Bereich <strong>der</strong><strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong> e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gt, genügt nicht.Fredric Jameson, <strong>der</strong> sich dem Denken <strong>der</strong> Kritischen Theorie verpflichtet fühlt, verweist imRahmen se<strong>in</strong>er Betrachtungen <strong>der</strong> Kultur <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ebenfalls auf dieses Problem <strong>der</strong>Mikro- bzw. Subpolitik. Jene ist für ihn zwar e<strong>in</strong>e typische Ersche<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> spätkapitalistischenGegenwart. Doch zum e<strong>in</strong>en ist die oft behauptete Symmetrie <strong>der</strong> neuen (politischen) Kulturund die Auflösung <strong>der</strong> Klassenstrukturierung durch Individualisierungsprozesse nach ihm nure<strong>in</strong>e Illusion (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism; S. 318ff.).85Zum an<strong>der</strong>en droht die +ausgebreitete* Mikropolitiksich <strong>in</strong> <strong>der</strong> +real* festzustellenden Fixierung auf lokale Fragen und Probleme zu verzetteln


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 371und vollbr<strong>in</strong>gt nicht mehr die von <strong>der</strong> +alten* <strong>Politik</strong> – im Interesse des Systemerhalts – nochgeleistete Koord<strong>in</strong>ationsarbeit. Und so stellt Jameson fest:+An ol<strong>der</strong> politics sought to coord<strong>in</strong>ate local and global struggles […] Politics works only when these twolevels can be coord<strong>in</strong>ated; they otherwise drift apart <strong>in</strong>to a disembodied and easily bureaucratized abstractstruggle for and around the state, on the one hand, and a properly <strong>in</strong>term<strong>in</strong>able series of neighbourhoodissues on the other, whose ›bad <strong>in</strong>f<strong>in</strong>ity‹ comes, <strong>in</strong> postmo<strong>der</strong>nism, where it is the only form of politicsleft […]* (Ebd.; S. 330)In dieser aktuellen Dom<strong>in</strong>anz e<strong>in</strong>er fragmentisierten +M<strong>in</strong>imalpolitik* drückt sich für Jamesonvor allem e<strong>in</strong>e unterschwellige Angst vor dem utopischen Denken und se<strong>in</strong>en +Totalisierungen*aus.86Es ist die (ke<strong>in</strong>eswegs unbegründete) Angst vor <strong>der</strong> Umfassung und Unterdrückungdes Beson<strong>der</strong>en durch das Allgeme<strong>in</strong>e, vor dem <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne immanentenTerror ihrer Metaerzählungen, welche – im Gedanken <strong>der</strong> Emanzipation, <strong>der</strong> Freiheit, <strong>der</strong>Gleichheit etc. – allerd<strong>in</strong>gs immer auch e<strong>in</strong>en utopischen Gehalt hatten. Und <strong>in</strong> <strong>der</strong> zusammenmit <strong>der</strong> Dekonstruktion <strong>der</strong> unterdrückenden Macht <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Metaerzählungen erfolgenden(ihrerseits +totalen*) Ablehnung des utopischen Denkens, das se<strong>in</strong>em Wesen nach +total* se<strong>in</strong>muß, um radikal das +an<strong>der</strong>e* denken zu können, wird zugleich die Möglichkeit <strong>der</strong> Überschreitung<strong>der</strong> Aktualität verabschiedet. Deshalb spiegelt sich für Jameson im postmo<strong>der</strong>nenPluralismus, dem Yuppy-Phänomen e<strong>in</strong>er Neo-Ethnizität auf <strong>der</strong> Grundlage ausdifferenzierterLebensstilgeme<strong>in</strong>schaften, auch e<strong>in</strong>e fragwürdige Ideologie <strong>der</strong> Differenz, die weniger tatsächlichdem an<strong>der</strong>en Raum gibt, als die Zusammenhänge des totalisierten Marktsystems durch +Verflachungen*ausblendet. (Vgl. ebd. S. 331–356)Von <strong>der</strong> entgegengesetzten Richtung des kommunitaristischen Diskurses kommend, hat WarnfriedDettl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e im Pr<strong>in</strong>zip ähnliche Kritik formuliert: Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne suchte noch nachumfassenden Antworten auf die soziale(n) Frage(n), verfolgte Reformprojekte und baute dabeiauf die Mobilisierungskraft <strong>der</strong> Massen. In <strong>der</strong> (postmo<strong>der</strong>nen) <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaftist dagegen die Massenbasis für utopische Projekte solcher Art nicht mehr vorhanden, und<strong>der</strong> politische Raum ist durch Subpolitisierungsprozesse (vor allem die untergründige Entmachtung<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> durch die globalisierte Ökonomie) entleert. Wir haben es also nicht nur mit e<strong>in</strong>emVerlust des politischen Subjekts, son<strong>der</strong>n auch mit <strong>der</strong> schleichenden Schrumpfung <strong>der</strong>politischen Sphäre zu tun: Die Atopie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> hat die politische Utopie abgelöst (vgl. Utopieund Katastrophe; S. 109–112). Allerd<strong>in</strong>gs sieht Dettl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Krise <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, ähnlich


372 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEwie Beck, auch Chancen für die Imag<strong>in</strong>ation politischer Alternativen sowie zur Erneuerung<strong>der</strong> demokratischen Kultur (vgl. ebd.; S. 114–118). Dazu müßte aber nach Dettl<strong>in</strong>g zu e<strong>in</strong>em+kommunitärem Leitbild* gefunden werden, das die Menschen <strong>in</strong> die Gesellschaft orientierendre<strong>in</strong>tegrieren kann, pragmatische Wege zu se<strong>in</strong>er Umsetzung aufzeigt sowie dem aktuellenZeithorizont angemessen ist, ohne vor <strong>der</strong> Faktizität <strong>der</strong> Marktgesellschaft zu kapitulieren(vgl. auch <strong>der</strong>s.: <strong>Politik</strong> und Lebenswelt; S. 65ff.).Doch ist die subpolitisch zersplitterte westliche +Zivilgesellschaft* überhaupt noch zu e<strong>in</strong>erMetamorphose fähig, die zu e<strong>in</strong>er sozialen Gesamtperspektive zurückf<strong>in</strong>det? – Helmuth Dubielverweist darauf, daß das Modell <strong>der</strong> (liberalen) Zivilgesellschaft für die Opposition <strong>in</strong> denStaaten Osteuropas – im Gegensatz zur +totalitär* gewordenen Revolution des +Sozialismus*– e<strong>in</strong>st <strong>der</strong> Inbegriff für e<strong>in</strong>e sich im positiven S<strong>in</strong>n selbst begrenzende Revolution war (vgl.Metamorphosen <strong>der</strong> Zivilgesellschaft; S. 74ff.). Doch genauso wie <strong>in</strong> den Transformationsstaatendes ehemaligen Ostblocks nach dem Zusammenbruch <strong>der</strong> alten Systeme die Schleusen ungebremstgeöffnet wurden und sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>seitiger Markt-Liberalismus etablierte,so ist auch im Westen die von den +klassischen* liberalen Modellen <strong>der</strong> Zivilgesellschaft e<strong>in</strong>gefor<strong>der</strong>teTrennung von privater (Wirtschafts-) und öffentlicher Sphäre schon seit langem e<strong>in</strong>Problem: Beschränkt blieb dadurch nämlich primär die <strong>Politik</strong> und nicht die Ökonomie. Im(reflexiven) Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gefährdungspotentiale durch e<strong>in</strong>e ungehemmte ökonomischtechnischeEntfaltung ist es deshalb, wie oben dargestellt wurde, zu subpolitischen Bestrebungene<strong>in</strong>er +Zivilisierung* <strong>der</strong> Systeme (d.h. e<strong>in</strong>er Beschränkung <strong>der</strong> Subsystemautonomie) gekommen(vgl. auch ebd.; S. 97ff.).Die subpolitischen Beschränkungsbestreben <strong>der</strong> +Systemmacht* laufen gewissermaßen aufdie Verwirklichung <strong>der</strong> von Klaus Offe entworfenen +Utopie <strong>der</strong> Null-Option* (1986) heraus.Denn für Offe bedeutet die sche<strong>in</strong>bare Optionsfülle <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen, funktional differenziertenGesellschaft tatsächlich Starrheit und Immobilität, da die Gestaltungsmöglichkeiten auf <strong>der</strong>sozialen Metaebene genau durch die <strong>in</strong>tern optionssteigernde (Teil-)Autonomie <strong>der</strong> Teilsystemee<strong>in</strong>geschränkt werden (siehe auch Abschnitt 5.3.1). Soll die Fähigkeit zu substanziellen Verän<strong>der</strong>ungendes Gesamtsystems wie<strong>der</strong>erlangt werden, muß zunächst e<strong>in</strong>e Beschränkung<strong>der</strong> subsystemischen +Freiheiten* erfolgen. Subpolitik wäre also dort Metapolitik, wo es ihrgel<strong>in</strong>gt, die Subsysteme <strong>in</strong> ihrer Autonomie zu beschränken, um Gestaltungsspielräume zuschaffen. Nur: Subpolitik ist nicht alle<strong>in</strong>e diffus und fragmentisiert, sie ist ihrerseits +beschränkt*,


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 373begrenzt sich im negativen S<strong>in</strong>n selbst (und wird zudem von +außen* begrenzt).87Das hatverschiedene Gründe:Zunächst kann mit Klaus E<strong>der</strong> darauf verwiesen werden, daß die neuen sozialen Bewegungen,die e<strong>in</strong>e wesentliche konkrete Äußerungsform von Subpolitik darstellen (siehe auch S. 199ff.),ihre politische Identität nur auf Kosten des kollektiven Charakters dieser Identität erzeugenkönnen, denn sie beruhen auf <strong>der</strong> – selbstfixierten – Politisierung <strong>der</strong> Individuen (vgl. SozialeBewegung und kulturelle Evolution; S. 347f.). So gerät (sub)politischer Protest <strong>in</strong> vielen Fällenzu e<strong>in</strong>em Vehikel <strong>der</strong> ekstatischen, narzißtischen Selbstspiegelung. Die Individuen engagierensich schließlich nicht nur mit Vorliebe im lokalen Umfeld, <strong>in</strong> Fällen (verme<strong>in</strong>tlicher) persönlicherBetroffenheit – sie wollen sich auch persönlich darstellen und +ausleben*. Subpolitik tendiertalso nicht nur <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> Anpassung an die Mediensemantik dazu, sich als Ereignis, als +Event*und +Happen<strong>in</strong>g* zu <strong>in</strong>szenieren (siehe unten). Sie muß Ausdrucksformen f<strong>in</strong>den, die dasSubjekt nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Masse +auflösen*, son<strong>der</strong>n ihm vielmehr e<strong>in</strong>e Bühne bieten. Zugespitztformuliert: Die +s<strong>in</strong>guläre* Mikropolitik <strong>der</strong> Subpolitik ist weniger an (politischer) Geme<strong>in</strong>schaftorientiert ist, son<strong>der</strong>n primär an den eigenen Problemen, die <strong>in</strong> die soziale Sphäre projiziertund deshalb dort bekämpft werden. Aufgrund dieser latenten psychologischen Funktion istSubpolitik bzw. ihre <strong>in</strong>dividualistisch +beschränkte* Äußerungsform auch nicht an tatsächlichenSystemverän<strong>der</strong>ungen orientiert (sie bewirkt diese bestenfalls ungewollt), und die +Kosten*des politischen +E<strong>in</strong>satzes* dürfen den persönlichen Nutzen nicht überschreiten.Dies läßt sich abschließend an e<strong>in</strong>igen Beispielen kurz verdeutlichen: Während die +traditionellen*Ostermärsche, die <strong>in</strong> den friedensbewegten Zeiten des Kalten Kriegs noch Millionenmobilisierten, <strong>in</strong>zwischen mangels +Masse* fast zu e<strong>in</strong>er wirklich <strong>in</strong>dividuellen Form <strong>der</strong> Protestartikulationgeworden s<strong>in</strong>d (obwohl we<strong>der</strong> die Zahl <strong>der</strong> Kriege noch ihre Heftigkeit abgenommenhat), erfreuen sich von den Zwängen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> losgelöste +Massendemonstrationen* größterBeliebtheit. Die aktuelle Devise <strong>der</strong> Mobilisierung lautet: pragmatisch und lustvoll. Man willsich, salopp formuliert, die Be<strong>in</strong>e nicht für nichts und wie<strong>der</strong> nichts <strong>in</strong> den Bauch stehen– dann schon lieber auf <strong>der</strong> +Love Parade* für +Friede, Freude, Eierkuchen* raven. Auch hiererlebt man Masse, aber es ist e<strong>in</strong>e +<strong>in</strong>dividualisierte* Masse <strong>der</strong> Selbstdarsteller.Der Trend zur Individualisierung und zur diffusen Entpolitisierung läßt sich ebenso am Wandeldes studentischen Protests zeigen. Standen bei den +68ern* noch politische Ziele im Vor<strong>der</strong>grund(o<strong>der</strong> spielten zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e bedeutende Rolle) und wurde <strong>in</strong> groß angelegten Demonstrationen


374 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdie Konfrontation mit <strong>der</strong> Staatsmacht gesucht, so hatten die jüngsten Studentenproteste vomHerbst 1997 den Charakter e<strong>in</strong>es +kreativen Ausstands* – <strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs durchaus im E<strong>in</strong>klangmit den herrschenden Interessen stand. Und so fand man (rhetorische) Unterstützung fürdie erhobene For<strong>der</strong>ung nach besseren Studienbed<strong>in</strong>gungen auch von <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> offiziellen<strong>Politik</strong> und <strong>der</strong> Professorenschaft, während man so orig<strong>in</strong>elle wie harmlose Protestaktionenwie etwa Bücherläufe o<strong>der</strong> U-Bahnsem<strong>in</strong>are organisierte.Trotz <strong>der</strong> breiten Sympathie, die den Studenten +entgegenschlug*, waren ihre Anliegen natürlichzu speziell, um von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und <strong>der</strong> Bevölkerung konkrete Unterstützung zu erfahren.Wo dagegen die +Volksmassen* aufgrund des +allgeme<strong>in</strong>en Interesses* tatsächlich noch mobilisiertwerden können, beschränkt sich <strong>der</strong> +Wi<strong>der</strong>stand* meist auf re<strong>in</strong> symbolische Akte mit hohememotionalem +Mehrwert* (wie die Lichterketten gegen Auslän<strong>der</strong>fe<strong>in</strong>dlichkeit) o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e moralisch+aufgeladene*, aber kaum e<strong>in</strong>schneidende Selbstbegrenzung des Konsums. Als Beispiel fürdiese +Konsumentenpolitik* können die von +Greenpeace* <strong>in</strong>itiierten Boykott-Aktionen gegenden Öl-Multi +Shell* dienen, welcher 1995 die ausgediente Fö<strong>der</strong>plattform +Brent Spar* imAtlantik versenken wollte, anstatt sie, wie von Greenpeace favorisiert, an Land zu entsorgen.Das Ausweichen <strong>der</strong> Verbraucher auf die Konkurrenz bewirkte e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>lenken des Shell-Konzerns,88was Ulrich Beck als Beleg für e<strong>in</strong>e subpolitische Konsumentenmacht selbst auf transnatio-naler/globaler Ebene gilt (vgl. Was ist Globalisierung; S. 121ff.). Me<strong>in</strong>es Erachtens zeigt sichhier jedoch nur, wie beschränkt Subpolitik zumeist ist. Denn zu weitergehenden Schritten,die das so umweltbelastende und risikoreiche System <strong>der</strong> Petro<strong>in</strong>dustrie <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> Fragegestellt hätten, waren die von Greenpeace und den Medien mobilisierten, jedoch zugleichauf ihre Mobilität bedachten Verbraucher offensichtlich nicht bereit. Man entledigte sich mitdem +Boykott* nur auf bequeme Art des eigenen schlechten (Autofahrer-)Gewissens.Man kann jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> kritischen Betrachtung <strong>der</strong> Subpolitik noch weiter gehen: E<strong>in</strong>e (selbst)-beschränkte Subpolitik baut am Haus, das sie eigentlich e<strong>in</strong>reißen will. Denn ihre H<strong>in</strong>terfragungendes Systems s<strong>in</strong>d tatsächlich e<strong>in</strong> wichtiger reflexiver +Input* für dieses. Es wird so nämlichvon außen angeregt (bzw. gezwungen), auf problematische Entwicklungen zu reagieren, diealle<strong>in</strong>e aus <strong>der</strong> Innenperspektive eventuell nicht o<strong>der</strong> nicht rechtzeitig wahrgenommen wordenwären. Auf diese Weise stärken (begrenzte) subpolitische Reflexionen die Adaptionsfähigkeitdes Systems. Ihre Impulse wirken, auch wenn sie zunächst als Herausfor<strong>der</strong>ungen betrachtetwerden, letztendlich stabilisierend, und stellen e<strong>in</strong> aus dem Lot geratenes Gleichgewicht wie<strong>der</strong>


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 375her. Es handelt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen sogar um e<strong>in</strong>e bewußte Ausbeutung <strong>der</strong> subpolitischenPeripherie durch das politische Zentrum.Auf die durchaus +positive*, <strong>in</strong>novative Rolle des M<strong>in</strong>oritätenprotestes hat schon Serge Moscoviciverwiesen (vgl. Sozialer Wandel durch M<strong>in</strong>oritäten und siehe auch Anmerkung 280, Kap.2). Dabei kann es sogar geschehen, daß die oppositionellen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten zu e<strong>in</strong>em neuenEstablishment werden.89Diese Gefahr <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>nahmung und Transformation <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitenund ihrer Kämpfe ist ke<strong>in</strong> neuartiges Phänomen, son<strong>der</strong>n war <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte immer wie<strong>der</strong>zu beobachten. Zwar wollen die oppositionellen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten meist +M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten bleibenund als solche anerkannt werden […] Aber nichts ist schwieriger: man macht neue Mächteaus ihnen […] Mit e<strong>in</strong>em Schlag beraubt man sie so ihrer spezifischen Macht [...]* (Lyotard:Das Patchwork <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten; S. 8)5.3 DIE ABLENKUNG DER REFLEXIVEN HERAUSFORDERUNG DURCH DEFLEXIVE MECHA-NISMEN: ZUM ZUSAMMENHANG VON IDEOLOGIE UND PRAXOLOGIELyotard weist im obigen Zitat auf e<strong>in</strong>en wichtigen Sachverhalt h<strong>in</strong>: Allzu leicht gerät Subpolitik<strong>in</strong> den Sog <strong>der</strong> Institutionalisierung, und es ist gerade ihr +Erfolg*, <strong>der</strong> ihre metapolitischeSubversion wie ihre s<strong>in</strong>guläre, +differentielle* Gegenmacht gefährdet. Die Anerkennung undDurchsetzung von subpolitischen Zielen <strong>in</strong>tegriert Subpolitik <strong>in</strong> das System, wehrt die reflexiveHerausfor<strong>der</strong>ung durch e<strong>in</strong>e deflexive Umfassung absorptiv ab. Subpolitik steht damit nichtmehr +außerhalb* und kann nicht mehr aus +kritischer Distanz* (gegen)wirken.Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Realität* häufig zu beobachtende Integration <strong>der</strong> reflexiven Impulse <strong>der</strong> Subpolitikund ihre damit erfolgende Transformation und +Pazifierung* beruht allerd<strong>in</strong>gs nicht alle<strong>in</strong>eauf ihrer im vorangegangenen Abschnitt herausgestellten Selbstbeschränkung. Reflexive Impulsewerden auch +von außen* abgelenkt, um die Sprengung des durch +Reflexionen* herausgefor<strong>der</strong>tenSystems zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Dazu bedient man sich verschiedener deflexiver Mechanismen:Ideologien setzen beim (<strong>in</strong>dividuellen wie kollektiven) Bewußtse<strong>in</strong> an (Abschnitt 5.3.1),und Praxologien kanalisieren das Handeln (Abschnitt 5.3.2).Die Begriffe <strong>der</strong> +Deflexion* und <strong>der</strong> +Praxologie* wurden bereits im zweiten Kapitel e<strong>in</strong>geführt(siehe Abschnitt 2.2 und 2.3). Es erfolgte dort aber ke<strong>in</strong>e genaue Def<strong>in</strong>ition und auch ke<strong>in</strong>eE<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en umfassen<strong>der</strong>en Theorierahmen. Das <strong>in</strong> ihrem Gebrauch immer weiter


376 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEverdichtete semantische Bild soll deshalb nunmehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e klare def<strong>in</strong>itorische Form gegossenund +metatheoretisch fundiert* werden. Dazu muß allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> relativ enge Fokus auf dasFeld von <strong>Politik</strong> und Subpolitik zunächst wie<strong>der</strong> erweitert werden. Erst <strong>in</strong> Abschnitt 5.4 werdeich näher auf die spezifische Problematik <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne* zurückkommenund versuchen zu zeigen, wie <strong>der</strong> dialektische Zusammenhang von Reflexion und Deflexionsich potentiell <strong>in</strong> (gleichermaßen dialektischen) Entpolitisierungsprozessen äußert. Um nämlichdiese entpolitisierende Dialektik herausarbeiten zu können, ist zuvor die Klärung und theoretischeE<strong>in</strong>ordnung des me<strong>in</strong>es Erachtens für e<strong>in</strong>e kritisch-dialektische Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierungzentralen Deflexionsbegriffs unabd<strong>in</strong>gbar. Was also bedeutet Deflexion, und <strong>in</strong> welchemVerhältnis steht sie zu Reflexivität und Reflexion?Reflexivität bezeichnet im Kontext <strong>der</strong> Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung Beckscher Prägung(siehe oben) die Selbstwi<strong>der</strong>sprüchlichkeit und Selbstaufhebungstendenz des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses:Die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne produziert <strong>in</strong> ihrer Dynamik un<strong>in</strong>tendierte Nebenfolgen,die sich gegen ihre +ursprünglichen* Triebkräfte und Pr<strong>in</strong>zipien richten, wobei Beck allerd<strong>in</strong>gsbetont, daß die Reflexivität <strong>der</strong> Nebenfolgen immer auch e<strong>in</strong>e Wissens- bzw. Nicht-Wissens-Seitehat (vgl. Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen?; S. 289f.). Doch: Das (kognitive) Bewußtse<strong>in</strong> für die Problematik<strong>der</strong> Nebenfolgen beruht – <strong>in</strong>sofern es sich um +reale* (d.h. diskursunabhängige) undnicht re<strong>in</strong> sozial konstruierte Probleme handelt – auf <strong>der</strong> +Objektivität* <strong>der</strong> Reflexivität. Nurwenn die Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung auch +erfahrbar* s<strong>in</strong>d, können sie nämlich nachhaltigkritische Reflexionen hervorkehren und Wi<strong>der</strong>stände auslösen.90Denn Reflexion bedeutetdie tatsächliche Spiegelung von Reflexivität: In <strong>der</strong> Reflexion <strong>der</strong> Reflexivität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>newird die Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses – aus dem mo<strong>der</strong>nen Bewußtse<strong>in</strong>heraus – thematisiert und <strong>in</strong> praktische Wandlungsimpulse umgesetzt.Dies stellt jedoch offensichtlich e<strong>in</strong>en eher +unkonventionellen* Gebrauch des Reflexionsbegriffsdar, <strong>der</strong> näher erläuterungsbedürftig ist: Reflexion bedeutet im hier <strong>in</strong>tendierten kritisch-normativenS<strong>in</strong>n nicht den bloßen Prozeß <strong>der</strong> rationalen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Problemenbzw. die kognitive Verarbeitung von Informationen, son<strong>der</strong>n me<strong>in</strong>t vielmehr e<strong>in</strong>e bestimmteE<strong>in</strong>stellung gegenüber Reflexivität. E<strong>in</strong>e reflexive Haltung bestünde deshalb <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wahrnehmungund Wi<strong>der</strong>spiegelung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Se<strong>in</strong>s, die auf e<strong>in</strong>e Synthese <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprücheverzichtet, sich auf diese e<strong>in</strong>läßt und zugleich praktisch, das heißt: auf die Entfaltung se<strong>in</strong>erPotentiale h<strong>in</strong>wirkend, <strong>in</strong> das Se<strong>in</strong> +<strong>in</strong>volviert* ist. Sie bestünde also nicht nur Zulassen von


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 377Ambivalenzen und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Toleranz für Differenz, son<strong>der</strong>n darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktiven Schaffungvon Voraussetzungen für e<strong>in</strong>e auf Vielfalt und Vielheit gegründete (soziale) Existenz (vgl. auchBauman: Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz; S. 285ff.). 91Dieses reflexive +Engagement*, die praktische Spiegelung von emotional-kognitiven Reflexionsakten,92zu Empathiedie das eigene Se<strong>in</strong> h<strong>in</strong> zum +an<strong>der</strong>en* öffnet, beruht zum e<strong>in</strong>en auf <strong>der</strong> Fähigkeit93bzw. e<strong>in</strong>er ästhetisch-hermeneutischen Reflexivität auf <strong>der</strong> Basis des mimetischenImpulses (vgl. auch Adorno: Ästhetische Theorie; S. 68ff. u. 86ff. sowie Lash: ÄsthetischeDimension Reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung). Zum an<strong>der</strong>en beruht sie auf <strong>der</strong> Aufrichtigkeit e<strong>in</strong>es+authentischen* Selbst, das – <strong>in</strong>dem es se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Ambivalenz spiegelt – zu e<strong>in</strong>em reflexiven,d.h. ambivalenzbewußten Außenbezug gelangt (siehe auch Schlußexkurs).94Nur auf dieser+<strong>in</strong>dividuellen*, nicht-identischen Basis können soziale Wandlungsprozesse e<strong>in</strong>geleitet werdenund erfolgt – möglicherweise – e<strong>in</strong>e mimetisch-e<strong>in</strong>fühlende, doch zugleich grundlegend aufDifferenz beruhende Solidarisierung und Mobilisierung.Derartige reflexive Impulse lösen allerd<strong>in</strong>gs immer – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dialektischen Denkmodell– auch deflexive Gegenimpulse aus. Die Unsicherheit, die mit <strong>der</strong> reflexiven +Öffnung*<strong>der</strong> Weggrenzen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne entsteht, wirkt bedrohlich und wird abzuwehren versucht.Zudem stehen dem reflexiven Wandel die Interessen <strong>der</strong> verme<strong>in</strong>tlichen o<strong>der</strong> tatsächlichenNutznießer des status quo gegenüber (so versucht etwa die staatliche <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> subpolitischenHerausfor<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesse mit allen Mitteln auszuweichen,weil letztere ihre <strong>in</strong>stitutionelle Grundlage <strong>in</strong> Frage stellt). Deflexion erfolgt aber zugleichniemals losgelöst von Reflexion, sie setzt vielmehr gerade (dialektisch) auf ihr auf, hat siezur Voraussetzung.95E<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition des Begriffs <strong>der</strong> Deflexion muß deshalb mit Bezug aufden Reflexionsbegriff erfolgen: Bedeutet Reflexion, wie dargelegt, gemäß e<strong>in</strong>em kritischnormativenVerständnis die gedankliche und praktische Spiegelung von Reflexivität, die Entfaltungund +Stellung* <strong>der</strong> Ambivalenz und Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit des Se<strong>in</strong>s auf <strong>der</strong> Grundlage desBemühens um e<strong>in</strong>e nicht-identische +Aufrichtigkeit*, so me<strong>in</strong>t Deflexion als dialektischerGegenbegriff hierzu die Verspiegelung des Wi<strong>der</strong>sprüchlichen, die Abwehr und Verdrängung(<strong>in</strong>nerer wie äußerer) reflexiver Impulse und Ambivalenzen.Löst man diesen hier zunächst re<strong>in</strong> +subjektiven* gefaßten Deflexionsbegriff von <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellenEbene und bezieht ihn – hermeneutisch-<strong>in</strong>terpretativ – analog auf den sozialen Prozeß <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>nisierung, so ersche<strong>in</strong>t Deflexion als das abwehrende Bemühen, reflexive +Abweichungen*


378 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEReflexionDeflexionAbbildung 10: Die Deflexion reflexiver Ablenkungenim Zuge <strong>der</strong> Radikalisierung des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses wie<strong>der</strong> auf die Bahn <strong>der</strong> Fortschrittsl<strong>in</strong>earitätzu br<strong>in</strong>gen (siehe auch Abb. 6).96In ihrem Beharren auf e<strong>in</strong>em Fortschreitenauf dem e<strong>in</strong>geschlagenen Weg ähnelt deflexive Mo<strong>der</strong>nisierung als adaptive Reaktion aufdie verunsichernden Prozesse reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung darum äußerlich <strong>der</strong> +e<strong>in</strong>fachen*Mo<strong>der</strong>nisierung, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat wurde die Angst-getriebene +ursprüngliche* Bewegung <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>ne im Vorangegangenen von mir sowohl als regressiv wie als deflexiv charakterisiert(siehe Abschnitt 5.2.1). An<strong>der</strong>erseits: Wo es sich – was aber eher selten <strong>der</strong> Fall se<strong>in</strong> dürfte– um e<strong>in</strong>en aktiven und bewußten Prozeß <strong>der</strong> Deflexion handelt (siehe zur näheren Unterscheidungzwischen aktiver und passiver Deflexion unten), besteht e<strong>in</strong>e deutliche Differenzzur Bewußtse<strong>in</strong>slage im Kontext e<strong>in</strong>facher, +ungebrochener* Mo<strong>der</strong>nisierung. Ungebrochendurch Reflexionen ist <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß nämlich nur so lange, wie an die Richtigkeit<strong>der</strong> anvisierten Ziele und <strong>der</strong> zu ihnen führenden Wege une<strong>in</strong>geschränkt geglaubt wird. Dagegensetzen Prozesse deflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, die ebenfalls auf e<strong>in</strong>en +l<strong>in</strong>earisierten*, gegenreflexive Prozesse (<strong>in</strong>stitutionell) immunisierten +Fortschritt* h<strong>in</strong>auslaufen, das Bewußtse<strong>in</strong>für die Problematik des Fortschrittsideals e<strong>in</strong>facher Mo<strong>der</strong>nisierung voraus.In <strong>der</strong> Ablenkung und Verdrängung <strong>der</strong> sie treibenden Wi<strong>der</strong>sprüche und Ambivalenzenkommt also zwar e<strong>in</strong> deflexives Moment <strong>in</strong> <strong>der</strong> +ursprünglichen* Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nezum Tragen, das <strong>in</strong> ihrem Fortgang, ihrer Steigerung und Radikalisierung, wie<strong>der</strong>um Reflexionenhervorkehrt. Doch erst wenn auf diese Reflexionen im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er aktiven und gezielten Gegensteuerungreagiert wird, kann me<strong>in</strong>es Erachtens von deflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung im engen S<strong>in</strong>ngesprochen werden. Die damit vorgeschlagene Unterscheidung zwischen e<strong>in</strong>facher, reflexiverund deflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung ist jedoch selbstverständlich nur e<strong>in</strong>e +idealtypische*. In <strong>der</strong>+Realität* s<strong>in</strong>d immer beide Momente vorhanden, mischen sich reflexive und (aktive wie passive)deflexive Elemente, so daß <strong>in</strong> bezug auf die empirische +Wirklichkeit* s<strong>in</strong>nvollerweise nur


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 379Reflexionreflexive Mo<strong>der</strong>nisierunge<strong>in</strong>fache Mo<strong>der</strong>nisieung(passive, unbewußteDeflexion)NebenfolgenReflexivitätreflexiv-deflexiveMo<strong>der</strong>nisierung(aktive) Deflexiondeflexive Mo<strong>der</strong>nisierungAbbildung 11: Das dialektische Modell <strong>der</strong> reflexiv-deflexiven Mo<strong>der</strong>nisierungvon e<strong>in</strong>em Prozeß reflexiv-deflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung gesprochen werden kann, welcher aufdem durch die Reflexivität <strong>der</strong> Nebenfolgen erzeugten dialektischen Wechselspiel von Reflexionund Deflexion beruht (siehe Abb. 7 sowie Abschnitt 5.4).97Dieses Wechselspiel ist allerd<strong>in</strong>gske<strong>in</strong>eswegs unproblematisch. Die (Teil-)Systeme <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft, als +Verd<strong>in</strong>glichungen*<strong>der</strong> auf Trennungen beruhenden +zwanghaften* Macht <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne,besitzen zwar e<strong>in</strong>erseits wirksame Deflexionsressourcen zur Abwehr ihrer reflexiven H<strong>in</strong>terfragungen(wie <strong>in</strong> Kapitel 2 aufgezeigt wurde). Doch durch die Deflexionsbemühungen, dieversuchte Überdeckung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche, steigert sich tatsächlich zumeist die Reflexivität,was wie<strong>der</strong>um Reflexionen hervorkehrt, welche auch die Mechanismen <strong>der</strong> Deflexion selbsterfassen können (wie die Analyse <strong>in</strong> Kapitel 3 ergab).Die Reflexion <strong>der</strong> Deflexion wird jedoch dadurch beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t, daß Deflexion, wie angedeutet,zumeist verdeckt, unbewußt und passiv abläuft. Ich möchte deshalb im folgenden aktive(bewußte) Deflexion klar von passiver (unbewußter) Deflexion abgrenzen und hierzu beiGedanken von Giddens ansetzen. Dieser unterscheidet im Kontext se<strong>in</strong>er +Strukturierungstheorie*auf <strong>der</strong> Ebene des handelnden Individuums zwischen diskursivem und praktischem Bewußtse<strong>in</strong>.Das diskursive Bewußtse<strong>in</strong> ist reflexiv, se<strong>in</strong>e Inhalte s<strong>in</strong>d explizit und verbalisierbar. Dagegens<strong>in</strong>d die Inhalte des praktischen Bewußtse<strong>in</strong>s nicht (ohne weiteres) +sagbar* und <strong>in</strong> Rout<strong>in</strong>enverankert, <strong>der</strong>en Grundlagen nur <strong>in</strong> Ausnahmesituationen reflektiert werden (vgl. Die Konstitution<strong>der</strong> Gesellschaft; S. 55ff. sowie 91ff.). Dieses +reflexive Defizit* des Handelns im praktischenBewußtse<strong>in</strong> be<strong>in</strong>haltet me<strong>in</strong>es Erachtens e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutig deflexives Moment.Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> reflexiven +Beschränkung* des praktischen Bewußtse<strong>in</strong> be<strong>in</strong>haltete Deflexion erfolgtallerd<strong>in</strong>gs eben nicht aktiv und bewußt, son<strong>der</strong>n +automatisiert*, durch die Macht <strong>der</strong> Ge-


380 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEwohnheit – sie bleibt vorbewußt und ist <strong>in</strong> die alltäglichen Rout<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>geschrieben, die damitals Reflexionen absorbierende Handlungsmuster praxologischen Charakter haben (siehe auchunten). Obwohl die Analogie zwischen dem Konzept des praktischen Bewußtse<strong>in</strong>s und dempsychoanalytischen Modell des Un- bzw. Vorbewußten offensichtlich ist, setzt Giddens sichjedoch explizit von Freud ab. Das liegt zum e<strong>in</strong>en daran, daß die psychoanalytische Begrifflichkeitbei ihrer Übertragung <strong>in</strong>s Englische an Aussagekraft und Konsistenz e<strong>in</strong>gebüßt hatund somit zu Mißverständnissen e<strong>in</strong>lädt – was Giddens vermeiden will.98Zum an<strong>der</strong>en hoffter, mit se<strong>in</strong>er eher +wertneutralen* begrifflichen Unterscheidung zwischen diskursivem undpraktischem Bewußtse<strong>in</strong> zwei Arten des Reduktionismus zu entgehen, die im klassischenpsychoanalytischen Modell se<strong>in</strong>er Auffassung nach angelegt s<strong>in</strong>d:+Die e<strong>in</strong>e ist e<strong>in</strong>e reduktionistische Konzeption <strong>der</strong> Institutionen, die beim Versuch, die Fundierung <strong>der</strong>Institutionen im Unbewußten nachzuweisen, <strong>der</strong> Bewegung autonomer gesellschaftlicher Kräfte nichtgenügend Spielraum gibt. Die zweite ist e<strong>in</strong>e reduktionistische Theorie des Bewußtse<strong>in</strong>s, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Absichtzu zeigen, wie sehr das gesellschaftliche Leben durch dunkle Ströme außerhalb des menschlichen Bewußtse<strong>in</strong>sbeherrscht wird, die Kontrolle nicht angemessen erfassen kann, die Handelnde charakteristischerweisereflexiv über ihr Verhalten aufrechterhalten können.* (Ebd.; S. 55)Giddens verschenkt im Bemühen, diesen beiden Reduktionismen zu entgehen, jedoch me<strong>in</strong>esErachtens die Möglichkeit e<strong>in</strong>es kritischen Blicks auf rout<strong>in</strong>isierte Alltagshandlungen und ihreFunktionalität für die Aufrechterhaltung sozialer Machtstrukturen.99Indem die latenten Motivedes Handelns dem praktischen Bewußtse<strong>in</strong> verborgen bleiben, entziehen sich diese <strong>der</strong> Reflexion.Das verr<strong>in</strong>gert zwar den Reflexionsaufwand, bewirkt Vertrauen und schützt vor e<strong>in</strong>er Überreflektiertheit,die eventuell sozial sprengend und <strong>in</strong>dividuell belastend wäre. Allerd<strong>in</strong>gs mußdiese +Entlastung* mit e<strong>in</strong>em hohem Preis bezahlt werden. Denn durch die +tätige* Ausblendungvon H<strong>in</strong>terfragungen wird e<strong>in</strong> System <strong>der</strong> Verdrängung etabliert und verfestigt.In <strong>der</strong> rout<strong>in</strong>isierten Aktivität, dem fraglosen Handeln,100erfolgt somit e<strong>in</strong>e zwar passive, aberüberaus wirksame Deflexion von Reflexivität und ihrer Reflexionen: Verunsichernde, ambivalenteEmotionen und Gedanken werden, <strong>in</strong>dem sie gar nicht erst voll <strong>in</strong>s Bewußtse<strong>in</strong> gelangen,abgewehrt, verdrängt und abgelenkt, anstatt sich mit ihnen aktiv ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen – genauso,wie <strong>der</strong> Neurotiker im psychoanalytischen Modell Freuds durch se<strong>in</strong>e Zwangshandlungen<strong>der</strong> psychisch belastenden Verarbeitung se<strong>in</strong>er Traumata aus dem Weg geht (vgl. Vorlesungenzur E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Psychoanalyse; <strong>in</strong>sb. S. 232ff.). Dies soll ke<strong>in</strong>eswegs besagen, daß jede


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 381Tabelle 12: Formen <strong>der</strong> Deflexionaktive Deflexionreaktiv-situative Deflexionpassive Deflexionstrukturelle/<strong>in</strong>stitutionalisierte DeflexionForm <strong>der</strong> Deflexion zw<strong>in</strong>gend +pathologischen* Charakter hätte. Deflexion ist im Gegenteile<strong>in</strong>e unvermeidliche Reaktion auf reflexive Herausfor<strong>der</strong>ungen und ist unter Umständen durchausnotwendig und s<strong>in</strong>nvoll, <strong>in</strong>dem sie z.B. e<strong>in</strong>e kurzfristige Entlastung von Reflexionsaufwandbewirkt, wenn dieser aus Mangel an kognitiven o<strong>der</strong> Zeitressourcen aktuell nicht aufgebrachtwerden kann (weshalb Giddens u.a. von <strong>der</strong> +Dualität von Struktur* spricht).101Wenn jedochdurch die (passive) Praxis <strong>der</strong> praxologischen Deflexion die (strukturellen) Wi<strong>der</strong>sprüche immerweiter zunehmen, so steigt auch <strong>der</strong> Aufwand für die (kognitiv-ideologische) Deflexion dieserWi<strong>der</strong>sprüche immer weiter an. Irgendwann ist schließlich e<strong>in</strong> Punkt erreicht, wo die +Kosten*<strong>der</strong> Deflexion ihren +Nutzen* übersteigen.Die somit <strong>in</strong> vielen Fällen überaus kostenreiche (praxologische) Deflexion beruht wesentlichauf ver<strong>in</strong>nerlichten sozialen Handlungsmustern (Habitus, Rolle etc.) und <strong>in</strong>stitutionell verfestigtenRout<strong>in</strong>en, die die Brücke zwischen <strong>in</strong>dividuellen und sozialen Deflexionsmechanismen darstellen(siehe auch Abschnitt 5.3.2). Genauso wie im Fall von Konventionen o<strong>der</strong> Ideologien (sieheAbschnitt 5.3.1) kann man hier deshalb <strong>in</strong> Parallele zu Giddens’ Begriff <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellenbzw. <strong>in</strong>stitutionalisierten Reflexivität durch die mo<strong>der</strong>nen Expertensysteme (vgl. z.B. Mo<strong>der</strong>nityand Self-Identity; S. 149ff.) von e<strong>in</strong>er strukturellen bzw. <strong>in</strong>stitutionalisierten Deflexion sprechen.Mit dem +Sedimentationsprozeß* <strong>der</strong> Institutionalisierung (vgl. hierzu auch Berger/Luckmann:Die gesellschaftliche Konstruktion <strong>der</strong> Wirklichkeit; S. 72ff.) verschleiert sich die deflexiveGegenbewegung und gew<strong>in</strong>nt gleichzeitig an +Masse*. Aufgrund des durch die +soziale Anreicherung*(und Ver<strong>in</strong>nerlichung) gewonnenen +Momentums* wirkt sie aus e<strong>in</strong>er eigenen Dynamikheraus. Allerd<strong>in</strong>gs ist <strong>in</strong>stitutionalisierte Deflexion aufgrund ihrer massehaften Trägheit wenig+steuerbar* und wirkt latent.E<strong>in</strong>e ebenfalls zu beobachtende, eher aktive und bewußte Deflexion durch die Akteure desreflexiv herausgefor<strong>der</strong>ten +Systems* setzt deshalb zwar auf den <strong>in</strong>stitutionellen Grundlagenauf, paßt sich aber situativ an, weshalb ich <strong>in</strong> diesem Fall von reaktiv-situativer Deflexionsprechen möchte (siehe zur Übersicht Tab. 12). Diese Form ist aktuell sogar verstärkt zu


382 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEbeobachten, da das erreichte Ausmaß <strong>der</strong> Reflexivität, die zunehmende Stärke <strong>der</strong> Nebenfolgen<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung, e<strong>in</strong> erhebliches Potential an systemkritischen Reflexionen impliziert, dieimmer häufiger nur aktiv begrenzt werden können. Aktive, reaktiv-situative Deflexion beruhtauf den selben Instrumenten wie die passive Deflexion, fußt also auf Ideologien und Praxologien(siehe unten), nur daß sie diese bewußt e<strong>in</strong>setzt. Sie ist allerd<strong>in</strong>gs – stärker als passive Deflexion– ambivalent. Jede aktive Deflexionsbemühung birgt nämlich die Gefahr, daß die Deflexionsversuchereflektiert und somit <strong>in</strong> ihr Gegenteil verkehrt werden: Statt die reflexiven Impulsezu schwächen, verstärken sie diese.Dieser hier verwendete Deflexionsbegriff be<strong>in</strong>haltet, wie auch <strong>der</strong> Reflexionsbegriff, e<strong>in</strong>eklare normative Komponente: Deflexion bedeutet, um es nochmals zu betonen, nicht nurdie Überdeckung von Reflexivität und die Ablenkung von Reflexionen. Die Rede von <strong>der</strong>Deflexion impliziert über diese eher deskriptive Ebene h<strong>in</strong>ausgehend, die Auffassung, daßim Bemühen um +Ablenkung* von reflexiven Herausfor<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong> Moment <strong>der</strong> Unaufrichtigkeit,des +mauvaise foi* (Sartre) zum Tragen kommt. Die <strong>in</strong>nere und äußere Ambivalenz desSe<strong>in</strong>s wird nicht zugelassen und gespiegelt, son<strong>der</strong>n mittels Ideologien und Praxologien verspiegelt.Der Deflexionsbegriff und <strong>der</strong> kritisch erweiterte Reflexionsbegriff s<strong>in</strong>d dabei die notwendige(und auf <strong>der</strong> begrifflichen Ebene bisher fehlende) Klammern zwischen <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebeneund <strong>der</strong> von ihr me<strong>in</strong>es Erachtens nicht zu trennenden Handlungsebene. Denn obwohl z.B.im marxistischen Diskurs die zentrale Rolle <strong>der</strong> Praxis herausgestellt wird, konzentrierte sichdie marxistische Kritik (wie auch ihre Weiterführungen) – neben ihrem H<strong>in</strong>weis auf die faktischenDefizite <strong>der</strong> sozialen Realität – zumeist auf die ideologische Ebene und besitzt ke<strong>in</strong>en adäquatenkritischen Parallelbegriff zum Ideologiebegriff auf <strong>der</strong> Handlungsebene.E<strong>in</strong>en solchen kritischen Parallelbegriff zum Ideologiebegriff auf <strong>der</strong> Handlungsebene stellt<strong>der</strong> Praxologiebegriff dar (auf den im Vorangegangenen ja bereits ausgiebig rekurriert wurde):Kann man unter Ideologie, <strong>in</strong> Anlehnung an den marxistischen Diskurs, e<strong>in</strong> (notwendig) +falsches*Bewußtse<strong>in</strong> verstehen (siehe auch unten), so bedeutet Praxologie analog e<strong>in</strong> notwendig +falsches*Se<strong>in</strong>, das sich <strong>der</strong> erlebten Wirklichkeit nicht öffnet, son<strong>der</strong>n sich vor ihr handelnd verschließt.Beide, Ideologie und Praxologie, stellen dabei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en untrennbaren – dialektischen – Zusammenhangdar: Ideologien setzen auf Praxologien auf, und Praxologien beruhen ihrerseits aufIdeologien. Verbunden ergibt sich e<strong>in</strong> deflexiver Komplex von Handeln und Bewußtse<strong>in</strong>,<strong>der</strong> reflexives Bewußtse<strong>in</strong> absperrt, um reflexive Praktiken zu unterb<strong>in</strong>den und zu unterm<strong>in</strong>ieren.


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 383Tabelle 13: Ebenen von Reflexion und DeflexionDialektik Reflexion: Deflexion:Bewußtse<strong>in</strong>sebene: Theorie IdeologieHandlungsebene: Praxis PraxologieDer Deflexion steht – ebenfalls dialektisch – e<strong>in</strong> reflexiver Komplex gegenüber, <strong>der</strong> aus Theorie(als <strong>der</strong> reflexiven gedanklichen Spiegelung des Se<strong>in</strong>s) und Praxis (als +handeln<strong>der</strong> Reflexion*)gebildet wird. Während also auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Reflexion Theorie und Praxis zusammenwirken,f<strong>in</strong>den sich auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Deflexion Ideologie und Praxologie als ihre deflektorischen Entsprechungen(siehe Tab. 13). 102Diese Deflexionsseite des (doppelt) dialektischen Feldes – das (politikbezogen) <strong>in</strong> Abschnitt5.4 noch e<strong>in</strong>mal näher <strong>in</strong>s Blickfeld gerückt werden wird – soll im folgenden sowohl auf<strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene wie auch auf <strong>der</strong> Handlungsebene untersucht werden, um darzustellenund theoretisch zu begründen, weshalb reflexive Prozesse <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen +Realität* häufigbegrenzt bleiben. Die Differenzierung zwischen <strong>der</strong> Reflexions- und <strong>der</strong> Deflexionsseite geschiehtdabei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kritisch-hermeneutischen Analysebestreben, das sich <strong>der</strong> +Subjektivität* se<strong>in</strong>erZuordnungen bewußt ist (siehe auch nochmals S. 323), und dabei auf die +Reaktivität*, dievon Giddens herausgestellte +doppelte Hermeneutik <strong>der</strong> Sozialwissenschaften* baut (sieheS. 317). In diesem allgeme<strong>in</strong>en Rahmen wird me<strong>in</strong>e Argumentation auf <strong>der</strong> Annahme beruhen,daß <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e aktive Deflexion primär vom +System* ausgeht, da <strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten,strukturierten Handlungszusammenhängen, als die ich Systeme begreife (siehe auch Anmerkung5, Kap. 2), eher als <strong>in</strong> weniger stark +<strong>in</strong>stitutionalisierten* Kontexten e<strong>in</strong> Interesse am Strukturerhalt(und damit an Deflexion) besteht – weil die bestehenden Strukturen eng mit <strong>in</strong>dividuellenInteressen <strong>der</strong> Systemakteure verknüpft s<strong>in</strong>d. Allerd<strong>in</strong>gs können Reflexionen, die die eigenenGrundlagen h<strong>in</strong>terfragen, <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen durchaus von <strong>der</strong> Systemseite ausgelöst und <strong>in</strong>itiiertwerden. Schließlich s<strong>in</strong>d die kognitiven Ressourcen zur Identifizierung von Problemlagendurch Spezialisierung und Vernetzung <strong>in</strong> Systemzusammenhängen größer als +außerhalb*.Die ästhetisch-hermeneutischen, auf <strong>der</strong> Fähigkeit zu +e<strong>in</strong>fühlen<strong>der</strong>* Interpretation beruhendenReflexionsressourcen – als notwendige Basis für praktische Reflexionen – s<strong>in</strong>d jedoch im strukturiertenKontext des Systems aufgrund des hohen Abstraktionsgrades und <strong>der</strong> funktionalistischen


384 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE+Zweckfixierung* ger<strong>in</strong>g. Im Bereich <strong>der</strong> Lebenswelt s<strong>in</strong>d sie me<strong>in</strong>es Erachtens wie<strong>der</strong>umausgeprägter. Hier fehlen allerd<strong>in</strong>gs oft die notwendigen kognitiven Ressourcen bzw. e<strong>in</strong> +vernetztes*Wissen. Und auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lebenswelt wirken +Trägheitsmomente*. Vor allem ist dieReflexionsfähigkeit durch +Kolonisierungen* (Habermas) stark e<strong>in</strong>geschränkt. Deflexive Momentes<strong>in</strong>d, und hier<strong>in</strong> wird im folgenden me<strong>in</strong> Hauptaugenmerk liegen, ideologisch und praxologisch<strong>in</strong> die lebensweltlichen Zusammenhänge e<strong>in</strong>geschrieben: Die funktionalistische Ideologievon <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Subsysteme bewirkt e<strong>in</strong>e +Spaltung* des (politischen) Bewußtse<strong>in</strong>s (Abschnitt5.3.1). Deflektorische Übersetzungsmechanismen sowie praxologische Rituale absorbierenReflexionen auf <strong>der</strong> Handlungsebene (Abschnitt 5.3.2).5.3.1 DIE SPALTUNG DES (POLITISCHEN) BEWUßTSEINS DURCH DIE FUNKTIONALISTISCHE IDEOLOGIEIdeologien lenken Reflexionen auf <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene ab. Die funktionalistische Ideologievon <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Teilsysteme ist me<strong>in</strong>es Erachtens zentral, wenn es um die Deflexion(sub)politischer Reflexionen des (politischen) Systems geht. Sie soll deshalb <strong>in</strong> diesem Abschnittals stellvertretendes Beispiel für die ideologische E<strong>in</strong>engung des Denkens betrachtet werden.Allerd<strong>in</strong>gs sollte vor e<strong>in</strong>er näheren Beschäftigung mit dem funktionalistischen Gedankengebäudeund se<strong>in</strong>es Deflexionspotentials geklärt werden, was im Kontext e<strong>in</strong>er kritischen Theorie reflexiverMo<strong>der</strong>nisierung exakt unter dem Begriff +Ideologie* zu verstehen ist.Innerhalb des soziologischen Diskurses ist Ideologie nämlich e<strong>in</strong> +unterschiedl. <strong>in</strong>terpretierterBegriff zur Charakterisierung <strong>der</strong> Zusammenhänge von menschl. Geist u. Ges., Bewußtse<strong>in</strong>u. polit.-sozialer Macht*, <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en abwertenden Akzent trägt, +weil er als Kontrastzu ›Realität, ›Objektivität‹ u. ›Wahrheit‹ dient* (Hartfiel/Hillmann: Wörterbuch <strong>der</strong> Soziologie;S. 321). Ursprünglich, d.h. <strong>in</strong> <strong>der</strong> aufklärerischen +Ideenlehre* von Destutt de Tracy (1754–1836),me<strong>in</strong>te +Ideologie* dagegen schlicht die systematische Analyse von Ursprung, Inhalt und Strukturdes menschlichen Bewußtse<strong>in</strong>s. Vor allem bei Helvetius (1715–71) und Holbach (1723–89)mischte sich <strong>in</strong> die wissenschaftliche Ideenanalyse zudem e<strong>in</strong> ausgeprägtes sozial- und machtkritischesElement, das auf die soziale Gebundenheit des Denkens abhob.103Genau dieseskritische Element war dafür verantwortlich, daß Napoleon I. (1769–1821) dem Begriff schließlichse<strong>in</strong>e heute dom<strong>in</strong>ierende negative Wendung gab, da er se<strong>in</strong>e autokratische Herrschaft durchdie Gedanken <strong>der</strong> aufklärerischen +Ideologen* <strong>in</strong> Frage gestellt sah und behauptete, jene


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 385würden <strong>in</strong> ihren Aussagen die Realität verfehlen. Gemäß dieser abschätzigen Sicht <strong>der</strong> +ideologischenWissenschaft* verstand man im folgenden unter Ideologie e<strong>in</strong> <strong>in</strong> Vorurteilen (idola)verhaftetes Denken, das auch schon Francis Bacon (siehe Anmerkung 9, Entrée) als Quelle<strong>der</strong> Irrungen des Geistes galt. (Vgl. Lieber: Ideologie; S. 19–34)Es kommt freilich auf dieser Stufe – sowohl <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er aufklärerisch-sozialkritischen wie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erdiffamierenden Fassung – noch immer e<strong>in</strong> partikularer Ideologiebegriff zur Anwendung, dajeweils nur bestimmte Denk<strong>in</strong>halte und Äußerungen als ideologisch begriffen werden (vgl.Mannheim: Ideologie und Utopie; S. 53ff.). E<strong>in</strong> totaler Ideologiebegriff entwickelt sich, vorbereitetdurch die idealistische Bewußtse<strong>in</strong>sphilosophie und das geschichtsphilosophische DenkenHegels, erst im Diskurs des Sozialismus. Hier wird nämlich die Erkenntnisfähigkeit des politischenGegners grundsätzlich angezweifelt. Dieser hat, durch se<strong>in</strong>en sozialen Standort (Klassenposition),gar ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Möglichkeit, als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em +falschen Bewußtse<strong>in</strong>* verhaftet zu denken. Nichtnur e<strong>in</strong>zelne Anschauungen, son<strong>der</strong>n das gesamte Denken e<strong>in</strong>er bestimmten Gruppe bzw.Klasse wird also gemäß des totalisierten Ideologieverständnisses im Sozialismus (aber auch<strong>in</strong> <strong>der</strong> späteren Übernahme des totalen Ideologiebegriffs durch das Bürgertum) als ideologische<strong>in</strong>gestuft und verworfen (vgl. ebd.; S. 60ff.).Selbst dieser totale Ideologiebegriff ist jedoch noch begrenzt und nimmt die eigenen Anschauungenaus dem Ideologieverdacht aus. Erst <strong>der</strong> wissenssoziologische totale und allgeme<strong>in</strong>eIdeologiebegriff Karl Mannheims – auf welchen ich mich, wie angegeben, bereits oben mit<strong>der</strong> Unterscheidung zwischen partikularem und totalem Ideologiebegriff bezog – überw<strong>in</strong>detdiese Schranke. Mannheim g<strong>in</strong>g es darum, <strong>in</strong> <strong>der</strong> von ihm (Ende <strong>der</strong> 20er Jahre) konstatiertenKrisensituation des Denkens +die Krise zu vertiefen, sich ausweiten zu lassen, Wankendes<strong>in</strong> Frage zu stellen, um <strong>der</strong> Natur des Prozesses mit dem Auge des Forschers nachzugehen.Vor allem ist es daher nötig, den eigenen Gedanken gegenüber auf <strong>der</strong> Hut zu se<strong>in</strong> […] Wirwollen deshalb die aus den verschiedenen Ansätzen stammenden Wi<strong>der</strong>sprüche nicht retuschieren,denn jetzt kommt es noch nicht auf e<strong>in</strong> Rechthaben an, son<strong>der</strong>n auf e<strong>in</strong> entschiedeneresSichtbarmachen e<strong>in</strong>es jeden Wi<strong>der</strong>spruchs [...]* (Ebd.; S. 51)Indem es Mannheim also gerade um die Sichtbarmachung und Entfaltung <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprücheg<strong>in</strong>g, ist se<strong>in</strong> Ansatz im oben def<strong>in</strong>ierten S<strong>in</strong>n reflexiv zu nennen. Und reflexiven Charakterhat auch se<strong>in</strong> Ideologiebegriff, denn dieser bezieht schließlich die Se<strong>in</strong>sgebundenheit deseigenen Denkens mit e<strong>in</strong> und radikalisiert dadurch den totalen Ideologiebegriff des 19. Jahrhun-


386 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>der</strong>ts (vgl. ebd.; S. 70ff.). Das Resultat dieser Radikalisierung und Ausweitung des Ideologiebegriffsauf die eigenen Aussagen und das eigene Denken ist allerd<strong>in</strong>gs für Mannheim nicht notwendigerweisee<strong>in</strong> +wert(ungs)freier* Relativismus. Zwar kann +gegnerisches* Denken nicht mehr, wieim marxistischen Diskurs und se<strong>in</strong>er Weiterführungen beispielsweise durch Lukács, aus demBewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> +klassenbewußten* historischen Richtigkeit des eigenen Denkens heraus alsnotwendig falsches Bewußtse<strong>in</strong> gebrandmarkt werden (vgl. Geschichte und Klassenbewußtse<strong>in</strong>).Sehr wohl läßt sich jedoch relationalistisch aufzeigen, daß es falsches Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> demS<strong>in</strong>n gibt, daß es <strong>der</strong> historisch-konkreten Situation, dem aktuellen Se<strong>in</strong>, nicht angemessenersche<strong>in</strong>t. Somit taucht das Problem des falschen Bewußtse<strong>in</strong>s auch im Rahmen <strong>der</strong> WissenssoziologieMannheims wie<strong>der</strong> auf: +Falsch und ideologisch ist von hier aus gesehen e<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong>,das <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Orientierungsart die neue Wirklichkeit nicht e<strong>in</strong>geholt hat und sie deshalb mitüberholten Kategorien eigentlich verdeckt.* (Ideologie und Utopie; S. 85) 104Mit dieser Formulierung wi<strong>der</strong>spricht sich Mannheims jedoch <strong>in</strong>direkt selbst, denn im Rekursauf den Wirklichkeitsbegriff, muß er zwangsläufig davon ausgehen, daß e<strong>in</strong> nichtideologischerBereich objektiver Realität für die historisch-relationale Bestimmung <strong>der</strong> +Falschheit* e<strong>in</strong>esBewußtse<strong>in</strong>s dem Denken zugänglich sei. E<strong>in</strong> solcher Rückgriff auf historische +Objektivität*wäre jedoch gerade vor dem H<strong>in</strong>tergrund des radikalisierten wissenssoziologischen (reflexiven)Ideologiebegriffs, <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> +Se<strong>in</strong>sgebundenheit* des eigenen Denkens bewußt ist, unmöglich.Ich schlage deshalb <strong>in</strong> Konsequenz zu den vorangegangen Erläuterungen des hier verwendetenReflexionsbegriff vor, anstelle e<strong>in</strong>es objektiven Kriteriums für die E<strong>in</strong>stufung des ideologischenGehalts von Aussagen bzw. <strong>der</strong> +Falschheit* e<strong>in</strong>es Bewußtse<strong>in</strong>s, das subjektive Kriterium <strong>der</strong>+Aufrichtigkeit* heranzuziehen, das e<strong>in</strong>e reflexive Spiegelung des Se<strong>in</strong>s (Theorie) von e<strong>in</strong>erdeflexiven Verspiegelung des Se<strong>in</strong>s (Ideologie) unterscheidet. Dies bedeutet, anstatt <strong>in</strong>E<strong>in</strong>deutigkeitskonstruktionen zu fliehen und bestehende Ambivalenzen zu verdrängen, den– selbst gesetzten – Ansprüchen gerecht zu werden sowie sich die eigenen, durchaus wi<strong>der</strong>sprüchlichenund kont<strong>in</strong>genten Motivlagen bewußt zu machen. Auch gemäß dieser Differenzierungverläuft die Trennl<strong>in</strong>ie zwischen e<strong>in</strong>em reflexiv-theoretischen und e<strong>in</strong>em deflexiv-ideologischenBewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> Relation auf das Se<strong>in</strong>. Die +Realität* dieses Se<strong>in</strong> gilt allerd<strong>in</strong>gs nichtals objektiv erfahrbar und beschreibbar, son<strong>der</strong>n ist vermittelt durch das (historische) Subjektund bestimmt durch se<strong>in</strong>e Bereitschaft, die gegebene Reflexivität auf sich wirken zu lassen(Reflexion) o<strong>der</strong> abzulenken (Deflexion).


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 387Mit dieser konsequent reflexiven, auf sich selbst gerichteten Fassung des Ideologiebegriffsentfällt zwar die Möglichkeit, den ideologischen Charakter e<strong>in</strong>es Denkens +objektiv*, vonaußen her aufzuweisen (es lassen sich, wie oben erläutert, lediglich zu analytischen und heuristischenZwecken Vermutungen plausibilisieren). Es bleibt es aber weiterh<strong>in</strong> möglich, das reflexiveElement, das <strong>in</strong> je<strong>der</strong> ideologischen Deflexion dialektisch e<strong>in</strong>geschlossen ist, <strong>in</strong>dem sie Reflexionenablenkt und damit zur verdeckten Grundlage hat, durch e<strong>in</strong>en auf <strong>der</strong> Deflexion aufsetzendenerneuten Reflexionszirkel hervorzukehren. Denn schließlich gehörte es noch imklassisch ideologiekritischen, Anspruch und Wirklichkeit mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> konfrontierenden marxistischenVerständnis (an<strong>der</strong>s als bei Mannheim) zum Merkmal des Ideologischen, daß <strong>in</strong> ihme<strong>in</strong> untergründiges Moment <strong>der</strong> Transzendenz wirkt, da gerade die notwendige Falschheitdes ideologischen Bewußtse<strong>in</strong>s die praktische Möglichkeit se<strong>in</strong>er Kritik und Sprengung bedeutet.Genau diese latente +Transzendenz*, die ungewollt auf die immanenten Wi<strong>der</strong>sprüche verweisende+Verschleierung*, unterscheidet Ideologie (als geistigen Überbau) von bloßer Unreflektiertheit(siehe auch S. LXIII).Doch selbst, wenn jede Ideologie reflexiv gewendet werden kann und e<strong>in</strong> (kritisch-dialektischer)reflexiver Theorieansatz sich se<strong>in</strong>es eigenen +ideologischen* Charakters bewußt ist, <strong>der</strong> dar<strong>in</strong>besteht, daß auch se<strong>in</strong>e Sichtweisen notwendig e<strong>in</strong>e subjektive und dar<strong>in</strong> verzerrende Spiegelungund Interpretation des sozialen Raumes darstellt – <strong>der</strong> se<strong>in</strong>em verschleiernden Zweck, se<strong>in</strong>emablenkenden Reflex +wesensmäßige* deflexive Charakter des Ideologischen wird mit diesenRelativierungen ke<strong>in</strong>eswegs negiert. Ideologie bleibt auch im radikalisierten reflexiven Verständnise<strong>in</strong> explizit kritisch gewendeter Begriff und bezeichnet Denksysteme, die versuchen, ihreeigenen (Voraus-)Setzungen und Wi<strong>der</strong>sprüche (narrativ) zu verschleiern und zu negieren. 105Der aus e<strong>in</strong>em reflexiven Bewußtse<strong>in</strong> heraus erfolgende h<strong>in</strong>terfragende Blick auf den ideologischen+Überbau* reflektiert – um es nochmals zu betonen – lediglich zugleich se<strong>in</strong>e eigeneZeit- und Se<strong>in</strong>sgebundenheit, wobei er sich um e<strong>in</strong>e +aufrichtige*, subjekt- wie objektgerechteSpiegelung bemüht, die <strong>in</strong>neren und äußeren Wi<strong>der</strong>sprüche deshalb nicht überdeckt, son<strong>der</strong>nvielmehr – selbstironisch – freisetzt. Reflexivität bzw. Reflexion bedeutet also, um mit PeterZima zu sprechen, +<strong>in</strong> diesem Fall konkret: Wahrnehmung <strong>der</strong> semantischen, syntaktischenund narrativen Verfahren me<strong>in</strong>es Diskurses […], die aus bestimmten Wertentscheidungen,Selektionen und Klassifikationen hervorgehen und an<strong>der</strong>e Verfahren […] ausschließen. Siekann dazu führen, daß <strong>der</strong> partikulare und kont<strong>in</strong>gente Charakter des eigenen Denkens erkannt


388 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEwird, <strong>der</strong> nun als e<strong>in</strong> mögliches Konstrukt <strong>der</strong> Wirklichkeit ersche<strong>in</strong>t, nicht als mit dieseridentisch.* (Mo<strong>der</strong>ne/<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 371)Aus e<strong>in</strong>er solchermaßen reflexiven, historisch notwendigerweise beschränkten, subjektiv-kont<strong>in</strong>gentenSicht, die zugleich aber selbst-bewußt und engagiert die Festschreibungen <strong>der</strong> sozialen+Realität* h<strong>in</strong>terfragt, ersche<strong>in</strong>t (mir) <strong>der</strong> systemtheoretische Funktionalismus als e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> zentralenIdeologien für den deflexiven +systemischen* Funktionszusammenhang <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft,da er aufgrund se<strong>in</strong>er Prämissen die praxologischen Deflexionsbemühungen des Systemsauf <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene unterstützt und zugleich die eigene Se<strong>in</strong>sgebundenheit, se<strong>in</strong>e Gefangenheit<strong>in</strong> ebendiesem System, negiert. Vor <strong>der</strong> dekonstruierenden (Ideologie-)Kritik dieses<strong>der</strong>zeit überaus prom<strong>in</strong>enten soziologischen Konzepts ist allerd<strong>in</strong>gs die Rekonstruktion se<strong>in</strong>erKernaussagen notwendig. Hierbei möchte ich mich – da er beson<strong>der</strong>s konsequent zu Endegedacht und im Diskurs, zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik, dom<strong>in</strong>ant ist – auf Niklas LuhmannsAnsatz beschränken, und zwar so, wie er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er neuesten Fassung <strong>in</strong> dem Band +DieGesellschaft <strong>der</strong> Gesellschaft* (1997) vorliegt:Hier entwickelt Luhmann zunächst e<strong>in</strong>e +<strong>in</strong>tegrative* Sichtweise, <strong>in</strong>dem er das Gesellschaftssystemals Metasystem <strong>der</strong> sozialen Teilsysteme beschreibt: Soziale Systeme stellen zwar, globalbetrachtet, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel e<strong>in</strong>en +b<strong>in</strong>är codierten* und spezifischen, Kommunikationszusammenhangdar. Die Gesellschaft bzw. das Gesellschaftssystem ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> Son<strong>der</strong>fall unter den sozialenSystemen. Es schließt alle an<strong>der</strong>en sozialen Systeme <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>, da es sämtliche, nicht nurspezifische Kommunikationen umfaßt (vgl. S. 78). Trotz <strong>der</strong> daraus resultierenden Diffusitätbildet das Gesellschaftssystem jedoch e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit – <strong>in</strong>dem es durch die gebildeten Strukturen<strong>der</strong> es konstituierenden Kommunikationen von se<strong>in</strong>er Umwelt abgegrenzt ist (vgl. ebd.; S.90). Auch das Gesellschaftssystem ist damit, wie die an<strong>der</strong>en sozialen Systeme, e<strong>in</strong> +operativgeschlossenes*, autopoietisches System (vgl. ebd.; S. 92): Im Rahmen <strong>der</strong> Gesellschaft br<strong>in</strong>gensich Kommunikationen durch Kommunikation (selbst) hervor (vgl. ebd.; S. 96f.).Für die Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Autopoiesis s<strong>in</strong>d jedoch +Kopplungen* notwendig, die sozusagendie strukturellen Bed<strong>in</strong>gungen für die autopoietische Reproduktion e<strong>in</strong>es jeden Systems darstellen.Strukturelle Kopplung, so Luhmann, +bestimmt [zwar] nicht, was im System geschieht, siemuß aber vorausgesetzt werden, weil an<strong>der</strong>enfalls die Autopoiesis zum Erliegen käme unddas System aufhören würde zu existieren.* (Ebd.; S. 100f.) Konkret auf das system(e)umfassendeKommunikationsnetz des Gesellschaftssystems bezogen, ergeben sich als notwendige strukturelle


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 389Kopplungen für dessen +kommunikative* Autopoiesis <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Zeichensysteme (also Sprache)und (mo<strong>der</strong>ne) Massenmedien (vgl. ebd.; S. 105–112). 106Innerhalb dieses strukturell gekoppelten und operativ geschlossenen Rahmens existieren jedochautonome Funktionssysteme: Die evolutionär aus <strong>der</strong> stratifizierten Ständegesellschaft hervorgegangenefunktional differenzierte Gesellschaft <strong>der</strong> Gegenwart besteht nämlich aus ihrerseitsoperativ geschlossenen Teilsystemen, denen e<strong>in</strong>e je spezifische Aufgabe zukommt, welchediese aber selbst festlegen und eigenständig umsetzen. Das Gesellschaftssystem ist daher nur(umfassende) Umwelt für die Teilsysteme, ihnen jedoch nicht (hierarchisch) übergeordnet:+Mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung verzichtet die Gesellschaft darauf, denTeilsystemen e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Differenzierungsschema zu oktroieren.* (Ebd.; S. 745) Fürdas e<strong>in</strong>zelne Teilsystem, das auf <strong>der</strong> Grundlage e<strong>in</strong>es charakteristischen b<strong>in</strong>ären Codes wieRecht/Unrecht(Rechtssystem),Haben/Nichthaben(Wirtschaftssystem)o<strong>der</strong>Regierung/Opposition(<strong>Politik</strong>system) +operiert* (vgl. ebd.; S. 748ff. und siehe auch hier S. 101), bedeutet dieseAutonomie vom gesellschaftlichen Rahmen wie den an<strong>der</strong>en Teilsystemen jedoch zugleich,daß se<strong>in</strong>e spezifische Funktion +Priorität genießt und allen an<strong>der</strong>en Funktionen vorgeordnetwird […] So ist zum Beispiel für das politische System <strong>der</strong> politische Erfolg (wie immer operationalisiert)wichtiger als alles an<strong>der</strong>e, und e<strong>in</strong>e erfolgreiche Wirtschaft ist hier nur als Bed<strong>in</strong>gungpolitischer Erfolge wichtig.* (Ebd. S. 747) Nur wenn <strong>Politik</strong> also für ihre Zwecke z.B. Geldmittelbenötigt, muß auf +fremde* Codes (<strong>in</strong> diesem Fall den ökonomischen Code von Haben/Nichthaben)zurückgegriffen werden (vgl. ebd.; S. 762). 107Durch diese Argumentationsfigur wird deutlich, daß <strong>der</strong> übergreifende Rahmen des Gesellschaftssystemsim theoretischen System Luhmanns nur die Funktion e<strong>in</strong>er semantischen Klammererfüllt, die er denken muß, um die e<strong>in</strong>zelnen Funktionssysteme als umso autonomer darstellenzu können. Das im zweiten Kapitel analysierte Zusammenspiel <strong>der</strong> (Teil-)Systeme und ihre+Kurzschlüsse* werden <strong>in</strong> dieser auf die Trennungen fixierten soziologischen Konstruktionkonsequent ausgeblendet. Die Sicht des systemtheoretischen Funktionalismus (LuhmannscherPrägung) auf das gesellschaftliche Gefüge ist folglich selektiv. Diese Selektivität teilt sie mitallen +s<strong>in</strong>nvollen* theoretischen Bemühungen, die – um e<strong>in</strong>en analytischen Gew<strong>in</strong>n gegenüberre<strong>in</strong>en +Abbildungen* darzustellen – (Umwelt-)Komplexität zwangsläufig reduzieren müssen(so zum<strong>in</strong>dest würde man es wohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> funktionalistischen Term<strong>in</strong>ologie ausdrücken). Luhmannhypostasiert allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Beschreibungen e<strong>in</strong>en bestimmten, aus reflexiver Sicht durchaus


390 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEproblematischen Aspekt <strong>der</strong> sozialen +Wirklichkeit* mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften: nämlich <strong>der</strong>enarbeitsteilige Organisation sowie die aus ihr folgenden Differenzierungen und +Autonomiegew<strong>in</strong>ne*.Zentralisierungen und offene wie verdeckte Querverb<strong>in</strong>dungen <strong>der</strong> (teil)autonomenSubsysteme werden dagegen kaum reflektiert.Durch diese spezifische Selektivität ergibt sich zwar e<strong>in</strong> hoch <strong>in</strong> sich geschlossenes, konsistentesGedankengebäude mit ebenso hohem Allgeme<strong>in</strong>heitsgrad.108Dieser Vorteil ist jedoch nichtnur durch e<strong>in</strong>e (tautologische) Zirkularität erkauft (siehe unten), son<strong>der</strong>n bewirkt auch, daßsie e<strong>in</strong>en Bezug auf das konkrete Soziale nur als ideologischer Überbau aufweist. Mit <strong>der</strong>Faktizität <strong>der</strong> Gesellschaft konfrontiert, gelangt schließlich selbst Luhmann gelegentlich zuFeststellungen, die se<strong>in</strong>e eigenen theoretischen Prämissen <strong>in</strong>direkt <strong>in</strong> Frage stellen. So kommter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz +Inklusion und Exklusion* (1994) zu <strong>der</strong> bereits zitierten Schlußfolgerung,daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft zwar <strong>der</strong> Inklusionsbereich den (gedachten) Regeln funktionalerDifferenzierung gehorcht. Der Exklusionsbereich ist dagegen – paradoxerweise und zum Nachteil<strong>der</strong> so allzu leicht aus dem sozialen Rahmen fallenden Individuen – hoch <strong>in</strong>tegriert (sieheS. 261f.). Wir haben es also +tatsächlich* mit e<strong>in</strong>er Trennung ohne Trennung zu tun.Soziale Tatsachen s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs, wie auch Luhmann aufweist, immer sozial konstruiert undunterliegen Interpretationsprozessen. Diese +Relativität* trifft ebenso auf die wissenschaftlicheKommunikation zu, die sich – gemäß <strong>der</strong> funktionalistischen Sicht – auf den Code wahr/unwahrbezieht: +Der Wahrheitscode selbst ist, <strong>in</strong>dem wir hier über ihn sprechen, Gegenstand wahrero<strong>der</strong> vielleicht unwahrer Aussagen* (Die Gesellschaft <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 373f.) Damit deutetLuhmann auf das grundlegende, schon oben angesprochene Problem aller +Beobachtungenhöherer Ordnung*, wie sie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e (soziologische) Metatheorien mit hohem Allgeme<strong>in</strong>heitsgraddarstellen: Diese müssen, um überhaupt Aussagen vornehmen zu können, kont<strong>in</strong>genteSetzungen vornehmen, die sich nicht +objektivieren* lassen, son<strong>der</strong>n – berechtigterweise –Gegenstand des kritischen wissenschaftlichen (Meta-)Diskurses s<strong>in</strong>d.Dieser kritische Diskurs hat (seit ihren ersten Artikulierungen) auch die funktionalistische SystemtheorieLuhmanns begleitet. Vor allem Jürgen Habermas exponierte sich Anfang <strong>der</strong> 70erJahre durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive, überaus kritische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Luhmann. Der primärean Luhmann gerichtete Vorwurf lautete dabei, daß dieser im Rahmen se<strong>in</strong>er Theorie e<strong>in</strong>eFunktionalisierung und damit e<strong>in</strong>e +S<strong>in</strong>nentleerung* des Wahrheitsbegriffs betrieben habe:Wahrheit wird nämlich von Luhmann re<strong>in</strong> +empirisch*, als Ergebnis von Kommunikations-


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 391prozessen, verstanden (siehe auch oben)109und ist gleichzeitig e<strong>in</strong> zentrales +Medium* <strong>der</strong>Kommunikation, <strong>in</strong>dem <strong>der</strong> Rekurs auf Wahrheit die (soziale) Kommunikation von Begründungsansprüchenentlastet. Der gesellschaftliche +Wert* <strong>der</strong> Wahrheit wird also alle<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ihrer Dienlichkeit für die nach Luhmann zentrale Funktion <strong>der</strong> Komplexitätsreduktion undStabilitätssicherung gesehen. Damit entfällt jedoch nach Habermas erstens e<strong>in</strong>e Kritisierbarkeit<strong>der</strong> +empirischen* Wahrheit(en) – was für diesen wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong> wesentliches Kriterium füre<strong>in</strong>e begründete, <strong>in</strong>tersubjektive Wahrheit darstellt, die auch unabhängig von Autorität, Vertrauenund Zwang etc. Gültigkeit beanspruchen kann und damit diesen Namen erst wirklich verdient.Zweitens muß Luhmann paradoxerweise, um zu se<strong>in</strong>er +empirischen*, pragmatisch verkürztenBestimmung von Wahrheit gelangen zu können, zugleich implizit auf e<strong>in</strong>en +theoretischen*,auf diskursiven Begründungen beruhenden Wahrheitsbegriff rekurrieren. Luhmanns Ansatzwird also dem eigenen Anspruch – nämlich gerade ohne e<strong>in</strong>en solchen, <strong>in</strong>haltlich gefülltenWahrheitsbegriff auszukommen – nicht gerecht. (Vgl. Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> Sozialtechnologie?;Abschnitt IV)Unter diesem Blickw<strong>in</strong>kel ersche<strong>in</strong>t die Systemtheorie konsequent als e<strong>in</strong>e +neue Form <strong>der</strong>Ideologie*. Habermas illustriert dies auch an Luhmanns Verb<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> auf formalisiertenVerfahren beruhenden Legitimation des Rechts mit e<strong>in</strong>em funktionalisierten Ideologiebegriff:E<strong>in</strong>erseits wird von Luhmann betont, daß die Wirksamkeit des Rechtssystems auf <strong>der</strong> Anerkennung<strong>der</strong> dem Recht Geltung verschaffenden Verfahren beruht (siehe auch hier S. 100ff.).An<strong>der</strong>seits besteht die Auffassung, daß zu diesen Verfahren abstützende Ideologien h<strong>in</strong>zutretenmüssen, um ihnen die Anerkennung zu sichern. Dabei wird unter +Ideologie* von Luhmannfreilich nicht <strong>der</strong> Ausfluß +falschen* Bewußtse<strong>in</strong>s verstanden, son<strong>der</strong>n er versteht unter Ideologienlediglich (austauschbare) Ideensysteme, die die Funktion erfüllen, das Handeln zu orientierenund zu rechtfertigen. In dieser Konstruktion übernimmt die funktionalistische Theorie gemäßHabermas jedoch selbst offensichtlich die Funktion e<strong>in</strong>er Ideologie: Sie stützt, ähnlich wiedie idealistischen Rechtstheorien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit, die bestehenden Herrschaftsverhältnisund tilgt den Anspruch auf diskursive Legitimation. (Vgl. ebd.; Abschnitt V.)Diese kritische E<strong>in</strong>schätzung durch Habermas ist natürlich nicht unwi<strong>der</strong>sprochen gebliebenund hat e<strong>in</strong>e weitergehende Diskussion entfacht (vgl. v.a. die im Suhrkamp-Verlag erschienenenFolgebände von +Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> Sozialtechnologie*). Es ist allerd<strong>in</strong>gs bezeichnend,daß selbst aus Kreisen e<strong>in</strong>er eher am +Ma<strong>in</strong>stream* orientierten Soziologie teilweise sehr ähnliche


392 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEE<strong>in</strong>wände gegen Luhmann vorgetragen wurden. So spricht etwa Klaus Grimm +im Licht <strong>der</strong>Wissenschaftslehre Max Webers* vom +Elend <strong>der</strong> aprioristischen Soziologie* und versucht,den verdeckten normativen Gehalt <strong>der</strong> funktionalistischen Systemtheorie zu offenbaren, <strong>in</strong>demer u.a. auf die mangelnde Begründung <strong>der</strong> zentralen Stellung <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> +Systemstabilität*bei Luhmann h<strong>in</strong>weist (vgl. Grimm: Niklas Luhmanns ›Soziologische Aufklärung‹; S. 137ff.).Die mit Habermas und Grimm dargestellte L<strong>in</strong>ie <strong>der</strong> Luhmann-Kritik soll allerd<strong>in</strong>gs hier nichtweiter vertieft und fortgeführt werden – auch wenn die meisten <strong>der</strong> dargelegten Punkte nochimmer ihre Berechtigung haben. Schließlich hat Luhmann im folgenden se<strong>in</strong>en Ansatz <strong>in</strong>e<strong>in</strong>igen wichtigen Teilen modifiziert und den Autopoiesisgedanken <strong>in</strong>s Zentrum gestellt (sieheauch nochmals S. XXV),110so daß sich schließlich ihre oben skizzierte Gestalt ergeben hat.Dies bedeutet, daß Umformulierungen <strong>der</strong> ursprünglichen Kritik notwendig wurden/werdenund auch an<strong>der</strong>e Punkte <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund zu rücken s<strong>in</strong>d:Den Gedanken <strong>der</strong> Autopoiesis o<strong>der</strong> Selbsthervorbr<strong>in</strong>gung hat Luhmann aus <strong>der</strong> kognitionswissenschaftlichenTheorie des +Radikalen Konstruktivismus* entlehnt (vgl. Maturana: Neurophysiologyof Cognition sowie Maturana/Varela: Autopoiesis and Cognition und siehe auch hier Anmerkung35, Entrée). Folgt man <strong>der</strong> Darstellung von Friedrich Wallner, so stellt die ursprüngliche VarianteMaturanas e<strong>in</strong>en eleganten Versuch dar, den (naiven) metaphysischen Realismus durch e<strong>in</strong>eRadikalisierung <strong>der</strong> Erkenntnistheorie Kants zu überw<strong>in</strong>den, <strong>in</strong>dem nicht mehr e<strong>in</strong>e transzendentaleE<strong>in</strong>heit von Subjekt und Objekt gedacht, son<strong>der</strong>n das neuronale Netzwerk des(subjektiven) Bewußtse<strong>in</strong> von vorne here<strong>in</strong> als <strong>in</strong> sich geschlossenes System begriffen wird,das se<strong>in</strong> Verständnis <strong>der</strong> Welt aus sich heraus (doch e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Umwelt) hervorbr<strong>in</strong>gt.Freilich gilt auch hier, daß man die gemachten Voraussetzungen annehmen muß, um zudiesem Ende folgen zu können; und man zahlt den (vielleicht zu hohen) Preis, sich e<strong>in</strong>er+zirkulären* Konzeption auszuliefern, die nicht auf +Wahrheiten* außerhalb ihrer selbstzurückgreifen kann (vgl. Selbstorganisation – Zirkularität als Erklärungspr<strong>in</strong>zip?).Luhmann überträgt dieses als solches folglich bereits +problematische* kognitionswissenschaftlicheModell <strong>der</strong> Autopoiesis auf soziale Systeme. Dies ist umso mehr e<strong>in</strong> fragwürdiges Unternehmen,als soziale Systeme kaum das selbe Maß an Geschlossenheit aufweisen dürften wie personale+Bewußtse<strong>in</strong>ssysteme* – denn die Geschlossenheit des Systems ist schließlich e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> zentralenVoraussetzungen für Autopoiesis (vgl. dazu auch Heijl: Konstruktion <strong>der</strong> sozialen Konstruktion;S. 322–327 und siehe ebenso nochmals S. LXXVI). Zudem gibt Luhmann vor, durch den


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 393mit dem Autopoiesiskonzept verknüpften Gedanken <strong>der</strong> (basalen) Selbstreferenz e<strong>in</strong>e Lösungdes nach Parsons grundlegenden Problems <strong>der</strong> doppelten Kont<strong>in</strong>genz geleistet zu haben,also <strong>der</strong> Frage, wie überhaupt e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teraktives Handlungssystem <strong>in</strong> Gang gebracht werdenkann, wenn die Handelnden ihr Handeln jeweils vom Handeln <strong>der</strong>/des an<strong>der</strong>en abhängigmachen (siehe auch nochmals hier S. XL). Luhmanns paradoxer Ausweg lautet, daß es ebendurch Selbstreferenz zu se<strong>in</strong>er Selbstlösung kommt, d.h. <strong>der</strong> (parallele) Bezug auf die geseheneProblematik elim<strong>in</strong>iert diese. Aus <strong>der</strong> ursprünglichen Differenz <strong>der</strong> Perspektiven entsteht soKonvergenz <strong>in</strong> <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>samen Negation <strong>der</strong> Ausweglosigkeit <strong>der</strong> Ausgangssituation. Überdiesen +Initiationsmechanismus* kommt es zur schließlich zur Selbsthervorbr<strong>in</strong>gung e<strong>in</strong>essozialen Systems. Doch die damit dargebotene Lösung des Problems <strong>der</strong> doppelten Kont<strong>in</strong>genzist ganz offensichtlich nur e<strong>in</strong>e Sche<strong>in</strong>lösung, denn sie setzt erstens voraus, daß das Problem<strong>der</strong> doppelten Kont<strong>in</strong>genz (doppelt) bewußt ist und daß zweitens e<strong>in</strong> analoges Interesse anse<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung besteht. Auf (<strong>in</strong>dividuelles) Bewußtse<strong>in</strong> und (<strong>in</strong>dividuelle) Willensäußerungenkann und darf aber e<strong>in</strong>e +autopoietische* Theorie sozialer Systeme ihrem eigenen Anspruchgemäß nicht rekurrieren. (Vgl. auch Beermann: Luhmanns Autopoiesisbegriff)Wenn man nun die bisher hier dargestellte Kritik – die selbstverständlich nur e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Auswahlaus e<strong>in</strong>em breiteren Spektrum darstellt, trotzdem jedoch wohl als +typisch* angesehen werdendarf – zusammenfaßt, so ergeben sich im wesentlichen zwei Hauptpunkte: 1. <strong>der</strong> zirkuläreCharakter <strong>der</strong> Theorie, die die eigenen Voraussetzungen nicht spiegelt (immanente Kritik)und 2. ihre de facto systemstabilisierende Wirkung (ideologiekritische Ansätze). Im folgendenmöchte ich <strong>der</strong> Frage nachgehen, warum Luhmanns Theorieentwurf, trotz <strong>der</strong> zentralenBedeutung des Kont<strong>in</strong>genzbegriffs, die eigene Kont<strong>in</strong>genz und Zirkularität nicht spiegeln kann,und weshalb er sich mit <strong>der</strong> (unterdrückerischen) Macht <strong>der</strong> Systeme identifiziert. Beideshängt, wie ich vermute, zusammen und beruht auf dem deflexiven Charakter von LuhmannsDenken, welches sich erst dar<strong>in</strong> als ideologisch im oben def<strong>in</strong>ierten S<strong>in</strong>n offenbart. 111Gehorcht Luhmann also als Wissenschaftler nur dem spezifischen Code des Teilsystems (wahr/-unwahr) und muß er deshalb die (objektive) Gültigkeit se<strong>in</strong>er Aussagen behaupten, o<strong>der</strong> lassensich tiefer reichende Motive analytisch re-konstruieren, die den deflexiv-ideologischen Charakter<strong>der</strong> Luhmannschen Systemtheorie begründen?112Letzteres wird <strong>in</strong> dem hoch <strong>in</strong>teressantenund amüsanten Band +Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie* (1993) von Günter Schultee<strong>in</strong>drucksvoll versucht.113Schultes Ausführungen ist e<strong>in</strong> Luhmann-Zitat vorgeschaltet: +Hat


394 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEnicht vielleicht Freud se<strong>in</strong>e Theorie nur zur Selbstsublimierung erfunden?*, fragt dieser. Dasist sehr wohl möglich. Aber hat nicht vielleicht auch Luhmann, wie sich umgekehrt (<strong>in</strong> Anlehnungan Schulte) weiterfragen läßt, se<strong>in</strong>e Theorie nur zur Selbstsublimierung erfunden – und istsich dessen nicht bewußt? Während e<strong>in</strong> kritisch-dialektischer Ansatz diesen +Selbstzweck*<strong>der</strong> Theorie nicht negieren kann, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> die theoretischen Bemühungen reflexiv <strong>in</strong>tegriert,darum weiß, daß Theorie immer auch e<strong>in</strong> von <strong>in</strong>nen angestoßener und nach <strong>in</strong>nen gerichteterVersuch <strong>der</strong> Weltdeutung ist, flieht Luhmann vor dieser E<strong>in</strong>sicht und versucht, se<strong>in</strong>e Sichtweise(als motivlose +Beobachtung*) zu objektivieren. So schreibt er vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong>postmo<strong>der</strong>nen Relativierung umfassen<strong>der</strong> (mo<strong>der</strong>ner) Metaerzählungen an e<strong>in</strong>er auto-po(i)etischenMetaerzählung des Systems. Versuchen wir deshalb – mit Schulte und durchaus +lustvoll*– e<strong>in</strong>e psychoanalytisch <strong>in</strong>spirierte Deutung von Luhmanns Theoriegebäude, die selbst natürlichke<strong>in</strong>en Wahrheitsanspruch erhebt, son<strong>der</strong>n eher e<strong>in</strong> (hoffentlich aufschlußreiches) Interpretationsspieldarstellt, das an e<strong>in</strong>em geeigneten Beispiel vor allem etwas über die analytische Tauglichkeit<strong>der</strong> hier verwendeten Begriffe und Unterscheidungen aussagen soll.Doch zurück zu Luhmann: Dessen explizites Ziel ist e<strong>in</strong> Programm <strong>der</strong> +Abklärung* – alsoe<strong>in</strong>e +Befreiung* <strong>der</strong> Aufklärung von ihrem kritisch gegen sich selbst gerichteten Impuls. Denndiese gerate zunehmend <strong>in</strong> Gefahr, sich mit ihrem fortgesetzten Streben nach <strong>der</strong> restlosenAufdeckung aller (auch <strong>der</strong> eigenen) Latenzen hoffnungslos zu überfor<strong>der</strong>n. Dieser +haltlosen*Entlarvungstendenz <strong>der</strong> Aufklärung wird e<strong>in</strong>e abgeklärte funktionalistische Sichtweise entgegengesetzt,die Verdrängung als handlungsnotwendigen Mechanismus zur Komplexitätsreduktion,als Schutz vor Überfor<strong>der</strong>ung begreift. So wird von Luhmann also gleichzeitig mit dem E<strong>in</strong>geständnisvon Latenz, <strong>der</strong> Schutz <strong>der</strong> Latenz gefor<strong>der</strong>t, da eben dies (latent) funktional ist (vgl.Soziologische Aufklärung; S. 69ff.).Mit se<strong>in</strong>er For<strong>der</strong>ung nach Latenzschutz schützt Luhmann das <strong>in</strong> den Sog <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat ebensorastlosen und wie ruchlosen neuzeitlichen Aufklärung geratene Individuum freilich nicht, son<strong>der</strong>nüberantwortet es im Gegenteil <strong>der</strong> verselbständigten Dynamik ihrer Bewegung, die sich <strong>in</strong>den – nach Luhmann eben gerade besser nicht zu h<strong>in</strong>terfragenden – latenten (Macht-)Strukturendes Systems verdichtet hat. An die Stelle <strong>der</strong> haltlosen, Angst-getriebenen subjektiven Vernunft,tritt so – ebenso Angst-getrieben – die Kälte e<strong>in</strong>er (pragmatisch) objektivierten Vernunft <strong>der</strong>Systeme, die ke<strong>in</strong>e Wi<strong>der</strong>sprüche duldet und dulden kann. Dazu Schulte: +Die Systemtheorieerweist sich als e<strong>in</strong>e extravertierte o<strong>der</strong> umgestülpte Subjekttheorie, die ihre eigene Abdunklung


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 395durch e<strong>in</strong>e Mystik und Mythologie des Selbstschutzes besorgt […] Fasz<strong>in</strong>iert vom nicht fixierbarenbl<strong>in</strong>den Fleck <strong>der</strong> eigenen Beobachtung hat Luhmann se<strong>in</strong>e Systemtheorie <strong>in</strong> den letzen Jahrenmehr und mehr zur e<strong>in</strong>er Theorie <strong>der</strong> Entparadoxierung aus- und umgearbeitet, <strong>in</strong> <strong>der</strong> esweniger um die Beschreibung o<strong>der</strong> Rekonstruktion gesellschaftlicher Phänomene als um dieBeschwörung e<strong>in</strong>er systemischen Vernunft <strong>der</strong> Ablenkung von unaushaltbarer Selbstreferenzgeht* (Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie; S. 13)Der wichtigste Schritt auf diesem Weg war folglich die Elim<strong>in</strong>ierung des Subjekts und <strong>der</strong>Subjektivität aus se<strong>in</strong>em Bezugsrahmen. Das fühlende und handelnde Individuum mit se<strong>in</strong>ergrundlegenden Ambivalenz (siehe Exkurs), wird – da es sich systemtheoretisch nicht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erEigenheit begreifen läßt und Wi<strong>der</strong>sprüche provoziert – zur bloßen Systemumwelt degradiert(vgl. z.B. Die Tücke des Subjekts und siehe auch hier S. XXV).114Luhmann beschränkt sichfolglich, wie oben dargestellt, auf die Betrachtung von entpersonalisierten Kommunikationszusammenhängen.Was bleibt ist <strong>der</strong> Beobachter (dieser Kommunikationsprozesse), doch jenerstellt ebenso ke<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles +Ich* dar, son<strong>der</strong>n ist vielmehr selbst immer <strong>der</strong> Beobachtungausgesetzt und wird vor allem erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kommunikation dieser Beobachtung – als beobachtetesObjekt – zum Teil des Ganzen, des Systems (vgl. z.B. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft; S.77ff.).115Diese (regressive) Selbst-Verleugnung, die auch gewisse +paranoische* Züge aufweistund zudem e<strong>in</strong>e schizophrene Spaltung von sich erfor<strong>der</strong>t (vgl. ebd. S. 119 und siehe auchunten), kann – reflexiv beobachtet – als deflexiver Schutzmechanismus gedeutet werden,<strong>der</strong> die Zumutungen <strong>der</strong> verd<strong>in</strong>glichenden Warenlogik <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur des Spätkapitalismusdurch e<strong>in</strong>e verflachende Selbstverd<strong>in</strong>glichung kompensiert (vgl. auch Jameson: Zur Logik <strong>der</strong>Kultur im Spätkapitalismus). +Luhmanns Theorie*, so Schulte, +dient […] <strong>der</strong> Vermeidungeigener, subjektiver Wahrheit.* (Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie; S. 211)Genauso wie das Subjekt nur als Objekt <strong>in</strong>s System <strong>in</strong>tegriert ist, darf subjektive Wahrheitfolglich nur objektiviert geäußert werden. Der Systemtheoretiker distanziert sich sozusagenvom eigenen +Ich* und dem eigenen Standpunkt und spiegelt diesen <strong>in</strong> die überhöhte, damitgleichsam metaphysischen Charakter aufweisende Logik/Semantik des Systems – die allerd<strong>in</strong>gsnatürlich erst <strong>in</strong> dieser Spiegelung konstruiert, autopoietisch hervorgebracht wird. Zwar bemerktLuhmann sehr richtig: +Es gibt nur Ratten im Labyr<strong>in</strong>th [des Systems], die e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> beobachtenund eben deshalb wohl zu Systemstrukturen, nie aber zu Konsens kommen können. Es gibtke<strong>in</strong> labyr<strong>in</strong>thfreies, ke<strong>in</strong> kontextfreies Beobachten. Und selbstverständlich ist auch e<strong>in</strong>e Theorie,


396 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdie dieses beschreibt [nämlich die Systemtheorie], e<strong>in</strong>e Rattentheorie.* (Soziologische Aufklärung;Band 4, S. 6). Trotzdem figuriert <strong>der</strong> systemtheoretische Beobachter (Luhmann) gewissermaßenals +Rattenkönig* (vgl. auch Schulte: Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie; S. 201ff.).Denn er beobachtet die an<strong>der</strong>en, wie sie an<strong>der</strong>e beobachten – und steht damit e<strong>in</strong>e Stufeüber ihnen. So nähert sich <strong>der</strong> Systemtheoretiker <strong>der</strong> Ebene des Systems zugleich epistemologischund ontologisch an: beobachtend identifiziert er sich, verschmilzt er mit den – im Autopoiesisgedankenvon ihrer machtpolitischen Bed<strong>in</strong>gtheit +gere<strong>in</strong>igten* – System-Strukturenund partizipiert so an <strong>der</strong> höheren +Wahrheit* des Systems, das durch se<strong>in</strong> Funktionieren,aus sich selbst heraus, vollständig legitimiert ersche<strong>in</strong>t. Dies freilich erfor<strong>der</strong>t die konsequenteAusblendung <strong>der</strong> gewaltvollen, unterdrückerischen Aspekte <strong>der</strong> rekursiv festgeschriebenenSystemstrukturen, die auch die eigenen Freiheiten und Denkräume (durch die Notwendigkeitabgrenzen<strong>der</strong> Differenzierungen) e<strong>in</strong>schränken.E<strong>in</strong>e solche, +metaphysisch-frei-schwebende* Beobachtung zweiter Ordnung als Reflexionsmodus<strong>der</strong> systemischen Vernunft verlangt aber nicht nur analytische +Akrobatik*, zw<strong>in</strong>gt zu immerneuen, fe<strong>in</strong>eren Differenzierungen, die immer neue Wi<strong>der</strong>sprüche erzeugen, die wie<strong>der</strong>ummit neuen Grenzziehungen bekämpft werden müssen, um die +system(at)ische* Ordnungnicht zu gefährden (vgl. auch Bauman: Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz; S. 15ff.). Sie stellt vielmehrzudem e<strong>in</strong>e – utopielose – +Kunst* im Dienst <strong>der</strong> Aktualität dar, die die Perspektive des Zentrumse<strong>in</strong>nimmt und den peripheren Blickw<strong>in</strong>kel, die Rän<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft ausklammert.so bemerkt denn Luhmann (ohne sich wahrsche<strong>in</strong>lich des offenbarenden Charakters dieserFormulierung bewußt zu se<strong>in</strong>), daß er <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Zentralperspektive <strong>in</strong> <strong>der</strong> bildendenKunst e<strong>in</strong>e Vorreiterfunktion für die Schärfung des beobachtenden Blicks sieht. Denn es wirdnun – durch die distanzierte Darstellung – erstmals möglich, die +H<strong>in</strong>tergründe* des Beobachtenswahrzunehmen (vgl. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft, S. 90ff.). Mit Schulte läßt sich allerd<strong>in</strong>gs(bildlich) aufzeigen: Luhmann vergißt, daß jede Beobachtung (also egal, ob es sich um e<strong>in</strong>eBeobachtung erster, zweiter o<strong>der</strong> gar dritter Ordnung handelt) aus <strong>der</strong> Perspektive e<strong>in</strong>esspezifischen Beobachter erfolgt – das gilt auch und gerade für Beobachtungen aus <strong>der</strong> Zentralperspektiveheraus (vgl. Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie; S. 213–226).Durch die Negierung dieser spezifischen (personalen) Perspektivik wird <strong>der</strong> systemtheoretischeBeobachter zum distanzierten +Voyeur*. Er ist von sich selbst wie von den an<strong>der</strong>en abgespalten– <strong>in</strong>dem er an<strong>der</strong>e und schließlich auch sich selbst objektiviert. So wird e<strong>in</strong>e +kalte*, unpersön-116Und


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 397liche, von <strong>der</strong> Systemlogik bestimmte Sichtweise möglich.117Entfremdung wird dementsprechendgeradezu idealisiert und als privilegierte Position des Erkennens dargestellt (vgl. Beobachtungen<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 22f. und siehe auch nochmals hier S. XL).118Der Beweggrund für diese deflexiveIdealisierung <strong>der</strong> Entfremdung ist, wie sich vermuten läßt, e<strong>in</strong>e +ontologische* Angst, die ausdem Getriebe <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne stammt. Diese Angst vor <strong>der</strong> Bodenlosigkeit, diedazu treibt nach neuen Gewißheiten und neuen Verankerungen zu suchen (siehe Abschnitt5.1.1), radikalisiert sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation, <strong>in</strong> <strong>der</strong> auch die verme<strong>in</strong>tlichen, durch gewaltvolleVere<strong>in</strong>heitlichung erkauften Sicherheiten <strong>der</strong> +e<strong>in</strong>fachen* Mo<strong>der</strong>ne erodieren.Der aktuelle E<strong>in</strong>deutigkeitsverlust wird <strong>in</strong> Luhmanns Ansatz zwar analytisch (auf e<strong>in</strong>em hohenNiveau) gespiegelt, <strong>in</strong>dem er Begriffen wie Autopoiesis und Kont<strong>in</strong>genz zentralen Stellenwerte<strong>in</strong>räumt (vgl. z.B. Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; Kap. III). Luhmanns Ansatz weist damitklare Bezüge zum Diskurs <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne auf (siehe auch Entrée, S. LXXIIIff.). Die Paradoxien<strong>der</strong> Autopoiesis werden jedoch so lange <strong>in</strong> Differenzierungen zugespitzt, bis sie sich – mittelsre-entry – selbst entparadoxieren (vgl. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 93ff.). Und diedurch die unüberschaubaren Nebenfolgen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung produzierte globale Unsicherheit,die sich <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelle Verunsicherungen übersetzt, wird im Rahmen <strong>der</strong> Systemtheorie zudem<strong>in</strong> Vergewisserungen über die Unaufhebbarkeit, die (evolutive) +Naturwüchsigkeit* diesesZustands aufgelöst (vgl. Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 145ff.). Es handelt sich so um e<strong>in</strong>eabwehrende Spiegelung, e<strong>in</strong>e ideologische Deflexion, die, wie oben herausgearbeitet wurde,grundlegend auf e<strong>in</strong>er objektivierenden Identifizierung mit dem System beruht.Der +Tod des Subjekts* wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hypostasierung des Systemgedankens ohne Trauer h<strong>in</strong>genommen.Auf diese Weise wird abgelenkt vom reflexiven, ebenso aufschlußreichen wie herausfor<strong>der</strong>ndenPotential <strong>der</strong> eigenen Ambivalenzen. Denn das reflektierende Subjekt ist potentiellgleichermaßen +fasz<strong>in</strong>iert* vom Funktionieren <strong>der</strong> +abstrakten Systeme* (Giddens), ist angetanvon den <strong>in</strong>dividuellen wie kollektiven Autonomiegew<strong>in</strong>nen, wie es angesichts <strong>der</strong> (<strong>in</strong> se<strong>in</strong>erWahrnehmung) verselbständigten Systemlogik mit Schrecken erfüllt wird. Konfrontiert mitdem ungeheuren +Momentum*, <strong>der</strong> aus Masse gewonnenen Macht des Systems, erfährt esdie eigene Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht schmerzvoll. Was mit <strong>der</strong> hermetischen +Poesie*des systemtheoretischen Funktionalismus virtuos überdeckt wird, ist ebendiese Angst vor demVerlust (<strong>der</strong> Bedeutung) des eigenen Ichs. Die Systemtheorie ist die angsterfüllte Metaphysikdes Systems.119Sie ist das notwendig falsche Bewußtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft, die sich als System


398 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEbegreift, und das kritische Subjekt elim<strong>in</strong>iert, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Strukturen verd<strong>in</strong>glichend aufgelösthat, um se<strong>in</strong>e/ihre +Funktionsfähigkeit* zu sichern. Die aufklärerische Erzählung <strong>der</strong> Autonomiedes Subjekts wird so ersetzt durch die Erzählung <strong>der</strong> Autonomie <strong>der</strong> Subsysteme.Doch welche politischen Konsequenzen impliziert diese deflexiv-ideologische Konstruktion?Wie ausgeführt, wurde Luhmann durch Habermas <strong>der</strong> Vorwurf gemacht, e<strong>in</strong>en sozialtechnologischenAnsatz zu verfolgen, <strong>der</strong> auf die bloße Bestandserhaltung des etablierten Systemsgerichtet ist. Diese E<strong>in</strong>schätzung mag so vielleicht für den frühen Luhmann gerechtfertigt gewesense<strong>in</strong>. Für die hier zugrunde gelegte Fassung <strong>der</strong> Luhmannschen Theorie, also nach dessen+autopoietischer Wende*, trifft <strong>der</strong> gemachte Vorwurf jedoch kaum noch <strong>in</strong> dieser Weise.Luhmanns Ansatz besitzt – auch wenn <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Rahmen Ambivalenzen ke<strong>in</strong>en Platz f<strong>in</strong>den– ambivalenten Charakter: Er ist zwar aus dem Blickw<strong>in</strong>kel des Systems formuliert. Es handeltsich aber primär, wie hoffentlich deutlich wurde, um e<strong>in</strong>e nur schwer zugängliche wissenschaftlicheNarration <strong>der</strong> +systemischen* Selbstvergewisserung. (Herrschafts-)Praktisch ist LuhmannsAnsatz gerade deshalb, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Hermetik und Konstruiertheit, kaum direkt umsetzbar/-operationalisierbar – was se<strong>in</strong>erseits zu diverser Kritik Anlaß gab (siehe unten). Es handeltsich folglich um e<strong>in</strong>e Kapitulation vor dem Faktischen, die nur als Ideologie, nicht als anwendbare+Sozialtechnologie* stützend für das bestehende System wirkt.Konkret bedeutet das: Die funktionalistische +Theorie* unterstützt praxologische Deflexionen(siehe Abschnitt 5.3.2) durch e<strong>in</strong>e Überbau-Konstruktion, die auf die Trennung <strong>der</strong> (Teil-)Systemeabhebt. Auf <strong>der</strong> Systemseite ist nämlich, wie bereits oben angesprochen wurde, (aufgrund<strong>der</strong> mit den Systemstrukturen verknüpften Interessen) immer eher e<strong>in</strong> Interesse am Erhalt,also an <strong>der</strong> Deflexion von herausfor<strong>der</strong>nden Reflexionen gegeben. Um das aber zu ermöglichen,muß das System erstens auf wirksame Rout<strong>in</strong>en zurückgreifen können, die H<strong>in</strong>terfragungenabsorbieren, und zweitens muß es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage se<strong>in</strong>, Probleme dadurch zu entschärfen, daßsie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Bereich verlagert werden (Übersetzung), so daß diese ihre spezifischeKontur und damit ihre Sprengkraft verlieren (Komplexitätsreduktion). Beides kann aber nurgel<strong>in</strong>gen, wenn verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t wird, daß (von den Betroffenen) e<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> für die übergreifendenZusammenhänge entwickelt wird. Der Funktionalismus hilft im Gedanken <strong>der</strong> Autonomie<strong>der</strong> Subsysteme ebendies zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Letztere ist zwar +praktisch* kaum gegeben (wiedie Analyse <strong>der</strong> sozialen Prozesse <strong>in</strong> den vorangegangenen Kapiteln zeigte), kann aber trotzdemals (ideologische) Grundlage für praxologische Übersetzungen genutzt werden.


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 399Die funktionalistische Theorie Luhmanns stützt so exakt <strong>in</strong> ihrer +Realitätsferne* das sozialpolitischeGehäuse und deckt sich gleichzeitig mit den deflektorischen Selbstbeschreibungendes Systems (Gewaltenteilung, unabhängige Gerichte etc.). Wollen also beispielsweise diepolitischen Akteure ihr System aufrecht erhalten, um ihre mit dem <strong>Politik</strong>system verknüpftenInteressen zu schützen, müssen sie es schaffen, den Ansche<strong>in</strong> zu erzeugen, daß ihre Entscheidungenunabhängig und re<strong>in</strong> nach politischen Gesichtspunkten getroffen werden, weil sichdas <strong>Politik</strong>system sonst <strong>in</strong> den Augen des Publikums delegitimieren würden. Das +greifbare*Resultat ist e<strong>in</strong> gespaltenes politisches Bewußtse<strong>in</strong>, das von den sozialen Zusammenhängenabstrahierend absieht und die konkreten sozialen Beziehungen (wie den solidarischen Zusammenhalt)aus dem Blickfeld verliert. Der gefor<strong>der</strong>te +Latenzschutz* schützt so alle<strong>in</strong>e die latentenMachtstrukturen, die +unangreifbar* werden, <strong>in</strong>dem sie aus dem politischen Horizont verschw<strong>in</strong>den.Zudem wird dem politischen Handeln e<strong>in</strong>e sehr enge Grenze gezogen – <strong>in</strong>dempolitische Übergriffe auf den Autonomiebereich <strong>der</strong> entfesselten Teilsysteme delegitimiertwerden. In die auf Statik bedachte Physik <strong>der</strong> Systeme darf nicht also e<strong>in</strong>gegriffen werden,ihre Selbstläufigkeit darf nicht h<strong>in</strong>terfragt werden.Das aber wi<strong>der</strong>spricht erstens e<strong>in</strong>em subpolitisch-metapolitischen <strong>Politik</strong>verständnis, das sichke<strong>in</strong>e Grenzen ziehen läßt und bewußt die Zusammenhänge des sozialen Systems reflektiert(siehe Abschnitt 5.2.1). Zweitens läuft die enge E<strong>in</strong>grenzung des Bereichs <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> auchdem <strong>Politik</strong>verständnis <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne zuwi<strong>der</strong>, das mit <strong>Politik</strong> noch langfristige Planungund (aktive) zentrale Steuerung verband. So stellt denn auch Walther Bühl fest:+Politisch sche<strong>in</strong>t die ›Autopoiesis‹ […] endlich den Weg für die ›reife Demokratie‹ und den ›post<strong>in</strong>dustriellenWohlfahrtsstaat‹ freizumachen, <strong>in</strong> dem spontane Selbstorganisation, Eigen<strong>in</strong>itiative und Eigenverantwortung[…] herrschen […] In dieser kurzschlüssigen und doch recht durchsichtigen Verb<strong>in</strong>dung von Wissenschaftsprogrammatikund politischer Beschönigung liegt aber auch die Verführung <strong>der</strong> ›Theorie <strong>der</strong> Autopoiesis‹,<strong>in</strong>dem sie de facto eben gerade nicht die ›aktive Eigenentwicklung‹ ermuntert, son<strong>der</strong>n den politischenAttentismus und Quietismus legitimiert. Ganz konkret gesehen wird damit doch die […] herrschendePlan- und Entscheidungslosigkeit, die Beschränkung des Zukunftshorizontes auf den nächsten Wahlterm<strong>in</strong>,<strong>der</strong> (allerd<strong>in</strong>gs weiterh<strong>in</strong> illusionäre) Rückzug des Staates aus <strong>der</strong> öffentlichen Verantwortung und diePropagierung <strong>der</strong> Deregulation mit e<strong>in</strong>er pompösen ›wissenschaftlichen‹ Rechtfertigung versehen […].*(Politische Grenzen <strong>der</strong> Autopoiese sozialer Systeme; S. 201f.)Dieses kritische Argument soll hier allerd<strong>in</strong>gs nicht <strong>in</strong> jener Richtung vertieft werden, diegrundsätzlich skeptisch gegenüber politischen Modellen <strong>der</strong> (subpolitischen) Selbstorganisation


400 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEe<strong>in</strong>gestellt ist. Der Akzent auf Selbstbezüglichkeit bzw. Selbstorganisation im System Luhmannsstellt aus reflexivem Blickw<strong>in</strong>kel gerade das – <strong>in</strong> jede Ideologie notwendig verwobene – Moment<strong>der</strong> (utopischen) Transzendenz dar.120Relativierend ist vielmehr anzumerken, wie auch Bühlrichtig erkennt, daß die Systemtheorie Luhmanns auf praktischer Ebene genau das Gegenteilför<strong>der</strong>t: Anstelle von politischer Selbstorganisation unterstützt sie e<strong>in</strong>e desillusionierte, resignierte,+<strong>fatal</strong>e* Haltung, die das Feld des politischen Handelns den Systemakteuren überläßt, währenddiese sich anstatt des Versuchs <strong>der</strong> politischen Gestaltung auf die Reproduktion ihres Subsystems(d.h. auf ihren Machterhalt und ihre Wie<strong>der</strong>wahl) konzentrieren.Dieser +Rückzug* aus <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> aus <strong>der</strong> Gesellschaft beruht auf e<strong>in</strong>er +abgeklärt*zynischen Haltung. Weil das Ganze aus dem Ru<strong>der</strong> läuft, weil globale Gefährdungen bestehen,die e<strong>in</strong>e Folge <strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>strumentellen Vernunft angetriebenen Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses<strong>in</strong>d, f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Versteifung auf spezifische Teilrollen (des Wissenschaftlers, des Technikers,des Beobachters) statt, die zum Zweck hat, diese Gefährdungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> bewußten E<strong>in</strong>engungdes Blicks zu verdrängen, um die Tragik <strong>der</strong> Umstände überhaupt aushalten zu können. Dazuaber muß <strong>der</strong> (Teil-)Rollenträger die Fähigkeit besitzen, sich von sich selbst zu distanzieren(siehe oben) und dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Art +Galgenhumor* entwickeln. Wir haben es also mit e<strong>in</strong>er neuenForm des Zynismus zu tun, die +diffusen* Charakter hat, e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Grundhaltung darstellt.Denn unter Zynismus kann aktuell, <strong>in</strong> Anlehnung an Peter Sloterdijk, e<strong>in</strong>e Haltung verstandenwerden, die (weniger naiv als die klassische Ideologiekritik) durch e<strong>in</strong>e hoch reflektierte undbewußte +Regungslosigkeit* gekennzeichnet ist. Die zynische Haltung bezweckt, die Depression,die sich aufgrund <strong>der</strong> Abgründigkeit <strong>der</strong> aktuellen Situation e<strong>in</strong>stellen müßte, zu verdrängen,um funktionsfähig zu bleiben (vgl. Kritik <strong>der</strong> zynischen Vernunft; Band 1, S. 33ff.).E<strong>in</strong> solcher +diffuser Zynismus* kann mitunter (und <strong>in</strong> bestimmten historischen Konstellationen)extreme Formen annehmen. E<strong>in</strong> Beispiel dafür ist Adolf Eichmann, <strong>der</strong> +willige* Vollstrecker<strong>der</strong> Judenvernichtung im +Dritten Reich*. Hannah Arendt war Beobachter<strong>in</strong> des Prozessesgegen Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem, <strong>der</strong> im Jahr 1961 stattfand. Sie schil<strong>der</strong>t <strong>in</strong> ihrem Bericht e<strong>in</strong>e+flache*, gefühllose, von sich selbst distanzierte Persönlichkeit, die versucht ihre Schuld dadurchzu verdrängen, daß sie sich auf die ihr zugeschriebene Rolle im System, auf den +Imperativ*<strong>der</strong> Pflichterfüllung zurückzieht (vgl. Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem; <strong>in</strong>sb. Kap. VII). Eichmann lösteden Konflikt, <strong>in</strong> dem er sich befunden haben mußte, <strong>in</strong>dem er sich mit dem (Vernichtungs-)-System, dessen Teil er war, identifizierte. Er konnte so nicht zum eigenen Fühlen f<strong>in</strong>den und


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 401dementsprechend auch ke<strong>in</strong>en empathischen Bezug zu denjenigen aufbauen, die <strong>der</strong> – imvollen Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenzen, aber ohne sich diese emotional zu vergegenwärtigen– <strong>in</strong> die Vernichtungslager schickte. Die Komplexität <strong>der</strong> Systemtheorie steht <strong>in</strong> dieser Beziehung<strong>der</strong> +Banalität des Bösen*, wie sie Arendt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Person Eichmanns beschreibt, sehr nahe. 121Und so bemerkt denn auch Luhmann bezeichnen<strong>der</strong>weise, daß <strong>der</strong> (systemtheoretische)Beobachter zweiter Ordnung offensichtlich +aus dem Hause Teufel* stammt, da er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enBeobachtungen Differenzen setzt und damit, wie <strong>der</strong> +gefallene Engel* Luzifer, die übergreifende,transzendente (soziale) E<strong>in</strong>heit zugleich verletzt und doch <strong>in</strong> diese – gewissermaßen auf transzendentalerEbene – aktiv <strong>in</strong>tegriert ist (vgl. Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 118ff.).Nur: Ist e<strong>in</strong>e solche +transzendentale*, abstrakte E<strong>in</strong>heit, die auf <strong>der</strong> Kälte <strong>der</strong> Beobachtungzweiter Ordnung aufsetzt, sozial h<strong>in</strong>reichend? Wie wird die Gesellschaft im Rahmen <strong>der</strong> Systemtheorievon e<strong>in</strong>er Gesellschaft +an sich* – als Summe <strong>der</strong> globalen Kommunikationprozesse– zu e<strong>in</strong>er Gesellschaft +für sich*? Hier haben wir es aus me<strong>in</strong>er Sicht mit e<strong>in</strong>em zentralenProblem des Ansatzes von Luhmanns zu tun. Zwar hat die Perspektive <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit <strong>in</strong> Trennungen,wie ausgeführt, +praktische* Vorteile für die Stabilisierung des Systems: Sie erlaubt deflektorischeÜbersetzungen und erleichtert die Etablierung praxologischer Verfahren. Jedoch unterstütztsie gerade dadurch zentrifugale Tendenzen. Die für die Deflexionsbemühungen des Systemvorteilhafte Annahme <strong>der</strong> Autonomie <strong>der</strong> Subsysteme verweist nämlich gleichzeitig (und dar<strong>in</strong>liegt e<strong>in</strong> weiteres Element ihrer selbstaufhebenden Transzendenz) auf das Problem <strong>der</strong> Integrationfunktional differenzierter Gesellschaften. Bloße strukturelle Kopplung dürfte schließlich kaumausreichen, um soziale E<strong>in</strong>heit (s<strong>in</strong>nvoll) zu +begründen*. Denn während noch Parsons von+normativen Universalien* als Grundlagen des sozialen Zusammenhalts ausg<strong>in</strong>g (siehe auchS. XX), so stellt sich bei Luhmann soziale E<strong>in</strong>heit +autopoietisch*, ohne Bezugnahme auf e<strong>in</strong>heitsstiftendeSemantiken her: Sie beruht, wie dargestellt, auf <strong>der</strong> Tatsache <strong>der</strong> bloßen Abgrenzungdes Systems gegenüber se<strong>in</strong>er Umwelt durch se<strong>in</strong>e (selbstgeschaffenen) Strukturen.Auch <strong>in</strong>nerhalb des funktionalistischen Diskurses wird das +Problem* sozialer E<strong>in</strong>heit allerd<strong>in</strong>gswahrgenommen – freilich aus e<strong>in</strong>er +radikal* konstruktivistischen Perspektive. Peter Fuchsbeispielsweise macht sich <strong>in</strong> dem Band +Die Erreichbarkeit <strong>der</strong> Gesellschaft* (1992) ausführlicheGedanken zur +Konstruktion und Imag<strong>in</strong>ation gesellschaftlicher E<strong>in</strong>heit*. In e<strong>in</strong>em ersten Schrittverweist er hier auf die Kont<strong>in</strong>genz und Verschiedenheit <strong>der</strong> existierenden Auffassungen bezüglichGesellschaft. Daß Gesellschaft E<strong>in</strong>heit benötigt, ist nach Fuchs nämlich nur e<strong>in</strong>e unter vielen


402 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEmöglichen Überzeugungen (vgl. S. 89f.). Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d die somit kont<strong>in</strong>genten E<strong>in</strong>heitssemantiken,als (kommunikativ vermittelte) Reaktion auf kommunikative Turbulenzen, für die Stabilitätvon Gesellschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em hohen Maß för<strong>der</strong>lich, denn sie +dienen dem Zweck […] Irritationsstößeunter dem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Kompossibilität aller Funktionssysteme abzufe<strong>der</strong>n* (ebd.;S. 98). Trotz des Konstruktcharakters ist gesellschaftliche E<strong>in</strong>heit also gemäß Fuchs e<strong>in</strong> relevantesThema soziologischer +Beobachtung* – und sozial ebenso funktional wie die Annahme <strong>der</strong>Trennung <strong>der</strong> Teilsysteme. 122Helmuth Willke stellt im Rahmen se<strong>in</strong>er staatstheoretischen Überlegungen dagegen eher dieProblematik <strong>der</strong> zunehmenden Partikularität von sozialen E<strong>in</strong>heitsentwürfen <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Realität*<strong>der</strong> funktional differenzierten Gesellschaft dar:+Der Primat funktionaler Differenzierung als Strukturpr<strong>in</strong>zip gesellschaftlicher Selbstorganisation ist stabilisiertbis <strong>in</strong> die verfassungsrechtliche Absicherung <strong>der</strong> jeweiligen Autonomieräume h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>; je<strong>der</strong> Bereich hatse<strong>in</strong>e exklusiven Relevanzen und Zuständigkeiten bei gleichzeitigem gesellschaftsweit <strong>in</strong>kludierendem Beobachtungshorizont,so daß aus <strong>der</strong> Dialektik von Exklusion und Inklusion die e<strong>in</strong>fache E<strong>in</strong>heit von Gesellschaftverschw<strong>in</strong>det und aufgehoben wird <strong>in</strong> den je separaten E<strong>in</strong>heitsentwürfen aus <strong>der</strong> je spezifischen Sicht<strong>der</strong> Teilsysteme. Für jedes Teilsystem gibt es dann zwar e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Gesellschaft, aber gerade deshalbke<strong>in</strong>e übergreifende, für alle Teile verb<strong>in</strong>dliche E<strong>in</strong>heit des Ganzen.* (Ironie des Staates; S. 43)Aus diesem +E<strong>in</strong>heitsverlust* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong> zentrifugalen Dynamik funktionaler Differenzierungerwächst für Willke die Tragik des mo<strong>der</strong>nen Staates. Denn die ihm zugeschriebene Aufgabeist es schließlich, e<strong>in</strong>e übergreifende E<strong>in</strong>heit herzustellen und zugleich die Autonomie <strong>der</strong>Subsysteme zu gewährleisten. Um diese Tragik zu überw<strong>in</strong>den, hilft nur die (hier zynische)Tugend <strong>der</strong> Ironie, d.h. Fremdzwang muß, wie Willke <strong>in</strong> Anlehnung an Elias bemerkt (sieheauch S. XXXV), <strong>in</strong> Selbstzwang umgewandelt werden. Aus dem +iron cage* Webers kannso angeblich e<strong>in</strong> (weniger e<strong>in</strong>engen<strong>der</strong>) +ironic cage* werden (vgl. ebd.; S. 327ff.). 123Das Problem <strong>der</strong> sozialen Integration ist durch die +ironische* Selbstb<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> autonomenTeilsysteme jedoch kaum überzeugend gelöst, denn sie ist unverb<strong>in</strong>dlich. Vielversprechen<strong>der</strong>s<strong>in</strong>d diesbezüglich die Überlegungen von Bernd Peters, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e vermittelnde Position zwischenKritischer Theorie und Funktionalismus e<strong>in</strong>nimmt: Bei <strong>der</strong> +Integration mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften*(1993) greifen nach Peters <strong>in</strong>tentionale und nicht<strong>in</strong>tentionale Vergesellschaftungsmechanismen<strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> (vgl. S. 311), wobei auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> <strong>in</strong>tentionalen Vergesellschaftungsmechanismenspeziell Koord<strong>in</strong>ation (also Steuerung, Intervention und Umverteilungen etc.), normative


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 403Integration (Recht/Rechtsverfahren) sowie die Generierung e<strong>in</strong>er expressiven Geme<strong>in</strong>schaft(Rekurs auf <strong>in</strong>tegrative Symbole) zu nennen s<strong>in</strong>d (vgl. ebd.; S. 355ff.). Im Rahmen e<strong>in</strong>er aufdieser Basis <strong>in</strong>tegrierten Gesellschaft gibt es nun zwar tatsächlich e<strong>in</strong>e Verselbständigung <strong>der</strong>Eigenlogiken <strong>der</strong> Teilsysteme – was überdies durchaus kritisch betrachtet werden kann (vgl.ebd; S. 312ff). Allerd<strong>in</strong>gs muß die Autonomisierung <strong>der</strong> Teilsysteme nach Peters nicht immer+pathologisch* se<strong>in</strong> und <strong>der</strong> Lebenswelt den Boden entziehen. Vielmehr ist im +Zusammenspiel*von Peripherie und Zentrum die Peripherie nicht von vorne here<strong>in</strong> den E<strong>in</strong>griffen des Zentrumshilflos ausgeliefert, son<strong>der</strong>n besitzt e<strong>in</strong>e eigenständige, dezentrale Macht, auf die gebaut werdenkann und soll (vgl. ebd.; S. 340ff.).Tauchen <strong>in</strong> diesem Zusammenspiel (o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>weitig) Probleme auf, so gibt es für das politischbürokratischeSystem (als +Machtzentrum*), nun grundsätzlich zwei verschiedene Modi, diesezu meistern: Beim problemorientierten Modus wird reflexiv verfahren, da <strong>in</strong> diesem Modusdie von <strong>der</strong> Peripherie an das Zentrum übermittelten Probleme nicht negiert, son<strong>der</strong>n bewußtwahrgenommen werden und e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive (reflexiv-diskursive) Suche nach Lösungen undAlternativen <strong>in</strong>itiiert wird (vgl. ebd.; S. 348f.). Im Rout<strong>in</strong>emodus wird h<strong>in</strong>gegen auf bewährteMuster zurückgegriffen. +Die Kehrseite dieses Rout<strong>in</strong>emodus ist e<strong>in</strong> Arsenal von Mechanismen,durch welche Probleme latent gehalten o<strong>der</strong> verdrängt werden o<strong>der</strong> durch welche ihre Thematisierungund Analyse verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t wird […]* (Ebd.; S. 347)124Gemäß dieser Charakterisierungdurch Peters entspricht <strong>der</strong> Rout<strong>in</strong>emodus also klar e<strong>in</strong>er deflexiven Haltung und Vorgehensweise:Im unreflektierten Beharren auf gewohnten Handlungsweisen und festgeschriebenen, ver<strong>in</strong>nerlichtenRout<strong>in</strong>en werden mögliche Reflexionen abgelenkt. Solche Praxologien stellen diepraktische Entsprechung von Ideologien auf <strong>der</strong> Handlungsebene dar. Mit ihnen beschäftigtsich <strong>der</strong> folgende Abschnitt näher:5.3.2 DIE BEGRENZUNG DES (POLITISCHEN) HANDELNS DURCH DEFLEKTORISCHE ÜBERSETZUNGENUND PRAXOLOGISCHE RITUALEDurch die ideologische Deflexion mittels <strong>der</strong> funktionalistischen Theoriekonstruktion <strong>der</strong>Trennung <strong>der</strong> Teilsysteme erfolgt, wie oben detailliert ausgeführt wurde, potentiell e<strong>in</strong>e Spaltungdes politischen Bewußtse<strong>in</strong>s: Indem die Trennungsperspektive e<strong>in</strong>genommen und das politischeDenken <strong>in</strong> die Bahnen <strong>der</strong> Teilsystemlogik(en) kanalisiert wird, kann ke<strong>in</strong> umfassendes politischesBewußtse<strong>in</strong> mehr erlangt werden. Diese Ideologie <strong>der</strong> Trennung könnte jedoch nicht wirksam


404 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEund auch nicht <strong>in</strong> dieser Form gedacht werden, wenn sie nicht e<strong>in</strong>e (materielle) Grundlageund Abstützung <strong>in</strong> Praxologien haben würde, die zur +schizophrenen Trübung* des politischenBewußtse<strong>in</strong>s ebenso beitragen wie sie den politischen Handlungsrahmen e<strong>in</strong>grenzen.Der Begriff <strong>der</strong> +Praxologie* me<strong>in</strong>t dabei <strong>in</strong> Analogie zum Ideologiebegriff e<strong>in</strong> notwendigfalsches Se<strong>in</strong> im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er +tätigen* Ausblendung und Ablenkung von Reflexionen. Er stehtfolglich – trotz <strong>der</strong> (phonetischen) Nähe – im expliziten (semantischen) Gegensatz zu dem<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em üblichen Gebrauch an <strong>der</strong> ökonomischen Logik orientierten und von Esp<strong>in</strong>as geprägtenBegriff <strong>der</strong> +Praxeologie* als Lehre vom rational-strategischen Entscheidungs-Handeln (sieheauch Anmerkung 90, Kap. 2). Se<strong>in</strong>er Intention nach sympathisiert das hier entworfene Praxologie-Konzept allerd<strong>in</strong>gs durchaus mit <strong>der</strong> reflexiven, e<strong>in</strong>er kritischen Gesellschaftstheorie verpflichtetenPraxeologie Pierre Bourdieus.125Denn Bourdieu versucht e<strong>in</strong>e Vermittlung zwischen den fürsich alle<strong>in</strong>e genommen reduktionistischen Sichtweisen des Objektivismus und des Subjektivismus.Dabei stützt er sich auf die Analyse des +sense pratique*: jene nicht alle<strong>in</strong>e durch den Rekursauf die +objektiven* Strukturen, son<strong>der</strong>n nur durch die gleichzeitige Wahrnehmung <strong>der</strong> Macht<strong>der</strong> subjektiven wie kollektiven Symbolwelten entschlüsselbare Logik <strong>der</strong> sozialen Praktiken(vgl. Sozialer S<strong>in</strong>n; S. 49ff.). E<strong>in</strong>e <strong>fatal</strong>e Seite <strong>der</strong> sozialen Praktiken unserer Gesellschaft bestehtnun allerd<strong>in</strong>gs dar<strong>in</strong>, daß durch ihre untergründigen Vernetzungen und Verhärtungen dieArtikulation von Interessen und Praktiken verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t wird, die das bestehende Machtfelde<strong>in</strong>grenzen o<strong>der</strong> überschreiten (vgl. auch <strong>der</strong>s.: Praktische Vernunft; S. 48ff.).Diese auf <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> Handlung beruhende Deflexion von Reflexionen kann gewollt se<strong>in</strong>und – durch die Schaffung und Aufrechterhaltung von e<strong>in</strong>engenden Handlungszusammenhängen– bewußt zur Unterdrückung von reflexiven Impulsen e<strong>in</strong>gesetzt werden. Die stabilisierteLatenz reflexiver Impulse kann aber auch, was den Regelfall darstellen dürfte, nur auf +Trägheitsmomenten*beruhen. Das praxologische Handeln stellt, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> diesem Fall,eigentlich e<strong>in</strong> Handeln ohne Handlungscharakter dar. Das bedeutet: Ihm fehlt das für e<strong>in</strong>+wirkliches* (sozial-politisches) Handeln me<strong>in</strong>es Erachtens unabd<strong>in</strong>gliche reflexiv-bewußte,<strong>in</strong> re-aktiver Spiegelung auf die soziale Umwelt bezogene Element.126Als praxologisch wärenalso demgemäß Praktiken sowie Handlungssysteme zu bezeichnen, die – gewollt o<strong>der</strong> ungewollt– auf e<strong>in</strong>e (unkritische) Stabilisierung gegebener Strukturen h<strong>in</strong>auslaufen. Und so wie reflexivesBewußtse<strong>in</strong>, im Rahmen e<strong>in</strong>er kritisch-dialektischen Gesellschafts-Theorie, dem deflexiv-ideologischenBewußtse<strong>in</strong> gegenübersteht, so steht das praxologische Handeln – als Entsprechung


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 405<strong>der</strong> ideologischen Deflexion auf <strong>der</strong> Handlungsebene – dem (auf Verän<strong>der</strong>ung gerichteten)reflexiven Handeln gegenüber (siehe auch nochmals Tabelle 13).Doch <strong>in</strong> welchem Verhältnis stehen Ideologie und Praxologie ihrerseits? – Das Verhältnisvon Ideologie und Praxologie ist, wie schon oben angedeutet wurde, durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensiveWechselbeziehung geprägt, da die Handlungsebene nicht von <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>seben geschiedenwerden kann (siehe auch Abschnitt 5.4): E<strong>in</strong>erseits stellen Praxologien praktisch geronnene,<strong>in</strong> ver<strong>in</strong>nerlichten Handlungsmustern manifest gewordene Ideologien dar. An<strong>der</strong>erseits s<strong>in</strong>dIdeologien <strong>der</strong> Ausdruck und die gedankliche Festschreibung <strong>der</strong> sozialen Praktiken. Zudemfußt jede Ideologie notwendig auf praxologischen Verankerungen, d.h. sie muß <strong>in</strong> e<strong>in</strong> praktischesSystem +übersetzt* werden. Ohne solche Übersetzungen <strong>in</strong> Rout<strong>in</strong>en würden Ideologienwirkungs- und +gewichtslos* bleiben.Die +Schlüsselstellung* von praktischen (und vor allem d<strong>in</strong>glichen) Übersetzungen für dieUmsetzung von +Programmen* hat – im Rahmen <strong>der</strong> Techniksoziologie – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dieAkteur-Netzwerktheorie herausgestellt (vgl. z.B. Latour: Technology Is Society Made Durableund siehe auch hier S. 132). Die zentrale Bedeutung von (d<strong>in</strong>glich-)praktischen Übersetzungengilt me<strong>in</strong>es Erachtens jedoch <strong>in</strong> ähnlicher Weise auch für sozial-politische Programme bzw.Ideologien. In diesem Zusammenhang kann man sich auch auf Michel Foucault beziehen.Jener stellt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Band +Überwachen und Strafen* (1975) ausführlich dar, wie im Zuge<strong>der</strong> Durchsetzung des aufklärerischen Machtapparats e<strong>in</strong> System <strong>der</strong> +Diszipl<strong>in</strong>en* die Körperergreift: +Es handelt sich*, so Foucault, +immer um m<strong>in</strong>utiöse, oft um unsche<strong>in</strong>bare Techniken,die aber ihre Bedeutung haben. Denn sie def<strong>in</strong>ieren e<strong>in</strong>e bestimmte politische und detaillierteBesetzung des Körpers, e<strong>in</strong>e neue ›Mikrophysik‹ <strong>der</strong> Macht.* (S. 178) Mit <strong>der</strong> Diszipl<strong>in</strong> ver<strong>in</strong>nerlichtsich nämlich die Macht und schreibt sich den Menschen – durch den Zwang <strong>der</strong>räumlichen Strukturen, rigide (Arbeits-)Zeitpläne und militärische Körperübungen etc. – physische<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 173–219).Solche (diszipl<strong>in</strong>ierenden) Praxologien s<strong>in</strong>d nach me<strong>in</strong>em Verständnis durch ihre verdecktwirkende, untergründige Macht weit +effektiver* als die von vorne here<strong>in</strong> auf die Bewußtse<strong>in</strong>sebenezielenden (und damit latent reflexiven) Ideologien. Während im Kontext reflexiverVerän<strong>der</strong>ungsprozesse kritisches Bewußtse<strong>in</strong> die Voraussetzung für die (notwendige) aktiveUmgestaltung <strong>der</strong> Praxis darstellt, gilt im Kontext <strong>der</strong> Deflexion, daß die <strong>in</strong> ihrer Praxis immerweiter verfestigten und damit +fraglos* gewordenen Praxologien die gleichsam materielle Voraus-


406 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEsetzung für die deflexive Macht <strong>der</strong> Ideologien bilden.127Wenn es um reflexive Prozessegeht, wird also von <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> – nicht-dialektischen – Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierungzu Recht primär auf die Bewußtse<strong>in</strong>sseite abgestellt (vgl. z.B. Beck: Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen?).Da jedoch die deflexiven Gegentendenzen zu reflexiven Momenten <strong>in</strong> dieser +e<strong>in</strong>fachen*Fassung ohneh<strong>in</strong> weitgehend aus dem Bezugsrahmen fallen (siehe S. 317ff.), wird folglichdie konformierende Macht vor allem <strong>der</strong> Praxologien systematisch unterschätzt bzw. alsunproblematisch o<strong>der</strong> gar als +produktiv* erachtet. Auch das <strong>in</strong> Rout<strong>in</strong>en verankerte Handelnim praktischen Bewußtse<strong>in</strong>, das Giddens vom (diskursiv) bewußten Handeln abgrenzt unddas nach ihm vertrauensvolle Interaktion <strong>in</strong> Systemzusammenhängen überhaupt erst ermöglicht(siehe zurück zu S. 379f.), hätte also, um es nochmals zu betonen, gemäß <strong>der</strong> hier vertretenkritisch-dialektischen Sicht e<strong>in</strong>e klar deflexiv-praxologische Komponente: Denn <strong>in</strong>dem dieRout<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Rout<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>en vorbewußten Zustand stabilisiert, wird nicht nur das Individuum– handelnd – <strong>in</strong>s System <strong>in</strong>tegriert, son<strong>der</strong>n die Erlangung e<strong>in</strong>es reflexiven (diskursiven) Bewußtse<strong>in</strong>swird hierdurch +aktiv* beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t.Schon die +banalen* alltäglichen +Interaktionsrituale* (Goffman 1967) wirken auf diese Weise+<strong>in</strong>tegrativ*. Sie unterdrücken e<strong>in</strong>e kritische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit den ihnen zugrundeliegenden Normstrukturen wirkungsvoll eben durch ihre +Praxis*. Soziale Interaktion ist nämlichhochgradig an latente, unbewußte Regeln gebunden, die das <strong>in</strong>dividuelle Handeln nicht nuran den sozialen Erwartungshorizont anpassen, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>en verpflichtenden Charakterhaben. Dieser Verpflichtungscharakter des sozialen Handelns sche<strong>in</strong>t jedoch nur selten auf:+Weil Verpflichtungen den Zwang zu e<strong>in</strong>er bestimmten Handlung zur Folge haben*, so Goffman,+stellen wir sie uns manchmal als lästige und verdrießliche D<strong>in</strong>ge vor, die – wenn überhaupt– zähneknirschend mit bewußter Entschlossenheit erfüllt werden. Tatsächlich aber werdendie meisten Handlungen, die durch Verhaltensregeln geregelt werden, gedankenlos ausgeführt.Der darauf angesprochene Handelnde sagt, er handle so ›ohne beson<strong>der</strong>en Grund‹ o<strong>der</strong>weil ihm ›gerade danach war‹. Nur wenn se<strong>in</strong> rout<strong>in</strong>isiertes Handeln gegen e<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>standstößt, kann er entdecken, daß se<strong>in</strong>e neutralen kle<strong>in</strong>en Handlungen bisher alle mit den Normense<strong>in</strong>er Gruppe übere<strong>in</strong>stimmten […]* (S. 56f.)Die Internalisierung <strong>der</strong> gesellschaftlichen (Norm-)Strukturen erfolgt also auf e<strong>in</strong>e untergründigeWeise. Sie fußt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf den oben angesprochenen Rout<strong>in</strong>en und <strong>in</strong>stitutionalisiertenHandlungszusammenhängen, die mit ihrem kritische Reflexionen absorbierenden +Momentum*


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 407e<strong>in</strong>e wirksame, auf +Trägheiten* beruhende – teils bewußte, teils unbewußte – normierendeMacht ausüben.128Auch und gerade die Institutionen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft stellen durchihre +variabel verfestigten* Strukturen, welche – trotz großer +Freiräume* – e<strong>in</strong>e reflexiveAbweichung vom e<strong>in</strong>geschlagenen Kurs tatsächlich kaum erlauben, zu e<strong>in</strong>em hohen Gradpraxologische Handlungssysteme dar. Bei ihnen steht nämlich oft weniger die Erfüllung <strong>der</strong>ihnen zugrunde liegenden Funktionen im Vor<strong>der</strong>grund, als vielmehr ihre bloße Selbstreproduktion(vgl. politikbezogen auch Edelman: <strong>Politik</strong> als Ritual; Kap. 3).Die auf Selbstreproduktion zielenden Institutionen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft werden zware<strong>in</strong>erseits permanent reflexiv h<strong>in</strong>terfragt – was sie zu Adaptionen zw<strong>in</strong>gt und ihnen damithäufig sogar e<strong>in</strong>en – temporären – Stabilitätsgew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt. Solche zumeist begrenztenReflexion können erfolgen, weil die Institutionen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Konkurrenzverhältnis (z.B. umf<strong>in</strong>anzielle Ressourcen) stehen und sich so gegenseitig zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad <strong>in</strong> Frage stellen.+Kritische* Reflexionen werden jedoch vor allem dadurch ausgelöst, daß die Institutionenvon den Individuen als außerhalb <strong>der</strong> eigenen Lebenswelt situierte +Fremdkörper* wahrgenommenwerden: +Die Institutionen stehen dem Individuum als objektive Faktizität unabweisbargegenüber. Sie s<strong>in</strong>d da, außerhalb <strong>der</strong> Person, und beharren <strong>in</strong> ihrer Wirklichkeit, ob wirsie leiden mögen o<strong>der</strong> nicht.* (Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion <strong>der</strong> Wirklichkeit;S. 64). Durch diese +objektive* Distanz <strong>der</strong> Institutionen zur <strong>in</strong>dividuellen Lebensweltentsteht e<strong>in</strong> kont<strong>in</strong>genter (d.h. unbestimmter und zugleich begrenzter) Reflexionsraum, <strong>der</strong>auch e<strong>in</strong>e transzendierende Bewegung <strong>in</strong>itiieren kann (siehe auch Exkurs).Die Gesellschaft ist jedoch nicht nur im +objektiven* und damit – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Negation – potentielleReflexionsräume eröffnenden Außen, son<strong>der</strong>n weist tiefe Verankerungen im Innen auf. Diese+Innerlichkeit* <strong>der</strong> sozialen (Rollen-)Muster sowie <strong>der</strong> Institutionen, entsteht im Prozeß <strong>der</strong>sekundären Sozialisation: +Die sekundäre Sozialisation erfor<strong>der</strong>t das Sich-zu-eigen-Machene<strong>in</strong>es jeweils rollenspezifischen Vokabulars. Das wäre e<strong>in</strong>mal die Internalisierung semantischerFel<strong>der</strong>, die Rout<strong>in</strong>eauffassung und -verhalten auf e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>stitutionalen Gebiet regulieren.Zugleich werden die ›stillen Voraussetzungen‹, Wertbestimmungen und Affektnuancen diesersemantischen Fel<strong>der</strong> miterworben.* (Ebd.; S. 149) Mit <strong>der</strong> sekundären Sozialisation, die <strong>in</strong><strong>der</strong> aus-übenden E<strong>in</strong>schreibung <strong>der</strong> sozialen Handlungs-Muster zu e<strong>in</strong>em (klassen-)spezifischenHabitus führt (vgl. auch Bourdieu: Sozialer S<strong>in</strong>n; S. 98ff.), geschieht demnach auch e<strong>in</strong>e wirksameE<strong>in</strong>engung <strong>der</strong> Reflexionsräume durch die Bedeutungsrahmen <strong>der</strong> ver<strong>in</strong>nerlichten semantischen


408 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEFel<strong>der</strong> (die gleichzeitig e<strong>in</strong>e Form symbolischen Kapitals darstellen). Abgesteckt werden diesee<strong>in</strong>engenden wie +machtvollen* semantischen Fel<strong>der</strong> bzw. Symbolaggregate <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>edurch soziale Milieus und die b<strong>in</strong>ären Codes <strong>der</strong> Funktionssysteme, die erstens ke<strong>in</strong>e Zwischenwertezulassen und Abweichungen von ihrer Semantik zweitens mit e<strong>in</strong>em Ausschluß sanktionieren.Diese ausschließende Rigidität <strong>der</strong> systemspezifischen Codes ist aus Systemsicht erfor<strong>der</strong>lich,da alternative Codes die Operationsgrundlage des Systems untergraben würdenund deshalb mit allen Mitteln abgewehrt werden müssen.Die Deflexion alternativer Codes (reflexiver Gegenerzählungen) gel<strong>in</strong>gt am leichtesten durchdie Anwendung des eigenen Codes (autopoietische Stabilisierung). E<strong>in</strong>e zentrale Praxologie,die aber gleichzeitig ideologischen Charakter hat, ist deshalb auch die (Fach-)Sprache. Dennihre Begriffe und Strukturen etablieren e<strong>in</strong>e +mythologische* Metasprache, die S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> Formüberführt (vgl. Barthes: Mythen des Alltags; S. 115ff. und siehe auch nochmals Anmerkung105). Sie legen fest, was gedacht und was <strong>in</strong> <strong>der</strong> kommunikativen Praxis geäußert werdenkann.129Sprachkonventionen bzw. diskursive Rout<strong>in</strong>en haben folglich <strong>in</strong> diesem doppeltenCharakter als Ideologien und Praxologien e<strong>in</strong>en das Denken und die mit diesem Denkenkorrelierende Praxis stark ordnend-e<strong>in</strong>schränkenden Charakter (vgl. Saussure: Grundfragen<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Sprachwissenschaft sowie Foucault: Die Ordnung des Diskurses).130Sowohl<strong>in</strong> <strong>der</strong> rout<strong>in</strong>isierten Interaktion <strong>in</strong>nerhalb des Systemrahmens wie durch se<strong>in</strong>e Sprachregelnwerden also Reflexionen abgelenkt, entsteht e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionalisierte und kommunizierendverfestigte +Fraglosigkeit* (vgl. auch Beck: Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; S. 102ff.). DieseKanalisierung reicht, wie schon oben angedeutet wurde, bis <strong>in</strong> den emotionalen Bereich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>:Die vielfältige und ambivalente Gefühlswelt des Subjekts wird überformt durch den vere<strong>in</strong>heitlichenden,konformierenden Zwang <strong>der</strong> praxologisch ver<strong>in</strong>nerlichten Strukturen.Neben den bereits angesprochenen Praxologien <strong>der</strong> Diszipl<strong>in</strong>, <strong>der</strong> alltäglichen Rout<strong>in</strong>e (mitihren e<strong>in</strong>engenden Rollenmustern), des <strong>in</strong>stitutionellen Handlungssystems und <strong>der</strong> sprachlichenKonvention gibt es noch weitere wichtige praxologische +Mechanismen*, die deflektorischauf reflexive Impulse wirken: Die bürokratisch-juristischen Verfahren, die e<strong>in</strong>e rituelle Form<strong>der</strong> Konfliktlösung darstellen, s<strong>in</strong>d eng mit den <strong>in</strong>stitutionellen Praxologien verknüpft (sieheauch unten). Ihre festgelegten Regeln und Abläufe erzeugen Verläßlichkeit und (Rechts-)Sicherheit– und unterstützen den Glauben an die neutrale, <strong>in</strong> rationalen Grundsätzen begründete +Gerechtigkeit*des <strong>in</strong>stitutionellen Systems <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft. Tatsächlich begrenzen Verfahren


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 409Tabelle 14: Das deflektorische System <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>Translatorische Deflexion:(systemübergreifend)Ökonomische Deflexion:(<strong>Politik</strong>–Wirtschaftssystem)Rechtliche Deflexion:(<strong>Politik</strong>–Rechtssystem)Wissenschaftlich Deflexion:(<strong>Politik</strong>–Wissenschaftssystem)Dramaturgische Deflexion:(<strong>Politik</strong>–Öffentlichkeitssystem)Symbolische Deflexion:(<strong>Politik</strong>–Kultursystem)zentrale Ideologie(n):Autonomie <strong>der</strong> SubsystemeFreie Marktwirtschaft,+<strong>in</strong>visible hand*Gewaltenteilung,unabhängige JudikativeWissenschaftliche ObjektivitätNeutrale Medienberichterstattung,+Augensche<strong>in</strong>*Nationale E<strong>in</strong>heit/Wertegeme<strong>in</strong>schaftzentrale Praxologie(n):ÜbersetzungKonsumRechtsverfahrenExpertiseMedien<strong>in</strong>szenierung,politische RitualeGeschichtsschreibung,(National-)Spracheaber gerade <strong>in</strong> ihren e<strong>in</strong>e gewisse Kalkulierbarkeit erzeugenden Festlegungen alternative, situationsangepaßteKonfliktlösungen und dienen primär <strong>der</strong> Absorption von Protesten – woraufauch Luhmann h<strong>in</strong>weist (siehe nochmals S. 101).Die vielleicht wichtigste Praxologie stellt aber das (wie<strong>der</strong>um an die sprachlichen Rout<strong>in</strong>engekoppelte) systemübergreifende Instrument <strong>der</strong> Übersetzung von Diskursen dar. Mit demMittel <strong>der</strong> Übersetzung wird auf die funktionalistische Ideologie <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Subsystemezurückgegriffen, um gleichzeitig e<strong>in</strong>e deflektorische Verb<strong>in</strong>dung zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Systemenzu schaffen – die aber freilich nur als +Verkettung* möglich ist (vgl. Lyotard: Der Wi<strong>der</strong>streit;Nr. 78). Es werden zum Zweck <strong>der</strong> Deflexion also nicht nur Ideologien <strong>in</strong> Praxologien übersetzt(siehe oben), son<strong>der</strong>n Übersetzung selbst ist e<strong>in</strong>e zentrale Praxologie, wobei Probleme, die<strong>in</strong> <strong>der</strong> Diskursart (+b<strong>in</strong>ärer Code*) des e<strong>in</strong>en (Teil-)Systems nicht befriedigend +gelöst* werdenkönnen, durch die Übertragung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e +fremde* Diskursart entschärft werden. Der reflexiveund semantische Übersetzungsverlust, <strong>der</strong> hierdurch entsteht, wird ausgeglichen durch deflektorischeGew<strong>in</strong>ne (siehe auch nochmals S. 114).Das Instrument <strong>der</strong> translatorischen Deflexion ist durch die mit ihr bewirkte Schaffung von(latenten) Querverb<strong>in</strong>dungen ganz beson<strong>der</strong>s für die <strong>Politik</strong> als – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wahrnehmungdes Publikum und gemäß ihrer Selbstdef<strong>in</strong>ition – +steuerndes* Zentrum relevant. Die <strong>Politik</strong>kann jedoch im Zusammenspiel mit an<strong>der</strong>en Subsystemen noch auf e<strong>in</strong>e Reihe weiterer (jeweils


410 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEfür diese Systeme spezifische) Deflexionsmodi zurückgreifen (siehe auch Tabelle 14): ÖkonomischeDeflexion beruht zum e<strong>in</strong>en auf <strong>der</strong> <strong>in</strong>tegrativen Macht des Konsums <strong>in</strong> <strong>der</strong> umverteilendenGesellschaft des <strong>in</strong>dustriellen Wohlfahrtsstaats (praxologisches Zuckerbrot). Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>enSeite fußt sie auf <strong>der</strong> liberalistischen Ideologie <strong>der</strong> freien Marktwirtschaft und <strong>der</strong> aus ihrabgeleiteten These vom Zwang zur Anpassung an die Marktgesetze <strong>der</strong> Konkurrenz (ideologischePeitsche), welche durch die stattf<strong>in</strong>denden Globalisierungsprozesse zusätzlichen Auftrieb erhält.Im Kontext <strong>der</strong> rechtlichen Deflexion wird primär auf die schon oben angesprochene zentralePraxologie des (Rechts-)Verfahrens zurückgegriffen, die es ermöglicht, politische (Streit-)Fragen<strong>in</strong> entschärfende juristische Diskurse zu übersetzen. Mit <strong>der</strong> Praxologie des Rechtsverfahrenskorrespondiert die Ideologie des gewaltenteiligen Verfassungsstaats und <strong>der</strong> unabhängigenJustiz. Die ideologische +Grundlage* <strong>der</strong> wissenschaftlichen Deflexion besteht analog <strong>in</strong> <strong>der</strong>Annahme wissenschaftlicher Unabhängigkeit und Objektivität. Sie wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxologie wissenschaftlicherExpertisen von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> deflektorisch genutzt. Im Rahmen <strong>der</strong> dramaturgischenDeflexion versucht die <strong>Politik</strong> sich durch expressive Inszenierungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit darzustellen.Diese politischen +Rituale* (wie z.B. Vereidigungszeremonien) und die Permanenz <strong>der</strong>politischen Präsenz <strong>in</strong> den Medien erzeugen Vertrautheit und Vertrauen. Abgestützt wirddiese <strong>in</strong>tegrative Erzeugung von +Handlungssche<strong>in</strong>* (Meier) durch die Ideologie <strong>der</strong> objektivenund neutralen (Medien-)Berichterstattung sowie <strong>der</strong> verbreiteten Annahme, daß <strong>der</strong> +Augensche<strong>in</strong>*nicht trügen kann.131Symbolische Deflexion, die eng mit <strong>der</strong> dramaturgischen Deflexionverknüpft ist, erfolgt primär mit dem Mittel <strong>der</strong> (historischen) Erzählung und <strong>der</strong> Herrschaftüber die Sprache sowie die kulturellen Symbolwelten.132Ihr liegt die Ideologie <strong>der</strong> nationalenE<strong>in</strong>heit und <strong>der</strong> sozial-kulturellen Wertegeme<strong>in</strong>schaft zugrunde. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Deflexionbeson<strong>der</strong>s auf <strong>der</strong> kulturell-sozialstrukturellen Ebene enge Grenzen gesetzt. Ersche<strong>in</strong>ungensozialer Des<strong>in</strong>tegration und kultureller Pluralisierung s<strong>in</strong>d weit fortgeschritten und könnensowohl ideologisch wie praxologisch nur mehr schwer zusammengehalten werden.Doch all diese Zusammenhänge und ihre Problemfel<strong>der</strong> wurden schließlich <strong>in</strong> den vorangegangenenKapiteln bereits detailliert dargestellt und – anhand des Fallbeispiels +BSE* –auch plastisch veranschaulicht. Sie müssen folglich hier nicht weiter ausgebreitet und konkretisiertwerden. Im folgenden möchte ich mich deshalb abschließend mit <strong>der</strong> Frage beschäftigen,welche politischen Auswirkungen die immer mehr zur +negativen* Seite tendierende Dialektikvon Reflexion und Deflexion potentiell haben könnte.


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 4115.4 DIE ENTPOLITISIERENDE DIALEKTIK VON REFLEXION UND DEFLEXIONDie oben beschriebenen ideologischen und praxologischen Deflexionsbemühungen des +Systems*äußern sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Trübung und Spaltung des reflexiven, (sub)politischen Bewußtse<strong>in</strong>s wie<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er lähmenden Limitierung des politischen Handelns. Aber auch die selbstbegrenzteReflexion <strong>der</strong> +lebensweltlichen* Subpolitik manifestiert sich (wie <strong>in</strong> Abschnitt 5.2.2 dargestelltwurde) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fragmentisierung und Diffusion des Politischen. Gegenseitig verstärken sichbeide Tendenzen, so daß aktuell von e<strong>in</strong>er – mittelfristig die Stabilität des (politischen) Systemseventuell aber sogar för<strong>der</strong>nden – entpolitisierenden Dialektik von Reflexion und Deflexiongesprochen werden kann.Nur: Im Rahmen von Dialektik kann grundsätzlich jede Entpolitisierung <strong>in</strong> (Re-)Politisierungumschlagen. Die hier vertretene These e<strong>in</strong>es von Dialektik gespeisten, diffusen und untergründigenEntpolitisierungsprozesses impliziert deshalb gerade nicht die Vision vom (apokalyptischen)Ende <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Zudem b<strong>in</strong> ich mir jener von Giddens herausgestellten doppelten Hermeneutik<strong>der</strong> Sozialwissenschaft bewußt, die möglicherweise bewirkt, daß gerade mit dem H<strong>in</strong>weisauf diese +Gefahr* e<strong>in</strong>e Gegenbewegung e<strong>in</strong>geleitet wird, so daß von e<strong>in</strong>er +selfdestroy<strong>in</strong>gprophecy* gesprochen werden kann.133O<strong>der</strong> wie Heidegger es <strong>in</strong> Anlehnung an Höl<strong>der</strong>l<strong>in</strong>formulierte: +Wo aber die Gefahr ist, wächst das Rettende auch.* Der langsame, schleichendeund diskont<strong>in</strong>uierliche Prozeß e<strong>in</strong>er +dialektischen* Entpolitisierung (siehe unten) – <strong>der</strong> potentiell<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er reflexiv-deflexiven Risikospirale mündet, welche ihren Grund <strong>in</strong> <strong>der</strong> gleichermaßengültigen Umkehrung des oben zitierten Satzes hat (siehe Abschnitt 3.3) –, impliziert deshalbimmer die (utopische) Möglichkeit e<strong>in</strong>er (nichtenden) +Umkehrung* <strong>der</strong> Entwicklung.Die Grabreden auf die <strong>Politik</strong> s<strong>in</strong>d auch längst schon an<strong>der</strong>weitig verfaßt worden: ThomasMeyer z.B. spricht zwar nicht vom Ende, son<strong>der</strong>n nur von e<strong>in</strong>er +Transformation des Politischen*(1994). Diese äußert sich für ihn allerd<strong>in</strong>gs primär <strong>in</strong> Verlusten: Durch Entwicklungen <strong>in</strong> <strong>der</strong>Wirtschaft wie Globalisierung kommt es, wie auch hier dargestellt (siehe Abschnitt 2.1 und3.1), zu e<strong>in</strong>em Souveränitätsverlust <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Die gegenwartsorientierte Verdrängungskultur<strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft, die <strong>der</strong>en Risikodimension ausblendet, führt zum Zukunftsverlust.E<strong>in</strong> Tugendverlust ist sowohl auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wie bei den Bürgern zu beobachten.Die Professionalisierung <strong>der</strong> politischen Klasse führt – durch ihre so bewirkte Entfernung vom+normalen* Leben – zu e<strong>in</strong>em Erfahrungsverlust. Gleichzeitig erzeugt e<strong>in</strong>e sozialästhetischeEntfremdung, ebenso wie die +Abgehobenheit* <strong>der</strong> Politischen Sprache, e<strong>in</strong>en Verständi-


412 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEgungsverlust. E<strong>in</strong>zig <strong>der</strong> festzustellende Utopieverslust be<strong>in</strong>haltet durch se<strong>in</strong>e +ernüchternde*Wirkung die auch Möglichkeit e<strong>in</strong>er Befreiung des Politischen aus den Zwängen <strong>der</strong> Dogmatikund erlaubt e<strong>in</strong> positives Verständnis politischer Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung (denn politische Utopienzielen laut Meyer ihrem Wesen nach auf die Elim<strong>in</strong>ierung von Differenzen). 134Noch weit dramatischere Töne werden von Jean-Marie Guéhenno angeschlagen. Durch Globalisierungsprozessedroht für ihn nämlich nicht nur e<strong>in</strong> Souveränitätsverlust des (nationalstaatlichen)politischen Systems, son<strong>der</strong>n das Ende <strong>der</strong> Nation als historisch begründete Schicksalsgeme<strong>in</strong>schaft(vgl. Das Ende <strong>der</strong> Demokratie; S. 17–38). Und das Ende <strong>der</strong> Nation br<strong>in</strong>gt für Guéhennonotwendig auch den Tod <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> als solche mit sich: +Die politische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung,gleich welcher Tradition man sich zurechnet, setzt nämlich die Existenz e<strong>in</strong>es politischenGeme<strong>in</strong>wesens voraus […] im Zeitalter <strong>der</strong> Vernetzung steht die Beziehung <strong>der</strong> Bürger zumpolitischen Geme<strong>in</strong>wesen <strong>in</strong> Konkurrenz zu unendlich vielen Verb<strong>in</strong>dungen, die sie außerhalbdesselben knüpfen. Die <strong>Politik</strong> ist daher ke<strong>in</strong>eswegs das Ordnungspr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaftlebenden Menschen, son<strong>der</strong>n ersche<strong>in</strong>t vielmehr als e<strong>in</strong>e sekundäre Tätigkeit, wenn nichtals e<strong>in</strong>e künstliche Konstruktion, die zur Lösung <strong>der</strong> praktischen Probleme unserer Gegenwartungeeignet ist.* (Ebd.; S. 39f.)Aufgrund dieser Perspektive e<strong>in</strong>es Verlusts <strong>der</strong> gestaltenden und ordnenden Macht <strong>der</strong> (<strong>in</strong>stitutionellen)<strong>Politik</strong> wird <strong>der</strong> Ruf nach e<strong>in</strong>em +Zurück zur <strong>Politik</strong>* (Scheer 1995) laut. +Dazugehört, das Primat <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> wie<strong>der</strong>zugew<strong>in</strong>nen, ohne das es ke<strong>in</strong>e Chance für den demokratischenVerfassungsstaat gibt. Nur so können wir aus <strong>der</strong> Situation herauskommen, <strong>in</strong> <strong>der</strong>politische Akteure zunehmend auf Nebenplätzen spielen o<strong>der</strong> gar nur Zuschauer s<strong>in</strong>d, währendgleichzeitig das Hauptfeld denjenigen überlassen bleibt, die asoziale Interessen verfolgen.*(S. 191) Wie hier und auch bei Guéhenno allerd<strong>in</strong>gs nur allzu deutlich wird, ist das Bild vomTod <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> und die daran anschließende For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>em +Zurück zur <strong>Politik</strong>* zumeisteng an die Vorstellung e<strong>in</strong>er nationalstaatlichen, parlamentarisch-repräsentativen <strong>Politik</strong> geknüpft.E<strong>in</strong>e (kritische) Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung erkennt dagegen genau im Prozeß <strong>der</strong> durchdie Reflexivität des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses ausgelösten Untergrabung <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen<strong>Politik</strong> des +klassischen* Nationalstaats e<strong>in</strong>e Chance für e<strong>in</strong>e im Untergrund <strong>der</strong> Lebensweltverwurzelte reflexive (globale) Subpolitisierung (siehe Abschnitt 5.2.1).Trotzdem ist sie sich – als ebenso selbst-kritische wie +realistische* Theorie – <strong>der</strong> bestehendenDeflexionspotentiale des etablierten Systems und <strong>der</strong> auf Trägheiten und Fragmentisierungen


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 413beruhenden Selbstbegrenzung <strong>der</strong> reflexiven Gegenbewegung bewußt (siehe Abschnitt 5.2.2).In <strong>der</strong> aktuellen Dialektik von Reflexion und Deflexion kommt es deshalb, wie ich darlegenwerde, als paradoxe Folge subpolitischer Politisierung, zu e<strong>in</strong>em diffusen Entpolitisierungsprozeßim S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er (umkehrenden) Begrenzung <strong>der</strong> reflexiven Impulse. Die Rede von e<strong>in</strong>er entpolitisierendenDialektik bedeutet zugleich aber, wie ja bereits e<strong>in</strong>gangs bemerkt wurde, immer diereale Möglichkeit e<strong>in</strong>er neuen Dynamisierung – also daß sich das Gewicht auf die reflexiveSeite (zurück) verschiebt, so daß die bestehende Reflexivität, die wi<strong>der</strong>sprüchliche Dialektik<strong>der</strong> sozialen Prozesse, nicht überdeckt, son<strong>der</strong>n vielmehr +aufgedeckt* und damit dem (politischen)Handeln verfügbar gemacht wird.Der für diese +dynamische* Sichtweise zentrale Dialektikbegriff ist e<strong>in</strong> Begriff mit e<strong>in</strong>er langenGeschichte, und was hier unter Dialektik verstanden wird, läßt sich am besten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rekonstruktionund <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abgrenzung von dieser Geschichte verdeutlichen. Für Zenon (ca. 490–430v. Chr.), <strong>der</strong> als Begrün<strong>der</strong> des dialektischen Denkens gilt, äußerte sich Dialektik <strong>in</strong> <strong>der</strong> Paradoxiedes Se<strong>in</strong>s, welche sich jedoch erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> rational-kritischen Durchleuchtung <strong>der</strong> gängigenAnschauungen entschlüsselt (vgl. z.B. Diemer: Dialektik; S. 35f.).135Platon (427–347 v. Chr.)entwickelte schließlich – allerd<strong>in</strong>gs nicht im Bezug auf Zenon, son<strong>der</strong>n unter Berufung aufse<strong>in</strong>en Lehrer Sokrates (470–399 v. Chr.) und dessen +diskursive * Erkenntnistheorie – Ansätzezu e<strong>in</strong>er regelrechten dialektischen Methode: als Kunst des Fragens und des Antwortens (vgl.Kratylos; S. 129 [390c]).136Im dialektischen +Frage- und Antwortspiel*, das die Prüfung undWi<strong>der</strong>legung des oberflächlichen Sche<strong>in</strong>wissens zum Ziel hat, erfolgt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dialogischen,auf <strong>der</strong> (rekursiven) Abfolge von These und Antithese beruhenden Spiralbewegung, welchedie Ausgangsfrage immer wie<strong>der</strong> aufnimmt, e<strong>in</strong>e langsame, aber fortschreitende Annäherungan die verdeckte +Wahrheit*, wobei zwar auf +wissenschaftliche Erkenntnisse* zurückgegriffen,primär jedoch auf die +<strong>in</strong>tuitive* E<strong>in</strong>sichtsfähigkeit des Gegenübers gebaut wird:+Die dialektische Methode [geht] […] alle Voraussetzungen aufhebend grad zum Anfange selbst, damitdieser fest werde, und das <strong>in</strong> Wahrheit <strong>in</strong> barbarischen [!] Schlamm vergrabene Auge <strong>der</strong> Seele ziehtsie gel<strong>in</strong>de hervor und führt es aufwärts, wobei sie [lediglich] als Mitdiener<strong>in</strong>nen und Mitleiter<strong>in</strong>nen dieangeführten Künste [Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Harmonielehre] gebraucht […]* (Politeia;S. 559 [533c,d])Der große Dialektiker <strong>der</strong> Neuzeit, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>erseits bei Platons objektiv-idealistischem Dialektikverständniskritisch ansetzt, ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831).137In se<strong>in</strong>er


414 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE+Phänomenologie des Geistes* (1807) begreift er die Dialektik als e<strong>in</strong>e unmittelbare Weise<strong>der</strong> Erfahrung, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewegung des Bewußtse<strong>in</strong>s entsteht: In <strong>der</strong> Reflexion werden dieGegenstände des Denkens +begriffen*, <strong>in</strong>dem sie – durch ihre (bestimmte) Negation (sieheauch unten) – zu e<strong>in</strong>em begrifflichen, sich selbst aufhebenden Gegenstand des Denkens gemachtwerden (vgl. hierzu auch Röd: Die Rolle <strong>der</strong> Dialektik <strong>in</strong> Hegels Theorie <strong>der</strong> Erfahrung). +Dieserneue [›synthetische‹] Gegenstand enthält die Nichtigkeit des ersten, er ist die über ihn gemachteErfahrung.* (Phänomenologie des Geistes; S. 67 [E<strong>in</strong>leitung])Jenes <strong>in</strong> gewisser H<strong>in</strong>sicht noch beschränkte, +phänomenologische* Verständnis <strong>der</strong> Dialektikals e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>nerlichen (sich gerade dar<strong>in</strong> aber dem Absoluten annähernden) Bewegung desGeistes, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Begriffen erfaßt, wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Wissenschaft <strong>der</strong> Logik* (1812/1816)erweitert. Die Dialektik ersche<strong>in</strong>t Hegel nun gar als +e<strong>in</strong>zig wahrhafte* und +absolute* Methodee<strong>in</strong>er objektiven Wissenschaft, <strong>in</strong>dem alle<strong>in</strong>e sie die Gesamtheit des Denkens zu umfassenund zu den re<strong>in</strong>en Wesenheiten vorzudr<strong>in</strong>gen vermag (vgl. auch Heiß: Die großen Dialektikerdes 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 106ff.). Um sich an die Wahrheit des Se<strong>in</strong>s anzunähern, muß Dialektik138– an<strong>der</strong>s als z.B. noch bei Kant (siehe Anmerkung 137) – jedoch positiv gefaßt werden:+Gewöhnlich sieht man die Dialektik für e<strong>in</strong> äußerliches und negatives Tun an, das nicht<strong>der</strong> Sache selbst angehöre* (Wissenschaft <strong>der</strong> Logik; Band 1, S. 37f. [E<strong>in</strong>leitung]). Doch richtigverstanden, offenbart das dialektische Denken nach Hegel gerade durch se<strong>in</strong>e Negativitätdas Positive (Negation <strong>der</strong> Negation). Dieses +positive* und trotzdem auf Negation beruhendeDialektikverständnis hat Hegel me<strong>in</strong>es Erachtens am klarsten <strong>in</strong> den +Grundl<strong>in</strong>ien <strong>der</strong> Philosophiedes Rechts* (1821) dargelegt. Hier def<strong>in</strong>iert er:+Das bewegende Pr<strong>in</strong>zip des Begriffs, als die Beson<strong>der</strong>ungen des Allgeme<strong>in</strong>en nicht nur auflösend, son<strong>der</strong>nauch hervorbr<strong>in</strong>gend, heiße ich Dialektik, – Dialektik also nicht <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, daß sie […] es nur mitHerleiten se<strong>in</strong>es Gegenteils zu tun hat, – e<strong>in</strong>e negative Weise, wie sie häufig auch bei Plato[n] [sieheoben] ersche<strong>in</strong>t […] Die höhere Dialektik des Begriffes ist, die Bestimmung nicht bloß als Schranke undGegenteil, son<strong>der</strong>n aus ihr den positiven Inhalt und Resultat hervorzubr<strong>in</strong>gen und aufzufassen, als wodurchsie alle<strong>in</strong> Entwicklung und immanentes Fortschreiten ist. Diese Dialektik ist dann nicht äußeres Tun e<strong>in</strong>essubjektiven Denkens, son<strong>der</strong>n die eigene Seele des Inhalts […]* (§ 31)Das dialektische Denken Hegels – obwohl es vor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em geschichtsphilosophischen139Anspruch durchaus +revolutionär* war – g<strong>in</strong>g für den Materialisten Karl Marx (1818–83)vom falschen Ausgangspunkt aus: +Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik, aber


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 415nur nach Abstreifung ihrer mystischen Form [...]* (Brief an Kugelmann vom 6.3.1858, zitiertnach Becker: Idealistische und materialistische Dialektik; S. 102).140Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong> also, daßMarx se<strong>in</strong>e Dialektik als +Kritik <strong>der</strong> Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt* (1844)entfaltete. 141Es blieb allerd<strong>in</strong>gs Friedrich Engels (1820–95) +vorbehalten* sich ausführlicher zum Hegel+vom Kopf auf die Füße* stellenden, marxistisch-materialistischen Dialektikkonzept zu äußern. 142Dieser begriff <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Die Entwicklung des Sozialismus von <strong>der</strong> Utopie zur Wissenschaft*(1880) Dialektik als wissenschaftliches Konzept, <strong>in</strong> dem die historische Dynamik e<strong>in</strong>gefangenwird. Er bemerkt: +E<strong>in</strong>e exakte Darstellung des Weltganzen, se<strong>in</strong>er Entwicklung und <strong>der</strong> Menschheitsowie des [historisch geprägten] Spiegelbildes dieser Entwicklung <strong>in</strong> den Köpfen <strong>der</strong> Menschen,kann […] nur auf dialektischem Weg geschehen.* (S. 397) Den Weg <strong>der</strong> Dialektikhat für Engels zwar auch die Philosophie des deutschen Idealismus (namentlich Hegel) beschrittenund damit die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten <strong>der</strong> Geschichte gestellt. Beantwortet hat<strong>der</strong> Idealismus diese Frage allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>eswegs (und konnte es auch nicht). Erst die materialistischeSichtweise des wissenschaftlichen Sozialismus ermöglicht dies nämlich: Die Dynamikdes historischen Prozesses beruht auf ökonomischen Triebkräften, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellenEpoche <strong>der</strong> kapitalistischen Gesellschaft <strong>in</strong> Klassenkämpfen manifestieren, wobei sich jedochdie Klassengegensätze – aufgrund <strong>der</strong> unhaltbaren Wi<strong>der</strong>sprüche auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> ökonomischenBasis – notwendig irgendwann positiv <strong>in</strong> <strong>der</strong> kommunistischen Gesellschaft aufheben(vgl. ebd.; S. 398ff. u. S. 401–417).Lange Zeit dom<strong>in</strong>ierte das materialistische Dialektikverständnis <strong>der</strong> marxistischen +Tradition*den theoretischen Diskurs über die Dialektik. Es zeigten sich jedoch <strong>in</strong> Anbetracht <strong>der</strong> Gefahre<strong>in</strong>er Erstarrung des dialektischen Denkens <strong>in</strong> Dogmen <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e nach dem Zweiten Weltkriegverstärkt Ansätze zu e<strong>in</strong>er – allerd<strong>in</strong>gs ihrerseits dialektischen – +Kritik <strong>der</strong> dialektischenVernunft* (Sartre 1960).143Am konsequentesten ist <strong>der</strong> Versuch Adornos (1903–69) e<strong>in</strong>e radikal+Negative Dialektik* (1966) zu entwerfen, denn +Denken ist an sich schon, vor allem beson<strong>der</strong>enInhalt[,] Negieren, Resistenz gegen das ihm Aufgedrängte* (S. 28). Um das dialektische Denken<strong>in</strong> <strong>der</strong> Negation zu befreien, mußte Adorno jedoch mit <strong>der</strong> ihn prägenden hegelianischmarxistischenTradition brechen, um über den Umweg von Kants Vernunftkritik schließlich– <strong>in</strong> <strong>der</strong> negativ-dialektischen Aufhebung ihrer Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit – zu Hegel und Marxzurückzuf<strong>in</strong>den.


416 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEUnter (negativer) Dialektik versteht Adorno +das konsequente Bewußtse<strong>in</strong> von Nichtidentität*(S. 15), d.h. +Dialektik entfaltet die vom Allgeme<strong>in</strong>en diktierte Differenz des Beson<strong>der</strong>envom Allgeme<strong>in</strong>en* (ebd.; S. 16). An<strong>der</strong>s als bei Hegel, kann es für Adorno jedoch nicht angehen,dieses Beson<strong>der</strong>e sodann im Allgeme<strong>in</strong>en (des Begriffs) wie<strong>der</strong> aufzuheben – und damit <strong>der</strong>Zerstörung Preis zu geben.144Das Beson<strong>der</strong>e, Differente, Nichtidentische ist schließlich schondurch die aktuelle, totalisierende Praxis <strong>der</strong> kapitalistischen Markt-Gesellschaft genug bedroht,so daß Philosophie ihren (neuen) Wert genau <strong>in</strong> <strong>der</strong> negierenden Transzendierung dieserPraxis hat (vgl. ebd.; S. 13). Philosophie schöpft also +was irgend sie noch legitimiert, ausdem Negativem* (ebd.; S. 60). Deshalb muß die philosophische Praxis das Beson<strong>der</strong>e durchdie Negation <strong>der</strong> +positiven* Verallgeme<strong>in</strong>erung im Begrifflichen – mittels <strong>der</strong> auf die konkrete(und s<strong>in</strong>guläre) Wirklichkeit zielenden (Hegelschen) Methode <strong>der</strong> bestimmten Negation –hervorkehren. +Die [dadurch erfolgende] Entzauberung des Begriffs ist das Gegengift <strong>der</strong> Philosophie.*(Ebd.; S. 22) +An ihr ist die Anstrengung, durch den Begriff über den Begriff h<strong>in</strong>auszugehen.*(Ebd.; S. 25)Die negative Dialektik Adornos versucht also, wie schon oben angedeutet wurde, <strong>in</strong> ihremnegierenden Bezug auf die konkrete Wirklichkeit den sche<strong>in</strong>bar unüberbrückbaren Wi<strong>der</strong>spruchzwischen Subjekt- und Objekt-Denken, zwischen idealistischer und materialistischer Dialektik,zu vermitteln: +In Lesen des Seienden als Text se<strong>in</strong>es Werdens berühren sich idealistischeund materialistische Dialektik. Während jedoch dem Idealismus die <strong>in</strong>nere Geschichte <strong>der</strong>Unmittelbarkeit diese als Stufe des Begriffs rechtfertigt, wird sie materialistisch zum Maß <strong>der</strong>Unwahrheit <strong>der</strong> Begriffe […] Womit negative Dialektik ihre verhärteten Gegenstände durchdr<strong>in</strong>gt,ist die Möglichkeit, um die ihre Wirklichkeit betrogen hat und die doch aus e<strong>in</strong>em jedenblickt.* (Ebd.)145Diese konkrete (und zugleich +utopische*) Negativität, die Theorie und Praxismite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verklammert, übt e<strong>in</strong>e befreiende Macht aus (vgl. auch Tong: Dialektik <strong>der</strong> Freiheitals Negation bei Adorno). Ja, vielmehr noch: +Freiheit [als die Möglichkeit zum ›an<strong>der</strong>s se<strong>in</strong>‹und zu e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Se<strong>in</strong>] ist e<strong>in</strong>zig <strong>in</strong> bestimmter Negation zu fassen, gemäß <strong>der</strong> konkretenGestalt <strong>der</strong> Unfreiheit.* (Negative Dialektik; S. 228)Auch <strong>in</strong> dieser +negativen* Konzeption Adornos läuft das dialektische Denken allerd<strong>in</strong>gs Gefahr,sich selbst zu beschränken, <strong>in</strong>dem es e<strong>in</strong>erseits über sich h<strong>in</strong>aus strebt und damit möglicherweisevor <strong>der</strong> (<strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht metaphysischen) +Transzendenz* des eigenen Anspruchs kapituliert.An<strong>der</strong>erseits verfällt es <strong>in</strong> den Modus <strong>der</strong> aufklärerischen Metaerzählung von <strong>der</strong> Befreiung


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 417durch die Kraft <strong>der</strong> – hier negativ verstandenen – (dialektischen) Vernunft. Bei neueren Ansätzen,die kritisch an Adorno anschließen, wird Dialektik deshalb explizit +ohne die Konnotatione<strong>in</strong>er sich vollendenden Wahrheit o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er sich vollendenden Geschichte* gefaßt (Wellmer:Zur Dialektik von Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 49), son<strong>der</strong>n vielmehr als e<strong>in</strong>e unbestimmte,doch konkret angestoßene Suchbewegung verstanden (vgl. ebd.; S. 109).146In diesem (post-mo<strong>der</strong>nen) Verzicht auf Synthese und (teleologische) Wahrheit f<strong>in</strong>det nicht mehr nur e<strong>in</strong>eNegation <strong>der</strong> Negation <strong>der</strong> Negation statt, son<strong>der</strong>n es erfolgt auch e<strong>in</strong>e (öffnende) Entklammerung<strong>der</strong> Dialektik (vgl. z.B. Kamper: Aufklärung – Was sonst?; S. 43 sowie Bachelard: La philosophiedu non).147So stellt sich das dialektische Denken <strong>der</strong> +Abgründigkeit* des Se<strong>in</strong>s.Diese Entklammerung <strong>der</strong> Dialektik bedeutet vor allem auch, daß das dialektische Denkennicht nur sich selbst erfaßt und negiert, son<strong>der</strong>n darüber h<strong>in</strong>aus se<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gungen (d.h se<strong>in</strong>ematerielle wie +ideelle* Bed<strong>in</strong>gtheit) reflektiert. E<strong>in</strong>e auf Synthese verzichtende Verb<strong>in</strong>dungvon materialistischer und idealistischer Dialektik, wie sie diesem Anspruch entspricht, wirdaber wie<strong>der</strong>um nur gel<strong>in</strong>gen können, wenn die Dialektik <strong>in</strong> das Verhältnis von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>selbst verlagert wird. Dialektik als reflexive, zugleich auf sich selbst bezogene Spiegelung<strong>der</strong> sozial-historischen +Wirklichkeit* besteht folglich <strong>in</strong> <strong>der</strong> +realen* (unaufhebbaren) Verwobenheitvon Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>, Theorie und Praxis. Denn jedes Denken ist (materielle)Praxis, <strong>in</strong>soweit es sich nicht nur auf e<strong>in</strong> wie auch immer geartetes (erkanntes o<strong>der</strong> verkanntes,vorgestelltes o<strong>der</strong> wirkliches) Seiendes bezieht, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> diesem Bezug Handlungen – undseien es auch nur gedachte – auslöst. An<strong>der</strong>erseits ist jede Praxis theoretisch, <strong>in</strong>soweit sienotwendig (wenn auch vielleicht unbewußt) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wie auch immer gearteten Zusammenhangmit dem Gedachten steht, das se<strong>in</strong>erseits auf das Handeln zurückwirkt und umgekehrt. Genauaus diesem doppelt kont<strong>in</strong>genten Wechselverhältnis erklärt sich die dynamische dialektischeSpannung des sozialen Prozesses.Daß e<strong>in</strong> Zusammenhang zwischen Denken und Handeln, Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> besteht, warnatürlich auch den dialektischen Denkern <strong>der</strong> Vergangenheit bewußt. Trotzdem wurde dasbewegende Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Dialektik entwe<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Sphäre, immateriellen Se<strong>in</strong> (ökonomische Verhältnisse) o<strong>der</strong> im (transzendentalen) Bewußtse<strong>in</strong>, im +Weltgeist*,im Reich <strong>der</strong> Ideen verortet, <strong>der</strong>en +Objektivität* sich dem Subjekt über die gedanklicheReflexion offenbart bzw. von ihm <strong>in</strong>tuitiv-anamnetisch o<strong>der</strong> +d<strong>in</strong>glich* erfahren wird.148Selbstbei Adorno – obwohl se<strong>in</strong>e negative Dialektik, als kritische Theorie, auf <strong>der</strong> bestimmten Negation


418 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>der</strong> defizitären Aktualität beruht und damit auf den Vermittlungszusammenhang zwischenSubjekt und Objekt abhebt – bleibt die Dialektik von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> letztlich e<strong>in</strong>emangenommenen +Vorrang des Objekts* (also dem materiellen Se<strong>in</strong>) untergeordnet.auch bei Sartre (1905–80), <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er späteren Schaffensperiode e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung vonExistentialismus und Marxismus anstrebte und deshalb auf den dialektischen Zusammenhangvon (nichtendem) Entwurf und (praktischer) Existenz abheben mußte, f<strong>in</strong>den sich nur ersteAnsätze zu e<strong>in</strong>er auf <strong>der</strong> dialektischen Verwobenheit von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> beruhenden(reflexiven) Konzeption von Dialektik. In se<strong>in</strong>er oben bereits erwähnten Schrift zur +Kritik<strong>der</strong> dialektischen Vernunft* (1960) bemerkt er zwar: +Die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit für die Existenze<strong>in</strong>er Dialektik ist selbst dialektisch […] Das Se<strong>in</strong> ist die Negation des Erkennens, und dasErkennen empfängt se<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> Negation des Se<strong>in</strong>s […]* (S. 36). Trotzdem begreiftSartre se<strong>in</strong> Konzept, wie auch Adorno, explizit als materialistische (d.h. von <strong>der</strong> Objekt-Seiteangetriebene) Dialektik, weil +das Denken se<strong>in</strong>e eigene Notwendigkeit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em materiellenGegenstand entdecken muß* (ebd.; S. 37).150149UndGenau dies führt +zwangsläufig vom Denkenzum Handeln. Jenes ist tatsächlich nur e<strong>in</strong> Moment von diesem.* (Ebd.)Mit <strong>der</strong> anschließenden Aussage, +daß sich die dialektische Methode nicht von <strong>der</strong> dialektischenBewegung unterscheidet* (ebd.; S. 38) sowie <strong>der</strong> Bemerkung, daß Reflexion nicht von <strong>der</strong>Praxis getrennt werden kann (vgl. ebd; S. 50), weist Sartre implizit allerd<strong>in</strong>gs wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong>die (hier e<strong>in</strong>geschlagene) Richtung e<strong>in</strong>er Sicht <strong>der</strong> Dialektik als Dialektik von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>.In beiden, Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>, vollzieht sich zwar e<strong>in</strong>e immanente Dialektik: Das(soziale und materielle) Se<strong>in</strong> ist durch Reflexivität gekennzeichnet, d.h. es wirkt, durch dieFolgen se<strong>in</strong>er unvermeidbaren Wi<strong>der</strong>sprüche, auf sich selbst zurück. Auf <strong>der</strong> Ebene des Bewußtse<strong>in</strong>sbestehen (ebenso unvermeidlich) Ambivalenzen – nicht nur, weil es Bewußtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<strong>in</strong> sich wi<strong>der</strong>sprüchlichen Welt ist, son<strong>der</strong>n weil das Selbst <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>e wi<strong>der</strong>sprüchliche <strong>in</strong>nereVielheit darstellt (siehe auch Exkurs). E<strong>in</strong>e dialektische Bewegung, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialenSphäre manifestiert (und so historisch konkret wird), entsteht jedoch erst im Spannungsverhältniszwischen beiden, da sowohl das subjektive Bewußtse<strong>in</strong> wie das äußere Se<strong>in</strong> für sich genommennicht zu e<strong>in</strong>er Transformation <strong>der</strong> sozialen +Realitäten* führen können.Dieses Spannungsverhältnis zwischen Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> – obwohl es zum<strong>in</strong>dest latentimmer vorhanden ist – äußert sich aber nicht <strong>in</strong> jedem Fall <strong>in</strong> Wandlungsimpulsen und tatsächlichenWandlungsprozessen. Je nach <strong>der</strong> Intensität und Ausprägung <strong>der</strong> <strong>in</strong> den +objektiven*


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 419Se<strong>in</strong>: ReflexivitätBewußtse<strong>in</strong>: AmbivalenzenReflexion: DynamisierungDeflexion: StatikAbbildung 12: Das vierfache Feld <strong>der</strong> doppelten DialektikWi<strong>der</strong>sprüchen (Se<strong>in</strong>) begründeten Reflexivität und <strong>der</strong> aktuellen +Konstitution* des – sozialkumulierten – <strong>in</strong>dividuellen Bewußtse<strong>in</strong>s, kann man zwischen e<strong>in</strong>er eher dynamisierenden(reflexiven) und e<strong>in</strong>er eher statischen (deflexiven) Dialektik unterscheiden: E<strong>in</strong> dynamisierendesdialektisches Verhältnis von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> entsteht, wenn die Reflexivität des Se<strong>in</strong>sauf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> zugelassenen Ambivalenz des Bewußtse<strong>in</strong>s gespiegelt wird (was sich <strong>in</strong> diesemFall potentiell auch <strong>in</strong> reflexiven Handlungsimpulsen nie<strong>der</strong>schlägt). Überwiegt dagegen dasdeflexive Moment bzw. ist das Niveau <strong>der</strong> Reflexivität ger<strong>in</strong>g, so stellt sich e<strong>in</strong>e oberflächlichstatisch wirkende Dialektik e<strong>in</strong>, d.h. es kommt zu e<strong>in</strong>em (sche<strong>in</strong>baren) Stillstand <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialvergegenständlichten dialektischen Bewegung von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>.151S<strong>in</strong>d nämlich die<strong>in</strong>neren wie äußeren reflexiven Impulse schwach (o<strong>der</strong> werden sie durch deflexive Maßnahmentechnologischer o<strong>der</strong> sozialtechnologischer Natur geschwächt), so kann die reflexiv-dialektischeBewegung +e<strong>in</strong>gefroren* bzw. abgelenkt werden: Ideologien und Praxologien (siehe oben)bewirken, daß die reflexiven Momente nicht (im Bewußtse<strong>in</strong> und <strong>in</strong> Handlungen) zum Tragenkommen, selbst wenn die Reflexivität <strong>der</strong> Verhältnisse auf e<strong>in</strong>em hohen Niveau angesiedeltist. Trägheitsmomente, Entmutigungen, Erfahrung des Mißerfolgs wie die Perspektive <strong>der</strong> Aussichtslosigkeit,aber vor allem die praxologische Ver<strong>in</strong>nerlichung <strong>der</strong> Strukturen des Systems,bewirken e<strong>in</strong>e deflexive Stabilisierung <strong>der</strong>selben. (Siehe auch Abb. 8) 152


420 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDie Wi<strong>der</strong>sprüche, die Reflexivität des Se<strong>in</strong>s (objektive Dialektik) werden dadurch jedochnicht ger<strong>in</strong>ger, und auch die Ambivalenz des Bewußtse<strong>in</strong>s (subjektive, kognitiv-emotionaleDialektik), die durch Deflexionsbemühungen nur latent gehalten und nicht aufgehoben wird,läßt sich nicht dauerhaft überdecken. Gerade daß beide, Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>, ihrerseitse<strong>in</strong>em grundlegenden dialektischen Zusammenhang bilden, welcher sich, wie oben dargelegt,reflexiv-dynamisierend o<strong>der</strong> deflexiv-statisch äußern kann, und daß diese beiden Momente,Reflexion und Deflexion, wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dialektischen Verhältnis stehen, da Reflexionenohne deflexive Gegenbewegungen nicht denkbar s<strong>in</strong>d, bewirkt jedoch, daß sich e<strong>in</strong>e potentiell<strong>fatal</strong>e, reflexiv-deflexive Risikospirale entwickelt kann (siehe auch nochmals Abschnitt 3.3).Indem nämlich auf reflexive Impulse deflexive Gegenimpulse folgen, die die Reflexivität ablenkenund die <strong>in</strong>neren Ambivalenzen überdecken, werden die so latent gehaltenen objektiven wiesubjektiven Wi<strong>der</strong>sprüche lediglich auf e<strong>in</strong>e immer höhere Ebene transformiert. Die reflexivenMomente werden dadurch zwar tendenziell – als Reaktion auf die Deflexionsversuche unddie zunehmende Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit – heftiger. Doch auch die Auslenkung <strong>der</strong> Deflexionwird immer größer, was die Reflexionsräume gleichzeitig begrenzt.Hier<strong>in</strong> liegt e<strong>in</strong>e gewisse +Tragik*. Das dialektische Zusammenwirken von Reflexion und Deflexion,das sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Prozeß reflexiv-deflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung sozial manifestiert, läuftso nämlich möglicherweise auf e<strong>in</strong>e +katastrophale* Entwicklung h<strong>in</strong>aus, da irgendwann e<strong>in</strong>Punkt erreicht ist, an dem die entfaltete Reflexivität nicht mehr deflexiv, d.h. <strong>in</strong> den bestehendenSystemgrenzen, aufgefangen werden kann. Doch an diesem vielleicht nahen, vielleicht fernen,vielleicht auch nie erreichten Punkt <strong>der</strong> +Katastrophe* ist es für e<strong>in</strong>e reflexive +Kehre* eventuellzu spät. O<strong>der</strong> aber die Katastrophe führt zu e<strong>in</strong>er reflexiven +Katharsis*, die zw<strong>in</strong>gt, mit dembestehenden System endgültig (und deshalb vielleicht gewaltvoll) zu brechen.Was aber hat diese potentiell +<strong>fatal</strong>e* Dialektik <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, so läßt sich fragen,konkret mit den aktuellen, <strong>in</strong> den vorangegangenen Kapiteln aufgezeigten Dilemmata <strong>der</strong><strong>Politik</strong> zu tun? Und ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige dialektische Sichtweise überhaupt noch +zeitgemäß*?– Zu letzterem E<strong>in</strong>wand läßt sich antworten: Auch wenn das dialektische Denken <strong>in</strong> Verrufgeraten ist, (<strong>in</strong> bestimmtem Spielarten zurecht) als +totalitär* denunziert wurde und somit<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krise steckt: Gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise beweist es se<strong>in</strong>e Not-Wendigkeit. Denn spezielldie dialektische Methode kann dazu dienen, das was nicht ist – die Seite des verschüttetenBegehrens – zu erfassen, um es von den +aktuellen* Hemmnissen zu befreien und es zur


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 421Wirklichkeit zu br<strong>in</strong>gen. (Reflexive) Dialektik ist <strong>in</strong> ihrer Zirkularität nämlich nicht festschreibend,son<strong>der</strong>n fortschreitend <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>er Entfesselung von den Zwängen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>deutigkeit.In diesem S<strong>in</strong>n ist Dialektik geradezu <strong>der</strong> +Puls <strong>der</strong> [unterdrückten] Freiheit* (vgl. Bhaskar:Dialectic; Kap. 4, § 12).153Sie ist, wenn sie (nichtend) entfaltet wird, die Chance, daß die+Katastrophe* nicht e<strong>in</strong>tritt: <strong>in</strong>dem durch das dialektische Ambivalenzbewußtse<strong>in</strong> die gegebene+Dualität <strong>der</strong> Strukturen* für reflexive Gegenbewegungen genutzt wird.Dialektik, so verstanden, ist also an sich politisch. Deshalb waren die obigen Ausführungennicht nur notwendig, um den hier zugrunde gelegten Dialektikbegriff +abschließend* zu klären.Die herausgestellten +tragischen* Implikationen e<strong>in</strong>er dialektischen, reflexiv-deflexiven Mo<strong>der</strong>nisierungführen vielmehr direkt zum Kern unserer Fragestellung, erklären – als reflexives Deutungsmuster– die Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>Post</strong>-)Mo<strong>der</strong>ne: Zum e<strong>in</strong>en wird es jetzt, durchden Bruch <strong>der</strong> funktionalistischen Systemlogik, möglich, die im Vorangegangenen herausgearbeiteteimmanente Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit <strong>der</strong> Prozesse (e<strong>in</strong>fache Dekonstruktion) als dialektischenZusammenhang zu betrachten. Die (nicht-synthetische) dialektische Sichtweise ermöglichtdamit e<strong>in</strong>e analytisch tiefer reichende Dekonstruktion. Zum an<strong>der</strong>en wird aus dieser +brüchigen*Sicht deutlich, daß sich e<strong>in</strong>e im Pr<strong>in</strong>zip ähnlich +<strong>fatal</strong>e* Entwicklung, wie sie durch die Dynamike<strong>in</strong>er reflexiv-deflexiven Risikospirale allgeme<strong>in</strong> entfaltet wird, auch im Bereich <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>zeigt. Und so bewirkt die aktuell entfaltete Dialektik, daß die reflexive (Sub-)Politisierung<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e (deflexive) Entpolitisierung umschlägt bzw. umzuschlagen droht:Der untergründige Prozeß <strong>der</strong> diffusen Entpolitisierung des Politischen – sowohl <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen<strong>Politik</strong> wie ihrer lebensweltlichen Basis – durch die Dialektik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungwird auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite durch die bereits verschiedentlich angesprochene Begrenztheit <strong>der</strong>Reflexivität und die Selbstbegrenzung <strong>der</strong> subpolitischen Reflexionen begünstigt (siehe <strong>in</strong>sb.nochmals Abschnitt 5.2.2). Zwar vollziehen sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat tiefgreifende sozio-ökonomischeWandlungsprozesse (siehe Kapitel 2). Deren (reflexive) Dynamik und Spiegelung ist jedochunterschiedlich stark ausgeprägt. Bestehende +Defizite* <strong>der</strong> Entwicklung <strong>in</strong> bestimmten Teilbereichenwerden durch verstärkte, allerd<strong>in</strong>gs primär deflektorische Mo<strong>der</strong>nisierungsanstrengungen<strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Bereichen zu kompensieren versucht. Man kann aufgrund dieser Ungleichzeitigkeiten,angelehnt an Klaus Offe, auch <strong>in</strong> bezug auf die (post)mo<strong>der</strong>nen (<strong>Post</strong>-)Industriegesellschaftenvon e<strong>in</strong>er nur sektoralen Mo<strong>der</strong>nisierung sprechen (vgl. Strukturprobleme des kapitalistischenStaates; S. 124).


422 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEDiese sektorale, vor allem auf das ökonomische und technologisch-wissenschaftliche Systemkonzentrierte Mo<strong>der</strong>nisierung, äußert sich auf <strong>der</strong> politischen Ebene analog <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nur sektoralerPolitisierung. Zum e<strong>in</strong>en bleibt nämlich, sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie des gewaltenteiligen Verfassungsstaatsals auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er sozialen Wirklichkeit, alle<strong>in</strong>e das (<strong>in</strong>stitutionelle) politische Systemfür (offizielle) <strong>Politik</strong> zuständig – was diese gleichzeitig auf e<strong>in</strong>en relativ schmalen Personenkreisund Bereich des Sozialen reduziert. Zum an<strong>der</strong>en ist aktive Subpolitik, die <strong>in</strong> Reaktion aufdiese Beschränkungen des politischen Systems erfolgt und durch die Reflexion <strong>der</strong> unterschwelligen,schleichenden Entgrenzung des Politischen durch die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Nebenfolgen des ökonomisch-technischenWandels ausgelöst wird, auf e<strong>in</strong>ige wenige Sektoren (wie z.B. den Umweltbereich)konzentriert, <strong>in</strong> denen die Probleme dieser Entgrenzung am deutlichsten spürbarwerden. Und selbst dabei ist Subpolitik oft nicht an grundlegenden Verän<strong>der</strong>ungen orientiert,zieht (aus Furcht vor Repressionen) nicht die Konsequenz aus ihrer sozialen (Sub-)Position.Die Reflexivität <strong>der</strong> Prozesse wird also zwar wahrgenommen. Aber ihre theoretische wiepraktische Reflexion bleibt limitiert und fragmentisiert.Die Limitierung und Fragmentisierung <strong>der</strong> reflexiven Gegenbewegung wird aber nicht nurdurch die Ungleichzeitigkeit und (Selbst-)Beschränkung des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses bewirkt.Sie wird auf <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene, wie dargelegt, durch fragmentisierende Ideologien wieden systemtheoretischen Funktionalismus deflektorisch abgestützt, <strong>der</strong> die Annahme e<strong>in</strong>erautonomen Trennung <strong>der</strong> Subsysteme zur Grundlage hat (siehe Abschnitt 5.3.1). Und es kommenauch hier erhebliche +passive* deflexive Momente zum Tragen: Die reale Möglichkeit <strong>der</strong>Katastrophe durch e<strong>in</strong>e reflexiv-deflexive Risikospirale wird schlicht zumeist deshalb nichtwahrgenommen, weil deflexives Nichtwissen(wollen) e<strong>in</strong>en, allerd<strong>in</strong>gs nur kurz- bis mittelfristigen,emotionalen Entlastungsgew<strong>in</strong>n br<strong>in</strong>gt, so daß Reflexionen, die zudem immer mit kognitivenund praktischen Anstrengungen verbunden s<strong>in</strong>d, schon aus Gründen <strong>der</strong> +psychischen Ökonomie*unterbleiben. Durch diese <strong>in</strong>sgesamt schon problematische deflexive Negierung <strong>der</strong> Möglichkeit<strong>der</strong> Katastrophe erfolgt gleichzeitig e<strong>in</strong>e Verdrängung <strong>der</strong> Brisanz des Politischen, das hierals Gegenregulativ, als sozialer Ort <strong>der</strong> Reflexion wirken könnte.Die postulierte Tendenz zu e<strong>in</strong>er deflexiven Fluchthaltung liegt primär <strong>in</strong> +Deformationen*auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Individuen begründet. Durch e<strong>in</strong>e zwanghaft und gewaltvoll ablaufendeSozialisation und die permanente Entmutigung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> eigenen Hilflosigkeit <strong>in</strong>Anbetracht des enormen +Momentum* des Systems neigen die durch (praxologische) Integration


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 423und die gleichzeitige Drohung des Ausschlusses unterdrückten Individuen <strong>in</strong> vielen Fällenzur Identifizierung mit diesem System, das sie begrenzt, um an se<strong>in</strong>er (verme<strong>in</strong>tlichen) Stärketeilzuhaben. So verwun<strong>der</strong>t es nicht, daß schon Erich Fromm – für ihn jedoch damals unerwartet– im Rahmen e<strong>in</strong>er Studie über +Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs*aus dem Jahr 1929/30 zu dem Ergebnis kam, +daß häufig [sogar] die Anhänger <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ksparteiene<strong>in</strong>e seelische Haltung aufwiesen, die ke<strong>in</strong>eswegs <strong>der</strong> konstruierten idealtypischen entsprach,ja ihr geradezu entgegengesetzt war* (S. 229) – nämlich e<strong>in</strong>e autoritäre (vgl. ebd.; S. 236ff.). 154Gerade e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Individuen, gekoppelt mit dem Bewußtse<strong>in</strong>, ohneh<strong>in</strong> nichts än<strong>der</strong>nzu können (+erlernte Hilflosigkeit*), bewirkt also e<strong>in</strong>e deflexive Entpolitisierung entwe<strong>der</strong> imS<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Indifferenz zur <strong>Politik</strong> o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er unkritischen Bejahung bestehen<strong>der</strong> Strukturen,schafft auf <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene die Bereitschaft zu fragloser Akzeptanz, so daß gegebeneReflexivität nicht gespiegelt wird.Diese Deformation durch Integration wird auf praktischer Ebene durch Praxologien erreichtund verfestigt (siehe Abschnitt 5.3.2). Umgemünzt auf die Sphäre <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> kann man davonsprechen, daß <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e als Folge <strong>der</strong> für ihre +zwangsläufigen* Integrationsbemühungenzentralen Praxologie <strong>der</strong> Übersetzung e<strong>in</strong>e Verdrängung politischer Diskurse (um Macht,Herrschaft und Grundfragen <strong>der</strong> sozialen Organisation) zugunsten ökonomischer, rechtlicher,wissenschaftlicher, dramaturgisch-medialer und symbolisch-ästhetischer Diskurse stattf<strong>in</strong>det.Diese Gewichtsverlagerung wird von <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> aktiv betrieben, die versucht ihrer subpolitischenH<strong>in</strong>terfragung durch e<strong>in</strong>e deflektorische Selbstentpolitisierung zu entgehen: Wo <strong>Politik</strong> solchenicht mehr greifbar ist, <strong>in</strong> systemexternen +Sachzwängen* aufgelöst wird, läßt sie sich auchnicht mehr angreifen (siehe auch Abschnitt 3.5). Daneben sorgen Wahlrituale (die allerd<strong>in</strong>gsan e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>den<strong>der</strong> Kraft zunehmend e<strong>in</strong>büßen) und Rechtsverfahren etc. für e<strong>in</strong>e praxologischeIntegration potentiellen Protestpotentials. Am wirkungsvollsten dürfte jedoch – solange dasWohlstandsniveau hoch angesiedelt ist und e<strong>in</strong>e staatliche Umverteilungspolitik e<strong>in</strong>en Teildes gesellschaftlichen Reichtums nach +unten* durchsickern läßt – die e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dende Machtdes Konsums se<strong>in</strong>. (Siehe auch nochmals Tab. 14, S. 409)Wirken die (Selbst-)Begrenzungen <strong>der</strong> Reflexion mit diesen deflexiven (ideologischen wiepraxologischen) Momenten zusammen, so kommt es zu e<strong>in</strong>em sich <strong>in</strong> dieser Dialektik verstärkendenEntpolitisierungsprozeß. Die Möglichkeit zu e<strong>in</strong>er (repolitisierenden) Verschiebungdes Gewichts auf die reflexive Seite ist zwar, wie e<strong>in</strong>gangs erläutert, natürlich trotzdem gegeben,


424 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEda das reflexive Moment – zum<strong>in</strong>dest latent – immer vorhanden ist. Doch <strong>in</strong>dem weitreichendeReflexionen, die sich <strong>in</strong> konkreten Richtungsverän<strong>der</strong>ungen manifestieren, auf sich wartenlassen, steigt das Risikopotential und wird e<strong>in</strong>e reflexiv-deflexive Risikospirale <strong>in</strong> Gang gesetzt.Bei dieser Risikospirale handelt es sich nicht alle<strong>in</strong>e um technologische, son<strong>der</strong>n auch umpolitische Risiken: das Risiko, daß die latenten sozialen Spannungen e<strong>in</strong> so großes Ausmaßannehmen, daß gewaltvolle Tendenzen hervortreten; das Risiko, daß die soziale Entfremdungdurch die Deflexionsbemühungen so weit getrieben wird, daß die Individuen sich ganz von<strong>der</strong> Gesellschaft und <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> abwenden; das Risiko, daß die <strong>Politik</strong> durch ihre deflektorischenÜbersetzungsversuche soviel an Kompetenzen und Gehalt e<strong>in</strong>büßt, daß sie von den an<strong>der</strong>enTeilsystemen vollständig absorbiert wird. Dar<strong>in</strong> liegt e<strong>in</strong>e Gefahr für das soziale und politischeSystem, aber auch für <strong>Politik</strong> allgeme<strong>in</strong>, die entwe<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dialektik von Reflexion undDeflexion zu entschw<strong>in</strong>den und sich aufzulösen o<strong>der</strong> im doppelten S<strong>in</strong>n des Wortes +gewaltvoll*(als Fundamentalismus, Terrorismus o<strong>der</strong> Fanatismus etc.) wie<strong>der</strong> hervorzubrechen droht.So gerät <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dialektik von Reflexion und Deflexion auch Subpolitik <strong>in</strong> Gefahr, daß ihreutopisch-negierende Radikalität sich deflexiv äußert, daß sie, anstatt die Wi<strong>der</strong>sprüche zuentfalten und die Dialektik <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, ihren Doppelcharakter von Zwangund Freiheit zu reflektieren, zu e<strong>in</strong>er tabula rasa führt, die sich <strong>in</strong> neuen Ordnungen undneuen Fixierungen manifestiert – und damit <strong>Politik</strong> als reflexive H<strong>in</strong>terfragung von Ordnungelim<strong>in</strong>iert.Doch ist die These e<strong>in</strong>er potentiell <strong>fatal</strong>en, entpolitisierenden Dialektik von Reflexion undDeflexion nicht e<strong>in</strong>e (post)mo<strong>der</strong>ne Metaerzählung des Zerfalls und <strong>der</strong> Auflösung? – DieseFrage muß mit ja beantwortet werden, wenn damit geme<strong>in</strong>t ist, daß hier <strong>in</strong> <strong>der</strong> +umfassenden*Perspektive e<strong>in</strong>es metatheoretischen Entwurfs auf die (konstruierten) Zusammenhänge zwischenund die (dialektische) E<strong>in</strong>heit von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>, Gesellschaft und <strong>Politik</strong> h<strong>in</strong>gewiesenwird. Sie kann jedoch auch mit ne<strong>in</strong> beantwortet werden, <strong>in</strong>dem die hier getroffenen Aussagenke<strong>in</strong>en Anspruch auf objektive Wahrheit erheben. Im Gegenteil: Dieser Text, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e ersteSkizze zu e<strong>in</strong>er kritisch-dialektischen Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung darstellt, wird vonmir als Anregung zu kritischer Reflexion verstanden, was die (Selbst-)Kritik me<strong>in</strong>er Thesenim Bewußtse<strong>in</strong> ihrer (sozialen und historischen) Relativität notwendig e<strong>in</strong>schließt. Es handeltsich hier folglich um e<strong>in</strong> bloßes Interpretationsangebot, das sich se<strong>in</strong>er Partikularität und


KAP. 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN 425Subjektivität bewußt ist. Die dargelegten Argumente können dabei nur e<strong>in</strong>e gewisse Plausibilitätfür sich geltend machen sowie auf das kritische (dekonstruktive) Potential <strong>der</strong> <strong>in</strong> ihrem Zusammenhangentwickelten Begriffe hoffen. Denn wenn das Denken, wie Heidegger formulierte,tatsächlich e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache se<strong>in</strong> sollte, dann ermöglichen erst kritische Begriffe– als subversive Angriffe gegen die (sprachlichen) Konventionen und +Realitäten* – (dialektische)Gegenbewegungen. Und so bemerkte denn auch bereits Georges Gurvitch, daß die dialektischeMethode (als Negation und Kritik) +zuallererst [d.h. bevor sie praktisch wird] <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zerstörungaller alte<strong>in</strong>geführten […] Begriffe [besteht]* (Dialektik und Soziologie; S. 219). 155An<strong>der</strong>erseits: Auch die hier verwendenten kritisch-dialektischen Begriffe – also Reflexion undDeflexion, Ideologie und Praxologie etc. – üben, <strong>in</strong> ihrer bewußten Normativität, natürliche<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>engende Gewalt aus: Sie strukturieren und reduzieren +Wirklichkeit*. Aber es s<strong>in</strong>dsprach-spielerische Begriffe, die eben ke<strong>in</strong>en monologischen Herrschaftsanspruch erheben,nicht auf +Objektivierung* zielen und die ke<strong>in</strong>e erdrückende Umfassung ihres Gegenstandsbeabsichtigen, son<strong>der</strong>n alle<strong>in</strong>e die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Gegenerzählung eröffnen wollen. Undes s<strong>in</strong>d Begriffe <strong>der</strong> Gegengewalt, <strong>der</strong> Gegengewalt auf e<strong>in</strong>e Wirklichkeit, die selbst gewalttätigund umfassend ist; Begriffe, die sich gegen und auf e<strong>in</strong>e deformierende Praxis richten, umreflexive (Handlungs-)Reflexe auszulösen.Um aber <strong>der</strong>art praktisch werden zu können, müssen gerade kritische Begriffe auch e<strong>in</strong>en+Ansatzpunkt* haben. Diesen Ansatzpunkt sehe ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em +authentischen* Selbst, das <strong>in</strong>die dialektische Spannung von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> untrennbar verwoben ist, und sich –diese auf <strong>der</strong> Basis se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Ambivalenzen spiegelnd – <strong>der</strong> Reflexivität <strong>der</strong> Prozessebewußt wird. Die +Imag<strong>in</strong>ation* e<strong>in</strong>es authentischen Selbst und wie dessen erst noch freizulegen<strong>der</strong>eflexive Authentizität im +dekonstruktiven*, verne<strong>in</strong>enden Bezug auf das aktuelleSe<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Kont<strong>in</strong>genzraum öffnet, <strong>der</strong> die negative Wirklichkeit <strong>der</strong> Utopie näher br<strong>in</strong>gtund dabei gleichzeitig die Möglichkeit für e<strong>in</strong>en Prozeß sozialer Konvergenz eröffnet, wirdallerd<strong>in</strong>gs erst im folgenden Exkurs +verwirklicht* werden – <strong>der</strong> damit freilich die Grenzen<strong>der</strong> Ausgangsthematik weit überschreitet. Und so steht hier: e<strong>in</strong> Ende ohne Ende.


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN– ZUM VERHÄLTNIS VON SEIN UND BEWUßTSEIN,KONTINGENZ UND KONVERGENZ+To say ›it is‹ is to grasp for permanence.To say ›it is not‹ is to adopt the view ofnihilism. Therefore a wise person does notsay ›it is‹ or ›does not exist‹.*Na) ga) rjuna


LXXXVIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEEXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN– ZUM VERHÄLTNIS VON SEIN UND BEWUßTSEIN,KONTINGENZ UND KONVERGENZDie Dialektik von Reflexion und Deflexion ist e<strong>in</strong>e potentiell <strong>fatal</strong>e Dialektik. Sie führt zue<strong>in</strong>em zwar bisher nur hypothetischen und konstruierten, doch ebenso +realen*, als objektiveMöglichkeit im Denken gegenwärtigen Punkt <strong>der</strong> Ausweglosigkeit: Die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nedroht am Wi<strong>der</strong>spruch ihres Doppelprojekts <strong>der</strong> Freiheit und <strong>der</strong> Sicherheit zu scheitern.Sie scheitert, <strong>in</strong>dem sie – Angst-getrieben – ihre eigene Ambivalenz und <strong>der</strong>en Reflexionnicht o<strong>der</strong> nur bed<strong>in</strong>gt zuläßt, sie deflektorisch begrenzt und so e<strong>in</strong>e reflexiv-deflexive Risikospirale<strong>in</strong> Gang setzt. Und die <strong>Politik</strong>, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die zugrunde liegenden Wi<strong>der</strong>sprüche +re-präsentiert*und damit offenbar gemacht werden könnten, hält sich selbst gefangen, <strong>in</strong>dem sie versucht,die ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>strebenden Momente zusammenzuhalten, die Reflexivität <strong>der</strong> Prozesse unddie Ambivalenzen des Bewußtse<strong>in</strong>s zu verdrängen und abzulenken.Dieses sowohl ideologische wie praxologische +Gefängnis* des Sozialen und <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> kannnur von <strong>in</strong>nen und von außen, durch die Reflexion <strong>der</strong> Reflexivität, gesprengt werden. Dochkritische Reflexion benötigt nicht nur e<strong>in</strong>en konkreten Bezugspunkt und Anstoß, den sie <strong>in</strong>den +objektiven*, durch die Reflexivität <strong>der</strong> Prozesse erzeugten Wi<strong>der</strong>sprüchen f<strong>in</strong>det. Ihre(negierende) Gegenbewegung braucht auch e<strong>in</strong>en +subjektiven* Halt und Anhaltspunkt –gerade um die Wi<strong>der</strong>sprüche des Se<strong>in</strong>s spiegeln und aushalten zu können. Sie f<strong>in</strong>det ihn<strong>in</strong> jenen ambivalenten, doch zugleich +festgeschriebenen* <strong>in</strong>neren Strukturen, die selbst durchnoch so radikale Negation nicht transzendierbar s<strong>in</strong>d: dem subjektiven +Material* des Bewußtse<strong>in</strong>sund <strong>der</strong> Emotionen. Genau <strong>in</strong> dieser <strong>in</strong>dividuellen, <strong>in</strong>neren Grenze liegt die Grundlage fürdie Negation und Überschreitung <strong>der</strong> objektiven, d<strong>in</strong>ghaft ersche<strong>in</strong>enden äußeren Grenzen,1die die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne (aus sich heraus) geschaffen hat. So weist die Aporie (<strong>der</strong>Verworfenheit des Selbst auf sich selbst, <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne auf die Mo<strong>der</strong>ne) <strong>in</strong>s Utopische – dassomit gerade unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nität e<strong>in</strong>e neue Dimension und +Wirklichkeit*erhält (vgl. auch Sousa Santos: Toward a New Common Sense; S. 479ff.). 2


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIENLXXXVIIWas aber macht das +Wesen* des solchermaßen aus <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Ausweglosigkeit (neuerlich)hervorgekehrten Utopischen aus? – Karl Mannheim, an den ich hier anschließen möchte,begriff das utopische Bewußtse<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>e transzendierende Orientierung, +die, <strong>in</strong> das Handelne<strong>in</strong>gehend, die jeweils bestehende Se<strong>in</strong>sordnung […] teilweise o<strong>der</strong> ganz sprengt* (Ideologieund Utopie; S. 169). Es erweist sich also immer nur <strong>in</strong> (negieren<strong>der</strong>) Relation zu e<strong>in</strong>er konkretenWirklichkeit, die es überschreiten will, als utopisch. Genau <strong>in</strong> diesem negativen Wirklichkeitsbezug+ist es möglich, daß die Utopien von heute zu den Wirklichkeiten von morgen werdenkönnen* (ebd.; S. 177), d.h. Utopie schöpft ihre (potentielle) +Realität* aus <strong>der</strong> Negation <strong>der</strong>Aktualität. Nur das wi<strong>der</strong>ständige +Denken des Außen* (Foucault), kann den sozialen Innenraumerweitern. In <strong>der</strong> dialektischen Spannung von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> stößt und reibt sich dasSubjekt am Objekt – und reflektiert (h<strong>in</strong>terfragt) damit dessen +Objektivität*.Kritische Reflexion, die für die überschreitende Bewegung <strong>der</strong> Utopie unabd<strong>in</strong>gbar ist, machtsich folglich am Konkreten fest, sie ist bestimmte Negation. Das Utopische selbst, jener negativeNicht-Ort, darf h<strong>in</strong>gegen nicht konkret se<strong>in</strong> (um wirklich werden zu können). Der e<strong>in</strong>zigeWeg, e<strong>in</strong>en +konstruktiven* Beitrag zu leisten, besteht <strong>in</strong> Dekonstruktion. Ansonsten drohtdas utopische Denken banal zu werden und sich <strong>in</strong> die Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> E<strong>in</strong>deutigkeit zuverwickeln. Es verschlösse <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Festlegungen die Möglichkeiten <strong>der</strong> Zukunft, statt sie3offen zu halten. Utopisches Bewußtse<strong>in</strong> muß deshalb gerade als konkret angestoßener Wunschund Wille zum Besseren ›pr<strong>in</strong>zipiellen‹ und unbestimmten Charakter haben. Erst im Zusammenspielvon bestimmter Negation und unbestimmter Utopie wird das Mögliche (als Überschreitung<strong>der</strong> Aktualität) erschlossen, e<strong>in</strong> Kont<strong>in</strong>genzraum eröffnet.Doch was könnte, so muß man weiter fragen, die Grundlage solcher +Überschreitung* se<strong>in</strong>?Oben wurde mit dem Gedanken e<strong>in</strong>es +selbst-bewußten* Subjekts e<strong>in</strong>e mögliche Antworthierauf bereits angedeutet. Es gibt allerd<strong>in</strong>gs durchaus verschiedene Möglichkeiten, den +Ursprung*<strong>der</strong> utopischen Transzendenz zu denken. Drei aus me<strong>in</strong>er Sicht beson<strong>der</strong>s vielversprechendesollen hier kurz nachgezeichnet werden: Theodor Adorno sieht im Rahmen se<strong>in</strong>er+Ästhetischen Theorie* (1970) primär im mimetischen, nachahmend-e<strong>in</strong>fühlenden, dem+Nichtidentischen* verpflichteten Impuls <strong>der</strong> Kunst e<strong>in</strong> Moment <strong>der</strong> (negativen) Transzendenz.Allerd<strong>in</strong>gs bef<strong>in</strong>det die Kunst sich gegenwärtig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schwierigen Situation: +Was als Utopiesich fühlt, bleibt e<strong>in</strong> Negatives gegen das Bestehende, und diesem hörig. Zentral unter dengegenwärtigen Ant<strong>in</strong>omien ist, daß Kunst Utopie se<strong>in</strong> muß und will und zwar desto ent-


LXXXVIIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEschiedener, je mehr <strong>der</strong> reale Funktionszusammenhang Utopie verbaut; daß sie aber, umnicht Utopie an Sche<strong>in</strong> und Trost zu verraten, nicht Utopie se<strong>in</strong> darf.* (S. 55) Erst <strong>in</strong> radikalerNegativität vermag die Kunst deshalb die (Un-)Möglichkeit <strong>der</strong> Utopie offen zu halten: +ÄsthetischeIdentität soll dem Nichtidentischen beistehen, das <strong>der</strong> Identitätszwang <strong>in</strong> <strong>der</strong> Realitätunterdrückt* (ebd.; S. 14), doch +nur durch […] absolute Negativität spricht Kunst das Unaussprechlicheaus, die Utopie […] Durch unversöhnliche Absage an den Sche<strong>in</strong> von Versöhnunghält sie diese fest <strong>in</strong>mitten des Unversöhnten […]* (Ebd.; S. 55) 4An die Stelle <strong>der</strong> (ästhetischen) Negativität tritt, im Gegensatz zu Adorno, bei Ernst Blochs+Begründung* des Utopischen +Noch-Nicht* e<strong>in</strong> Positives. Der +Geist <strong>der</strong> Utopie* (1923) beruhtnach ihm nämlich auf dem +Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung* (1959). Denn nur im Hoffen wird die e<strong>in</strong>engendeFurcht, die den +aufrechten Gang* verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t, abgeschüttelt. Deshalb kommt es für den Versuche<strong>in</strong>er Überschreitung entscheidend darauf an, +das Hoffen zu lernen* (S. 1). Und ähnlichwie schon Sokrates davon ausg<strong>in</strong>g, daß +je<strong>der</strong> sucht, was gut ist* (Platon: Politeia; S. 491[505d]), bemerkt Bloch: +Das Zukünftige enthält das Gefürchtete o<strong>der</strong> das Erhoffte; <strong>der</strong> menschlichenIntention nach, also ohne Vereitlung, enthält es nur das Erhoffte.* (Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung;S. 2). Diese +<strong>in</strong>tentionale*, unvereitelte Basis des transzendierenden Hoffens äußert sich <strong>in</strong>den antizipatorischen +Tagträumen* <strong>der</strong> Menschen. Doch: +Ke<strong>in</strong> Träumen darf stehenbleiben*(ebd.; S. 1616). Deshalb muß das Hoffen aus se<strong>in</strong>er Traumwelt befreit werden, um die realeund konkrete Möglichkeit <strong>der</strong> Utopie, die sich, wie Bloch for<strong>der</strong>t, an das +objektiv Mögliche*halten muß, zu verwirklichen (vgl. ebd.; S. 1616–1628).Wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Akzent setzt Cornelius Castoriadis: Die Quelle e<strong>in</strong>er utopischenTransformation des Sozialen liegt für ihn sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> kollektiven Imag<strong>in</strong>ationskraft (das+Gesellschaftlich-Geschichtliche*) wie im subjektiven Willen (+Psyche-Soma*). Letzterer richtetsich Not-gedrungen gegen die <strong>in</strong> den sozialen Institutionen manifestierte Selbstentfremdung– und äußert sich somit Not-wendig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em aktiven Bruch mit dem bestehenden System:+Die Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Selbstentfremdung – die unser Ziel ist, weil wir es wollen […] – […]setzt e<strong>in</strong>e radikale Zerstörung <strong>der</strong> bekannten Institutionen <strong>der</strong> Gesellschaft voraus.* (Gesellschaftals imag<strong>in</strong>äre Institution; S. 609) Die Destruktion <strong>der</strong> bestehenden Institutionen ist jedochzugleich +konstruktiv*, denn +diese Zerstörung kann […] nichts an<strong>der</strong>es se<strong>in</strong> als die Setzung/-Schöpfung neuer Institutionen und darüber h<strong>in</strong>aus die Setzung und Schöpfung e<strong>in</strong>er neuenArt des Sich-Instituierens […] Nichts, soweit man sehen kann, rechtfertigt die Behauptung,


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIENLXXXIXe<strong>in</strong>e solche Selbstverwandlung <strong>der</strong> Gesellschaft sei unmöglich […] Die Selbstverwandlung<strong>der</strong> Gesellschaft hängt von dem gesellschaftlichen und also im ursprünglichen Worts<strong>in</strong>nepolitischen Tun <strong>der</strong> Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft ab – und von nichts sonst. E<strong>in</strong> wesentlicherBestandteil davon ist das denkende Tun und das politische Denken: das Denken <strong>der</strong> sichselbst schöpfenden Gesellschaft.* (Ebd.)Mit diesen Ansätzen von Adorno (Mimesis und Negation), Bloch (Traum und Hoffen) undCastoriadis (politischer Wille, Imag<strong>in</strong>ation und soziale Selbstschöpfung) wurden drei exemplarischeAntwortversuche auf die Frage nach <strong>der</strong> möglichen Grundlage <strong>der</strong> utopischen Bewegungdargestellt. Doch es sche<strong>in</strong>t, als sei die Ausgangsfrage von allen dreien nicht wirklich beantwortet,son<strong>der</strong>n nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Feld verschoben worden. Denn mimetische Verne<strong>in</strong>ung, träumendesHoffen und imag<strong>in</strong>ativer Wille benötigen ihrerseits e<strong>in</strong>e Basis. Sie f<strong>in</strong>den diese, so me<strong>in</strong>eAntwort, im Subjekt: Um sich – <strong>in</strong> utopischer Imag<strong>in</strong>ation und politischer Aktion – selbstzu schöpfen und hervorzubr<strong>in</strong>gen, muß Gesellschaft auf die nicht transzendierbare +Wirklichkeit*des <strong>in</strong>dividuellen Bewußtse<strong>in</strong>s und dessen (<strong>in</strong>nere wie äußere) +Bestimmungen* zurückgreifen.Die utopische Selbstschöpfung erfolgt also aus dem Selbst heraus: Die (ambivalente) Objektivitätdes subjektiven Empf<strong>in</strong>dens bewirkt e<strong>in</strong>e Reibung an <strong>der</strong> Objektivität <strong>der</strong> sozialen und d<strong>in</strong>glichenUmwelt und bildet so den möglichen Ausgangspunkt für e<strong>in</strong>e Negation dieses Se<strong>in</strong>s wie für5die Suche und das Streben nach e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e solche theoretische und praktischeReflexion <strong>der</strong> Aktualität vermag allerd<strong>in</strong>gs nur e<strong>in</strong> authentisches Selbst leisten, das die Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeitdes Se<strong>in</strong>s und die Reflexivität <strong>der</strong> Prozesse auf <strong>der</strong> Basis se<strong>in</strong>er zugelasseneneigenen Ambivalenz spiegelt. 6Das Konzept e<strong>in</strong>es +authentischen*, auf sich (<strong>in</strong> Differenz) verworfenen Selbst als Basis <strong>der</strong>Negation und <strong>der</strong> Überschreitung schließt an Gedanken aus dem +Entrée* an und führt diesefort – ohne jedoch dabei, wie ich hoffe, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en +Jargon <strong>der</strong> Eigentlichkeit* (Adorno) zu verfallen.Dort wurde von mir nämlich im Kontext e<strong>in</strong>er kritischen Diskussion des Begriffs <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>neunter Bezugnahme auf Peter Koepp<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> reflexiver Authentizitätsbegriff dargelegt: Authentizitätals rückbezügliche Kategorie, als reziproker Selbsterkenntnisprozeß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungmit +dem An<strong>der</strong>en*. Demgemäß me<strong>in</strong>te die dort abschließend entwickelte +Utopie* e<strong>in</strong>erauthentischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne e<strong>in</strong>e fragende und offene Suchbewegung, die über die Beschäftigungmit ihrem (eigenen) An<strong>der</strong>en – <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – zu sich und ihren (Selbst-)Wi<strong>der</strong>sprüchenf<strong>in</strong>det und sich so +autopoietisch* hervorbr<strong>in</strong>gt (siehe S. LXXIIIff.).


XCPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEBezogen auf das Selbst würde e<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiger reflexiver Authentizitätsbegriff bedeuten, daßdieses sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reflexion <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>sprüchlichen äußeren Umstände (des postmo<strong>der</strong>nenDase<strong>in</strong>s) selbst reflektiert. Dabei entdeckt es se<strong>in</strong>e +authentische*, immanente, nicht transzendierbare<strong>in</strong>nere Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit und Ambivalenz – die gleichzeitig Reflexion erstermöglicht –, um se<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>spruch für jene (<strong>in</strong> <strong>der</strong> auf E<strong>in</strong>deutigkeit beharrenden +Realität*<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne unterdrückte) Möglichkeit des Wi<strong>der</strong>sprüchlichen und des Differenten zu entfachen(vgl. auch Ferrara: Reflective Authenticity; S. 148ff.). Die reflexive Authentizität des Selbstbestünde also gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Spiegelung und im Zulassen von <strong>in</strong>nerer wie äußerer Ambivalenz.Um diese dekonstruktive +Identitätsarbeit* (Keupp) leisten zu können, muß sich das <strong>in</strong> densozialen Identitätszwängen unterdrückte Subjekt deshalb aus sich heraus befreien. Nur imüber die Reflexion vermittelten Zugang zu sich kann das Subjekt zur Wi<strong>der</strong>ständigkeit des+aufrechten Gangs* f<strong>in</strong>den. Es muß se<strong>in</strong>e +ursprüngliche* Selbstdifferenz, se<strong>in</strong>e (vor)gegebeneVielheit – angestoßen durch das Außen und bestimmt durch se<strong>in</strong> Innen – entfalten, so daße<strong>in</strong>e reflexiv-dynamische Dialektik <strong>in</strong> <strong>der</strong> +materiellen Reibung* von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>entfaltet wird (siehe auch Abschnitt 5.4).Die Bestimmung(en) des Selbst, die das befreiende, +transzendierende* Potential se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>nerenWi<strong>der</strong>ständigkeit begründen (o<strong>der</strong> auch verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n), bestehen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en ambivalenten Emotionen,se<strong>in</strong>en sich wi<strong>der</strong>sprechenden Gedanken und den Manifestationen se<strong>in</strong>er brüchigen Lebensgeschichte.Diese Ambivalenz, die Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit und Brüchigkeit des Selbst, muß, umes nochmals zu betonen, im <strong>in</strong>dividuellen Bewußtse<strong>in</strong> gespiegelt und zugelassen werden,damit e<strong>in</strong>e +aufrichtige*, d.h. sich <strong>der</strong> eigenen Ambivalenz bewußte Reflexion <strong>der</strong> Umweltenerfolgen kann. Werden dagegen die wi<strong>der</strong>strebenden Momente verdrängt, wird die bestehendeAmbivalenz deflektiert, so kann auch das Außen nicht offen und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er wi<strong>der</strong>sprüchlichenReflexivität wahrgenommen werden. Auch die Möglichkeiten, handelnd Gegen-Stellung zubeziehen, s<strong>in</strong>d dann begrenzt. E<strong>in</strong> wesentliches Element <strong>der</strong> authentischen Selbst-Reflexionist es deshalb, die eigene Ambivalenz wahrzunehmen, anstatt sie zu verdrängen. Erst dannkann auch das Außen authentisch, d.h. offen und aufmerksam, ohne deflexiv-<strong>in</strong>strumentelleÜberformungen und Ablenkungen +reflektiert* werden.Was mit e<strong>in</strong>em solchen +reflexiv-authentischen* Reflexionsmodus <strong>in</strong> Abgrenzung zu e<strong>in</strong>er+deflexiv-<strong>in</strong>strumentellen* Wahrnehmungs- und Handlungsweise geme<strong>in</strong>t ist, kann anhande<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>drücklichen Beispiels aus dem Band +Haben o<strong>der</strong> Se<strong>in</strong>* (1976) von Erich Fromm


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIENXCIerläutert werden. Fromm geht es hier zwar, wie schon <strong>der</strong> Titel ankündigt, um die Verdeutlichung<strong>der</strong> Unterschiede zwischen den beiden nach ihm grundlegend verschiedenen Orientierungendes Habens und des Se<strong>in</strong>s (vgl. S. 27f.). Das von ihm e<strong>in</strong>leitend aus dem Bereich<strong>der</strong> Dichtung gewählte Beispiel läßt sich me<strong>in</strong>es Erachtens allerd<strong>in</strong>gs auch gut zur Illustration<strong>der</strong> hier getroffenen Unterscheidung verwenden. Die <strong>in</strong>strumentelle Grunde<strong>in</strong>stellung, die<strong>der</strong> Erlebensweise des Habens und zugleich e<strong>in</strong>er deflexiven Haltung entspricht, veranschaulichtFromm mittels e<strong>in</strong>es Gedichts des englischen Lyrikers Alfred Tennyson (1809–92):Blume <strong>in</strong> <strong>der</strong> geborstenen Mauer,Ich pflücke dich aus den Mauerritzen,Mitsamt den Wurzeln halte ich dich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand,Kle<strong>in</strong>e Blume – doch wenn ich verstehen könnte,Was du mitsamt den Wurzeln und alles <strong>in</strong> allem bist,Wüßte, was Gott und <strong>der</strong> Mensch ist.(Zitiert nach ebd.; S. 28)Hier wird dem Erkenntnisstreben des Betrachters die +Eigenständigkeit* des betrachteten Objektsrücksichtslos geopfert. Es handelt sich bei <strong>der</strong> entwurzelten, aus <strong>der</strong> Mauer gerissenen Blumeum bloßes Anschauungsmaterial für die angenommene Vollkommenheit <strong>der</strong> +göttlichen Ordnung*,die dem Betrachter, vermittelt durch die Blume, <strong>in</strong> ihrer Unergründlichkeit bewußtwird, zugleich aber e<strong>in</strong>e Begehrlichkeit nach <strong>der</strong> Ergründung des Wesens des Se<strong>in</strong>s erzeugt.Über diesen abstrakt-metaphysischen Gedanken rückt das konkrete Se<strong>in</strong> <strong>der</strong> Blume <strong>in</strong> denH<strong>in</strong>tergrund – genauso, wie für diese gewalttätige Abstraktion die neben dem Erkenntnisstrebeneventuell vorhandenen Empf<strong>in</strong>dungen des Mitgefühls gegenüber dem bedrohten Se<strong>in</strong> <strong>der</strong>Blume <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund gedrängt werden müssen.E<strong>in</strong>e geradezu entgegengesetzte E<strong>in</strong>stellung kommt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haiku des japanischen DichtersBashô (1644–95) zum Ausdruck, das ebenfalls von <strong>der</strong> Betrachtung e<strong>in</strong>er Blume handelt:Wenn ich aufmerksam schaue,Seh’ ich die NazunaAn <strong>der</strong> Hecke blühen!(Zitiert nach ebd.)Bashô gesteht <strong>der</strong> bewun<strong>der</strong>ten Blume ihre eigene Wirklichkeit und Autonomie zu. Der Wunsch,sich an ihr zu erfreuen, führt nicht zu e<strong>in</strong>em Besitzen-Wollen, son<strong>der</strong>n kann re<strong>in</strong> im Betrachten


XCIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEverwirklicht werden. Es handelt sich zudem bei <strong>der</strong> +Nazuna* (Hirtentäschel) um e<strong>in</strong>e eherunsche<strong>in</strong>bare Blume: Nur e<strong>in</strong> aufmerksamer Betrachter nimmt sie und ihre Schönheit überhauptwahr. Und dieselbe Aufmerksamkeit ist es auch, die zur +achtsamen* Haltung gegenüberdem Se<strong>in</strong> <strong>der</strong> Blume führt. Denn Aufmerksamkeit bedeutet auch die Aufmerksamkeit fürjene <strong>in</strong>neren Impulse, die e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>strumentelle Umgangs- und Betrachtungsweise verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n(können). Es gilt also auf das (dissonante) Konzert <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Stimmen, die Stimme <strong>der</strong> Vernunft,aber auch die Stimmen des Wahns, <strong>der</strong> Leidenschaft, des Mitgefühls etc. zu hören, um zue<strong>in</strong>em authentischen, sich <strong>der</strong> eigenen Ambivalenz bewußten Selbst zu gelangen. Erst diese(nichtidentische) Grundlage ermöglicht e<strong>in</strong>en tatsächlich reflexiven Weltbezug.Das Konzept e<strong>in</strong>es nichtidentischen und gerade <strong>in</strong> dieser pluralen Nicht-Identität authentischenSelbst trifft sich mit Vorstellungen <strong>der</strong> buddhistischen Philosophie-Tradition (<strong>in</strong> die auch <strong>der</strong>7Zen-Lyriker Bashô e<strong>in</strong>zureihen ist). Denn im Buddhismus ist die Illusion e<strong>in</strong>er unverän<strong>der</strong>lichenSeele und e<strong>in</strong>es kont<strong>in</strong>uierlichen Ichs ()atman) e<strong>in</strong>e wesentliche Ursache für die <strong>in</strong>dividuellenEmpf<strong>in</strong>dungen des Leids, wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> folgenden Lehrrede zum Ausdruck kommt:+Unrechte Lehren [die Kummer, Jammer, Schmerz und Verzweiflung aufkommen lassen] gibt es sechs:E<strong>in</strong> unbelehrter Weltl<strong>in</strong>g, <strong>der</strong> die Lehre <strong>der</strong> Edlen nicht kennt, betrachtet (erstens) die Körperlichkeit,(zweitens) die Empf<strong>in</strong>dung, (drittens) die Wahrnehmung, (viertens) die unbewußten Tätigkeiten so: Diesist me<strong>in</strong>, ich b<strong>in</strong> dies, dies ist me<strong>in</strong> Ich; ebenso betrachtet er (fünftens) alles, was er sieht, hört, denktund erkennt, was er erlangt o<strong>der</strong> erwünscht und worüber er nachdenkt; er glaubt (sechstens): die Weltund das Ich (<strong>der</strong> Atman) s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> und dasselbe […]* (Mittlere Sammlung [Majjhimanika) ya]; Buch III, 22)An die Stelle <strong>der</strong> Leid erzeugenden Vorstellung e<strong>in</strong>es beständigen Ichs tritt für den Wissendendie von den Selbst-Zwängen befreiende, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Meditation gemachte +empirische* Erfahrunge<strong>in</strong>es diskont<strong>in</strong>uierlichen Bewußtse<strong>in</strong>sstroms, e<strong>in</strong>es +substanzlosen* Nicht-Ich (anatt)a): 8+Dagegen betrachtet e<strong>in</strong> wohlunterrichteter Edeljünger […] die Körperlichkeit, die Empf<strong>in</strong>dungen, dieWahrnehmungen, die unbewußten Tätigkeiten so: Dies ist nicht me<strong>in</strong>, ich b<strong>in</strong> dies nicht, dies ist nichtme<strong>in</strong> Ich; und alles, was er sieht, hört, denkt und erkennt, was er erlangt o<strong>der</strong> wünscht und worüberer nachdenkt, [betrachtet er eben]so […] Und auch den Glauben: Die Welt und das Ich s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> unddasselbe […] betrachtet er so […] [und] beunruhigt […] sich nicht über etwas, das es nicht gibt.* (Ebd.)In <strong>der</strong> Mah)ay)ana-Tradition (+Großes Fahrzeug*) ist diese +dekonstruktivistische* Komponentemit <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> alles durchdr<strong>in</strong>genden Leerheit (s’ )unyat)a) beson<strong>der</strong>s ausgeprägt. Im


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIENXCIII+Prajñ)ap)armit)a-Hrdaya-S)utra* o<strong>der</strong> +S)utra vom Herzen <strong>der</strong> Vollkommenen Weisheit*, e<strong>in</strong>em.populären Schlüsseltext des Mah)ay)ana-Buddhismus, heißt es zu <strong>der</strong> gemäß <strong>der</strong> obigen Darlegungauf den +fünf Skandhas* – also dem Körperlichen (r)upa), <strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dung (vedan)a), <strong>der</strong> (unterscheidenen)Wahrnehmung (sanjña), dem Willen (sansk)ara) und dem Bewußtse<strong>in</strong> (vijñ)ana)– sowie <strong>der</strong> Identifizierung des Ichs mit dem Se<strong>in</strong> beruhenden Ich-Illusion und zur Leerheit:Alle Dharmas s<strong>in</strong>d (geprägt vom)›Siegel‹ <strong>der</strong> Leerheit!Deshalb gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Leerheitke<strong>in</strong>en Körper, ke<strong>in</strong> Gefühl,ke<strong>in</strong>e Wahrnehmung,ke<strong>in</strong>e Willensregungenund ke<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong>.[...]Da gibt es we<strong>der</strong> Erkenntnisnoch Verwirklichen,weil es (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Leerheit) nichts gibt,was zu verwirklichen wäre.Bei N)ag)arjuna (2. Jh. n. Chr.), e<strong>in</strong>em wichtigen +Wegbereiter* des Mah)ay)ana, <strong>der</strong> bereitsoben kurz erwähnt wurde (siehe S. 352), geht das dekonstruierende Bestreben, das Befreiung<strong>in</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis <strong>der</strong> Leerheit zum Ziel hat, so weit, daß er sogar die buddhistische Dekonstruktiondes Selbst noch zu dekonstruieren versucht und behauptet:+That there is a self has been taught, And the doctr<strong>in</strong>e of no-self, […] as well as the Doctr<strong>in</strong>e of neitherself nor nonself […] Everyth<strong>in</strong>g is real and is not real, Both real and not real, Neither real nor not real,This is Lord Buddha’s teach<strong>in</strong>g.* (Mu) lamadhyamakaka) rika) ; Kap. 18, Vers 6ff.)Trotz solch radikaler Dekonstruktion, die auch das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Kausalität, die Wirklichkeitvon Kategorien wie Raum und Zeit und die Existenz e<strong>in</strong>er Essenz verne<strong>in</strong>t (vgl. ebd.; Kap.91ff.), beansprucht N)ag)arjuna, e<strong>in</strong>en +mittleren Weg* zu beschreiten, da er absoluten Nihilismusgenauso wie essentialistische Konzepte ablehnt und deshalb zugesteht, daß kausale Begründungenund <strong>der</strong> Rekurs auf Begriffe wie Raum o<strong>der</strong> Zeit für unser +praktisches* Weltverständnisdurchaus funktional se<strong>in</strong> können (vgl. auch Garfield: The Fundamental Wisdom of the MiddleWay; S. 122). N)ag)arjuna weist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Schriften nur auf die unvermeidlichen Ant<strong>in</strong>omiene<strong>in</strong>es ontologischen und streng kausalen Denkens h<strong>in</strong>, dessen Mächtigkeit re<strong>in</strong> auf Konventionenberuht. Erst wenn man sich den Wi<strong>der</strong>sprüchen des Se<strong>in</strong>s aussetzt und das konventionelleDenken h<strong>in</strong>terfragt, wird es möglich, illusions- und +anhaftungslos* Stellung zur Welt zu beziehen,


XCIVPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEdie treibende Angst abzuschütteln und das Selbst als e<strong>in</strong> konstruiertes, im (sensuellen) Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungsprozeßmit <strong>der</strong> Umwelt sich hervorbr<strong>in</strong>gendes (Bewußtse<strong>in</strong>s-)Phänomen zu erkennen,das <strong>in</strong> den Strukturen des Körpers und <strong>der</strong> Triebkräfte verhaftet ist. 10Mit dieser Vorstellung e<strong>in</strong>es +verkörperten Bewußtse<strong>in</strong>s* trifft sich die buddhistische Philosophiedes Mittleren Wegs zum e<strong>in</strong>en mit den kognitionswissenschaftlichen Theorien des RadikalenKonstruktivismus (vgl. Varela/Thompson: Der Mittlere Weg <strong>der</strong> Erkenntnis).11Im konsequentenDekonstruktionsbemühen N)ag)arjunas zeigen sich aber auch Berührungspunkte zum +postmo<strong>der</strong>nen*,allerd<strong>in</strong>gs auf dem Wert <strong>der</strong> Differenz und <strong>der</strong> Gerechtigkeit beharrenden De-Konstruktivismus12Derridas und se<strong>in</strong>em +dezentrierten* Selbst-Konzept, das auf die logozentrischeUnterdrückung des Subjekts abhebt und se<strong>in</strong>er Differenz (<strong>in</strong> Anlehnung an Lévi-Strauss) durche<strong>in</strong> +spielerisches*, auf jedes Zentrum und jeden Ursprung verzichtendes +wildes Denken*Raum zu schaffen bestrebt ist (vgl. z.B. Die Schrift und die Differenz; S. 302ff. sowie S. 422–442und siehe auch nochmals hier S. XLVIIIf. u. S. 316).Die poststrukturalistische These e<strong>in</strong>er +Dezentrierung des Subjekts* (vgl. auch Rustermeyer:Zur Dezentrierung des Subjekts im neueren französischen Strukturalismus) hat den Identitäts-Diskurs <strong>der</strong> Gegenwart wesentlich geprägt. Die H<strong>in</strong>terfragung <strong>der</strong> heroischen Erzählung vomautonomen Individuum, wie sie die Mo<strong>der</strong>ne dom<strong>in</strong>ierte, und des mit ihr verknüpften Selbst-Konzepts <strong>der</strong> E<strong>in</strong>deutigkeit und <strong>der</strong> Kohärenz, beg<strong>in</strong>nt aber genau genommen schon bei Freud.Für diesen ist <strong>der</strong> psychische Apparat ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit mehr, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Ort des Konflikts undZwiespalts, bei dem die Impulse des +Es* mit den ver<strong>in</strong>nerlichten Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gesellschaft(+Über-Ich*) im Streit liegen und durch das +Ich* vermittelt werden müssen (vgl. z.B. Abriß<strong>der</strong> Psychoanalyse; S. 9ff.).13In <strong>der</strong> postfreudianischen, sprachtheoretisch gewendeten Psycho-analyse Lacans wird aus <strong>der</strong> Freudschen Vorstellung des Ichs als dem vermittelndem Zentrumdes Selbst e<strong>in</strong>e bloße (psychologische) Metapher, e<strong>in</strong> <strong>in</strong> symbolischer Selbst-Spiegelung hervorgebrachtes+Imago* (vgl. z.B. Écrits; S. 93ff. sowie Jähnig: Freuds Dezentrierung des Subjektsim Zeichen <strong>der</strong> Hermeneutiken Ricœurs und Lacans). Von Lacan führt die L<strong>in</strong>ie des psychologischenDiskurses über das Selbst und die Identität schließlich weiter zu den aktuell dom<strong>in</strong>ierendennarrativen Identitätskonzepten (vgl. z.B. Kraus: Das erzählte Selbst).Hier wird das Selbst jedoch nicht selbst als e<strong>in</strong>e Narration aufgefaßt. Vielmehr gelangt manzu dem, was das Selbst für sich (als von sich selbst verschiedenes +An<strong>der</strong>es*) tatsächlich se<strong>in</strong>könnte, erst <strong>in</strong>dem man die Erzählungen über das Selbst, auch die des +erzählten Selbst*


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIENXCVund des Selbst als Spiegelung des Diskurses, <strong>in</strong> Frage stellt, e<strong>in</strong>e Dekonstruktion <strong>der</strong> Dekonstruktionbetreibt (vgl. auch Zizek: Das Unbehagen im Subjekt).14Denn wäre das Selbst e<strong>in</strong>ebloße Metapher, so müßte man se<strong>in</strong>e Geschichte nur neu +schreiben*, um se<strong>in</strong>e Zerrissenheitzu beenden. Und wäre das Selbst nur e<strong>in</strong>e +Falte im Außen*, wie Gilles Deleuze FoucaultsSubjekt-Theorie paraphrasiert hat (vgl. Foucault; S. 131–172), wäre es alle<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> +Effekt undObjekt von Macht* (Foucault: Überwachen und Strafen; S. 247), so fragte es sich, was dieGrundlage se<strong>in</strong>er verne<strong>in</strong>enden Gegenmacht – die auch Foucault im Gedanken <strong>der</strong> Selbst-Sorgeanerkennt (vgl. Technologien des Selbst und siehe auch Anmerkung 88, Entrée) – darstellenkönnte. Zudem gilt schließlich: Jede Faltung h<strong>in</strong>terläßt (untilgbare) Spuren, und jedes Außenkorrespondiert notwendig mit e<strong>in</strong>em Innen. Dieses Innen ist zwar durch das Außen bestimmtund geformt, doch es ist nicht frei (ver)formbar. Das Subjekt ist ke<strong>in</strong> beliebiges Subjekt, son<strong>der</strong>ntrotz <strong>der</strong> prägenden sozialen E<strong>in</strong>flüsse auch von <strong>in</strong>nen determ<strong>in</strong>iert –15wobei allerd<strong>in</strong>gs beide+Bestimmungen* nicht e<strong>in</strong>deutig s<strong>in</strong>d: So wi<strong>der</strong>sprüchlich wie die äußeren Impulse, so ambivalentäußert sich auch das subjektive Material des Bewußtse<strong>in</strong>s und <strong>der</strong> Emotionen.Das Selbst als zugleich objektives und subjektives (Bewußt-)Se<strong>in</strong>, als vorgestelltes Konstruktund reale (Handlungs-)Instanz, bef<strong>in</strong>det sich also im dialektischen Wi<strong>der</strong>streit zwischen Innenund Außen, aber auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren Wi<strong>der</strong>streit. Es muß vor allem zwischen se<strong>in</strong>embasalen Selbstbehauptungs- und Autonomiebestreben und dem – von Roma<strong>in</strong> Roland gegenFreud <strong>in</strong>s Feld geführten – +ozeanischen* Verlangen nach Entgrenzung, das von <strong>der</strong> Anstrengung<strong>der</strong> Selbstbehauptung entlastet, vermitteln.16In dieser doppelten Ambivalenz stellt sich dasSelbst im Bezug auf se<strong>in</strong>e Umwelt her, entwirft sich, wie Sartre <strong>in</strong> Anlehnung an Heideggerfeststellt, das An-sich nichtend, und br<strong>in</strong>gt sich so als Für-sich hervor (vgl. Das Se<strong>in</strong> und dasNichts; S. 163ff.). Zu e<strong>in</strong>em reflexiven, +authentischen* Selbst, das, <strong>in</strong> dekonstruktiver Negation,zu e<strong>in</strong>er reflexiven Überschreitung +se<strong>in</strong>er* Wirklichkeit fähig ist, kann es jedoch nur werden,wenn es die Wi<strong>der</strong>sprüche und Begehrlichkeiten, die es prägen, zuläßt und spiegelt, stattsie und sich zu +zerstreuen* o<strong>der</strong> nach fundamentalen Sicherheiten zu suchen (vgl. auchKeupp: Identitätsentwürfe zwischen postmo<strong>der</strong>ner Diffusität und <strong>der</strong> Suche nach Fundamenten).Und nur dann kann sich das Selbst den an<strong>der</strong>en und se<strong>in</strong>er Umwelt öffnen. Erst im reflexivenBewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Selbstdifferenz – denn das Selbst als +ursprüngliche* Vielheit, als +Dividum*(Nietzsche) ist immer auch von sich verschieden – kann die Differenz, die An<strong>der</strong>sheit desAn<strong>der</strong>en respektiert werden (vgl. auch Ricœur: Das Selbst als e<strong>in</strong> An<strong>der</strong>er). 17


XCVIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEDer Bezug auf die authentische, nichtidentische +Basis* des Selbst führt also potentiell (undke<strong>in</strong>esfalls zw<strong>in</strong>gend) zu e<strong>in</strong>er reflexiven Öffnung h<strong>in</strong> zum An<strong>der</strong>en, zum Sozialen. In diesemArgument zeigt sich e<strong>in</strong>e gewisse Parallele zu den Thesen von Charles Taylor. Jener verortetim Selbst und se<strong>in</strong>en Intuitionen e<strong>in</strong>e wesentliche Quelle <strong>der</strong> (sozialen) Moral – wie dasIndividuum umgekehrt angeblich e<strong>in</strong>en moralischen Rahmen für se<strong>in</strong>e Selbstverwirklichungbenötigt (vgl. Sources of the Self; Kap. 1–3). Allerd<strong>in</strong>gs ist die auf den (vorbegrifflichen) Intuitionendes Selbst beruhende kommunitaristische +Ethik <strong>der</strong> Authentizität*, wie sie Taylor entwirft(vgl. auch Ethics of Authenticity), abgeschlossen und fixiert, und sie beruht gerade nicht auf<strong>der</strong> zugelassenen Ambivalenz des Selbst als e<strong>in</strong>er wi<strong>der</strong>sprüchlichen und diskont<strong>in</strong>uierlichenVielheit. Doch erst im Zulassen <strong>der</strong> Ambivalenz kann, wie oben dargelegt, e<strong>in</strong> u-topischerKont<strong>in</strong>genzraum für die Verwirklichung des Wi<strong>der</strong>spruchs geöffnet werden.Es gilt also durch das reflexive Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ambivalenz e<strong>in</strong>en Raum für die Entfaltungutopischer Kont<strong>in</strong>genz – d.h. e<strong>in</strong>e Möglichkeit für die Möglichkeit e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Se<strong>in</strong>s, e<strong>in</strong>eran<strong>der</strong>en Gesellschaft, e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en <strong>Politik</strong> – zu schaffen. E<strong>in</strong>e solche +utopische* Kont<strong>in</strong>genzunterscheidet sich von <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz des Faktischen: Das Faktische ist erstens kont<strong>in</strong>gent,weil es zwar wirklich, aber nicht notwendig (so) ist.18Und es ist zweitens kont<strong>in</strong>gent, weil<strong>in</strong> ihm (deshalb) Raum für Möglichkeiten ist, die jenseits se<strong>in</strong>er selbst liegen. Genau <strong>in</strong> diesemMöglichkeitsraum liegt <strong>der</strong> oben angesprochene utopische Kont<strong>in</strong>gzraum, <strong>der</strong> aber erst durchdie reflexiv-authentische Negation des kont<strong>in</strong>genten Faktischen erschlossen wird. Ist h<strong>in</strong>gegen<strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Diskussion von Kont<strong>in</strong>genz die Rede, so ist zumeist geme<strong>in</strong>t, daß <strong>der</strong> Festlegungscharakter<strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Lebensentwürfe und des sozialen Gefüges abgenommenhat, d.h. die sozialen und <strong>in</strong>dividuellen Optionen haben sich im historischen Verlauf immerweiter gesteigert (vgl. z.B. Gross: Die Multioptionsgesellschaft).Aufgrund dieser verbreiteten Wahrnehmung spielt <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzbegriff e<strong>in</strong>e große Rolleim gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen und politischen Denken (siehe auch nochmalsAbschnitt 1.5). In <strong>der</strong> Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, so wie sie von Giddens und Beckgedacht wird (siehe S. 353–356), taucht <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzbegriff allerd<strong>in</strong>gs nur als eher verdeckteKategorie, im begrifflichen Doppelpaar von Risiko und Chance, auf. Niklas Luhmann betrachtetKont<strong>in</strong>genz dagegen nicht nur explizit als Kennzeichen, son<strong>der</strong>n gar als e<strong>in</strong>en Eigenwert <strong>der</strong>mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft (vgl. Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 93ff. und siehe hier S. XL). Ähnlichspricht Michael Makropoulos (siehe auch unten) von <strong>der</strong> +Mo<strong>der</strong>nität als Kont<strong>in</strong>genzkultur*


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIENXCVII(1998), und Richard Rorty versucht, aus dem angenommenen (post)mo<strong>der</strong>nen Bewußtse<strong>in</strong>für die Kont<strong>in</strong>genz selbst <strong>der</strong> eigenen Anschauungen e<strong>in</strong>e den an<strong>der</strong>en gegenüber ironischgelasseneHaltung zu begründen, die <strong>in</strong> Solidarität mündet (vgl. Kont<strong>in</strong>genz, Ironie und Solidaritätund siehe hier S. 64). Agnes Heller wie<strong>der</strong>um bemüht sich – von Skepsis geplagt, was dieChancen für e<strong>in</strong> +Überleben* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne betrifft – aufzuzeigen, daß diese nur bestehenkann, wenn sie nicht mehr <strong>in</strong> ihrem Kontrollstreben den Versuch macht, sich gegen die unvermeidlicheKont<strong>in</strong>genz des Se<strong>in</strong>s zu wehr zu setzen, son<strong>der</strong>n anstelle dessen Kont<strong>in</strong>genz alsihre Bestimmung auffaßt (vgl. Hermeneutics of Social Science; S. 40f.). Das ist e<strong>in</strong>e Ansicht,<strong>der</strong> sich auch Zygmunt Bauman, wie bereits oben dargestellt wurde (siehe S. 350f.), anschließt(vgl. Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz; S. 286ff.). Und Kari Palonen, um e<strong>in</strong> letztes Beispiel zu nennen,begreift, ausgehend vom Weberschen Begriff <strong>der</strong> Chance, die aktuelle <strong>Politik</strong> als +Doppelspiel<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzen*, bei dem – auf <strong>der</strong> Grundlage von Entörtlichung und Verzeitlichung –Sachfragen zu Spielfragen werden, was <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ungeahnte Möglichkeiten eröffnet (vgl.Das ›Webersche‹ Moment; S. 332ff. und siehe auch nochmals hier S. 65).Allerd<strong>in</strong>gs ist das (politische) Spiel <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz zuweilen e<strong>in</strong> +gefährliches* Spiel. Dennmit Makropoulos läßt sich feststellen:+Kont<strong>in</strong>genz ist, was auch an<strong>der</strong>s möglich ist. Aber was auch an<strong>der</strong>s möglich ist, weil es ke<strong>in</strong>en notwendigenExistenzgrund hat, eröffnet nicht nur Handlungs- und Gestaltungsräume, son<strong>der</strong>n es verunsichert auch[…]* (Mo<strong>der</strong>nität und Kont<strong>in</strong>genz; S. 147)Die potentielle Verunsicherung, die (das Bewußtse<strong>in</strong> für) Kont<strong>in</strong>genz gebiert, ist aber nure<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Problematik <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz. Der Begriff <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz verweist auf e<strong>in</strong>en Raumdes Möglichen, zugleich jedoch auch auf die Grenzen dieses Raumes: das Unmögliche. DasUnmögliche begrenzt das Mögliche. An<strong>der</strong>erseits: Was möglich ist, tritt erst durch diese Grenzeaus <strong>der</strong> Unmöglichkeit heraus, wird erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Begrenzung zur +tatsächlichen* Möglichkeit.Das heißt nicht unbed<strong>in</strong>gt, daß die Zahl <strong>der</strong> Möglichkeiten limitiert wäre. Der Raum allerd<strong>in</strong>gs,den das Mögliche e<strong>in</strong>nehmen kann, ist notwendig e<strong>in</strong>geschränkt. Es verhält sich also ähnlichwie mit e<strong>in</strong>em Abschnitt des Zahlenstrahls. Zwischen zwei Punkten, egal wie groß (o<strong>der</strong> kle<strong>in</strong>)<strong>der</strong> Abstand ist, liegen immer unendlich viele Punkte. Trotzdem entsprechen alle PunkteZahlenwerten, die zwischen den beiden Grenzwerten liegen. Man kann sich diesen Sachverhaltauch plastisch anhand des Beispiels e<strong>in</strong>es Luftballons vorstellen: Beim Aufblasen nimmt <strong>der</strong>


XCVIIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNERaum des MöglichenHandlungsmöglichkeitenRaum des DenkbarenAbbildung 13: Der doppelte Raum <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzLuftballon unendlich viele Größenzustände an. Wird er aber über e<strong>in</strong>e bestimmte Größeausgedehnt, so platzt er. (S)e<strong>in</strong>e Hülle, die se<strong>in</strong>e Ausdehnbarkeit begrenzt, ist allerd<strong>in</strong>gs dieVoraussetzung dafür, daß er überhaupt aufgeblasen werden kann.Der somit notwendig beschränkte und doch +unendliche* Raum des Möglichen wird allerd<strong>in</strong>gsnoch durch weitere Grenzen markiert, denn es handelt sich bei ihm eigentlich um e<strong>in</strong>endoppelten bzw. zweigeteilten Raum: Dem (grundsätzlich unerschließbaren, nur retrospektivhervortretenden) Raum des objektiv Möglichen, steht <strong>der</strong> (subjektiv erschlossene) Raum desDenkbaren gegenüber. Alle<strong>in</strong>e im Überlappungsbereich bei<strong>der</strong> besteht nun die dem Handelntatsächlich verfügbare Kont<strong>in</strong>genz (siehe Abb. 9),19und wie<strong>der</strong>um nur e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> +kont<strong>in</strong>genten*Handlungsmöglichkeiten haben überschreitenden Charakter – dann nämlich, wenn sie denRaum des Möglichen durch ihre Verwirklichung wie<strong>der</strong>um vergrößern würden. Die Möglichkeit<strong>der</strong> Utopie ist also – genauso wie das, was allgeme<strong>in</strong> möglich ist – immer auch abhängigvom <strong>in</strong>dividuellen Kont<strong>in</strong>genzbewußtse<strong>in</strong>. Deshalb gilt e<strong>in</strong>e (subjektive) Relativität <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz.Kont<strong>in</strong>genz ist nicht absolut, son<strong>der</strong>n, gerade <strong>in</strong> ihrer utopischen Komponente, nur relativzu unserer Erkenntnisfähigkeit, unserem Willen und unseren Handlungspotentialen.Das +Utopische* (als Teilbereich des Kont<strong>in</strong>genten, des Möglichen und damit Unwirklichen)steht im Gegensatz zur (aktuellen) Wirklichkeit. Wie aber wird e<strong>in</strong>e Möglichkeit zur Wirklichkeit,und wie ist Wirklichkeit möglich? – Durch das E<strong>in</strong>treten e<strong>in</strong>er Möglichkeit erfolgt e<strong>in</strong>e Punktualisierung<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz. Der Kont<strong>in</strong>genzraum schrumpft auf e<strong>in</strong>en Punkt, e<strong>in</strong>e Möglichkeitzusammen, die mit ihrem E<strong>in</strong>treten alle an<strong>der</strong>en Möglichkeiten +unmöglich* macht. Der Raumobjektiver Kont<strong>in</strong>genz bestand, wie sich retrospektiv erweist, notwendig immer zum<strong>in</strong>dest


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIENXCIXaus dieser e<strong>in</strong>en, wirklich gewordenen Möglichkeit. Diese kann zuweilen auch jenseits desals möglich Gedachten liegen. Doch stellt sich, so fragt sich, nicht alles Mögliche durch das(e<strong>in</strong>e), was wirklich wird, als re<strong>in</strong> spekulativ und hypothetisch heraus?Man könnte es allerd<strong>in</strong>gs auch umgekehrt betrachten: Wirklichkeit ist e<strong>in</strong> von Kont<strong>in</strong>genzgespeistes Werden; <strong>der</strong> Pfad <strong>der</strong> Faktizität ist das Ergebnis e<strong>in</strong>er permanenten Punktualisierungvon Möglichkeitsräumen. Kont<strong>in</strong>genz wäre somit gewissermaßen die Raumdimension <strong>der</strong>Zeitl<strong>in</strong>ie, und <strong>in</strong> ihrer fortschreitenden Punktualisierung würde e<strong>in</strong>e Wirklichkeitsl<strong>in</strong>ie im Raum<strong>der</strong> Zeit gebildet. Damit zeigt sich an<strong>der</strong>erseits, daß die Vorstellung <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz selbstkont<strong>in</strong>gent: abhängig von e<strong>in</strong>em bestimmten Zeitmodell ist. Denn nur vor dem H<strong>in</strong>tergrund<strong>der</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er (l<strong>in</strong>ear-)progressiven Zeit ist Kont<strong>in</strong>genz <strong>in</strong> <strong>der</strong> oben beschriebenen Weisedenkbar, die damit nicht, wie Sartre me<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong>e konkrete Eigenschaft des Se<strong>in</strong>s darstellt (vgl.Das Se<strong>in</strong> und das Nichts; S. 200ff.), son<strong>der</strong>n alle<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> Resultat <strong>der</strong> Zeitlichkeit ist. E<strong>in</strong>e Möglichkeitist schließlich dadurch charakterisiert, daß sie zwar wirklich werden kann, aber (noch)nicht wirklich ist. Löst man sich jedoch vom Modell progressiver Zeit und denkt sie zyklischo<strong>der</strong> negiert ihre Existenz gar völlig, so wird aus Möglichkeiten eventuell die +Gleichzeitigkeit*verschiedener Wirklichkeiten. Von ganz ähnlichen Überlegungen geleitet – und vor dem (Zeit)-H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> +zeitlosen* <strong>in</strong>dischen Antike –20konnte deshalb bereits N)ag)arjuna bemerken:+If the present and the future/Depend on the past/Then the present and the future/Would have existed<strong>in</strong> the past […]/If they are not depend<strong>in</strong>g on the past/Neither of the two would be established […]/Bythe same method/The other two divisions – past and future/[…] should be un<strong>der</strong>stood/[…] So how cantime exist?* (Mu) lamadhyamakaka) rika) ; Kap. 19)Im europäischen Kontext dom<strong>in</strong>iert(e) dagegen – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie wie <strong>in</strong> den Naturwissenschaften– über weite Strecken die aristotelische Vorstellung e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlich fortschreitenden,l<strong>in</strong>earen Zeit. Aristoteles def<strong>in</strong>ierte Zeit nämlich als die +Meßzahl von Bewegung h<strong>in</strong>sichtlichdes ›davor‹ und des ›danach‹* (Physik; Buch IV, Kap. 11 [219b]). Kant (1724–1804) löste zwarzum<strong>in</strong>dest die philosophische Betrachtung <strong>der</strong> Zeit von dieser +naiven* Auffassung und begriffZeit (ebenso wie den Raum) als +transzendentale*, d.h. <strong>der</strong> Anschauung und <strong>der</strong> Erkenntnisnotwendig vorausgehende und deshalb nur von <strong>der</strong> Vernunft gesetzte, nicht an sich wirklicheKategorie (vgl. Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft; Erster Teil, Abschnitt 2).21Erst durch Edmund Husserl(1859–1931) kommt es jedoch (<strong>in</strong> etwa gleichzeitig mit <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen Relativierung


CPOLITIK IN DER (POST-)MODERNE<strong>der</strong> Zeit durch die Relativitätstheorie E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>s) zur tatsächlichen Subjektivierung <strong>der</strong> Zeit,da Husserl diese – trotz ihrer auch nach ihm gegebenen Inter-Subjektivität (vgl. Konstitution<strong>der</strong> Intermonadischen Zeit) –22als re<strong>in</strong> im (<strong>in</strong>dividuellen) Bewußtse<strong>in</strong> +seiendes* Phänomendarlegt (vgl. Zur Phänomenologie des <strong>in</strong>neren Zeitbewußtse<strong>in</strong>s; § 1).Von Husserl führt die Zeit-L<strong>in</strong>ie des Zeit-Denkens e<strong>in</strong>erseits weiter zur ExistenzphilosophieHeideggers (1889–1976). Für diesen bedeutet Zeit Endlichkeit, die das +sorgende* (Selbst)-Bewußtse<strong>in</strong> für die (eigene) Existenz hervorbr<strong>in</strong>gt (vgl. Se<strong>in</strong> und Zeit; <strong>in</strong>sb. Abschnitt II, Kap.3 u. 6) – e<strong>in</strong>e Auffassung, an die Sartre mit se<strong>in</strong>er Sicht <strong>der</strong> Zeitlichkeit als Innenstruktur desFür-sich anschließt (vgl. Das Se<strong>in</strong> und das Nichts; S. 265). Zum an<strong>der</strong>en prägte Husserls phänomenologischerZeitbegriff auch wesentlich die handlungstheoretisch orientierte Soziologievon Alfred Schütz (1899–1959), <strong>der</strong> – <strong>in</strong> Anlehnung an Bergson zwischen (objektiver) Weltzeitund subjektiver Zeit (durée) unterscheidend – Zeit zu e<strong>in</strong>er sozialen (S<strong>in</strong>n-)Kategorie macht(vgl. Der s<strong>in</strong>nhafte Aufbau <strong>der</strong> sozialen Welt; S. 62–70 sowie <strong>der</strong>s./Luckmann: Strukturen<strong>der</strong> Lebenswelt; Band 1, S. 73–87 u. Band 2, S. 27–33). Als standardisiertes Bezugssystemist die soziale S<strong>in</strong>nkategorie Zeit, worauf wie<strong>der</strong>um Norbert Elias h<strong>in</strong>weist, allerd<strong>in</strong>gs erstdas Resultat e<strong>in</strong>es langwierigen und +zwanghaften* Zivilisationsprozesses (vgl. Über die Zeit).Im aktuellen systemtheoretischen Konstruktivismus schließlich wird <strong>der</strong> (soziale) Konstruktcharakter<strong>der</strong> Zeit beson<strong>der</strong>s klar herausgestellt. Hier gilt Zeit schlicht als das Resultat von Operationenbzw. Kommunikation <strong>in</strong> sozialen Systemzusammenhängen – und wird so nach außenzurückgespiegelt (vgl. Nassehi: Die Zeit <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 379ff.). 23So vielfältig und kont<strong>in</strong>gent also die Vorstellungen über Zeitlichkeit s<strong>in</strong>d, so +zeitlich* (d.h.zeitmodellabhängig) ist die Vorstellung <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz. Aus +pragmatischen* Gründen istes jedoch durchaus s<strong>in</strong>nvoll anzunehmen, daß wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er durch Zeitlichkeit geprägten Weltleben, da sich die Konstruktion <strong>der</strong> (l<strong>in</strong>ear-progressiven) Zeit für die Bewältigung unseresAlltags schließlich als überaus +praktisch* erwiesen hat, d.h. sie erlaubt uns e<strong>in</strong>e Orientierungund Koord<strong>in</strong>ierung unserer Handlungen <strong>in</strong> bezug auf unsere soziale Umwelt. Aus dem somit+pragmatisch legitimierten* Konstrukt e<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>ear-progressiven Zeit, aus <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um die(mögliche) Wirklichkeit <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz erwächst, entstehen aber weitere Probleme: das Problem<strong>der</strong> Freiheit bzw. Determ<strong>in</strong>ation und das Problem <strong>der</strong> Gerechtigkeit.Zunächst zum Problem <strong>der</strong> Gerechtigkeit: Im (zeitlichen) Wirken <strong>der</strong> Wirklichkeit schrumpft<strong>der</strong> Raum des Möglichen, wie erläutert, auf e<strong>in</strong>en Punkt zusammen; alle an<strong>der</strong>en Möglichkeiten


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIENCIwerden dadurch elim<strong>in</strong>iert und ihrer potentiellen Wirklichkeit wi<strong>der</strong>fährt somit +Ungerechtigkeit*.Da wir <strong>in</strong> den Prozeß <strong>der</strong> Verwirklichung handelnd e<strong>in</strong>bezogen s<strong>in</strong>d, haben wir Teil an <strong>der</strong>Ungerechtigkeit des Wirklichen. Im Handeln erfolgt schließlich immer e<strong>in</strong>e Elim<strong>in</strong>ierung vonMöglichkeiten. Aber jede Wirklichkeit und jedes Handeln br<strong>in</strong>gt umgekehrt auch wie<strong>der</strong> neueMöglichkeiten hervor, eröffnet neue Kont<strong>in</strong>genzräume, so daß es mit <strong>der</strong> Punktualisierung<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz im Wirklichkeitsprozeß immer zu e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Depunktualisierungdes Kont<strong>in</strong>genzraums kommt. Es besteht folglich e<strong>in</strong>e Dialektik von Punktualisierung undDepunktualisierung. Deshalb ist es nicht nur gerechtfertigt, son<strong>der</strong>n auch geboten zu handeln.Das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reflexion <strong>der</strong> Reflexivität <strong>der</strong> Prozesse und <strong>der</strong> Ambivalenzen des Bewußtse<strong>in</strong>sentstehende (authentische) Bewußtse<strong>in</strong> für Kont<strong>in</strong>genz ruft zum (reflexiven) Handeln auf.Jedes (deflexive) Nicht-Handeln würde vor dem H<strong>in</strong>tergrund des Kont<strong>in</strong>genz-Bewußtse<strong>in</strong>sschließlich ebenso e<strong>in</strong>e Ungerechtigkeit gegenüber den durch Passivität ihrer potentiellenWirklichkeit beraubten (utopisch-transzendenten) Möglichkeiten bedeuten.In se<strong>in</strong>en Handlungen ist das Subjekt jedoch ke<strong>in</strong>eswegs frei, son<strong>der</strong>n vielmehr +bestimmt*durch die Grenzen <strong>der</strong> Möglichkeitsräume und die (subjektiven wie objektiven) Wi<strong>der</strong>sprüche<strong>der</strong> Wirklichkeit, <strong>in</strong> die es e<strong>in</strong>gebettet ist. Entgegen dem naturwissenschaftlichen Modell,welches +Freiheitsgrade* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> (objektiven) Möglichkeiten bemißt, bedeutet Kont<strong>in</strong>genzgemäß <strong>der</strong> hier vertretenen Auffassung also nicht automatisch Freiheit, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Ausgeliefertse<strong>in</strong>an das Mögliche. Vielmehr wäre Freiheit, wie Sartre feststellte, genau entgegengesetzte<strong>in</strong> ständiges +Der-Kont<strong>in</strong>genz-Entgehen, sie ist Ver<strong>in</strong>nerung, Nichtung und Subjektivierung<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz, die, auf diese Weise modifiziert, gänzlich <strong>in</strong> die Grundlosigkeit <strong>der</strong> Wahlübergeht* (Das Se<strong>in</strong> und das Nichts; S. 830).Denn erst <strong>in</strong>dem wir uns handelnd für die Verwirklichung des Möglichen entscheiden unddazu unser Möglichstes beitragen, entsteht das, was +Ich* als Freiheit begreife: e<strong>in</strong>e Freiheit,die nicht objektiv bestimmbar ist, son<strong>der</strong>n sich als Empf<strong>in</strong>dung dann e<strong>in</strong>stellt, wenn die(beschränkenden) äußeren Strukturen mit dem (durch die immanenten Strukturen des Selbstbestimmten) subjektiven Wollen übere<strong>in</strong>stimmen.24Daß hier von kont<strong>in</strong>genten Möglichkeits-räumen gesprochen wird, bedeutet deshalb ke<strong>in</strong> <strong>Post</strong>ulat e<strong>in</strong>er a priori vorgegebenen, metaphysisch-transzendentalenFreiheit, wie sie Kant im Rahmen se<strong>in</strong>er +Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft*(1781) und – implizit – auch Sartre annimmt (siehe hier S. 347f.). Freiheit als transzendentutopischeKategorie, die als Wollen negativ <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reibung des Subjekts am Objekt, <strong>in</strong> <strong>der</strong>


CIIPOLITIK IN DER (POST-)MODERNEErfahrung <strong>der</strong> Unfreiheit durch die +Geworfenheit* <strong>in</strong> e<strong>in</strong> beschränkendes Se<strong>in</strong> wurzelt, mußvielmehr aktiv – d.h. unter <strong>der</strong> Ausnutzung <strong>der</strong> bestehenden Kont<strong>in</strong>genzräume und durchihre gezielte Vergrößerung <strong>in</strong> Richtung auf das Utopische h<strong>in</strong> – hergestellt werden.Doch auch Freiheit, als +grundsätzlich* utopische Kategorie, ist nicht frei von Ambivalenz.Freiheit ist immer auch Zumutung und Bedrohung, denn sie wi<strong>der</strong>strebt dem zwar entgrenzenden,aber ebenso konformierenden Selbstauflösungsstreben, das – <strong>in</strong> dialektischer Ergänzungzum Selbstbehauptungsstreben – me<strong>in</strong>es Erachtens sogar die Grundlage <strong>der</strong> sozialen Orientierungbildet. Auf dieses +Doppelgesicht <strong>der</strong> Freiheit* wies schon Erich Fromm h<strong>in</strong> (vgl. Die Furchtvor <strong>der</strong> Freiheit; S. 24ff.). Die Ambivalenz ist allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> Freiheit (als e<strong>in</strong>e menschlicheEmpf<strong>in</strong>dung, nicht als re<strong>in</strong> abstrakte Kategorie) immanent und weniger, wie Fromm me<strong>in</strong>te,alle<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Ausdruck <strong>der</strong> mangelnden Stärke des Subjekts <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em deformierenden Kontext(vgl. ebd.; S. 80ff. und siehe auch hier S. XXVIIf.). Doch da die Freiheit <strong>in</strong> je<strong>der</strong> H<strong>in</strong>sichtambivalent ist, ist sie ebenso als e<strong>in</strong> negatives Wollen, als e<strong>in</strong>e Orientierung <strong>in</strong> Richtung aufmehr Gestaltungs- und (Selbst-)Verwirklichungsmöglichkeiten nicht gänzlich elim<strong>in</strong>ierbar. Wirddas autonome Freiheitsstreben folglich unterdrückt, so drängt es entwe<strong>der</strong>, sich auflehnend,nach außen, o<strong>der</strong> es zerbricht das Innen, läßt das Subjekt die Flucht <strong>in</strong>s Autoritäre antreten(vgl. ebd.; S. 107ff.). E<strong>in</strong> solchermaßen im Innen unterdrücktes Freiheitsstreben äußert sich<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Selbstentfremdung. Diese wie<strong>der</strong>um äußert sich notwendig auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Entfremdungvon +den an<strong>der</strong>en*, da das unterdrückte, <strong>in</strong> autoritären (Selbst-)Strukturen verfangene identischeSubjekt sich nicht reflexiv-authentisch (d.h. offen) auf se<strong>in</strong>e Umwelt beziehen kann.Damit diese doppelte Entfremdung nicht e<strong>in</strong>tritt, muß das Subjekt also zu se<strong>in</strong>er nichtidentischen,authentischen Basis f<strong>in</strong>den und (um auch Rückhalt im Außen zu erlangen) die bestehendeKont<strong>in</strong>genz für die (befreiende) Möglichkeit sozialer Konvergenz nutzen. Konvergenz bedeutete<strong>in</strong>en Prozeß <strong>der</strong> reziproken Annäherung. Diese ist <strong>in</strong> ihrer Gegenseitigkeit nicht limitierend,schränkt die Freiheitsempf<strong>in</strong>dungen und die Möglichkeitsräume nicht e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n bewirkt,<strong>in</strong> <strong>der</strong> (dynamischen) Dialektik von Punktualisierung und Depunktualisierung, real ihre Vergrößerung.Es läßt sich sogar behaupten, daß (utopische) Kont<strong>in</strong>genz Konvergenz geradezuerfor<strong>der</strong>t, denn nur durch geme<strong>in</strong>same Anstrengungen, kann das Mögliche erreicht und <strong>der</strong>Möglichkeitsraum erweitert werden. Im Gegensatz zum Kongruenzmodell des Konsenses,<strong>der</strong>, wie Lyotard feststellte, e<strong>in</strong> +veralteter und suspekter Wert* geworden ist (Das postmo<strong>der</strong>neWissen; S. 190), und <strong>der</strong> deshalb selbst ke<strong>in</strong>en Konsens mehr erhoffen kann, läßt Konvergenz


EXCURSION TERMINALE: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIENCIIIschließlich (unvermeidliche) Differenzen bestehen, gibt dem Dissens und dem Wi<strong>der</strong>spruchihren Raum (vgl. auch <strong>der</strong>s.: Der Wi<strong>der</strong>streit und siehe hier S. 52f.). Konvergenz beruht, ohnedie Orientierung am Geme<strong>in</strong>samen aufzugeben, vielmehr sogar notwendig auf Differenz,die selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Annäherung nie überwunden wird und werden soll. Im Begriff <strong>der</strong> Konvergenzwird zudem <strong>der</strong> prozeßhafte Charakter des Sozialen betont, was im +punktuellen* Begriffdes Konsenses, <strong>der</strong> erreicht ist o<strong>der</strong> nicht (wenn er überhaupt erreicht werden kann), kaumaufsche<strong>in</strong>t. Allerd<strong>in</strong>gs: Wenn man das mathematische Konvergenz-Modell zum Bezugspunktnimmt, so ist die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konvergenz erfolgende asymptotische Annäherung stetig. Dies istbeim Prozeß +sozialer* Konvergenz natürlich nicht <strong>der</strong> Fall. Diese verläuft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er brüchigen,diskont<strong>in</strong>uierlichen L<strong>in</strong>ie, ist unvorhersehbar und folglich: kont<strong>in</strong>gent.Damit ist <strong>der</strong> Zirkel von <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz zur Konvergenz zur Kont<strong>in</strong>genz, wie auch <strong>der</strong> Zirkeldieses Textes, geschlossen. Doch warum war die (tautologische) Anstrengung dieser +Textarbeit*überhaupt notwendig, wenn die Basis <strong>der</strong> utopischen Überschreitung, wie hier aufzuzeigenversucht wurde, ohneh<strong>in</strong> im authentischen, auf die soziale Umwelt reflexiv bezogenen Selbstzu suchen ist und nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie. Das authentische Selbst braucht jedoch, wie ich me<strong>in</strong>e,zuweilen e<strong>in</strong>en äußeren Anstoß um se<strong>in</strong>e +ursprüngliche*, nichtidentische Vielheit und se<strong>in</strong>eAmbivalenz zu entfalten und zuzulassen. E<strong>in</strong> solcher Anstoß sollte mit diesem Text gegebenwerden. Und es macht durchaus +S<strong>in</strong>n*, die Theorie und ihre Begriffe für die utopische Praxise<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Se<strong>in</strong>s zu bemühen. Denn die konkrete, s<strong>in</strong>nliche, bestimmte Negation, alsVoraussetzung <strong>der</strong> utopischen Bewegung, braucht – vor allem, um kommunizierbar zu werden– e<strong>in</strong>e begriffliche Bestimmung. Man muß deshalb zum e<strong>in</strong>en die Sedimente <strong>der</strong> Sprachedekonstruierend durchsieben und aufwühlen, um den <strong>in</strong> ihr (möglicherweise) verborgenen(Gegen-)S<strong>in</strong>n hervorzukehren. Man muß jedoch zuweilen auch neue, kritische Begriffe schaffen,um utopische Gegenerzählungen zu ermöglichen. Beides wurde hier (z.B. mit den Begriffen<strong>der</strong> Deflexion und <strong>der</strong> Praxologie) versucht. Der sich über so viele Seiten h<strong>in</strong>weg erstreckendetheoretische Monolog war deshalb immer auch e<strong>in</strong> gedachter Dialog mit dem Leser, demdas kritische Potential <strong>der</strong> entwickelten Begriffe (anschaulich) vermittelt werden sollte. An<strong>der</strong>erseitswar dieser Text ebenso stets e<strong>in</strong> Dialog mit an<strong>der</strong>en Texten; er stellt e<strong>in</strong> Textgewebedar, <strong>in</strong> das viele Stimmen verwoben wurden. So bleibt mir am Ende nur zu sagen: Und wennauch alles bereits gesagt wäre, so wäre es doch nicht von mir gesagt.


APPENDIX


A: ANMERKUNGEN


4 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEENTRÉE DISCURSIVE: POSTMODERNE – ENDE ODER VOLLENDUNG DER MODERNE?1. In ihrem Buch +Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität* (1973) konstatieren die drei Autoren Peter L. Berger, BrigitteBerger und Hansfried Kellner, die die mo<strong>der</strong>ne Welt aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Wissenssoziologie betrachten, e<strong>in</strong>e+Pluralisierung <strong>der</strong> sozialen Lebenswelten* – d.h. mo<strong>der</strong>ne Individuen erfahren ihre Umwelt als segmentiert, <strong>in</strong> verschiedeneBereiche getrennt. Dadurch ist die mo<strong>der</strong>ne Identität beson<strong>der</strong>s offen, differenziert, reflexiv und <strong>in</strong>dividuiert. An<strong>der</strong>erseitsfühlen sich viele Menschen entwurzelt und verunsichert (vgl. S. 59–74). Dies führt zu e<strong>in</strong>er permanenten Identitätskriseund e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> Heimatlosigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt stellt sich e<strong>in</strong>, weshalb <strong>der</strong> Titel <strong>der</strong> englischen Orig<strong>in</strong>alausgabeauch +The Homeless M<strong>in</strong>d* lautet.2. Erikson hat e<strong>in</strong> Entwicklungsmodell <strong>der</strong> Identität konzipiert, das den +Brennpunkt* <strong>der</strong> Identitätsbildung <strong>in</strong> <strong>der</strong>Adoleszenz ansetzt. In dieser Lebensphase entscheidet es sich gemäß Erikson, ob man e<strong>in</strong>e kohärente Identität gew<strong>in</strong>nenkann, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fähigkeit ausdrückt, +e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere E<strong>in</strong>heitlichkeit und Kont<strong>in</strong>uität […] aufrechtzuerhalten* (Identitätund Lebenszyklus; S. 107), o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Identitätsdiffusion e<strong>in</strong>tritt, <strong>der</strong>en Resultat +e<strong>in</strong>e Zersplitterung des Selbst-Bildes[…], e<strong>in</strong> Gefühl von Verwirrung und <strong>in</strong> schweren Fällen die Furcht vor völliger Auflösung* ist (ebd.; S. 154).3. Bei <strong>in</strong> den Text <strong>in</strong>tegrierten Zitaten (wie hier) nenne ich die Quelle nicht direkt im Anschluß, son<strong>der</strong>n so, daß esden Lesefluß nicht stört. Der von Keupp gebrauchte Begriff des Identitätszwangs geht ursprünglich übrigens auf Adornozurück.4. So z.B. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz +Grundzüge e<strong>in</strong>er reflexiven Sozialpsychologie – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Perspektiven*, wo er fürdie +Wie<strong>der</strong>gew<strong>in</strong>nung kritischer Reflexivität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychologie* plädiert (S. 226) und damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ähnliche Richtungweist, wie ich sie hier anstrebe.5. In sehr prägnanten Worten bemerkt hierzu Claus Beyme: +Die Abgrenzung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird häufig dadurch verwirrt,daß die Entstehung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> <strong>der</strong> realen Geschichte und die Entstehung e<strong>in</strong>er Theorie dieser Mo<strong>der</strong>ne ständigvermischt werden […] Jede Wissenschaft neigte dazu, die Gesichtspunkte, welche ihr Forschungsfeld beherrschten,dem Begriff <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zugrundezulegen. In e<strong>in</strong>er wirtschaftszentrierten Forschung wurde die Mo<strong>der</strong>ne meist mitdem Kapitalismus gleichgesetzt. Später wurde die Industriegesellschaft als Folge des Kapitalismus mit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>neidentifiziert […] In kultur-zentrierten Forschungen wurden kulturelle Prozesse wie Säkularisierung, Ausbreitung <strong>der</strong>rationalen Lebensführung und ›Entzauberung <strong>der</strong> Welt‹ als die wichtigsten Kennzeichen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne herausgestellt.*(Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 29)6. Das ist selbstverständlich e<strong>in</strong>e eher pragmatische Festschreibung als e<strong>in</strong>e durch konkrete historische Transformationenso e<strong>in</strong>deutig zu rechtfertigende Datierung. Zurück geht sie auf das um 1700 erschienene Werk +Historia Nova* vonChristoph Cellarius, <strong>der</strong> zum ersten Mal die Epochen Altertum, Mittelalter und Neuzeit unterschied (vgl. Burkhardt:Frühe Neuzeit; S. 11f.). Allerd<strong>in</strong>gs gab es um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong>e Reihe vonbedeutenden Ereignissen, die diese Epochene<strong>in</strong>teilung zum<strong>in</strong>dest plausibel machen: 1492 erfolgte die (unbeabsichtigte)+Entdeckung* Amerikas durch Kolumbus, 1497/1498 gelang Vasco da Gama schließlich <strong>der</strong> Vorstoß nach Indienauf dem Seeweg, den sich auch Kolumbus erträumt hatte, und 1517 schlug Luther se<strong>in</strong>e Thesen an die Schloßkirchezu Wittenberg, womit die Reformation e<strong>in</strong>geläutet war (vgl. hierzu z.B. Mieck: Geschichte <strong>der</strong> Frühen Neuzeit; <strong>in</strong>sb.S. 12–74 u. S. 102–143).Die Neuzeit brach jedoch auch für viele Historiker ke<strong>in</strong>esfalls plötzlich über die Menschheit here<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> im16. Jahrhun<strong>der</strong>t sich schließlich dynamisierenden Entwicklung g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e lange Latenzzeit voraus. Romano und Tenentisetzen +Die Grundlegung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt* (1967) deshalb bereits Mitte des 14. Jahrhun<strong>der</strong>ts an, als es, ausgelöstdurch die schwarze Pest, zu e<strong>in</strong>em verstärkten +Todesbewußtse<strong>in</strong>* kam, das – <strong>in</strong>dem es sich nicht <strong>in</strong> die christlicheVorstellungswelt <strong>in</strong>tegrieren ließ und die eigene Person <strong>in</strong>s Zentrum des Interesses rückte – den Individualismus <strong>der</strong>Renaissance vorbereitete: +Gerade weil dieses Bewußtse<strong>in</strong> ausschließlich das eigene irdische Dase<strong>in</strong> betraf, war esnicht christlicher Natur und blieb dem System <strong>der</strong> üblichen Anschauungen fremd […] Im geheimsten W<strong>in</strong>kel <strong>der</strong>eigenen Überzeugungen, wo das Dogma unwi<strong>der</strong>sprochen hätte herrschen sollen, dachte <strong>der</strong> Mensch nunmehr ansich selbst als Mensch und nicht nur als Christ.* (S. 119)7. Dieses häufig angeführte Zitat wird zumeist <strong>in</strong> <strong>der</strong> late<strong>in</strong>ischen Übersetzung (cogito ergo sum) angegeben. Orig<strong>in</strong>alsteht es jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat <strong>in</strong> französisch und zwar auch nicht, wie häufig angenommen, <strong>in</strong> den +Meditationes* (1641),son<strong>der</strong>n im früheren +Discours de la méthode* (1637) (S. 54 [IV,3]).


A: ANMERKUNGEN 58. Descartes war allerd<strong>in</strong>gs nur im Rahmen <strong>der</strong> europäischen Philosophietradition <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> die Selbsterkenntniszum Ausgangspunkt se<strong>in</strong>er Philosophie nahm. In <strong>der</strong> buddhistischen Schule des Vijña) na-Va) da (Bewußtse<strong>in</strong>slehre),die von Asa 0nga und Vasubandhu begründet wurde, wußte man schon im 5. Jahrhun<strong>der</strong>t, daß +<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige sichereAusgangspunkt für e<strong>in</strong>e Ergründung des Wesens von Ich und Welt […] nur das Selbstbewußtse<strong>in</strong> se<strong>in</strong> [kann], weilohne dieses we<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Ich noch irgendwelche Dase<strong>in</strong>selemente wahrgenommen werden können* (Glasenapp: DiePhilosophie <strong>der</strong> In<strong>der</strong>; S. 348f.).9. E<strong>in</strong>e Stelle aus dem +Discours de la méthode* macht die rationalistisch-szientistische Ausrichtung Descartes’ me<strong>in</strong>erMe<strong>in</strong>ung nach exemplarisch deutlich. Er bemerkt dort: +Jene langen Ketten ganz e<strong>in</strong>facher und leichter Begründungen,die die Geometer zu gebrauchen pflegen, um ihre schwierigsten Beweise durchzuführen, erweckten <strong>in</strong> mir die Vorstellung,daß alle D<strong>in</strong>ge, die menschlicher Erkenntnis zugänglich s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> auf dieselbe Weise folgen und daß, vorausgesetzt,man verzichtet nur darauf, irgend etwas für wahr zu halten, was es nicht ist, und man beobachtet immer die Ordnung,die zur Ableitung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en aus den an<strong>der</strong>en notwendig ist, nichts so fern liegen, daß man es nicht erreichte, undnichts so verborgen se<strong>in</strong> kann, daß man es nicht entdeckte.* (S. 33 [II,11])Bacon, als eigentlicher Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> (natur)wissenschaftlichen Methodik <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit, äußert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em +NovumOrganum* (1620) die vielzitierte Auffassung, daß Wissen Macht bedeutet, weil es – über die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> ihreGesetzlichkeiten – die Beherrschung von Natur erlaubt. Solche Macht verleiht jedoch nur e<strong>in</strong>e +objektive* Wissenschaft,<strong>der</strong>en Vorstellungen +unverfälscht* s<strong>in</strong>d durch die Trugbil<strong>der</strong>, die durch die Beschaffenheit <strong>der</strong> +menschlichen Natur*,<strong>in</strong>dividuelleFaktoren wie Gewohnheiten und Neigungen, sprachliche Konventionen und philosophische Irrme<strong>in</strong>ungenhervorgerufen werden. Abhilfe kann hier nach Bacon nur e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>duktive, empirische Wissenschaft bieten, die gezielteExperimente anstellt und diese (tabellarisch) auswertet.10. Rousseau verfaßte (1750) se<strong>in</strong>e erste große kulturkritische Abhandlung als Beantwortung e<strong>in</strong>er Preisfrage <strong>der</strong> Akademievon Dijon 1750, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er die These aufstellt, daß sowohl Wissenschaft wie Künste nichts zur Läuterung <strong>der</strong> Sittenbeigetragen hätten (vgl. Über Kunst und Wissenschaft; S. 11ff.). Baumgartens +Aesthetica*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> dieser laut Welschdas ästhetische Pr<strong>in</strong>zip als Ergänzung zur rationalistischen Logik propagiert, erschien schon 1735 (und nicht wie Welschme<strong>in</strong>t im selben Jahr wie Rousseaus erster +Discours*). Noch e<strong>in</strong> Jahrzehnt früher, nämlich 1725, formulierte Vico<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en +Pr<strong>in</strong>cipi di una scienza nuova* se<strong>in</strong>e Geschichtsphilosophie, die von e<strong>in</strong>er Verfallsperspektive getragen ist:Nach dem Aufstieg (corso), <strong>der</strong> <strong>in</strong> drei Stadien verläuft, folgt unweigerlich <strong>der</strong> Abstieg (ricorso).11. In se<strong>in</strong>er Rede anläßlich <strong>der</strong> Verleihung des Adorno-Preises <strong>der</strong> Stadt Frankfurt an ihn im Jahr 1980, die unterdem Titel +Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt* bereits verschiedentlich veröffentlicht wurde und aus <strong>der</strong> ichim folgenden zitiere, bezieht Habermas sich natürlich auch auf das avantgardistische Mo<strong>der</strong>ne-Verständnis von Adorno,so wie er es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er +Ästhetische[n] Theorie* (1973) darlegte. Ich möchte auf diesen Aspekt jedoch nicht e<strong>in</strong>gehen.12. E<strong>in</strong> Blick auf Anmerkung 5 vermag diese These Habermas’ zusätzlich zu belegen. Ziemlich genau an <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>twendezum 18. Jahrhun<strong>der</strong>t wird die uns geläufige Epochene<strong>in</strong>teilung zum ersten Mal dargelegt.13. Jahreszahlenangaben <strong>in</strong> Klammern nach <strong>der</strong> Nennung von Werktiteln beziehen sich immer auf das Ersche<strong>in</strong>ungsjahrdes Orig<strong>in</strong>als und nicht auf das Ersche<strong>in</strong>ungsjahr <strong>der</strong> hier verwendeten Ausgabe.14. Der wesentliche Unterschied zu Aristoteles besteht dar<strong>in</strong>, daß dieser stets den Vorrang <strong>der</strong> Theorie gegenüber<strong>der</strong> Praxis betonte und somit auch <strong>der</strong> theoretischen Vernunft e<strong>in</strong>en grundsätzlich höheren Stellenwert als <strong>der</strong> praktischenVernunft e<strong>in</strong>räumt (vgl. z.B. Nikomachische Ethik; S. 176 [1145]). Die Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Ethik können also noch an e<strong>in</strong>erübergeordneten Se<strong>in</strong>sordnung, an +Wahrheit* gemessen werden (vgl. ebd.; S. 285–288 [1176–1177]). Eben die Ergründungdieser Wahrheit ist die Aufgabe <strong>der</strong> Philosophie (vgl. Metaphysik; S. 52f. [993a–994a]).Diese Möglichkeit entfällt beiKant. Die moralische Pflicht ist das Ergebnis <strong>der</strong> Selbst-Gesetzgebung <strong>der</strong> autonomen Vernunft und hat als Grundlageden freien Willen.15. Dieses Zitat wird auch von Habermas wie<strong>der</strong>gegeben.16. Vgl. z.B. Phänomenologie des Geistes; S. 320ff. (S. 429ff.). Die Seitenangabe <strong>in</strong> Klammern bezieht sich auf dieSeitenzählung <strong>der</strong> Orig<strong>in</strong>alausgabe aus dem Jahr 1807.17. Vgl. <strong>in</strong>sb. Grundl<strong>in</strong>ien <strong>der</strong> Philosophie des Rechts; §§ 105ff. sowie §§ 257ff.


6 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE18. Vgl. z.B. Phänomenologie des Geistes; S. 394f. [548ff.].19. Habermas geht davon aus, daß es zuvor ke<strong>in</strong>e von <strong>der</strong> Privatsphäre getrennte Öffentlichkeit gegeben hat:+Öffentlichkeit als eigener, von e<strong>in</strong>er privaten Sphäre geschiedener Bereich läßt sich für die feudale Gesellschaft deshohen Mittelalters soziologisch, nämlich anhand <strong>in</strong>stitutioneller Kriterien, nicht nachweisen.* (Strukturwandel <strong>der</strong>Öffentlichkeit; S. 60). Diese Aussage ersche<strong>in</strong>t mir fragwürdig, da es z.B. durchaus explizit öffentliche Institutionenwie Badehäuser o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit zur Verfügung stehende Backöfen gegeben hat (vgl. Mumford: Die Stadt;S. 334). Und auch den Individuen wird bewußt gewesen se<strong>in</strong>, wann sie sich im öffentlichen und wann sie sich imprivaten Raum aufgehalten haben. Richtig ist jedoch, daß e<strong>in</strong>e stärkere Durchdr<strong>in</strong>gung bei<strong>der</strong> Bereiche gegeben war,<strong>in</strong>dem z.B. die Familie nicht jenen Intimbereich repräsentierte wie er es heute ist, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haushalt dieverschiedensten Personen (die Hausherrn, ihre Angehörigen, Ges<strong>in</strong>de, Gäste etc.) zusammenwohnten und häufigauch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zimmer schliefen (vgl. ebd.; S. 328)20. Vgl. z.B. Palmade (Hg.): Das bürgerliche Zeitalter; S. 233–306.21. In Großbritannien wuchs die Bevölkerung alle<strong>in</strong>e zwischen 1820 und 1860 von 14,3 auf 23,2 Mio. Im deutschenReichsgebiet gibt es verläßliche Zahlen für die Jahre 1816 und 1855. Hier steigerte sich die Bevölkerung von 23,5auf 34,6 Mio. Das bedeutet also Steigerungsraten <strong>in</strong>nerhalb von jeweils ca. 40 Jahren von 62,2 % (GB) bzw. 46,9%(deutsches Reichsgebiet). (Vgl. Köllmann: Bevölkerung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Revolution; S. 27)22. Comte war es, <strong>der</strong> den Begriff +Soziologie* prägte.23. Natürlich gab es auch fortschrittskritische Stimmen und zwar nicht zu knapp. Doch selbst wer, wie die +CölnischeZeitung* vom 28. März 1819, gegen die E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Gasbeleuchtung wettert, erkennt die revolutionierende Kraft<strong>der</strong> technischen Neuerungen an und sieht sich zudem gezwungen, +rationalisierende* Argumente dagegen vorzubr<strong>in</strong>gen:+Jede Straßenbeleuchtung durch Gas ist verwerflich: 1. aus theologischen Gründen, weil sie als E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> die OrdnungGottes ersche<strong>in</strong>t […] 2. aus juristischen Gründen, weil die Kosten <strong>der</strong> Beleuchtung durch <strong>in</strong>direkte Steuern aufgebrachtwerden sollen […] 3. aus mediz<strong>in</strong>ischen Gründen: die Öl- und Gasausdunstung wirkt nachteilig auf die Gesundheitschwachleibiger und zartnerviger Personen […] 4. aus philosophischen Gründen: […] Die künstliche Helle verscheucht<strong>in</strong> den Gemütern das Grauen vor <strong>der</strong> F<strong>in</strong>sternis, die die Schwachen vor mancher Sünde abhält […] 5. aus polizeilichenGründen: sie macht die Pferde scheu und die Diebe kühn […] 6. aus staatswirtschaftlichen Gründen: für den LeuchtstoffÖl o<strong>der</strong> Ste<strong>in</strong>kohle geht jährlich e<strong>in</strong>e bedeutende Summe <strong>in</strong>s Ausland, wodurch <strong>der</strong> Nationalreichtum geschwächtwird […]* (Zitiert nach Pönicke: Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Europas im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 13f.)24. Vor allem aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst- und Architekturtheorie ist dies e<strong>in</strong>e gängige Datierung – freilich auf an<strong>der</strong>er, nämlichstildifferenzieren<strong>der</strong> Grundlage: So beg<strong>in</strong>nt die Geschichte <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Kunst beispielsweise für Edward Lucie-Smithmit dem ersten öffentlichen Auftreten <strong>der</strong> Fauves 1905. Und unter mo<strong>der</strong>ner Architektur stellen wir uns noch immer<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Wohnqua<strong>der</strong> im sachlich-funktionellen +International-Style* vor. Zwar wird z.B. <strong>in</strong> Kenneth Framptons+kritischer Baugeschichte* <strong>der</strong> Ursprung <strong>der</strong> +Architektur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* bis zur Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts zurückprojiziert(vgl. S. 8), doch liegt die erste Epoche <strong>der</strong> wirklich mo<strong>der</strong>n zu nennenden Architektur für die meisten Architekturtheoretikernach dem 1. Weltkrieg (vgl. z.B. Joedicke: Architekturgeschichte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 12ff.).25. Zur Übersicht eignet sich am besten die Skizze am Ende des ersten Kapitels (S. 29) <strong>der</strong> +Work<strong>in</strong>g Papers*, dassich allerd<strong>in</strong>gs primär mit den psychologischen Aspekten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Handlungssituation befaßt. Weniger deutlich als <strong>in</strong><strong>der</strong> erwähnten Graphik tritt Parsons’ vierdimensionales Modell des Handlungsraumes <strong>in</strong> +Toward a General Theoryof Action* zutage: Dort entwirft er se<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong> +pattern variables* als dichotomes Schematisierungsraster <strong>der</strong>möglichen Situationsorientierungen (affectivity vs. affective neutrality, self-orientation vs. collectivity-orientation,universalism vs. particularism, ascription vs. achievement, specificy vs. diffuseness), unterscheidet aber auch sozialeObjekte (Individuen und Kollektive) von nicht-sozialen (physischen und kulturellen) Objekten, womit die vier zentralenObjekttypen bzw. Komponenten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Handlungssituation <strong>in</strong>direkt genannt s<strong>in</strong>d (vgl. Teil II, Kap. 1: Parsons/Shills:Categories of the Orientation and Organization of Action; <strong>in</strong>sb. S. 57f. u. S. 77).26. E<strong>in</strong>e prägnante eigene Zusammenfassung des Zusammenhangs zwischen +Aktionssystem* und +Sozialsystem*durch Parsons f<strong>in</strong>det sich z.B. <strong>in</strong> +The System of Mo<strong>der</strong>n Societies* aus dem Jahr 1971 (vgl. S. 4ff.). Ansätze zu e<strong>in</strong>erallgeme<strong>in</strong>en Systemtheorie s<strong>in</strong>d auch bereits <strong>in</strong> Parsons’ noch primär handlungstheoretischer Schrift +The Social System*(1951) vorgezeichnet.


A: ANMERKUNGEN 727. Genau genommen beziehen sich van <strong>der</strong> Loo und van Reijen primär auf Adriaansens, <strong>der</strong> Parsons’ handlungstheoretischeAussagen generalisierte (vgl. Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 29).28. Vgl. hierzu z.B. Hradil: Sozialstrukturelle Paradoxien und gesellschaftliche Mo<strong>der</strong>nisierung.29. Die grundlegende Argumentation f<strong>in</strong>det sich bereits <strong>in</strong> dem Aufsatz +Jenseits von Stand und Klasse?*, <strong>der</strong> 1983im Son<strong>der</strong>band 2 <strong>der</strong> +Sozialen Welt* erschienen ist.30. Durkheim illustriert se<strong>in</strong>e These anhand <strong>der</strong> Betrachtung des Charakters des Rechts <strong>in</strong> den verschiedenenGesellschaftsstufen. In früherer Zeit herrschte e<strong>in</strong> repressives Rechtsdenken vor, das den strafenden Aspekt betonte.An die Stelle des repressiven Rechts ist jedoch e<strong>in</strong> kooperatives, restitutives Recht getreten, das den Gedanken desSchadensausgleichs und die Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung des +Übeltäters* <strong>in</strong> die Gesellschaft <strong>in</strong> den Mittelpunkt stellt. (Vgl.Über die Teilung <strong>der</strong> sozialen Arbeit; S. 111ff. u. S. 152ff.)31. Ich möchte zusätzlich auch auf Parsons’ diesbezügliche Aussagen <strong>in</strong> +Societies – Evolutionary and ComparativePerspectives* h<strong>in</strong>weisen (vgl. <strong>in</strong>sb. S. 21ff.).32. Luhmann unterscheidet noch e<strong>in</strong>e weitere Form <strong>der</strong> Differenzierung: die segmentierende Differenzierung. Sieist die +primitivste* dieser drei und beruht auf +<strong>der</strong> Bildung gleicher E<strong>in</strong>heiten, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Familien, Geschlechtero<strong>der</strong> Wohngeme<strong>in</strong>schaften bzw. Dörfer* (Gesellschaftsstruktur und Semantik; S. 25).33. Vgl. z.B. Legitimation durch Verfahren; S. 249f.34. Vgl. hierzu z.B. die Def<strong>in</strong>ition des +sozialen Systems* <strong>in</strong> +Ökologische Kommunikation* (1990): +E<strong>in</strong> soziales Systemkommt zustande, wenn e<strong>in</strong> autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht […] Soziale Systeme bestehendemnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, son<strong>der</strong>n aus Kommunikationen.* (S. 269) +Die Soziologieund <strong>der</strong> Mensch* (1985) stehen damit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em problematischen Verhältnis.35. E<strong>in</strong>ige Schlüsseltexte zum +Diskurs des Radikalen Konstruktivismus* (1987) f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von SiegfriedSchmidt herausgegebenen Sammelband. In dem Beitrag +Autonomie und Autopoiese* erläutert Francisco Varela dieZusammenhänge zwischen Autonomie und Selbst-Erzeugung. Grundsätzliche Voraussetzung für die Autonomie e<strong>in</strong>esSystems ist demnach se<strong>in</strong>e organisationelle Geschlossenheit (vgl. S. 121). Deshalb verlagert Luhmann se<strong>in</strong>e Perspektiveauch von offenen zu geschlossenen Systemen. Dieser Bruch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Theorie wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sekundärliteratur mit demBegriff +autopoietische Wende* gefaßt.36. Beispiele für neuere Bücher Luhmanns, <strong>in</strong> denen diese Auffassung zum Tragen kommt, s<strong>in</strong>d +Ökologische Kommunikation*(1990) und +Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne* (1992). Aber schon <strong>in</strong> +Soziale Systeme* (1984) heißt es: +Gesellschaftist heute e<strong>in</strong>deutig Weltgesellschaft* (S. 585), und <strong>in</strong> dem Aufsatz +Die Weltgesellschaft* (1971) wird das sich darausergebende Problem benannt, +daß e<strong>in</strong>e Weltgesellschaft sich konstituiert hat, ohne sich auf politische und normativeIntegrationen zu stützen.* (S. 66)37. Zum ersten Mal fällt <strong>der</strong> Begriff im Text auf Seite 4. Eigentlich thematisiert wird die Individualisierung als +Ausbildung<strong>der</strong> Individualität* jedoch erst <strong>in</strong> Kapitell III (S. 45ff.).38. Heute wird Vergesellschaftung – an<strong>der</strong>s als bei Simmel – als Synonym zum Sozialisationsbegriff verwendet.39. In Taylors Schrift +Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung* (1911) heißt es: +[…] die größte Prosperitätist das Resultat e<strong>in</strong>er möglichst ökonomischen Ausnutzung des Arbeiters und <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>en, d.h. Arbeiter und Masch<strong>in</strong>emüssen ihre höchste Ergiebigkeit, ihren höchsten Nutzeffekt erreicht haben* (S. 10). Um diesen höchsten Nutzeffektzu erzielen stellt Taylor verschiedene Grundsätze <strong>der</strong> wissenschaftlichen Betriebsführung auf. Die erste lautet: +DieLeiter entwickeln e<strong>in</strong> System, e<strong>in</strong>e Wissenschaft für jedes e<strong>in</strong>zelne Arbeitselement, die an die Stelle <strong>der</strong> alten Faustregel-Methode tritt.* (Ebd.; S. 38) Wichtig ist aber auch die Motivierung <strong>der</strong> Arbeiter durch Verantwortungsteilung undkooperative Zusammenarbeit <strong>der</strong> Betriebsleitung mit ihren Untergebenen: +Arbeit und Verantwortung verteilen sichfast gleichmäßig auf Leitung und Arbeiter.* (Ebd.; S. 39) Wenn man allerd<strong>in</strong>gs die konkreten Vorschläge Taylors betrachtet,so zeigt sich, was mit dieser Veranwortungsteilung eigentlich geme<strong>in</strong>t ist: +Erstens: Man suche 10 o<strong>der</strong> 15 Leute (ambesten aus ebensoviel verschiedenen Fabriken und Teilen des Landes), die <strong>in</strong> <strong>der</strong> speziellen Arbeit, die analysiert


8 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEwerden soll, beson<strong>der</strong>s gewandt s<strong>in</strong>d. Zweitens: Man studiere die genaue Reihenfolge <strong>der</strong> grundlegenden Operationen,welche je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne dieser Leute immer wie<strong>der</strong> ausführt […] Drittens: Man messe mit <strong>der</strong> Stoppuhr die Zeit, welchezu je<strong>der</strong> dieser E<strong>in</strong>zeloperationen nötig ist […] Viertens: Man schalte alle falschen, zeitraubenden und nutzlosen Bewegungenaus. Fünftens: Nach Beseitigung aller unnötigen Bewegungen stelle man die schnellsten und besten Bewegungen[…] tabellarisch <strong>in</strong> Serien geordnet zusammen […] Diese beste Methode wird zur Norm und bleibt Norm, bis sieihrerseits wie<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er schnelleren und besseren Serie von Bewegungen verdrängt wird.* (Ebd.; S. 125f.)40. In Webers Hauptwerk +Wirtschaft und Gesellschaft* (1922) heißt es: +Staat im S<strong>in</strong>ne des rationalen Staates [<strong>in</strong>dem alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne Kapitalismus gedeihen kann] hat es nur im Okzident gegeben […] Er beruht auf demFachbeamtentum und dem rationalen Recht* (S. 816).41. Neben <strong>der</strong> traditionalen und <strong>der</strong> legalen Herrschaft kennt Weber noch e<strong>in</strong>e dritte Form: die charismatische Herrschaft,die auf <strong>der</strong> Autorität <strong>der</strong> +außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe* beruht (<strong>Politik</strong> als Beruf; S. 8).42. Van <strong>der</strong> Loo und van Reijen sehen e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es als das hier formulierte Paradox als zentral für den Rationalisierungsprozeßan: nämlich die Gleichzeitigkeit von Generalisierung (des Vernunftpr<strong>in</strong>zips) und Pluralisierung (imWertebereich). (Vgl. Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 157f.)43. Freud war aber natürlich nicht <strong>der</strong> erste Kultur-Kritiker, son<strong>der</strong>n Vorgänger waren u.a. Rousseau und Nietzsche.Rousseau wies u.a darauf h<strong>in</strong>, daß die Höflichkeit unaufhörlich zw<strong>in</strong>gt, sich an<strong>der</strong>s zu verhalten, als es die eigeneE<strong>in</strong>gebung gebietet (vgl. Über Kunst und Wissenschaft; S. 11 und siehe auch Anmerkung 10). Indem <strong>der</strong> Mensch sichvergesellschaftet +und Sklave wird, wird er schwach, furchtsam, kriecherisch, und se<strong>in</strong>e weibische und weichlicheLebensweise schwächt endlich zugleich se<strong>in</strong>e Kraft und se<strong>in</strong>en Mut* (Über die Ungleichheit; S. 103). Ganz ähnlich,jedoch <strong>in</strong> Gegensatz zu Rousseau mit e<strong>in</strong>deutiger Verachtung für alles Schwache, heißt es bei Nietzsche: +Wer dasGewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend moralischen Falten und Verstecken immer den gleichenImperativ herauszuziehen haben, den Imperativ <strong>der</strong> Herden-Furchtsamkeit* (Jenseits von Gut und Böse; S. 659). +Gewissestarke und gefährliche Triebe, wie Unternehmungslust, Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht,die bisher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>nützigen S<strong>in</strong>ne nicht nur geehrt […], son<strong>der</strong>n groß-gezogen und -gezüchtet werden mußten[…], werden nunmehr <strong>in</strong> ihrer Gefährlichkeit doppelt stark empfunden […] und schrittweise, als unmoralisch, gebrandmarktund <strong>der</strong> Verleumdung preisgegeben […] das Mittelmaß <strong>der</strong> Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren.*(Ebd.; S. 657f.) Aber: +Die Krankhaften s<strong>in</strong>d des Menschen große Gefahr: nicht die Bösen, nicht die ›Raubtiere‹* (ZurGenealogie <strong>der</strong> Moral; S. 863).44. Explizit differenziert Freud erstmals zwischen libid<strong>in</strong>ösen und Aggressionstrieben <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Jenseits desLustpr<strong>in</strong>zips* (1920). Vorher hatte Freud alles psychische Geschehen auf das grundlegende Pr<strong>in</strong>zip des Eros zurückgeführt,<strong>der</strong> beides, den Selbsterhaltungs- und den Arterhaltungstrieb, be<strong>in</strong>halte.45. Elias weist ganz zu Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>es zweibändigen Werks darauf h<strong>in</strong>, daß <strong>der</strong> Zivilisationsbegriff im Deutschen e<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>geschränkten Inhalt hat, bloß auf die äußere, oberflächliche Seite <strong>der</strong> Kultur bezogen wird. Im Gegensatz dazuumfassen die Begriffe +civilisation* und +civilité* <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> bzw. <strong>der</strong> Franzosen das gesamte Spektrum <strong>der</strong> kulturellenEntwicklung. Diesem umfassenden Zivilisationsbegriff schließt sich Elias an. Angemessen gewürdigt wurde Elias’ Arbeitübrigens erst lange Zeit nach ihrer Abfassung. Erst dreißig Jahre nach <strong>der</strong> ersten, selbstf<strong>in</strong>anzierten Drucklegung 1937(Band 1) bzw. 1939 (beide Bände) kam es zur Neuauflage des heutigen Standardwerks.46. Elias betont allerd<strong>in</strong>gs, daß bisweilen die imitierenden aufsteigenden Schichten die von oben übernommenenNormen viel strenger und rigi<strong>der</strong> verteidigen – eben weil sie bei ihnen noch nicht so weit gefestigt s<strong>in</strong>d (vgl. Überden Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation; Band 2, S. 425f.).47. Foucault selbst nennt se<strong>in</strong>en Ansatz <strong>in</strong> Anlehnung an Nietzsche +genealogisch* (siehe auch S. XLVII).48. Es gilt allerd<strong>in</strong>gs zu beachten, daß Foucaults Machtbegriff nicht per se negativ konnotiert ist. Das hat auch damitzu tun, daß er – an<strong>der</strong>s als se<strong>in</strong> +Mentor* Althusser – Macht weniger <strong>in</strong> sozialen Makrostrukturen wie den +Klassenverhältnissen*manifestiert sah. Vielmehr rückte Foucault die +Mikrophysik* <strong>der</strong> Macht, ihr wirken <strong>in</strong> den alltäglichenBeziehungen <strong>in</strong>s Zentrum <strong>der</strong> Analyse, und konnte so auch zu e<strong>in</strong>er +positiveren* Bestimmung <strong>der</strong> Macht kommen.In e<strong>in</strong>em Interview aus dem Jahr 1977 erläutert er: +Wenn sie nur repressiv wäre, […] glauben Sie dann wirklich,daß man ihr gehorchen würde? Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz e<strong>in</strong>fachdar<strong>in</strong>, daß sie nicht nur als ne<strong>in</strong>sagende Gewalt auf uns lastet, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> Wirklichkeit die Körper durchdr<strong>in</strong>gt […]


A: ANMERKUNGEN 9Lust verursacht, Wissen hervorbr<strong>in</strong>gt, Diskurse produziert […] und nicht so sehr als e<strong>in</strong>e negative Instanz, <strong>der</strong>en Funktion<strong>in</strong> Unterdrückung besteht.* (Wahrheit und Macht; S. 35) Das ist e<strong>in</strong>e Auffassung, die auch <strong>in</strong> +Überwachen und Strafen*(1975) an e<strong>in</strong>er Stelle im Text dargelegt wird. Dort heißt es parallel: +Man muß aufhören, die Wirkungen <strong>der</strong> Machtimmer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ›ausschließen‹, ›unterdrücken‹, ›verdrängen‹, ›zensieren‹, ›abstrahieren‹,›maskieren‹, ›verschleiern‹ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches.* (S. 250)An<strong>der</strong>erseits zeigt die Art und Weise, wie Foucault <strong>in</strong> diesem Werk die Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mikrophysik <strong>der</strong> Machtanalysiert, daß er latent doch noch immer e<strong>in</strong>en +negativen* Machtbegriff zugrunde legt. Dies beweisen me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ungnach auch die im folgenden zitierten Textstellen.49. Hier zeigt sich e<strong>in</strong>e deutliche Parallele zu Durkheims Werk +Über die Teilung <strong>der</strong> sozialen Arbeit*. Schließlichhatte dieser se<strong>in</strong>e Thesen am Beispiel des Wandels des Rechtscharakters belegt (siehe hierzu auch Anmerkung 30).Und ähnlich wie Durkheim zwischen repressivem und restitutivem Recht unterscheidet, so differenziert Foucaultzwischen <strong>der</strong> alten Form <strong>der</strong> offen gewaltsamen souveränen Macht <strong>der</strong> Herrscher und <strong>der</strong> neuen Form <strong>der</strong> produktivenMacht, die Integration zum Ziel hat.50. Am klarsten herausgearbeitet ist dies me<strong>in</strong>es Erachtens <strong>in</strong> Horkheimers Aufastz +Traditionelle und kritische Theorie*(1937).51. Ausführlich legt Plessner se<strong>in</strong>e +philosophische Anthropologie* <strong>in</strong> dem Band +Die Stufen des Organischen* (1928)dar.52. Gehlen beschreibt e<strong>in</strong>e ganze Reihe von negativen Auswirkungen des technischen Zeitalters auf das Individuum,wie z.B. Ents<strong>in</strong>nlichung und Erfahrungsverlust. Mit diesen z.T. recht kritischen Äußerungen schließt Gehlen an dieGedanken Elluls an (vgl. The Technological Society).53. Zapf nennt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Eröffnungsreferat über +Mo<strong>der</strong>nisierung und Mo<strong>der</strong>nisierungstheorien* zum Soziologentag1990 allerd<strong>in</strong>gs auch vier nicht zu vernachlässigende Argumente, die gegen das Modell <strong>der</strong> weitergehenden Mo<strong>der</strong>nisierungsprechen: 1. verweist die Tatsache <strong>der</strong> Exklusion auf die +sozialen Grenzen des Wachstums*, 2. kann es durche<strong>in</strong>schneidende Än<strong>der</strong>ungen im sozialen System zu e<strong>in</strong>em epochalen Bruch kommen, 3. ist es möglich, daß im Zuge<strong>der</strong> Individualisierung e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionelle Erosion stattf<strong>in</strong>det und 4. verbieten es die aktuellen Weltprobleme, daß diemo<strong>der</strong>nen westlichen Gesellschaften auf ihrem e<strong>in</strong>geschlagenen Weg weitergehen (vgl. S. 36). E<strong>in</strong>en Ausweg ausden Dilemmata <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne sieht Zapf aber trotzdem nur <strong>in</strong> weitergehen<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung und nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er+Umkehr* (vgl. ebd.; S. 37).54. Wie <strong>in</strong> (fast) je<strong>der</strong> +Familie*, war auch hier die +Pubertätsphase*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Habermas e<strong>in</strong>e immer eigenständigerePosition erarbeitete, e<strong>in</strong>e Phase <strong>der</strong> Belastung <strong>der</strong> bis dah<strong>in</strong> <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zu Adorno <strong>in</strong>tensiven Beziehung. E<strong>in</strong> Dissensmit Horkheimer führte sogar dazu, daß Habermas sich schließlich nicht <strong>in</strong> Frankfurt, son<strong>der</strong>n bei Wolfgang Abendroth<strong>in</strong> Marburg habilitierte (vgl. Wiggershaus: Frankfurter Schule; S. 597–628). Trotzdem blieb er – <strong>in</strong> gewissen Grenzen– dem Denken <strong>der</strong> klassischen Frankfurter Schule verbunden.55. Zapf geht von drei unerläßlichen Grund<strong>in</strong>stitutionen mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften aus: +Konkurrenzdemokratie,Marktwirtschaft und Wohlfahrtsgesellschaft mit Massenkonsum und Wohlfahrtsstaat* (Entwicklung und Sozialstrukturmo<strong>der</strong>ner Gesellschaften; S. 185 und siehe hierzu auch S. 49).56. Habermas referiert hier auf das Thema bezogen se<strong>in</strong>e +Theorie des kommunikativen Handelns* (1981).57. Popper versteht allerd<strong>in</strong>gs unter e<strong>in</strong>er +offenen* Gesellschaft vor allem e<strong>in</strong>e kritikoffene Gesellschaft. In se<strong>in</strong>emBuch +The Open Society and its Enemies* (1945) schreibt er dazu: +This book […] attempts to show that this civilizationhas not yet fully recovered the shock of its birth – the transition from the tribal or ›closed society‹, with its submissionto magical forces, to the ›open society‹ which sets free the critical powers of man.* (S. 3) Eher auf die hier von mirhervorgehobene Zunahme von Handlungsalternativen (Optionen) heben dagegen Ralph Dahrendorf (vgl. z.B.Lebenschancen) o<strong>der</strong> auch Peter Gross mit se<strong>in</strong>em Konzept <strong>der</strong> +Multioptionsgesellschaft* (1994) ab.58. Mit Bezugnahme auf Parsons’ Alter-Ego-Konzeption (vgl. Toward a General Theory of Action; S.14ff.) spricht Luhmannvon doppelter Kont<strong>in</strong>genz – <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz des Systems, das verschiedene Zustände annehmen kann, und <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz<strong>der</strong> Beobachterperspektive. Denn die psychischen Systeme, also Menschen, können jeden dieser verschiedenen Zuständewie<strong>der</strong>um unterschiedlich <strong>in</strong>terpretieren (vgl. Soziale Systeme; S. 148ff.).


10 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE59. Das erste Kapitel, aus dem hier zitiert wurde, stellt e<strong>in</strong>e nur leicht überarbeitete Fassung des Vortrags Luhmannsvom Soziologentag 1990 über +Das Mo<strong>der</strong>ne <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft* dar.60. Luhmann sche<strong>in</strong>t hier übrigens zu übersehen, daß Marx’ ursprüngliche Argumentation se<strong>in</strong>er eigenen gar nichtso unähnlich ist. Marx ignoriert natürlich ke<strong>in</strong>eswegs, daß gerade die Entfremdung e<strong>in</strong>en +positiven* Effekt für dieEntwicklung des Bewußtse<strong>in</strong>s über die eigene Lage hat – man vergleiche z.B. nur die zitierten Passagen aus dem +Manifest<strong>der</strong> kommunistischen Partei* (siehe S. XIX) – und <strong>in</strong>soweit <strong>der</strong> Emanzipation för<strong>der</strong>lich ist. Grundsätzlich wertet MarxEntfremdung jedoch im Gegensatz zu Luhmann e<strong>in</strong>deutig negativ, und Ziel se<strong>in</strong>er +Gesellschaftsutopie* ist deshalbgerade die Aufhebung von Entfremdung. Es ist übrigens Arnold Gehlen, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en +Studien Anthropologieund Soziologie* (1963) <strong>in</strong> ganz ähnlicher Weise wie Luhmann +Über die Geburt <strong>der</strong> Freiheit aus <strong>der</strong> Entfremdung*äußert – ohne von diesem allerd<strong>in</strong>gs zitiert zu werden. Gehlen me<strong>in</strong>t, daß die Zeit abgelaufen sei, +<strong>in</strong> <strong>der</strong> die Freiheitsich noch enthusiastisch realisieren wollte* (S. 243). +Heute sche<strong>in</strong>t dieses Bedürfnis [sich dem Joch <strong>der</strong> Umständezu entziehen] fast eher <strong>in</strong> Mechanismen zu denken, es bemüht nicht mehr das alte Zauberwort <strong>der</strong> Freiheit, es denkt<strong>in</strong> Plänen.* (Ebd.; S. 246). Denn +<strong>der</strong> [heutige] Mensch kann zu sich und se<strong>in</strong>esgleichen e<strong>in</strong> dauerndes Verhältnisnur <strong>in</strong>direkt festhalten, er muß sich auf e<strong>in</strong>em Umwege, sich entäußernd, wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>den, und da liegen die [sozialen]Institutionen* (ebd.; S. 245).61. Im Gegensatz zum Begriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*, ist <strong>der</strong> Begriff +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus* ke<strong>in</strong> historischer Epochenbegriff,son<strong>der</strong>n bezieht sich auf die <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Epoche spezifische Kulturbewegung. Zusätzlich kann man den Begriff<strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nität* abgrenzen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en bestimmten – wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne entsprechenden– soziologischen, ökonomischen, kulturellen o<strong>der</strong> kognitiven Zustand me<strong>in</strong>t (vgl. hierzu auch Featherstone: In Pursuitof the <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n sowie Hudson: Zur Frage postmo<strong>der</strong>ner Philosophie; S. 123f.).62. Luhmann geht natürlich, da er mo<strong>der</strong>ne Gesellschaften als re<strong>in</strong> funktional differenziert betrachtet (siehe S. XXV),nicht mehr von <strong>der</strong> Schichtungsgesellschaft als Modell aus, doch verbleibt auch se<strong>in</strong>e Perspektive im Horizont <strong>der</strong>e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne, wie e<strong>in</strong> Blick auf das unten zitierte dritte Merkmal e<strong>in</strong>facher Mo<strong>der</strong>nisierungstheorien zeigt.63. Ich würde hier abweichend vorschlagen, besser von e<strong>in</strong>em Fortschrittsmodell zu sprechen, das entwe<strong>der</strong> aufFortschritt durch evolutionären o<strong>der</strong> revolutionären Wandel beruht.64. Alle diese hier genannten Transformationsprozesse werden im zweiten Kapitel noch genauer thematisiert werden.65. Was damit geme<strong>in</strong>t ist, wird im Verlauf des zweiten Kapitels hoffentlich ebenfalls deutlich werden. Spätestensim fünften Kapitel werde ich mich aber explizit mit <strong>der</strong> problematischen (von Reflexivität gespeisten) Dialektik vonReflexion und Deflexion ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen.66. Ich werde mich allerd<strong>in</strong>gs, aus pragmatischen Gründen, zumeist auf das Beispiel <strong>der</strong> Bundesrepublik konzentrieren.67. Vgl. Welsch: Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 9–43 sowie Köhler: ›<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus‹ – E<strong>in</strong> begriffsgeschichtlicherÜberblick.68. Auf dieser Seite f<strong>in</strong>den sich auch die zitierten Stellen – es ist allerd<strong>in</strong>gs zu beachten, daß ich (da sie mir nichtzugänglich war) nicht die Orig<strong>in</strong>al-Ausgabe benutzt habe, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e (nicht Seiten-identische) Neuauflage aus demJahr 1947.69. So die Übersetzung <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Ausgabe.70. Köhler und (<strong>in</strong> Anlehnung an ihn) Welsch behaupten, Toynbee hätte als Kennzeichen <strong>der</strong> aktuellen, d.h. +nachneuzeitlichen*bzw. +postmo<strong>der</strong>nen* Epoche den +Übergang <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> von nationalstaatlichem Denken zu globalerInteraktion* gesehen (Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 14), was jedoch so nicht korrekt ist – vor allem, wenn mandie späteren Teile se<strong>in</strong>es umfangreichen Werks als Beleg heranzieht. Zwar heißt es bei Toynbee: +Der Industrialismusist wie die Demokratie eigentlich kosmopolitisch* (Der Gang <strong>der</strong> Weltgeschichte; Band 1, S. 383). Doch +um die sechzigerund siebziger Jahre des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts* (ebd.; S. 384), also gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wendezeit zur Nach-Neuzeit bzw.<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne, +än<strong>der</strong>ten Industrialismus und Demokratie ihre <strong>Politik</strong> und arbeiteten <strong>in</strong> entgegengesetzter Richtung*(ebd.). Die Ursache für diese Wende sieht er im Zusammenhang zwischen dem nationalen Territorial- und dem Handels<strong>in</strong>teresse(vgl. ebd.; S. 385). E<strong>in</strong>ziger Ausweg aus <strong>der</strong> Sackgasse des Nationalismus und Militarismus ist für den +christlichen


A: ANMERKUNGEN 11Geschichtsphilosophen* Toynbee <strong>in</strong> be<strong>in</strong>ahe rühren<strong>der</strong> Naivität das Vertrauen auf das liebende Gesetz Gottes unddie umgekehrte Liebe <strong>der</strong> Menschen zu Gott: +Das ›vollkommene Gesetz <strong>der</strong> Freiheit‹, wie es im Briefe des heiligenJakobus heißt, ist auch e<strong>in</strong> Gesetz <strong>der</strong> Liebe; denn des Menschen Freiheit könnte dem Menschen nur gegeben wordense<strong>in</strong> von e<strong>in</strong>em Gott, <strong>der</strong> die Liebe <strong>in</strong> Person ist, und diese göttliche Gabe kann vom Menschen benutzt werden,um frei das Leben und Gott zu wählen anstatt Tod und Übel, nur wenn <strong>der</strong> Mensch se<strong>in</strong>erseits Gott heiß genug liebt,um, von dieser antwortenden Liebe bewegt, sich auf Gott festzulegen und den Willen Gottes zu se<strong>in</strong>em eigenenzu machen.* (Ebd.; Band 2, S. 381)71. E<strong>in</strong>e deutsche Übersetzung des Aufsatzes von Fiedler, <strong>der</strong> bezeichnen<strong>der</strong>weise ursprünglich im +Playboy* erschien,f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong>: Welsch: Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – Schlüsseltexte <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskussion; S. 57–74.72. Hier beziehe ich mich nicht auf Welsch o<strong>der</strong> Köhler, die (unverständlicherweise) nicht auf die Pop Art e<strong>in</strong>gehen.73. Lou Reed schrieb z.B. die Musik zu Robert Wilsons Stück +Time Rocker*, das im Juni 1996 im Hamburger Thalia-Theater uraufgeführt wurde, und John Cale hat, um e<strong>in</strong> Beispiel für se<strong>in</strong>e +Grenzgänge* zu nennen, Gedichte desirischen Dichters Dylan Thomas für Orchester vertont.74. Hier zeigen sich ganz beson<strong>der</strong>s die Bezüge <strong>der</strong> Pop Art zum Dadaismus e<strong>in</strong>es Duchamp: Mittels sog. +readymades*bzw. +objets trouvés* versuchte er die Kunst ab absurdum zu führen und erklärte Objekte wie Flaschentrockner o<strong>der</strong>Ur<strong>in</strong>oirs zu Kunstwerken (vgl. z.B. Klotz: Kunst im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 34).75. Ich habe hier Stellen ausgewählt, die auch Welsch zitiert.76. Er tat dies etwa zeitgleich mit Robert Stern, <strong>der</strong> drei Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nen Architektur beschreibt:Kontextualismus, Anspielung und Ornamentalismus (vgl. New Directions <strong>in</strong> American Architecture; S. 127–132).77. Klotz nennt <strong>in</strong>sgesamt acht Merkmale (vgl. Mo<strong>der</strong>ne und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 108f.), von denen ich hier jedoch nurdie mir zentral und aussagekräftig ersche<strong>in</strong>enden herausgegriffen habe und die von mir zudem leicht umformuliertund gekürzt, <strong>in</strong> Teilen aber auch erweitert wurden. So bezieht sich <strong>der</strong> letzte Punkt eher auf die Ausführungen RobertVenturis (vgl. Komplexität und Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Architektur).78. Ähnliches gilt für Thomas Kuhn, <strong>der</strong> wissenschaftlichen +Fortschritt*, nicht, wie im +Kritischen Rationalismus*behauptet, durch beständige Evolution gewährleistet sieht, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> diskont<strong>in</strong>uierliches Bild <strong>der</strong> Wissenschaftsentwicklungzeichnet, die für ihn durch abrupte, revolutionäre +Paradigmenwechel* gekennzeichnet ist, wobei auchMachtfragen darüber entscheiden, welches neue Wissenschaftsparadigma sich letztendlich durchsetzt (vgl. The Structureof Scientific Revolutions; <strong>in</strong>sb. S. 160–173).79. Lakatos hat sich mit dem +Kritischen Rationalismus* Poppers ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt (vgl. Logik <strong>der</strong> Forschung sowieAnmerkung 82) und aufgezeigt, daß auch diese +raff<strong>in</strong>ierte* Variante des Falsifikationismus problematisch ist, <strong>in</strong>demsie implizit von <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>uität wissenschaftlichen Fortschritts durch stufenweise falsifizierte Theorien ausgeht. Zudemschlägt er vor, an falsifizierten Thesen und Theorien festzuhalten, solange ke<strong>in</strong>e erklärungsmächtigeren gefunden wurden.(Vgl. Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme)80. Feyerabends Konzept er<strong>in</strong>nert hier an Nietzsches Plädoyer für e<strong>in</strong>e +Fröhliche Wissenschaft*, <strong>der</strong>en Ziel es ist,+dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu verschaffen* (S. 45).81. Feyerabend zitiert an dieser Stelle François Jacob.82. In diesem Punkt gleicht Feyerabends Position <strong>der</strong> Position <strong>der</strong> Kritischen Theorie (vgl. z.B. Adorno: Soziologieund empirische Forschung). Se<strong>in</strong> ursprünglicher Bezugspunkt ist jedoch e<strong>in</strong> radikalisierter +Kritischer Rationalismus*.Dessen Programm hat Karl Raimund Popper <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Logik <strong>der</strong> Forschung* (1934) formuliert: Dort versuchter aufzuweisen, daß sich wissenschaftliche Aussagen nie positiv beweisen (also verifizieren) lassen, son<strong>der</strong>n nur falsifiziertwerden können. Deshalb ist wissenschaftlicher Fortschritt nur als e<strong>in</strong>e Evolution durch Falsifikation denkbar. (Vgl.dort <strong>in</strong>sb. S. 2–21)


12 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE83. E<strong>in</strong>en relativ vollständigen Überblick über die philosophische <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne gibt neben Welsch z.B. Urs Fazis <strong>in</strong>:›Theorie‹ und ›Ideologie‹ <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Zur +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* allgeme<strong>in</strong>, also auch die Literatur- und Architektur-Debatteetc. mit e<strong>in</strong>beziehend, allerd<strong>in</strong>gs aus religiös gefärbter Perspektive, können die Ausführungen Hans Joachim Türk(1990) herangezogen werden.84. Huyssen sieht übrigens e<strong>in</strong>e größere Nähe des <strong>Post</strong>strukturalismus zum Mo<strong>der</strong>nismus als zum <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus:+Demgegenüber mache ich geltend, daß <strong>der</strong> <strong>Post</strong>strukturalismus <strong>in</strong> Frankreich wie <strong>in</strong> Amerika dem Mo<strong>der</strong>nismussehr viel näher steht, als es die Apologeten e<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nistischen Avantgarde [!] wahrhaben wollen […] Anstattuns e<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zu bieten […] konzentriert sich <strong>der</strong> <strong>Post</strong>strukturalismus meist auf e<strong>in</strong>e Archäologie<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und liefert e<strong>in</strong>e Theorie des Mo<strong>der</strong>nismus im Stadium se<strong>in</strong>er Erschöpfung.* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong>e amerikanischeInternationale?; S. 31ff.)85. Später hat sich Foucault allerd<strong>in</strong>gs recht kritisch gegenüber se<strong>in</strong>en Frühwerken, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e +Wahns<strong>in</strong>n undGesellschaft*, geäußert (vgl. z.B. das Vorwort zur Archäologie des Wissens; S. 29).86. In e<strong>in</strong>em bereits an an<strong>der</strong>er Stelle zitierten Interview stellt Foucault klar, was genau mit dem Begriff <strong>der</strong> Diskont<strong>in</strong>uitätvon ihm geme<strong>in</strong>t ist: +[…] In e<strong>in</strong>er eben herausgekommenen Ausgabe des ›Petit Larousse* heißt es: ›Foucault: Philosoph,<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Geschichtsphilosophie auf die Diskont<strong>in</strong>uität gründete.‹ Das verblüfft mich e<strong>in</strong>fach. Wahrsche<strong>in</strong>lich habeich mich <strong>in</strong> ›Die Ordnung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge‹ nicht h<strong>in</strong>reichend erklärt […] Mir sche<strong>in</strong>t, daß <strong>in</strong> bestimmten Formen des Wissens[…] <strong>der</strong> Rhythmus <strong>der</strong> Transformation nicht den allgeme<strong>in</strong> anerkannten, dehnbaren und kont<strong>in</strong>uitätsfixiertenEntwicklungsschemata gehorchte […] In e<strong>in</strong>er Wissenschaft wie <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> zum Beispiel gibt es bis zum Ende des18. Jahrhun<strong>der</strong>ts e<strong>in</strong>en bestimmten Typ von Diskursen, <strong>der</strong>en langsame Transformation <strong>in</strong>nerhalb von 25–30 Jahrennicht nur mit den ›wahren‹ Sätzen gebrochen haben, die bis dah<strong>in</strong> formuliert werden konnten, son<strong>der</strong>n viel tiefgreifen<strong>der</strong>mit den Redeweisen, den Sichtweisen, mit dem ganzen Ensemble von Praktiken, die <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong> als Stütze dienten;es handelt sich nicht e<strong>in</strong>fach um neue Entdeckungen: es geht um e<strong>in</strong>e neue Ordnung des Diskurses und des Wissens[…] Me<strong>in</strong> Problem war ke<strong>in</strong>eswegs zu sagen: nun gut, wir bef<strong>in</strong>den uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diskont<strong>in</strong>uität, bleiben wir dort, son<strong>der</strong>ndie Frage zu stellen: wie konnte es geschehen, daß es <strong>in</strong> bestimmten Augenblicken und <strong>in</strong> bestimmten Ordnungendes Wissens zu diesen plötzlichen Brüchen […] kam […]* (Wahrheit und Macht; S. 25)87. Foucault erläutert hier, daß <strong>der</strong> Diskurs e<strong>in</strong> System <strong>der</strong> Ausschließung, E<strong>in</strong>schränkung und Aneignung darstellt,<strong>in</strong> ihm also (soziale) Macht zum Ausdruck kommt. Dem stellt Foucault e<strong>in</strong> kritisches Projekt gegenüber, das (ergänztdurch e<strong>in</strong>e Genealogie) versucht, +die Formen <strong>der</strong> Ausschließung, <strong>der</strong> E<strong>in</strong>schränkung, <strong>der</strong> Aneignung […] zu erfassen;es soll gezeigt werden, wie sie sich gebildet haben, um bestimmten Bedürfnissen zu entsprechen, wie sie sich verän<strong>der</strong>tund verschoben haben, welchen Zwang sie tatsächlich ausgeübt haben, <strong>in</strong>wieweit sie abgewendet worden s<strong>in</strong>d*(Die Ordnung des Diskurses; S. 41).88. Es gilt zu beachten, daß die zitierten Texte eigentlich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en so e<strong>in</strong>deutigen Bezug zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gebrachtwerden können, wie dies hier aus +praktischen* Gründen suggeriert wurde. Denn Gilles Deleuze ist <strong>der</strong> Auffassung,daß sich im Werk Foucaults (chronologisch) drei zentrale Themenschwerpunte unterscheiden lassen (die jeweils auchmit theoretischen Versche<strong>in</strong>ungen e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>gen): Wissen, Macht und das Selbst (vgl. Foucault). Diese Auffassungwird durch Foucaults eigene Aussagen gestützt. So bemerkt er <strong>in</strong> im zweiten Band von +Sexualität und Wahrheit*:+Nach dem Studium <strong>der</strong> Wahrheitsspiele <strong>in</strong> ihrem Verhältnis zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> […] und nach dem Studium <strong>der</strong> Wahrheitsmechanismenim Verhältnis zu den Machtbeziehungen […] schien sich mir e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Arbeit aufzudrängen: dasStudium <strong>der</strong> Wahrheitsspiele im Verhältnis se<strong>in</strong>er selber zu sich und <strong>der</strong> Konstitution se<strong>in</strong>er selber als Subjekt […]*(Der Gebrauch <strong>der</strong> Lüste; S. 72f.). Letzteres ist allerd<strong>in</strong>gs für Foucault nichts weiter als e<strong>in</strong> Effekt und Objekt von Wissenund Macht (vgl. Überwachen und Strafen; S. 247) und stellt somit e<strong>in</strong>e bloße +Falte im Außen* dar (so zum<strong>in</strong>destdie Interpretation von Deleuze: Foucault; S. 131–172). An<strong>der</strong>erseits hat Foucault diese Dekonstruktion des Subjektsvor allem im dritten Band se<strong>in</strong>er historischen Betrachtung <strong>der</strong> menschlichen Sexualpraktiken wie<strong>der</strong> etwas zurückgenommen,denn er schil<strong>der</strong>t hier die um Selbstdiszipl<strong>in</strong> kreisenden spätantiken Vorstellungen über Sexualität. Diesespiegeln nur vor<strong>der</strong>gründig e<strong>in</strong>e im Vergleich zur klassischen Antike verschärfte Sexualmoral wie<strong>der</strong>, denn die gefor<strong>der</strong>tesexuelleZurückhaltung entspr<strong>in</strong>gtwenigergesellschaftlichen Anfor<strong>der</strong>ungen, son<strong>der</strong>nprimäre<strong>in</strong>er (durchaus berechtigten)+Sorge um sich* (1984), wobei die sexuelle Vere<strong>in</strong>igung als Bedrohung <strong>der</strong> Autonomie des Selbst wahrgenommenwird, das nach <strong>in</strong>dividueller Vervollkommnung strebt. Die sexuelle Askese (spätantiker Prägung) stellt demnach e<strong>in</strong>ejener Technologien des Selbst dar, +die es dem E<strong>in</strong>zelnen ermöglichen, aus eigener Kraft o<strong>der</strong> mit Hilfe an<strong>der</strong>er e<strong>in</strong>eReihe von Operationen an se<strong>in</strong>em Körper o<strong>der</strong> se<strong>in</strong>er Seele, se<strong>in</strong>em Denken, se<strong>in</strong>em Verhalten und se<strong>in</strong>er Existenzweisevorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verän<strong>der</strong>n, daß er e<strong>in</strong>em gewissen Zustand des Glücks, <strong>der</strong> Re<strong>in</strong>heit, <strong>der</strong> Weisheit,<strong>der</strong> Vollkommenheit o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Unsterblichkeit erlangt* (Technologien des Selbst; S. 26).


A: ANMERKUNGEN 1389. Ähnliches gilt auch für Gilles Deleuze, doch ist zweifellos Derrida <strong>der</strong> bedeuten<strong>der</strong>e Denker – und hier lei<strong>der</strong>auch nicht <strong>der</strong> Raum für e<strong>in</strong>e wirklich umfassende Darstellung <strong>der</strong> philosophischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne.90. Die Philosophie Derridas läßt sich <strong>in</strong>sgesamt gesehen als e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges, großes dekonstruktivistisches +Projekt* lesen.Und das Lesen <strong>der</strong> Philosophie als Text (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em verallgeme<strong>in</strong>erten S<strong>in</strong>n) ist dabei selbst Kernverfahren <strong>der</strong> Dekonstruktion.Dekonstruktion setzt nämlich gemäß Derrida bei Sprache an: +Ich habe irgendwo im Scherz gesagt, daß die besteDef<strong>in</strong>ition, die ich <strong>der</strong> Dekonstruktion geben könnte, die wäre, daß sie m<strong>in</strong>destens voraussetzt […], daß es Sprachengibt.* (Gespräch Peter Engelmann‹s mit Derrida, zitiert nach Engelmann: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Dekonstruktion; S. 25)91. Derrida verdeutlicht dies am Beispiel <strong>der</strong> detaillierten Analyse e<strong>in</strong>er Passage aus den +Meditationes*, wo sich Descartesüber Traum und Irrtum äußert. In e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung, d.h. auf e<strong>in</strong>e Erkenntnis <strong>der</strong> Potentiale des das Ich (undse<strong>in</strong>e Zwänge) verne<strong>in</strong>enden (Schizo-)Wahns<strong>in</strong>ns, zielt auch <strong>der</strong> +Anti-Ödipus* (1972) von Gilles Deleuze und FélixGuattari.92. In se<strong>in</strong>er +Devise* heißt es. +Im geduldigen Nachdenken und <strong>in</strong> <strong>der</strong> strengen Erforschung des Bereichs, <strong>der</strong> sichvorläufig noch Schrift nennt […] äußert sich vielleicht die Irre (errance) e<strong>in</strong>es Denkens, das treu und aufmerksamauf e<strong>in</strong>e unaufhaltsam kommende Welt gerichtet ist […]* (Grammatologie; S. 15).93. Zum Begriff <strong>der</strong> Differenz bei Derrida vgl. auch se<strong>in</strong> Essay +Die différance*. Diese ist im Unterschied zur différencenicht e<strong>in</strong>fach <strong>der</strong> Unterschied und die Abweichung, son<strong>der</strong>n die +différance ist […], was die Gegenwärtigung desgegenwärtig Seienden ermöglicht* auch wenn +sie sich nie als solche* gegenwärtigt (S. 80). Sie hat auch +we<strong>der</strong> Existenznoch Wesen* (ebd.) und ist +we<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Wort noch e<strong>in</strong> Begriff* (ebd.; S. 82). Was allerd<strong>in</strong>gs dieser mysteriöse Begriffkonkret ausdrücken soll, bleibt (bewußt) schleierhaft.94. Mit dem Begriff des +Sprachspiels* bezieht er sich auf Wittgenste<strong>in</strong> (vgl. Philosophische Untersuchungen; S. 16f.).95. Der französische Orig<strong>in</strong>altitel von +Das postmo<strong>der</strong>ne Wissen* lautet +La condition postmo<strong>der</strong>ne*. Geme<strong>in</strong>t ist alsonicht alle<strong>in</strong>e das Wissen (wenn es auch e<strong>in</strong>e zentrale Rolle <strong>in</strong> Lyotards Buch spielt), son<strong>der</strong>n die Bed<strong>in</strong>gungen, Verhältnisse,sprich: Die Verfassung <strong>der</strong> +postmo<strong>der</strong>nen* Gesellschaft <strong>in</strong>sgesamt.96. Das Buch wird im Vorwort als +Gelegenheitsarbeit* Lyotards charakterisiert, <strong>der</strong> sich hier auf die amerikanische<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Debatte bezieht. Im Auftrag <strong>der</strong> Regierung von Quebec sollte Lyotard e<strong>in</strong>en Bericht über das +Wissen<strong>in</strong> den höchstentwickelten Gesellschaften* erarbeiten.97. Die Ergänzungen <strong>in</strong> Klammer wurden <strong>in</strong> Anlehnung an Welsch h<strong>in</strong>zugefügt (vgl. Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne;S. 32).98. Dieser Text Lyotards ist se<strong>in</strong>e Reaktion auf die Adorno-Preis-Rede von Habermas, <strong>in</strong> <strong>der</strong> dieser die postmo<strong>der</strong>nePhilosophie als neokonservativ e<strong>in</strong>stuft (siehe S. XL).99. Wer an dieser Stelle e<strong>in</strong>e Beschäftigung mit dem philosophischen Hauptwerk Lyotards +Der Wi<strong>der</strong>streit* erwartete,den möchte ich auf den Abschnitt 1.5 vertrösten, wo es um den Horizont e<strong>in</strong>es postmo<strong>der</strong>nen Verständnisses von<strong>Politik</strong> gehen wird.100. Zum E<strong>in</strong>fluß Nietzsches auf das postmo<strong>der</strong>ne Denken vgl. z.B. Manschot: Nietzsche und die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Philosophie.Beson<strong>der</strong>s Heideggers Rolle wird dagegen bei Küchler (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Gam<strong>in</strong>g – Heidegger, Duchamp, Derrida) herausgearbeitet.101. Vattimo rezipiert – was ihm bewußt ist – Nietzsche und Heidegger allerd<strong>in</strong>gs durchaus selektiv.102. Er entlehnt diesen Begriff von Heidegger, weist aber darauf h<strong>in</strong>, daß er gedanklich an Nietzsche anschließt.103. Der Begriff an sich geht, wie Kamper aufweist, auf den französischen Soziologen Bouglé zurück, <strong>der</strong> schon 1901von +<strong>Post</strong>histoire* sprach (vgl. Nach <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 166). Gehlen, auf den im folgenden hauptsächlich e<strong>in</strong>gegangenwerden wird, übernimmt den <strong>Post</strong>histoire-Begriff jedoch aus e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> den 50er Jahren veröffentlichten Werk desbelgischen <strong>Politik</strong>ers und Philosophen Hendrik de Man, <strong>der</strong> sich wie<strong>der</strong>um auf den 1877 verstorbenen französischen


14 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEVolkswirtschaftler Cournot bezog. Cournot selbst verwendete den Begriff allerd<strong>in</strong>gs nicht direkt, son<strong>der</strong>n +lehrte [gemäßGehlen] e<strong>in</strong>en Endzustand, <strong>in</strong> dem die Geschichte stillsteht, da sie angesichts des regelmäßigen Funktionierens <strong>der</strong>Rä<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verwaltung und <strong>der</strong> Industrie nur noch störende Wirkung habe* (Ende <strong>der</strong> Geschichte?; S. 126).104. Fukuyama führt se<strong>in</strong>e These vom +Ende <strong>der</strong> Geschichte* (1989) auf den Triumph des westlichen Denkens nachdem Zusammenbruch <strong>der</strong> +sozialistischen* Systeme des Ostens zurück, denn damit sei es zu e<strong>in</strong>er +völligen Erschöpfungaller Alternativen zum westlichen Liberalismus* (S. 3) gekommen. Demgemäß stünden uns also +Jahrhun<strong>der</strong>te <strong>der</strong>Langeweile* bevor – wie übrigens schon Walt W. Rostow me<strong>in</strong>te (vgl. Stadien wirtschaftlichen Wachstums; S. 92).105. Gehlens Aufsatz +Über kulturelle Kristallisation* erschien 1963. Riesmans Essay, <strong>in</strong> dem er die post<strong>in</strong>dustrielleGesellschaft als Gesellschaft des unbeschränkten Konsums darstellt (vgl. Leisure and Work <strong>in</strong> <strong>Post</strong>-Industrial Society;S. 371ff.) stammt aus dem Jahr 1958. Noch früher taucht <strong>der</strong> Begriff jedoch bei Coomaraswamy und Penty auf, die1914 e<strong>in</strong>e Sammlung von +Essays <strong>in</strong> <strong>Post</strong>-Industrialism* veröffentlichten (vgl. Rose: The <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>n and the <strong>Post</strong>-Industrial;S. 169).106. Die deutsche Übersetzung, auf die ich mich beziehe, lag allerd<strong>in</strong>gs erst 1972 vor.107. Auch Bells Werk erschien <strong>in</strong> deutscher Sprache später als das Orig<strong>in</strong>al mit dem Titel +The Com<strong>in</strong>g of <strong>Post</strong>-IndustrialSociety*, nämlich 1975.108. Der Studentenbewegung widmet Toura<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> ganzes Kapitel.109. Bell bezieht sich mit se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>teilung auf Col<strong>in</strong> Clark (Conditions of Economic Progress). Diese heute allgeme<strong>in</strong>gebräuchliche Differenzierung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en primären, sekundären und tertiären Sektor wird manchmal auch auf JeanFourastié zurückgeführt. Beides ist jedoch +falsch*, denn tatsächlich geht sie, wie Fourastié <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fußnote bemerkt,auf A. B. Fischer zurück (vgl. Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 28, Anmerkung 2).110. Heute geht man zumeist davon aus, daß die 50%-Grenze überschritten se<strong>in</strong> muß, wenn man von e<strong>in</strong>erDienstleistungsgesellschaft sprechen will.111. Es soll allerd<strong>in</strong>gs nicht verschwiegen werden, daß Bell auch Grenzen des Wandels konstatiert. Diese liegen u.a.<strong>in</strong> den Schranken <strong>der</strong> Rationalisierung im Dienstleistungsbereich selbst durch notwendige Humanleistungen und<strong>in</strong> den +vielen wi<strong>der</strong>streitenden For<strong>der</strong>ungen im politischen Bereich* (Die nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft; S. 164), z.B.dadurch, daß nationale und regionale Belange konfligieren (vgl. ebd.; S. 158–170).112. E<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> widmet Bell sich diesem Problem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus*(1976).113. Baudrillards <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Konzept ist posthistoristisch, und er hätte deshalb bereits im Rahmen <strong>der</strong> Diskussiondes <strong>Post</strong>historismus vorgestellt werden können. Se<strong>in</strong>e Argumentation kann hier als typisch gelten (siehe zum Vergleichnochmals S. LIf.):+Ich me<strong>in</strong>e, daß alles schon passiert ist. Die Zukunft ist schon angekommen […] Es ist nichts mehrzu erwarten.* (Der Tod <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 103f.) Eben weil Baudrillard aber hier weniger orig<strong>in</strong>elle Thesen zu bietenhat, habe ich mich entschlossen, ihn – was mir zudem aufgrund se<strong>in</strong>er Betonung <strong>der</strong> Technik-bed<strong>in</strong>gten Manipulationsmöglichkeitengerechtfertigter ersche<strong>in</strong>t – <strong>in</strong> den Kontext <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> <strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrialismus-Konzepte e<strong>in</strong>zuordnen.Er selbst spricht allerd<strong>in</strong>gs nicht von post<strong>in</strong>dustrieller Gesellschaft.114. Habermas unterscheidet drei Gesellschaftsformationen: die vorhochkulturelle, die hochkulturelle und die postmo<strong>der</strong>neGesellschaftsformation. Innerhalb <strong>der</strong> hochkulturellen Formation differenziert er zwischen e<strong>in</strong>er traditionalen unde<strong>in</strong>er mo<strong>der</strong>nen Epoche und <strong>in</strong>nerhalb letzterer wie<strong>der</strong>um zwischen e<strong>in</strong>er kapitalistischen und e<strong>in</strong>er postkapitalistischenPhase.115. Mandel betont allerd<strong>in</strong>gs, daß genau das die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus verstärkt, da die <strong>der</strong> kapitalistischenProduktion zugrunde liegenden Wi<strong>der</strong>sprüche so lediglich auf e<strong>in</strong>er höheren Ebene reproduziert werden (vgl. DerSpätkapitalismus; S. 316f.).


A: ANMERKUNGEN 15116. Es handelt sich hier um die Übersetzung e<strong>in</strong>es Essays aus dem +New Left Review* aus dem Jahr 1986, <strong>der</strong> imOrig<strong>in</strong>al den Titel +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism, or, The Logic of Late Capitalism* trägt. Unter dem gleichen Titel ist allerd<strong>in</strong>gs auche<strong>in</strong>e umfangreiche Monographie Jamesons erschienen.117. Mit dem ökonomischem Aspekt <strong>der</strong> Globalisierung werde ich mich <strong>in</strong> Abschnitt 2.1 detailliert ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzenund die beschriebenen Prozesse <strong>in</strong> Abschnitt 3.1 (mit Blick auf die <strong>Politik</strong>) problematisieren. Zur kulturellen Globalisierungwerden <strong>in</strong> Abschnitt 3.5 (vor allem <strong>in</strong> Anlehnung an das Konzept von Appadurai) e<strong>in</strong>ige (allerd<strong>in</strong>gs vergleichsweiseeher knapp gehaltene) Bemerkungen erfolgen.118. Zum (wortspielerischen) Zusammenhang von +Mo<strong>der</strong>ne*, +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* und +<strong>Post</strong>* möchte ich an dieser Stellee<strong>in</strong>e Anekdote wie<strong>der</strong>geben, die von Welsch kolportiert wird: Wir bef<strong>in</strong>den uns auf e<strong>in</strong>er Architektur-Tagung. +Manhatte gerade festgestellt, daß zahlreiche Bauten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne sich auf e<strong>in</strong>en Paradebau <strong>der</strong> Frühmo<strong>der</strong>ne, aufden großen Kassensaal von Otto Wagners Wiener <strong>Post</strong>sparkassenamt von 1906, zurückbeziehen. Damit, so me<strong>in</strong>tedann e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Teilnehmer launig, habe man ja nun endlich e<strong>in</strong>e bündige Worterklärung von ›<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne‹ gefunden:›<strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>ne‹ das sei offensichtlich die Mo<strong>der</strong>ne dieser <strong>Post</strong> und die von ihr sich herleitende Tradition.* (Unserepostmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne; S. 11)119. So schreibt z.B. Zygmunt Bauman <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Ansichten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* (1992): +Me<strong>in</strong>er Auffassungnach hat <strong>der</strong> Begriff ›<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne‹ e<strong>in</strong>en eigenständigen Wert, [alle<strong>in</strong>e] soweit er behauptet, die neuen Erfahrungene<strong>in</strong>er, aber e<strong>in</strong>er entscheidenden Kategorie <strong>der</strong> Gegenwartsgesellschaft zu erfassen und zu artikulieren: die Erfahrungen<strong>der</strong> Intellektuellen.* (S. 123) Die zitierte Stelle stammt übrigens aus dem vierten Kapitel, das als eigenständiges Essayschon zuvor unter dem Titel +Is There a <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Sociology?* veröffentlicht wurde.120. Dazu heißt es im +Manifest <strong>der</strong> kommunistischen Partei*: +Die herrschenden Ideen e<strong>in</strong>er Zeit waren stets nurdie Ideen <strong>der</strong> herrschenden Klasse.* (S. 46). An an<strong>der</strong>er Stelle bemerkt Marx zum Verhältnis von Basis und ideologischemÜberbau weiter ausholend: +In <strong>der</strong> gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige,von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse e<strong>in</strong>, Produktionsverhältnisse, die e<strong>in</strong>er bestimmten Entwicklungsstufe<strong>der</strong> materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomischeStruktur <strong>der</strong> Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich e<strong>in</strong> juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcherbestimmte gesellschaftliche Bewußtse<strong>in</strong>sformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bed<strong>in</strong>gtden sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Menschen, das ihrSe<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n umgekehrt ihr gesellschaftliches Se<strong>in</strong>, das ihr Bewußtse<strong>in</strong> bestimmt.* (Zur Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie[Vorwort]; S. 172) Wenn nun dieses Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Kategorien <strong>der</strong> Vergangenheit verhaftet bleibt, wie im deutschenIdealismus, und nicht die Zustände <strong>der</strong> Gegenwart spiegelt, so ist es als +falsch* anzusehen: +Die Menschen habensich bisher stets falsche Vorstellungen über sich gemacht, von dem, was sie s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> se<strong>in</strong> sollen […] Die Ausgeburtenihres Kopfes s<strong>in</strong>d ihnen über den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschöpfen haben sie, die Schöpfer, sich gebeugt […]Rebellieren wir gegen diese Herrschaft <strong>der</strong> Gedanken.* (Die Deutsche Ideologie [Vorrede]; S. 85)Der Marxismus ist sich dabei <strong>der</strong> +Macht <strong>der</strong> Ideen* durchaus bewußt: +Die treibenden Ursachen zu ergründen, diesich […] <strong>in</strong> den Köpfen <strong>der</strong> handelnden Massen und ihrer Führer […] als bewußte Beweggründe klar o<strong>der</strong> unklar,unmittelbar o<strong>der</strong> <strong>in</strong> ideologischer […] Form wi<strong>der</strong>spiegeln – das ist <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Weg, <strong>der</strong> uns auf die Spur <strong>der</strong> dieGeschichte beherrschenden Gesetze führen kann. Alles, was die Menschen <strong>in</strong> Bewegung setzt, muß durch ihren Kopfh<strong>in</strong>durch; aber welche Gestalt es <strong>in</strong> diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab.* (Engels: Ludwig Feuerbachund <strong>der</strong> Ausgang <strong>der</strong> klassischen deutschen Philosophie; S. 592) Und an an<strong>der</strong>er Stelle bemerkt Engels: +Nachmaterialistischer Geschichtsauffassung ist das <strong>in</strong> letzter Instanz bestimmende Moment <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte die Produktionund Reproduktion des wirklichen Lebens […] Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momentedes Überbaus […] üben auch ihre E<strong>in</strong>wirkungen auf den Verlauf <strong>der</strong> geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen<strong>in</strong> vielen Fällen vorwiegend ihre Form.* (Brief an Joseph Bloch vom 21. September 1890) Engels ist es auch, <strong>der</strong> eigentlichden Begriff +falsches Bewußtse<strong>in</strong>* prägte. In e<strong>in</strong>em Brief an Franz Mehr<strong>in</strong>g vom 14. Juli 1893 stellt er fest: +Die Ideologieist e<strong>in</strong> Prozeß, <strong>der</strong> zwar mit Bewußtse<strong>in</strong> vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit e<strong>in</strong>em falschen Bewußtse<strong>in</strong>.Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt.* (S. 664)121. Dieses Verständnis von Ideologiekritik f<strong>in</strong>det sich vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> marxistisch orientierten Gesellschaftstheorie(vgl. z.B. Lukács: Klassenbewußtse<strong>in</strong>) und bei Vertretern <strong>der</strong> Kritischen Theorie. So bemerkt Horkheimer: +Philosophiekonfrontiert das Bestehende <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em historischen Zusammenhang mit dem Anspruch se<strong>in</strong>er begrifflichen Pr<strong>in</strong>zipien,um die Beziehung zwischen beiden zu kritisieren und so über sie h<strong>in</strong>auszugehen.* (Horkheimer: Zur Kritik <strong>der</strong><strong>in</strong>strumentellen Vernunft; S. 170). Deshalb ersche<strong>in</strong>t es auch beson<strong>der</strong>s bedenklich, daß die Begriffe <strong>in</strong> <strong>der</strong> positivistischdom<strong>in</strong>ierten Gegenwart immer mehr <strong>in</strong>haltlich entleert und kultur<strong>in</strong>dustriell vere<strong>in</strong>nahmt werden: +Die Begriffe, <strong>in</strong>


16 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdenen Tatsachen erfaßt und damit transzendiert werden, verlieren ihre authentische sprachliche Repräsentanz […]Das Wort wird zum Cliché und beherrscht als Cliché die gesprochene o<strong>der</strong> geschriebene Sprache; die Kommunikationbeugt so e<strong>in</strong>er Entwicklung des S<strong>in</strong>nes vor.* (Marcuse: Der e<strong>in</strong>dimensionale Mensch; S. 106)122. Hier heißt es: +Das Credo dieses diffusen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus sche<strong>in</strong>t zu se<strong>in</strong>, daß alles, was den Standards <strong>der</strong>Rationalität nicht genügt o<strong>der</strong> Bekanntes allenfalls verdreht wie<strong>der</strong>gibt, damit auch schon gut, ja gar gelungen sei[…]*123. Wie <strong>der</strong> Überschrift zu entnehmen ist, setze ich +das Lob <strong>der</strong> Vielheit* allgeme<strong>in</strong> als Kennzeichen <strong>der</strong> (euphorischen)<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne an und betrachte die +pluralistischen* Konzepte von Welsch und Hassan, auf die ich mich im folgendenkonzentrieren werde, nur als stellvertretende Beispiele für das Denken <strong>der</strong> (primären und sekundären) euphorische<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Mit dieser Orientierung an <strong>der</strong> Vielheit wollen sich die (eigentlichen) +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nen* <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ievom (+radikalen*) E<strong>in</strong>heitsdenken <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und <strong>der</strong> Vormo<strong>der</strong>ne absetzen. An die Stelle <strong>der</strong> Wurzel tritt also,wie sich <strong>in</strong> Anlehnung an Deleuze und Guattari formulieren läßt, das +Rhizom*, das für Konnexion, Heterogenitätund Vielheit steht (vgl. Deleuze/Guattari: Rhizom; S. 11ff. und siehe auch Abschnitt 5.2.1)124. Hassan spricht zum e<strong>in</strong>en vom +new gnosticism* (vgl. Culture, Indeterm<strong>in</strong>acy, And Immanence; S. 67), stellt allerd<strong>in</strong>gsklar, daß dieser areligiöser Natur ist (vgl. Toward a Concept od <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism; S. 172).125. Beide Tendenzen (+<strong>in</strong>determ<strong>in</strong>acy* und +immanence*) faßt Hassan mit dem Neologismus +<strong>in</strong>determanence*zusammen.126. Er nennt hier – wie <strong>in</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne heute* – neben Unbestimmtheit und Immanenz die sehr diffusen weiterenMerkmale: Fragmentisierung, Auflösung des (verb<strong>in</strong>dlichen) Kanons, Verlust von ›Ich‹ und ›Tiefe‹, Anti-Ikonographie,Ironie, Hybridisierung, Karnevalisierung, ›Performanz‹ und Fiktionalität. Wohl deshalb betont er, daß es ihm nichtum e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Def<strong>in</strong>ition, son<strong>der</strong>n vielmehr um +e<strong>in</strong>e praktische Liste* geht, die e<strong>in</strong> kulturelles Feld beschreibensoll (vgl. S. 48). Auf welche Weise sich daraus (wie <strong>in</strong> +Pluralism <strong>in</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Perspective* gefolgert) e<strong>in</strong> kritischerPluralismus (mit e<strong>in</strong>er gewissen Zwangsläufigkeit) ergeben soll, bleibt lei<strong>der</strong> im Dunkeln.127. +Abschied von <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* haben z.B. Fischer et al. schon 1980 genommen. Ihnen g<strong>in</strong>g es dabei um die+Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Orientierungskrise* <strong>in</strong> <strong>der</strong> Architektur, die zwar nur durch die gleichzeitige Überw<strong>in</strong>dung desFunktionalismus möglich ist, aber eher post<strong>in</strong>dustriellen als postmo<strong>der</strong>nen Charakter tragen soll (vgl. Über den kompliziertenWeg zu e<strong>in</strong>er nachfunktionalistischen Architektur).128. Auch Welsch ist aber ke<strong>in</strong> Technologie-Fe<strong>in</strong>d. Er äußert zwar Kritik an <strong>der</strong> Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> Technik und <strong>der</strong>technologischen Rationalität: +Die Attacke <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zielt genau auf die Vorstellung von e<strong>in</strong>em TechnologischenZeitalter. Denn ›Technologisches Zeitalter‹ bedeutet ja eben, daß es nicht bei <strong>der</strong> sektorellen Uniformierung bleibt,son<strong>der</strong>n daß tendenziell alle gesellschaftlichen Prozesse dieser Technologie unterworfen werden […]* (Unsere postmo<strong>der</strong>neMo<strong>der</strong>ne; S. 221). An<strong>der</strong>erseits stellt er klar: +Das alles darf nicht mißverstanden werden. Mit Technologie-Fe<strong>in</strong>dlichkeithat es nichts zu tun. Wohl aber mit Verteidigung von Vielfalt. Die Kritik betrifft alle<strong>in</strong> die Ausschließlichkeitsansprüchedes Technologischen […]* (Ebd.; S. 222)129. Spaemann selbst nennt – obwohl ich ihn e<strong>in</strong>er euphorischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner Prägung zugeordnethabe – nicht die +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* explizit als (legitime) Nachfolger<strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Allerd<strong>in</strong>gs beziehen sich an<strong>der</strong>e(wie Hübner und Koslowski), die e<strong>in</strong>deutiger dieser Richtung e<strong>in</strong>er euphorischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne zuzuordnen s<strong>in</strong>d,auf Spaemanns Überlegungen.130. Weitere Beispiele für e<strong>in</strong>en religiös-spirituell fundierten <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> dem Sammelband +SacredInterconnections*, <strong>der</strong> von David Griff<strong>in</strong> herausgegeben wurde. Hier ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Beitrag von Matthew Foxzu nennen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e postmo<strong>der</strong>ne Spiritualität heraufziehen sieht (vgl. A Mystical Cosmology: Toward a <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nSpirituality).131. E<strong>in</strong>e Übersicht über das Spektrum kommunitaristisches Denkens und die amerikanische Debatte zwischen Liberalenund Kommunitaristen bietet <strong>der</strong> von Axel Honneth herausgegebene Sammelband +Kommunitarismus* (1995).


A: ANMERKUNGEN 17132. In e<strong>in</strong>em Gespräch, das 1981 erstmals veröffentlicht wurde, erläutert er bezogen auf die Beweggründe zur Abfassungse<strong>in</strong>es Hauptwerks, <strong>der</strong> +Theorie des kommunikativen Handelns*: +Das eigentliche Motiv, das ich 1977 hatte, als ichanf<strong>in</strong>g, das Buch zu schreiben, war, mir selbst darüber klar zu werden, wie man die Kritik <strong>der</strong> Verd<strong>in</strong>glichung, dieKritik <strong>der</strong> Rationalisierung, […] umformulieren kann […] ohne das Projekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne preiszugeben, ohne Rückfall<strong>in</strong>s <strong>Post</strong>- o<strong>der</strong> Anti-Mo<strong>der</strong>ne […]* (Dialektik <strong>der</strong> Rationalisierung; S. 184)133. Wellmer bezieht sich auf Castoriadis’ Schrift +Durchs Labyr<strong>in</strong>th* (1978). Dort heißt es im Vorwort: +Die Geschichte,unsere Geschichte hat das Ziel <strong>der</strong> Wahrheit aufgerichtet – und ebenso das Ziel <strong>der</strong> Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.Untrennbar. Und wir – manche von uns jedenfalls – gehen ganz <strong>in</strong> diesen Zielen auf. Aber es kann ke<strong>in</strong>e Rede davonse<strong>in</strong>, sie zu ›begründen‹ – man sieht nicht, was das heißen könnte […] für die Vernunft können wir ke<strong>in</strong>e Vernunftgründeangeben. Trotzdem s<strong>in</strong>d wir darum nicht bl<strong>in</strong>d und nicht verloren. Wir können aufklären, was wir denken und waswir s<strong>in</strong>d. Nachdem wir es geschaffen haben, vermessen wir, Stück für Stück, unser Labyr<strong>in</strong>th.* (S. 22f.) Genau diesekritische Potentiale freisetzende Aufklärung über die Unbegründbarkeit des Vernunft (und <strong>der</strong> mit ihr verbundenenWerte) ist mit dem von Wellmer zitierten Begriff <strong>der</strong> +Selbstüberschreitung <strong>der</strong> Vernunft* (ebd.; S. 192) geme<strong>in</strong>t.134. E<strong>in</strong> pr<strong>in</strong>zipiell ähnliches Raster hat übrigens auch Jameson entwickelt. Er ordnet die verschiedenen Positionenvier Fel<strong>der</strong>n zu, die sich durch die Komb<strong>in</strong>ation <strong>der</strong> sich ausschließenden Eigenschaftspaare +anti-mo<strong>der</strong>nist – promo<strong>der</strong>nist*und +anti-postmo<strong>der</strong>nist – pro-postmo<strong>der</strong>nist* ergeben (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism; S. 61).135. Detailliert herausgearbeitet wird dieses Argument <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er neueren Arbeit von Welsch: Vernunft – Die zeitgenössischeVernunftkritik und das Konzept <strong>der</strong> transversalen Vernunft (1995). Kritisch ist jedoch anzumerken: Indem Welsch aufdie Grundlage <strong>der</strong> Vielheit <strong>in</strong> transversaler E<strong>in</strong>heit abhebt, wird +h<strong>in</strong>terrücks* wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> transzendentalphilosophischerUniversalismus e<strong>in</strong>geführt – womit se<strong>in</strong> Konzept kaum an postmo<strong>der</strong>ne Differenztheorien anschlußfähig se<strong>in</strong> dürfte.136. In dieser Argumentationsfigur deutet sich die gerade <strong>in</strong> den letzten Jahren immer klarer hervortretende kommunitaristischeAusrichtung Etzionis an (vgl. z.B. The Moral Dimension o<strong>der</strong> auch The Spirit of Community).137. Vom selben Autor stammt übrigens <strong>der</strong> Band +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity* (1993), <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en guten Überblick über den Mo<strong>der</strong>ne-<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskurs liefert.138. Im Schamanismus dient oft e<strong>in</strong>e Geheimsprache dazu, sich Zutritt zu den kosmischen Zonen zu verschaffenund die Nachahmung von Tierlauten verleiht dem Schamanen die Fähigkeiten <strong>der</strong> nachgeahmten Tiere (vgl. Eliade:Schamanismus und archaische Ekstasetechnik; S. 103ff.). Im <strong>in</strong>dischen Mantra-Yoga wie<strong>der</strong>um f<strong>in</strong>det sich die Vorstellung,daß die Wie<strong>der</strong>holung mystischer Laute dem Yogi unbegrenzte Kräfte verleiht. +Die unbegrenzte Wirksamkeit <strong>der</strong>mantra rührt daher, daß sie die ›Objekte‹, die sie repräsentieren, s<strong>in</strong>d […] So hat zum Beispiel je<strong>der</strong> Gott […] e<strong>in</strong>en›mystischen Laut‹, <strong>der</strong> […] ihr [!] Wesen ist* (<strong>der</strong>s.: Yoga; S. 223). Diese Vorstellung e<strong>in</strong>er Identität von Begriff undBezeichnetem f<strong>in</strong>det sich nicht nur im antiken Indien, son<strong>der</strong>n wird z.B. auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Platon-Dialog ausführlicherörtert (vgl. Kratylos; Abschnitt 3 [427d]).139. Für den +<strong>Post</strong>marxisten* Eagleton ist es freilich e<strong>in</strong>e ganz an<strong>der</strong>e Illusion, <strong>der</strong> das postmo<strong>der</strong>ne Denken primär+verfallen* ist. Zwar gesteht Eagleton zu: +Die postmo<strong>der</strong>ne Theorie ist <strong>in</strong>sofern radikal, als sie e<strong>in</strong> System <strong>in</strong> Fragestellt, das immer noch absolute Werte, metaphysische Begründungen und selbstidentische Subjekte braucht; gegendiese mobilisiert sie Multiplizität, Nicht-Identität, Überschreitungen, Unbegründbarkeit und kulturellen Relativismus.*(Die Illusionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 176) Doch: +Das Resultat ist im besten Fall e<strong>in</strong>e phantasievolle Unterwan<strong>der</strong>ungdes herrschenden Wertesystems […] Aber das postmo<strong>der</strong>ne Denken erkennt gewöhnlich nicht, daß das, was auf<strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Ideologie funktioniert, nicht auf <strong>der</strong> Ebene des Marktes funktioniert.* (Ebd.)


18 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEKAPITEL 1: POLITIK – ETYMOLOGIE UND SEMANTIK EINES +RECYCLINGFÄHIGEN* BEGRIFFS1. Die Unterscheidung zwischen horizontbefreienden und -verengenden Zeitaltern trifft Palonen danach, +ob dieherrschende Tendenz des Begriffswandels eher <strong>in</strong> die Richtung <strong>der</strong> Erschließung o<strong>der</strong> Abschließung <strong>in</strong>dividuellerDenkmöglichkeiten läuft* (<strong>Politik</strong> als ›chamäleonartiger‹ Begriff; S. 4). Diese <strong>in</strong>dividuellen Denkmöglichkeiten hängenwie<strong>der</strong>um von <strong>in</strong>ter<strong>in</strong>dividuell wirksamen +distanzverlängernden Vermittlungs<strong>in</strong>stanzen* ab: den Traditionen, demgeschichtlichen H<strong>in</strong>tergrund, <strong>der</strong> die Generation prägt, den Herrschaftsverhältnissen sowie dem sozialen Raum (Peripherie-Zentrums-Relation), was e<strong>in</strong>e Perspektive des +oben* o<strong>der</strong> +unten*, vom +Kern* <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> von ihrem +Rand*aus bewirkt. Für das Individuum besteht aber auch die Möglichkeit, die so vorgegebenen Grenzen zu überw<strong>in</strong>den:zum e<strong>in</strong>en durch das (bewußte) Ignorieren dieser Gegebenheiten, zum an<strong>der</strong>en durch Abstraktion und Analyse (vgl.ebd.; S. 6f.). Dies schafft e<strong>in</strong>en vielfach kont<strong>in</strong>genten Raum für e<strong>in</strong>en Begriffswandel (vgl. ebd.; S. 8ff.).2. E<strong>in</strong>en fundierten allgeme<strong>in</strong>en Überblick über +Das politische Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> antiken Welt* gibt Moses F<strong>in</strong>ley (1983).3. Aristoteles alle<strong>in</strong>e hatte, wenn man se<strong>in</strong>en Angaben trauen darf, e<strong>in</strong>e Sammlung von 158 Verfassungen zusammengetragen,die aber verloren g<strong>in</strong>g. E<strong>in</strong>e Reihe von antiken (auch nicht-griecgischen) Verfassungen hat jedoch (fürInteressierte) Alexan<strong>der</strong> Demandt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form e<strong>in</strong>er vergleichenden Verfassungsgeschichte herausgegeben (vgl. AntikeStaatsformen). Es gilt allerd<strong>in</strong>gs allgeme<strong>in</strong> zu beachten, daß e<strong>in</strong>e (offiziell fixierte) geschriebene Verfassung im antikenGriechenland unbekannt war.4. Die These vom ökonomischen Aufschwung <strong>in</strong> <strong>der</strong> griechischen Antike durch Geldwirtschaft und zunehmendenHandel (verbunden mit Kolonisierung und e<strong>in</strong>er +Industrialisierung* des Handwerks) wurde vor allem von EduardMeier (e<strong>in</strong>em deutschen Historiker des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts) vertreten, <strong>der</strong> dar<strong>in</strong> auch e<strong>in</strong>e Parallele zur neuzeitlichenEntwicklung <strong>in</strong> Europa sah (vgl. Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums; <strong>in</strong>sb. S. 99–119). Vor allem letztereswird heute mit dem Verweis auf die grundsätzlich sich von den heutigen Verhältnissen unterscheidende Ausrichtungdes antiken Wirtschaftens kritisch betrachtet. Denn hat sich die +mo<strong>der</strong>ne* Wirtschaft immer weiter losgelöst vomsozialen Kontext und ist zu e<strong>in</strong>er autonomen Sphäre geworden, so war die antike Wirtschaft immer e<strong>in</strong>gebettet <strong>in</strong>e<strong>in</strong> soziales und kulturelles Ganzes (vgl. hierzu z.B. Polanyi: Ökonomie und Gesellschaft; S. 129–135). Die Ausführungenvon Aust<strong>in</strong> und Vidal-Naquet <strong>in</strong> ihrem Band +Gesellschaft und Wirtschaft im alten Griechenland* (obwohl bemühtMeiers Thesen zu relativieren) belegen aber me<strong>in</strong>es Erachtens, daß zum<strong>in</strong>dest für Athen e<strong>in</strong>e partielle Richtigkeitgegeben ist (vgl. dort vor allem Kapitel 3). Zu den Grundlagen antiker Wirtschaft allgeme<strong>in</strong> verweise ich auf dasStandardwerk von Moses F<strong>in</strong>ley: Die antike Wirtschaft.5. Die verschiedenen Ämter gab es schon zur Zeit <strong>der</strong> Königsherrschaft, doch erfolgte ke<strong>in</strong> so häufiger Wechsel. Außerdemwar die Macht <strong>der</strong> Archonten durch den (vor allem regional wirksamen) E<strong>in</strong>fluß an<strong>der</strong>er bedeuten<strong>der</strong> Adelsgeschlechtere<strong>in</strong>geschränkt.6. E<strong>in</strong>e ausführlichere Darstellung <strong>der</strong> Entwicklung zur Demokratie (beg<strong>in</strong>nend im 7. Jahrhun<strong>der</strong>t) erfolgt bei Bleicken(Die athenische Demokratie; S. 13–63), auf den ich mich auch im folgenden noch öfter beziehen werde. DetaillierteAngaben auch zur Frühzeit macht Bayer (Griechische Geschichte; S. 24–110).7. Die Zahl <strong>der</strong> Sklaven im antiken Athen wird auf ca. 80.000 geschätzt. Zur Rechtfertigung <strong>der</strong> Sklaverei heißt esbei Aristoteles: +[…] das, welches <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, mit dem Denken vorauszusehen, ist von Natur aus das Herrschendeund das von Natur aus Gebietende, doch das, welches <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, eben das mit dem Körper durchzuführen, dasist das Beherrschte und von Natur aus Dienende. Daher ist dem Herrn und dem Sklaven e<strong>in</strong> und dasselbe von Nutzen*(<strong>Politik</strong>; S. 76 [1252a]). Dabei versteht es sich von selbst, daß nach Aristoteles zum Denken alle<strong>in</strong>e die Griechen geeignets<strong>in</strong>d, die man deshalb auch eigentlich nicht zu den Sklaven von Natur aus rechnen könne, während die des Griechischennicht mächtigen +Barbaren* <strong>in</strong> je<strong>der</strong> H<strong>in</strong>sicht Sklaven seien. Die Realität sah h<strong>in</strong>gegen noch bitterer aus. Auch vieleGriechen erlitten das Schicksal <strong>der</strong> Sklaverei: vor Solons Reformen, wie erwähnt, durch Schuldknechtschaft, undtraditionell durch Kriegsgefangenschaft. E<strong>in</strong>en Überblick über das gesamte Ausmaß und Spektrum <strong>der</strong> +Sklaverei imAltertum* gibt Carl Weber. Wer sich solchermaßen kundig gemacht hat, <strong>der</strong> kann begreifen, daß <strong>in</strong> marxistischerSicht (vgl. das angeführte Engels-Zitat) die Sklaverei als Grundlage <strong>der</strong> Ökonomie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike gesehen wird. Darüberh<strong>in</strong>aus wurde von verschiedener Seite vorgebracht, daß erst durch die von <strong>der</strong> Sklaverei bewirkte (zeitliche) Entlastung<strong>der</strong> Raum für die politische Betätigung <strong>der</strong> bürgerlichen Schicht entstanden ist.


A: ANMERKUNGEN 198. Metöken waren festansässige Fremde, die zumeist <strong>in</strong> Handel und Handwerk tätig waren. Ihre Zahl wird auf ca.25.000 geschätzt.9. Die übergeordneten politischen E<strong>in</strong>heiten waren die Trittyen und die Phylen, wobei die letzteren u.a. die städtischeVerwaltung wählten, das Heer zusammenstellten und die Übernahme <strong>der</strong> Kosten kommunaler Aufgaben an wohlhabendeBürger delegierten.10. Vgl. hierzu Bleicken: Die athenische Demokratie; <strong>in</strong>sb. S. 65–85 sowie Davies: Das klassische Griechenland unddie Demokratie; S. 109–141.11. Meier versucht dies auch anhand des Werks des antiken Dichters Aischylos aufzuzeigen. In se<strong>in</strong>er Dramen-Trilogieüber Orest (<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Mutter erschlagen hat, um den Tod des Vaters zu sühnen) thematisiert Aischylos die auswegloseSituation des mythischen Helden, <strong>der</strong> nach dem Ratschlag von Apollon handelte, aber nun zwangsläufig die erbarmungslosenRachegötter <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nyen (die erst am Ende besänftigt werden können und sich zu den Schutzgottheiten<strong>der</strong> Eumeniden verwandeln) zu fürchten hat. Orest flüchtet deshalb nach Athen, wo ihn e<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Gött<strong>in</strong> Athenee<strong>in</strong>gesetztes Gericht vom Fluch des Muttermordes befreit. Am Ende <strong>der</strong> Verhandlung verkündet die Gött<strong>in</strong>, was mangemäß Davies als Gründungsmythos Athens bezeichnen kann (vgl. Das klassische Griechenland und die Demokratie;S. 81): +Vernehmt nun die Satzung. Männer Attikas […] Als unbestechlich setz ich diesen hohen Rat, ehrwürdig, strengenS<strong>in</strong>nes, über Schlafende als ewig wache Hut des Landes stiftend e<strong>in</strong>.* (Eumeniden; zitiert nach ebd.)Meier sieht im Werk des Aischylos die Grundsätze demokratischen Polis-Ordnung antizipiert: +Es ist e<strong>in</strong> großer Schritt<strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Zivilisation, den Aischylos <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Orestie darstellt: von urtümlich-unerbittlicher Verkettungvon Rache und Wi<strong>der</strong>rache zur Gerechtigkeit <strong>der</strong> Polis […]* (Die Entstehung des Politischen bei den Griechen; S. 162)Ganz ähnlich versteht übrigens Max Horkheimer im griechischen Helden das Modell des aufsteigenden Individuum(vgl. Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft; S. 125f.) und <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* wird anhand des Beispiels<strong>der</strong> Odyssee die Beziehung von Mythos und Aufklärung erläutert.12. Sokrates argumentiert dabei kontraktualistisch. Er sieht die Beziehung zwischen Bürger und Staat als Vertragsverhältnis,das, e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>gegangen, nicht ohne weiteres aufgekündigt werden kann (vgl. hierzu auch Adomeit: Antike Denkerüber den Staat; S..51ff.). Die Seitenangabe <strong>in</strong> Klammern bei Platon-Zitaten bezieht sich übrigens auf die allgeme<strong>in</strong>als Referenz dienende Stephanus-Ausgabe.13. Treffen<strong>der</strong> wäre übrigens die Übersetzung von +Politeia* mit +Verfassung* und nicht mit +Staat*.14. Infolge <strong>der</strong> Ausweitung <strong>der</strong> Demokratie war e<strong>in</strong>e rhetorische Schulung notwendig geworden, um sich im demokratischenDiskurs durchsetzen zu können. Die Sophisten boten dazu ihre Dienste an. Es ist bezeichnend, daß Platones so darstellt, daß Thrasymachos nur, wenn ihm e<strong>in</strong> Entgelt versprochen wird, zur Ausführung se<strong>in</strong>er These bereitist. Sicherlich ist aber Platons Zeichnung <strong>der</strong> Sophisten tendenziell. Es ist deshalb bedauernswert, daß ihre Positionfast ausschließlich durch das Werk Platons erhalten blieb. Zum Sophismus im allgeme<strong>in</strong>en sowie zu den bekanntestenVertretern vgl. Classen (Hg.): Sophistik.15. So lautet die Überschrift zum Abschnitt 4.1.5.1.2.16. Aristoteles gründete 334 v. Chr. (In e<strong>in</strong>er ehemaligen +Turnhalle*, dem Gymnasium +Lykeion*) e<strong>in</strong>e eigene philosophischeLehranstalt. Da es üblich war, während des philosophischen Gesprächs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Halle herumzugehen, wurdesie die +peripatetische Schule* (von gr. Peripatos: Wandelgang) genannt.17. Die +Nikomachische Ethik* trägt ihren Namen nach Nikomachos, e<strong>in</strong>em Sohn des Aristoteles, <strong>der</strong> sie posthumveröffentlicht hat. Von se<strong>in</strong>en zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften ist nicht erhalten geblieben. Die <strong>in</strong> eckigenKlammern angegebene Seitenzahl bezieht sich übrigens auf die Berl<strong>in</strong>er Akademie-Ausgabe des griechischen Textesvon 1831 (herausgegeben durch Immanuel Becker).18. Aristoteles argumentiert hier nicht logisch, son<strong>der</strong>n topisch. Auch topische Nachweise s<strong>in</strong>d aber gemäß Aristoteleszulässig: +Wenn es nämlich gel<strong>in</strong>gt, die strittigen D<strong>in</strong>ge zu klären und dann die plausiblen Me<strong>in</strong>ungen übrigbleiben,so wäre e<strong>in</strong> ausreichenden Nachweis gelungen*. (Nikomachische Ethik; S. 178 [1145b])


20 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE19. Die Erreichung <strong>der</strong> Eudaimonia ist nach Aristoteles natürlich auch auf dem Weg <strong>der</strong> philosophischen Wesensschau(theoria) möglich (und dies sogar <strong>in</strong> ganz ausgezeichneter Weise), doch ist e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> H<strong>in</strong>gabe an die Theoria (biostheoretikos) – aufgrund <strong>der</strong> dafür notwendigen <strong>in</strong>tellektuellen und materiellen Voraussetzungen – nicht für alleverwirklichbar.20. Die +<strong>Politik</strong>*stellt ke<strong>in</strong> konsistentes Werk des Aristoteles dar, son<strong>der</strong>n ist vielmehr e<strong>in</strong>e Textmontage aus nachgelassenenSchriften.21. Was die Herrschaft über Frauen und K<strong>in</strong><strong>der</strong> betrifft, so macht Aristoteles allerd<strong>in</strong>gs gewisse E<strong>in</strong>schränkungen:Obwohl +das Männliche […] von Natur aus führungsgeeigneter als das Weibliche* (<strong>Politik</strong>; S. 101 [1259b]) ist, gleichtdie Herrschaft über die Frau doch <strong>der</strong> Herrschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Polis, denn auch Frauen s<strong>in</strong>d ja grundsätzlich Freie. Das Regimentüber die K<strong>in</strong><strong>der</strong> erfolgt dadagene nach Art <strong>der</strong> königlichen Herrschaft, weil +das Ältere und Reife […] mehr [ist] alsdas Jüngere und Unreife* (ebd.).22. Das Zitat stammt aus Condorcets +Entwurf e<strong>in</strong>er historischen Darstellung <strong>der</strong> Fortschritte des menschlichen Geistes*(1795).23. E<strong>in</strong>e detaillierte Biographie Ciceros gibt Christian Habicht <strong>in</strong>: Cicero <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er.24. Die Angabe <strong>in</strong> eckiger Klammer bezeichnet das Buch (röm. Ziffer) sowie die Seitenzahl (arab. Ziffer) <strong>der</strong> verb<strong>in</strong>dlichenStandardausgabe.25. Die Kategorie des Naturrechts ist allerd<strong>in</strong>gs bereits aus dem Werk Platons und Aristoteles’ bekannt.26. Se<strong>in</strong> politisches Engagement br<strong>in</strong>gt ihm nicht nur 58 v. Chr. e<strong>in</strong>e vorübergehende Verbannung e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n erwird auch – kurze Zeit nach Caesar – aus politischen Motiven ermordet.27. Es werden hier mehrere Phasen unterschieden. Me<strong>in</strong>e Angaben beziehen sich auf die klassische Phase (287–133v. Chr.) bzw. die späte römische Republik (ca. 200 v. Chr. bis 30 v. Chr.).28. Die zwei Konsuln waren für die allgeme<strong>in</strong>e Staatsverwaltung, die Leitung <strong>der</strong> gesamten Exekutive sowie die Kriegführungzuständig. Die Prätoren hatten Aufgaben als Gerichtsherrn, Heerführer und Statthalter. Den Ädilen kam die Aufsichtüber die Tempel, die Marktaufsicht und die Aufsicht über Spiele und Feste zu. Die Quästoren waren Verwaltungsbeamteim F<strong>in</strong>anzsektor. Die Gesamtaufsicht über das Staatsvermögen war aber <strong>in</strong> den Händen <strong>der</strong> Zensoren, die auch dieSteuern festlegten. In Krisenzeiten war e<strong>in</strong> Diktatorenamt mit une<strong>in</strong>geschränkter Amtsgewalt vorgesehen.29. In späterer Zeit waren se<strong>in</strong>e Beschlüsse allerd<strong>in</strong>gs faktisch b<strong>in</strong>dend.30. Später wurden auch Vertreter des Plebs <strong>in</strong> den 300 Mitglie<strong>der</strong> unfassenden Senats-Rat entsandt.31. Vgl. zur Verfassung <strong>der</strong> klassischen Republik vgl. Christ: Die Römer; S. 28–37. Zum letztgenannten Aspekt <strong>der</strong>sozial-politischen Spannungen vgl. Alföldy: Römische Sozialgeschichte; S.62–84.32. Caesar war ohne Auftrag <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Feldzug aufgebrochen. Vor allem auf Betreiben se<strong>in</strong>es Nachfolgers als Konsul,Pompeius, wurde er nach se<strong>in</strong>er Rückkehr zum Staatsfe<strong>in</strong>d erklärt, doch Caesar kapitulierte nicht und konnte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ervier Jahre dauernden, für alle Seiten sehr verlustreichen kriegerischen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung schließlich den Sieg davontragen.33. Se<strong>in</strong> +richtiger* Name lautete Gaius Octavianus.34. E<strong>in</strong>e Diskussion <strong>der</strong> politischen Philosophie und Praxis <strong>in</strong> Rom aus verschiedenen Perspektiven und auch unterWürdigung des Beitrags von Caesar f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> dem von Richard Kle<strong>in</strong> herausgegebenen Band +Das Staatsdenken<strong>der</strong> Römer* (1966). In Ergänzung dazu s<strong>in</strong>d die politisch-biographischen Skizzen zu Cäsar (sowie Cicero und Augustus)Christian Meiers <strong>in</strong> +Die Ohnmacht des allmächtigen Dictators Caesar* (1980) aufschlußreich.


A: ANMERKUNGEN 2135. +Das späte Rom* (1993) und se<strong>in</strong>e Geschichte wird von Cameron ausführlich beschrieben. Wer sich also hierfürnäher <strong>in</strong>teressiert, den möchte ich auf ihn verweisen.36. Die Angabe <strong>in</strong> eckigen Klammer bezieht sich auf das Kapitel (röm. Ziffer) sowie den betreffenden Abschnitt (arab.Ziffer).37. Konstant<strong>in</strong>, <strong>der</strong> von 324–337 herrschte, verlagerte se<strong>in</strong>en Herrschaftssitz nach Byzanz, das damit zur zweiten,<strong>der</strong> christlichen Reichshauptstadt wurde und <strong>in</strong> Konstant<strong>in</strong>opel umbenannt wurde.38. Als weitere Sekundärliteratur habe ich folgende Werke benutzt: Wolfgang Stürmer: Natur und Gesellschaft imDenken des Hoch- und Spätmittelalters sowie Alexan<strong>der</strong> Passer<strong>in</strong> D’Entrèves: The Medieval Contribution to PoliticalThought.39. Late<strong>in</strong> war im Mittelalter die l<strong>in</strong>gua franca <strong>in</strong> allen Bereichen <strong>der</strong> Wissenschaft.40. Hierzu heißt es an e<strong>in</strong>er Stelle se<strong>in</strong>es Kommentars zu den ethisch-politischen Schriften des Aristoteles: +Die geistlicheGewalt und die weltliche leiten sich beide aus <strong>der</strong> göttlichen Gewalt her; und darum ist die weltliche Gewalt <strong>der</strong>geistlichen <strong>in</strong>soweit unterworfen, als sie ihr von Gott unterstellt ist, das heißt <strong>in</strong> den Angelegenheiten, die das Selenheilbetreffen. In Angelegenheiten aber, die das bürgerliche Wohl betreffen, muß man <strong>der</strong> weltlichen mehr gehorchenals <strong>der</strong> geistlichen nach jenem Herrenwort […] ›Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist!‹* (Zitiert nach Miethke: PolitischeTheorien im Mittelalter; S. 88)41. In dem bereits zitierten Artikel von Miethke (Politische Theorien im Mittelalter) erfolgt auch e<strong>in</strong>e relativ ausführlicheDarstellung des Verhältnisses von Kirche und Staat, die mir als Grundlage für me<strong>in</strong>e (knappen) Ausführungen diente.Weitere Angaben macht auch z.B. Heer: Mittelalter; S. 631–677. Zur ständischen Sozialordnung mit ihrer durchGeburt weitgehend festgelegten sozialen Position des e<strong>in</strong>zelnen vgl. Bosl: Die Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte des Mittelalters;S. 44–83 sowie Borst: Lebensformen im Mittelalter; S. 268–280. Bosl weist allerd<strong>in</strong>gs darauf h<strong>in</strong>, daß die Statik <strong>der</strong>mittelalterlichen Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel überschätzt wird (vgl. ebd.; S. 44ff.). E<strong>in</strong>e gute Sammlung von illustrierendenQuellentexten zum gesamten Spektrum des +Leben[s] im Mittelalter* f<strong>in</strong>det sich bei Pitz (1990). Auch die politischeOrdnung im Mittelalter wird aus vielen <strong>der</strong> hier enthaltenen Quellen deutlich, die ich als duale und fragmentisierteHerrschaft charakterisieren möchte: Sie ist e<strong>in</strong>e duale Herrschaft, weil eben neben den weltlichen Instanzen auchdie Kirche auf politischer Ebene Macht und E<strong>in</strong>fluß besaß (vgl. hierzu exemplarisch die Quellen zum Kampf um dieStadtherrschaft <strong>in</strong> Worms zwischen Kaiser Otto II. und dem Bischof von Worms, ebd.; S. 192–208). Und sie ist e<strong>in</strong>efragmentisierte Herrschaft, weil die Könige und Kaiser des Mittelalters ke<strong>in</strong>e umfassende Macht über ihr Territoriumhatten, da sie, um sich die Unterstützung des Adels zu sichern, Lehen vergeben mußten (als Belege können hier z.B.die Quellen zum Lehenssystem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Karol<strong>in</strong>gerzeit dienen, ebd.; S. 118–133). Gerade zum Wandel <strong>der</strong> Herrschaftsstrukturenim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit (also dem Zeitabschnitt, dem die meisten <strong>der</strong> hier behandeltenAutoren zuzurechnen s<strong>in</strong>d) macht Elias detaillierte Angaben (vgl. Über den Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation; Band 2).42. Beide begründen (im Gegensatz zu Marsilius) e<strong>in</strong>e Absetzungsmöglichkeit des Königs für den Fall, daß dieser gegendas Naturrecht verstößt (Ockham) bzw. sich <strong>der</strong> Sünde verschrieben hat (Wyclif).43. Was diesen Teil <strong>der</strong> Argumentation von Marsilius betrifft, so steht er hier<strong>in</strong> noch <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit <strong>der</strong> von Thomasvon Aqu<strong>in</strong> vorgegebenen L<strong>in</strong>ie. Auch Thomas plädierte für e<strong>in</strong>e ungespaltene monarchische Herrschaft (vgl. Überdie Herrschaft <strong>der</strong> Fürsten; Kap. 2–6).44. Marsilius verweist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf e<strong>in</strong>e Stelle im vierten Buch <strong>der</strong> +<strong>Politik</strong>*, wo es heißt: +[…] daherdarf man nicht alle, we<strong>der</strong> die Gewählten noch die durch das Los bestimmten, als Beamte [Vorsteher] bezeichnen,wie etwa zuvör<strong>der</strong>st die Priester, das ist [die s<strong>in</strong>d] nämlich ganz an<strong>der</strong>s neben die bürgerlichen Ämter anzusetzen[…]* (S. 237 [1299a]). Von Marsilius nicht zitiert wird allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> vorausgehende Halbsatz, <strong>der</strong> lautet: +Denn diebürgerliche Geme<strong>in</strong>schaft bedarf vieler Vorsteher […]* (ebd.). Ihm war schließlich daran gelegen, e<strong>in</strong>e ungeteiltemonarchische Herrschaft zu legitimieren und zu begründen.45. Ich werde mich (wie auch im vorangegangenen Abschnitt) auf e<strong>in</strong>ige zentrale Denker und ihr Verständnis desPolitischen beschränken.


22 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE46. Der volle Titel lautet +Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio* (Abhandlungen über die ersten zehn Bücher desTitus Livius).47. Machiavelli war u.a. auch als Komödienschriftsteller leidlich erfolgreich. Über die im folgenden gemachten Angabenzu Werk und Biographie h<strong>in</strong>ausreichend, f<strong>in</strong>den sich Informationen z.B. <strong>in</strong> F<strong>in</strong>k: Machiavelli – E<strong>in</strong>e Biographie. E<strong>in</strong>esehr umfangreiche Monographie zum politischen Denken Machiavellis, die vor allem den Zeith<strong>in</strong>tergrund mit e<strong>in</strong>bezieht,hat Herfried Münkler verfaßt (Machiavelli – Die Begründung des politischen Denkens <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit aus <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong>Republik Florenz).48. Der Umsturz <strong>in</strong> Florenz wird von dem Dom<strong>in</strong>ikanermönch Savonarola e<strong>in</strong>geleitet, mit dem sich Machiavelli allerd<strong>in</strong>gsnicht versteht. Deshalb kommt er erst nach dessen Tod 1498 politisch zum Zug.49. Dies ist e<strong>in</strong>e sehr berühmte Textstelle, <strong>der</strong>en weiterer Wortlaut Machiavellis negative Anthropologie gut zu illustrierenvermag. Dort heißt es: +Denn von den Menschen kann man im allgeme<strong>in</strong>en sagen, daß sie undankbar, wankelmütig,verlogen, heuchlerisch, ängstlich und raffgierig s<strong>in</strong>d. Solange du ihnen Vorteile verschaffst, s<strong>in</strong>d sie dir ergeben undbieten dir Blut, Habe, Leben und Söhne an, aber nur […], wenn die Not ferne ist. Rückt sie aber näher, so empörensie sich. E<strong>in</strong> Herrscher <strong>der</strong> nur auf ihre Versprechungen baut und sonst ke<strong>in</strong>e Vorkehrungen trifft, ist verloren […]Auch haben die Menschen weniger Scheu, gegen e<strong>in</strong>en beliebten Herrscher vorzugehen als gegen e<strong>in</strong>en gefürchteten;denn Liebe wird nur durch das Band <strong>der</strong> Dankbarkeit erhalten, das die Menschen <strong>in</strong>folge ihrer Schlechtigkeit beije<strong>der</strong> Gelegenheit aus Eigennutz zerreißen. Furcht dagegen beruht auf <strong>der</strong> Angst vor Strafe, die den Menschen nieverläßt.* (Il Pr<strong>in</strong>cipe; S. 68f.)50. Das zeigt sich an folgen<strong>der</strong> Stelle beson<strong>der</strong>s deutlich: +[…] Da es aber me<strong>in</strong>e Absicht ist, etwas Brauchbares fürden zu schreiben, <strong>der</strong> Interesse dafür hat, schien es mir zweckmäßiger, dem wirklichen Wesen <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge nachzugehenals <strong>der</strong>en Phantasiebild*, schreibt Machiavelli (Il Pr<strong>in</strong>cipe; S. 63).51. Zur (Vertrags)theorie von Hobbes ganz allgeme<strong>in</strong> vgl. Kerst<strong>in</strong>g: Thomas Hobbes zur E<strong>in</strong>führung sowie Weiß: Dasphilosophische System von Thomas Hobbes. Auch Ir<strong>in</strong>g Fetschers E<strong>in</strong>leitung zur (vielfach neu aufgelegten) Luchterhand-Ausgabe des +Leviathan* (1966) ist lesenswert. Die me<strong>in</strong>es Wissens nach neueste Darstellung zu Hobbes’ Leben undWerk stammt allerd<strong>in</strong>gs von Herfried Münkler (Thomas Hobbes). Älteren Datums, aber immer noch lesenswert istdie Arbeit von Tönnies (Thomas Hobbes’ Leben und Lehre).52. Ansätze e<strong>in</strong>er kontraktualistischen Argumentationsweise gibt es bei den Sophisten, vor allem aber im Denkendes Sokrates (vgl. den bereits zitierten Dialog +Kriton*). E<strong>in</strong>en guten Überblick über das gesamte Spektrum <strong>der</strong> Vertragstheoriegibt übrigens Wolfgang Kerst<strong>in</strong>g <strong>in</strong> +Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags* (1992). Hier def<strong>in</strong>ierter: +Als Vertragstheorien bezeichnet man moral-, sozial- und politikphilosophische Konzeptionen, die die moralischenPr<strong>in</strong>zipien des Handelns, die rationale Grundlage <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen gesellschaftlichen Ordnung und die Legitimationsbed<strong>in</strong>gungenpolitischer Herrschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em hypothetischen, zwischen freien und gleichen Individuen <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em wohldef<strong>in</strong>ierten Ausgangszustand geschlossenen Vertrag erblicken und damit die allgeme<strong>in</strong>e Zustimmungsfähigkeitzum fundamentalen normativen Gültigkeitskriterium erklären.* (S. 16f.) Das Vertragsargument glie<strong>der</strong>t sich dabei<strong>in</strong>dreiTeilargumente:dasVertrags<strong>in</strong>haltsargument,dasVertragssituationsargumentunddasVertragsbegründungsargument,die den Kriterien <strong>der</strong> Normativität, Moralität und Rationalität Rechnung tragen müssen (vgl. ebd.; S. 19–58).53. Johannes Althusius war e<strong>in</strong> calv<strong>in</strong>istischer Juraprofessor im naussauischen Herborn und übte großen E<strong>in</strong>fluß<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf die Nie<strong>der</strong>lande aus. Er faßt Volk und Staat als e<strong>in</strong>e organische Korporation auf, die vom Monarchen(als Repräsentant <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit) und den ständischen Organen (als Repräsentanten <strong>der</strong> Vielheit) zusammengehaltenwird. Handelt <strong>der</strong> Monarch gegen die Regeln se<strong>in</strong>es Amtes, so sah Althusius e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>standsrecht gegeben. HugoGrotius (Huigh de Groot) for<strong>der</strong>te dagegen (ähnlich wie Hobbes, <strong>der</strong> von ihm bee<strong>in</strong>flußt gewesen se<strong>in</strong> dürfte) imInteresse des politischen Friedens Gehorsam selbst gegenüber e<strong>in</strong>er Gewaltherrschaft. (Vgl. Schwan: Politische Theoriendes Rationalismus und <strong>der</strong> Aufklärung; S.174–178)54. Hobbes bemerkt hierzu: +Die Geometer haben […] ihr Gebiet vortrefflich verwaltet; denn alles, was dem menschlichenLeben an Nutzen zufällt […] ist be<strong>in</strong>ahe nur <strong>der</strong> Geometrie zu verdanken […] Wenn die Moralphilosophen ihre Aufgabemit gleichem Geschick gelöst hätten, so wüßte ich nicht, was <strong>der</strong> menschliche Fleiß darüber h<strong>in</strong>aus noch zum Glück<strong>der</strong> Menschen <strong>in</strong> diesem Leben beitragen könnte. Denn wenn die Verhältnisse <strong>der</strong> menschlichen Handlungen mit<strong>der</strong> gleichen Gewißheit erkannt worden wären, wie es mit den Größenverhältnissen <strong>der</strong> Figuren geschehen ist, sowürden Ehrgeiz und Habgier gefahrlos werden […] Wenn dagegen jetzt <strong>der</strong> Krieg […] ke<strong>in</strong> Ende nimmt, so s<strong>in</strong>d dies


A: ANMERKUNGEN 23überaus deutliche Zeichen, daß die bisherigen Schriften <strong>der</strong> Moralphilosophen zur Erkenntnis <strong>der</strong> Wahrheit nichtsbeigetragen haben.* (Vom Bürger; Widmungsschreiben, S. 60 f.)55. Nach Ulrich Weiß ist +Hobbes neben Galilei und Descartes zu den tragenden Säulen des neuzeitlichen Denkens*zu zählen (Das philosophische System des Thomas Hobbes; S. 14). Zu Descartes’ berühmten +Meditationes* hat Hobbesübrigens e<strong>in</strong>e Reihe von E<strong>in</strong>wänden dargelegt, die von Descartes auch erwi<strong>der</strong>t wurden. In vielen Ausgaben <strong>der</strong>+Meditationes* f<strong>in</strong>det sich im Anhang e<strong>in</strong> Abdruck dieser E<strong>in</strong>wände und Erwi<strong>der</strong>ungen.56. Der englische Bürgerkrieg war neben e<strong>in</strong>er Glaubensause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung zwischen Katholiken und Protestantenvor allem e<strong>in</strong> Machtkampf zwischen Krone und Parlament. Er endete mit <strong>der</strong> H<strong>in</strong>richtung König Charles I. (Stuart)und <strong>der</strong> vorübergehenden Abschaffung <strong>der</strong> Monarchie, wobei <strong>der</strong> Anführer <strong>der</strong> puritanischen Parlamentsmehrheitund Sieger von Preston, Oliver Cromwell, sich allerd<strong>in</strong>gs bald zum mit diktatorischen Vollmachten ausgestattetenLordprotektor küren ließ.57. Er tut dies (auf Anregung monarchistisch ges<strong>in</strong>nter Freunde) mit <strong>der</strong> Veröffentlichung se<strong>in</strong>er Schrift +Elementsof Law*, wo e<strong>in</strong> Vorentwurf zu se<strong>in</strong>er später weiter ausgearbeiteten Vertragstheorie erfolgt.58. Ursprünglich sollte dieser Band den dritten Teil des von Hobbes geplanten Opus Magnum +Elemente <strong>der</strong> Philosophie*bilden. Die eigentlich vorher zur Veröffentlichung geplanten Werke +De Corpore* und +De Hom<strong>in</strong>e* wurden abererst später (1655 bzw. 1658) ausgearbeitet und druckgelegt. Diese Umstellung <strong>der</strong> logischen Reihenfolge geschahaus politischen Gründen. Im Vorwort von +De Cive* heißt es dazu: +Ich habe mich aus re<strong>in</strong>er Neigung zur Philosophiemit ihr beschäftigt, ihre ersten Elemente <strong>in</strong> allen Zweigen gesammelt und allmählich <strong>in</strong> drei Teilen zusammengestellt:im ersten handle ich vom Körper und se<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>en Eigenschaften; im zweiten vom Menschen und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>evon se<strong>in</strong>en Vermögen und Leidenschaften; im dritten vom Staat und den Pflichten <strong>der</strong> Bürger […] Indem ich diesalles vervollständigte […] traf es sich, daß me<strong>in</strong> Vaterland, e<strong>in</strong>ige Jahre vor Ausbruch des Bürgerkrieges, durch Erörterungenüber die Rechte <strong>der</strong> Herrscher und den schuldigen Gehorsam <strong>der</strong> Bürger, die Vorläufer des nahenden Krieges, heftigaufgeregt wurde. Dies veranlaßte mich, den dritten Teil mit Zurückstellung <strong>der</strong> vorangehenden zunächst zur Reifeund zum Abschluß zu br<strong>in</strong>gen.* (S. 71f.) Hobbes verfolgte also ganz offenkundig mit <strong>der</strong> vorgezogenen Veröffentlichunge<strong>in</strong>e politische Absicht, und er ruft sogar zur Denunziation auf: +Wenn irgende<strong>in</strong> Volksredner […] die Lehre [verbreitet],daß […] die Bürger Aufruhr, Verschwörungen und Bündnisse gegen den Staat mit Recht unternehmen dürften […]so glauben Sie me<strong>in</strong>e Leser ihm nicht, son<strong>der</strong>n zeigen Sie se<strong>in</strong>en Namen <strong>der</strong> Obrigkeit an. Wer mir hier<strong>in</strong> beistimmt,<strong>der</strong> wird auch me<strong>in</strong>e Absicht bei Abfassung dieses Buches billigen.* (Ebd.; S. 72f.)59. Der vollständige Titel lautet:+Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical andCivil*.60. Siehe hierzu (falls übergangen) Anmerkung 56.61. Hobbes verweist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf die damaligen Verhältnisse im rechtsfreien Raum <strong>der</strong> Weitendes erst kürzlich entdeckten amerikanischen Kont<strong>in</strong>ents. Auch die anomischen Zustände zur Zeit des Bürgerkriegsdeutet er als Beleg für se<strong>in</strong>e These vom +bellum omnium contra omnes*. Denn <strong>der</strong> Bürgerkrieg war, so Hobbes, nichtsan<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong> Rückfall <strong>in</strong> den Naturzustand. Und selbst, wenn es niemals e<strong>in</strong>e Zeit gegeben hätte, +<strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong> je<strong>der</strong>e<strong>in</strong>es jeden Fe<strong>in</strong>d war, so leben doch die Könige und die, welche die höchste Gewalt haben, mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong> ständigerFe<strong>in</strong>dschaft* (Leviathan; S. 117 [Kap. 13]).62. Zum +natürlichen Recht auf alles* vgl. Leviathan; S. 118f. (Kap. 14).63. Der Name ist <strong>in</strong> Anspielung auf e<strong>in</strong> biblisches Ungeheuer gewählt, und im Bild vom Leviathan kommt e<strong>in</strong>ekorporatistische Auffassung zum Tragen: +Der große Leviathan […] ist e<strong>in</strong> Kunstwerk o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> künstlicher Mensch[…] Bei dem Leviathan ist <strong>der</strong>jenige, welcher die höchst Gewalt besitzt, gleichsam die Seele, welche den ganzenKörper belebt und <strong>in</strong> Bewegung setzt; die Obrigkeiten und Beamten stellen die künstlichen Glie<strong>der</strong> dar […] [und]das Glück des Volkes [ist] das allgeme<strong>in</strong>e Geschäft.* (Leviathan; S. 5 [E<strong>in</strong>leitung])64. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es die Möglichkeit, daß die Gesellschaft wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Naturzustand zurückversetzt wird, womitje<strong>der</strong> auch wie<strong>der</strong> das Recht für sich <strong>in</strong> Anspruch nehmen kann, sich selbst zu verteidigen. Dieser Rückfall <strong>in</strong> denNaturzustand tritt dann e<strong>in</strong>, wenn <strong>der</strong> +Oberherr* se<strong>in</strong>e Pflicht, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten (was ja Zweck<strong>der</strong> Staatsgründung war), nicht erfüllt und er so implizit (o<strong>der</strong> auch explizit) abgedankt hat: +Die Verpflichtung <strong>der</strong>


24 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEBürger gegen den Oberherrn kann nur so lange dauern, als dieser im Stande ist, die Bürger zu schützen; denn dasnatürliche Recht <strong>der</strong> Menschen, sich selbst zu schützen, falls es ke<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er tun kann, wird durch ke<strong>in</strong>en Vertragvernichtet […] Entsagt <strong>der</strong> Monarch <strong>der</strong> höchsten Gewalt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em o<strong>der</strong> se<strong>in</strong>er Erben Namen, so werden die Bürgerwie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Naturzustand versetzt.* (Leviathan; S. 197f. [Kap. 21])65. Für Hobbes bedeutet +Ungerechtigkeit […] die Nichterfüllung e<strong>in</strong>es geschlossenen vertraglichen Abkommens*(Leviathan; S. 129 [Kap. 15]).66. Den Souveränitätsgedanken entlieh Hobbes allerd<strong>in</strong>gs von Jean Bod<strong>in</strong> (1529/30–1596), <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en +six livresde la république* (1576) dargelegt hat, daß es im Staat e<strong>in</strong>e höchste Gewalt geben muß, die ke<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en irdischenGewalt mehr unterstellt ist (vgl. hierzu auch Schwan: Politische Theorien des Rationalismus und <strong>der</strong> Aufklärung; S.168f.).67. Zu deutsch: +Macht, nicht Wahrheit, bestimmt das Gesetz.* Es handelt sich hier um e<strong>in</strong> Zitat aus <strong>der</strong> late<strong>in</strong>ischen(erst nach <strong>der</strong> englischen Fassung herausgegebenen und zu ihr leicht unterschiedlichen) Ausgabe des +Leviathan* (vgl.Hobbes: Opera Lat<strong>in</strong>a; Band 3, S. 202).68. In Großbritannien wird die Königsmacht bereits 1215 durch <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Magna Carta Libertatum* verbriefte Adelsrechtee<strong>in</strong>geschränkt, und schon 1295 wird e<strong>in</strong> dauerhaftes Parlament e<strong>in</strong>gerichtet, <strong>in</strong> dem Vertreter <strong>der</strong> +Gentry* (Landadel)sowie e<strong>in</strong>ige sog. +Commons* (Geme<strong>in</strong>devertreter) sitzen. Ab 1295 kommt dem Parlament das Recht <strong>der</strong> Steuerbewilligungzu. Charles I. (1625–1649) löst es 1629 jedoch auf, da er sich durch die 1628 vom Parlament verabschiedete +Petitionof Rights*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Sicherheit vor willkürlicher Verhaftung und Besteuerung gefor<strong>der</strong>t wird, provoziert fühlte. 1640ruft er es jedoch wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>, da er e<strong>in</strong>en Krieg gegen die aufständischen Schotten führt und dazu Mittel braucht, dienur das Parlament bewilligen kann. Das wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>berufene Parlament läßt sich aber nun nicht mehr wie<strong>der</strong> auflösenund for<strong>der</strong>t mehr Machtbeteiligung. Dieser Gegensatz zwischen Krone und Parlament führt ab 1642 zum bereitsangesprochenen Bürgerkrieg, <strong>der</strong> 1648/49 mit <strong>der</strong> vorübergehenden Abschaffung <strong>der</strong> Monarchie endet.69. Locke verfaßt zwei Abhandlungen. Die erste stellt e<strong>in</strong>e Wi<strong>der</strong>legung <strong>der</strong> Thesen John Filmers (1590–1653) dar,<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e reaktionäre Staatstheorie verfaßt hatte. Bedeutsam ist nur <strong>der</strong> +Second Treatise*, auf den ich mich hier <strong>in</strong><strong>der</strong> Darstellung beschränke. Wer übrigens mehr zu Lockes Biographie und Werk erfahren will, <strong>der</strong> sei z.B. auf UdoThiels Darstellung aus <strong>der</strong> Reihe +Rowohlts Monographien* verwiesen.70. Offiziell veröffentlicht wird Lockes Schrift allerd<strong>in</strong>gs erst 1690.71. Hierzu heißt es bei Locke: +Im Naturzustand herrscht e<strong>in</strong> natürliches Gesetz, das für alle verb<strong>in</strong>dlich ist. Die Vernunftaber, welcher dieses Gesetz entspr<strong>in</strong>gt, lehrt alle Menschen, […] daß niemand e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en, da alle gleich s<strong>in</strong>d,an se<strong>in</strong>em Leben, se<strong>in</strong>er Gesundheit, se<strong>in</strong>er Freiheit o<strong>der</strong> se<strong>in</strong>em Besitz Schaden zufügen soll. Alle Menschen s<strong>in</strong>ddas Werk e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers […] Sie s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong> Eigentum, denn sie s<strong>in</strong>dse<strong>in</strong> Werk […] Und da […] wir [somit] alle Glie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Geme<strong>in</strong>schaft, <strong>der</strong> Natur, s<strong>in</strong>d, kann nicht angenommenwerden, daß irgende<strong>in</strong>e Rangordnung unter uns dazu ermächtigt, e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu zerstören.* (Über die Regierung; § 6)72. Locke stellt klar: +Wo immer e<strong>in</strong>e Anzahl von Menschen sich so zu e<strong>in</strong>er Gesellschaft vere<strong>in</strong>igt hat, daß je<strong>der</strong>se<strong>in</strong>es Rechtes, das Naturgesetz zu vollstrecken, entsagt und zugunsten <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit darauf verzichtet, dort –und e<strong>in</strong>zig dort entsteht e<strong>in</strong>e politische o<strong>der</strong> bürgerliche Gesellschaft.* (Über die Regierung; § 89)73. Obwohl Locke gerade das Fehlen e<strong>in</strong>er unabhängigen richterlichen Instanz im Naturzustand für dessen Entartungzum (Hobbesschen) +Krieg aller gegen aller* verantwortlich macht (vgl. Über die Regierung; § 125), unterscheideter nur zwischen Legislative (die er idealerweise <strong>in</strong> die Hände <strong>der</strong> Honoratioren gelegt sieht) und Exekutive (am bestene<strong>in</strong> aufgeklärter Monarch). Der Exekutive kommt zudem die Fö<strong>der</strong>ativgewalt (außenpolitische Vertretung) und diePrärogative (d.h. e<strong>in</strong> exekutiver Gestaltungsfreiraum) zu (vgl. Über die Regierung; §§ 134–168).74. Gerechterweise muß man aber e<strong>in</strong>räumen, daß <strong>der</strong> Eigentumsbegriff bei Locke nicht nur materiellen Besitz umfaßt,son<strong>der</strong>n daneben auch Leben und Freiheit be<strong>in</strong>haltet bzw. be<strong>in</strong>halten kann (vgl. Über die Regierung; § 87 u. § 123).Wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>schränkend muß man jedoch feststellen, daß <strong>der</strong> materielle Besitz e<strong>in</strong>deutig den Vorrang zu genießensche<strong>in</strong>t, denn Eigentumsschutz steht selbst höher als <strong>der</strong> Schutz des Lebens und ist sogar für den Fall e<strong>in</strong>er kriegerischenEroberung zu gewährleisten: +Die Gewalt, die e<strong>in</strong> Eroberer über diejenigen gew<strong>in</strong>nt, die er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gerechten Kriegunterwirft, ist voll und ganz despotische Gewalt: Er hat absolute Gewalt über das Leben <strong>der</strong>er, die ihr Leben verwirkt


A: ANMERKUNGEN 25haben, <strong>in</strong>dem sie sich <strong>in</strong> den Kriegszustand versetzten, er hat aber damit noch ke<strong>in</strong> Recht und ke<strong>in</strong>en Anspruch aufihren Besitz.* (Ebd.; § 180)75. +Über den Ursprung <strong>der</strong> Ungleichheit unter den Menschen* (so die deutsche Übersetzung) zählt wie +Über Kunstund Wissenschaft* zu den kulturkritischen Schriften Rousseaus. Beides s<strong>in</strong>d Antworten auf Preisfragen <strong>der</strong> Akademievon Dijon. An<strong>der</strong>s als beim ersten Mal (1750) gewann Rousseau mit dem Diskurs +Über den Ursprung <strong>der</strong> Ungleichheit*(1755) jedoch nicht die renommierte Ausschreibung.76. Zum+d<strong>in</strong>glichen Besitz* heißt es gar im 9. Kapitel des +Contrat social*: +Das Recht e<strong>in</strong>es ersten Besitznehmerswird […] erst nach E<strong>in</strong>führung des Eigentumsrechts e<strong>in</strong> wirkliches Recht* (S. 23) und wird (dann) +von jedem gesittetenMenschen geachtet* (ebd.; S. 24).77. Zum E<strong>in</strong>fluß Rousseaus auf die Revolution von 1789 vgl. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie; S. 258–304sowie McDonald: Rousseau and the French Revolution (<strong>in</strong>sb. S. 115–127).78. Wichtigen geistigen und geistlichen Rückhalt hatte <strong>der</strong> Absolutismus <strong>in</strong> Frankreich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gestalt des Kard<strong>in</strong>alsund M<strong>in</strong>isters Richelieu (1585–1642). Grundpr<strong>in</strong>zip des politischen Handelns war für ihn die Staatsraison. Diesewird vom Monarchen verkörpert. Ihm s<strong>in</strong>d alle Staatsangehörigen, auch <strong>der</strong> Adel, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e aber das Volkuntergeordnet: +Alle <strong>Politik</strong>er stimmen dar<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>, daß das Volk, wenn es ihm zu gut g<strong>in</strong>ge, unmöglich <strong>in</strong> denSchranken se<strong>in</strong>er Pflicht zu halten wäre […] Die Raison gestattet es nicht, es von allen Lasten zu befreien, da es <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em solchen Fall zugleich mit dem Verlust des Kennzeichens se<strong>in</strong>er Unterordnung die Er<strong>in</strong>nerung an se<strong>in</strong>e rechtlicheStellung verlieren würde […]* (zitiert nach Bouthoul: Staatsideen und politische Programme <strong>der</strong> Weltgeschichte; S.126). Jacques Bossuet (1588–1679), e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Apologet des Absolutismus, prägte dementsprechend die Formel+Un roi, une foi, une loi* (E<strong>in</strong> König, e<strong>in</strong> Glaube, e<strong>in</strong> Gesetz).79. Darauf weist neben Fetscher (vgl. Rousseaus politische Philosophie; S. 254ff.) z.B. auch Helga Greb<strong>in</strong>g im Rahmen<strong>der</strong> Totalitarismus-Diskussion h<strong>in</strong> – denn e<strong>in</strong>e Reihe von Interpreten sehen <strong>in</strong> Anschluß an Talmon <strong>in</strong> Rousseaus Denkensogar totalitäre Ansätze (vgl. Die Ursprünge <strong>der</strong> totalitären Demokratie; S. 6ff.). Vermutlich <strong>in</strong> Anspielung auf e<strong>in</strong>eStelle im zehnten Kapitel des +Contrat social*, wo Rousseau die erwünschten Eigenschaften für e<strong>in</strong> zur (Selbst-)Gesetzgebunggeeignetes Volk auflistet (vgl. S. 55f. [II,10]), bemerkt diese: +Se<strong>in</strong>e Vorstellungen vom Zusammenleben <strong>der</strong>Menschen <strong>in</strong> Gesellschaft und Staat ähneln e<strong>in</strong>er auf dem privaten Eigentum beruhenden ›bäuerlichen undkle<strong>in</strong>bürgerlichen Tugend-Republik‹* (L<strong>in</strong>ksextremismus gleich Rechtsextremismus – E<strong>in</strong>e falsche Gleichung; S. 58) DieAngaben <strong>in</strong> eckigen Klammern beziehen sich übrigens auf Rousseaus Glie<strong>der</strong>ung. Die römische Ziffern geben dasBuch an und die arabischen Ziffern verweisen auf das betreffende Kapitel.80. Rousseaus Lebensgeschichte ist äußerst spannend und mit e<strong>in</strong>em gewissen Spott läßt sich bemerken, daß Rousseause<strong>in</strong>e Heimatstadt schon als junger Bursche und noch dazu eher fluchtartig, aus Angst vor Prügel verlassen hat. Ichmöchte hier aber nicht weiter auf se<strong>in</strong>e Biographie e<strong>in</strong>gehen und empfehle zur weiteren Vertiefung z.B. Holmsten:Jean-Jacques Rousseau. Speziell auf die Wechselbeziehung zwischen Leben und Werk geht Röhrs e<strong>in</strong> (Jean-JacquesRousseau – Vision und Wirklichkeit).81. Zu Biographie und Werk Kants vgl. z.B. Schulz: Immanuel Kant.82. Kant versteht unter e<strong>in</strong>er Maxime +das subjektive Pr<strong>in</strong>zip zu handeln*, welches +vom objektiven Pr<strong>in</strong>zip, nämlichdem praktischen Gesetz, unterschieden werden* muß (Metaphysik <strong>der</strong> Sitten; S. 278, Anm. 2).83. In +Über den Geme<strong>in</strong>spruch* (1793) heißt es dazu: +Hier ist nun e<strong>in</strong> ursprünglicher Kontrakt, auf den alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ebürgerliche, mith<strong>in</strong> durchgängig rechtliche Verfassung unter den Menschen gegründet […] werden kann. – Alle<strong>in</strong>dieser Vertrag […] ist ke<strong>in</strong>eswegs als e<strong>in</strong> Faktum vorauszusetzen nötig […] Son<strong>der</strong>n es [er] ist e<strong>in</strong>e bloße Idee <strong>der</strong> Vernunft,die aber ihre unbezweifelbare (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verb<strong>in</strong>den, daß er se<strong>in</strong>e Gesetzeso gebe, als [ob] sie aus dem vere<strong>in</strong>ten Willen e<strong>in</strong>es ganzen Volkes haben entspr<strong>in</strong>gen können […] Denn das ist <strong>der</strong>Probierste<strong>in</strong> <strong>der</strong> Rechtmäßigkeit e<strong>in</strong>es jeden öffentlichen Gesetzes.* (S. 380f.)84. Trotz dieser Bestimmung, die schon an an<strong>der</strong>er Stelle zitiert wurde (siehe S. XVI) und sehr an Hobbes er<strong>in</strong>nert,sieht Kant als <strong>in</strong>stitutionelle Absicherung <strong>der</strong> bürgerliche Freiheit e<strong>in</strong> System <strong>der</strong> Gewaltenteilung vor (Vgl. Metaphysik<strong>der</strong> Sitten; S. 119–124).


26 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE85. Zu Biographie und Werk Hegels vgl. z.B. Wiedmann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel.86. Schmitt betont <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Politische Theologie* (1922), daß +alle prägnanten Begriffe <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Staatslehre[…] säkularisierte theologische Begriffe* seien (S. 49). Voegel<strong>in</strong> spricht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk +Die politischen Religionen*(1938) ganz ähnlich von e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>nerweltlichen Ekklesia, für die ihm als treffendste Beispiele <strong>der</strong> Marxismus und die(faschistische) Rassenlehre dienen. Beide dieser +politischen Religionen*g<strong>in</strong>gen nämlich davon aus, e<strong>in</strong>e Art +geschichtlicheSendung* bzw. e<strong>in</strong>en +historischen Auftrag* zu besitzen und entwickelten streng dogmatische Lehren, die Glaubensbekenntnissengleich kommen. Insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Faschismus beschwört mit se<strong>in</strong>er Führerideologie und dem Bild<strong>der</strong> Volkse<strong>in</strong>heit darüber h<strong>in</strong>aus Symbole, die die Stelle e<strong>in</strong>es Gottesbildes e<strong>in</strong>nehmen (vgl. S. 49–61). Indem diepolitischen Religionen aber gerade dadurch die +Realität Gottes* elim<strong>in</strong>ierten, mußten sie laut Voegel<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sackgasseführen (vgl. ebd.; S. 63ff.). In +Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie* (1969) konstatiert Wilhelm Kamlah (wieVoegel<strong>in</strong>) e<strong>in</strong> Versagen <strong>der</strong> neuzeitlichen Vernunft, wobei auch er auf die Nähe des aufklärerischen Fortschrittsdenkenszur christlichen Teleologie h<strong>in</strong>weist: +Utopie, Eschatologie, Geschichtstheologie, neuzeitliche futuristische Geschichtsdeutunghaben […] nicht alle<strong>in</strong> dies geme<strong>in</strong>sam, daß sie Zeugnisse des bedürftigen und leidenden Menschen s<strong>in</strong>d,<strong>der</strong> stets, sofern er nur Mensch ist, über se<strong>in</strong>e bedrängte Gegenwart h<strong>in</strong>ausdenkt. Sie haben darüber h<strong>in</strong>aus diesgeschichtlich Beson<strong>der</strong>e geme<strong>in</strong>sam, daß sie auf e<strong>in</strong> endgültiges Heil ausblicken.* (S. 51). Dolf Sternberger wie<strong>der</strong>umgeht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Drei Wurzeln <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (1978) den Ursprüngen des Politischen nach, und kommt zum Ergebnis,daß das Wesen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (im Abendland) durch drei historische Begriffstraditionen geprägt ist. War <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antikedas Politische mit dem Öffentlichen gleichbedeutend (vgl. ebd., Teil II), so setzte mit Machiavelli e<strong>in</strong> <strong>Politik</strong>verständnise<strong>in</strong>, das <strong>Politik</strong> re<strong>in</strong> zweckrational als kluge Ausübung <strong>der</strong> Herrschaft def<strong>in</strong>ierte (vgl. ebd.; Teil III). Die jüngste Bedeutungvon <strong>Politik</strong> ist marxistisch geprägt und setzt <strong>Politik</strong> mit dem Willen zur Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> bestehenden Verhältnissegleich (vgl. ebd.; S. 269ff.), <strong>der</strong> vom +Geist <strong>der</strong> Utopie* getragen ist (vgl. ebd.; S. 277ff.). Dieser +Geist <strong>der</strong> Utopie*(so heißt übrigens e<strong>in</strong>e Schrift von Ernst Bloch) beseelt auch die +bolschewistische Kirche*, die nicht nur das +ewigeLeben* und allgeme<strong>in</strong>e +Heil* im Reich <strong>der</strong> Freiheit des Kommunismus verspricht, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> dualistischen Manierdes august<strong>in</strong>ischen Denkens im Rahmen ihrer Zwei-Klassen-Lehre die Welt <strong>in</strong> Gute und Böse, <strong>in</strong> Ausbeuter undAusgebeutete, dividiert (vgl. ebd.; S. 422f.). Die Argumente von Schmitt, Voegel<strong>in</strong>, Kamlah und Sternberger ähnelnsich also. Es war allerd<strong>in</strong>gs Rousseau, <strong>der</strong> als erster +Von <strong>der</strong> bürgerlichen Religion* sprach (vgl. Vom Gesellschaftsvertrag;Buch IV, Kap. 8).87. Thomas Morus (1478–1535) zeichnete <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Utopia* (1516) e<strong>in</strong> f<strong>in</strong>giertes Paradies, e<strong>in</strong>en imag<strong>in</strong>ärenGarten Eden, <strong>der</strong> <strong>in</strong> vielen Punkten Platons Idealstaat aus <strong>der</strong> +Politeia* ähnelt und den er <strong>der</strong> von sozialen Mißständengeprägten feudalen Monarchie se<strong>in</strong>er Zeit gegenüberstellt. Der Dom<strong>in</strong>ikanermönch Tommaso Campanella (1568–1638)entwarf <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift vom +Sonnenstaat* (1602) e<strong>in</strong>e theokratische und zugleich radikal +kommunistische* Gesellschaft,<strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie und Besitz abgeschafft waren, um den Egoismus <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen zu überw<strong>in</strong>den. (Vgl. hierzu Droz: Diesozialistischen Utopien <strong>der</strong> Frühen Neuzeit; S. 112–123)88. Vgl. hierzu auch Ottmann: Politische Theologie als Begriffsgeschichte; S. 178ff.89. Für e<strong>in</strong>en knappen Überblick zur +Entstehung des europäischen Konservativismus* vgl. z.B. den Artikel von Valjavec<strong>in</strong> dem von Hans-Gerd Schumann herausgegebenen Sammelband +Konservatismus* (1984). Ebenfalls e<strong>in</strong>e Reihe<strong>in</strong>teressanter Artikel zum +Konservatismus <strong>in</strong> Geschichte und Gegenwart* f<strong>in</strong>den sich bei Faber (1991).90. Dazu Greiffenhagen: +Die nationalen Ausformungen des europäischen Konservatismus lassen e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>gularenGebrauch kaum zu. Und selbst <strong>in</strong>nerhalb des deutschen o<strong>der</strong> französischen Konservatismus fällt es schwer, bestimmteStrukturmerkmale dieses politischen Denkens und Stiles durchgängig nachzuweisen.* (Das Dilemma des Konservatismus<strong>in</strong> Deutschland; S. 28) Trotz solcher Heterogenität teilt z.B. Wilhelm Ribhegge den Konservatismus <strong>in</strong> drei Phasene<strong>in</strong>: 1. Den klassischen europäischen Konservatismus (1789–1848: bestimmt durch die Reaktion auf die FranzösischeRevolution), 2. den bürgerlich-nationalen Konservatismus (1848–1918: das Bürgertum wird zunehmend zum Trägerdes Konservatismus und nationalistische Elemente Gew<strong>in</strong>nen an Bedeutung) und 3. den mo<strong>der</strong>nen Konservatismus(von 1918 bis zur Gegenwart: Prägung durch Massengesellschaft, Technisierung und die Übernahme von wirtschaftsliberalenPositionen). (Vgl. Konservatismus – Versuch zu e<strong>in</strong>er kritisch-historischen Theorie; S. 129ff.) Fritzsche unterscheidetdagegen vier Grundtypen des Konservatismus: den antirevolutionären, auf Burke zurückgehenden +skeptischenPragmatismus*, die +Politische Romantik* (Müller, Hardenberg, Stahl etc.), den +dezisionistischen Konservatismus*(Cortés) und den +sozialen Konservatismus* (Ste<strong>in</strong>). Für den Konservatismus <strong>der</strong> Gegenwart differenziert er vor allemdie +Altkonservativen* vom +technokratischen Konservatismus*. (Vgl. Konservatismus; S. 71–78 u. S. 87–96)


A: ANMERKUNGEN 2791. Bei dieser Zusammenschau bezog ich mich vor allem auf den oben zitierten Artikel von Göhler und Kle<strong>in</strong> (vgl.Politische Theorien im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 317–321) sowie auf Hunt<strong>in</strong>gton: Konservatismus als Ideologie. Wesentlichausführlicher, im Kern jedoch kaum differierend, ist Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus <strong>in</strong> Deutschland(er widmet sich im gesamten zweiten Teil se<strong>in</strong>er Arbeit den +Grundzügen e<strong>in</strong>er konservativen Theorie*).92. Zur Differenzierung zwischen den verschiedenen Strömungen, dem die e<strong>in</strong>zelnen Vertreter zuzuordnen s<strong>in</strong>d,vgl. nochmals Anmerkung 90.93. Neben Schmitt wird hier meist vor allem auf das Gedankengut von Arthur Moeller von den Bruck (1876–1925)o<strong>der</strong> Ernst Jünger (geb. 1895) verwiesen (die e<strong>in</strong>em +revolutionären Konservatismus* zugeordnet werden). Von Moellerstammt auch <strong>der</strong> Begriff +Drittes Reich*. (Vgl. Fritzsche: Konservatismus; S. 82f.)94. Genau diese Ambivalenz, die mit e<strong>in</strong>er ideologischen Unschärfe e<strong>in</strong>her geht, kann me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach als (partielle)Erklärung für die große und auch breit über die Bevölkerung gestreute Attraktivität des Nationalsozialismus dienen.95. Walter Dirks spricht ganz allgeme<strong>in</strong> (aber mit beson<strong>der</strong>em Blick auf das Deutschland <strong>der</strong> beg<strong>in</strong>nenden +Ära Adenauer*)vom +restaurative[n] Charakter <strong>der</strong> Epoche* (1950).96. Zum Neokonservatismus und <strong>der</strong> +Neuen Rechten* vgl. den von Ir<strong>in</strong>g Fetscher Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre herausgegebenenBand: Neokonservative und ›Neue Rechte‹ sowie Elm: Konservatismus heute.97. Vgl. z.B. Mossé: Die Ursprünge des Sozialismus im klassischen Altertum.98. Im folgenden beziehe ich mich vor allem auf Göhler/Kle<strong>in</strong>: Politische Theorien des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 470–506,Theimer: Geschichte des Sozialismus; S. 14–53 sowie Meyer: Frühsozialismus. Quellentexte zu den meisten Frühsozialistenf<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> dem Band +Der Frühsozialismus* (1956) von Thilo Ramm, <strong>der</strong> auch e<strong>in</strong>e gute E<strong>in</strong>leitung gibt. Ebenfallse<strong>in</strong>e reiche Sammlung von Quellentexten f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweibändigen Anthologie +Die frühen Sozialisten* (1972),herausgegeben von Frits Kool und Werner Krause.99. Als Sprachrohr diente Babeuf die von ihm gegründete Zeitschrift +Journal de la liberté de presse* (später umgetauft<strong>in</strong> +Le tribun du Peuple*). Se<strong>in</strong>e wichtigste Schrift ist das +Manifest <strong>der</strong> Plebejer* (1795).100. Fouriers bedeutendste ökonomisch-soziale Schriften s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong> zweibändiger +Traité de l’association domestiqueagricole*(1822) und +Le nouveau monde <strong>in</strong>dustriel et sociétaire* (1829). Blancs zentrales (ökonomisches) Werk istdie Schrift +Organisation du travail* (1840). Proudhon entwickelt ebenfalls 1840 im Rahmen se<strong>in</strong>er Antwort auf diePreisfrage <strong>der</strong> Akademie von Besançan +Qu’est ce que la Propriété?* das System e<strong>in</strong>es +mutualistischen Syndikalismus*ohne jegliches Privateigentum. Denn die eigentliche Frage <strong>der</strong> Akademie (+Was ist das Eigentum?*) beanwortete erschließlich mit <strong>der</strong> berühmt gewordenen Formel: +c’est le vol* (es ist Diebstahl).101. In se<strong>in</strong>er Schrift +Comment je suis communiste* (1840) heißt es: +Ke<strong>in</strong>e Arme [!], ke<strong>in</strong>e Reiche [!] wird es geben,ke<strong>in</strong>e Knechte; ke<strong>in</strong>e Sorgen, ke<strong>in</strong>e Ängste; we<strong>der</strong> Eifersucht noch Haß; we<strong>der</strong> Habgier noch Ehrfurcht.* (ZitiertGöhler/Kle<strong>in</strong>: Politische Theorien im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 492)102. Hobbes und Locke können laut Macpherson als wichtigste Theoretiker des Besitz<strong>in</strong>dividualismus gelten (vgl.Die politische Theorie des Besitz<strong>in</strong>dividualismus; S. 13f.) – auch wenn man bezüglich Hobbes, <strong>der</strong> ja e<strong>in</strong>e absolutistischeStaatsphilosophie entwickelt hat, hier deutliche Zweifel anmelden kann.103. Se<strong>in</strong>e Auffassung über die Erziehung legt Rousseau <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em berühmten Erziehungsroman +Emile* (1762) dar.104. Godw<strong>in</strong>s wichtigste Schrift ist das zweibändige Kompendium +An Enquiry Concern<strong>in</strong>g Political Justice and itsInfluence on General Virtue and Happ<strong>in</strong>ess* (1793).105. Me<strong>in</strong>e Formulierung lehnt sich hier an Engels bekannte Schrift +Die Entwicklung des Sozialismus von <strong>der</strong> Utopiezur Wissenschaft* (1880) an. Schon im +Manifest <strong>der</strong> Kommunistischen Partei* (1848) f<strong>in</strong>den sich aber Seitenhiebeauf den +reaktionären Sozialismus* des (Feudal-)Adels, des Kle<strong>in</strong>bürgertums und des deutschen Frühsozialismus. Auch<strong>der</strong> konservative +Bourgeoissozialismus* und <strong>der</strong> Utopismus werden abgelehnt (vgl. dort Abschnitt 3).


28 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE106. Zu letzerem Punkt Engels: +Die Arbeit ist die Quelle alles [!] Reichtums, sagen die politischen Ökonomen. Sieist dies – neben <strong>der</strong> Natur, die ihr den Stoff liefert, den sie <strong>in</strong> Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich vielmehr als dies. Sie ist die Grundbed<strong>in</strong>gung alles [!] menschlichen Lebens, und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Grade, daß wirsagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen.* (Anteil <strong>der</strong> Arbeit an <strong>der</strong> Menschwerdung des Affens; S. 344)107. Der berühmt gewordene Aufruf: +Proletarier aller Län<strong>der</strong>, vere<strong>in</strong>igt euch!* aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabedes +Manifests* belegt den Internationalismus des Sozialismus klar, denn: +Mit dem Gegensatz <strong>der</strong> Klassen im Innern<strong>der</strong> Nation fällt die fe<strong>in</strong>dliche Stellung <strong>der</strong> Nationen gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.* (Ebd.; S. 46) Allerd<strong>in</strong>gs trug <strong>der</strong> russischeBolschewismus <strong>in</strong> Anlehnung an Len<strong>in</strong>s Gedanken klar nationalistische Züge.108. Marx war kurz nach Ausbruch <strong>der</strong> +Revolution* von Brüssel nach Köln gereist. Im Mai 1849 wurde er ausgewiesen.Danach g<strong>in</strong>g er über e<strong>in</strong>en Zwischenstopp <strong>in</strong> Frankreich nach London, wo er bis an se<strong>in</strong> Lebensende blieb. Genauereszur Biographie ist z.B. <strong>der</strong> +Marx-Chronik* (1983) von Maximilien Rubel zu entnehmen.109. Zum historischen H<strong>in</strong>tergrund vgl. z.B. Görtemaker: Deutschland im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t.110. In England war e<strong>in</strong> solches bereits 1824 aufgehoben worden. Trotzdem kam es 1844 aufgrund akuter Not zumsog. +Weberaufstand*, <strong>der</strong> schließlich aber durch das preußische Militär nie<strong>der</strong>geschlagen wurde.111. Der Begriff +Revisionismus* ist <strong>in</strong> Deutschland untrennbar mit dem Namen Eduard Bernste<strong>in</strong> (1859–1932) verbunden.1872 wurde er Mitglied <strong>der</strong> Partei Liebknechts und Bebels und wurde nach dem Tod Engels dessen Nachlaßverwalter.Politisch zielte er auf e<strong>in</strong>e Neubestimmung des Sozialismus angesichts <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, weniger polarisierenden Entwicklung,die die Gesellschaft im Vergleich zu Marx’ ursprünglichen Aussagen genommen hatte. Insbeson<strong>der</strong>e nahm er deshalbvon <strong>der</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>er Notwendigkeit <strong>der</strong> Revolution abstand und vertrat dagegen e<strong>in</strong> Transformationsmodell:+Das, was man geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles.* (Die Voraussetzungendes Sozialismus; zitiert nach Göhler/Kle<strong>in</strong>: Politische Theorien im 19 Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 560)112. Zur Arbeiterbewegung <strong>in</strong> Deutschland vgl. Greb<strong>in</strong>g: Die Geschichte <strong>der</strong> deutschen Arbeiterbewegung.113. Der Anarchismus ist e<strong>in</strong>e politische Bewegung, die niemals die Bedeutung des Konservatismus o<strong>der</strong> des Sozialismuserr<strong>in</strong>gen konnte und <strong>der</strong> auch nicht dem Sozialismus subsumiert werden kann. Begrenzt wäre dies bestenfalls fürden explizit kommunistischen Anarchismus Bakun<strong>in</strong>s o<strong>der</strong> die sog. Anarcho-Syndikalisten (z.B. Monatte) zu begründen.Der <strong>in</strong>dividualistische Anarchismus wie ihn Max Stirner (1806–56) <strong>in</strong> extremer Form vertrat, weist dagegen sogareher Bezüge zum Liberalismusauf. E<strong>in</strong>en knappen, aber recht brauchbaren Überblick über die verschiedenen Strömungendes Anarchismus gibt Franz Neumann: Anarchismus. Ausführlicher ist Guér<strong>in</strong>: Anarchismus – Begriff und Praxis.114. Bakun<strong>in</strong> hatte vor allem die oligarchische Tendenz des marxistischen Sozialismus kritisiert. In se<strong>in</strong>er Schrift+Staatlichkeit und Anarchie*(1873) schreibt er z.B.: +Was soll das heißen, das zur herrschenden Klasse erhobene Proletariat?Soll etwa das ganze Proletariat an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Regierung stehen? […] Dies Dilemma <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> Marxistenwird e<strong>in</strong>fach gelöst. Unter Volksregierung verstehen sie die Regierung des Volkes durch e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Anzahl vonRepräsentanten, die durch das Volk gewählt werden […] dieses letzte Wort <strong>der</strong> Marxisten, wie auch <strong>der</strong> demokratischenSchule ist e<strong>in</strong>e Lüge, h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Despotismus e<strong>in</strong>er herrschenden M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit verbirgt, und zwar e<strong>in</strong>e umsogefährlichere, als sie sich als Ausdruck des sogenannten Volkswillens gibt.* (S. 613)115. Marx g<strong>in</strong>g davon aus, daß die sozialistische Revolution aus den Wi<strong>der</strong>sprüchen des <strong>in</strong>dustriellen Kapitalismuszwangsläufig erwachsen würde: +Mit <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> großen Industrie wird also unter den Füßen <strong>der</strong> Bourgeoisiedie Grundlage selbst h<strong>in</strong>weggezogen, worauf sie produziert und die die Produkte sich aneignet. Sie produziert vorallem ihre eigenen Totengräber [das Proletariat]. Ihr Untergang und <strong>der</strong> Sieg des Proletariats s<strong>in</strong>d unvermeidlich.*(Manifest <strong>der</strong> kommunistischen Partei; S. 41). Industrialisierung kann deshalb als notwendige Voraussetzung <strong>der</strong> Revolutionim klassischen Marxismus angesehen werden, und <strong>in</strong> Rußland war e<strong>in</strong>e solche sicher auch Anfang des 20. Jahrhun<strong>der</strong>tsnoch kaum gegeben.Bakun<strong>in</strong> sah dagegen durchaus die Möglichkeit für e<strong>in</strong>e Revolution <strong>in</strong> Rußland auch ohne die Basis e<strong>in</strong>es Industrie-Proletariats, <strong>in</strong>dem sich die sozialistischen Revolutionäre die allgeme<strong>in</strong>e Unzufriedenheit des Volkes zunutze machenund versuchen auf die sich abzeichnende Volkserhebung E<strong>in</strong>fluß zu nehmen: +Die Zeit des allgeme<strong>in</strong>en Aufruhrsnaht heran ..... Die Dörfer schlummern nicht .... Ne<strong>in</strong>! Sie s<strong>in</strong>d im Aufruhr. […] Wor<strong>in</strong> besteht nun unsere eigentlicheAufgabe? […] stürzen wir uns, Brü<strong>der</strong>, also wie e<strong>in</strong> Mann <strong>in</strong>s Volk, <strong>in</strong> die Volksbewegung, <strong>in</strong> den Räuber- undBauernaufruhr, und <strong>in</strong>dem wir unsre treue, feste Freundschaft erhalten. Wollen wir die vere<strong>in</strong>zelten Bauernexplosionen


A: ANMERKUNGEN 29zu e<strong>in</strong>er wohlüberlegten, aber schonungslosen Revolution vere<strong>in</strong>igen.* (Die Aufstellung <strong>der</strong> Revolutionsfrage; S.99)Dieses Revolutionsprogramm ähnelt <strong>der</strong> späteren Auffassung Len<strong>in</strong>s, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Partei e<strong>in</strong>e revolutionäre Avantgardesah, die den Volksaufstand (u.a. durch e<strong>in</strong>e gesteigerte publizistische Tätigkeit) <strong>in</strong> die rechten Bahnen lenken sollte(vgl. Was tun?; S. 193–199).116. Zur Entwicklung des Sowjet-Kommunismus und <strong>der</strong> sowjetischen Geschichte vgl. Altrichter: Kle<strong>in</strong>e Geschichte<strong>der</strong> Sowjetunion.117. E<strong>in</strong>en recht brauchbaren Überblick über die Entwicklung <strong>der</strong> kommunistischen Parteien (bis 1978) <strong>in</strong> denromanischen Län<strong>der</strong>n gibt <strong>der</strong> Ex-Sozialist Wolfgang Leonhard <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Band zum sog. +Eurokommunismus* (vgl.Teil III).118. Der Begriff +Liberalismus* leitet sich übrigens vom spanischen +liberales* ab, <strong>der</strong> Bezeichnung für die Anhänger<strong>der</strong> spanischen Verfassung von 1812. Wer sich speziell mit <strong>der</strong> Geschichte des deutschen Liberalismus beschäftigenwill, auf die ich hier lei<strong>der</strong> nicht näher e<strong>in</strong>gehen kann, sei die umfangreiche Arbeit von James Sheehan +Der deutscheLiberalismus* (1978) empfohlen. E<strong>in</strong>en kurzen Überblick zum +Aufstieg des europäischen Liberalismus* gibt dagegenz.B. Harold Laski (1936).119. Der deutlichste Ausdruck des neuen bürgerlichen Selbstbewußtse<strong>in</strong>s ist das berühmte Pamphlet des Abbé Sieyès+Qu’est-ce que le Tiers État?* (1789) – denn die im Titel aufgeworfene Frage nach <strong>der</strong> Rolle und Bedeutung des Bürgerstandsbeantwortet er kühn: +Tout! [Alles!]* (S. 119).120. Vgl. hierzu z.B. Döhn: Liberalismus; S. 12ff. sowie Schapiro: Was ist Liberalismus? und Leontovitsch: Das Wesendes Liberalismus.121. Dieses +Evolutionsmodell* Marshalls ist gerade <strong>in</strong> jüngster Zeit e<strong>in</strong>er berechtigten Kritik unterzogen worden,die beson<strong>der</strong>s darauf abhebt, daß es – wenn überhaupt – so bestenfalls für das britische Beispiel Gültigkeit hat. InKontext me<strong>in</strong>er Darstellung geht es aber gerade um solche +Musterfälle* und die mit ihnen verbundenen politischenImplikationen.122. In se<strong>in</strong>en +Betrachtungen über die repräsentative Demokratie* (1861) argumentiert Mill, daß Formen direkterDemokratie <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Flächenstaaten nur schwer zu praktizieren seien. Deshalb spricht er sich für die repräsentativeDemokratie aus, die für ihn bedeutet, +daß das Volk als ganzes o<strong>der</strong> doch zu e<strong>in</strong>em beträchtlichen Teil durch periodischgewählte Vertreter die <strong>in</strong> jedem Verfassungssystem notwendige oberste Kontrollgewalt ausübt* (S. 89).123. Zum aktuellen Neoliberalismus vgl. z.B. Randall (+The Neoliberals*), <strong>der</strong> das Beispiel USA untersucht.124. Gerechterweise ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>zuräumen, daß Bentham – schon als Reaktion auf diverse Kritik – deutlich machte,daß diese Formulierung für ihn stets implizierte, daß es sich um e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Steigerung des Glücks handeln mußund nicht nur die <strong>in</strong>tensive Steigerung des Glücks e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit (vgl. An Introduction to the Pr<strong>in</strong>ciples ofMorals and Legislation; Kap. 1, <strong>in</strong>sb. Benthams nachträglich e<strong>in</strong>gefügte Anmerkungen).125. Zur klassischen Nationalökonomie allgeme<strong>in</strong> vgl. Schefold/Carstensen: Die klassische Politische Ökonomie.126. In <strong>der</strong> lange Zeit beherrschenden ökonomischen Theorie des Merkantilismus g<strong>in</strong>g man von <strong>der</strong> Annahme aus,daß <strong>der</strong> Volkswohlstand sich aus dem Besitz von Edelmetall <strong>in</strong> Geldform bzw. durch staatliche Geldpolitik ergäbe(vgl. Schmidt: Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie; S. 38–48).127. Ricardos +Grundsätze <strong>der</strong> politischen Ökonomie und <strong>der</strong> Besteuerung* (1817) spiegeln übrigens nicht nur dieAusblendung ethisch-moralischer Fragen aus <strong>der</strong> Wirtschaftstheorie, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>e Entpolitisierung ökonomischerProzesse. Denn obwohl im Titel von +politischer Ökonomie* die Rede ist, ersche<strong>in</strong>en politische Fragen nur unterdem Aspekt <strong>der</strong> Profit- und ökonomischen Nutzenoptimierung.128. Zu Keynes’ ökonomischer Theorie und se<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>fluß auf die Wirtschaftspolitik (auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik)vgl. Jarchow: Der Keynesianismus.


30 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE129. Auf die Wurzeln des liberal-demokratischen (National-)Staates <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ideologie des Besitz<strong>in</strong>dividualismus weist<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Macpherson h<strong>in</strong> (vgl. Die politische Theorie des Besitz<strong>in</strong>dividualismus; S. 13ff. u. S. 295–304). Allerd<strong>in</strong>gsmacht er auch klar, daß sich durch die +Transformation <strong>der</strong> Demokratie* (Agnoli 1967) – d.h. durch die Ausweitungdes Wahlrechts und den damit e<strong>in</strong>hergehenden Verlust <strong>der</strong> im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t noch gegebenen Identität <strong>der</strong> Regierendenmit den Regierten –, die liberale Demokratie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dilemma steckt (vgl. ebd.; S. 304–310).130. Her<strong>der</strong> (1744–1803) geht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Abhandlung +Über den Ursprung <strong>der</strong> Sprache* (1772) davon aus, daß sich<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em historischen Differenzierungsprozeß verschiedene Sprachen herausgebildet haben, welche die verschiedenenNationen konstituieren (vgl. S. 104). Den daraus sich entwickelnden +Nationalhaß* kritisiert Her<strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs.Das Denken Fichtes (1762–1814) ist hier weit radikaler. Er for<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>e +Nation, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> nur untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>selbst und äußerst wenig mit Fremden leben, die ihre Lebensart, E<strong>in</strong>richtungen und Sitten durch jede Maßregel erhält,die ihr Vaterland und alles Vaterländische mit Anhänglichkeit liebt* (Der geschloßne Handelsstaat; S. 523). In se<strong>in</strong>en+Reden an die deutsche Nation* (1808) wird zudem die völkisch-chauv<strong>in</strong>istische Ausrichtung se<strong>in</strong>es Denkens deutlich,<strong>in</strong>dem er von e<strong>in</strong>em beson<strong>der</strong>en Rang des deutschen Volkes spricht (vgl. S. 359).Mazz<strong>in</strong>i (1805–72) ist <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht wie<strong>der</strong>um gemäßigter, aber auch er stellt den Volksbegriff <strong>in</strong> den Mittelpunkt:+Das Volk – das ist unser Pr<strong>in</strong>zip: das Pr<strong>in</strong>zip, auf dem das ganze politische Gebäude ruhen muß. Das Volk: die großeE<strong>in</strong>heit, die alle D<strong>in</strong>ge umfaßt, die Gesamtheit aller Rechte, aller Macht, des Willens aller, Richter, Mittelpunkt, lebendesGesetz <strong>der</strong> Welt.* (E<strong>in</strong>ige Ursachen, welche die Entwicklung <strong>der</strong> Freiheit <strong>in</strong> Italien bis jetzt verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n; S. 219)131. In se<strong>in</strong>er Schrift +Qu’est-ce qu’une nation?* (1882) heißt es: +I. – […] La France est celtique, ibérique, germanique.L’Allemagne est germanique, celtique et slave […] La vérité est qu’il n’y a pas de race pure et que faire reposer lapolitique sur l’analyse ethnographique, c’est la faire porter sur une chimère […] II. – Ce que nous venons de direde la race, il faut le dire de la langue. La langue <strong>in</strong>vite à se réunir; elle n’y force pas. Les États-Unis et l’Angleterre,l’Amérique espagnole et l’Espagne parlent la même langue et ne forment pas une seule nation. Au contraire, la Suisse,si bien faite, puisqu’elle a été faite par l’assentiment de ses différentes parties, compte trois ou quatre langues […]III. – La religion ne saurait non plus offrir une base suffisante à l’établissement d’une nationalité mo<strong>der</strong>ne […] Il n’ya plus de masses croyant d’une manière uniforme. Chacun croit et pratique à sa guise […] Il n’y a plus de religiond’État […]* (S. 895–902) Renan vertrat nämlich e<strong>in</strong> politisch-voluntaristisches Nationenkonzept, was vor allem <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er berühmten Formulierung +L’existance d’une nation est […] un plébiscite de tous les jours […]* (ebd.; S. 904)deutlich wird.132. Darauf wurde allerd<strong>in</strong>gs bereits lange vor Gellner durch Carlton Hayes, e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> Pioniere auf dem Gebiet <strong>der</strong>Nationalismusforschung, h<strong>in</strong>gewiesen (vgl. The Historical Evolution of Mo<strong>der</strong>n Nationalism; S. 233).133. Diese protonationalen B<strong>in</strong>dungen waren jedoch eher schwach ausgeprägt und vielfach überformt. Dazu Göhlerund Kle<strong>in</strong>: +Vor dem H<strong>in</strong>tergrund des übergreifenden christlichen Universalismus […] bildeten regionale und ständischeB<strong>in</strong>dungen den unüberschreitbaren Rahmen für sich vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> abgrenzende vornationale Gruppenzugehörigkeiten.*(Politische Theorien des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts; S. 611) Erst die Säkularisierung und die soziale Mobilisierung durch dieTransformationsprozesse des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts öffneten den Raum für die Fiktion <strong>der</strong> Nation, die erstmals <strong>in</strong> <strong>der</strong> FranzösischenRevolution zur Verwirklichung drängte. August W<strong>in</strong>kler bemerkt deshalb: +Zweierlei macht das spezifischNeue aus, das das Nationalgefühl <strong>der</strong> Franzosen <strong>der</strong> Jahre nach 1789 von dem vergangener Epochen trennt: Ihr Nationalbewußtse<strong>in</strong>ist erstens re<strong>in</strong> säkular, und es ist zweitens gleichermaßen Ausdruck wie Instrument e<strong>in</strong>er Mobilisierungvon Massen. Mit <strong>der</strong> Französischen Revolution beg<strong>in</strong>nt die wirkliche Geschichte des Nationalismus […]* (Der Nationalismusund se<strong>in</strong>e Funktionen; S. 5f.) W<strong>in</strong>kler rekurriert bei dieser Feststellung übrigens <strong>in</strong>direkt auf die von Me<strong>in</strong>ecke <strong>in</strong>s Spielgebrachte Unterscheidung zwischen Kultur- und Staatsnationen (wobei Frankreich <strong>in</strong> natürlich letztere Kategoriefällt): +Man wird […] die Nationen e<strong>in</strong>teilen können <strong>in</strong> Kulturnationen und Staatsnationen, <strong>in</strong> solche, die vorzugsweiseauf e<strong>in</strong>em irgendwelchen Kulturbesitz beruhen, und solche, die vorzugsweise auf <strong>der</strong> vere<strong>in</strong>igenden Kraft e<strong>in</strong>ergeme<strong>in</strong>samen politischen Geschichte und Verfassung beruhen.* (Weltbürgertum und Nationalstaat; S. 10)134. Zur Problematik des Ethnonationalismus allgeme<strong>in</strong> vgl. z.B. Senghaas: Woh<strong>in</strong> driftet die Welt?; S. 53–117 o<strong>der</strong>Scherrer: Ethno-Nationalismus im Weltsystem. Speziell zu den soziologisch-sozialpsychologischen Aspekten diesesPhänomensvgl. Elwert:Nationalismusund Ethnizität. DieAmbivalenz bereitsdesantikolonialen Entwicklungsnationalismusstellt dagegen Knieper heraus (vgl. Nationale Souveränität; <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Teil I u. II) – e<strong>in</strong>e Ambivalenz, die laut TomNairn von Beg<strong>in</strong>n die Bewegung des Nationalismus kennzeichnete. Für ihn gilt, daß +alle Nationalismen zugleichgesund und krank s<strong>in</strong>d* (Der mo<strong>der</strong>ne Janus; S. 27). +Der Nationalismus gleicht <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne durchaus dem altenrömischen Gott Janus, <strong>der</strong> auf den Toren stand und mit e<strong>in</strong>em Gesicht vorwärts, mit dem an<strong>der</strong>en Gesicht rückwärtsblickte. Genauso steht <strong>der</strong> Nationalismus über <strong>der</strong> Pforte, die für die menschliche Gesellschaft <strong>in</strong>s Zeitalter <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne


A: ANMERKUNGEN 31führt. Und während sich die Menschheit durch diese enge Pforte zwängt, muß sie verzweifelt <strong>in</strong> die Vergangenheitzurückblicken, um Kraft zu schöpfen für die Feuerproben <strong>der</strong> ›Entwicklung‹ […]* (Ebd.; S. 29)135. Das Individuum und nicht-staatliche Gruppierungen s<strong>in</strong>d im <strong>in</strong>ternationalen Rahmen als politische Subjekt sogut wie ausgeklammert. Wie selbstverständlich wird davon ausgegangen, daß alle<strong>in</strong>e Staaten berechtigt s<strong>in</strong>d, die globale<strong>Politik</strong> zu gestalten. Das Selbstbestimmungsrecht des e<strong>in</strong>zelnen muß h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong> Selbstbestimmungsrecht <strong>der</strong> Völker(d.h. konkret: <strong>der</strong> Nationalstaaten) zurücktreten. Die politische Repräsentation des Individuums erfolgt nach <strong>der</strong> Charta<strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen ausschließlich durch (teilweise zudem sehr zweifelhaft demokratisch legitimierte) Staatenvertreter(vgl. Kap. II).136. Im englischen Orig<strong>in</strong>al steht <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> +imag<strong>in</strong>ed communities* (zugleich auch Titel).137. Auf die Bedeutung des auf Gewalt gegründeten Nationalstaats <strong>in</strong> <strong>der</strong> (<strong>in</strong>ternationalen) <strong>Politik</strong> hat <strong>in</strong> neuerer Zeitübrigens <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Anthony Giddens h<strong>in</strong>gewiesen. Giddens versteht diesen Rekurs auf Weber auch als Kritik ame<strong>in</strong>seitigen marxistischen Ökonomismus. (Vgl. The Nation-State and Violence; <strong>in</strong>sb. Kap. 10).138. Weber stellt <strong>der</strong> Verantwortungsethik ja bekanntlich die weit negativer gefaßte Ges<strong>in</strong>nungsethik <strong>der</strong> politischen+Überzeugungstäter* gegenüber, die nach dem Motto handeln: Das Ziel heiligt die Mittel. Gegen Ende <strong>der</strong> Vorlesungplädiert er aber letzendlich doch (<strong>in</strong> sehr pathetischen Worten) für e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung bei<strong>der</strong> Pr<strong>in</strong>zipien: +Wahrlich:<strong>Politik</strong> wird zwar mit dem Kopf, aber ganz gewiß nicht nur mit dem Kopf gemacht […] wenn e<strong>in</strong> reifer Mensch […]an irgend e<strong>in</strong>em punkt sagt: ›ich kann nicht an<strong>der</strong>s, hier stehe ich‹. Das ist etwas, was menschlich echt ist und ergreift[…] Insofern s<strong>in</strong>d Ges<strong>in</strong>nungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, son<strong>der</strong>n Ergänzungen, diezusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, <strong>der</strong> dem ›Beruf zur <strong>Politik</strong>‹ haben kann.* (S. 80f.)139. Der bürgerliche Demokratie-Theoretiker Ernst Fraenkel for<strong>der</strong>t deshalb (obwohl er Schumpeters Abneigunggegenüber Rousseau teilt und e<strong>in</strong> pluralistisches Demokratieverständnis verficht): +[…] die Mitwirkung des Bürgersdarf sich nicht darauf beschränken, alle vier Jahre zur Wahlurne zu gehen und durch se<strong>in</strong>e Stimmabgabe E<strong>in</strong>fluß daraufauszuüben, welches Team im Bereich <strong>der</strong> hohen <strong>Politik</strong> regieren soll […] Durch aktive Mitarbeit <strong>in</strong> den Verbändenund Parteien soll das Gefühl <strong>der</strong> passiven Hilflosigkeit überwunden werden.* (Möglichkeiten und Grenzen politischerMitarbeit <strong>der</strong> Bürger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mo<strong>der</strong>nen parlamentarischen Demokratie; S 275)140. Zur Problematik des Marktmodells <strong>der</strong> Demokratie vgl. z.B. Fetscher: Wieviel Konsens gehört zur Demokratie?141. Das Konzept e<strong>in</strong>er Diskursethik ist zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Theorie des kommunikativen Handels* (1981) <strong>in</strong> Grundzügenbereits angelegt. E<strong>in</strong>e konkrete Ausarbeitung f<strong>in</strong>det sich jedoch erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> zwei Jahre später veröffentlichten Schrift+Moralbewußtse<strong>in</strong> und kommunikatives Handeln* (vgl. dort Kap. 3). 1991 folgen schließlich weitere +Erläuterungen*.142. E<strong>in</strong> vielfach rezipierter Artikel, <strong>der</strong> die Positionen von Habermas und Lyotard gründlicher vergleicht, als dieshier möglich ist, stammt von Richard Rorty (vgl. Habermas and Lyotard on <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity), auf den selbst ich baldnoch ausführlicher zu sprechen kommen werde.143. Anlaß dieser Feststellung ist die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung Lyotards mit +Ausschwitz* und dem Nazismus. Allerd<strong>in</strong>gsberuht <strong>der</strong> Nazismus nach Lyotard nicht auf <strong>der</strong> verallgeme<strong>in</strong>erten Logik e<strong>in</strong>er bestimmten Diskursart, son<strong>der</strong>n esherrscht das +exklusive* (und elim<strong>in</strong>atorische) Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Ausnahme gegenüber den +Nicht-Ariern*: +Wenn es [daher]im Nazismus Terror gibt, so wird er unter den ›Re<strong>in</strong>rassigen‹ ausgeübt, die immer dem Verdacht <strong>der</strong> ungenügendenRe<strong>in</strong>heit ausgesetzt s<strong>in</strong>d.* (Der Wi<strong>der</strong>streit; S. 177 [Nr. 159]).144. Vgl. hierzu auch Beyme: Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 187–200.145. Habermas geht davon aus, daß dem sozialen System als Reproduktionsbereich e<strong>in</strong>e +Lebenswelt* gegenübersteht,die allerd<strong>in</strong>gs durch die Vorherrschaft des zweckrationalen Denkens von +Kolonialisierung* bedroht ist (vgl. Theoriedes kommunikativen Handelns; Band 2, zweite Zwischen- sowie Schlußbetrachtung). Der Begriff selbst stammt allerd<strong>in</strong>gsnicht von Habermas, son<strong>der</strong>n von Husserl. Dieser def<strong>in</strong>ierte die +Lebenswelt* als +die raumzeitliche Welt <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge,so wie wir sie <strong>in</strong> unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren und über die erfahrenen h<strong>in</strong>aus als erfahrbarwissen* (Die Krisis <strong>der</strong> europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie; zitiert nach Welter:Der Begriff <strong>der</strong> Lebenswelt; S. 79).


32 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE146. Giddens sieht natürlich, daß beide Bewegungen auch deutliche Elemente emanzipatorischer <strong>Politik</strong> be<strong>in</strong>halten(vgl. Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity; S. 215f.). Mit den Begriffen +Freiheit von* und +Freiheit zu* habe ich mich allerd<strong>in</strong>gsnicht auf Giddens bezogen, son<strong>der</strong>n auf Fromm (vgl. Die Furcht vor <strong>der</strong> Freiheit; S. 30ff.). Fromm me<strong>in</strong>t, daß beideAspekte <strong>der</strong> Freiheit bereits im philosophischen Denken <strong>der</strong> Neuzeit wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> theologischen Lehre <strong>der</strong> Reformation<strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verwoben waren (vgl. ebd.; S. 93) und sieht ganz an<strong>der</strong>s als Giddens, daß +mit <strong>der</strong> zunehmenden Entwicklungdes Monopolkapitalismus <strong>in</strong> den letzten Jahrzenten […] sich die Gewichtverteilung <strong>der</strong> beiden Tendenzen zurmenschlichen Freiheit verän<strong>der</strong>t zu haben [sche<strong>in</strong>t]. Jene Faktoren, die dazu tendieren, das <strong>in</strong>dividuelle Selbst zuschwächen, haben größeres Gewicht gewonnen* (ebd.; S. 94). Deshalb konstatiert Fromm nicht nur e<strong>in</strong>e Furcht,son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>e Flucht vor <strong>der</strong> Freiheit (ebd.; S. 33).147. Genau um dieses Problem dreht sich <strong>der</strong> 1994 erschienene Band +Beyond Left and Right*. Hier untersucht Giddensdie Möglichkeiten für e<strong>in</strong>e Revitalisierung +radikaler*, d.h. – so möchte ich es zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>terpretieren – das Potentialfür e<strong>in</strong>e ges<strong>in</strong>nungs- und verantwortungsethische <strong>Politik</strong>, die für ihn <strong>in</strong> unseren Zeiten des radikalen Wandels geradezue<strong>in</strong>e Notwendigkeit darstellt. Allerd<strong>in</strong>gs liegt +Die Zukunft radikaler <strong>Politik</strong>* (so <strong>der</strong> Untertitel) eben +Jenseits von Rechtsund L<strong>in</strong>ks*. Denn nachdem <strong>der</strong> (real existierende) Sozialismus offensichtlich historisch gescheitert ist, steckt die L<strong>in</strong>ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Identitätskrise und konzentriert sich im wesentlichen auf die Erhaltung des Wohlfahrtsstaats. Dieser gerätimmer mehr unter Druck, auch da die Konservativen sich zum (ökonomischen) Liberalismus haben bekehren lassen.Wir f<strong>in</strong>den uns also vor die paradoxe Situation gestellt, daß die L<strong>in</strong>ke zu e<strong>in</strong>er konservativen Kraft geworden ist, währenddie Rechte hilft, das (ökonomische) Schwungrad des (sozialen) Wandels <strong>in</strong> Gang zu halten. Und dieses dreht sichmit voller Wucht, was sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zunehmenden Globalisierung (die auch das Alltagsleben erfaßt), <strong>der</strong> (u.a. daherrührenden) immer weiteren Auflösung traditionaler Lebenszusammenhänge und e<strong>in</strong>er durch menschliche E<strong>in</strong>griffe<strong>in</strong> die Natur sowie das Sozialleben hergestellten Unsicherheit äußert. E<strong>in</strong>e radikale <strong>Politik</strong>, die diese Prozesse (positiv)reflektiert (und nicht <strong>in</strong> Fundamentalismus abdriftet), müßte die beschädigten Solidaritäten (durch aktives Vertrauen)wie<strong>der</strong> herzustellen trachten, die lebens(weltliche) <strong>Politik</strong> ernst nehmen, e<strong>in</strong>e (zukunfts- und geme<strong>in</strong>wohlorientierte)+generative <strong>Politik</strong>* betreiben, auf dialogischer Demokratie gründen, den Wohlfahrtstaat auf e<strong>in</strong>e neue Basis stellenund nicht zuletzt Gewalt durch das +Gespräch* ersetzen. Die Verwirklichung e<strong>in</strong>es solchen Programms muß natürlichall jenen als unmöglich und anachronistisch ersche<strong>in</strong>en, die die These e<strong>in</strong>er (postmo<strong>der</strong>nen) Wertepluralisierung vertretenund für die wertebasierte Entscheidungen allgeme<strong>in</strong> unter Verdacht geraten s<strong>in</strong>d (siehe dazu auch S. 60ff.). Dochgerade durch die Globalisierung (siehe zum Begriff und zu ihren ökonomisch-politischen Aspekten Abschnitt 2.1)entsteht heute erstmals so etwas wie e<strong>in</strong>e tatsächliche Werteuniversalisierung (wie sich z.B. an <strong>der</strong> Menschenrechtsbewegungzeigt), so daß für Giddens e<strong>in</strong> guter Grund zur Hoffnung besteht.148. Lyotard hat übrigens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schrift aus dem Jahr 1977 bereits ganz ähnliche Thesen wie Beck und Giddensformuliert (siehe auch Abschnitt 5.2.1). Die Fixierung auf die Institutionen und Akteure des (politischen) Zentrumsund die großen sozialen Bewegungen ersche<strong>in</strong>t ihm ungenügend, denn sie verwischt, +was im täglichen Leben <strong>der</strong>›Kle<strong>in</strong>en‹ <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>em o<strong>der</strong> gar mikroskopischem Maßstab fortwährend geschieht […] milliardenmal haben Frauen amHerd um Kle<strong>in</strong>igkeiten gestritten – lange vor <strong>der</strong> Frauenbewegung […] Millionen von Gesten, Signalen, gekritzeltenBotschaften […] haben die Homosexuellen erfunden, um sich an halböffentlichen Orten treffen und erkennen zukönnen – lange vor <strong>der</strong> Homosexuellenbewegung; Milliarden von F<strong>in</strong>ten und Kniffen von Arbeitern <strong>in</strong> den Werkhallenund Büros – lauter Unfe<strong>in</strong>heiten, die sich erst als For<strong>der</strong>ungen, über die man verhandeln kann, verkleiden müssen,bevor sie <strong>in</strong> den Diskurs <strong>der</strong> Gewerkschaften E<strong>in</strong>laß f<strong>in</strong>den können.* (Das Patchwork <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten; S. 9). DieseWi<strong>der</strong>ständigkeit <strong>der</strong> M<strong>in</strong>oritäten ist weit +effektiver* als die herkömmliche Kritik, die zwangsläufig <strong>in</strong> ihrem kritischenBemühen entwe<strong>der</strong> selbst die Macht ergreift o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Macht vere<strong>in</strong>nahmt wird – und damit als Kritik stirbt (vgl.ebd.; S. 7). Zudem entspricht die Mikropolitik <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten e<strong>in</strong>er Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die großen E<strong>in</strong>heiten sich auflösen:+Was sich abzeichnet ist e<strong>in</strong>e (noch zu def<strong>in</strong>ierende) Gruppe von heteronomen Räumen, e<strong>in</strong> großes Patchwork auslauter m<strong>in</strong>oritären S<strong>in</strong>gularitäten […] Diese Bewegung <strong>der</strong> Zersplitterung betrifft nicht nur die Nationen, son<strong>der</strong>nauch die Gesellschaften: wichtige neue Gruppierungen treten auf, die <strong>in</strong> den offiziellen Registern bisher nicht geführtwurden: Frauen, Homosexuelle, Geschiedene, Prostitutierte, Enteignete, Gastarbeiter…* (Ebd.; S. 38)149. Ebenfalls vier, doch unterschiedliche Charakteristika nennt Frank Fechner, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wenigen bisher (<strong>in</strong> deutscherSprache) erschienenen Monographien zum Thema +<strong>Politik</strong> und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* (1990) verfaßt hat: 1. Anerkennungradikaler Pluralität, 2. Dezentralisierung und Regionalisierung, 3. Reflexive Verwissenschaftlichung, 4. Aufwertungvon M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten (vgl. S. 99–110). Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d (neben <strong>der</strong> Anlehnung an Beck mit Punkt 3) die Überschneidungenmit Beyme allzu deutlich. Dieser konstatiert <strong>in</strong> dem Band +Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t* (1989) drei typischeMerkmale postmo<strong>der</strong>ner politischer Theorie: 1. +Kampf gegen die Technokratie*, 2. +Radikalisierung des Pluralismus*und 3. +Skepsis gegenüber <strong>der</strong> Mehrheit*. In <strong>der</strong> Auflage von 1992 nennt Beyme, <strong>der</strong> dem <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus eherkritisch gegenübersteht, schließlich weitere drei Punkte: +Entsubstanzialisierung <strong>der</strong> Macht*, +Ende <strong>der</strong> Revolutionstheorie*und +Ende <strong>der</strong> Legitimationstheorie* (vgl. Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t; S. 187).


A: ANMERKUNGEN 33Ich habe mir allerd<strong>in</strong>gs nicht die Mühe gemacht, mir auch die erste Auflage von Beymes Buch zu besorgen, son<strong>der</strong>nauf die korrekte Wie<strong>der</strong>gabe von Sab<strong>in</strong>e Giehle vertraut (vgl. Die ästhetische Gesellschaft; S. 349). Giehle, die sichprimär mit dem Problem e<strong>in</strong>er postmo<strong>der</strong>nen Demokratie-Theorie befaßt, ist <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Bewegung gegenübergrundsätzlich aufgeschlossener als Beyme e<strong>in</strong>gestellt und sieht <strong>in</strong> ihr drei positive Funktionen verwirklicht: 1. e<strong>in</strong>ediagnostische Funktion, die auf gesellschaftliche Probleme aufmerksam macht; 2. e<strong>in</strong>e kritische Funktion, die +nichtnur die Symptome <strong>der</strong> ökologischen Zerstörung, <strong>der</strong> politischen Demoralisierung und <strong>der</strong> Instrumentalisierung desMenschen [kritisiert], son<strong>der</strong>n […] bis an die Grundmuster des politischen und kulturellen Selbstverständnisses <strong>der</strong>Gesellschaft zurück[geht], um die Ursprünge <strong>der</strong> als krisenhaft empfundenen Situation aufzuspüren* (ebd.; S. 357);3. e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>novatorische Funktion, die soziale und politische Verän<strong>der</strong>ungen ermöglicht. (Vgl. ebd.; S. 355–359)Wenig ausgereift – nicht nur <strong>in</strong> sprachlicher H<strong>in</strong>sicht – ist dagegen Kar<strong>in</strong> Beckers eher unreflektiert-euphorische Arbeitüber die +Politisch-gesellschaftliche[n] Dimensionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*(1992), wie folgendes Zitat augensche<strong>in</strong>lichdemonstriert: +In dieser Sicht können wir sagen, für den politischen <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nismus s<strong>in</strong>d es primär die Zielsetzungenfür die Extension des <strong>in</strong>formativen Spektrums <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft, und das geht nur über Höchstleistungen des technischenwie wissenschaftlichen E<strong>in</strong>satzes zu realisieren.* (S. 28)150. Es handelt sich bei dem Text von Lappé, auf den ich mich im folgenden beziehe, um e<strong>in</strong> Essay, das <strong>in</strong> <strong>der</strong> vonRay Griff<strong>in</strong> und Richard Falk herausgegeben Anthologie +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Politics for a Planet <strong>in</strong> Crisis* (1993) erschienenist. Lappés Beitrag wurde von mir weniger deshalb ausgewählt, weil er sich durch beson<strong>der</strong>e Orig<strong>in</strong>alität auszeichnenwürde, son<strong>der</strong>n weil er im Gegenteil <strong>in</strong> gewisser Weise nicht nur repräsentativ für die überwiegend <strong>in</strong> diesem Bandvertretene Position stehen kann, son<strong>der</strong>n er <strong>in</strong>sgesamt typisch ist für die Argumentation e<strong>in</strong>er rückwärts (zu den +Quellen*<strong>der</strong> Religion und Spiritualität) kreisenden <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner Prägung.151. Der Kommunitarismus (siehe auch Anmerkung 131, Prolog) ist e<strong>in</strong>e amerikanische Richtung des politischenDenkens, die Geme<strong>in</strong>schaftswerte gegenüber e<strong>in</strong>em als sozial kontraproduktiv angesehenen, aber <strong>in</strong> den USA weitgehenddom<strong>in</strong>anten <strong>in</strong>dividualistischen Liberalismus stark zu machen versucht. Wichtige Namen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Zusammenhangu.a. an<strong>der</strong>em Charles Taylor (siehe auch me<strong>in</strong>en Schlußexkurs), Alisdair MacIntyre (siehe S. 187) und – auf soziologischerSeite – Amitai Etzioni (siehe S. LXXV). Aber auch bei Richard Rorty (siehe unten) kann man aufgrund se<strong>in</strong>er Betonung<strong>der</strong> Solidarität neben liberal-pragmatischen kommunitaristische Elemente f<strong>in</strong>den, wenngleich se<strong>in</strong>e +ironische*sprachphilosophische Position ke<strong>in</strong>esfalls rückwärtsgewandt ist, wie dies für Taylors und MacIntyre klar gilt (vgl. auchSchönherr-Mann: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Theorien des Politischen; S. 67–100).152. Entsprechend <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung vorgenommen (idealtypischen) E<strong>in</strong>teilung (siehe Tab. 2, S. LXXII) könnteman auch von e<strong>in</strong>er (politischen) <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne prämo<strong>der</strong>ner Prägung sprechen, die teils euphorische, teils skeptischeElemente aufweist.153. Lyotard nimmt, wie erwähnt, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Hauptwerk +Der Wi<strong>der</strong>streit* (1983) <strong>in</strong> diversen Exkursenimmer wie<strong>der</strong> auf Denker <strong>der</strong> Vergangenheit Bezug. Und auch Ulrich Beck beruft sich auf +Väter <strong>der</strong> Freiheit* (1997),wie z.B. Alexis de Tocqueville o<strong>der</strong> Kant. Giddens schließlich ist, da er vor allem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en früheren Werken e<strong>in</strong>eausführliche Klassiker-Exegese betrieb, sogar häufig <strong>der</strong> Vorwurf des Eklektizismus gemacht worden.154. Letzteres ist e<strong>in</strong> Argument, das Bauman <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Ethics* (1993) weiter ausgebaut hat.155. Welsch geht nicht explizit auf Lév<strong>in</strong>as e<strong>in</strong>, doch über den Umweg Lyotard hat er diesen sicherlich rezipiert.Im +Wi<strong>der</strong>streit* widmet jener Lév<strong>in</strong>as nämlich e<strong>in</strong>en eigenen +Exkurs* (vgl. S. 188–195).156. Vgl. zu diesem Aspekt Tsiros: Die politische Theorie <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 110–119.157. Zur Ästhetisierung als allgeme<strong>in</strong>e Tendenz <strong>der</strong> materiellen Produktion im Kapitalismus vgl. Haug: Kritik <strong>der</strong>Warenästhetik. Hier konstatiert Haug vor allem e<strong>in</strong>en Triumph des Tauschwerts über den Gebrauchswert, wobeiersterer vor allem durch Design und ästhetische Innovation (Mode) gesteigert wird.158. Der Begriff <strong>der</strong> +symbolischen <strong>Politik</strong>* geht (<strong>in</strong>direkt) auf Murray Edelman zurück, <strong>der</strong> die symbolische Seite<strong>der</strong> <strong>Politik</strong> <strong>in</strong>s Zentrum se<strong>in</strong>er Analyse stellt (vgl. z.B. <strong>Politik</strong> als Ritual; Kap. 1). Auf diesen werde ich aber <strong>in</strong> Abschnitt3.4 (+Das Dilemma von Präsentation und Repräsentation*) ohneh<strong>in</strong> noch näher zu sprechen kommen.159. Guggenberger spielt hier wohl auf Luhmann an (siehe zu dessen auf das Beobachtungskriterium gestütztesÖffentlichkeitskonzept S. 156f.).


34 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE160. Adorno hat, wie bereits dargelegt, zusammen mit Max Horkheimer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schrift +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* (1944)e<strong>in</strong> sehr negatives Bild über die Möglichkeiten (kritischer) Vernunft <strong>in</strong> <strong>der</strong> spätkapitalistischen Gesellschaft gezeichnet.In se<strong>in</strong>er +Ästhetischen Theorie* (1970) verortet Adorno – trotz e<strong>in</strong>er radikalen Kritik <strong>der</strong> gängigen Kunst-Praxis – möglicheWi<strong>der</strong>standspotentiale gegen die +falsche* soziale Wirklichkeit eher im Bereich des Nichtidentischen <strong>der</strong> Kunst (undihres mimentischen Impulses) als <strong>in</strong> <strong>der</strong> (begrifflichen und deshalb abstrakten) Sphäre <strong>der</strong> Vernunft (vgl. S. 14ff.). Deshalbsieht auch Scott Lash die Potentiale für e<strong>in</strong>e kritische Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung eher im Bereich <strong>der</strong> Thematisierung+ästhetischer Reflexivität* (also <strong>der</strong> kultur<strong>in</strong>dustriellen Symbolik) als <strong>in</strong> <strong>der</strong> von Beck und Giddens <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grundgestellten kognitiven Reflexivität (vgl. Reflexivität und ihre Doppelungen). Doch auf Lashs Konzept werde ich imabschließenden Kapitel noch näher zu sprechen kommen (siehe Abschnitt 5.1.2).161. Jameson spricht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang vom +horror of consensus* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism; S. 347) und e<strong>in</strong>er +anxietyof Utopia* (ebd.; S. 331f.).162. In se<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition des Ironikers bzw. <strong>der</strong> Ironiker<strong>in</strong> heißt es: +›Ironiker<strong>in</strong>‹ werde ich e<strong>in</strong>e Person nennen, diedrei Bed<strong>in</strong>gungen erfüllt: (1) sie hegt radikale und unaufhörliche Zweifel an dem […] Vokabular, das sie benutzt […];(2) sie erkennt, daß Argumente <strong>in</strong> ihrem augenblicklichen Vokabular diese Zweifel we<strong>der</strong> bestätigen noch ausräumenkönnen; (3) wenn sie philosophische Überlegungen […] anstellt, me<strong>in</strong>t sie nicht, ihr Vokabular sei <strong>der</strong> Realität näherals an<strong>der</strong>e […] Leute dieser Art nenne ich ›Ironiker<strong>in</strong>nen‹, weil ihre Erkenntnis […] sie <strong>in</strong> die Position br<strong>in</strong>gt, die Sartre›metastabil‹ nennt: nie ganz dazu <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, sich selbst ernst zu nehmen, weil immer dessen gewahr, daß die Begriffe,<strong>in</strong> denen sie sich selbst beschreiben, Verän<strong>der</strong>ungen unterliegen; immer im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz und H<strong>in</strong>fälligkeitihrer abschließenden Vokabulare, also auch ihres eigenen Selbst.* (Kont<strong>in</strong>genz, Ironie und Solidarität; S. 127f.) Diefem<strong>in</strong><strong>in</strong>e Form verwendet Rorty übrigens, um sich vom gängigen Bild des Ironikers abzusetzen.163. Auf genau entgegengesetzter, nämlich universalistischer Grundlage, for<strong>der</strong>t übrigens auch Habermas die (solidarische)Anerkennung und +Die E<strong>in</strong>beziehung des An<strong>der</strong>en* (1996): +Im ersten Teil [dieser Schrift] verteidige ich den vernünftigenGehalt e<strong>in</strong>er Moral <strong>der</strong> gleichen Achtung für jeden und <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en solidarischen Verantwortung des e<strong>in</strong>en fürden an<strong>der</strong>en. Das postmo<strong>der</strong>ne Mißtrauen gegen e<strong>in</strong>en rücksichtslos assimilierenden und gleichschaltenden Universalismusmißversteht den S<strong>in</strong>n dieser Moral und br<strong>in</strong>gt im Eifer des Gefechts jene relationale Struktur von An<strong>der</strong>sheit und Differenzzum Verschw<strong>in</strong>den, die e<strong>in</strong> wohlverstandener Universalismus gerade zur Geltung br<strong>in</strong>gt. Ich hatte <strong>in</strong> <strong>der</strong> ›Theoriedes kommunikativen Handelns‹ die Grundbegriffe so angesetzt, daß sie e<strong>in</strong>e Perspektive für Lebensverhältnisse bilden,die die falsche Alternative von ›Geme<strong>in</strong>schaft‹ und ›Gesellschaft‹ sprengen. Dieser gesellschaftstheoretischen Weichenstellungentspr<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Moral- und Rechtstheorie e<strong>in</strong> für Differenzen hoch empf<strong>in</strong>dlicher Universalismus. Der gleicheRespekt für je<strong>der</strong>mann erstreckt sich nicht auf Gleichartige, son<strong>der</strong>n auf die Person des An<strong>der</strong>en o<strong>der</strong> <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en<strong>in</strong> ihrer An<strong>der</strong>sartigkeit.* (S. 7)164. Ganz an<strong>der</strong>e Schwerpunkte setzt z.B. Hans-Mart<strong>in</strong> Schönherr-Mann, <strong>der</strong> Pragmatismus, Kommunitarismus undPluralismus als die dom<strong>in</strong>anten Bewegungen politischer Theorie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ansieht (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Theoriendes Politischen). Außer mit dem kurzen Seitenhieb auf das rückwärtsgewandte +Recycl<strong>in</strong>g* kommunitaristischer Ansätzeund dem Rekurs auf Rortys Neopragmatismus habe ich diese Stränge hier weitgehend ignoriert. Nach Mart<strong>in</strong> Nonhoffist +zeitgerechte* politische Theorie jedoch gar nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verb<strong>in</strong>dung von Dekonstruktion (antimonistische Kritik)und Pragmatismus (praxisbezogene Entschiedenheit) möglich (vgl. Politische Theorie zwischen Dekonstruktion undPragmatismus). Chantal Mouffe, Herausgeber<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Sammelbandes zum Thema, <strong>in</strong> dem u.a. auch Rorty und Derridazu Wort kommen, sieht sogar e<strong>in</strong>e Verwandtschaft zwischen beiden Ansätzen, die zu e<strong>in</strong>em fruchtbaren Dialog führenkönnte, <strong>in</strong>dem beide e<strong>in</strong> fundamentalistisches Konzept <strong>der</strong> Philosophie zurückweisen und so (unterschiedliche) Wegefür e<strong>in</strong> nicht-hegemoniales Demokratie-Konzept bereiten (vgl. Deconstruction, Pragmatism and the Politics of Democracy;S. 1ff.).165. Palonen räumt selbst e<strong>in</strong>, daß es sich bei <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz um e<strong>in</strong> Problem handelt, das Weber eigentlich fremdwar (vgl. Das Webersche Moment; S. 20), doch me<strong>in</strong>t er vor allem im von diesem verwendeten Begriff <strong>der</strong> Chance(als +Symbol für Kont<strong>in</strong>genz*) e<strong>in</strong>en Ansatzpunkt für se<strong>in</strong>e Interpretation zu haben (vgl. ebd.; S. 133ff.). Palonen erkenntnämlich e<strong>in</strong>en Übergang von <strong>der</strong> +H<strong>in</strong>tergrundkont<strong>in</strong>genz* <strong>der</strong> fortuna, wie sie Machiavelli zum Thema se<strong>in</strong>er politischenPhilosophie machte und die mittels virtue neutralisiert werden sollte, zu +operationaler Kont<strong>in</strong>genz* im politischenHandlungsbegriff Webers. Kont<strong>in</strong>genz ersche<strong>in</strong>t hier weniger als Bedrohung, son<strong>der</strong>n vielmehr als Öffnung vonHandlungsspielräumen (vgl. ebd.; 209–216). In e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung, allerd<strong>in</strong>gs ohne Bezug auf Weber, wird auchme<strong>in</strong> Schlußexkurs weisen.


A: ANMERKUNGEN 35KAPITEL 2: ZUR DIALEKTIK VON SOZIO-ÖKONOMISCHEM WANDEL UND POLITISCHER STATIK1. Unter politischem System bzw. <strong>in</strong>stitutioneller <strong>Politik</strong>, die ich me<strong>in</strong>e, wenn ich im folgenden von <strong>Politik</strong> spreche,verstehe ich Legislative, Exekutive sowie die Parteien (und <strong>der</strong>en Organisationen) und – allerd<strong>in</strong>gs nur am Rande– politische Verbände.2. Lei<strong>der</strong> gibt es bisher nur wenige Versuche <strong>in</strong> diese Richtung, die sich nicht auf e<strong>in</strong>en Teilaspekt des postmo<strong>der</strong>nensozialen Wandels beschränken und e<strong>in</strong>e umfassende Darstellung geben. He<strong>in</strong>z-Günther Vesters +Soziologie <strong>der</strong><strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne* (1993) stellt <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>e rühmliche Ausnahme dar. Se<strong>in</strong>e Betrachtungen fallen jedoch mite<strong>in</strong>em Gesamtumfang von etwas mehr als 200 Seiten zu knapp aus, um dem Umfang des Themas wirklich gerechtzu werden, und verbleiben deshalb oft zu sehr an <strong>der</strong> Oberfläche <strong>der</strong> Phänomene (e<strong>in</strong>e Kritik, die allerd<strong>in</strong>gs mit Sicherheitauch auf me<strong>in</strong>e eigenen Ausführungen zutrifft).3. In dem Band +Ökologische Sozialisationsforschung* (1976) f<strong>in</strong>den sich acht Aufsätze, die Bronfenbrenners Wegzur Entwicklung e<strong>in</strong>er Theorie <strong>der</strong> ökologischen Sozialisationsforschung zwischen den Jahren 1961 und 1975 zeigen.4. Sowohl <strong>der</strong> +systemische Realismus* (Parsons) als auch die +autopoietische Selbsttäuschung* (Luhmann) wird me<strong>in</strong>erMe<strong>in</strong>ung nach dem Sozialen als e<strong>in</strong>er subjektiv-kollektiv erlebten, belebten und konstruierten Welt nicht gerecht.E<strong>in</strong>e +konstruktivistische* Systemtheorie, wie sie Luhmann konzipierte, überw<strong>in</strong>det zwar die (naiv) realistische Sichtweisevon Systemen, <strong>in</strong>dem sie das Subjekt aus dem Sozialen elim<strong>in</strong>iert, raubt sie ihm jedoch gleichzeitig die Basis.5. E<strong>in</strong> System ist gemäß me<strong>in</strong>em Verständnis also e<strong>in</strong> (makro)strukturierter und – damit – e<strong>in</strong>e gewisse Dauerhaftigkeitaufweisen<strong>der</strong> Handlungszusammenhang (wobei ich auch +kommunikatives Handeln*, also symbolische Interaktionen,mit <strong>in</strong> diesen Begriff e<strong>in</strong>schließe). In Anlehnung an Giddens (<strong>der</strong> jedoch selbst e<strong>in</strong>en leicht unterschiedlichen Systembegriffverwendet) möchte ich jedoch betonen, daß Strukturen beides be<strong>in</strong>halten: Restriktion von Handlungsmöglichkeitenund Ermöglichung von Handeln (vgl. Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; <strong>in</strong>sb. S. 77ff.).6. Bronfenbrenner unterscheidet (wie <strong>in</strong> funktionalistischen Ansätzen üblich) zwischen Mikro-, Meso-, Exo- undMakrosystem. Das personale Mikrosystem umfaßt dabei laut Bronfenbrenner die Summe <strong>der</strong> <strong>in</strong>terpersonalen Wechselbeziehungen<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es spezifischen Lebensbereichs e<strong>in</strong>er Person. Das Mesosystem wird durch die Vernetzungenzwischen den verschiedenen Lebensbereichen gebildet, an denen die Person Teil hat. Das Exosystem bee<strong>in</strong>flußt dagegendie Person nur <strong>in</strong>direkt. Es stellt e<strong>in</strong> Beziehungsgeflecht dar, <strong>in</strong> das die Person nicht direkt e<strong>in</strong>gebunden ist, das abertrotzdem für diese relevant ist. Das Makrosystem umfaßt (handlungsrelevante) generalisierte kulturelle Muster undNormen. (Vgl. Die Ökologie <strong>der</strong> menschlichen Entwicklung; S. 23f.)Freizügig übertragen auf die <strong>Politik</strong> wäre also das politische Mikrosystem <strong>der</strong> Bereich des politischen Institutionensystemsmit den dar<strong>in</strong> ablaufenden Interaktionen zwischen den politischen Akteuren. Das politische Mesosystem würde durchjene sozialen Bezugssysteme gebildet, die e<strong>in</strong>e direkte Koppelung an das politische System haben (z.B. das Rechtssystem).Das politische Exosystem dagegen wäre nur <strong>in</strong>direkt mit <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Politik</strong> verbunden, hätte aber durchausE<strong>in</strong>flüsse auf diese (z.B. das hier nicht näher thematisierte Bildungssystem). Das politische Makrosystem schließlichwäre <strong>der</strong> übergeordnete Rahmen des gesamten Sozialsystems mit se<strong>in</strong>en (politischen) Normen wie z.B. dem Demokratiepr<strong>in</strong>zip.7. Diese +zentralen*, d.h. für die <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em Maß relevanten Teil- bzw. Bezugssysteme s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ungnach (und wie sich auch aus <strong>der</strong> Glie<strong>der</strong>ung ersehen läßt) das Wirtschaftssystem, das Rechtssystem, das WissenschaftsundTechniksystem, das Öffentlichkeits- und Mediensystem sowie (als Makrosysteme) Kultur und Sozialstruktur. ReligionsundBildungssystem (als weitere grundsätzlich abgrenzbare Teilsysteme) s<strong>in</strong>d dagegen für das <strong>Politik</strong>system me<strong>in</strong>esErachtens nicht maßgeblich von Bedeutung. Ich habe sie deshalb (und aus Gründen <strong>der</strong> +Arbeitsökonomie*) aus me<strong>in</strong>erDarstellung ausgeklammert.8. E<strong>in</strong>e +Differenzierung von <strong>Politik</strong> und Wirtschaft* <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n beschreibt z.B. Luhmann (1987). Ihre Grundlages<strong>in</strong>d die je spezifischen +Medien* des Wirtschaftssystems (Geld) und <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (Macht) (vgl. ebd.; S. 40ff.). So kommtes, daß sich das Wirtschaftssystem zu e<strong>in</strong>em selbstreferentiell geschlossenen System entwickelt hat (vgl. auch Die Wirtschaft<strong>der</strong> Gesellschaft; <strong>in</strong>sb. Kap. 2).


36 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE9. In se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>leitung zu dem Band +Globalization, Knowledge and Society* (1990) sieht Mart<strong>in</strong> Albrow (siehe auchS. 97 und Anmerkung 77) sogar e<strong>in</strong>e neue Epoche <strong>der</strong> Soziologie anbrechen, die sich nicht nur mit Globalisierungsprozessenause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzen muß, son<strong>der</strong>n sich selbst zu e<strong>in</strong>er globalisierten Diszipl<strong>in</strong> entwickelt: +It results fromthe freedom <strong>in</strong>dividual sociologists have to work with other <strong>in</strong>dividuals anywhere on the globe and to appreciatethe worldwide processes with<strong>in</strong> which and on which they work.* (S. 7)10. Der Begriff +Globalisierung* bzw. +Globalization* taucht me<strong>in</strong>es Wissens erstmals <strong>in</strong> dem Band +Pr<strong>in</strong>ciples of WorldPolitics* (1972) von George Modelski auf – allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Bedeutung, als <strong>der</strong> hier zugrunde gelegten.Denn Modelski begreift +Globalization* als e<strong>in</strong>e historische Epoche, die um das Jahr 1000 begann und dazu führte,daß aus e<strong>in</strong>er Reihe unvernetzter Großreiche e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges globales System entstand (vgl. S. 41–57). Zu se<strong>in</strong>en Thesenjedoch später (im Kontext <strong>der</strong> Diskussion um die politische Globalisierung) mehr.11. Leslie Sklair geht es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch um die Analyse <strong>der</strong> sog. transnationalen Praktiken (TNPs). Zum Begriff <strong>der</strong>transnationalen Praktiken erläutert Sklair: +TNPs are analytically dist<strong>in</strong>guished on three levels, economic, politicaland cultural-ideological, what I take to constitute the sociological totality. In the concrete conditions of the worldas it is, a world largely structured by global capitalism, each of these TNPs is typically, but not exclusively, characterizedby a major <strong>in</strong>stitution. The transnational corporation (TNC) is the major locus of transnational economic practices;what I shall term the transnational capitalist class is the major locus of transnational political practices; and the majorlocus of transnational cultural-ideological practices is to be found <strong>in</strong> the culture-ideology of consumerism.* (Sociologyof the Global System; S. 6)Auch Malcolm Waters hat e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante These anzubieten, die er im Rahmen se<strong>in</strong>er Arbeit zu untermauern bemühtist: Er me<strong>in</strong>t nämlich, daß (aufgrund se<strong>in</strong>er Stoffgebundenheit) materieller (Aus-)Tausch dazu tendiert, sich zu +lokalisieren*,während die politischen Beziehungen sich <strong>in</strong>ternationalisieren und nur die symbolischen kulturellen Beziehungensich tatsächlich globalisieren (vgl. Globalization; S. 9). An<strong>der</strong>s als Sklair gibt Waters <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 1995 erschienenen Buchzusätzlich e<strong>in</strong>en (guten) allgeme<strong>in</strong>en Überblick über die bis dah<strong>in</strong> abgelaufene Globalisierungsdebatte. Das gleichegilt für den Beitrag (A Global Society) von Anthony McGrew <strong>in</strong> dem von ihm zusammen mit Stuart Hall und DavidHeld 1992 herausgegebenen Band +Mo<strong>der</strong>nity and its Futures*. Beide Texte s<strong>in</strong>d also für e<strong>in</strong>e erste Orientierungempfehlenswert.12. Wer sich hierzu dennoch e<strong>in</strong>en Überblick verschaffen will, tut dies am besten mit dem Sammelband +GlobalCulture*, <strong>der</strong> von Mike Featherstone 1990 herausgegeben wurde. Neben se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>leitenden Bemerkungen s<strong>in</strong>dbeson<strong>der</strong>s die Beiträge von Robertson, Wallerste<strong>in</strong>, Smith, Hannerz, Appadurai und Friedman relevant. Robertson,auf den hier gleich noch etwas näher e<strong>in</strong>gegangen werden wird, hat übrigens auch e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> ersten Monographienzum Thema verfaßt, wor<strong>in</strong> er e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> am meisten rezipierten Dif<strong>in</strong>itionen von Globalisierung gibt, die deshalb auchhier im folgenden wie<strong>der</strong>gegeben wird.13. Ganz ähnlich wie Giddens und Robertson, aber bereits 1989 und damit vor jenen, stellt übrigens auch DavidHarvey die +Raum-Zeit-Kompression* <strong>in</strong> den Mittelpunkt se<strong>in</strong>er Überlegungen zur globalisierten <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne undden (sozio-ökonomischen) Ursprüngen des kulturellen Wandels: +[…] strong a priori grounds can be adduced forthe proposition that there is some k<strong>in</strong>d of necessary relation between the rise of postmo<strong>der</strong>nist cultural forms, theemergence of more flexible modes of capital accumulation, and a new round of ›time-space compression‹ <strong>in</strong> theorganization of capitalism.* (The Condition of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity; S. VII)14. Schon zwei Jahre zuvor hat Robertson <strong>in</strong> jenem <strong>in</strong> Anmerkung 12 erwähnten Band e<strong>in</strong>en Aufsatz veröffentlicht,<strong>der</strong> später zu e<strong>in</strong>em Kapitel se<strong>in</strong>es Buchs umgearbeitet wurde, und dort e<strong>in</strong> historisches Phasenmodell aufgestellt,das fünf Abschnitte <strong>der</strong> Globalisierung postuliert: I. Keimphase (frühes 15. Jahrhun<strong>der</strong>t bis Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts):langsame Ausbildung nationaler Geme<strong>in</strong>schaften; II. E<strong>in</strong>leitende Phase (Mitte bis 70er Jahre des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts):Herausbildung <strong>der</strong> Idee des e<strong>in</strong>heitlichen Nationalstaats; III. Take-Off Phase (70er Jahre des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts bis Mitte<strong>der</strong> 20er Jahre): erste <strong>in</strong>ternationale Organisationen; IV. Phase des Kampfs um Vorherrschaft (frühe 20er Jahre bisMitte <strong>der</strong> 60er Jahre): globale <strong>in</strong>ternationale Konflikte; V. Unsicherheitsphase (Mitte <strong>der</strong> 60er bis Anfang <strong>der</strong> 90erJahre): Schärfung des globalen Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise. (Vgl. Mapp<strong>in</strong>g the Global Condition; S. 25ff.)15. Ähnlich wie Robertson, <strong>der</strong> diese von McGrew <strong>in</strong> all ihren verschiedenen Dimensionen zusammengefaßte Theseam prom<strong>in</strong>entesten vertritt, argumentieren z.B. auch Ulf Hannerz (vgl. Cosmopolitans and Locals <strong>in</strong> the World Culture)und Jonathan Friedman (vgl. Be<strong>in</strong>g <strong>in</strong> the World – Globalization and Localization).


A: ANMERKUNGEN 3716. Beck hat sich, obwohl er schon 1986 von e<strong>in</strong>er +Globalisierung <strong>der</strong> Zivilisationsrisiken* gesprochen hat (vgl. Risikogesellschaft;S. 48ff.), erst <strong>in</strong> jüngster Zeit explizit mit dem Themenkomplex Globalisierung ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt – nunmehrallerd<strong>in</strong>gs umso <strong>in</strong>tensiver. So zeichnet er nicht nur als Herausgeber verantwortlich für die Bände +Perspektiven <strong>der</strong>Weltgesellschaft* und +<strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Globalisierung* (beide 1998). Auch e<strong>in</strong> ausführlicher eigener Beitrag zur Debatteliegt vor: In +Was ist Globalisierung?* (1997) unterscheidet er zwischen Globalismus als neoliberalistischer Ideologie,welche die Vielschichtigkeit des stattf<strong>in</strong>denden Entgrenzungsprozesses auf ihre ökonomische Dimension reduziert(was me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach dem Begriff an sich allerd<strong>in</strong>gs nicht gerecht wird), Globalität als <strong>der</strong> Faktizität <strong>der</strong> Weltgesellschaftund schließlich Globalisierung als multidimensionalem Prozeß <strong>der</strong> Infragestellung des Nationalstaats und<strong>der</strong> Nationalgesellschaft durch transnationale Akteure (vgl. S. 26–30).17. Im diesem +Netzwerk* gibt es freilich lokale Knoten wie z.B. New York, London o<strong>der</strong> Tokyo. Auf die +örtliche*Zentrierung <strong>der</strong> Globalisierung <strong>in</strong> solchen +globalen Städten* hat <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Saskia Sassen h<strong>in</strong>gewiesen (vgl. TheGlobal City).18. Beispielhaft für e<strong>in</strong>e solche Argumentation s<strong>in</strong>d Serge Latouches Thesen zur +Verwestlichung <strong>der</strong> Welt* (1994),<strong>der</strong> sowohl auf den politischen wie auch auf den ökonomischen und kulturellen Imperialismus des Westens e<strong>in</strong>geht.19. +Globale Trends* wird von <strong>der</strong> +Stiftung Entwicklung und Frieden* <strong>in</strong> Bonn herausgegeben.20. Die Verwendung des Begriffs +Welle* bedeutet ke<strong>in</strong>e Anlehnung an Kondratieffs Theorie <strong>der</strong> +langen Wellen*(vgl. zum Konzept und zur marxistischen Kontroverse um die +Kondratieff-Zyklen* z.B. Menschikow: Lange Wellen<strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft), son<strong>der</strong>n soll nur den schubhaften, diskont<strong>in</strong>uierlichen und doch +progressiven* Charakter desGlobalisierungsprozesses ausdrücken. Es besteht damit also eher e<strong>in</strong>e Ähnlichkeit zum Konzept <strong>der</strong> systemischenZyklen <strong>der</strong> Kapitalakkumulation von Arrighi (vgl. The Long Twentieth Century; S. 6ff.).21. Natürlich hatte es Entwicklungen zu e<strong>in</strong>er +Globalisierung* des Handels auch schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit gegeben(etwa im römischen Weltreich), und auch im Mittelalter gab es Handelsbeziehungen fast zur gesamten damals bekanntenWelt. Ansätze zur Entstehung e<strong>in</strong>er tatsächlichen Weltökonomie, e<strong>in</strong>es kapitalistischen Weltsystems das überwiegendauf ökonomischen Verflechtungen beruht und ke<strong>in</strong> politisches +Weltreich* voraussetzt, f<strong>in</strong>den sich jedoch erst imspäten 15. und im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t (vgl. Wallerste<strong>in</strong>: The Mo<strong>der</strong>n World-System; S. 15ff. sowie Kap. 2). Es ist deshalbdurchaus gerechtfertigt, die erste Extensions- und Expansionswelle <strong>der</strong> Globalisierung erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> frühen Neuzeit undnicht vorher anzusetzen. Die bedeutende Rolle <strong>der</strong> seefahrerischen Entdeckungen zu dieser Zeit betont übrigensauch Ritter (vgl. Welthandel; S. 116), <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en handelsgeographischen Ansatz verfolgt.22. Der INC-<strong>Politik</strong>er Dadabhai Naoroji brachte dies 1876 auf den Punkt, <strong>in</strong>dem er von e<strong>in</strong>em +dra<strong>in</strong> of wealth*,e<strong>in</strong>em Kapital- und Warenabfluß aus Indien, sprach, den er alle<strong>in</strong>e für die Jahre 1835–72 auf 500 Millionen Pfundbezifferte (vgl. Kulke/Rothermund: Geschichte Indiens; S. 289f.). Zum britischen Imperialismus allgeme<strong>in</strong> vgl. Röhrich:<strong>Politik</strong> und Ökonomie <strong>der</strong> Weltgesellschaft; S. 25–34. Hier wird auch e<strong>in</strong> guter Überblick über die vor allem marxistischbee<strong>in</strong>flußten (ökonomischen) Imperialismus-Theorien gegeben (vgl. ebd.; S. 14–25).23. Das Brutto<strong>in</strong>landsprodukt (BIP) stieg nach Maddison zwischen 1820 und 1870 jährlich um durchschnittlich 2,2%,wogegen das Exportvolumen im selben Zeitraum um durchschnittlich 4% pro Jahr zunahm. Für die Zeitspanne zwischen1870 und 1913 zeigt sich e<strong>in</strong> ähnliches Bild (durchschnittlicher Anstieg des BIP: 2,5% p.a.; durchschnittlicherExportzuwachs: 3,9% p.a.). Im folgenden werde ich mich aber auf die leicht abweichenden, auch aktuellere Entwicklungenmit e<strong>in</strong>beziehenden Zahlen von Gordon stützen (vgl. The Global Economy; Tab. 4a/4b, S. 43).24. Im Rahmen <strong>der</strong> Dependencia-Theorie, die diesen Begriff aufgegriffen und populär gemacht hat, wird allerd<strong>in</strong>gsmeist nicht auf Emmanuel direkt, son<strong>der</strong>n auf Samir Am<strong>in</strong> Bezug genommen (vgl. L’échange <strong>in</strong>égal et la loi de la valeur).25. Mit +terms of trade* ist das Verhältnis zwischen Export- und Importgüterpreisen geme<strong>in</strong>t, das sich für die meistenEntwicklungslän<strong>der</strong> (die hauptsächlich auf den Export von Primärgütern angewiesen s<strong>in</strong>d), aufgrund ihrer +abhängigenReproduktion* (Senghaas), ungünstig entwickelt hat.26. Maddison unterscheidet vier Phasen <strong>der</strong> Entwicklung des Kapitalismus: 1. 1820–1913: ›Liberal Phase‹; 2. 1913–50:›Beggar-Your-Neighbour-Phase‹; 3. 1950–73: ›Golden Age‹; 4. Seit 1973: ›Phase of Blurred Objectives‹. (Vgl. Phasesof Capitalist Development; Tab. 4.11, S. 92)


38 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE27. Vgl. Globale Trends 1996; Tab. 5, S. 159.28. 1994 machte ihr Anteil am Weltsozialprodukt nur 5,3% aus, und ihr Anteil am <strong>in</strong>ternationalen Handel betrugsogar nur 3,2% (vgl. Globale Trends 1996; S. 150 [Schaubild 1]).29. Diese Position steht natürlich im Wi<strong>der</strong>spruch zur dargelegten Auffassung von Hobsbawm, <strong>der</strong> den Nationalstaatdes 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts als ausgeprägt protektionistisch e<strong>in</strong>stuft (siehe S. 47f.).30. Kocka macht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz klar, daß die Entwicklungstendenzen des fortgeschrittenen Kapitalismus im Begriffdes organisierten Kapitalismus besser zum Ausdruck kommen. Zudem ist er nicht so stark ideologisch überformt wieLen<strong>in</strong>s Schlagwort vom Staatsmonopolkapitalismus. Allerd<strong>in</strong>gs ist sich Kocka bewußt, daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Orig<strong>in</strong>alformulierungvon Hilferd<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e harmonisierende Sichtweise zum Tragen kommt (siehe Anmerkung 31), denn die Wi<strong>der</strong>sprüchedes Kapitalismus können natürlich gemäß sozialistischer Auffassung durch staatliche E<strong>in</strong>griffe nur zeitweilig überdecktwerden.31. Hilferd<strong>in</strong>g entwickelte se<strong>in</strong>e Theorie vom organisierten Kapitalismus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Aufsatz, <strong>der</strong> 1915 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift+Der Kampf* erschien. Es handelt sich bei <strong>der</strong> orig<strong>in</strong>alen Formulierung Hilferd<strong>in</strong>gs um e<strong>in</strong>e revisionistische These,da dieser davon ausg<strong>in</strong>g, daß sich durch die Wirkung des staatlichen Interventionismus und die gewerkschaftlicheInteressenorganisation e<strong>in</strong>e Konvergenz von organisiertem Kapitalismus und Sozialismus ergeben würde (vgl. W<strong>in</strong>kler:E<strong>in</strong>leitende Bemerkungen zu Hilferd<strong>in</strong>gs Theorie des Organisierten Kapitalismus). Hilferd<strong>in</strong>gs wichtigste Schrift dürfteallerd<strong>in</strong>gs ohneh<strong>in</strong> nicht <strong>der</strong> genannte Aufsatz, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Band +Das F<strong>in</strong>anzkapital* (1909) se<strong>in</strong>.32. E<strong>in</strong>en schönen Überblick über die e<strong>in</strong>zelnen Runden des GATT gibt Mulhearn (vgl. Change and Development<strong>in</strong> the Global Economy; S. 180–184). Speziell zu den Neuerungen mit <strong>der</strong> Uruguay-Runde (1984–94), die auch dieGründung e<strong>in</strong>er Welthandelsorganisation im Rahmen <strong>der</strong> UNO brachte, kann auf den von Michael Frenkel und DieterBen<strong>der</strong> herausgegebenen Band +GATT und neue Welthandelsordnung* verwiesen werden.33. Diese besagt, daß e<strong>in</strong> Staat, <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bilateralen Vertrag mit e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Staat diesem e<strong>in</strong>e Vergünstigungfür die E<strong>in</strong>fuhr von Waren e<strong>in</strong>räumt, diese Vergünstigung automatisch auch allen an<strong>der</strong>en Mitgliedsstaaten des GATTe<strong>in</strong>räumen muß (vgl. GATT, Art. I u. II).34. Ausdruck dieser amerikanischen Dom<strong>in</strong>anz war das alle<strong>in</strong>ige Veto-Recht <strong>der</strong> USA beim +Internationalen Währungsfonds*(IWF). Auch bei <strong>der</strong> +Internationalen Bank für Wie<strong>der</strong>aufbau und Entwicklung* (Weltbank), <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en imZuge von Bretton Woods gegründeten F<strong>in</strong>anzorganisation, hatten (und haben) die Vere<strong>in</strong>igten Staaten e<strong>in</strong> Übergewicht.35. Nach e<strong>in</strong>er Übergangszeit wurde <strong>der</strong> Dollarkurs schließlich de facto 1973 und de jure 1976 völlig freigegeben.36. Vgl. hierzu Spero: Guid<strong>in</strong>g Global F<strong>in</strong>ance. Am Beispiel des Börsen-Crashs vom Oktober 1987 verdeutlicht Sperohier die Gefahren des globalisierten F<strong>in</strong>anzmarkts: Die technologische Vernetzung, gepaart mit dem bestehendenHang zu Überreaktionen und Panik, wirkt <strong>in</strong> Krisensituationen destabilisierend. Zudem tendiert ausländisches Kapital,das durch die Globalisierung e<strong>in</strong>en immer höheren Anteil e<strong>in</strong>nimmt, auch eher als e<strong>in</strong>heimisches zur +Flucht* (vgl.S. 129).37. Das bedeutet, daß sich die Rate zwischen den E<strong>in</strong>nahmen aus Exporten und Kapital von ca. 10 zu 1 (1961) aufca. 3 zu 1 (1993) verr<strong>in</strong>gert hat. Am drastischsten ist die Lage <strong>in</strong> Großbritannien. Dort hat das Kapitale<strong>in</strong>kommenaus <strong>in</strong>ternationalen Geschäften schon 61% des Warenexporte<strong>in</strong>kommens erreicht. (Vgl. hierzu Menzel: Die neueWeltwirtschaft; Tab. 4, S. 36).38. In dem von Sauvant mitherausgegebenen Band +Electronic Highways for World Trade* (Rob<strong>in</strong>son et al. 1989)wird dieser Zusammenhang ausführlich thematisiert.39. David Harvey argumentiert im Pr<strong>in</strong>zip ganz entlang <strong>der</strong> hier dargestellten L<strong>in</strong>ie: Das Modell <strong>der</strong> fordistischenMassenproduktion konnte nur so lange erfolgreich se<strong>in</strong>, wie die Wirtschaft boomte und diese politisch durch den+hegemonialen Schirm* <strong>der</strong> USA abgesichert wurde (vgl. The Condition of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity; S. 136f.). Nachdem dasWachstum an se<strong>in</strong>e reale Grenze stieß, erfolgte notgedrungen e<strong>in</strong> Übergang zur +flexiblen Akkumulation*, d.h. dieArbeitsorganisation und die Arbeitsverhältnisse wurden (oft zu Lasten <strong>der</strong> Arbeitnehmer) variabel gestaltet (vgl. ebd.;


A: ANMERKUNGEN 39S. 150ff.). In e<strong>in</strong>em Satz zusammengefaßt: +Economies of scope have beaten out economies of scale* (ebd. S. 155).Harvey, <strong>der</strong> (neo)marxistisch <strong>in</strong>spiriert ist, verfolgt die Absicht, über die Beschreibung <strong>der</strong>artiger ökonomischer Wandlungsprozesseauch die postmo<strong>der</strong>nen Kulturphänomene erklären zu können, wie auch mit dem Untertitel se<strong>in</strong>es Buchesbereits angekündigt wird: An Enquiry <strong>in</strong>to the Orig<strong>in</strong>s of Cultural Change. Ob ihm dies überzeugend gelungen ist, kannallerd<strong>in</strong>gs durchaus angezweifelt werden.40. 1960 betrug <strong>der</strong> Anteil am BIP des tertiären Sektors <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik 40,6% und <strong>in</strong> Japan 48,2%.41. Menzel weist allerd<strong>in</strong>gs darauf h<strong>in</strong>, daß das Wachstum des tertiären Sektors im wesentlichen auf das Wachstumdes F<strong>in</strong>anz- und Versicherungswesens sowie an<strong>der</strong>er professioneller Dienstleistungen zurückzuführen ist. Dies ergibte<strong>in</strong>e Aufglie<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> die Subsektoren <strong>der</strong> Dienstleistungsbranche. Während die öffentlichen Dienstleistungen, GroßundE<strong>in</strong>zelhandel, Gastronomie und Transportwesen etc. stagnierten, konnte <strong>der</strong> Bereich <strong>der</strong> professionellen Dienstleistungense<strong>in</strong>en Anteil am Weltsozialprodukt zwischen 1960 und 1989 von 13% auf 21,2% steigern (vgl. Die neueWeltwirtschaft; Tab. 2, S. 33).42. Die Entwicklung <strong>in</strong> Bangalore, wo man vom +body sell<strong>in</strong>g* an <strong>in</strong>ternationale Großunternehmen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form zeitlichbefristeter Arbeitsverträge zum Dienstleistungsexport übergegangen ist, ist bezeichnend für e<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>en Trend:Während die ökonomische Vernetzung zunimmt, s<strong>in</strong>kt die Migrationsrate (vgl. Weltbank: Weltentwicklungsbericht1995 – Arbeitnehmer im weltweiten Integrationsprozeß; S. 61ff.).43. Dieser sche<strong>in</strong>bare Wi<strong>der</strong>spruch zur obigen Aussage erklärt sich aus dem schon angesprochenen überproportionalenAnwachsen des F<strong>in</strong>anzsektors.44. Das zitierte Buch von Paul Hirst und Grahame Thompson wird <strong>der</strong>zeit vielfach diskutiert. Dar<strong>in</strong> bestreiten diebeiden Autoren, daß das Ausmaß <strong>der</strong> Globalisierung <strong>in</strong> den letzten hun<strong>der</strong>t Jahren tatsächlich zugenommen hat.Die aktuelle Weltwirtschaft ist ihrer Me<strong>in</strong>ung nach deshalb nicht wirklich global zu nennen, son<strong>der</strong>n ist noch immer+<strong>in</strong>ter-national* strukturiert (vgl. S. 7–16) – wobei ich ihnen durchaus zustimme, was aber ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e neue o<strong>der</strong>orig<strong>in</strong>elle Erkenntnis darstellt. Zum Beleg verweisen Hirst und Thompson u.a. darauf, daß die Exportwerte im Verhältniszum BIP 1913 <strong>in</strong> den wichtigsten Industrienationen größer waren als 1973 (vgl. ebd.; S. 26ff.). Damit ist ihrer Me<strong>in</strong>ungnach e<strong>in</strong> wichtiges Argument dafür erbracht, daß die Offenheit des Handels (und damit das Ausmaß <strong>der</strong> Globalisierung)zur Zeit des Goldstandards größer war als heute. Lei<strong>der</strong> beziehen sie sich jedoch im Rahmen dieser Argumentationauf Zahlenmaterial, das nur maximal die Entwicklung bis Ende <strong>der</strong> 80er Jahre (o<strong>der</strong> sogar nur bis Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre)berücksichtigt, was aufgrund <strong>der</strong> damaligen Stagnationsphase zu e<strong>in</strong>er verzerrten Interpretation führt. Gerade dieaktuelle, +beschleunigte* Entwicklung bleibt ausgeklammert. Somit ist durch Hirst und Thompson nur aufgezeigt,daß (ökonomische) Globalisierung ke<strong>in</strong> l<strong>in</strong>earer Prozeß ist, son<strong>der</strong>n diskont<strong>in</strong>uierlich verläuft. Ihre an<strong>der</strong>en Hauptargumente– die immer noch nationale Basis <strong>der</strong> angeblich transnationalen Konzerne, die ungleichmäßige <strong>in</strong>ternationale Verteilungdes Investitionskapitals und die ökonomische Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> Triade Europa-Japan-Nordamerika <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weltwirtschaft(vgl. ebd.; S. 2) – s<strong>in</strong>d von an<strong>der</strong>er Seite schon vielfach vorgetragen worden, ja vielmehr noch: Sie s<strong>in</strong>d geradezuStandarde<strong>in</strong>wände Freihandelsideologie-kritischer Autoren und werden im folgenden auch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Betrachtungnoch e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielen.45. Auf die Probleme des nationalen Wohlfahrtsstaats durch Globalisierungsprozesse wird <strong>in</strong> Abschnitt 3.1 noch nähere<strong>in</strong>gegangen werden, so daß ich diesen Aspekt hier nicht weiter verfolgen werde.46. Noch deutlicher als <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em hier zitierten, eher historisch orientierten (dreibändigen) Hauptwerk +The Mo<strong>der</strong>nWorld-System* (Band 1: 1974) wird die fundamentale Ungleichheitsrelation zwischen Zentrum und Peripherie <strong>in</strong>dem Band +The Capitalist World-Economy* (1980) herausgearbeitet. Aktuell hat Wallerste<strong>in</strong> allerd<strong>in</strong>gs für sich e<strong>in</strong>igeLehren aus den 80er Jahren gezogen, die ja das Ende des sozialistischen Staatensystems mit sich brachten. Nebenökonomischen betrachtet Wallerste<strong>in</strong> nun auch immer mehr politische und kulturelle Faktoren zur Erklärung vonUngleichheiten im Weltsystem (vgl. z.B. Geopolitics and Geoculture).47. Dies gilt, wenn man sich Arjun Appadurai anschließt, noch mehr auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> globalen kulturellen Ökonomie,die für ihn zunehmend e<strong>in</strong>e komplexe, überlappende und unverbundene Ordnung darstellt und deshalb nicht mehr<strong>in</strong> Begriffen des Peripherie-Zentrum-Modells verstanden werden kann (vgl. Disjuncture and Difference <strong>in</strong> the GlobalCultural Economy; S. 296). Appadurai stellt deshalb fünf Begriffe <strong>in</strong> den Mittelpunkt se<strong>in</strong>er Betrachtung, mit <strong>der</strong>enHilfe er hofft, hier Abhilfe schaffen zu können: +ethnoscapes*, +mediascapes*, +technoscapes*, +f<strong>in</strong>ancescapes* und+ideoscapes*. Mit diesen Wortneuschöpfungen soll schlicht ausgedrückt werden: In <strong>der</strong> globalen Kultur spielen die


40 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEFlüsse von Menschen, Bil<strong>der</strong>n, Masch<strong>in</strong>en, Geld und Ideen e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, und sie s<strong>in</strong>d zunehmend getrenntvone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> (vgl. ebd.; S. 301 und siehe auch Abschnitt 3.5, S. 263f.).48. Ich b<strong>in</strong> mir <strong>der</strong> Problematik bewußt, daß solche Zahlenvergleiche auf nationalstaatlicher Basis natürlich e<strong>in</strong>erseitse<strong>in</strong>er den Nationalstaat durch Globalisierungs- und Regionalisierungsprozesse überschreitenden Ökonomie nichtgerecht werden (können) und an<strong>der</strong>erseits <strong>in</strong>nerstaatliche Disparitäten nicht spiegeln. Zudem ist Ökonomie e<strong>in</strong>eFrage <strong>der</strong> Güterproduktion und -verteilung. Der Vergleich <strong>der</strong> Leistungsfähigkeit von Ökonomien am Maßstab von+geldfixierten* Kennwerten unterschlägt deshalb die ökonomische Relevanz z.B. <strong>der</strong> ländlichen Subsistenzwirtschaft,des <strong>in</strong>formellen Sektors o<strong>der</strong> nachbarschaftlicher und familiärer Netzwerke, wie sie <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>em Maß für Entwicklungslän<strong>der</strong>typisch s<strong>in</strong>d.49.Vgl.hierzu und zum Weltbevölkerungsproblem allgeme<strong>in</strong> Schmid: Bevölkerungswachstum und Entwicklungsprozeß<strong>in</strong> <strong>der</strong> Dritten Welt.50. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es natürlich auch hier sehr große Unterschiede, was die e<strong>in</strong>zelnen Län<strong>der</strong> betrifft (vgl. Weltbank:Weltentwicklungsbericht 1996 – Vom Plan zum Markt; <strong>in</strong>sb. Kap. 2).51. Zu den klassischen +Tigern* zählen Südkorea, Taiwan, Hongkong und S<strong>in</strong>gapur, neuerd<strong>in</strong>gs aber auch Thailandund Malaysia. Alle diese Staaten hatten <strong>in</strong> den letzen Jahren Wachstumsraten zwischen 4,5 und 9,5%. Mit solch hohenWachstumsraten fertig zu werden, bereitet (wie auch unten erwähnt) mitunter große Schwierigkeiten (vgl. z.B. Heuser:Die Tiger werden erwachsen) – und aktuell sche<strong>in</strong>t es (aufgrund e<strong>in</strong>er Erschütterung <strong>der</strong> dortigen F<strong>in</strong>anzmärkte) garso, als sei e<strong>in</strong>e ausgewachsene +Pubertätskrise* ausgebrochen.52. Vgl. zur aktuellen Entwicklung auch Weltbank: Weltentwicklungsbericht 1996; Tab. 15, S. 250f. Die hier angegebenenKennzahlen zu den Warenexporten und -importen belegen, daß sich auch, wenn man die Daten für 1994 mit e<strong>in</strong>bezieht,nichts Grundsätzliches geän<strong>der</strong>t hat: Die Relation <strong>der</strong> Gesamtwerte <strong>der</strong> Ausfuhren zwischen den Entwicklungslän<strong>der</strong>n(Län<strong>der</strong> mit niedrigem und mittlerem E<strong>in</strong>kommen) und den Industriestaaten (Län<strong>der</strong> mit hohem E<strong>in</strong>kommen) betrug1980 nahezu exakt 1 zu 2. 1994 verschlechterte sich diese Relation sogar auf e<strong>in</strong> Verhältnis von ca. 1 zu 3 (exakt:3,18). Und auch hier zeigen die Zahlen, daß Afrika <strong>der</strong> große Verlierer war, während sich die Position Asiens (selbstverständlichohne Japan) erheblich verbesserte, es se<strong>in</strong>en Export-Anteil von 5,0% (1980) auf 9,8% (1994) steigernkonnte. (Die angegebenen Relationen und Prozentangaben beruhen auf eigenen Berechnungen)53. Wie schon <strong>in</strong> Anmerkung 46 angedeutet, hat Wallerste<strong>in</strong> selbst <strong>in</strong> jüngerer Zeit se<strong>in</strong>e ursprüngliche Position <strong>in</strong>dieser Richtung h<strong>in</strong> modifiziert (vgl. Geopolitics and Geoculture).54. McLuhan glaubt, daß <strong>in</strong> unserem Zeitalter <strong>der</strong> Geschw<strong>in</strong>digkeit die Zentrum-Peripherie-Struktur aufgehobenist: +Die Geschw<strong>in</strong>digkeit <strong>der</strong> Elektrizität läßt Zentren überall entstehen. Peripherien hören auf unserem Planetenauf zu existieren.* (Die magischen Kanäle; S. 101) Dies führt ihn zur These vom +globalen Dorf*: +Unsere heutigeBeschleunigung ist nicht e<strong>in</strong>e Zeitlupenexplosion vom Zentrum h<strong>in</strong>aus zur Peripherie, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e augenblicklicheImplosion und Verquickung von Raum und Funktion. Unsere spezialisierte und atomisierte Zivilisation vom Zentrum-Peripherie-Typus erlebt nun plötzlich, wie alle ihre Masch<strong>in</strong>enteilchen auf <strong>der</strong> Stelle zu e<strong>in</strong>em organischen Ganzenneu zusammengesetzt werden. Das ist die neue Welt des globalen Dorfes.* (Ebd.; S. 103)55. Möglichkeiten zu e<strong>in</strong>em Entgegenwirken wären nach Neyer: 1. Die Zurückdrängung <strong>der</strong> symbolischen Ökonomieauf e<strong>in</strong> vernünftiges Maß, um das zur Verfügung stehende Kapital s<strong>in</strong>nvoll und produktiv e<strong>in</strong>setzen zu können; 2.DieStärkunglokalerpolitischer Institutionen, umaufpolitischer Ebenee<strong>in</strong>Gegengewichtzurökonomischen Globalisierungzu haben und um damit die E<strong>in</strong>flußmöglichkeiten <strong>der</strong> Menschen auf ihre Lebenswelt zu bewahren. (Vgl. Das Endevon Metropole und Peripherie? S. 24ff.)56. Altvater führt dieses Argument anhand des von ihm gewählten Fallbeispiels Brasilien detailliert und überzeugendaus.57. Für das Beispiel NAFTA liegt mittlerweile e<strong>in</strong> Sammelband vor, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von kritischen Aufsätzen enthält(vgl. Hoffmann/Wannöffel: Soziale und ökologische Sackgassen ökonomischer Globalisierung – Das Beispiel NAFTA).Hier wird z.B. ausführlich dargelegt wie die NAFTA als Wie<strong>der</strong>belebungsprogramm für die amerikanische Wirtschaftverstanden werden kann (vgl. ebd. den Beitrag von Brecher: NAFTA – Ökonomische Wie<strong>der</strong>belebung <strong>der</strong> USA), diesich durch die Freihandelszone mit Kanada und Mexiko nicht nur e<strong>in</strong>en größeren Absatzmarkt erobert, son<strong>der</strong>n auch


A: ANMERKUNGEN 41die Möglichkeit zur (kostengünstigen) Produktionsverlagerung erhält (vgl. den Beitrag von Hoffmann: NAFTA – E<strong>in</strong>Freihandelsabkommen ohne soziale Dimension).58. Das Abkommen von Lomé wurde 1975 zunächst zwischen <strong>der</strong> EG und 49 Staaten aus Afrika, <strong>der</strong> Karibik und<strong>der</strong> Pazifik-Region geschlossen und hatte ursprünglich nur e<strong>in</strong>e 5jährige Laufzeit. Inzwischen wurde es jedoch dreimalverlängert und auf <strong>in</strong>sgesamt 69 Staaten ausgedehnt.59. Beson<strong>der</strong>s zwiespältig ist dabei die For<strong>der</strong>ung nach <strong>in</strong>ternational geltenden Grundrechten für Arbeitnehmer. Soweisen Rob Lampert und Donella Caspersz darauf h<strong>in</strong>, daß solche For<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e Form des Protektionismusdarstellen (vgl. International Labour Standards; S. 573ff.), an<strong>der</strong>erseits nur so die Position <strong>der</strong> Arbeitnehmer auf globalerEbene und speziell <strong>in</strong> den NICs gestärkt werden kann (vgl. ebd.; S. 583ff.).60. Ganz ähnlich argumentiert übrigens auch Andrew Wyatt-Walter (vgl. Regionalism, Globalization, and World EconomicOr<strong>der</strong>). Hier spricht er zusammenfassend davon, daß (ökonomische) Regionalisierung und Globalisierung eher symbiotischeals gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gerichtete Prozesse darstellen (vgl. ebd.; S. 115).61. Die realistische Schule <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen <strong>Politik</strong> geht im wesentlichen auf Hans J. Morgenthau zurück. Inse<strong>in</strong>em Buch +Politics Among Nations* (1978) nennt Morgenthau sechs Pr<strong>in</strong>zipien des +Realismus*: 1. geht <strong>der</strong> Realismusvon <strong>der</strong> Annahme aus, daß die <strong>Politik</strong> von +objektiven Gesetzen* bestimmt wird, die ihre Grundlage <strong>in</strong> <strong>der</strong> menschlichenNatur haben; 2. vertritt <strong>der</strong> politische Realismus die Annahme, daß <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> Interessen mittels Macht durchgesetztwerden und deshalb die <strong>in</strong>ternationale <strong>Politik</strong> als Machtkampf (unter den Nationen) aufgefaßt werden kann; 3. ist<strong>der</strong> Realismus sich <strong>der</strong> Tatsache bewußt, daß die aktuellen Verhältnisse <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen <strong>Politik</strong> zwar Ausdruckobjektiver Gesetze s<strong>in</strong>d, daß trotzdem aber e<strong>in</strong> historischer Wandel dieser Verhältnisse grundsätzlich möglich ersche<strong>in</strong>t;4. wird die Ansicht vertreten, daß Staaten, an<strong>der</strong>s als Individuen, ihre <strong>Politik</strong> nicht alle<strong>in</strong>e an moralischen Pr<strong>in</strong>zipienausrichten können, son<strong>der</strong>n immer auch die nationale Selbsterhaltung im Auge haben müssen; 5. lehnt <strong>der</strong> politischeRealismus moralische Urteile im Kontext <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Beziehungen ab, da Gut und Böse <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> nichte<strong>in</strong>deutig zu bestimmen s<strong>in</strong>d; 6. geht <strong>der</strong> politische Realismus von e<strong>in</strong>er getrennten Sphäre des Politischen aus. (Vgl.S. 4–15)62. Rosenau hat se<strong>in</strong>en Text noch vor den dramatischen Ereignissen des Jahres 1989 verfaßt, so daß er auf diesenAspekt nur nachträglich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kurzen Fußnote e<strong>in</strong>geht (vgl. Turbulence <strong>in</strong> World Politics; S. XVIII). Der Zusammenbruchdes +sozialistischen* Systems wird von ihm deshalb nicht als e<strong>in</strong> Beispiel für die Turbulenzen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weltpolitik genannt,son<strong>der</strong>n wurde von mir als e<strong>in</strong> wichtiger Punkt ergänzt.63. Diese Dom<strong>in</strong>anz des Realismus gilt vor allem für die 50er und 80er Jahre. Wie auch aus den Ersche<strong>in</strong>ungsdaten<strong>der</strong> hier zitierten Werke deutlich wird, überwog <strong>in</strong> den 70er Jahren dagegen die +Interdependenz*-Perspektive. Derzeit,wie <strong>in</strong> den 60er Jahren, ist die (neo)realistische Sichtweise zwar noch immer weit verbreitet, doch auch an<strong>der</strong>e,+optimistischere* Interpretationen <strong>der</strong> Weltpolitik s<strong>in</strong>d stark vertreten.64. Der Neorealismus <strong>in</strong> den USA geht <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auf Kenneth Waltz zurück. Mit <strong>der</strong> realistischen Schule teilt<strong>der</strong> Neorealismus die Fixierung auf den Nationalstaaten als primärere Akteure <strong>der</strong> Internationalen <strong>Politik</strong> und dieBetonung <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong> Macht (vgl. Morgenthau: Politics Among Nations; S. 29ff. und siehe auch Anmerkung61). An<strong>der</strong>s als im Realismus wird jedoch die stabilisierende Wirkung <strong>der</strong> Bipolarität betont (vgl. Waltz: Theory ofInternational Politics; S. 199ff.).65. McGrews Artikel enthält nicht nur Zahlenmaterial, son<strong>der</strong>n bemüht sich im Gegenteil – wie schon <strong>der</strong> Titel andeutet– gerade um e<strong>in</strong>e Darstellung <strong>der</strong> verschiedenen Möglichkeiten zur theoretischen Konzeptionalisierung <strong>der</strong> Weltpolitik.Zur Ergänzung möchte ich den Aufsatz von John Vogler empfehlen, <strong>der</strong> ebenfalls e<strong>in</strong>en knappen, aber brauchbarenÜberblick verschafft (vgl. The Structures of Global Politics).66. Beide Autoren beziehen sich ihrerseits auf die Daten des +Yearbook of International Organizations*.67. Clive Archer weist darauf h<strong>in</strong>, daß die Rolle <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Organisationen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weltpolitik <strong>in</strong> diesem Zusammenhangauf drei unterschiedliche Weisen <strong>in</strong>terpretiert werden kann: Sie können als bloße Instrumente <strong>der</strong>nationalstaatlichen <strong>Politik</strong> aufgefaßt werden (Realismus), sie können als Rahmen-bestimmende Arenen <strong>der</strong> nationalstaatlichen<strong>Politik</strong> betrachtet werden, o<strong>der</strong> man kann ihnen sogar e<strong>in</strong>e eigene Akteursqualität zuschreiben (vgl.


42 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEInternational Organizations; S. 130–152). Es ist also die Frage zu stellen, ob das reale zahlenmäßige Wachstum <strong>der</strong><strong>in</strong>ternationalen Organisationen nur <strong>der</strong> Ausdruck e<strong>in</strong>er Instrumentalisierung durch den Nationalstaat ist o<strong>der</strong> tatsächlichnicht-hierarchische +Interdependenz-Netzwerke* entstanden s<strong>in</strong>d (vgl. auch Jacobson: Networks of Interdependence;S. 387f.)68. Je<strong>der</strong> Mitgliedsstaat hat e<strong>in</strong>en Vertreter. Die Entscheidungen erfolgen entwe<strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>facher Mehrheit, qualifizierterMehrheit o<strong>der</strong> nach dem E<strong>in</strong>stimmigkeitspr<strong>in</strong>zip, je nachdem, was die Vertragsbestimmungen für den entsprechendenFall vorsehen. Bei Entscheidungen nach qualifizierter Mehrheit f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Gewichtung <strong>der</strong> Stimmen statt, die dieunterschiedliche (Bevölkerungs-)Größe <strong>der</strong> Staaten berücksichtigt.69. Die supranationale +Europäische Kommission* stellt die Spitze <strong>der</strong> sog. +Eurobürokratie* dar. Sie ist <strong>in</strong> verschiedeneRessorts geglie<strong>der</strong>t und ihre Aufgabe ist es, die Interessen <strong>der</strong> Gesamtgeme<strong>in</strong>schaft und nicht nur die e<strong>in</strong>zelner Staatenzu för<strong>der</strong>n. Dazu heißt es im EG-Vertrag: +Die Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kommission üben ihre Tätigkeit <strong>in</strong> voller Unabhängigkeitzum allgeme<strong>in</strong>en Wohl <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft aus. Sie dürfen bei <strong>der</strong> Erfüllung ihrer Pflichten Anweisungen von e<strong>in</strong>erRegierung o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Stelle we<strong>der</strong> anfor<strong>der</strong>n noch entgegennehmen.* (Art. 157)70. Es handelt sich hierbei im wesentlichen um e<strong>in</strong> Recht des Parlaments zur Stellungnahme verbunden mit e<strong>in</strong>emVetorecht (was jedoch e<strong>in</strong>e absolute Mehrheit erfor<strong>der</strong>t). (Vgl. Art. 189b)71. +Global* betrachtet ergibt sich allerd<strong>in</strong>gs gleichzeitig nunmehr e<strong>in</strong> deutliches geostrategisches Übergewicht <strong>der</strong>Vere<strong>in</strong>igten Staaten.72. Als Richtwerte und sog +Konvergenzkriterien* sah <strong>der</strong> Vertrag von Maastricht vor, daß bis zur Beschlußfassungüber die Teilnahme an <strong>der</strong> Währungsunion von allen Staaten e<strong>in</strong>e Inflationsrate zu erreichen ist, die nicht mehr als1,5 Prozentpunkte über den drei niedrigsten Inflationsraten <strong>in</strong> <strong>der</strong> EU liegt (zudem muß Wechselkursstabiltät gegebense<strong>in</strong> und e<strong>in</strong> niedriges Z<strong>in</strong>sniveau herrschen). Das öffentliche Defizit sollte ferner nach Möglichkeit nur 3,0% desStaatshaushalts betragen und die Gesamtschulden sollten nicht mehr als 60% des BIP ausmachen (vgl. EU-Vertrag;Art. 104 c u. 109j sowie die zugehörigen Zusatzprotokolle). Obwohl allerd<strong>in</strong>gs die wenigsten Staaten alle diese Kriterien+punktgenau* erfüllten, wurde durch den +Europäischen Rat* im Mai 1998 beschlossen, daß <strong>in</strong>sgesamt 11 <strong>der</strong> 15Mitgliedsstaaten an <strong>der</strong> 1999 startenden +ersten Runde* <strong>der</strong> Währungsunion teilnehmen werden (es handelt sichum Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, die Nie<strong>der</strong>lande, Belgien, Österreich, F<strong>in</strong>nland, Portugal, Irland undLuxemburg). Nur Griechenland blieb, wie erwartet, die Teilnahme verwehrt (Großbritannien sowie Dänemark undSchweden verzichteten von sich aus). Man muß jedoch davon ausgehen, daß die zum EU-Beitritt anstehenden Staatenaus Osteuropa (also Polen, die Tschechische Republik, Ungarn, Slowenien und Estland) noch lange Zeit von diesemWährungsclub ausgeschlossen bleiben werden, da für ihren Beitritt zur Währungsunion – sofern die aufgenommenenBeitrittsverhandlungen erfolgreich se<strong>in</strong> sollten – vermutlich entsprechende Kriterien gelten werden. Dies rechtfertigtes me<strong>in</strong>es Erchatens, die im Text getroffene skeptische Aussage aufrecht zu erhalten.73. Im Sicherheitsrat werden zur +Wahrung des Weltfriedens* alle Zwangsmaßnahmen gegen Staaten beschlossen(vgl. UN-Charta; Art. 24). Da sowohl die USA wie die UdSSR bzw. Rußland (neben den an<strong>der</strong>en ständigen Mitglie<strong>der</strong>nCh<strong>in</strong>a, Frankreich und Großbritannien) e<strong>in</strong> Vetorecht besitzen, bestand, solange <strong>der</strong> Ost-West-Gegensatz andauerte,ke<strong>in</strong>e Möglichkeit, Maßnahmen zu verhängen, die den Interessen e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Supermächte wi<strong>der</strong>sprachen – was aufe<strong>in</strong>e faktische Lähmung des Sicherheitsrats h<strong>in</strong>auslief.74. In dem von Thomas Pr<strong>in</strong>cen und Matthias F<strong>in</strong>ger herausgegebenen Band +Environmental NGOs <strong>in</strong> World Politics*(1994) wird (als Beispiel) die globale Rolle <strong>der</strong> umweltpolitischen NGOs <strong>in</strong> zahlreichen Beiträgen thematisiert. Inihrem zusammenfassen Schlußartikel (<strong>der</strong> <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit Jack Manno entstand) heißt es: +We conclude that<strong>in</strong>ternational environmental NGOs make their most dist<strong>in</strong>ctive contribution by go<strong>in</strong>g beyond traditional politics. Thatis, beyond state-oriented practices designed to ameliorate the side effects of <strong>in</strong>dustrial development. NGOs maketheir contribution when they translate biophysical change un<strong>der</strong> conditions of global ecological crisis <strong>in</strong>to politicalchange and do so at both the local and global levels.* (Translational L<strong>in</strong>kages; S. 231f.)75. Dem stimmt z.B. auch Robert Cox pr<strong>in</strong>zipiell zu, wenn er bemerkt, daß die Kräfte, die den +neuen Kapitalismus*herausfor<strong>der</strong>n, <strong>in</strong> Europa vielleicht am besten organisiert s<strong>in</strong>d. Doch schränkt er – und ich mit ihm – e<strong>in</strong>: +[…] challengescould come from many places […] Neighbourhood and self-help organizations have been formed to deal with basicneeds of marg<strong>in</strong>alized groups <strong>in</strong> both rich and poor countries […] People are dropp<strong>in</strong>g out of the world market, andthe formal structures of national economies, to seek their survival <strong>in</strong> the <strong>in</strong>formal sector. It results <strong>in</strong> a lower<strong>in</strong>g of


A: ANMERKUNGEN 43<strong>in</strong>comes and a worsen<strong>in</strong>g of safety and health conditions. But it can also be a stimulus to new forms of cooperationand self-governance.* (Globalization, Multilateralism, and Democracy; S. 534)76. Auf das subpolitische Potential und die Dynamik <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen wird <strong>in</strong> Abschnitt 2.5 nähere<strong>in</strong>gegangen.77. Albrow vertritt die <strong>in</strong>teressante (doch durchaus anzweifelbare) These, daß im Augenblick e<strong>in</strong> epochaler Wandelstattf<strong>in</strong>det: Die Mo<strong>der</strong>ne wird von e<strong>in</strong>em +globalen Zeitalter* abgelöst, das nicht die Entwicklungsrichtung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nefortsetzt, son<strong>der</strong>n auf grundsätzlich neuen Pr<strong>in</strong>zipien (be)ruht (vgl. The Global Age; Kap. 9).78. Im +Her<strong>der</strong> Lexikon <strong>Politik</strong>* wird <strong>der</strong> Rechtsstaat folgen<strong>der</strong>maßen def<strong>in</strong>iert: +Staat, <strong>der</strong> die Staatsgewalt <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmungmit den grundlegenden Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> materiellen Gerechtigkeit ausübt, bei dem diese B<strong>in</strong>dung an ›Rechtu. Gesetz‹ <strong>in</strong>stitutionell gewährleistet ist, u. <strong>der</strong> die Art u. Weise se<strong>in</strong>es Tätigwerdens sowie die freie Sphäre se<strong>in</strong>erBürger <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weise des Rechts genau bestimmt u. unverbrüchl. sichert; verfassungsgeschichtl. e<strong>in</strong> im Ggs. zum Polizeistaatentwickeltes Staatspr<strong>in</strong>zip. Nach dt. Auffassung u. Tradition gehören zur Rechtsstaatlichkeit bes.: Gewaltenteilung,persönl. Grundrechte, Regelung <strong>der</strong> Probleme des soz. Lebens, soweit das möglich ist, nicht erst im E<strong>in</strong>zelfall, son<strong>der</strong>nallg. Regelung <strong>der</strong> typ. staatl. Machtäußerungen durch Gesetze so, daß sie vorausberechenbar werden, grundsätzl.ke<strong>in</strong>e rückwirkenden Gesetze; B<strong>in</strong>dung des Gesetzgebers an se<strong>in</strong>e Gesetze, bis er sie durch neue formelle Gesetzeaufhebt, <strong>der</strong> Gerichtsbarkeit u. <strong>der</strong> Verw. an die Gesetze, Erfor<strong>der</strong>nis gesetzl. Grundlagen für staatl. E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> Eigentumu. Freiheit, justizförmiger Rechtsschutz, Recht auf gesetzl. Richter.* (S. 179f.)79. Schon Aristoteles unterschied allerd<strong>in</strong>gs zwischen drei staatlichen Gewalten bzw. Elementen: dem beratendenElement, den öffentlichen Ämtern und dem richterlichen Element (vgl. <strong>Politik</strong>; S. 233 [1298a]). Er verband mit dieserUnterscheidung aber noch ke<strong>in</strong> explizites Gewaltenteilungsmodell.80. Die damaligen europäischen Königreiche, <strong>in</strong> denen Legislative und Exekutive <strong>in</strong> <strong>der</strong> Person des Herrschers vere<strong>in</strong>igtwaren, bezeichnet Montesquieu denn auch als gemäßigt, wogegen bei den +Türken* und <strong>in</strong> den italienischen Republiken,wo alle drei Gewalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Person bzw. im Senat vere<strong>in</strong>igt waren, e<strong>in</strong> +furchtbarer Despotismus* herrsche (vgl.Vom Geist <strong>der</strong> Gesetze; S. 215ff.).81. Ich konzentriere mich im folgenden hauptsächlich auf Luhmanns Argumentation und gehe daneben nur kurzauf Parsons e<strong>in</strong>. Auch ist es aufgrund des beschränkten Raumes hier nicht möglich, alle Zusammenhänge zwischenRechts- und <strong>Politik</strong>system aus funktionalistischer Sicht darzustellen. E<strong>in</strong>e hilfreiche Übersicht bietet jedoch Axel Görlitz<strong>in</strong> dem Band +Politische Funktionen des Rechts* (1976).82. Luhmann versteht Rechtsnormen zum e<strong>in</strong>en als kongruente Generalisierungen (vgl. Rechtssoziologie; S. 94). Zugleichbildet das Recht aber auch e<strong>in</strong>e Struktur, +die Grenzen und Selektionsweisen des Gesellschaftssystems def<strong>in</strong>iert* (ebd.;S. 134). Dieser funktionalistische Rechtsbegriff weist am ehesten Parallelen zum formal-abstrakten Rechtsbegriff Kantsauf (siehe zurück zu Kap. 1, S. 29ff.; dort können im Anschluß auch Hegels rechtstheoretische Vorstellungen nochmalsnachgelesen werden). Doch selbst das formalistischste objektive Recht ist dazu +verdammt* (wenn es praktisch wirksamwerden will) konkreten Gehalt anzunehmen, sich also <strong>in</strong> subjektiv e<strong>in</strong>klagbaren Rechten zu konkretisieren. Diesesmaterielle Recht kann sich auf den Staat und se<strong>in</strong>e Organe selbst beziehen (öffentliches Recht) o<strong>der</strong> die Angelegenheiten<strong>der</strong> (Staats-)Bürger regeln (privates, bürgerliches Recht). Doch egal ob öffentliches o<strong>der</strong> privates Recht: als gesetztesRecht hat es positiven Charakter, und steht damit potentiell im Konflikt zum +Naturrecht*, das (<strong>in</strong> naturrechtlichenKonzeptionen) als e<strong>in</strong>e Art transzendente Gerechtigkeits<strong>in</strong>stanz über dem positiven Recht +schwebt*. (Vgl zur Rechtssystematikauch Schäfers: Rechtssoziologie; S. 187ff.)83. Auffälligstes Kennzeichen des Rechtsstaats ist für Luhmann die Positivierung des Rechts (vgl. Politische Planung;S. 58). In se<strong>in</strong>er +Rechtssoziologie* (1972) bemerkt er zur Entstehung des positiven Rechts: +Positives Recht entsteht,wenn e<strong>in</strong> Teilsystem <strong>der</strong> Gesellschaft die Entscheidung über das Recht usurpiert und dann das Gesellschaftssystemim ganzen als se<strong>in</strong>e Umwelt […] behandeln kann […] Nicht zufällig also entsteht die Vorstellung e<strong>in</strong>er ›Trennung‹von Staat und Gesellschaft zu <strong>der</strong> Zeit, die das Recht positiviert. Positives Recht ist unvermeidbar politisch ausgewähltes,›staatliches‹ Recht.* (S. 244)84. Luhmann geht nunmehr von <strong>der</strong> autopoietischen Geschlossenheit des Rechtssystems aus, das sich als (juristischer)Kommunikationszusammenhang selbst reproduziert und damit e<strong>in</strong>e rekursive E<strong>in</strong>heit bildet – ohne allerd<strong>in</strong>gs dieMöglichkeit auszuschließen, daß das politische System das Recht +<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Dienst nehmen* kann (vgl. Die E<strong>in</strong>heit


44 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdes Rechtssystems; S. 148ff.). Auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er neuesten Arbeit zum Thema, +Das Recht <strong>der</strong> Gesellschaft* (1993), betontLuhmann die operationelle Geschlossenheit des Rechtssystems (vgl. Kap. 2), das zwar strukturell an das <strong>Politik</strong>systemgekoppelt ist (vgl. ebd.; Kap. 10), jedoch als Funktionssystem von ihm getrennt ist (vgl. ebd.; Kap. 9).85. In dem Aufsatz +Der politische Code* (1974) weist Luhmann allerd<strong>in</strong>gs darauf h<strong>in</strong>, daß im politischen Diskursprimär <strong>der</strong> b<strong>in</strong>äre Code konservativ/progressiv zur Abgrenzung vom politischen Gegner benutzt wird.86. Kehlsen def<strong>in</strong>iert: +Die Re<strong>in</strong>e Rechtslehre ist e<strong>in</strong>e Theorie des positiven Rechts […] Sie versucht, die Frage zubeantworten, was Recht ist, nicht aber die Frage, wie es se<strong>in</strong> o<strong>der</strong> gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft,nicht aber Rechtspolitik.* (Re<strong>in</strong>e Rechtslehre; S. 1)87. Allerd<strong>in</strong>gs läßt sich e<strong>in</strong>e geschichtlich nicht wirksam gewordene reformsozialistische Ausrichtung vom +orthodoxen*Marxismus abgrenzen. In ersterer wird nämlich von <strong>der</strong> Möglichkeit ausgegangen, daß Recht auch e<strong>in</strong> Medium dessozialen Wandels se<strong>in</strong> kann und damit politischen und nicht nur ideologischen Gehalt hat (vgl. Lassalle: Das System<strong>der</strong> erworbenen Rechte; Vorrede).88. Diese rechtstheoretischeBasalerkenntnisgeht natürlich nicht auf Habermas zurück und wird auch von <strong>der</strong> bürgerlichenRechtstheorie kaum bestritten – im Gegenteil: denn so kann <strong>der</strong> liberale Rechtsstaat als +gebändigte* aber notwendigeMacht überhöht werden (vgl. z.B. Geiger: Vorstudien zu e<strong>in</strong>er Soziologie des Rechts; S. 348–352).89. Habermas me<strong>in</strong>t, daß <strong>der</strong> Orientierung an Verständigung <strong>in</strong>tersubjektive, universal gültige Pr<strong>in</strong>zipien bzw. Bed<strong>in</strong>gungenzugrunde liegen (vgl. Was heißt Universalpragmatik?; S. 353), die somit auch die normative Grundlage für se<strong>in</strong> diskursives,deliberatives Demokratiemodell bilden: +Sprecher und Hörer können sich gegenseitig zur Anerkennung von Geltungsansprüchenbewegen, weil <strong>der</strong> Inhalt des Sprecherengagements durch e<strong>in</strong>e spezifische Bezugnahme auf e<strong>in</strong>en thematischhervorgehobenen Geltungsanspruch bestimmt ist, wobei <strong>der</strong> Sprecher mit e<strong>in</strong>em Wahrheitsanspruch Begründungsverpflichtungen,mit e<strong>in</strong>em Richtigkeitsanspruch Rechtfertigungsverpflichtungen, mit e<strong>in</strong>em WahrhaftigkeitsanspruchBewährungsverpflichtungen auf nachprüfbare Weise erfüllt.* (ebd. S. 435f.) Und die grundsätzliche Voraussetzungist natürlich, daß überhaupt verständliche Sätze formuliert werden (vgl. ebd. sowie Fig. 16, S. 440).90. Mit +Praxeologie* ist üblicherweise die Wissenschaft vom (rational-strategischen) (Entscheidungs-)Handeln geme<strong>in</strong>t.Ursprünglich geht <strong>der</strong> Begriff auf Esp<strong>in</strong>as zurück, wie Ludwig von Mises erläutert (siehe auch S. 118), <strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>erhandlungstheoretisch fundierten Wirtschaftstheorie, die Grundlagen <strong>der</strong> +praxeologischen* Wissenschaft erarbeitete(vgl. Nationalökonomie – Theorie des Handelns und des Wirtschaftens; S. 1–9).91. Siehe hierzu e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> Abschnitt 5.3, wo ich me<strong>in</strong> Konzept <strong>der</strong> Deflexion (also <strong>der</strong> +Ablenkung* von Reflexivität)näher erläutern werde.92. Das noch relativ primitive +repressive Recht* war nach Nonet und Selznick <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf die Legitimationpolitischer Macht ausgerichtet und für die Herrschenden re<strong>in</strong> <strong>in</strong>strumentell, da e<strong>in</strong>e Trennung <strong>der</strong> sozialen Sphärennoch nicht entwickelt war (vgl. Law and Society <strong>in</strong> Transition; S. 51f.). Durch die historische Ausbildung e<strong>in</strong>er politisch(relativ) unabhängigen Rechtsphäre bildete sich e<strong>in</strong> +autonomes Recht* heraus, das e<strong>in</strong>e gewisse Eigenständigkeitgegenüber <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> beanspruchte, aber auch zum Formalismus tendierte (vgl. ebd.; S. 57ff.). Dem stellen die beidenamerikanischen Autoren ihr Konzept e<strong>in</strong>es +responsiven Rechts* entgegen, das durch e<strong>in</strong>e sach- und problemorientierteRepolitisierung gekennzeichnet ist (vgl. Selznick/Nonet: Law and Society <strong>in</strong> Transition; S. 104–113).93. E<strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach ungerechtfertigtes Urteil, da Nonet und Selznick schließlich gerade die Bezüge zwischensozial-historischem und rechtlichem Wandel herausstellen.94. Habermas deutet das Konzept des reflexiven Rechts darüber h<strong>in</strong>aus – me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach allerd<strong>in</strong>gs zu Unrecht– alse<strong>in</strong>en Ausdruck von (neoliberalen) Deregulierungsbestrebungen bzw. Entformalisierung (vgl. Faktizität und Geltung;S. 552f.). In dieselbe Richtung weist Nahamowitz (vgl. Kritische Rechtstheorie des ›Organisierten Kapitalismus‹ – E<strong>in</strong>ekonzeptionelle Antwort auf postregulatorische Rechtstheorie). Doch auch Luhmann setzt sich von Teubner ab, <strong>in</strong>demer an dessen Konzept kritisiert, <strong>in</strong> ihm sei <strong>der</strong> Autonomiebegriff nicht konsequent genug auf die autopoietischeGeschlossenheit des Rechtssystems bezogen worden (vgl. E<strong>in</strong>ige Probleme mit ›reflexivem‹ Recht). Teubner bef<strong>in</strong>detsich also sozusagen zwischen den Stühlen <strong>der</strong> Kritischen Theorie und <strong>der</strong> funktionalistischen Systemtheorie.


A: ANMERKUNGEN 4595. Ich b<strong>in</strong> mir <strong>der</strong> Problematik e<strong>in</strong>es solchen +Mißverstehens* bewußt und teile auch grundsätzlich die Bedenkengegen e<strong>in</strong>e systemtheoretische Rechtstheorie, die z.B. Andrés Ollero (speziell <strong>in</strong> bezug auf Luhmann) formuliert hat(vgl. Die technokratische Funktion des Rechts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Systemtheorie von Niklas Luhmann). An<strong>der</strong>erseits steht Teubnerja auch gewissermaßen zwischen Luhmann und Habermas (siehe Anmerkung 94), und selbst die LuhmannscheSystemtheorie be<strong>in</strong>haltet gerade durch ihre streng analytisch-funktionalistische Betrachtungsweise e<strong>in</strong> kritisches Potential,das allerd<strong>in</strong>gs, wenn man <strong>in</strong> ihrem eigenen Rahmen verbleibt, <strong>in</strong>s Gegenteil verkehrt wird. Deshalb ist es begrüßenswert,daß Ingeborg Maus (als dezidiert +kritische* Wissenschaftler<strong>in</strong>) zu e<strong>in</strong>er im Pr<strong>in</strong>zip ähnlichen E<strong>in</strong>schätzung von TeubnersKonzept gelangt, wenn sie formuliert: +E<strong>in</strong>e Entwicklung ›reflexiven‹ Rechts unter demokratischen Vorzeichen stünde<strong>in</strong> genauem Gegensatz zu den gegenwärtig herrschenden Trends […] Die Ausdehnung des Pr<strong>in</strong>zips ›reflexiver Institutionalisierung‹auf gesellschaftliche Normbildungsprozesse enthält entscheidende Modifikationen des LuhmannschenKonzepts.* (Verrechtlichung, Entrechtlichung und <strong>der</strong> Funktionswandel von Institutionen; S. 297f.)96. E<strong>in</strong>e ausführliche Diskussion <strong>der</strong> Frage, ob Recht als autopoietisches System angesehen werden kann – wobeiauch die Unterschiede <strong>der</strong> Sichtweise Teubners und Luhmanns deutlich herausgearbeitet werden –, f<strong>in</strong>det sich beiLadeur (vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Rechtstheorie; S. 155–175).97. Die Bestreitung und Relativierung des <strong>in</strong>strumentellen Charakters des Rechts, wie sie hier auch Teubner betreibt,gehört fundamental zur <strong>in</strong> weiten Teilen idealisierenden Betrachtungsweise des Rechts durch die bürgerliche Rechtstheorie(was Teubner allerd<strong>in</strong>gs nicht vorgeworfen werden kann). So sieht Werner Maihofer das Recht gar als sozial- undideologiekritische Instanz an (vgl. Ideologie und Recht; 33ff.). Diese Betrachtungsweise hat natürlich e<strong>in</strong>e gewisseBerechtigung, <strong>in</strong>dem bestehende Rechtsnormen zum Maßstab <strong>der</strong> Praxis wie <strong>der</strong> weiteren Rechtsentwicklung genommenwerden können. Der Grund dafür liegt jedoch weniger im sozial- und ideologiekritischen Charakter des Rechts selbst,son<strong>der</strong>n hat mit <strong>der</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>es sozial- und ideologiekritischen Umgangs mit Recht zu tun. Die bürgerlicheRechtstheorie macht von dieser Möglichkeit jedoch kaum Gebrauch. So will z.B. Ulrich Penski alles an<strong>der</strong>e im Rechtsehen, nur ke<strong>in</strong> Mittel von <strong>Politik</strong>: Denn Recht als +geronnene <strong>Politik</strong>* ist für ihn primär Inhalt, Gegenstand, Ziel und(wie bei Maihofer) Maßstab von <strong>Politik</strong> (vgl. Recht als Mittel von <strong>Politik</strong>; S. 39ff. sowie sehr ähnlich dazu auch Grimm:Recht und <strong>Politik</strong>; S. 501–505). Darüber h<strong>in</strong>aus fungiert es se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach als S<strong>in</strong>nmittler wie als Kommunikationsmedium<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>, bildet aber trotzdem e<strong>in</strong>e (eigenständige) gesellschaftliche Struktur (vgl. Recht als Mittel von <strong>Politik</strong>;S. 43f.) – womit sich <strong>der</strong> autopoietische Begründungszirkel sozusagen geschlossen hat.98. Welch immanent politischen Charakter das Recht auch auf konkreter Ebene hat, kann hier lei<strong>der</strong> nicht (ausführlich)dargestellt werden. Ich möchte deshalb beson<strong>der</strong>s auf die diversen Beiträge hierzu <strong>in</strong> dem von David Kairrys herausgegebenenBand +The Politics of Law* (1982) verweisen.99. Rüdiger Voigt weist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf e<strong>in</strong>e TV-Äußerung des damaligen Bundeskanzlers Schmidtvom Herbst1978 h<strong>in</strong>, <strong>der</strong>angesichtse<strong>in</strong>igerdieRegierungspolitik konterkarierenden UrteiledesBundesverfassungsgerichtsvon e<strong>in</strong>er +Notwendigkeit <strong>der</strong> Selbstbeschränkung* gesprochen hatte (vgl. Politische Funktionen von Gerichten; S.225). Ähnliche, ja sogar weit schärfere Töne waren auch <strong>in</strong> letzter Zeit seitens e<strong>in</strong>iger konservativer <strong>Politik</strong>er zu hören,denen zum Beispiel die liberale Rechtsprechung des BVG im sog. +Kruzifix-Urteil* mißfiel (das Gericht stellte klar,daß e<strong>in</strong> im Klassenraum e<strong>in</strong>er öffentlichen Schule angebrachtes Kruzifix auf Wunsch abgenommen werden muß,wenn sich jemand durch das Kreuz gestört fühlt).100. Niklas Luhmann me<strong>in</strong>t sogar, daß die richterliche +Kreativität* weit über bloße Gesetzes<strong>in</strong>terpretation h<strong>in</strong>ausgeht.F<strong>in</strong>den Richter ke<strong>in</strong>e +passenden* Gesetze vor, so +erf<strong>in</strong>den* sie selbst allgeme<strong>in</strong>e Pr<strong>in</strong>zipien für ihre Urteilsf<strong>in</strong>dung(vgl. Rechtssoziologie; S. 234f.).101. Zusätzlich weist Hagen auch darauf h<strong>in</strong>, daß durch den sozialen Individualisierungsprozeß gewissermaßen auche<strong>in</strong>e +Individualisierung des Rechts* stattgefunden hat, die <strong>in</strong> Kollision mit dem egalitären Anspruch des Rechts undse<strong>in</strong>er Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit gerät (vgl. Politisierung des Rechts; S. 20).102. Dieses juristische Rollenselbstverständnis (siehe hierzu auch Anmerkung 105 und vgl. <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Treiber:Juristische Lebensläufe; S. 26f. sowie Werle: Justizorganisation und Selbstverständnis <strong>der</strong> Richter; Abschnitt 5.1) istauch gesetzlich fixiert. Im Grundgesetz heißt es zwar: +Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut.*(Art. 92). Dabei s<strong>in</strong>d diese allerd<strong>in</strong>gs, wie die Exekutive, streng +an Gesetz und Recht gebunden* (ebd., Art. 20) undnur <strong>in</strong> diesem Rahmen unabhängig (vgl. ebd., Art. 97). Im Deutschen Richtergesetz heißt es sogar weitergehend:+Der Richter hat sich <strong>in</strong>nerhalb und außerhalb se<strong>in</strong>es Amtes, auch bei politischer Betätigung, so zu verhalten, daßdas Vertrauen [!] <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Unabhängigkeit nicht gefährdet ist.* (§ 39)


46 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE103. E<strong>in</strong> Beispiel ist hier e<strong>in</strong> Urteil vom 6.3.1991 des Oberlandesgerichts Saarbrücken, das sich auf den Standpunktstellte, +daß § 569 a Abs. 2 BGB, wonach Familienangehörige unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Todedes Mieters <strong>in</strong> das Mietsverhältnis e<strong>in</strong>träten, auf die Partner<strong>in</strong> (den Partner) e<strong>in</strong>er nichtehelichen Lebensgeme<strong>in</strong>schaftanwendbar sei* (Schuhmann: Die nichteheliche Lebensgeme<strong>in</strong>schaft; S. 63). Insgesamt gesehen gilt jedoch noch immer,daß +die Gerichte tendenziell stets zum Nachteil <strong>der</strong> nichtehelichen Lebensgeme<strong>in</strong>schaft entscheiden: Dort, wo dienichtehelichen Lebensgeme<strong>in</strong>schaften gegenüber <strong>der</strong> Ehe Vorteile brächten, z.B. bei <strong>der</strong> Sozialhilfe o<strong>der</strong> beim Bafög,werden ihre Ansprüche an die <strong>der</strong> Eheleute angepaßt […] Umgekehrt gilt für den Fall, daß die Ehegatten im Vorteils<strong>in</strong>d, z.B. beim Steuersplitt<strong>in</strong>g, daß dieser nicht an nichteheliche Lebensgeme<strong>in</strong>schaften weitergegeben wird.* (Thieler:Lebensgeme<strong>in</strong>schaft ohne Trausche<strong>in</strong>; S. 15f.)104. In Art. 6, Abs. 1 GG heißt es: +Ehe und Familie stehen unter dem beson<strong>der</strong>en Schutze <strong>der</strong> staatlichen Ordnung.*105. Treiber zeigt anhand e<strong>in</strong>er Reihe von (demonstrativen) Äußerungen (Nachrufe, Laudationen) aus Juristenkreisenauf, daß es ganz fundamental zur juristischen Rolle gehört, sich als Bewahrer <strong>der</strong> (Rechts-)Ordnung zu präsentieren,also e<strong>in</strong> stabilisierendes Moment darzustellen – was ganz wörtlich genommen werden kann (vgl. Juristische Lebensläufe;S. 35ff.). Diese explizit konservative Rolle <strong>der</strong> Juristen traf sich lange Zeit mit ihrer überwiegenden Herkunft aus <strong>der</strong>konservativen Elite (vgl. hierzu auch Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie <strong>in</strong> Deutschland; S. 267f.). Erst im Zuge<strong>der</strong> Bildungsexpansion und durch das Nachrücken <strong>der</strong> Protestgeneration von 1968 hat sich dieses Bild etwas modifiziert(vgl. Rasehorn: Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt; S. 71ff.). Nur: Die Rechtsprechung f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emprägenden organisatorischen Rahmen statt (vgl. hierzu auch Werle: Justizorganisation und Selbstverständnis <strong>der</strong> Richter;S. 335ff.), <strong>der</strong> die konkrete Klassenjustiz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>stitutionalisierte Klassenjustiz überführt hat, d.h. die Institution Recht/Justizals solche ist Ausdruck e<strong>in</strong>es sozialen Herrschaftszusammenhangs – o<strong>der</strong> mit den Worten von Rottleuthner ausgedrückt:+Die [angeblich] ›wertneutrale Subsumption‹ [des Richters] erweist sich als Abwehrstrategie gegen e<strong>in</strong>e historischeAuslegung […] Indem <strong>der</strong> Richter diese verdrängt […] stellt er sich objektiv auf den Standpunkt des Obrigkeitsstaats[…]* (Klassenjustiz; S. 23)106. E<strong>in</strong>e detaillierte Auflistung gibt das BVerfGG (§ 13).107. Verfassungsrichter müssen m<strong>in</strong>destens 40 Jahre alt se<strong>in</strong> und die Befähigung zum Richteramt nach dem DeutschenRichtergesetz besitzen (vgl. BVerfGG; § 3). Drei <strong>der</strong> Richter jedes Senats müssen vor ihrer Wahl Richter <strong>der</strong> oberstenGerichtshöfe des Bundes vor gewesen se<strong>in</strong> (vgl. ebd.; § 2).108. Die Senate haben unterschiedliche Aufgabenschwerpunkte (vgl. BVerfGG; § 14)109. Vgl. dessen Schrift +Verfassungspatriotismus* (1982).110. Das Gericht me<strong>in</strong>te, wie dargelegt, daß e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Mehrheit durch e<strong>in</strong>en +konstitutionellen* Beschluß <strong>in</strong>dieser Frage ausreichen sollte. Hätte es e<strong>in</strong>e absolute Mehrheit gefor<strong>der</strong>t, so wäre die Abstimmung aufgrund <strong>der</strong> knappenMehrheit <strong>der</strong> christlich-liberalen Koalition zu e<strong>in</strong>er Zitterpartie geworden.111. Vor allem <strong>in</strong> den USA wurde e<strong>in</strong>e parallele Debatte geführt, doch möchte ich auf diesen Strang <strong>der</strong> Diskussion,um das Feld e<strong>in</strong>igermaßen überschaubar zu halten, nicht näher e<strong>in</strong>gehen. Was die Frage <strong>der</strong> +Deregulierung* (unde<strong>in</strong>e durch sie erfolgte Autonomisierung ) betrifft, die e<strong>in</strong>en wichtigen strukturellen Wandlungsprozeß im Rechtssystemdarstellen könnte, so denke ich, daß obschon solche Bestrebungen <strong>in</strong> bestimmten Bereichen – etwa was die sozialeAbsicherung betrifft – erkennbar s<strong>in</strong>d (siehe unten), <strong>in</strong>sgesamt aber immer noch die gegenläufige Tendenz (nämlichzu e<strong>in</strong>er Ausweitung <strong>der</strong> Regulierung) festzustellen ist (siehe hierzu auch Abschnitt 3.2).112. Als Beispiele nennt er u.a. die sozialen For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Demokratie sowie das juristische Standesdenken.113. Nach <strong>der</strong> für das deutsche bürgerliche Denken typischen Auffassung von Leibholz ist das Politische etwas +Dynamisch-Irrationales*, +während umgekehrt das Recht se<strong>in</strong>er grundsätzlichen Wesensstruktur nach immer etwas Statisch-Rationalesist, das die vitalen politischen Kräfte zu bändigen sucht.* (Zitiert nach Grimm: Recht und <strong>Politik</strong>; S. 501)114. Ich beziehe mich hier selbstverständlich nur auf das proletarische Selbstverständnis und Bewußtse<strong>in</strong> (nicht die+objektive* Klassenlage). Zudem gilt diese Feststellung nur für +fortgeschrittene*, post<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaften undist historisch reversibel, d.h. es kann (aufgrund <strong>der</strong> fortbestehenden +objektiven* Klassenverhältnisse) je<strong>der</strong>zeit zum


A: ANMERKUNGEN 47+Wie<strong>der</strong>ersche<strong>in</strong>en* des Proletariats kommen. Interessant ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang die Theorie <strong>der</strong> +Klassenstrukturierung*von Giddens. Der Strukturierungsansatz versucht, die dichotome Gegenüberstellung von KlassenundSchichtungstheorien zu durchbrechen, <strong>in</strong>dem (<strong>in</strong> Anlehnung an Weber) neben <strong>der</strong> bloßen Stellung imProduktionsprozeß die Marktkapazität (z.B. e<strong>in</strong> produktionsrelevantes +know how*) zur sozialen Positionsbestimmungh<strong>in</strong>zugenommen wird – womit auch die für die Stabilität des Systems konstitutiven Mittellagen erklärbar werden.Ferner unterscheidet Giddens zwischen (politischem) Klassenbewußtse<strong>in</strong> (+class consciousness*) und <strong>der</strong> unpolitischenKlassenbewußtheit (+class awareness*), die sich eher auf die Lebensstildimension bezieht. Unter den gegebenen(spätmo<strong>der</strong>nen) Bed<strong>in</strong>gungen fortgeschrittener Industriegesellschaften ist nun e<strong>in</strong> politisches (revolutionäres)Klassenbewußtse<strong>in</strong> nicht zu erwarten, das historisch eigentlich nur immer dann auftrat, wenn e<strong>in</strong>e +rückständige*agrarische Ordnung mit <strong>der</strong> Dynamik fortgeschrittener Technik zusammenprallte (vgl. Die Klassenstruktur fortgeschrittenerGesellschaften; Kap. 6). Allerd<strong>in</strong>gs ist es nach Giddens sehr wohl möglich, daß e<strong>in</strong>e Revitalisierung +radikaler* <strong>Politik</strong>auf an<strong>der</strong>er, lebenspolitischer Ebene stattf<strong>in</strong>det, da die fortschreitende Globalisierung, die Auflösung <strong>der</strong> traditionalenLebenszusammenhänge <strong>der</strong> Industriegesellschaft und das <strong>in</strong> ihr erzeugte Risikopotential dafür günstige Voraussetzungenschaffen (vgl. Beyond Left and Right und siehe nochmals Anmerkung 147, Kapitel 1).115. Heute wird dagegen den Bereichen Bildung, Soziales und Gesundheit (sowie e<strong>in</strong>igen an<strong>der</strong>en) überproportionalgroße gesetzgeberische Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Müller: Gesetzgebung im historischen Vergleich; S. 145). Diesverweist, so me<strong>in</strong>e ich, auf den oben angesprochenen qualitativen bzw. funktionalen Wandel des Rechts zu e<strong>in</strong>emMittel nicht nur <strong>der</strong> sozialen Kontrolle, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> sozialen Steuerung – doch dazu im folgenden mehr (siehe<strong>in</strong>sb. S. 117).116. 1878–82 machte hiernach <strong>der</strong> Anteil +neuer* Gesetze 79% aus (Verordnungen: 75,4%); 1978–82 lag dieserAnteil dagegen nur bei 10,2% (28,4%).117. Die von Müller herausgefundene Dom<strong>in</strong>anz <strong>der</strong> +Än<strong>der</strong>ungsgesetze* (siehe Anmerkung 116) spricht jedocheher gegen letzteres.118. Der hier als Beleg zitierte Text ist zwar (wie auch die an<strong>der</strong>en im folgenden angeführten Texte) <strong>in</strong> <strong>der</strong> von mirverwendeten Ausgabe von Webers Opus Magnum +Wirtschaft und Gesellschaft* enthalten. Er ist aber ke<strong>in</strong> Orig<strong>in</strong>albestandteil,son<strong>der</strong>n ist vielmehr e<strong>in</strong>e nachträglich h<strong>in</strong>zugefügte Montage aus verschiedenen Aufsätzen Webers.119. Es handelt sich also tatsächlich nur um die For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>er segmentären Deregulierung.120. Der volle Titel des zitierten Aufsatzes von Meyers lautet +Grundbegriffe, Strukturen und theoretische Perspektiven<strong>der</strong> Internationalen Beziehungen*.121. Zeuner weist freilich auf den Unterschied zwischen e<strong>in</strong>er kritischen Orientierung an weiterer Demokratisierungund dem konservativen Interesse an e<strong>in</strong>em Beharren auf den gegebenen Strukturen parlamentarisch-repräsentativerDemokratie h<strong>in</strong>.122. In <strong>der</strong> Regel wird zwischen Wissenschaft, Technologie und Technik so differenziert, daß mit Technik (vomgriechischen Begriff +téchn2e*: Kunst[fertigkeit] abgeleitet) die konkrete Anwendung von Wissenschaft bzw. <strong>der</strong> technischeApparat selbst bezeichnet wird, während sich <strong>der</strong> Begriff Technologie eher auf +Anwendungssysteme* und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>edas Wissen um <strong>der</strong>en Steuerung bezieht (so z.B. Alemann: Grundbegriffe und Entwicklungsstufen <strong>der</strong> Technikgesellschaft;S. 12ff.). Der Technologiebegriff würde demgemäß e<strong>in</strong>e Art Zwischenkategorie darstellen. Ich halte mich im folgendenjedoch nicht an diese Unterscheidung, son<strong>der</strong>n gebrauche die Begriffe Technik und Technologie weitgehend als Synonymeo<strong>der</strong> unterscheide <strong>in</strong>tuitiv, welcher mir geeigneter ersche<strong>in</strong>t.123. Marx weist jedoch darauf h<strong>in</strong>, daß dies nur begrenzt möglich ist. Er arbeitet nämlich heraus, daß die Steigerungdes relativen Mehrwerts durch Masch<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>satz nur so lange möglich ist, wie <strong>der</strong> Betrieb e<strong>in</strong>en Produktivitätsvorsprunggegenüber Konkurrenten besitzt (vgl. Kapital; Kap. 13, Abschnitt II u. III).124. Diese Technikgläubigkeit und die Konzentration auf die Produktivkräfte (die auch eschatologische Elementeaufweist) ist e<strong>in</strong> wesentlicher Kritikpunkt Ernst Blochs an Marx (vgl. Geist <strong>der</strong> Utopie; S. 322ff.).


48 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE125. Dort heißt es unter an<strong>der</strong>em: +Die Bourgeoisie hat <strong>in</strong> ihrer kaum hun<strong>der</strong>tjährigen Klassenherrschaft massenhaftereundkolossalereProduktionskräftegeschaffenalsallevergangenenGenerationenzusammen.Unterjochung<strong>der</strong>Naturkräfte,Masch<strong>in</strong>erie, Anwendung <strong>der</strong> Chemie und Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen,Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung <strong>der</strong> Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen– welches frühere Jahrhun<strong>der</strong>t ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß <strong>der</strong> gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.*Allerd<strong>in</strong>gs ist festzuhalten, daß auch e<strong>in</strong>e gewisse Ambivalenz gegenüber dem wissenschaftlich-technischen +Fortschritt*gegeben ist, wenn z.B. Engels bemerkt: +Wir haben <strong>in</strong> den fortgeschrittendsten Industrielän<strong>der</strong>n die Naturkräfte gebändigtund <strong>in</strong> den Dienst <strong>der</strong> Menschen gepreßt; wir haben damit die Produktion <strong>in</strong>s Unendliche vervielfacht […] Und wasist die Folge? Steigende Überarbeit und steigendes Elend <strong>der</strong> Massen […]* (Dialektik <strong>der</strong> Natur; E<strong>in</strong>leitung)126. Ich möchte +Rationalität* an dieser Stelle als bewußtes und pr<strong>in</strong>zipiengeleitetes Denken def<strong>in</strong>ieren. Damit istauch klar, daß unterschiedliche Pr<strong>in</strong>zipien zum Bezugspunkt des Denkens genommen werden können, weshalb esverschiedeneFormen und Ausprägungen von Rationalität gibt. Soziale Rationalität, als e<strong>in</strong>e postulierbare Rationalitätsform,orientiert sich an sozialen Pr<strong>in</strong>zipien, was, je nach Kontext, e<strong>in</strong>e Orientierung am Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Solidarität o<strong>der</strong> aucham Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Konkurrenz bedeuten kann. Ökonomische Rationalität, als weiteres Beispiel, kann sich am Pr<strong>in</strong>zip<strong>der</strong> Gew<strong>in</strong>nmaximierung o<strong>der</strong> am Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> optimalen Güterverteilung orientieren etc.127. Zum naturwissenschaftlich <strong>in</strong>spirierten Rationalitätsparadigma <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne siehe auch S. XIVf.128. E<strong>in</strong> Zitat vermag diese Auffassung zu verdeutlichen: +Heute besteht fast allgeme<strong>in</strong>e Übere<strong>in</strong>stimmung darüber,daß die Gesellschaft durch den Nie<strong>der</strong>gang des philosophischen Denkens nichts verloren hat, weil e<strong>in</strong> mächtigeresErkenntnis<strong>in</strong>strument an se<strong>in</strong>e Stelle getreten ist: das mo<strong>der</strong>ne wissenschaftliche Denken. Oft wird gesagt, daß alldie Probleme, die die Philosophie zu lösen versucht hat, entwe<strong>der</strong> bedeutungslos s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> durch mo<strong>der</strong>ne experimentelleMethoden gelöst werden können […] E<strong>in</strong>e solche Tendenz zur Hypostasierung <strong>der</strong> Wissenschaft charakterisiert alleSchulen, die heute positivistisch genannt werden […] Nach den Positivisten brauchen wir nur genügend Vertrauenzur Wissenschaft […] Ist dem wirklich so? Der objektive Fortschritt <strong>der</strong> Wissenschaft, und ihre Anwendung, die Technik,rechtfertigen die geläufige Vorstellung nicht, daß die Wissenschaft nur dann zerstörerisch ist, wenn sie pervertiertwird […] Die Positivisten sche<strong>in</strong>en zu vergessen, daß die Naturwissenschaft, wie sie von ihnen verstanden wird, vorallem e<strong>in</strong> zusätzliches Produktionsmittel ist […]* (Horkheimer: Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft; S. 63)129. Das Zitat stammt ursprünglich aus dem Aufsatz +Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers*, <strong>der</strong>im zweiten Band von +Kultur und Gesellschaft* (1965) veröffentlicht wurde. Ich habe mich <strong>in</strong> diesem Fall für e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>direkte Zitierung entschieden, da <strong>der</strong> Text von Habermas sicherlich e<strong>in</strong>e weitere Verbreitung aufweist.130. Auch dieses zweite Zitat ist <strong>in</strong> dem Text von Habermas wie<strong>der</strong>gegeben. Da es allerd<strong>in</strong>gs aus <strong>der</strong> bekanntenSchrift +Der e<strong>in</strong>dimensionale Mensch* (1964) stammt, habe ich hier die Orig<strong>in</strong>alquelle im Haupttext genannt.131. Dieses Argument gilt umso mehr unter den gewandelten Rahmenbed<strong>in</strong>gungen globalisierter Märkte. Georg Simonishat deshalb die zunehmende Bedeutung <strong>der</strong> Wissenschaft als strategische Produktivkraft herausgearbeitet (vgl. Technik<strong>in</strong>novationim ökonomischen Konkurrenzsystem; S. 43.). Se<strong>in</strong> Zahlenmaterial belegt auch, daß <strong>der</strong> Umfang <strong>der</strong> staatlichen(5%) und universitären Forschung (15%) gegenüber <strong>der</strong> Forschung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Industrie (70%) stark zurückgetreten ist (vgl.ebd.; S. 44f.). Er spricht deshalb von e<strong>in</strong>er Industrialisierung <strong>der</strong> Forschung (vgl. ebd.; S. 48ff. und siehe auch Tabelle9, S. 149), die e<strong>in</strong>her geht mit e<strong>in</strong>er Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> Produktion (vgl. ebd.; S. 53ff.).132. E<strong>in</strong>e forschungspraktische Weiterführung des (wissenschafts)kritischen Projekts <strong>der</strong> +Frankfurter Schule* bestehtallerd<strong>in</strong>gs durch das Frankfurter Institut für sozial-ökologische Forschung, das sich (wie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Forschungstextennachzulesen ist) <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong> +gesellschaftlichen Naturverhältnisse* verschrieben hat.133. Bachelard hat 1938 <strong>in</strong> +Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes* (La formation de l’esprit scientifique) e<strong>in</strong>ehistorische und psychoanalytische Betrachtung <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> (empirischen) Wissenschaft vorgelegt, die diepsychologischundkognitivbed<strong>in</strong>gten Hemmnissewissenschaftlichen Fortschritts herausarbeitet und dabei dieDiskont<strong>in</strong>uitätwissenschaftlicher Erkenntnis herausstellt. Um die vielfältigen Hemmnisse zu überw<strong>in</strong>den, muß nämlich e<strong>in</strong>evollständige Umwälzung des Denksystems erfolgen: +Der kluge Kopf muß umgemodelt werden. Er erfährt e<strong>in</strong>en Artwechsel[…] Durch die geistigen Revolutionen, die die wissenschaftlichen Erf<strong>in</strong>dungen notwendig machen, wird <strong>der</strong> Menschzu e<strong>in</strong>er mutierenden Art.* (S. 49) Er muß sich laut Bachelard von <strong>der</strong> naiv-bildlichen Anschauung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge lösen,se<strong>in</strong> ganzes Denken, sogar se<strong>in</strong>e Sprache an die Erfor<strong>der</strong>nisse <strong>der</strong> Wissenschaft anpassen.


A: ANMERKUNGEN 49134. Vgl. hierzu se<strong>in</strong>en Aufsatz +Die Mo<strong>der</strong>ne redigieren* (1988).135. Zu Kuhns Thesen über +Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen* (1962) siehe Anmerkung 78 (E<strong>in</strong>leitung).136. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>drückliches Beispiel für persönliche Betroffenheit durch die Festlegung auf e<strong>in</strong>e bestimmte Technologiegibt Susan Leigh Star, die darstellt, wie ihre Zwiebelallergie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schnellrestaurantkette +McDonald’s* zu e<strong>in</strong>enregelrechten +Handicap* wird, d.h. ihr Wunsch nach e<strong>in</strong>em Hamburger ohne Zwiebeln äußert sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er für diesenRestauranttyp untypisch langen Wartezeit – und zwar aufgrund <strong>der</strong> technologischen Struktur des Restaurants, dassich auf e<strong>in</strong>e bestimmte Art <strong>der</strong> Hamburgerzubereitung festgelegt hat und damit praktisch e<strong>in</strong>en Ausschluß z.B. vonZwiebelallergikern bewirkt. (Vgl. Power, Technology and the Phenomenology of Conventions – On Be<strong>in</strong>g Allergic toOnions)137. Bei dieser Auswahl und wie auch bei den schon dargestellten Ansätzen handelt es sich selbstverständlich nichtum e<strong>in</strong>en vollständigen Überblick. Auch e<strong>in</strong>e Reihe +wichtiger* Ansätze (etwa die Mertons o<strong>der</strong> Polanyis) wurdenausgespart, da sie mir für die weitere Diskussion nicht fruchtbar schienen.138. Im Orig<strong>in</strong>al steht <strong>der</strong> Begriff +radical <strong>in</strong>vention*, was also eigentlich mit +radikale Erf<strong>in</strong>dung* zu übersetzen wäre.Mir ersche<strong>in</strong>t jedoch <strong>der</strong> Begriff +Innovation* <strong>in</strong> diesem Zusammenhang passen<strong>der</strong>.139. Das Beispiel Edison wird <strong>in</strong> dem Band +Networks of Power* (1988) ausführlich behandelt (vgl. <strong>in</strong>sb. Kap. 2).140. Es ergeben sich somit für Hughes <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> +Evolution* von technischen Großsystemen die Phasen: +<strong>in</strong>vention,development, <strong>in</strong>novation, transfer, and growth, competition, and consolidation* (The Evolution of Large TechnologicalSystems; S. 56).141. Das Interesse an e<strong>in</strong>er Integration von Mikro- und Makrosoziologie ist erst <strong>in</strong> den letzten zwei Jahrzehnten <strong>in</strong>den Vor<strong>der</strong>grund gerückt. E<strong>in</strong>e Reihe von verschiedenen Ansätzen dazu f<strong>in</strong>det sich beispielsweise <strong>in</strong> dem von Knorr-Cet<strong>in</strong>aund Cicourel herausgegebenen Band +Advances <strong>in</strong> Social Theory and Methodology – Toward An Integration of MicroandMacro-Sociologies* (1981). Cicourel betont hierbei: +The study of micro-events is an essential part of all macrostatements*(Notes on the Integration of Micro- and Macro-Levels of Analysis; S. 79). In ähnlicher Weise verfolgt RandallColl<strong>in</strong>s (nicht identisch mit dem im Text weiter unten von mir zitierten Coll<strong>in</strong>s) e<strong>in</strong>e Strategie <strong>der</strong> Theorie-Bildungdurch Mikro-Übersetzung (vgl. Micro-Translation as a Theory-Build<strong>in</strong>g Strategy).142. E<strong>in</strong> modellhaftes Beispiel, wie diese dritte Stufe se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach umgesetzt werden sollte, gibt Coll<strong>in</strong>s <strong>in</strong>dem Aufsatz +An Empirical Relativist Programme <strong>in</strong> the Sociology of Scientific Knowledge* (1983). Zur Erläuterung greifter hier auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> den 70er Jahren abgelaufene Kontroverse <strong>in</strong> <strong>der</strong> Physik über die Existenz von Gravitationswellenzurück, mit <strong>der</strong> er sich schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat (vgl. z.B. Son of Seven Sexes). Die Gegner<strong>der</strong> Gravitationswellentheorie haben sich <strong>in</strong> dieser Debatte durchsetzen können. Dies wurde von e<strong>in</strong>igen Beobachtern(an<strong>der</strong>s als ursprünglich von Coll<strong>in</strong>s) darauf zurückgeführt, daß sie im Gegensatz zur an<strong>der</strong>en Seite reichlich mit Ressourcenund Zugängen zur Öffentlichkeit ausgestattet waren, da sie von <strong>der</strong> Industrie unterstützt wurden. Nach Coll<strong>in</strong>s, <strong>der</strong>diese Kritik aufgreift, darf die Analyse hier jedoch nicht stehen bleiben, son<strong>der</strong>n es muß gezeigt werden, warum dieIndustrie gerade jene Seite unterstützte, die gegen die Gravitationswellentheorie e<strong>in</strong>gestellt war. Die Erklärung vonColl<strong>in</strong>s lautet: Hätte man die Existenz von Gravitationswellen angenommen, so hätte dies chaotische Zustände <strong>in</strong><strong>der</strong> Wissenschaft und im mit ihr verbundenen <strong>in</strong>dustriellen Sektor bedeutet. Deshalb unterstützte die Industrie diekonservative Auslegung, die nicht von <strong>der</strong> Existenz von Gravitationswellen ausg<strong>in</strong>g (vgl. An Empirical Relativist Programme<strong>in</strong> the Sociology of Scientific Knowledge; S. 96f.). Auch diese (recht knapp gehaltenen) Ausführungen von Coll<strong>in</strong>s könnenme<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach jedoch nicht befriedigen, denn alle<strong>in</strong>e die Kapital-Interessen geschuldete <strong>in</strong>direkte Unterstützungbzw. Nicht-Unterstützung durch die Industrie ist e<strong>in</strong>e recht dürftige makrostrukturelle Erklärung. An<strong>der</strong>e makrostrukturelleFaktoren (wie z.B. Aufbau, Hierarchie und Regeln im Wissenschaftssystem etc.) hatten sicher auch E<strong>in</strong>fluß.143. Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Techniksoziologie machen sich <strong>in</strong> den letzten Jahren verstärkt sozialkonstruktivistischeAnsätze breit, allerd<strong>in</strong>gs hier zumeist <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit <strong>der</strong> sozialevolutionären Vorstellung von <strong>der</strong> technischen Entwicklungals e<strong>in</strong>em (<strong>in</strong>stitutionell gesteuerten) evolutionären Selektionsprozeß (weshalb auch e<strong>in</strong>e stärkere Makro-Orientierung gegeben ist). E<strong>in</strong>e ganze Palette von Beispielen für diese Variante sozialkonstruktivistischer Techniksoziologief<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> dem von Werner Rammert und Gotthard Bechmann herausgegebenen Band Nr. 7 (+Konstruktion undEvolution von Technik*) <strong>der</strong> Reihe +Technik und Gesellschaft*.


50 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE144. John Law spricht deshalb von STS: Science, Technology and Society. (Vgl. Monsters, Mach<strong>in</strong>es and SociotechnicalRelations; S. 2f.)145. In e<strong>in</strong>em Interview, das er <strong>der</strong> +Zeit* (Ausgabe vom 23.5.1997) gegeben hat, bemerkt Baudrillard übrigens sehran Latours Thesen er<strong>in</strong>nernd: +Das gute alte klassische Subjekt ist zugunsten des Netzes, das über wirkliche Autonomieverfügt, verschwunden. Man könnte auch sagen, daß das Subjekt zugunsten e<strong>in</strong>es neuen Individuums verschwundenist, das extrem technisiert und operationell geworden ist.* (S. 40)146. Hier heißt es: +We are all chimeras, theorized and fabricated hybrids of mach<strong>in</strong>e and organism; <strong>in</strong> short, weare cyborgs* (S. 150). Diese Hybridisierung wird von Haraway (im Gegensatz zu Baudrillard) begrüßt: +The cyborgis resolutely committed to partiality, irony, <strong>in</strong>timacy, and perversity. It is oppositional, utopian, and completely without<strong>in</strong>nocence* (ebd.; S. 151). +Cyborg imagery can help express two crucial arguments <strong>in</strong> this essay: first, the productionof universal, totaliz<strong>in</strong>g theory is a major mistake that misses most of reality […], and second, tak<strong>in</strong>g responsibility forthe social relations of science and technology means refus<strong>in</strong>g an anti-science metaphysics, a demonology of technology,and so means embrac<strong>in</strong>g the skilful task of reconstruct<strong>in</strong>g the boundaries of daily life, <strong>in</strong> partial connection with others,<strong>in</strong> communication with all of our parts.* (Ebd.; S. 181)147. Vom Sozialkonstruktivismus, wie ihn Harry Coll<strong>in</strong>s und se<strong>in</strong>e Kollegen vertreten, haben sich Callon und Latouraber explizit und sehr polemisch abgesetzt (vgl. Don’t Throw the Baby out with the Bath School!). Dieser ist für sie<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gegenüberstellung von Naturpol und Sozialpol steckengeblieben. Demgegenüber favorisieren Callon undLatour ihre Theorie <strong>der</strong> hybriden Akteur-Netzwerke.148. Callon betont, wie auch Law und Latour, daß er nicht nur Personen als mögliche Akteure verstanden wissenwill, son<strong>der</strong>n daß es auch nicht-humane Akteure gibt. Da er jedoch, wie angemerkt, +Autorenschaft* zum Kriteriumfür den Akteursstatus macht, ist es me<strong>in</strong>es Erachtens zum<strong>in</strong>dest zweifelhaft, <strong>in</strong>wieweit man z.B. e<strong>in</strong>e Stanzmasch<strong>in</strong>eo<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Aktie tatsächlich als Akteur bzw. Autor ansehen kann.149. In e<strong>in</strong>er früheren Arbeit def<strong>in</strong>ieren Callon und Law: +We def<strong>in</strong>e translation as a process <strong>in</strong> which sets of relationsbetween projects, <strong>in</strong>terests, goals, and naturally occurr<strong>in</strong>g entities […] are proposed and brought <strong>in</strong>to be<strong>in</strong>g.* (Onthe Construction of Sociotechnical Networks; S. 59)150. Als Beispiel dient hier die +Electricité de France* und das von ihr propagierte Elektroauto. Ausführlicher wirddasselbe Beispiel durch Callon übrigens <strong>in</strong> dem Artikel +The Sociology of an Actor-Network: The Case of the ElectricVehicle* (1986) erläutert.151. Vgl. hierzu vor allem die Ausführungen von We<strong>in</strong>gart: ›Großtechnische Systeme‹ – E<strong>in</strong> Paradigma <strong>der</strong> Verknüpfungvon Technikentwicklung und sozialem Wandel?152. Es handelt sich hier um e<strong>in</strong>e vom Pariser +Institut Pasteur* herausgegebene Veröffentlichung anläßlich des 100.Todestages von Louis Pasteur, die neben dem Text Latours zahlreiche Abbildungen enthält – deshalb me<strong>in</strong>e Charakterisierungals +Bildband*. Latour stellt hier schon <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er dem Text vorangestellten +Warnung* klar, daß es ihm nichtnoch e<strong>in</strong>mal darum geht, die heroischen Momente im Leben Pasteurs nachzuzeichnen. Vielmehr betrachtet er diePerson Pasteurs als (charakteristische) Wi<strong>der</strong>spiegelung e<strong>in</strong>es Jahrhun<strong>der</strong>ts, das sich <strong>der</strong> Wissenschaft verschriebenhatte. Allerd<strong>in</strong>gs ist schon die Tatsache, daß er ausgerechnet über den +großen Pasteur* schreibt im genannten S<strong>in</strong>nzu kritisieren. Diese Fixierung auf erfolgreiche +Macher* und Technologien ist vielfach kritisiert worden und beruhtwohl <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf Latours +Liebe* zu allem Technischen. Demgegenüber kann jedoch relativierend e<strong>in</strong>gewendetwerden, daß Latour sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er jüngeren Arbeit – mit gleicher H<strong>in</strong>gabe – auch mit e<strong>in</strong>er gescheiterten Technologie(dem automatischen Transportsystem +Aramis*) ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat (vgl. Aramis or the Love of Technology).153. Giddens spricht deshalb auch von <strong>der</strong> Dualität von Strukturen, die e<strong>in</strong>erseits begrenzend wirken, an<strong>der</strong>erseitsaber auch Handlungsmöglichkeiten eröffnen (vgl. Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 77f.).154. Im +eigentlichen* Konstruktivismus bzw. radikalen Konstruktivismus, <strong>der</strong> sich mit den Namen Varela, Maturana,Foerster und Glasersfeld usw. verb<strong>in</strong>det, besteht die Radikalität gerade dar<strong>in</strong>, daß er auf <strong>der</strong> Grundlage e<strong>in</strong>es epistemologischenSolipsismus zwar von <strong>der</strong> Unerkennbarkeit <strong>der</strong> Wirklichkeit ausgeht, aber doch die Existenz e<strong>in</strong>er Wirklichkeitannimmt (vgl. Schmidt: Der Radikale Konstruktivismus; S. 34ff.). So bemerkt etwa Glasersfeld, +daß alle me<strong>in</strong>e Aussagenüber diese Wirklichkeit zu hun<strong>der</strong>t Prozent me<strong>in</strong> Erleben s<strong>in</strong>d. Daß dieses Erleben dann zusammenstimmt, das kommt


A: ANMERKUNGEN 51aus <strong>der</strong> Wirklichkeit* (zitiert nach ebd.; S. 35). Es ist also nur empirisches, nicht aber ontologisches Wissen möglich– e<strong>in</strong>e Unterscheidung die auf Rusch zurückgeht (vgl. ebd.; S. 36). Diese Auffassung stimmt zum großen Teil mit <strong>der</strong>im folgenden von mir vertretenen Position übere<strong>in</strong>. In diesem Zusammenhang ist es übrigens positiv hervorzuheben,daß die Akteur-Netzwerk-Theorie die d<strong>in</strong>glich-materielle Komponente wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Spiel gebracht hat, d.h. dieWi<strong>der</strong>ständigkeit <strong>der</strong> Objekte herausstellt (die wir zwar nicht erkennen, aber erfahren können).155. Mit <strong>der</strong> Verwendung des Adjektivs +nützlich* will ich hier ke<strong>in</strong>e utilitaristische Position e<strong>in</strong>nehmen, son<strong>der</strong>nvielmehr e<strong>in</strong>e (pragmatische) Orientierung an Praxistauglichkeit e<strong>in</strong>for<strong>der</strong>n, wobei <strong>der</strong> Begriff +pragmatisch* wie<strong>der</strong>umnur im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er letztbegründungsskeptischen Lebensweltorientierung und nicht <strong>in</strong> Anlehnung an den <strong>in</strong>strumentellenPragmatismus/Naturalismus Deweys geme<strong>in</strong>t ist, <strong>der</strong> sich zwar explizit gegen die Kommerzialisierung <strong>der</strong> Wissenschaftwandte und den Raum für +neue Geschichten* öffnen wollte, aber – <strong>in</strong>dem er e<strong>in</strong>e +re<strong>in</strong>e* als re<strong>in</strong> angewandteWissenschaft for<strong>der</strong>te (vgl. Erfahrung und Natur; <strong>in</strong>sb. Kap. 4) – verkannte, daß es e<strong>in</strong>e solche we<strong>der</strong> abstrakt nochempirisch geben kann.156. E<strong>in</strong>en historischen Überblick über die +Naturauffassungen <strong>in</strong> Philosophie, Wissenschaft und Technik* (1995) habenLothar Schäfer und Elisabeth Ströker <strong>in</strong> 3 Bänden zusammengestellt. Ähnliches leistet (anhand von kommentiertenQuellentexten) Peter Cornelius Mayer-Tasch (vgl. Natur denken). Die unterschiedlichen Naturkonzepte, die man<strong>in</strong> Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden kann, beruhen, wenn man Schwarz und Thompson folgt (die wie<strong>der</strong>uman den Ökologen Holl<strong>in</strong>g anschließen), auf vier Natur-Mythen: 1. die launische und unberechenbare Natur (naturecapricious); 2. die gütige, alles verzeihende Natur (nature benign); 3. die nur bis zu e<strong>in</strong>em bestimmten Grad toleranteNatur, die dann umso heftiger +zurückschlägt* (nature perverse/tolerant); 4. die ephemere Natur, die auf jeden E<strong>in</strong>griffäußerst sensibel reagiert (nature ephemeral). (Vgl. Divided We Stand; S. 4ff.) Holl<strong>in</strong>g selbst nennt (bezugnehmendauf Lovelocks Gaia-Theorie) allerd<strong>in</strong>gs noch e<strong>in</strong>en weiteren Natur-Mythos: den Mythos <strong>der</strong> multiplen Gleichgewichtszustände(vgl. The Resilience of Terrestrial Ecosystems; S. 293ff.). Auch Timmermann spricht ganz ähnlich von e<strong>in</strong>emMythos <strong>der</strong> zyklischen Erneuerung (Mythology and Surprise <strong>in</strong> the Susta<strong>in</strong>able Development of the Biosphere; S. 440).157. Man könnte hier zusätzlich zwischen bewußt und unbewußt gestalteter bzw. technisch geformter Umwelt unterscheiden.158. In dem zwei Jahre später erschienen Band +Gegengifte* nimmt Beck die von verschiedenen Seiten vorgetrageneKritik auf, nicht zwischen Gefahren und (selbstproduzierten, kalkulierbaren) Risiken unterschieden zu haben. Weildie Risiken <strong>der</strong> Risikogesellschaft nicht genau kalkulierbar s<strong>in</strong>d, spricht er nun von +spät<strong>in</strong>dustriellen Großgefahren*(vgl. S. 120f.).159. Die spezifische Leitdifferenz des Wissenschaftssystems ist dabei die Unterscheidung wahr/unwahr.160. Genau genommen müßte man sie als deflexiv-reflexive Technologien bezeichnen, denn die Reflexivität vonTechnik (also ihre impliziten Nebenfolgen) wird deflexiv (also <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Techno-Logik und wie<strong>der</strong>um mit Technik)+gespiegelt*.161. Joseph Agassi spricht deshalb <strong>in</strong> Anlehnung an die +Cultural-Lag-These* Ogburns von e<strong>in</strong>em +Cultural Lag <strong>in</strong>Science* (1981). Er me<strong>in</strong>t damit, daß sich die verschiedenen Fel<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wissenschaft ungleich entwickeln, was daraufberuht, daß die Fächer durch ihre unterschiedliche Attraktivität (z.B. durch mit dem Studium verbundene Berufschancen)auch e<strong>in</strong>e unterschiedliche Anziehungskraft auf den Nachwuchs ausüben. Die +klugen Köpfe* wan<strong>der</strong>n also etwavon Fächern wie Theologie zu +attraktiveren* Fächern ab, was dann problematisch wird, wenn es zur Folge hat, daßdie Theologie aufgrund dieses +bra<strong>in</strong>-dra<strong>in</strong>* Risiken wie Überbevölkerung nicht richtig e<strong>in</strong>schätzen kann (vgl. S. 121f.).162. Es ist übrigens <strong>in</strong>teressant, daß auch Beck bei se<strong>in</strong>er Betrachtung <strong>der</strong> Ökologiebewegung von <strong>der</strong> (praktischen)Aufhebung <strong>der</strong> Trennung von Natur und Gesellschaft ausgeht und dieser deshalb e<strong>in</strong> naturalistisches (Selbst-)Mißverständnisvorwirft: Diese würde Natur wie<strong>der</strong>entdecken, wo es sie nicht mehr gibt (vgl. Gegengifte; S. 65). Wortspielerisch läßtsich aufgrund dieser Bestimmung jedoch e<strong>in</strong>wenden, daß selbst Beck <strong>in</strong>direkt e<strong>in</strong> naturalistisches Naturverständniszugrunde legt, d.h. auch er begreift Natur als die Tatsächlichkeit dessen, was (e<strong>in</strong>mal) unabhängig von menschlichemE<strong>in</strong>fluß existiert(e). Abgesehen von diesem E<strong>in</strong>wand trifft das Argument Becks jedoch den Kern <strong>der</strong> Sache: DieÖkologiebewegung verkennt ihre eigene +Natur*. Sie ist tatsächlich eher e<strong>in</strong>e gesellschaftliche +Innenweltbewegung*(Gegengifte; S. 92), <strong>der</strong>en Protest symbolisch vermittelt ist, als e<strong>in</strong>e Naturbewegung. Denn Grundlage des Protestss<strong>in</strong>d nicht +objektive Gefährdungen*, son<strong>der</strong>n die Aufmerksamkeit die z.B. hierzulande dem +Waldsterben* geschenktwurde, hat mit dem beson<strong>der</strong>en Stellenwert zu tun, den <strong>der</strong> Wald <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Kultur e<strong>in</strong>nimmt (vgl. ebd.; S.


52 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE75ff.). Natur wird also als Ersatzkampffeld funktionalisiert. Dabei läßt man sich sogar auf wissenschaftlich-technischeArgumentionen e<strong>in</strong>, anstatt die herrschenden +Def<strong>in</strong>itionsverhältnisse* (d.h. das Wahrheits- und Def<strong>in</strong>itionsmonopol<strong>der</strong> technokratischen Allianz aus Wissenschaft und <strong>Politik</strong>) <strong>in</strong> Frage zu stellen (vgl. ebd.; S. 71ff.).163. Zu e<strong>in</strong>er möglichen Kategorisierung <strong>der</strong> unterschiedlichen Naturbil<strong>der</strong> siehe nochmals Anmerkung 156.164. Als e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationaler Konzern e<strong>in</strong>en neuartigen Toilettenspülste<strong>in</strong> entwickelte und diesen auf den deutschenMarkt warf, war <strong>der</strong> Erfolg anfänglich groß – bis die +Grünen* gegen dieses Produkt wegen e<strong>in</strong>es umweltbedenklichenInhaltsstoffes e<strong>in</strong>e Kampagne starteten. Das Unternehmen war so gezwungen, se<strong>in</strong> Produkt zu modifizieren und e<strong>in</strong>enErsatz für den umstrittenen Inhaltsstoff zu f<strong>in</strong>den, was auch gelang. Zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Markte<strong>in</strong>führung hatte dasUnternehmen nicht an mögliche Umweltgefährdungen bzw. die Marktrelevanz dieses Faktors gedacht.165. Ich möchte allerd<strong>in</strong>gs nicht so weit gehen wie z.B. Maarten Hajer, <strong>der</strong> die Umweltkrise primär als diskursiveKonstruktion betrachtet (vgl. The Politics of Environmental Discourse; S. 8ff.) und somit konsequenterweise e<strong>in</strong>eDiskursanalyse <strong>in</strong>s Zentrum se<strong>in</strong>er Betrachtung stellt. Denn wie bereits oben angemerkt, s<strong>in</strong>d Konstruktionen nichtbeliebig, son<strong>der</strong>n abhängig von +materiellen* Verhältnissen.166. Zur Homöopathie, die auf den deutschen Arzt Hahnemann (1755–1843) zurückgeht, vgl. z.B. Langer: So heiltHomöopathie – Mediz<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> Natur. Als Wirksubstanzen werden zumeist +Naturstoffe* wie pflanzliche Extrakteaus Fliegenpilz, Roßkastanie o<strong>der</strong> F<strong>in</strong>gerhut sowie tierische Erzeugnisse e<strong>in</strong>gesetzt (z.B. R<strong>in</strong><strong>der</strong>galle o<strong>der</strong> Dorschlebertran).Daneben greift man aber auch auf Schwermetalle wie Blei zurück – allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> Dosierungen, die teilweise sogarerheblich unter <strong>der</strong> Nachweisgrenze liegen. Man kann deshalb me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach von e<strong>in</strong>em homöopathischenPotenzierungs-Paradox sprechen, da je höher die Potenz <strong>der</strong> Verdünnung, desto +potenter* angeblich das Mittel.(Vgl. ebd.; S. 20–32)167. E<strong>in</strong>e kurze Kostprobe <strong>der</strong> Naturideologie von <strong>der</strong> +Mutter Erde* möchte ich an dieser Stelle nicht unterschlagen:+Mutter Erde, an <strong>der</strong>en Busen wir Menschen leben – wer kennt sie? Ist sie nichts weiter als e<strong>in</strong> Körper aus flüssigemFeuer, umhüllt von e<strong>in</strong>er Schale aus Erde und Wasser? Lebendig ist <strong>der</strong> Leib <strong>der</strong> Erde und unendlich verfe<strong>in</strong>ert <strong>der</strong>Ausdruck ihrer Durchseeltheit. E<strong>in</strong> Lebewesen ist sie, gebaut nach dem gleichen kosmischen Muster wie <strong>der</strong> Menschauf ihrem Schoß. Wie wir Menschen ist auch die Erde e<strong>in</strong> zweipoliges Wesen, wobei e<strong>in</strong> Kreislauf von Kräften diebeiden Pole verb<strong>in</strong>det. Der Mensch empfängt se<strong>in</strong>e Inspiration aus dem Äther, <strong>der</strong> den Raum erfüllt […] Die Inspirationkommt durch das Schädeldach, wo sie <strong>in</strong> die dort bef<strong>in</strong>dliche kelchförmige Öffnung des Kraftfelds gesaugt wird. Genausoempfängt die Erde an ihrem magnetischen Nordpol ihre […] Kraft, die aus dem Raum <strong>in</strong> ihr eigenes Kraftfeld fließt.Sie empfängt diese Kraft von ihren Geschwistern, den Planeten […]* (Uyl<strong>der</strong>t: Mutter Erde; S. 9)168. Auf <strong>der</strong> angegebenen Seite heißt es: +Erst dann, wenn […] Zufall und Schicksal nicht mehr die unüberwundenenMomente e<strong>in</strong>er bloß äußeren Naturnotwendigkeit bilden, erst <strong>in</strong> dieser genauen Anwesenheit bei <strong>der</strong> Naturkrafthätte die Technik ihre Katastrophenseite wie ihre Abstraktheit überwunden. E<strong>in</strong>e Verhakung ohnegleichen ist damit<strong>in</strong>tendiert, e<strong>in</strong> wirklicher E<strong>in</strong>bau <strong>der</strong> Menschen (sobald sie mit sich vermittelt worden s<strong>in</strong>d) <strong>in</strong> die Natur (sobald dieTechnik mit <strong>der</strong> Natur vermittelt worden ist).* Nach Hans Jonas ist dafür jedoch – <strong>in</strong> expliziter Gegenstellung zu Bloch– e<strong>in</strong>e +nichtutopische Ethik <strong>der</strong> Verantwortung* unabd<strong>in</strong>gbar, wobei Verantwortung bei ihm +die als Pflicht anerkannteSorge um e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Se<strong>in</strong>, die bei <strong>der</strong> Bedrohung se<strong>in</strong>er Verletzlichkeit zur ›Besorgnis‹ wird* me<strong>in</strong>t (Das Pr<strong>in</strong>zipVerantwortung; S. 391).169. Daß <strong>der</strong> Wille, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technik tatsächlich zum Ausdruck kommt, immer nur e<strong>in</strong> vom Subjekt und darüberh<strong>in</strong>aus vom sozialen Subjekt geliehener ist, das hat Ernst Bloch <strong>in</strong> folgende Worte gefaßt: +Der Wille, <strong>der</strong> <strong>in</strong> allentechnisch-physikalischen Gebilden haust, muß gleichzeitig sowohl e<strong>in</strong> gesellschaftlich erfaßtes Subjekt h<strong>in</strong>ter sichhaben: zum konstruierenden E<strong>in</strong>griff, jenseits des bloß abstrakt-äußerlichen, wie e<strong>in</strong> damit vermittelndes Subjektvor sich: zur Mitwirkung, zum konstitutiven Anschluß an den E<strong>in</strong>griff.* (Das Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung; Band 2, S. 787)170. Im +Wörterbuch <strong>der</strong> Soziologie* von Hartfiel und Hillmann heißt es zum Begriff des Handelns: +im soziol. S<strong>in</strong>nejede menschl. Lebenstätigkeit, die sich als s<strong>in</strong>nhafte, gewollte, ziel- o<strong>der</strong> zweckgerichtete, aus irgendwelchen (bewußteno<strong>der</strong> unbewußten) Motiven o<strong>der</strong> Antrieben ergebende E<strong>in</strong>wirkung auf die Umwelt des Menschen erkennen läßt.*Ich schließe mich hier also dieser konventionellen Sichtweise und nicht Giddens an, <strong>der</strong> im Rahmen se<strong>in</strong>er Theorie<strong>der</strong> Strukturierung e<strong>in</strong>en Handlungsbegriff entwickelt, <strong>der</strong> Intentionalität als Grundvoraussetzung aufgibt und stattdessen (me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach <strong>in</strong> wenig überzeugen<strong>der</strong> Art und Weise) darauf abhebt, daß Handeln alle<strong>in</strong>e auf <strong>der</strong>bloßen Möglichkeit zu handeln beruht (vgl. S. 58ff.).


A: ANMERKUNGEN 53171. Latour hat für die sozio-technischen Hybride <strong>in</strong> +Wir s<strong>in</strong>d nie mo<strong>der</strong>n gewesen* (<strong>in</strong> Anschluß an Michel Serre)die Bezeichnung +Quasi-Objekte* (bzw. Quasi-Subjekte) e<strong>in</strong>geführt, +denn sie nehmen we<strong>der</strong> die für sie von <strong>der</strong>Verfassung [<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne] vorgesehene Position von D<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>, noch die von Subjekten* (S. 71).172. Veblen sah e<strong>in</strong>e reelle Möglichkeit für e<strong>in</strong>en positiven Wandel <strong>der</strong> amerikanischen Gesellschaft, die er als labilund krisenhaft betrachtete, nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dustriell-technischen Revolution, die von den Technikern angeführt werdenund (im Gegensatz zum Markt- und Geld-gesteuerten +Preis-System*) auf Rationalität gegründet se<strong>in</strong> sollte.173. Ellul gebraucht den Ausdruck +l’homme-mach<strong>in</strong>e*, was e<strong>in</strong>e Anspielung auf die gleichnamige Schrift des französischenArztes de La Mettrie (1709–51) darstellt. Dieser hatte die Auffassung vertreten, <strong>der</strong> Mensch sei nur e<strong>in</strong>e Art lebendeMasch<strong>in</strong>e (vgl dazu auch die entsprechende Fußnote auf S. 395 <strong>in</strong>: The Technological Society). Im Kontrast dazu me<strong>in</strong>tEllul aber wirklich so etwas wie e<strong>in</strong> Hybridwesen, wenn er von e<strong>in</strong>er Verb<strong>in</strong>dung von Mensch und Masch<strong>in</strong>e spricht(vgl. ebd.).174. Neil <strong>Post</strong>man geht sogar noch weiter und spricht (<strong>in</strong> kritischer Übertreibung) für die (postmo<strong>der</strong>ne) Gegenwart<strong>der</strong> amerikanischen Gesellschaft von <strong>der</strong> Herrschaft e<strong>in</strong>es +Technopols*: +Das Technopol beseitigt die Alternativen,die es zu ihm gibt […] Es drängt sie nicht <strong>in</strong> die Illegalität, auch nicht <strong>in</strong> die Immoralität. Es macht sie nicht e<strong>in</strong>malunpopulär. Es macht sie e<strong>in</strong>fach unsichtbar und damit irrelevant. Und dies gel<strong>in</strong>gt ihm, <strong>in</strong>dem es das, was wir unterReligion, Kunst, Familie, <strong>Politik</strong>, Geschichte […] verstehen, neu def<strong>in</strong>iert, <strong>der</strong>gestalt, daß die Def<strong>in</strong>itionen schließlichden Anfor<strong>der</strong>ungen des Technopols genügen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, das Technopol ist die totalitär gewordeneTechnokratie.* (Das Technopol; S. 56f.)175. Diese Diskussion fand vorwiegend während <strong>der</strong> 60er und 70er Jahre statt. E<strong>in</strong>en Überblick vermitteln die Bände+Texte zur Technokratiediskussion* (1970), herausgegeben von Claus Koch und Dieter Senghaas, und +Technokratieals Ideologie* (1973), herausgeben von Hans Lenk.176. Die Veröffentlichung des Manuskripts erfolgte allerd<strong>in</strong>gs erst 1919.177. Diese Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung ist <strong>in</strong> dem Band +Der Positivismusstreit <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Soziologie* (geme<strong>in</strong>samherausgegeben von Theodor W. Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Harald Pilot und Karl RaimundPopper 1969) dokumentiert.178. Der Fokus verschiebt sich nach Beck <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft von den Produktionsverhältnissen (Reichtumsverteilung)zu den Def<strong>in</strong>itionsverhältnissen: das Wissen um Risiken und die Macht, diese zu def<strong>in</strong>ieren (vgl. Gegengifte; S. 211ff.).Klaus Dörre, <strong>der</strong> mit Beck über Beck h<strong>in</strong>ausgehen will, kritisiert <strong>in</strong> diesem Zusammenhang allerd<strong>in</strong>g me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ungnach zu Recht, daß hierbei <strong>der</strong> kapitalistische Kontext, <strong>in</strong> dem Risiken <strong>in</strong> unserer Gesellschaft erzeugt werden, ausgeblendetbleibt (vgl. Schafft die autoritäre Technokratie sich selbst ab?).179. Ich möchte an dieser Stelle noch e<strong>in</strong>mal betonen, daß ich nicht an e<strong>in</strong>e autonome o<strong>der</strong> verselbständigte Technikglaube. Jede Technik bedarf <strong>der</strong> sozialen Verankerung und ihrer permanenten Stabilisierung. Technologien s<strong>in</strong>d deshalbimmer mit Interessen verknüpft. Oft entsteht jedoch, wie ich mit Habermas feststellen möchte, e<strong>in</strong> Sche<strong>in</strong> <strong>der</strong>Verselbständigung. Nehmen wir das Beispiel des Computer-Betriebssystems MS- bzw. PC-DOS. Dieses wurde 1981vom Computer-Giganten IBM von <strong>der</strong> bis dah<strong>in</strong> eher kle<strong>in</strong>en Firma +Microsoft* lizenziert und deshalb zum De-facto-Standard <strong>in</strong> <strong>der</strong> Computer-Welt (vgl. Sand: IBM; Kap. 8). Lei<strong>der</strong> hatte dieses Betriebssystem e<strong>in</strong>ige Schwächen: u.a.e<strong>in</strong>e sehr schnell zum Problem gewordene Begrenzung auf 64 kB große Blöcke bei <strong>der</strong> Adressierung von Speicher(vgl. z.B. Schnupp: Standard-Betriebssysteme; S. 169). Da aber an<strong>der</strong>erseits e<strong>in</strong>e große Zahl von Benutzern diesesSystem anwandte, war es nicht möglich, sich ohne weiteres von ihm zu verabschieden und e<strong>in</strong> neues e<strong>in</strong>zuführen.Verbesserungen mußten immer auf dem alten System aufbauen bzw. damit kompatibel se<strong>in</strong>, da e<strong>in</strong> Interesse <strong>der</strong>Benutzer bestand, ihre bereits getätigten Investitionen zu schützen. Das Betriebssystem MS-DOS hatte, um mit Hugheszu sprechen, durch die Vielzahl se<strong>in</strong>er Benutzer und <strong>der</strong> auf ihm aufbauenden Komponenten +Momentum* gewonnen.Von Autonomie o<strong>der</strong> Selbstläufigkeit kann jedoch nicht die Rede se<strong>in</strong>. Nur das Interesse <strong>der</strong> Anwen<strong>der</strong> an Kompatibilitätund die Markt-Macht des Lizenznehmers IBM sicherte se<strong>in</strong>en Fortbestand.180. Hier heißt es: +In the new age the very notion of ›expert‹ is called <strong>in</strong>to question […] the expert who is responsiblefor a discipl<strong>in</strong>ed def<strong>in</strong>ition of subject matter and for an ethically grounded, asymptotic approach to truth with<strong>in</strong> asubject is an anachronism.* (Arnay: Experts <strong>in</strong> the Age of Systems; S. 30)


54 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE181. Am Schluß se<strong>in</strong>es Buches entwirft Beck die +Utopie* e<strong>in</strong>er +ökologischen Demokratie*, <strong>in</strong> <strong>der</strong> das System <strong>der</strong>organisierten Unverantwortlichkeit aufgebrochen ist. Als Wege dorth<strong>in</strong> nennt Beck drei mögliche +Gegengifte*: 1.Strategien <strong>der</strong> Denormalisierung von Akzeptanz; 2. Strategien <strong>der</strong> Entmonopolisierung und <strong>der</strong> erweiterten Sicherheitsdef<strong>in</strong>ition;3. Strategien <strong>der</strong> Umverteilung von Beweislasten und <strong>der</strong> Herstellung von Zurechenbarkeit (vgl. Gegengifte;S. 273–288).182. E<strong>in</strong>e Ausnahme bildet hier vielleicht <strong>der</strong> Ansatz von Beck. Zwar weist dieser, wie oben dargelegt, auf die Problematiktechnokratischer Risikoverwaltung h<strong>in</strong>. Doch, wie unten deutlich werden wird, ist ihm auch die Tatsache <strong>der</strong> +Autonomisierung<strong>der</strong> (politischen) Verwendung* bewußt.183. Illich führt die Entstehung e<strong>in</strong>es +Expertenkartells* – was gleichzeitig e<strong>in</strong>e Entpolitisierung <strong>der</strong> Gesellschaft bedeutet– <strong>in</strong> Anlehnung an Bell (siehe auch S. LIV) auf den Umschwung von <strong>der</strong> Industrie- zur post<strong>in</strong>dustriellen Wissensgesellschaftzurück: +Die gesellschaftliche Autonomie <strong>der</strong> Experten und ihre Vollmacht, die Bedürfnisse <strong>der</strong> Gesellschaft zu def<strong>in</strong>ieren,s<strong>in</strong>d logischerweise Formen <strong>der</strong> Oligarchie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er politischen Kultur, <strong>in</strong> <strong>der</strong> materieller Besitz durch Wissenskapital-Zertifikate […] ersetzt wurde.* (Entmündigende Expertenherrschaft; S. 16)184. E<strong>in</strong> beredter Ausdruck für diese <strong>in</strong> <strong>der</strong> Planungseuphorie <strong>der</strong> 60er und 70er Jahre weit verbreitete Auffassungist z.B. Klaus Lompes Buch +Wissenschaftliche Beratung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>* (1966).185. Benveniste gebraucht den <strong>in</strong>dischen Begriff +Pundit* (Pandit), <strong>der</strong> eigentlich am genauesten mit +Meister* zuübersetzen wäre. Da im Englischen jedoch das Wortpaar +Pr<strong>in</strong>ce/Pundit* e<strong>in</strong>e Alliteration bildet, habe ich mich <strong>in</strong><strong>der</strong> Übersetzung für das äquivalent +funktionierende* Begriffspaar +Fürst/Fachmann* entschieden.186. Auch die von mir oben zitierte Arbeit von Schnei<strong>der</strong> entstand im Kontext dieses Forschungsprojekts.187. Dies wird <strong>in</strong> Kapitel 3 deutlich werden, wo die Dilemmata, die sich aus den <strong>in</strong> diesem Kapitel beschriebenenWandlungsprozessen ergeben, diskutiert werden.188. Beck und Bonß sprechen (bezugnehmend auf e<strong>in</strong>en früheren Artikel Becks) von +sekundärer Verwissenschaftlichung*(vgl. Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 385). In <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* (1986) steht h<strong>in</strong>gegen <strong>der</strong> bereits dargelegteBegriff <strong>der</strong> +reflexiven Verwissenschaftlichung*. Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach sollte man mit reflexiver Verwissenschaftlichungallerd<strong>in</strong>gsnur diewissenschaftstheoretischeSelbsth<strong>in</strong>terfragungvon wissenschaftlicherWahrheitund diesozialeReflexivitätwissenschaftlicher Theorie und Praxis bezeichnen. Die politisch-adm<strong>in</strong>istrative Instrumentalisierung von Wissenschaftzur Abwehr <strong>der</strong> Reflexivität von Wissenschaft und Technik ist me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach besser mit dem hier von mirgebrauchten Begriff <strong>der</strong> deflexiven (d.h. ablenkenden) Verwissenschaftlichung erfaßt.189. Tenbruck me<strong>in</strong>t mit Trivialisierung e<strong>in</strong>e Art Gesetzmäßigkeit <strong>der</strong> Wissenschaftsentwicklung: +[…] im Wissensfortschrittverlieren die Erkenntnisse zunehmend an Bedeutung. In <strong>der</strong> Ausgangslage des Prozesses haben sie e<strong>in</strong>en hohenBedeutungswert, h<strong>in</strong>gegen meist ke<strong>in</strong>en Nutzungswert, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Endlage umgekehrt ke<strong>in</strong>en Bedeutungs-, gewöhnlichaber e<strong>in</strong>en hohen Nutzungswert. Der Anstieg <strong>der</strong> Nutzungswerte ist e<strong>in</strong>e häufige Begleitersche<strong>in</strong>ung des Trivialisierungsprozesses,kann hier jedoch außer Betracht gelassen werden. Die Trivialisierung bezieht sich also nur auf den Bedeutungsschwund.Dieser aber tritt im Wissensfortschritt mit e<strong>in</strong>er gewissen Zwangsläufigkeit e<strong>in</strong>. Der Fortschritt <strong>der</strong> Wissenschaftbr<strong>in</strong>gt uns zwar immer mehr Erkenntnisse e<strong>in</strong>, entkleidet sie dabei jedoch ihrer Bedeutung. Wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong>s Soziologischeübersetzt: die Wissenschaft hat ursprünglich Handlungslegitimation geliefert, weil ihre Erkenntnisse Bedeutungswertbesaßen. Der Trivialisierungsprozeß stutzt Wissenschaft zurück auf die facta bruta von Tatsachenaussagen. Sie fälltdamit als Legitimationsquelle <strong>in</strong> <strong>der</strong> heutigen Gesellschaft aus, o<strong>der</strong> wird doch zu e<strong>in</strong>er sehr problematischen Quellefür Legitimation.* (Der Fortschritt <strong>der</strong> Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß; S. 23f.)Ich teile diese Sicht Tenbrucks <strong>in</strong>soweit, als er davon spricht, daß durch Trivialisierung (die ich, an<strong>der</strong>s als er undwie bereits im Haupttext bemerkt, als Übersetzungsverlust von Theorie <strong>in</strong> Praxis verstehe) die Legitimationskraft vonWissenschaft nachläßt. Ansonsten möchte ich mich weitgehend <strong>der</strong> Kritik von Beck und Bonß anschließen: +Bei Tenbruckme<strong>in</strong>t Trivialisierung e<strong>in</strong>e für die neuzeitliche Wissenschaft typische Steigerung des <strong>in</strong>strumentellen ›Nutzungswertes‹von Erkenntnissen zu Lasten ihres (nicht-<strong>in</strong>strumentellen, letztlich transzendenten) ›Bedeutungswerts‹ […] So def<strong>in</strong>iertfällt ›Trivialisierung‹ mit (e<strong>in</strong>er letztlich kulturpessimistisch verstandenen) ›Säkularisierung‹ zusammen – e<strong>in</strong>e Gleichsetzung,die kaum geeignet ersche<strong>in</strong>t, um die uns <strong>in</strong>teressierenden Phänomene zu erfassen. Statt dessen wäre ›Trivialisierung‹[…] analytischer zu akzentuieren und als Chiffre für e<strong>in</strong>e Transformationstheorie zu begreifen, die darauf abzielt,die Formen und Folgen <strong>der</strong> praktischen Veralltäglichung wissenschaftlichen Wissens <strong>in</strong> den Griff zu bekommen.*(Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung; S. 395)


A: ANMERKUNGEN 55190. Ich verwende die Begriffe +deflektorisch* und +deflexiv* weitgehend synonymisch.191. Diese privaten Beziehungsgeflechte ließen sich im Grad <strong>der</strong> Privatheit durch das Maß <strong>der</strong> Intimität abstufen.Liebesbeziehungen hätten dann ganz offensichtlich das größte Maß an Intimität, gefolgt von Freundschaften undBekanntschaften und ganz losen, halbformellen Privatbeziehungen (etwa e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Mitglied <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vere<strong>in</strong>, beidem wir Mitglied s<strong>in</strong>d, zu dem wir über diese Beziehung h<strong>in</strong>aus aber ke<strong>in</strong>en <strong>in</strong>tensiveren Kontakt pflegen).192. Mit <strong>der</strong> Problematik partnerschaftlicher Beziehungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> postraditionalen Gesellschaft haben sich sehr <strong>in</strong>tensivUlrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt (vgl. Das ganz normale Chaos <strong>der</strong> Liebe).193. Der Begriff +öffentliche Me<strong>in</strong>ung* ist bei Luhmann <strong>in</strong> leicht unterschiedlichen Akzentuierungen def<strong>in</strong>iert worden.Im Abschnitt über +Öffentlichkeit* <strong>in</strong> +Die Realität <strong>der</strong> Massenmedien* (1996) def<strong>in</strong>iert Luhmann öffentliche Me<strong>in</strong>ungals Marktäquivalent des <strong>Politik</strong>systems. In Anlehnung an Dirk Baecker (vgl. Oszillierende Öffentlichkeit) faßt LuhmannÖffentlichkeit hier nämlich als Reflexion e<strong>in</strong>er gesellschaftlichen Systemgrenze bzw. als system<strong>in</strong>terne Umwelt <strong>der</strong>gesellschaftlichen Teilsysteme auf: +Der ›Markt‹ wäre dann die wirtschaftssystem<strong>in</strong>terne Umwelt wirtschaftlicherOrganisationen und Interaktionen; die ›öffentliche Me<strong>in</strong>ung‹ wäre die politiksystem<strong>in</strong>terne Umwelt politischerOrganisationen und Interaktionen* (S. 185). In se<strong>in</strong>em Aufsatz +Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Me<strong>in</strong>ung*(1990) faßt er öffentliche Me<strong>in</strong>ung h<strong>in</strong>gegen als Medium auf, +<strong>in</strong> dem durch laufende Kommunikation Formen abgebildetund wie<strong>der</strong> aufgelöst werden* (S. 174). In se<strong>in</strong>em frühesten Aufsatz zum Thema heißt es <strong>in</strong> evolutionistischer Perspektive,daß +Öffentliche Me<strong>in</strong>ung* (1970) e<strong>in</strong>e Struktur darstellt, die Umweltkomplexität <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e für das System +praktikablereSprache* übersetzt und erst <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung tritt, +wenn die Gesellschaft so hohe Komplexität und Kont<strong>in</strong>genz erreichthat, daß die ›Führung‹ ihrer weiteren Entwicklung nicht mehr mit den Tagesentscheidungen verquickt, nicht mehrmit e<strong>in</strong>zelnen Personen, Personengruppen o<strong>der</strong> Rollen obliegen kann, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>er labileren Struktur überlassenwerden muß* (S. 29).194. Ich beziehe mich im folgenden primär auf dieses (lei<strong>der</strong> noch) unveröffentlichte Manuskript Luhmanns, da ersich hier dem Themenkomplex Öffentlichkeit und öffentliche Me<strong>in</strong>ung relativ ausführlich, auf aktuellem Niveau undvor allem klar bezogen auf das <strong>Politik</strong>system widmet.195. Mit diesem Begriff rekurriert Luhmann auf He<strong>in</strong>z von Foerster.196. Ich beschränke mich hier auf die Nennung <strong>der</strong> aus me<strong>in</strong>er Sicht wichtigsten Punkte.197. Nach dem Konzept <strong>der</strong> Schweigespirale +wird öffentliche Me<strong>in</strong>ung def<strong>in</strong>iert als jene Me<strong>in</strong>ung, die man ohneGefahr von Sanktionen öffentlich aussprechen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> entsprechend man öffentlich sichtbar handeln kann* (Noelle-Neumann: Die Schweigespirale; S. 173). Denn zu sprechen und zu handeln traut sich nur wer +Verstärkung* undnicht Ausgrenzung durch se<strong>in</strong> Umfeld erfährt. +Über kurz o<strong>der</strong> lang […] folgt e<strong>in</strong>em Konformismus <strong>in</strong> den Medien[deshalb] <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel auch e<strong>in</strong> Konformismus im Publikum.* (S. 202) Diese Aussage Noelle-Neumanns diktiert e<strong>in</strong>esehr kritische Sicht, wenn es um die Beurteilung des Potentials e<strong>in</strong>er lebensweltlich verankerten (Gegen-)Öffentlichkeit(wie im Modell von Habermas) geht, und ist auch nicht mit Luhmanns dargelegter Sicht <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klag zu br<strong>in</strong>gen. Wennman die Folgen <strong>der</strong> Gebote <strong>der</strong> +political correctness* <strong>in</strong> den USA betrachtet, so kann allerd<strong>in</strong>gs nicht bestritten werden,daß die Auffassung Noelle-Neumanns e<strong>in</strong>e gewisse Plausibilität besitzt.198. Dieser begreift Öffentlichkeit, wie <strong>in</strong> Anmerkung 193 erläutert, allerd<strong>in</strong>gs ebenfalls nicht als soziales Teilsystem,son<strong>der</strong>n sieht diese vielmehr als e<strong>in</strong>e Art system<strong>in</strong>terne Umwelt an.199. Hier spielt Habermas auf die +Selektionsfunktion* bzw. die +Validierungs- und Kritikfunktion* von Öffentlichkeitan, betont also die Throughput-Seite. Kommunikation besitzt – gemäß dem kybernetischen Kommunikationsmodellvon Etzioni – jedoch auch e<strong>in</strong>en Input und e<strong>in</strong>en Output. Friedhelm Neidhardt weist deshalb Öffentlichkeit auf <strong>der</strong>Input-Seite zusätzlich zu ihrer +Selektionsfunktion* e<strong>in</strong>e +Transparenzfunktion* und auf <strong>der</strong> Output-Seite e<strong>in</strong>eOrientierungsfunktion zu (vgl. Öffentlichkeit, öffentliche Me<strong>in</strong>ung, soziale Bewegungen; S. 8f. sowie <strong>der</strong>s.: Jenseits desPalavers – Funktionen politischer Öffentlichkeit; S. 22–28).200. An<strong>der</strong>erseits ist es natürlich so, daß <strong>der</strong> Bezug auf Expertenwissen gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit für die <strong>Politik</strong>e<strong>in</strong> wichtiges Instrument <strong>der</strong> Deflexion, also <strong>der</strong> Ablenkung von politischen Konfliktpotentialen, darstellt (siehe Abschnitt2.3). Trotzdem ist die Behauptung von Habermas richtig. Hier kommt <strong>in</strong>s Spiel, was von verschiedener Seite alsTrivialisierung von Wissenschaft bezeichnet wurde (siehe S. 152).


56 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE201. Ähnlich wie Jürgen Gerhards an Luhmann anschließt (siehe Anmerkung 202), so knüpft Bernhard Peters an Habermasan und formuliert drei Grundmerkmale von Öffentlichkeit im normativen Modell. Und dazu gehört – neben ihrerOffenheit und ihrer diskursiven Struktur, die Habermas vor allem betont – eben auch Reziprozität (vgl. Der S<strong>in</strong>n vonÖffentlichkeit; S. 45ff.). Alle drei Merkmale s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> unserer realen, massenmedialen Öffentlichkeit jedoch kaum verwirklicht.Zum Teil ist dies unvermeidbar, da vollständige Reziprozität und Offenheit sich <strong>in</strong> komplexen Massengesellschaftennicht verwirklichen lassen. Zum Teil kommen jedoch auch Exklusions- und Absperrungsmechanismen zum Tragen,die, wenn man am beschriebenen Modell festhalten will, durchaus abgebaut werden könnten (vgl. ebd.; S. 51–70).202. E<strong>in</strong>e (lei<strong>der</strong> kaum wirklich orig<strong>in</strong>elle) Verb<strong>in</strong>dung von Luhmannscher Systemtheorie und Handlungstheorie versuchtaufgrund dieses Defizits Jürgen Gerhards (vgl. Politische Öffentlichkeit – E<strong>in</strong> system- und akteurstheoretischer Bestimmungsversuch).Dieser hat übrigens auch e<strong>in</strong>e umfangreiche empirische Studie zur Anti-IWF-Kampagne 1988 vorgelegt,wo im Theorieteil se<strong>in</strong> von Luhmann abweichendes Öffentlichkeitskonzept noch e<strong>in</strong>mal ausführlich dargelegt wird(vgl. Neue Konfliktl<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mobilisierung öffentlicher Me<strong>in</strong>ung – E<strong>in</strong>e Fallstudie).203. In se<strong>in</strong>em vor kurzem erschienen Band +Die Realität <strong>der</strong> Massenmedien* (1996) weist Luhmann zwar auch aufden Beitrag <strong>der</strong> Medien zur Realitätskonstruktion <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft h<strong>in</strong> (vgl. S. 183). Der von mir mit Bezug auf se<strong>in</strong>noch unveröffentlichtes Manuskript +Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft* betonte Generierungsaspekt tritt hier jedoch gegenübere<strong>in</strong>er bloßen +Repräsentationsfunktion* öffentlicher Me<strong>in</strong>ung zurück (vgl. ebd.; S. 188).204. Goffman hat sich mit den +Strukturen und Regeln <strong>der</strong> Interaktion im öffentlichen Raum* <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch +Verhalten<strong>in</strong> sozialen Situationen* (1963) ausführlich ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt. Auf se<strong>in</strong>e umfangreiche Analyse <strong>der</strong> Regeln dieser Interaktionkann hier jedoch lei<strong>der</strong> nicht e<strong>in</strong>gegangen werden.205. E<strong>in</strong>en +Darsteller*, <strong>der</strong> nicht von <strong>der</strong> eigenen Rolle überzeugt ist, nennt Goffman +zynisch* (vgl. Wir alle spielenTheater; S. 20).206. Dies trifft selbstverständlich nicht ausnahmslos zu. Auch die großen Städte des Altertums und des Mittelalterswaren durch e<strong>in</strong> gewiß sehr hohes Maß an Anonymisierung im Vergleich zum dörflichen Kontext charakterisiert.Allerd<strong>in</strong>gs hatte wohl auch dort die Öffentlichkeit e<strong>in</strong> weit höheres Maß an Konkretheit als unsere medienvermittelteÖffentlichkeit heute.207. Diese im Gegensatz zu Habermas stehende Feststellung (siehe S. 168) bewahrheitet sich übrigens auch, wennman das +klassische* Modell für e<strong>in</strong>e diskursive politische Öffentlichkeit schlechth<strong>in</strong> betrachtet: Selbst die griechischeAgora hat ihren Ursprung als ganz normaler Handelsplatz (vgl. z.B. Bleicken: Die athenische Demokratie; S. 128ff.o<strong>der</strong> Mumford: Die Stadt; S. 175–186). Wahrsche<strong>in</strong>lich ist es also ke<strong>in</strong> Zufall, daß das Wort +Agora* heute <strong>in</strong> Israelfür e<strong>in</strong>e Währungs(unter)e<strong>in</strong>heit steht.208. Diese Kodifikation hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart ganz offenbar wie<strong>der</strong> stark abgenommen, doch deuten e<strong>in</strong>ige Autorendie aktuell zu beobachtende Informalisierung gerade als Anzeichen für e<strong>in</strong>e umso rigi<strong>der</strong>e Internalisierung, die auf<strong>der</strong> Oberfläche allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e +Liberalisierung* erlaubt (vgl. Wouters: Informalisierung und <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation).Umgekehrt hat Hans-Peter Dürr darauf h<strong>in</strong>gewiesen, daß <strong>der</strong> Zivilisationsprozeß, so wie ihn Elias darstellt, weitgehendfiktiven Charakter hat. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt er nämlich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em dreibändigen Werk +Der Mythos vomZivilisationsprozeß* (1988–93) auf, daß auch schon im Mittelalter das Leben vielfach reglementiert war und ke<strong>in</strong>esfalls+weichere* Standards herrschten.209. Zur Bedeutung des mo<strong>der</strong>nen Pr<strong>in</strong>tkapitalismus im Zusammenhang <strong>der</strong> +Kreation* des bürgerlichen Nationalstaatsvgl. <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e An<strong>der</strong>son: Die Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Nation.210. Hierzu (als Ergänzung) e<strong>in</strong> weiteres Zitat, das diesen Zusammenhang klar herausstellt: +Die politisch fungierendeÖffentlichkeit erhält den normativen Status e<strong>in</strong>es Organs <strong>der</strong> Selbstvermittlung <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft mit e<strong>in</strong>erihren Bedürfnissen entsprechenden Staatsgewalt. Die soziale Voraussetzung dieser ›entfalteten‹ bürgerlichen Öffentlichkeitist e<strong>in</strong> tendenziell liberalisierter Markt, <strong>der</strong> den Verkehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> gesellschaftlichen Reproduktion soweitirgend möglich zu e<strong>in</strong>er Angelegenheit <strong>der</strong> Privatleute unter sich macht und so die Privatisierung <strong>der</strong> bürgerlichenGesellschaft erst vollendet.* (Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit; S. 142)211. Habermas bemerkt hier: +Die Dialektik <strong>der</strong> bürgerlichen Öffentlichkeit, die den Aufbau des Buches bestimmt,verrät sogleich den ideologiekritischen Ansatz. Die Ideale des bürgerlichen Humanismus, die das Selbstverständnis


A: ANMERKUNGEN 57von Intimsphäre und Öffentlichkeit prägen und sich <strong>in</strong> den Schlüsselbegriffen Subjektivität und Selbstverwirklichung,rationaler Me<strong>in</strong>ungs- und Willensbildung sowie persönlicher und politischer Selbstbestimmung artikulieren, habendie Institutionen des Verfassungsstaates soweit imprägniert, daß sie als utopisches Potential über e<strong>in</strong>e Verfassungswirklichkeit,die sie zugleich dementiert, auch h<strong>in</strong>ausweisen […] Diese Denkfigur verführt freilich nicht nur zu e<strong>in</strong>er Idealisierung<strong>der</strong> bürgerlichen Öffentlichkeit […]; sie stützt sich auch […] auf geschichtsphilosophische H<strong>in</strong>tergrundannahmen,die spätestens von den zivilisatorischen Barbareien des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts wi<strong>der</strong>legt worden s<strong>in</strong>d.* (S. 33f.)212. Sennett bezeichnet damit, <strong>in</strong> Anlehnung an Tocqueville, das 18. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>in</strong>sgesamt, also +die Periode, <strong>in</strong><strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Handels- und Verwaltungsbürokratie heranwuchs, während gleichzeitig Feudalprivilegien noch Geltung besaßen*(Verfall und Ende des öffentlichen Lebens; S. 65).213. Für Adorno, <strong>der</strong> diesen Begriff <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en +Studien zum autoritären Charakter* (1949/50) verwendet, ist Anti-Intrazeptionals die +Abwehr des Subjektiven, des Phantasievollen, des Sensiblen* (S. 144f.) e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Charakteristika für e<strong>in</strong>e Ichschwacheautoritäre Persönlichkeit.214. Er zitiert dazu zum Beleg aus e<strong>in</strong>em Brief Lord Chesterfields an se<strong>in</strong>en Sohn: +Vor allem verbanne das Ich ausde<strong>in</strong>en Gesprächen! Denke niemals daran, an<strong>der</strong>e von de<strong>in</strong>en eigenen Angelegenheiten zu unterhalten! S<strong>in</strong>d sieauch für dich wichtig, so s<strong>in</strong>d sie doch für jeden an<strong>der</strong>en langweilig und albern.* (Ebd.; S. 82)215. In diesem Zusammenhang bemerkt Sennett übrigens, daß man David Riesmans These aus +Die e<strong>in</strong>same Masse*,(1950) nach <strong>der</strong> <strong>der</strong> +<strong>in</strong>nengeleitete* Charakter durch den +außengeleiteten* abgelöst worden sei, umkehren müsse.Diese Aussage entspr<strong>in</strong>gt jedoch me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach e<strong>in</strong>er Fehl<strong>in</strong>terpretation Riesmans, <strong>der</strong> unter e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>nengeleitetenCharakter nicht, wie Sennett, e<strong>in</strong>e selbstbezogene Persönlichkeit verstand, son<strong>der</strong>n vielmehr mit se<strong>in</strong>er These aussagenwollte, daß sich die Menschen zunehmend nicht mehr an ver<strong>in</strong>nerlichten Normen, son<strong>der</strong>n an ihrem sozialen Umfeldorientieren (vgl. S. 52).216. Es ist offensichtlich, daß Sennett sich hierbei primär auf den tatsächlich zu beobachtenden Verfall <strong>der</strong> Zentren<strong>der</strong> amerikanischen Großstädte bezieht, <strong>der</strong> aber nicht <strong>in</strong> gleicher Weise für europäische Städte gilt.217. Entgegen Sennett dom<strong>in</strong>iert für mich jedoch nicht e<strong>in</strong>seitig e<strong>in</strong>e Intimisierung <strong>der</strong> öffentlichen Sphäre, son<strong>der</strong>ndaneben hat die Medienöffentlichkeit auch <strong>in</strong>vasiven Charakter, d.h. sie dr<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> den privaten Raum e<strong>in</strong>. Auf diesenPunkt werde ich im folgenden allerd<strong>in</strong>gs noch detaillierter e<strong>in</strong>gehen.218. Wie Habermas selbst e<strong>in</strong>räumt, gerät aus dieser Perspektive das Vorhandense<strong>in</strong> und die Wirkung <strong>der</strong> durchause<strong>in</strong>mal existent gewesenen proletarischen Öffentlichkeit aus dem Blickfeld. Das gilt me<strong>in</strong>es Erachtens auch für an<strong>der</strong>eFormen subbürgerlicher Öffentlichkeit. So wäre z.B. zu untersuchen, ob es nicht auch e<strong>in</strong>e spezifische kle<strong>in</strong>bürgerlicheÖffentlichkeit gegeben hat. Daß Öffentlichkeit gerade während <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> +Weimarer Republik* z.B. e<strong>in</strong>e Sphäredes Klassenkampf und des Kampfs zwischen Faschisten und Kommunisten war, wird ebenso ignoriert.219. Selbst wo wir uns im tatsächlichen öffentlichen Raum bewegen und nicht auf den fiktiven öffentlichen Raum<strong>der</strong> medialen Bil<strong>der</strong>welten starren, kennen wir die Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht, denen wir auf <strong>der</strong> Straße begegneno<strong>der</strong> mit denen wir vielleicht sogar zusammen gegen den Bau e<strong>in</strong>es neuen Kernkraftwerks demonstrieren.220. E<strong>in</strong>en historischen Überblick über die Entwicklung des Mediensystems (allerd<strong>in</strong>gs im wesentlichen konzentriertauf die Film- und Fernseh<strong>in</strong>dustrie) gibt Dieter Prokop. In se<strong>in</strong>em Band +Medien-Macht und Massen-Wirkung* (1995)unterscheidet er folgende Phasen: Bis zum ersten Weltkrieg dom<strong>in</strong>ierten angeblich kle<strong>in</strong>e Firmen und es herrschtee<strong>in</strong> Zustand freier Kreativität. 1915 bis 1930 kam es dann zur Entstehung von Medienkonzernen. Die Zeit von 1930bis 1945 war geprägt von Monopolen und e<strong>in</strong>er +Industrialisierung* des Mediensystems. 1945 bis 1960 wichen dieMonopole Oligopolen (zum<strong>in</strong>dest bei Film und Fernsehen). 1960 bis 1985 entstanden Medien-Mischkonzerne undes kam zur Internationalisierung des Mediengeschäfts. Seit 1985, so Prokop, ist die Medienlandschaft durch e<strong>in</strong> globalesMedienoligopol und die Konkurrenz um Software geprägt.221. Dort heißt es: +In choos<strong>in</strong>g and display<strong>in</strong>g news, editors, newsroom staff, and broadcasters play an importantpart <strong>in</strong> shap<strong>in</strong>g political reality. Rea<strong>der</strong>s learn not only about a given issue, but also how much importance to attachto that issue from the amount of <strong>in</strong>formation <strong>in</strong> a newsstory and its position. In reflect<strong>in</strong>g what candidates are say<strong>in</strong>gdur<strong>in</strong>g a campaign, the mass media may well determ<strong>in</strong>e the important issues – that is, the media may set the ›agenda‹of the campaign.* (S. 176)


58 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE222. In Anlehnung an Lazarsfeld, Berelson und Gaudet (vgl. Wahlen und Wähler; S. 160–164) wird häufig auch daraufh<strong>in</strong>gewiesen, daß Menschen sich nur solchen politischen Medien<strong>in</strong>halten zuwenden, die ihre bereits bestehendenMe<strong>in</strong>ungen verstärken (Konsonanz-Hypothese). Wolfgang Donsbach konnte h<strong>in</strong>gegen durch empirische Studien zeigen,daß dies (1) <strong>in</strong> bezug auf Zeitungsberichte kaum e<strong>in</strong>e Rolle spielt, da +bei <strong>der</strong> Mehrzahl <strong>der</strong> angebotenen Artikel Konsonanzo<strong>der</strong> Dissonanz gar nicht <strong>in</strong> Betracht kommt, weil <strong>der</strong> Leser zu diesen Informationen noch gar ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stellung besitzt.(2) Wird die Wirkung kognitiver Dissonanz bzw. Konsonanz durch mehrere Faktoren modifiziert bzw. ausgeschaltet.*(Medien und <strong>Politik</strong> – E<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationaler Vergleich; S. 30). Nur bei positiven Meldungen kommen Konsonanz-Mechanismenzum Tragen, nicht h<strong>in</strong>gegen bei negativen Berichten. Und auch die Plazierung entscheidet ganz wesentlich darüber,ob e<strong>in</strong> Artikel wahrgenommen wird o<strong>der</strong> nicht. Was den <strong>in</strong>ternationalen Vergleich betrifft, so läßt sich sagen, daß<strong>der</strong> Mediene<strong>in</strong>fluß auf die <strong>Politik</strong> durch Agenda-Sett<strong>in</strong>g <strong>in</strong> den USA größer zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t als <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en westlichenDemokratien, was durch das dortige Wahlsystem und e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Selbstverständnis <strong>der</strong> Journalisten (eher als Enthüller,denn als neutrale Berichterstatter) erklärt werden kann (vgl. ebd.; S. 34ff).223. Schulz weist im Rahmen se<strong>in</strong>er (mittlerweile nicht mehr ganz aktuellen) empirischen Untersuchung als e<strong>in</strong>er<strong>der</strong> ersten aus konstruktivistischer Perspektive darauf h<strong>in</strong>, daß es bei <strong>der</strong> Analyse von Nachrichten nicht darum gehenkann, das Bild, das <strong>in</strong> den Nachrichten erzeugt wird, mit +Realität* zu vergleichen und auf dieser Grundlage zu beurteilen,son<strong>der</strong>n daß es vielmehr – wegen <strong>der</strong> Unmöglichkeit <strong>der</strong> Erkenntnis von Realität – darauf ankommt, zu zeigen, welcheNachrichtenfaktoren für das selektive Bild verantwortlich s<strong>in</strong>d, das Medien notwendig zeichnen, um so zu verstehen,warum welche Wirklichkeit <strong>in</strong> den Nachrichten konstruiert wird. Er greift dabei (neben Whites Gatekeeper-Theorie,die die Journalisten als +Torwächter* über das Berichtete begreift) auch auf Lippmann zurück, <strong>der</strong> schon 1922 daraufh<strong>in</strong>wies, daß e<strong>in</strong>e Differenz zwischen Nachricht und Wahrheit besteht (vgl. Die öffentliche Me<strong>in</strong>ung; S. 243ff.) unddaß selbst im +authentischen* Augenzeugenbericht e<strong>in</strong>e Verzerrung <strong>der</strong> Ereignisse aufgrund von gebildeten Stereotypenund (Eigen-)Interessen etc. erfolgt. +Was er [<strong>der</strong> Beobachter] für se<strong>in</strong>en Bericht von e<strong>in</strong>em Ereignis hält, ist zumeist<strong>in</strong> Wirklichkeit dessen Umwandlung […] E<strong>in</strong> Bericht ist das verb<strong>in</strong>dende Produkt von Kenner und Bekanntem, wobei<strong>der</strong> Beobachter stets e<strong>in</strong>e Auswahl trifft und gewöhnlich schöpferisch tätig ist.* (Ebd.; S. 61) Die neuere Debatte zurProblematik von Konstruktivismus und Realismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kommunikationswissenschaft wird <strong>in</strong> dem von Günther Benteleund Manfred Rühl herausgegebenen Band +Theorien öffentlicher Kommunikation* (1993) aufgearbeitet.224. Vgl. zur Problematik <strong>der</strong> Kriegspropaganda und zum Zusammenhang von +Medien, Krieg und <strong>Politik</strong>* <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>eBeham: Kriegstrommeln.225. Vgl. z.B. Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung (Kapitel über +Kultur<strong>in</strong>dustrie, Aufklärung und Massenbetrug*).226. Stober spricht, +sofern die Nutzer, Leser und Hörer ke<strong>in</strong>e nennenswerten Alternativen […] zur Verfügung haben*,zusätzlich noch von e<strong>in</strong>er +Monopolgewalt* (Medien als vierte Gewalt; S. 29). Wäre ke<strong>in</strong> Monopol <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ngegeben, so wären aber auch die drei an<strong>der</strong>en genannten Gewalten nicht gegeben o<strong>der</strong> wirkungslos, so daß sichdie Rede von <strong>der</strong> <strong>in</strong>formativen Monopolgewalt <strong>der</strong> Medien me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach erübrigt bzw. tautologisch ist.227. Der Begriff des Medien-Formats geht auf David Altheide und Robert Snow zurück. In ihrem Artikel +Towarda Theorie of Mediation* (1988) def<strong>in</strong>ieren sie: +The way media appear, or their essential form, provides a k<strong>in</strong>d of <strong>in</strong>telligenceand <strong>in</strong>terpretation to specific po<strong>in</strong>ts of <strong>in</strong>formation, or content, that they present. We refer to the nature of this appearanceas format […]* (S. 198f.)228. Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> +Videomalaise*-Hypothese ist die Ansicht geäußert worden, daß die entpolitisierteDarstellung <strong>in</strong> den Medien, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Fernsehen, die Entfremdung von politischen (Sach-)Fragen för<strong>der</strong>e (vgl.hierzu z.B. die bereits zitierten Ausführungen von Marc<strong>in</strong>kowski o<strong>der</strong> auch Meyer: Die Transformation des Politischen;S. 148ff.). Christa Holz-Bacher kommt allerd<strong>in</strong>gs aufgrund neuerer empirischer Daten zur E<strong>in</strong>schätzung, daß es –zum<strong>in</strong>dest für die Bundesrepublik – +ke<strong>in</strong>en Anlaß gibt, zu behaupten, die Darstellung von <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> den Medienför<strong>der</strong>e <strong>Politik</strong>verdrossenheit. Vielmehr zeigt sich immer wie<strong>der</strong> die positive Beziehung zwischen dem Konsum politisch<strong>in</strong>formieren<strong>der</strong> Medienangebote und niedriger Entfremdung [gegenüber <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>]* (Massenmedien und <strong>Politik</strong>vermittlung;S. 190). Es muß dabei jedoch auch auf den von Elisabeth Noelle-Neumann geltend gemachten E<strong>in</strong>wand h<strong>in</strong>gewiesenwerden, daß nur Fernsehkonsum <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation mit Zeitungslektüre tatsächlich e<strong>in</strong> +positives* (sachorientiertes)<strong>Politik</strong><strong>in</strong>teresse bewirkt, während die alle<strong>in</strong>ige Nutzung des Fernsehens als <strong>in</strong>formationsmedium eher e<strong>in</strong> bloßes Interesseam Unterhaltungswert des Politischen hervorzurufen sche<strong>in</strong>t (vgl. Warum die Zeitung überleben wird; S. 94ff.).229. Meyer, <strong>der</strong> Sarc<strong>in</strong>elli vorwirft, mit se<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>weis auf die Notwendigkeit <strong>der</strong> +Symbolisierung* von <strong>Politik</strong> <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er (über)komplexen Gesellschaft, e<strong>in</strong>e zynische Haltung e<strong>in</strong>zunehmen (vgl. Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s; S. 149ff.),


A: ANMERKUNGEN 59hat <strong>in</strong> diesem Zusammenhang u.a. das Beispiel <strong>der</strong> Stürmung <strong>der</strong> Mosche von Ayodhya (Indien) durch radikale H<strong>in</strong>duszur Illustration herangezogen (vgl. ebd.; S. 157–168). In e<strong>in</strong>er eigenen Arbeit habe ich mich im Kontext <strong>der</strong> Darstellung<strong>der</strong> historischen Genese und Entwicklung des H<strong>in</strong>du-Nationalismus selbst e<strong>in</strong>gehend mit diesem Fall befaßt (vgl. ShivasTanz auf dem Vulkan).230. E<strong>in</strong>e (genauer differenzierende und an Beispielen belegte) Übersicht über Formen politischer Inszenierung bietetAstrid Schütz. Sie unterschiedet die drei Grundformen: +offensive Selbstdarstellung*, +defensive Selbstdarstellung*und +assertive Selbstdarstellung*, die jeweils mit e<strong>in</strong>er Reihe von verschiedenen (Sub-)Strategien umgesetzt werden(vgl. <strong>Politik</strong> o<strong>der</strong> Selbstdarstellung? – Beispiele von <strong>Politik</strong>erauftritten).231. Weitere Beispiele hierfür f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> den Bänden +Inszenierte Information* (Grewenig 1993) sowie +Das öffentlicheTheater* (Arm<strong>in</strong>geon/Blum 1995).232. Zur (deflektorischen) Rolle <strong>der</strong> Experten gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit siehe S. 149–152233. <strong>Post</strong>man hat im Jahr 1985 angesichts <strong>der</strong> amerikanischen Selbstzufriedenheit, daß Orwells Schreckensvisionaus +1984* nicht e<strong>in</strong>getreten ist, e<strong>in</strong>en kritischen Blick auf die +Schöne neue Welt* (Huxley) <strong>der</strong> amerikanischen Medienrealitätgeworfen und dabei das Resümee gezogen, daß pure Unterhaltung den politischen Diskurs aus den Medienverdrängt hat. So hat er se<strong>in</strong> provokantes Buch denn auch +Wir amüsieren uns zu Tode* genannt.234. Diese nie<strong>der</strong>ländische Organisation hat es sich zum Ziel gesetzt, e<strong>in</strong> Forum für subversive Wissenschaft im Netzzu schaffen.235. Thomas Meyer spricht hier von +symbolischer <strong>Politik</strong> von unten* (vgl. Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s; S. 185ff.).236. Der Fall des Rodney K<strong>in</strong>g – e<strong>in</strong>es Schwarzen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Los Angeles ohne ersichtlichen Grund auf offener Straßevon weißen Polizisten brutal mißhandelt wurde – ist <strong>in</strong> den USA <strong>der</strong> Öffentlichkeit dadurch bekanntgeworden, daße<strong>in</strong> Unbeteiligter die Mißhandlungen auf Video filmte. Dieses Video wurde dann im Fernsehen gezeigt und führtezur Anklage <strong>der</strong> Polizisten. Als diese jedoch (von e<strong>in</strong>em bundesstaatlichen Gericht) von <strong>der</strong> Anklage <strong>der</strong> Körperverletzungim Amt freigesprochen wurden, kam es zu Gewaltexzessen von schwarzer Seite (die sich auch gegen an<strong>der</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitenrichteten). In e<strong>in</strong>em zweiten (Bundesgerichts-)Verfahren kam es dann jedoch zu Verurteilungen.237. Manuel Castells spricht aufgrund ähnlicher Beobachtungen gar von e<strong>in</strong>er +Netzwerkgesellschaft* (vgl. The Riseof the Network Society).238. Das s<strong>in</strong>d massenhaft versandte e-Mails, die so groß bzw. zahlreich s<strong>in</strong>d, daß sie das +<strong>Post</strong>fach* des Adressatenunweigerlich verstopfen, <strong>der</strong> so von se<strong>in</strong>er elektronischen <strong>Post</strong> abgeschnitten ist.239. Die Internet-Adresse von +Mondo 2000* lautet: www.mondo2000.com.240. Ähnlich skeptisch argumentieren z.B. auch Heather Bromberg und ihre Mitstreiter aus <strong>der</strong> Gruppe +Interrogatethe Internet* (vgl. Contradictions <strong>in</strong> Cyberspace).241. E<strong>in</strong>e Reihe von Beiträgen zu diesem Themenkomplex f<strong>in</strong>det sich auch <strong>in</strong> dem von Manfred Faßler und WulfHalbach herausgegebenen Sammelband +Cyberspace – Geme<strong>in</strong>schaften, Virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten* (1994).242. Es handelt sich hierbei um e<strong>in</strong>en Sammelband, <strong>in</strong> dem vor allem kritische Stimmen zur neuen +Ästhetik <strong>der</strong>elektronischen Medien* zu Wort kommen.243. Zur Geschichte des Internets vgl. z.B. Le<strong>in</strong>er u.a. (Internet Society): A Brief History of the Internet.244. In ihrem im Internet publizierten Papier +A Framework for Global Electronic Commerce* nennen Bill Cl<strong>in</strong>tonund Al Gore (also <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitige US-Präsident und se<strong>in</strong> Vize) aufgrund von Hochrechnungen die Zahl von +mehrerenzehn Milliarden Dollar bis zur Jahrhun<strong>der</strong>twende*, und gerade auch für kle<strong>in</strong>e Unternehmen biete sich im Netz angebliche<strong>in</strong>e Chance. Allerd<strong>in</strong>gs kann man bezüglich des kommerziellen Potentials des Internets auch skeptischer se<strong>in</strong>. Dennfür e<strong>in</strong>e Geschäftsabwicklung im großen Stil fehlen <strong>der</strong>zeit standardisierte sowie vor allem sichere Zahlungsmethoden,


60 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEund da die meisten Dienste heute kostenlos angeboten werden, ist es fraglich, ob die Netzgeme<strong>in</strong>de für all die <strong>der</strong>zeitunbekümmert genutzten Angebote auch bereit se<strong>in</strong> wird, zu zahlen. Unter an<strong>der</strong>em deshalb halten viele Beobachterdie Euphorie, mit <strong>der</strong> Aktien von jungen Internet-Unternehmen gehandelt werden, für übertrieben. E<strong>in</strong> gutes Beispielist hier die Firma +Yahoo*, die e<strong>in</strong>en sehr populären (ebenfalls kostenlosen) Dienst zur Indizierung von Netz-Inhaltenofferiert und sich überwiegend mittels Werbung auf ihren Seiten f<strong>in</strong>anziert. Noch im Jahr vor dem Börsengang machtedie 1994 von zwei Studenten gegründete Firma – bei e<strong>in</strong>em Umsatz von nur 1,36 Mio. US-Dollar – sogar 600.000Dollar Verlust und verfügt außer ihrem +know how* über ke<strong>in</strong>e nennenswerten Aktiva. Auch dieses schlechte Ergebnisschreckte die Wall-Street-Spekulanten nicht, so daß das junge Unternehmen bei Börsenschluß am Tag <strong>der</strong> Aktiene<strong>in</strong>führunge<strong>in</strong>en Nom<strong>in</strong>alwert von unfaßbaren 848 Millionen Dollar hatte (vgl. Onl<strong>in</strong>e aktuell; Heft 8/1996, S. 13). Danebengilt es zu bedenken, daß die Rechtslage für elektronische Geschäftsabwicklungen noch weitgehend ungeklärt ist (vgl.hierzu auch Halehmi/Hommel/Avital: Electronic Commerce – Deficiencies and Risks sowie <strong>in</strong> umfassen<strong>der</strong> DarstellungRosenoer: CyberLaw).245. Bredekamp malt hier das düstere Bild e<strong>in</strong>er staatlich total kontrollierten Netzwelt, die den aktuellen +vorzivilisatorischenBürgerkrieg*, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Foren stattf<strong>in</strong>det, beendet. Richtig ist: Das Netz wird sicher niemals <strong>der</strong> Hortabsoluter Freiheit se<strong>in</strong>, da schon <strong>der</strong> Zugang an e<strong>in</strong>en Ressourcenbesitz gekoppelt ist. Ich halte aber auch dieentgegengesetzte Zukunftsvorstellung e<strong>in</strong>er totalitären Netzwelt für abwegig, da die Struktur des Netzes, so wie esaktuell aufgebaut ist, e<strong>in</strong>e umfassende staatliche Kontrolle schon technisch unmöglich macht. Genau dar<strong>in</strong> liegt dieHerausfor<strong>der</strong>ung des Internets für autokratisch-autoritäre Systeme wie <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a und im Iran.246. Es muß allerd<strong>in</strong>gs diesbezüglich angemerkt werden, daß Simmel mit Inhalten weniger soziale Werte und Normenals persönliche Interessen, Neigungen und psychische Bef<strong>in</strong>dlichkeiten etc. me<strong>in</strong>t, die erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wechselwirkung<strong>der</strong> Individuen Gesellschaftlichkeit herstellten, sich e<strong>in</strong>e soziale Form geben (vgl. Soziologie; S. 5).247. In dem Band +Consumer Culture and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism* (1991) wie analog <strong>in</strong> dem Artikel +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism andthe Aesthetization of Everyday Life* (1992) argumentiert Featherstone, daß e<strong>in</strong>e Ästhetisierung des Alltagslebens zwarnicht orig<strong>in</strong>är für die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist, son<strong>der</strong>n z.B. auch bereits <strong>in</strong> den Großstädten des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts anzutreffenwar. Als +life-style*-orientierte Konsumkultur des expandierenden Kle<strong>in</strong>bürgertums ist sie für ihn jedoch durchause<strong>in</strong>e (für die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne) typische Zeitersche<strong>in</strong>ung.248. Dieser Begriff ist bei Giehle, die versucht, das politische Potential ästhetischer Strategien <strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungmit Lyotard für die <strong>Politik</strong> auszuleuchten, allerd<strong>in</strong>gs nicht negativ konnotiert.249. Genau entgegengesetzt sieht es allerd<strong>in</strong>gs Scott Lash. Für ihn bedeutet <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nisierung e<strong>in</strong>en Entdifferenzierungsprozeß(im Gegensatz zu Mo<strong>der</strong>nisierung als Differenzierungsprozeß). Dabei knüpft er genau an die oben dargestelltekritische Argumentation an, welche die kulturelle <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne als (anti-avantgardistische) Entgrenzung von PopulärundHochkultur, von Kunst und Kommerz ansieht. Damit kommt es nach Lash vor allem zu e<strong>in</strong>er Restabilisierung<strong>der</strong> bürgerlichen Identität, die durch den avantgardistischen Impuls <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne herausgefor<strong>der</strong>t worden war (vgl.Sociology of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism; S. 15–30).250. E<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressanter Versuch zur Integration von Webers Ansatz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e transformierte Klassentheorie, die vor allemdie e<strong>in</strong>fache Gegenüberstellung von Proletariat und Kapital überw<strong>in</strong>det, ist unter an<strong>der</strong>em von Anthony Giddensmit se<strong>in</strong>em Ansatz <strong>der</strong> Klassenstrukturierung unternommen worden (siehe dazu nochmals Anmerkung 114). AuchErik O. Wright hat sich dem Problem <strong>der</strong> +Mittellagen* im Rahmen se<strong>in</strong>er neomarxistisch orientierten Klassentheoriegestellt. Wright geht davon aus, daß die Klassenzugehörigkeit nicht alle<strong>in</strong>e über den Besitz o<strong>der</strong> Nicht-Besitz vonProduktionsmitteln (bzw. Grundeigentum) bestimmt werden kann, wie die +klassische* Def<strong>in</strong>ition lautet (vgl. Marx:Das Kapital; Kap. 52), son<strong>der</strong>n er bezieht auch Befugnisse im Rahmen des Produktionsprozesses zur Bestimmungdes Klassenstatus mit e<strong>in</strong> (d.h. er fragt danach, wer die Kontrolle über Arbeit, Masch<strong>in</strong>en und Investitionen besitzt).Durch diesen +Trick* ist das Kle<strong>in</strong>bürgertum, das zwar über e<strong>in</strong> gewisses Geld- und Sachkapital, nicht aber über dieangesprochene Kontrollmacht verfügt, sowohl von <strong>der</strong> +omnipotenten* Kapitalistenklasse wie auch von den weitgehendeigentumslosen, jedoch <strong>in</strong> gewissem Umfang durchaus kontrollbefugten Angestellten und dem Proletariat, das nichtsvon alledem besitzt, abgrenzbar (vgl. Varieties of Marxist Conceptions of Class Structure). In dem Band +Classes* (1985)wird dieses Modell von Wright nochmals ergänzt, so daß sich nach ihm nunmehr vier Dimensionen <strong>der</strong> Klassenstrukturierungergeben: Kontrolle über Arbeitskraft, über Produktionsmittel, über Organisationen und (<strong>in</strong> Analogiezu Giddens) persönliche Fertigkeiten (vgl. S. 82ff.).


A: ANMERKUNGEN 61251. Lepsius erläutert: +Der Begriff <strong>der</strong> ›sozialmoralischen Milieus‹ hat gegenüber dem Klassenbegriff den Vorteil e<strong>in</strong>esexplizit weiter gesteckten Bezugsrahmens. Ich verwende ihn hier als Bezeichnung für soziale E<strong>in</strong>heiten, die durche<strong>in</strong>e Ko<strong>in</strong>zidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelleOrientierungen, schichtspezifische Zusammensetzung <strong>der</strong> <strong>in</strong>termediären Gruppen gebildet werden. Das Milieu iste<strong>in</strong> sozio-kulturelles Gebilde, das durch e<strong>in</strong>e spezifische Zuordnung solcher Dimensionen auf e<strong>in</strong>en bestimmtenBevölkerungsteil bestimmt wird.* (Parteiensystem und Sozialstruktur; S. 68)252. Welzmüller beizieht sich nur auf die 80er Jahre und kommt hier zu dem Ergebnis, daß die Reallöhne von 1980bis 1988 nur um 1% stiegen, während die Nettogew<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Unternehmen im gleichen Zeitraum um 139% stiegen.Selbständigenhaushalte hatten 1980 im Durchschnitt 2,8 mal mehr Geld zur Verfügung als Arbeitnehmerhaushalte.1989 verfügten sie schon über das 3,7fache E<strong>in</strong>kommen (vgl. Differenzierung und Polarisierung; S. 1479f.). DieserTrend gilt ungebrochen auch für die 90er Jahre. 1993 und 1994 sanken die Reallöhne sogar um 2,5 bzw. 3,1% (vgl.Auf dem Weg <strong>in</strong> die halbierte Gesellschaft – E<strong>in</strong>kommensverteilung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik).253. Hier handelt es sich um e<strong>in</strong>en Sammelband, <strong>der</strong> das Thema von verschiedenen Seiten her beleuchtet.254. Hradil selbst sieht <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Milieukonzept, das die soziale Lage (als Bündel +objektiver* Faktorenwie Geld, formale Bildung, berufliches Prestige etc.) <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit Lebensstilmustern und an<strong>der</strong>en eher subjektivenFaktoren br<strong>in</strong>gt, e<strong>in</strong>e Chance für e<strong>in</strong>e differenziertere Sozialstrukturanalyse fortgeschrittener Gesellschaften (vgl.Sozialstrukturanalyse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fortgeschrittenen Gesellschaft; Kap. 4).255. Geißler spricht angesichts <strong>der</strong> Transformation <strong>der</strong> fortgeschrittenen Industriegesellschaften zu post<strong>in</strong>dustriellenGesellschaften vone<strong>in</strong>erEntökonomisierung <strong>der</strong> Schichten (bei e<strong>in</strong>er gleichzeitigen Bedeutungssteigerung <strong>der</strong> Bildungsdimension).Allerd<strong>in</strong>gs sei diese Entwicklung nicht gleichbedeutend mit e<strong>in</strong>er Auflösung <strong>der</strong> Schichten. Vielmehr zeigesich e<strong>in</strong>e Entwicklung von e<strong>in</strong>er Oberflächen- zur Tiefenschichtung, d.h. die Schichtgrenzen s<strong>in</strong>d weniger leichtwahrnehmbar, aber trotzdem vorhanden und haben auch E<strong>in</strong>fluß auf die Lebenschancen <strong>der</strong> Menschen. (Vgl. Schichten<strong>in</strong> <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft; <strong>in</strong>sb. S. 91–99)256. Vgl. hierzu auch Kreckel: Politische Soziologie <strong>der</strong> sozialen Ungleichheit.257. Vgl. hierzu auch den Sammelband +Riskante Freiheiten* (Beck/Beck-Gernsheim 1994), <strong>in</strong> dem sich ebenso <strong>der</strong>unten zitierte Aufsatz von Heitmeyer f<strong>in</strong>det. Im e<strong>in</strong>leitenden Beitrag <strong>der</strong> beiden Herausgeber bemerken diese <strong>in</strong> Anlehnungan Sartre: +Die Menschen s<strong>in</strong>d zur Individualisierung verdammt. Individualisierung ist e<strong>in</strong> Zwang, e<strong>in</strong> paradoxer Zwangallerd<strong>in</strong>gs, zur Herstellung, Selbstgestaltung, Selbst<strong>in</strong>szenierung nicht nur <strong>der</strong> eigenen Biographie, son<strong>der</strong>n auch ihrerE<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dungen <strong>in</strong> Netzwerke, und dies im Wechsel <strong>der</strong> Präferenzen und Lebensphasen und unter dauern<strong>der</strong> Abstimmungmit an<strong>der</strong>en und den Vorgaben von Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Wohlfahrtsstaat usw.* (S. 14)258. In <strong>der</strong> zweibändigen Anthologie +Bundesrepublik Deutschland – Auf dem Weg von <strong>der</strong> Konsens- zur Konfliktgesellschaft*(1997) wird das Des<strong>in</strong>tegrations-Argument des Herausgebers Heitmeyer, das als Gegenposition zu Becks eher optimistischerSicht des Individualisierungsprozesses gesehen werden kann, von verschiedenen Seiten her und auch anhand vonempirischen Fallbeispielen beleuchtet.259. Ich gehe auf den dialektischen Prozeß <strong>der</strong> kulturellen Globalisierung – die z.B. mit globalisierten +Ideoscapes*(d.h. weltumspannenden Ideen wie +persönlicher Freiheit*) natürlich auch das <strong>in</strong>dividuelle Leben erfaßt, an<strong>der</strong>erseitsaber immer e<strong>in</strong>e lokale (und <strong>in</strong>dividuelle) Anpassung dieser von an<strong>der</strong>en globalen kulturellen Flüssen (wie Medienbil<strong>der</strong>no<strong>der</strong> Technologien) zunehmend abgespaltenen +Vorstellungswelten* mit sich br<strong>in</strong>gt – erst an späterer Stelle nähere<strong>in</strong> (siehe S. 263f.), da ich mich hier auf den <strong>in</strong> den fortgeschrittenen Industriestaaten vor allem durch ökonomischeProzesse selbst <strong>in</strong>itiierten Wertewandel konzentrieren möchte.260. Diese neue Sozialmoral ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e lebendig im Leben <strong>der</strong> +K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit* (so auch <strong>der</strong> <strong>in</strong> Anlehnungan Helen Wilk<strong>in</strong>son gewählte Titel e<strong>in</strong>es von Beck herausgegebenen Sammelbands), jener +moralischen Generation*(Dettl<strong>in</strong>g), die unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividualisierten Gesellschaft sozialisiert wurde und weit weniger egoistischund +werteverfallen* ist, als es konservative Kommentatoren so gerne behaupten.261. Der hier zitierte Text ist Bestandteil <strong>der</strong> Dokumentation zur gleichnamigen Ausstellung, die 1995 im Gebäude<strong>der</strong> +Münchner Rück* zu sehen war, <strong>in</strong> <strong>der</strong> (bildliche und textliche) Portraits +<strong>in</strong>dividualisierter* Lebensverläufezusammengetragen s<strong>in</strong>d.


62 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE262. Zur Messung verwendete Inglehart e<strong>in</strong>en relativ knappen Fragebogen mit 4 bzw. <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Langversion* mit 12Items (vgl. Kultureller Umbruch; S. 101).263. Inglehart erhob bei dieser ersten Welle nur Daten <strong>in</strong> Großbritannien, Frankreich, <strong>der</strong> Bundesrepublik, Italien,Belgien und den Nie<strong>der</strong>landen. Später weite er se<strong>in</strong>e Studie auf 22 (ab 1981) bzw. 43 (ab 1990) Staaten aus.264. Dieser Trend wird auch durch die neuesten Daten Ingleharts bestätigt (vgl. Mo<strong>der</strong>nization and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nization).Ich habe mich im folgenden nicht auf diese aktuelle Veröffentlichung bezogen, da sie mir erst nach Abschluß <strong>der</strong>Ausarbeitung dieses Abschnitts zugänglich wurde und ke<strong>in</strong>e wesentlichen Än<strong>der</strong>ungen an Konzept und Befunden(bis auf e<strong>in</strong>e Ausweitung <strong>der</strong> Studie auch auf Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> +Dritten Welt* und Osteuropa) festzustellen s<strong>in</strong>d, die esunabwendbar gemacht hätten, e<strong>in</strong> +Update* vorzunehmen. Zudem bezieht sich Klages mit se<strong>in</strong>en Anfang <strong>der</strong> 90erJahre vorgebrachten wichtigen Relativierungen (siehe unten) natürlich auch auf Ingleharts +alte* Daten.265. Lei<strong>der</strong> gibt Inglehart ke<strong>in</strong>e exakten Prozentzahlen an. Se<strong>in</strong>e graphische Darstellung vermittelt jedoch das klareBild e<strong>in</strong>er +Schere*.266. Kurz gesagt: +Im Jahr 1973 überwogen die materialistischen Ziele die postmaterialistischen im Verhältnis zweizu e<strong>in</strong>s, 1988 nur noch im Verhältnis 1,5 zu e<strong>in</strong>s.* (Kultureller Umbruch; S. 129)267. Diese Aussage Ingleharts, welche den Wertewandel auch mit dem Aufkommen neuer sozialer Bewegungen<strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung br<strong>in</strong>gt (siehe unten), steht übrigens genau konträr zu Agnes Hellers Position, für die die politischenBewegungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ihren generativen Charakter und damit auch ihre scharfen Umrisse verloren haben:+<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism is a wave with<strong>in</strong> which all k<strong>in</strong>ds of movements, artistic, political and cultural, are possible.* (Existentialism,Alienation, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism – Cultural Movements as Vehicles of Change <strong>in</strong> the Patterns of Everyday Life; S. 8)268. Inglehart betont jedoch, daß es sich hier nicht um e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>s<strong>in</strong>nige Verknüpfung handelt, +denn die Werte reflektierendas subjektive Empf<strong>in</strong>den von Sicherheit und nicht die objektive wirtschaftliche Situation* (Kultureller Umbruch; S.93). An<strong>der</strong>erseits ist dieses subjektive Empf<strong>in</strong>den vermutlich nicht völlig losgelöst von den +objektiven* Gegebenheiten.269. In diesem Zusammenhang spricht Jürgen Gerhards von +Neue[n] Konfliktl<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mobilisierung öffentlicherMe<strong>in</strong>ung* (1993). Er will dabei e<strong>in</strong>e +triadische Struktur* erkennen, wobei e<strong>in</strong>e postmaterialistische L<strong>in</strong>ke (neue <strong>Politik</strong>)<strong>der</strong> materialistischen L<strong>in</strong>ken wie <strong>der</strong> materialistischen Rechten (alte <strong>Politik</strong>) gegenübersteht (vgl. Abb. 5, S. 47). Warumes allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e postmaterialistische Rechte geben soll, bleibt ungeklärt. Die hier zitierten Ausführungen von Mayer-Taschund Koslowski (siehe S. 201) belegen me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach, daß es e<strong>in</strong>e solche durchaus gibt.270. Ingleharts Daten zeigen, daß z.B. die Unterstützung für die Friedens- und die Umweltbewegung unter +<strong>Post</strong>materialisten*deutlich höher ist, als unter +Materialisten* (vgl. Kultureller Umbruch; Tab. 11.2 u. 11.4, S. 473 bzw. S. 475).271. Der Begriff +politische Kultur* geht auf die amerikanischen <strong>Politik</strong>wissenschaftler Gabriel Almond und SidneyVerba zurück. Diese def<strong>in</strong>ieren im Rahmen ihres Anfang <strong>der</strong> 60er Jahre angestellten empirischen Vergleichs von fünfDemokratien (USA, Großbritannien, Deutschland, Italien und Mexiko) politische Kultur als Bündel <strong>der</strong> politischenOrientierungen – untersucht wurde also die E<strong>in</strong>stellung <strong>der</strong> Bürger gegenüber dem politischen System sowie die Sicht<strong>der</strong> eigenen Rolle im System (vgl. The Civic Culture; S. 13). Dabei mag es kaum verwun<strong>der</strong>n, daß <strong>der</strong> Typus <strong>der</strong> politischenKultur, wie er nach Almond und Verba <strong>in</strong> den angelsächsischen Län<strong>der</strong>n überwiegend vorherrschend ist, als günstigsteGrundlage für stabile demokratische Strukturen gefeiert wird, da die dort angeblich anzutreffende +zivile Kultur* mitihrer +gesunden* Mischung aus Partizipationsbestreben und abwarten<strong>der</strong> Gelassenheit am besten zu e<strong>in</strong>er +mo<strong>der</strong>nen*repräsentativen Demokratie passe (vgl. ebd.; S. 473ff.).272. Klages me<strong>in</strong>t jedoch, daß man treffen<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>em Wandel von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswertensprechen sollte, da das von Inglehart gewählte Begriffspaar materialistisch–postmaterialistisch fürihn zu e<strong>in</strong>seitig die ökonomische Dimension betont (vgl. Werteorientierungen im Wandel; S. 24f.).273. Klages nennt als wichtigste Voraussetzung für die als Zukunftsentwicklung von ihm wohl favorisierte Wertesynthesee<strong>in</strong>e +<strong>in</strong>takte* Gesellschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die funktional getrennten Subsysteme im Interesse des Ganzen zusammenwirken.


A: ANMERKUNGEN 63274. Berthold Flaig, Geschäftsführer des S<strong>in</strong>us-Instituts <strong>in</strong> Heidelberg, und Jörg Ueltzhöffer haben dieses Milieumodellentwickelt. Im zitierten Band, den sie zusammen mit Thomas Meyer verfaßt haben, geht es den Autoren um die +ästhetischeDimension politischer Bildung und politischer Kommunikation*, wobei auch die Unterschiede <strong>in</strong> <strong>der</strong> Milieu-Strukturzwischen Ost und West nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>igung (die ich hier vernachlässigt habe) <strong>in</strong>s Blickfeld rücken.275. E<strong>in</strong>e genaue Charakterisierung dieser neun Milieus, die ich mir wegen <strong>der</strong> weitgehend selbsterklärenden Term<strong>in</strong>ologiehier gespart habe, kann bei Flaig, Meyer und Ueltzhöffer auf den Seiten 59–69 nachgelesen werden.276. Im Orig<strong>in</strong>al wird hier zwar e<strong>in</strong>e genauere Differenzierung mit fünf Schichtungs- und Werteorientierungskategorienvorgenommen, doch, wie gesagt, grob läßt sich das SINUS-Modell so darstellen (vgl. auch Vester et al.: Soziale Milieusim gesellschaftlichen Strukturwandel; S. 22ff.).277. Zur Ökologiebewegung wurden <strong>in</strong> Abschnitt 2.3 bereits e<strong>in</strong>ige (kritische) Bemerkungen gemacht, auf die ichan dieser Stelle nochmals verweisen möchte.278. E<strong>in</strong>en guten allgeme<strong>in</strong>en, zur E<strong>in</strong>führung geeigneten Überblick zum Phänomen <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungenund <strong>der</strong> mit ihnen verbundenden Transformation <strong>der</strong> politischen Kultur gibt Alan Scott <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag +PoliticalCulture and Social Movements* <strong>in</strong> dem Band +Political and Economic Forms of Mo<strong>der</strong>nity* (Allen/Braham/Lewis 1993).279. Gramsci betont hier die Bedeutung <strong>der</strong> Kultur gegenüber <strong>der</strong> e<strong>in</strong>seitigen Fixierung auf die Praxis, denn nur durche<strong>in</strong> kulturelles Bewußtse<strong>in</strong> kann die Basis für e<strong>in</strong>e revolutionäre Bewegung geschaffen werden: +Kultur […] ist Gew<strong>in</strong>nene<strong>in</strong>es höheren Bewußtse<strong>in</strong>s, durch das man den eigenen historischen Wert, die eigene Funktion im Leben, die eigenenRechte und Pflichten zu begreifen vermag […] je<strong>der</strong> Revolution g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive kritische Arbeit <strong>der</strong> geistigenDurchdr<strong>in</strong>gung, <strong>der</strong> Ausstrahlung von Ideen auf Menschengruppierungen voraus […]* (Sozialismus und Kultur; S. 8f.)280. Entgegen dem +funktionalistischen Paradigma* (Moscovici zählt dazu sogar die Psychoanalyse) ist nicht immernur e<strong>in</strong> sozialer Anpassungsdruck an die Mehrheit festzustellen. Als Gegenpol zu dieser +asymmetrischen* Sicht schlägtMoscovici e<strong>in</strong>e +symmetrische* Interpretation sozialer Beziehungen vor, und gerade im Prozeß des sozialen Wandelsspielen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten e<strong>in</strong>e em<strong>in</strong>ent wichtige Rolle. Diese können Wandel bewirken, da sie mittels <strong>der</strong> Thematisierungihrer Ziele und Wünsche und über ihr Konfliktpotential soziale Innovation <strong>in</strong> Gang setzten.281. So lautet <strong>der</strong> Titel sowohl des Sammelbands, dem <strong>der</strong> oben zitierte Artikel entnommen wurde, wie auch e<strong>in</strong>esBeitrags von Guggenberger.282. DieseArgumentationsfigur von Giddensweist übrigens e<strong>in</strong>e erstaunlicheÜbere<strong>in</strong>stimmung mit <strong>der</strong> oben dargestelltenPosition von Laclau und Mouffe auf, die aber von Giddens nicht als Referenz genannt werden.283. Almond und Verba verstehen unter e<strong>in</strong>er +zivilen Kultur* e<strong>in</strong>e aktive, partizipatorische (doch das System grundsätzlichbejahende) politische Kultur, von <strong>der</strong> sie e<strong>in</strong>e passive Untertanenkultur abgrenzen (siehe auch Anmerkung 271).284. Es handelt sich bei diesem <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Sozialen Welt* veröffentlichten Text um das Redemanuskript e<strong>in</strong>es VortragsToura<strong>in</strong>es, den er auf dem Soziologentag <strong>in</strong> Bamberg 1983 gehalten hat.285. Für Joachim Raschke greift diese von Toura<strong>in</strong>e, Blumer und vielen an<strong>der</strong>en gleichermaßen getroffene Bestimmungallerd<strong>in</strong>gs zu kurz. Er def<strong>in</strong>iert den Begriff +soziale Bewegung* folgen<strong>der</strong>maßen: E<strong>in</strong>e +soziale Bewegung ist e<strong>in</strong> kollektiverAkteur, <strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>er gewissen Kont<strong>in</strong>uität auf <strong>der</strong> Grundlage hoher symbolischer Integration und ger<strong>in</strong>ger Rollenspezifikationmittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegen<strong>der</strong>en sozialen Wandel herbeizuführen,zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n o<strong>der</strong> rückgängig zu machen* (Zum Begriff <strong>der</strong> sozialen Bewegung; S. 21), wobei sich neue soziale Bewegungenim Gegensatz zu den sozialen Bewegungen <strong>der</strong> Vergangenheit eher +themenspezifisch* als +richtungsspezifisch* differenzierenlassen (vgl. ebd.; S. 25). Raschke me<strong>in</strong>t damit, daß sich <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> neuen sozialen Bewegungen zwar+l<strong>in</strong>ke* und +rechte* Positionen ausmachen lassen, diese aber nicht als Grundlage <strong>der</strong> Differenzierung <strong>in</strong> Teilbewegungendienen können. Dafür s<strong>in</strong>d eher thematische Gesichtspunkte geeignet: Ökologie, Atomenergie, Frauen, Frieden etc.Innerhalb <strong>der</strong> Arbeiterbewegung ließ sich z.B. dagegen noch sehr wohl nach katholischen, sozialdemokratischen,kommunistischen und anarchistischen Teilbewegungen unterscheiden.


64 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE286. Blumers Text ist bereits Ende <strong>der</strong> 30er Jahre entstanden, so daß er schon aufgrund des damaligen Fehlens +neuer*sozialer Bewegungen nicht von diesen handeln konnte.287. Als aktuelles Beispiel könnte wohl vor allem die Techno-Bewegung dienen (vgl. z.B. Hitzler/Pfadenhauer: ›Letyour body take control!‹). Allerd<strong>in</strong>gs kann man auch hier gewisse subpolitische Momente ausmachen (vgl. Dies.:Konsequenzen <strong>der</strong> Entgrenzung des Politischen – Existentielle Strategien am Beispiel ›Techno‹).288. Dazu Rucht: +Die <strong>in</strong>strumentelle Logik ist zukunftsorientiert. Sie betont den Vorrang <strong>der</strong> Zielerreichung unddamit Fragen des zweckrationalen Mittele<strong>in</strong>satzes […] Die expressive Logik ist gegenwartsorientiert. Sie betont denVorrang von unmittelbarer, authentischer Aktion als Ausdruck e<strong>in</strong>er situativen Stimmungs- o<strong>der</strong> Krisenlage. Die angestrebtenZiele werden <strong>in</strong> E<strong>in</strong>heit mit <strong>der</strong> Mittelwahl gesehen, ja <strong>der</strong> Weg selbst kann als Ziel deklariert werden.* (Mo<strong>der</strong>nisierungund neue soziale Bewegungen; S. 83)289. Hier f<strong>in</strong>det sich auch (anhand von diversen Fallbeispielen) e<strong>in</strong> ausführlicher Vergleich von neuen sozialen Bewegungen<strong>in</strong> Deutschland, Frankreich und den USA. E<strong>in</strong>ige <strong>in</strong>teressante Studien, die <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch die Öffentlichkeitswirkungvon (neuen) sozialen Bewegungen beleuchten, können dagegen dem von Friedhelm Neidhardt herausgegeben Son<strong>der</strong>band34 <strong>der</strong> +Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie* (Öffentlichkeit, öffentliche Me<strong>in</strong>ung, soziale Bewegungen)entnommen werden. Aus Platzgründen kann ich lei<strong>der</strong> selbst nicht näher auf e<strong>in</strong>zelne Beispiele e<strong>in</strong>gehen.290. Tilly betont, daß die sozialen Bewegungen im Zuge des nationalistischen Projekts im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t entstandens<strong>in</strong>d und spricht auch aufgrund <strong>der</strong> für soziale Bewegungen typischen Herausfor<strong>der</strong>ung (national)staatlicher Autoritätenvon +nationalen sozialen Bewegungen* – was se<strong>in</strong>es Erachtens ebenso für die neuen sozialen Bewegungen zutrifft.291. Die hier implizit angesprochene diagnostische Wirkung von (neuen) sozialen Bewegungen, welche, wenn ihreDiagnosen ernst genommen würden, e<strong>in</strong>en wichtigen (doch zumeist ungewollten) Beitrag für die Stabilisierung desSystems leisten könnten, <strong>in</strong>dem sie es auf se<strong>in</strong>e Schwächen h<strong>in</strong>weisen und so Verbesserungsimpulse geben, wirdme<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>druck nach von <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen <strong>Politik</strong> kaum +genutzt*. Man läßt sich nur auf oberflächlicher Ebeneauf die Botschaften neuer sozialer Bewegungen e<strong>in</strong>, anstatt sie ernst zu nehmen.


A: ANMERKUNGEN 65KAPITEL 3: DIE ANTINOMIEN +KLASSISCHER* POLITIK IN DER GLOBALEN RISIKOGESELLSCHAFT1. Luttwak spricht im Zusammenhang von Globalisierung und dem Aufstieg <strong>der</strong> asiatischen NICs von e<strong>in</strong>em neuenKampf um die <strong>in</strong>dustrielle Vormachtstellung (vgl. Weltwirtschaftskrieg; Kap. 1). Bei se<strong>in</strong>er eher oberflächlich-plakativenAnalyse geht es ihm primär darum, herauszuf<strong>in</strong>den, was dagegen getan werden kann, daß die USA (wie von ihmbefürchtet) zu e<strong>in</strong>em Dritte-Welt-Land degenerieren.2. Arbeitsplätze s<strong>in</strong>d deshalb so zentral, weil gerade <strong>der</strong> Kampf um das <strong>in</strong>ternationale Investitionskapital zu Steuerzugeständnissenzw<strong>in</strong>gt, so daß Steuere<strong>in</strong>nahmen fast nur noch aus <strong>der</strong> Besteuerung <strong>der</strong> Arbeitnehmere<strong>in</strong>kommenfließen (siehe dazu auch S. 219).3. Es war Marcos’ Hilferuf und Informationspolitik über das Internet, die die Weltöffentlichkeit erstmals auf den Konflikt<strong>in</strong> Chiapas, <strong>der</strong> 1994/95 zu e<strong>in</strong>em Aufstand <strong>der</strong> dortigen Bevölkerung gegen die mexikanische Zentralregierung führte,aufmerksam machte.4. Bienefeld argumentiert <strong>in</strong> diesem im +Socialist Register 1994* veröffentlichten Artikel (ganz orthodox-sozialistisch)mit <strong>der</strong> Ineffizienz und Instabilität e<strong>in</strong>es ungeregelten Kapitalismus, und wie McEwan (ebenda und ebenso orthodoxsozialistisch)aufweist, ist beson<strong>der</strong>s die Produktion von Ungleichheit, die mit dem aktuellen Globalisierungsprozeßverbunden ist (siehe auch S. 82–89), kontraproduktiv für weiteres Wachstum, da sie die Absatzmöglichkeiten schwächt(vgl. Globalisation and Stagnation; S. 134ff.).5. Dallemagne legt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift, die aus den 70er Jahren stammt, dar, daß <strong>in</strong>terventionistische <strong>Politik</strong> durch dieInternationalisierungsprozesse vor e<strong>in</strong>em großen Problem steht. Denn diese beseitigen die Asymmetrien des <strong>in</strong>ternationalenHandels, die die Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> kapitalistischen Produktion auf nationaler Ebene lange Zeit überdecken konnten.6. Das Argument von den sozialen Kosten, die die <strong>in</strong>dividuelle Nutzenmaximierung aufbürdet, ist unmittelbar e<strong>in</strong>leuchtend:Die Automobil<strong>in</strong>dustrie will Autos verkaufen und die durch Werbung kaufwillig gemachten +freien* Bürger for<strong>der</strong>n+freie Fahrt!*. Die Infrastruktur dazu muß aber vom Staat bereitgestellt werden – zu Lasten an<strong>der</strong>er Aufgaben undvon den ökologischen Folgekosten (die natürlich alle geme<strong>in</strong>schaftlich zu tragen haben) ganz abgesehen (vgl. auchSoziale Grenzen des Wachstums; S. 156). Der Kapitalismus ist also nur bei <strong>der</strong> Produktion materieller Güter effizient,nicht aber, wenn es um soziale Güter (wie Gesundheit o<strong>der</strong> E<strong>in</strong>kommensgerechtigkeit etc.) geht (vgl. ebd.; S. 223f.).Die an<strong>der</strong>e Seite <strong>der</strong> sozialen Grenzen des Wachstums liegt, was weniger offen zutage tritt, im Wachstum <strong>der</strong> Ungleichheit.Denn <strong>in</strong> den westlichen Industriestaaten hat sich, worauf im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Individualisierungsthese <strong>in</strong> Abschnitt2.5 e<strong>in</strong>gegangen wurde, das Wohlstandsniveau drastisch erhöht. Diese Erhöhung h<strong>in</strong>g mit dem stattgefundenenWirtschaftswachstum zusammen. Hirsch spricht jedoch von e<strong>in</strong>em +Loch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Überflußgesellschaft*: Denn obwohl(o<strong>der</strong> gerade weil) die absoluten E<strong>in</strong>kommen (als Konsumäquivalente für <strong>in</strong>dustrielle Massengüter) allgeme<strong>in</strong> steigenbzw. damals noch stiegen, gibt es e<strong>in</strong>e relative Entwertung dieser E<strong>in</strong>kommen. Knappe Güter (Hirsch zählt vor allemzeit<strong>in</strong>tensive Dienstleistungen dazu) verteuern sich nämlich gleichzeitig und können von immer weniger Menschen<strong>in</strong> Anspruch genommen werden. Das läßt die sozialen Ungleichheiten wie<strong>der</strong> hervortreten und e<strong>in</strong> +unproduktiver*Verteilungskampf setzt e<strong>in</strong> (vgl. ebd.; S. 150ff.). Es ist bezüglich <strong>der</strong> Verknappungshypothese von Hirsch allerd<strong>in</strong>gskritisch anzumerken, daß die Rationalisierung <strong>der</strong> Produktion e<strong>in</strong> immenses Arbeitskräftepotential freisetzt, was, durchdie zunehmende Konkurrenz am Arbeitsmarkt, gerade Dienstleistungen verbilligt. Zudem können viele Dienstleistungendurch mo<strong>der</strong>ne technische Geräte und Infrastruktur substituiert werden.7. Der (exzessive, nicht regulierte) Wettbewerb <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er globalisierten Ökonomie stößt gemäß den Thesen <strong>der</strong> +Gruppevon Lissabon* vor allem an vier strukturelle Grenzen: 1. die wirtschaftlichen Turbulenzen, die er zwangsläufig bewirkt,2. Die sozio-ökonomischen Ungleichheiten, die er <strong>in</strong>nerhalb (aber auch zwischen) Staaten produziert, 3. die Umweltzerstörungen,die er als +Nebenprodukt* hervorruft und 4. die sozial nicht legitimierte Macht, die e<strong>in</strong>em politischnicht gesteuerten ökonomischen System zukommt (vgl. Grenzen des Wettbewerbs; S. 140). Das hat e<strong>in</strong>e ganze Reihevon negativen Auswirkungen: die Priorität technischer Systeme, den Vorrang kurzfristiger F<strong>in</strong>anzüberlegungen, dieFör<strong>der</strong>ung globaler Oligopole etc. (vgl. ebd; S. 144).8. Weitere Beispiele für aktuelle Veröffentlichungen dieses Tenors s<strong>in</strong>d Vivian Forresters kritische Anmerkungen zum+Terror <strong>der</strong> Ökonomie* und John Sauls Buch +Der Markt frißt se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong>* (beide 1997). Der von Alan Scott heraus-


66 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEgegebene Sammelband +The Limits of Globalization* (ebenfalls 1997), gibt sich schon ihm Titel weniger +reißerisch*und widmet sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>zelbeiträgen neben <strong>der</strong> Analyse ökonomischer Prozesse speziell <strong>der</strong> kulturellen Dimension<strong>der</strong> Globalisierung. Dies gilt auch für Richard Sennetts aktuelles Buch +Der flexible Mensch – Die Kultur des neuenKapitalismus* und Noam Chomskys Schrift +Haben und Nichthaben* (beide 1998).9. Altvater und Mahnkopf s<strong>in</strong>d auch mit e<strong>in</strong>em Beitrag <strong>in</strong> dem <strong>in</strong> Anmerkung 8 angesprochenen Sammelband vertreten.10. Ich beziehe mich hier im folgenden nur auf das me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach zentrale Kapitel 4 (+Disembedd<strong>in</strong>g* global).11. Giddens versteht unter +Disembedd<strong>in</strong>g* die Herauslösung sozialer Beziehungen aus lokalen Interaktionskontextenund <strong>der</strong>en Restrukturierung über unbestimmte Raum-Zeit-Spannen (vgl. Consequences of Mo<strong>der</strong>nity; S. 21ff. undsiehe auch hier S. 56).12. Nach Arno Heise ist die Rede vom +Sachzwang Weltmarkt* freilich – wenn man sich auf die Zentrumsnationenbezieht – e<strong>in</strong> Mythos. Hier ist Globalisierung aufgrund <strong>der</strong> vorhandenen Wettbewerbsstärke nur <strong>in</strong>soweit problematischals sie die F<strong>in</strong>anzmärkte betrifft. Doch dem kann, so Heise, durch regionale (f<strong>in</strong>anz- und währungspolitische) Integrationentgegengewirkt werden. Heise argumentiert also entlang <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ie des unten diskutierten Expansionsmodells <strong>der</strong><strong>Politik</strong>. (Vgl. Der Mythos vom ›Sachzwang‹ Weltmarkt)13. Auch schon früher hat man sich natürlich (aus bürgerlicher Perspektive) über +Die Zukunft des Kapitalismus* Gedankengemacht. E<strong>in</strong> Beispiel für diese Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung ist Max Schelers ebenfalls eher skeptische Schrift, die sogar denselben Titel wie Thurows Arbeit trägt (und um 1914 herum entstanden se<strong>in</strong> dürfte). Den Kapitalismus <strong>in</strong>terpretiert<strong>der</strong> Philosoph und Soziologe Scheler (1874–1928) hier als e<strong>in</strong> ganzes +Lebens- und Kultursystem* und ke<strong>in</strong>e bloßeProduktionsweise (vgl. S. 75). Als solches läßt sich <strong>der</strong> <strong>in</strong> Europa entstandene Kapitalismus nach ihm auch nicht ohneweiteres <strong>in</strong> alle Welt exportieren, ohne auf kulturelle Gegenwehr zu stoßen (vgl. ebd.; 89f.). Hier irrte allerd<strong>in</strong>gs Schelerwohl. Zwar formieren sich aktuell <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat antikapitalistische Gegenströmungen wie <strong>der</strong> fundamentalistische Islam,doch die gibt es schließlich auch <strong>in</strong> Europa und den Vere<strong>in</strong>igten Staaten, und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die konfuzianische Kulturist – wie Ch<strong>in</strong>a, Hongkong und Taiwan beweisen – durchaus Kapitalismus-kompatibel. Insgesamt betrachtet sche<strong>in</strong>tdas Kapital (beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Form als US-Dollar) e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> universellsten +Werte* überhaupt zu se<strong>in</strong> – universellerals jedes +Menschenrecht*.14. Hierauf werde ich unten noch näher e<strong>in</strong>gehen.15. In dieser letzten Argumentationsfigur wird übrigens e<strong>in</strong>e deutliche Parallele zu Bells Argumentation erkennbar,<strong>der</strong> darauf h<strong>in</strong>gewiesen hat, daß die vom Kapitalismus beför<strong>der</strong>te Konsum-Kultur im Wi<strong>der</strong>spruch zum kapitalistischenLeistungspr<strong>in</strong>zip steht (siehe hier S. LV und vgl. auch <strong>in</strong>sb.: Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus; Kap. 1).16. Diese Repräsentativität gilt natürlich nur, wenn man laissez-fair-kapitalistische Konzeptionen ausklammert – dochhier wird die <strong>Politik</strong> ohneh<strong>in</strong> nur als +Störenfried* im Marktgeschehen gesehen, wo +die unsichtbare Hand* (des AdamSmith) wie von selbst im freien Spiel von Angebot und Nachfrage für das Wohl aller sorgt. Diese Hand ist me<strong>in</strong>erMe<strong>in</strong>ung nach allerd<strong>in</strong>gs so unsichtbar, daß man erstens noch ke<strong>in</strong>e tatsächlich +freie* Marktwirtschaft gesehen hat,die zweitens, wenn man sie gesehen hätte, sicher niemals zu sozialer Gerechtigkeit o<strong>der</strong> auch nur sozial erträglichenVerhältnissen geführt hätte.17. Man könnte also auch davon sprechen, daß die aktuelle Entwicklung die +Politisierung* <strong>der</strong> Ökonomie erschwert,<strong>in</strong>dem die politischen Interventions- und Umverteilungsmöglichkeiten +objektiv* begrenzt werden.18. Kant plädiert <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schrift +Zum ewigen Frieden* (1795) für e<strong>in</strong>en fö<strong>der</strong>alistischen Völkerbund (vgl. S. 64 [B 30f.]).19. Beck, anhand dessen Äußerungen das Expansionsmodell <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> schließlich illustriert wurde, wendet sich allerd<strong>in</strong>gsexplizit sowohl gegen beschränkte Modelle e<strong>in</strong>er bloßen <strong>in</strong>ternationalen Zusammenarbeit wie gegen die re<strong>in</strong>e Aufblähungdes altbekannten Nationalstaats zu e<strong>in</strong>em Groß- o<strong>der</strong> Weltstaat (vgl. Was ist Globalisierung?; S. 218ff.). Die vom ihmimag<strong>in</strong>ierte Weltgesellschaft <strong>der</strong> +glokalen* (daß heißt <strong>in</strong> die Dialektik von Globalisierung und Lokalisierung e<strong>in</strong>gebundenen)Transnationalstaaten impliziert e<strong>in</strong> hybrides Staatlichkeitsmodell, das sich nicht mehr auf die E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Nation imabgedichteten Conta<strong>in</strong>er-Staat fixiert (siehe auch hier S. 218), son<strong>der</strong>n vielmehr auch den transnationalen subpolitischenAkteuren Raum zur Entfaltung gibt, wozu es allerd<strong>in</strong>gs gemäß Beck notwendig ist, daß klassische staatliche Aufgaben


A: ANMERKUNGEN 67wie die Garantie von Grundrechten weiter wahrgenommen werden (vgl. Was ist Globalisierung?; S. 183–192 sowieS. 221–228). Was Beck also vorschwebt, ist e<strong>in</strong>e Art Kultivierung und Institutionalisierung <strong>der</strong> von Rosenau konstatiertenBifurkation <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (siehe S. 92).20. Zürn sieht allerd<strong>in</strong>gs die Gefahr gegeben, daß die Verfahren dieser Verregelung e<strong>in</strong> demokratisches Defizit aufweisenkönnten, da demokratische Strukturen – zum<strong>in</strong>dest auf <strong>in</strong>stitutioneller Ebene – bisher (siehe auch Abschnitt 2.1) auf<strong>der</strong> Weltebene lei<strong>der</strong> nahezu vollständig fehlen (vgl. Jenseits <strong>der</strong> Staatlichkeit; S. 507ff.). Und Habermas macht klar,daß selbst supranationale Institutionen und Regulationsregime die Konkurrenzlogik nicht durchbrechen. +An<strong>der</strong>erseitserfüllen politische Zusammenschlüsse dieser Art e<strong>in</strong>e notwendige Bed<strong>in</strong>gung für e<strong>in</strong> Aufholen <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> gegenüberden Kräften <strong>der</strong> globalisierten Ökonomie.* (Jenseits <strong>der</strong> Staatlichkeit; S. 74f.)21. Translatorische Deflexion, also die entlastende Übersetzung und Übertragung von Problemen von e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> e<strong>in</strong>enan<strong>der</strong>en Bereich, bedeutet allerd<strong>in</strong>gs über den von Holloway <strong>in</strong> diesem Zitat ausgeführten Zusammenhang h<strong>in</strong>ausgehenddie Ausnutzung <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> +Kanäle* für solche Übersetzungen.22. Das Bild vom +Conta<strong>in</strong>er* geht ursprünglich auf Giddens zurück (vgl. The Nation State and Violence; S. 13f.). Giddensbeschränkt sich dort jedoch auf e<strong>in</strong>e Betrachtung des Staates als +Macht-Conta<strong>in</strong>er*. Nach Taylor ist <strong>der</strong> Staat darüberh<strong>in</strong>aus aber auch e<strong>in</strong> Wohlstands-Conta<strong>in</strong>er, e<strong>in</strong> kultureller Conta<strong>in</strong>er und e<strong>in</strong> sozialer Conta<strong>in</strong>er (vgl. The State asa Conta<strong>in</strong>er; S. 152–156).23. Allerd<strong>in</strong>gs muß es natürlich trotzdem irgendwie und vor allem irgendwo territorial (re)präsent(iert) se<strong>in</strong>.24. Um e<strong>in</strong> Beispiel zu nennen: In <strong>der</strong> Bundesrepublik haben sich die Unternehmensgew<strong>in</strong>ne zwischen 1985 und1995 fast verdoppelt, während ihre durchschnittliche Steuerbelastung von 18,73% auf 10,95% fiel. Im Zuge <strong>der</strong> geplanten+großen Steuerreform* soll die Körperschaftssteuer nochmals gesenkt werden, um die <strong>in</strong>ternationale Konkurrenzfähigkeit<strong>der</strong> deutschen Wirtschaft zu erhöhen – obwohl diese bereits jetzt im Vergleich mit an<strong>der</strong>en Industriestaaten eherger<strong>in</strong>g ist (vgl. Voß: Der Traum von <strong>der</strong> großen Steuerreform; S. 143f.).25. Wolf-Dieter Narr und Alexan<strong>der</strong> Schubert sprechen <strong>in</strong> diesem Zusammenhang von lediglich vier verbliebenen+Restfunktionen* des kapitalistischen Wettbewerbsstaates im Kontext <strong>der</strong> globalen Ökonomie: 1. die Garantie desEigentums, 2. die Heranziehung systemkonformer, +<strong>in</strong>dividualisierter* (d.h. für Narr und Schubert sozial isolierterund entsolidarisierter) Staatsbürger, 3. Schaffung und Bereitstellung von Infrastruktur für das Kapital, und 4. e<strong>in</strong>eE<strong>in</strong>flußnahme auf die Internationale Wirtschaftspolitik zur Aufrechterhaltung des globalen kapitalistischen Systems(vgl. Weltökonomie; S. 159ff.).26. Diese auch hier schon zitierte Schrift Agnolis (siehe S. 169), war e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> zentralen Bezugspunkte im Rahmen<strong>der</strong> kritischen Demokratie-Debatte <strong>der</strong> 68er-Bewegung. Agnoli entfaltet hier die Grundthese, daß im ursprünglichenliberalen Staat noch e<strong>in</strong>e Repräsentation <strong>der</strong> Repräsentierten durch die politischen Repräsentanten gegeben war,da e<strong>in</strong>e soziale Übere<strong>in</strong>stimmung und Interessenkonformität gerade durch die Beschränkung <strong>der</strong> demokratischenPartizipation auf die bürgerliche Schicht gegeben war. Mit <strong>der</strong> Ausbreitung <strong>der</strong> Demokratie ist diese Identität entfallen.Die Volksvertreter vertreten nicht das Volk, son<strong>der</strong>n s<strong>in</strong>d nur noch formell Beschlußfassende und Veröffentlicher +an<strong>der</strong>swo*(<strong>in</strong> <strong>der</strong> Exekutive und vom Kapital, die e<strong>in</strong>en Macht-Komplex formen) getroffener Entscheidungen. Nur diese +eigentlichenHerrscher* werden vom Parlament repräsentiert (vgl. Die Transformation <strong>der</strong> Demokratie; <strong>in</strong>sb. S. 66–81).27. Nicht nur ökonomisch und politisch machtlose Kle<strong>in</strong>ststaaten, son<strong>der</strong>n sogar +Mittelmächte* werden im Weltwirtschaftskriegnach Strange voraussichtlich das Nachsehen haben und sich nicht gegen die (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e militärischabgestützte) Macht und den E<strong>in</strong>fluß von dom<strong>in</strong>ierenden Wirtschaftsnationen wie den USA durchsetzen können (vgl.The Limits of Politics; S. 300f.). Diese Feststellung ist sicher zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad zutreffend. Doch sollte man bedenken,daß auch das +amerikanische Imperium* durch Globalisierung gefährdet ist und gerade die +entwickelten* Zentrums-Staaten<strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen Situation e<strong>in</strong>er geopolitisch-ökonomischen Dynamik ausgesetzt s<strong>in</strong>d, wobei (z.B. mit den asiatischenNICs) e<strong>in</strong>e Reihe neuer Herausfor<strong>der</strong>er aufgetaucht s<strong>in</strong>d. Darauf weist zum<strong>in</strong>dest Michael Mann <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er resümierendenE<strong>in</strong>leitung zu dem Band +The Rise and Decl<strong>in</strong>e of the Nation State* (1990) h<strong>in</strong> (vgl. Empires with Ends).28. +Fatal* allerd<strong>in</strong>gs natürlich nicht im +positiven* S<strong>in</strong>n Baudrillards (siehe S. 63).29. Asp<strong>in</strong>wall zeigt <strong>in</strong> diesem Artikel auf, daß aufgrund <strong>der</strong> ökonomischen Zusammenhänge unter den Bed<strong>in</strong>gungenvon Freihandel und Kapitalmobilität die politische Autonomie zwangsläufig abnimmt.


68 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE30. Umgekehrt gilt deshalb, was Zygmunt Bauman <strong>in</strong> deutlichen Worten herausgearbeitet hat: +Die Mobilität <strong>der</strong>globalen F<strong>in</strong>anzen, des Handels und <strong>der</strong> Informations<strong>in</strong>dustrie und <strong>der</strong>en unbegrenzte Freiheit, ihre Ziele zu verfolgen,s<strong>in</strong>d abhängig von <strong>der</strong> politischen Fragmentisierung […] Man kann behaupten, sie alle haben e<strong>in</strong> Interesse an ›schwachenStaaten‹ entwickelt, das heißt an Staaten, die schwach s<strong>in</strong>d, aber trotzdem Staaten bleiben […] Schwache Staatens<strong>in</strong>d genau das, was die Neue [ökonomistische] Weltordnung, die zu oft als Weltunordnung mißverstanden wird,braucht, um sich zu erhalten […]* (Schwache Staaten; S. 322)31. Es handelt sich hier natürlich nicht um e<strong>in</strong>e vollständige Auflistung aller Möglichkeiten, vielmehr habe ich michauf die aus me<strong>in</strong>er subjektiven Sicht zentralen bzw. <strong>in</strong>teressantesten beschränkt.32. Obwohl Ohmae also eher die Bedeutung <strong>der</strong> Region betont, nenne ich diese Strategie nicht Regionalisierungsson<strong>der</strong>nLokalisierungsstrategie, da mit Regionalisierung (im politikwissenschaftlichen Sprachgebrauch) üblicherweisegenau das umgekehrte geme<strong>in</strong>t ist, nämlich die Schaffen größerer wirtschaftlicher und politischer E<strong>in</strong>heiten.33. Individuen z.B. s<strong>in</strong>d eventuell (doppelte) Staatsbürger, Mitglie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er sozialdemokratischen Partei wie im Dritte-Welt-Kreis und Amnesty-Aktivisten zugleich. Sie haben Verwandte <strong>in</strong> Südafrika und Kanada, Bekannte <strong>in</strong> Taiwan und e<strong>in</strong>Landhaus <strong>in</strong> Umbrien. Sie leben <strong>in</strong> den Nie<strong>der</strong>landen (weil dort die Häuser und Grundstücke billiger s<strong>in</strong>d), arbeitenaber <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD. Ihre Partei ist (noch) <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Sozialistischen Internationalen* organisiert, ihr +Mutterland* Mitglieddes +Commonwealth* und ihr +Vaterstaat* nicht nur Mitglied <strong>in</strong> <strong>der</strong> EU, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> NATO… Die Verwandtenaus Südafrika kommen zwar seltener zu Besuch, doch mit den Kanadiern trifft man sich öfter… Übrigens plant +amnesty*gerade wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e +urgent action* wegen <strong>der</strong> drohenden H<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es Schwarzen <strong>in</strong> den USA… (Vgl.zur +Ortspolygamie*, die das E<strong>in</strong>fallstor <strong>der</strong> Globalisierung <strong>in</strong>s eigene Leben darstellt, auch Beck: Was ist Globalisierung?;S. 127ff.)34. Man könnte demgemäß das auf die <strong>in</strong>stitutionelle <strong>Politik</strong> setzende Expansionsmodell als (revisionistisches) Evolutionsmodellcharakterisieren, während die globale Subpolitisierung e<strong>in</strong> Revolutionsmodell darstellt.35. Zum Wohlfahrtsstaat als Stütze des kapitalistischen Systems bemerkt übrigens André Gorz treffend: +Der Wohlfahrtsstaathat ke<strong>in</strong>eswegs die Gesellschaft erstickt und die spontane Entfaltung <strong>der</strong> ökonomischen Rationalität gefesselt; er istvielmehr aus ihrer Entfaltung selbst entstanden: als Ersatz für die gesellschaftlichen und familiären Solidarbeziehungen,die die Ausweitung <strong>der</strong> Warenbeziehungen zerstört hatte – und als notwendiger Rahmen, um die Marktwirtschaftdaran zu h<strong>in</strong><strong>der</strong>n, im kollektiven Desaster zu enden.* (Kritik <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft; S. 190) Er setzt allerd<strong>in</strong>gsh<strong>in</strong>zu: +Es ist jedoch wahr, daß <strong>der</strong> Wohlfahrtsstaat selbst niemals gesellschaftsschöpferisch war noch se<strong>in</strong> wird […]Dies erklärt den schwachen Wi<strong>der</strong>stand gegen die fortschreitende Demontage des Wohlfahrtsstaats […]* (Ebd.)36. Unter +Kommodifizierung* bzw. +commodification* – als Begriff abgeleitet vom englischen +commodity*: (Handels)-Artikel – versteht man die Umwandlung e<strong>in</strong>er Sache (<strong>in</strong> diesem Fall <strong>der</strong> menschlichen Arbeitskraft) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ware.Man könnte also auch anstelle von +Kommodifizierung* vom Warencharakter <strong>der</strong> Arbeit im Kapitalismus o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>erKapitalisierung <strong>der</strong> Arbeit sprechen. De-Kommodifizierung me<strong>in</strong>t dementsprechend die Rückgängigmachung diesesKapitalisierungsprozesses (<strong>der</strong> Arbeit).37. Wenn man sich hier auf das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das NS-Regime und auch die Bundesrepublik<strong>der</strong> Adenauer-Ära bezieht, so trifft diese Charakterisierung sicher zu. Für die sozial-liberale Ära und selbst die konservativeRegierung Kohl stimmt dies me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach jedoch nicht mehr.38. Thurow weist gleichzeitig darauf h<strong>in</strong>, daß es <strong>in</strong> den USA e<strong>in</strong>e hohe Arbeitslosen-Dunkelziffer gibt: +Die amerikanischeArbeitslosigkeit ähnelt e<strong>in</strong>em Eisberg – <strong>der</strong> größte Teil liegt unter Wasser […] Neben […] sieben Millionen amtlichenArbeitslosen würden sich weitere sechs Millionen Menschen als arbeitslos bezeichnen, wenn sie danach gefragt würden[…] Wer auch nur e<strong>in</strong>e Stunde pro Woche arbeitet gilt [offiziell] nicht als arbeitslos.* (Die Illusion vom großen Jobwun<strong>der</strong>)39. 1995 lag die Arbeitslosenquote <strong>in</strong> den USA (ca. 250 Mio. E<strong>in</strong>wohner) bei 5,6%, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik (ca. 80Mio. E<strong>in</strong>wohner) betrug sie – zum Vergleich – im Durchschnitt 9,4%, <strong>in</strong> Schweden 7,7% (ca. 8,5 Mio. E<strong>in</strong>wohner).Noch 1991 lag sie dort bei nur 2,7%. (Zur Relativierung dieser Zahlen möchte ich allerd<strong>in</strong>gs zugleich auf dievorangegangene Anmerkung verweisen.)40. Dieser Zusammenhang von Arbeit und Kontrolle wird sogar von liberalen Denkern wie Ralph Dahrendorf gesehen.Dieser bemerkt: +Übrigens paßt <strong>in</strong> dieses Bild, daß konservative Parteien beson<strong>der</strong>s beunruhigt s<strong>in</strong>d über wachsende


A: ANMERKUNGEN 69Arbeitslosigkeit […] Es liegt vor allem daran, daß Arbeit e<strong>in</strong> Herrschafts<strong>in</strong>strument ist. Wenn sie ausgeht, verlierendie Herren <strong>der</strong> Arbeit das Fundament ihrer Macht.* (Wenn <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht; S. 26) Ich möchtedeshalb behaupten, daß es wohl ke<strong>in</strong> treffen<strong>der</strong>es Beispiel für e<strong>in</strong>e Praxologie im wahrsten S<strong>in</strong>n des Wortes gibt alsdie Erwerbsarbeit: Indem die Menschen täglich ihrer Arbeit nachgehen und ihren Lohn dafür erhalten, gerät es ihnengar nicht mehr <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n, danach zu fragen, ob es wirklich so selbstverständlich ist, daß man sich se<strong>in</strong> Auskommenauf diese Art und Weise (d.h. über den Verkauf <strong>der</strong> eigenen Arbeitskraft) verdienen muß (was für an<strong>der</strong>e – nämlichdie Kapitalbesitzer – schließlich nicht gilt). Gerade mit +mo<strong>der</strong>nen* Konzepten wie +corporate identity* und e<strong>in</strong>erstärkeren E<strong>in</strong>beziehung <strong>der</strong> Arbeitnehmer <strong>in</strong> die Unternehmen, wird die kapitalistische Ordnung ver<strong>in</strong>nerlicht. Zudemerfolgt mit <strong>der</strong> Arbeit e<strong>in</strong>e wirksame Kontrolle über die Zeit und die Energie <strong>der</strong> Individuen. Man kann also durchausverstehen, warum die <strong>Politik</strong> angesichts <strong>der</strong> hohen Arbeitslosenzahlen so besorgt ist. Am Ende kämen die Arbeitslosennoch auf den Gedanken, das bestehende System +abzuwählen*, das sie (aus <strong>der</strong> +Arbeitsgesellschaft*) exkludiert.41. Re<strong>in</strong>hard Kreckel weist allerd<strong>in</strong>gs unter Bezugnahme auf e<strong>in</strong> (schon relativ betagtes) Modell von Werner Sengenberger(vgl. Arbeitsmarktstruktur; <strong>in</strong>sb. Kap. IV) und verschiedene empirische Untersuchungen darauf h<strong>in</strong>, daß es auch <strong>in</strong>Deutschland e<strong>in</strong>e Segmentierung des Arbeitsmarktes festzustellen ist – zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat nicht so sehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form e<strong>in</strong>erdualen Spaltung alsvielmehralsDreiteilungmitunterschiedlichen Chancen für Personen mit +Je<strong>der</strong>mann-Qualifikationen*,Personenmit+berufsfachlichenQualifikationen*undPersonenmit+betriebsspezifischen Qualifikationen*(vgl.PolitischeSoziologie <strong>der</strong> sozialen Ungleichheit; S. 194–198).42. Schweden hatte es hier durch se<strong>in</strong>e vergleichsweise kle<strong>in</strong>e Bevölkerungszahl e<strong>in</strong>facher als z.B. die Bundesrepublik.43. In diesem Sammelband wird die historische Entwicklung <strong>der</strong> Wohlfahrtsstaaten Schweden und Kanada, die nachAnsicht <strong>der</strong> beiden Herausgeber viele Geme<strong>in</strong>samkeiten aufweisen, dargestellt. Die aktuellen Wandlungen desWohlfahrtssystem werden vor allem <strong>in</strong> den Beiträgen von Anna Hollan<strong>der</strong> (Social Policy – Aspects of the RelationshipBetween General Welfare and Welfare for People with Special Needs <strong>in</strong> Sweden) und von Byrden und Oliver (Canada/Sweden– Welfare States <strong>in</strong> Trouble) thematisiert.44. Reich verwendet natürlich den Begriff +Re-Kommodifizierung* nicht explizit. Wenn er allerd<strong>in</strong>gs im untenstehendenZitat von den Kenntnissen und Fähigkeiten <strong>der</strong> Bürger e<strong>in</strong>es Landes als dessen Grundkapital spricht, so bedeutet diesallerd<strong>in</strong>gs nichts an<strong>der</strong>es, als daß er erkannt hat, daß menschliche Kopfarbeit zu e<strong>in</strong>er gefragten Ware <strong>in</strong> <strong>der</strong> (zukünftigen)post<strong>in</strong>dustriellen globalen Ökonomie werden wird – während an<strong>der</strong>e (die über ke<strong>in</strong> relevantes +know how* verfügen)ihre Arbeitskraft zu e<strong>in</strong>em weit ger<strong>in</strong>geren Entgelt verkaufen werden müssen.45. E<strong>in</strong>e weitere Möglichkeit wäre nach Reich die Transformation <strong>der</strong> USA zu e<strong>in</strong>er Nation <strong>der</strong> Symbol-Analytiker(vgl. Die neue Weltwirtschaft; S. 278). Allerd<strong>in</strong>gs taucht hier me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach das offensichtliche Problem auf,daß selbst <strong>der</strong> globale Bedarf an Symbol-Analytikern wohl dafür nicht ausreichend hoch wäre und auch an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong>solche Symbol-Analyse-Initiativen starten könnten. Zudem bräuchten die Symbol-Analytiker zur Befriedigung ihrerBedürfnisse unbed<strong>in</strong>gt lokale +Dienstleistungssklaven*. Doch woher dann nehmen?46. Reich, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ausführungen primär auf die USA bezieht, me<strong>in</strong>t, daß ke<strong>in</strong> Land mehr Symbol-Analytiker+besitzt* als die Vere<strong>in</strong>igten Staaten – und diese seien +auf bestimmte geographische ›Nester‹ konzentriert, wo siemit an<strong>der</strong>en Symbol-Analytikern […] zusammen leben, arbeiten und lernen. Die Städte und Regionen, <strong>in</strong> denensie sich gehäuft angesiedelt haben […] stehen <strong>in</strong> <strong>der</strong> ganzen Welt <strong>in</strong> hoher Wertschätzung: Los Angeles <strong>in</strong> Musik undFilm; die Umgebung von San Francisco sowie Boston <strong>in</strong> Naturwissenschaften und Technik, New York und Chicago<strong>in</strong> Weltf<strong>in</strong>anzen […]* (Die neue Weltwirtschaft; S. 263). Diese Konzentration ist nach Reich nicht zufällig, denn Symbol-Analytiker brauchen die Kommunikation untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, um vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu lernen und um sich gegenseitig zu befruchten.Deshalb me<strong>in</strong>t er wohl, daß sie, auch wenn man sie mit hohen Steuern belegen würde, nicht aus diesen Zentrenverschw<strong>in</strong>den würden. Doch hier schil<strong>der</strong>t Reich e<strong>in</strong>e Welt <strong>der</strong> Vergangenheit. Es wird künftig wohl <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Bereichnur mehr e<strong>in</strong> Zentrum geben, und über die neuen Kommunikationsnetze wird globaler Gedankenaustausch sehre<strong>in</strong>fach dezentral zu realisieren se<strong>in</strong>.47. Z<strong>in</strong>n zitiert Zahlen <strong>der</strong> OECD, die zwischen 1960 und 1987 e<strong>in</strong>en Anstieg des Beschäftigungsanteils des Dienstleistungssektorsvon 45,1% auf 59,1% nennen (vgl. Auf dem Weg <strong>in</strong> die tertiäre Krise?; Tab. 2, S. 63). Auch <strong>der</strong> Anteildes Dienstleistungssektor am Sozialprodukt stieg (siehe S. 81).48. Rifk<strong>in</strong> hält Anomie für e<strong>in</strong>e direkte Folge von Arbeitslosigkeit.


70 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE49. Kapste<strong>in</strong> versucht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift +Foreign Affairs* erschienenen Artikel (ganz <strong>der</strong> Wachstumsideologieverfallen) darzulegen, daß nur stärkeres Wachstum Beschäftigung sichern kann und Fortbildungsmaßnahmen, obwohlpr<strong>in</strong>zipiell s<strong>in</strong>nvoll, nur dann anschlagen können, wenn <strong>der</strong> Motor <strong>der</strong> Wirtschaft läuft. Die <strong>Politik</strong> muß also auch<strong>in</strong> <strong>der</strong> momentan angespannten Haushaltslage <strong>in</strong> Ankurbelungsmaßnahmen <strong>in</strong>vestieren, wenn sie Beschäftigung sichernwill. In diesem Zusammenhang weist er <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e darauf h<strong>in</strong>, daß ke<strong>in</strong>e direkte Korrelation zwischen Defizit-<strong>Politik</strong>und Inflation gegeben sei (vgl. Workers and the World Economy; S. 32ff.). E<strong>in</strong>e deutsche Übersetzung des Aufsatzesvon Kapste<strong>in</strong> f<strong>in</strong>det sich übrigens im unten erwähnten Sammelband +Die Zukunft von Arbeit und Demokratie*.50. Mit +Bürgerarbeit* me<strong>in</strong>t Beck freiwillige und projektorientierte geme<strong>in</strong>nützige Arbeit unter <strong>der</strong> Regie von sog.+Geme<strong>in</strong>wohlunternehmern*. Die Bürgerarbeit sollte gemäß Beck zwar belohnt, aber nicht (regulär) entlohnt werden.Zur materiellen Grundsicherung müßten die +Bürgerarbeiter* jedoch e<strong>in</strong> Bürgergeld <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Höhe (etwa auf demNiveau <strong>der</strong> Sozialhilfe) erhalten. (Vgl. Modell Bürgerarbeit; <strong>in</strong>sb. S. 128–133)51. Es wird <strong>in</strong> diesem Zusammenhang von Befürwortern des Bürgergeld-Konzepts (wie z.B. auch WirtschaftsnobelpreisträgerMilton Friedman) häufig betont, daß e<strong>in</strong> Bürgergeld deshalb die Staatskasse nicht zusätzlich belasten würde, weilAusgabenposten im Sozialetat wie Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe, Ausbildungsför<strong>der</strong>ung etc. dann entfallenkönnten und <strong>der</strong> staatliche Verwaltungsaufwand auch weit ger<strong>in</strong>ger wäre als heute. So hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview mit<strong>der</strong> +Zeit* auch erst jüngst wie<strong>der</strong> Joachim Mitschke argumentiert (vgl. Hoffmann: ›Wahl zwischen zwei Übeln‹), <strong>der</strong>dieses Modell für die Bundesrepublik schon seit langem propagiert. Bis aber die Verwaltungen tatsächlich so weitgeschrumpft wären, daß sich relevante E<strong>in</strong>sparungen ergäben und das System sich e<strong>in</strong>gespielt hätte, kämen auf dieStaatskasse jedoch sicher immense Mehrausgaben zu – selbst wenn man die häufig geäußerte Kritik nicht teilt, daße<strong>in</strong> pauschales Bürgergeld ke<strong>in</strong>en Anreiz zur Beschäftigungssuche biete.52. Die öffentlichen E<strong>in</strong>nahmen (Bund, Län<strong>der</strong>, Geme<strong>in</strong>den und Sozialversicherung) betrugen 1995 <strong>in</strong>sgesamt 1.735,5Mrd. DM.53. Ganz ähnlich argumentiert übrigens auch Ralf Dahrendorf <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag <strong>in</strong> dem von Ulrich Beck herausgegebenSammelband +Perspektiven <strong>der</strong> Weltgesellschaft* (1998). Dort heißt es: +E<strong>in</strong> Wirtschaftsstandort ist nicht nur e<strong>in</strong> Ort<strong>der</strong> niedrigen Löhne und Steuern; <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat können entwickelte Län<strong>der</strong> am Ende möglicherweise nur durch Qualitätenkonkurrenzfähig bleiben, die im weiten S<strong>in</strong>ne sozial s<strong>in</strong>d.* (Anmerkungen zur Globalisierung; S. 48)54. Man kann <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch auf die Argumentation von Luhmann zurückgreifen: Nach ihm führtdie den klassischen <strong>in</strong>dustriegesellschaftlichen Institutionen zugrunde liegende Unterscheidung zwischen Arbeit undKapital zu +sozialer Blockierung*, da die Problemlösung für die e<strong>in</strong>e Seite das Problem für die an<strong>der</strong>e ist und umgekehrt(vgl. Arbeit und Kapital; S. 57). Es handelt sich also um e<strong>in</strong>en +unfruchtbaren Gegensatz*, <strong>der</strong> nicht aufgehoben werdenkann. +An<strong>der</strong>erseits s<strong>in</strong>d riesige Organisationen darauf e<strong>in</strong>gespielt, sich diesem Gegensatz zuzuordnen* (ebd.; S. 58),die soziale Blockade ist also +<strong>in</strong>stitutionalisiert*. Luhmann tröstet sich allerd<strong>in</strong>gs mit <strong>der</strong> Feststellung, +daß die Gesellschaftmehr und mehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, an<strong>der</strong>e Unterscheidungen von dieser Unterscheidung zu unterscheiden und es damitermöglicht, bei aller E<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong> Wichtigkeit von Kapital und von Arbeit als solchen die Unterscheidung vonArbeit und Kapital nur gelegentlich zu benutzen.* (Ebd.; S. 78)55. An<strong>der</strong>e Elemente, bei denen sich e<strong>in</strong>e gewisse Parallele zu Habermas zeigt (siehe unten), s<strong>in</strong>d, daß Ach<strong>in</strong>ger imZusammenhang mit dem sozialstaatlichen Interventionismus von e<strong>in</strong>er +Umwandlung <strong>der</strong> Lebensformen* spricht(so die Überschrift zum zweiten Teil se<strong>in</strong>er Abhandlung) und auch er die Gefahr e<strong>in</strong>er +Gesellschaftskrise* durchVerrechtlichungsprozesse gegeben sieht. Denn er <strong>in</strong>terpretiert die Sozialpolitik (aus se<strong>in</strong>er eher konservativen Sicht)weniger als (geglückte) Konfliktbeilegung, son<strong>der</strong>n vielmehr als e<strong>in</strong>e +Verste<strong>in</strong>erung* <strong>der</strong> sozialen Kämpfe und verstehtdiese folglich als +Symptom tiefer gesellschaftlicher Unruhe* (vgl. Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik; S. 132).56. Entpolitisierung ist im Kontext des deflexiven Gebrauchs des Rechts durch die <strong>Politik</strong> natürlich genau erwünscht,kann aber (siehe unten) auch dazu führen, daß diese sich selbst entmachtet.57. Ralf Dahrendorf, auf den ich mich hier beziehe, subsumiert – se<strong>in</strong>e Argumentation aus dem Band +Lebenschancen*(1972) aufgreifend – Anrechte zusammen mit Angeboten (d.h. Wahlmöglichkeiten) unter den Begriff <strong>der</strong> Optionenund stellt diesem den Begriff <strong>der</strong> Ligaturen (Anb<strong>in</strong>dungen) gegenüber, welche den Optionen erst S<strong>in</strong>n geben unddie er im kulturellen Bereich verortet (vgl. Der mo<strong>der</strong>ne soziale Konflikt; 39ff.). Ich möchte allerd<strong>in</strong>gs (wie im Textdargelegt) im Gegensatz dazu betonen, daß auch Anrechte selbst e<strong>in</strong>e zentrale Ligatur darstellen.


A: ANMERKUNGEN 7158. Eigentlich handelt es sich hier um die (erweiterte) Textfassung von zwei Vorträgen (aus e<strong>in</strong>er Reihe von vieren),die Heidegger 1949/50 unter dem unbescheidenen Titel +E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> das was ist* <strong>in</strong> Bremen gehalten hat.59. In se<strong>in</strong>er historischen Untersuchung über die mo<strong>der</strong>ne +Megamasch<strong>in</strong>e* und +Megatechnologie* entfaltet Mumforde<strong>in</strong>e ambivalente Sicht <strong>der</strong> technischen Fortschritts, welcher <strong>der</strong> Menschheit e<strong>in</strong>erseits mächtige Instrumente <strong>in</strong> dieHand gegeben hat, an<strong>der</strong>erseits aber auch e<strong>in</strong>e Schattenseite <strong>der</strong> Gewalt und Zerstörung <strong>in</strong> sich birgt.60. An<strong>der</strong>s bemerkt hierzu: +Unser Leib von heute ist <strong>der</strong> von gestern […] Er ist morphologisch konstant; moralischgesprochen unfrei, wi<strong>der</strong>spenstig und stur; aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Geräte gesehen: konservativ, unprogressiv, antiquiert[…] Kurz: die Subjekte von Freiheit und Unfreiheit s<strong>in</strong>d ausgetauscht. Frei s<strong>in</strong>d die D<strong>in</strong>ge: unfrei ist <strong>der</strong> Mensch.* (DieAntiquiertheit des Menschen; Band 1, S. 33). +Dem entspricht nun […], daß die Elastizitäts- bzw. Starre-Grade <strong>der</strong>Vermögen differieren; daß also nicht nur das Volumen dessen, was wir herstellen, tun o<strong>der</strong> denken können, größerist als das Volumen dessen, was unsere Vorstellung o<strong>der</strong> gar unser Fühlen leisten kann; son<strong>der</strong>n, daß das Volumendes Machens und des Denkens ad libitum ausdehnbar ist, während die Ausdehnbarkeit des Vorstellens ungleich ger<strong>in</strong>gerbleibt; und die des Fühlens im Vergleich damit geradezu starr zu bleiben sche<strong>in</strong>t.* (Ebd.; S. 270f.)61. Die Titelseite von +Die neuen Grenzen des Wachstums* (1992) nennt nunmher als Autor(<strong>in</strong>) an erster Stelle nichtDennis son<strong>der</strong>n Donella Meadows.62. +<strong>Politik</strong> als Ritual* (1990) wurde aus zwei Orig<strong>in</strong>alschriften Edelmans +kompiliert*: +The Symbolic Uses of Politics*(1964) sowie +Politics as Symbolic Action, Mass Arousal and Quiescence* (1971).63. Edelman knüpft <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch an Abraham Moles’ Differenzierung zwischen semantischer undästhetischer Information an (vgl. Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung; Abschnitt V), und stellt heraus,daß gerade die ästhetische Information wesentlich zu den politischen Situationsdeutungen beiträgt (Vgl. <strong>Politik</strong> alsRitual; S. 96).64. Der Begriff Handlungssche<strong>in</strong> wurde mit dem Begriff <strong>der</strong> Praxologie parallelisiert, weil sich dies <strong>in</strong> Analogie zuden von mir hier ergänzend vorgeschlagenen Neologismen +Optologie* und +Logologie* anbot – obwohl <strong>der</strong> Begriff<strong>der</strong> Praxologie natürlich, so wie ich ihn sonst verwende, optologische und logologische Deflexion (<strong>in</strong> Meyers Term<strong>in</strong>ologie:Augen- und Sprachsche<strong>in</strong>) mit e<strong>in</strong>schließt.65. Peters ist im Rahmen se<strong>in</strong>er Argumentation sozusagen zwischen Luhmann und Habermas angesiedelt.66. Wenn Meyer sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Kritik <strong>der</strong> funktionalistischen Argumentationsweise allerd<strong>in</strong>gs primär auf Sarc<strong>in</strong>ellibezieht (siehe zu dessen Position auch hier S. 173f.), so tut er diesem damit me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach allerd<strong>in</strong>gs Unrecht(für Luhmann selbst würde diese E<strong>in</strong>schränkung weniger gelten). Zwar ist es richtig, daß Sarc<strong>in</strong>elli die Unerläßlichkeit<strong>der</strong> Symbolisierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Kommunikation herausstellt. So bemerkt er se<strong>in</strong>em abschließenden Resümeedes Bandes +Symbolische <strong>Politik</strong>* (1987): +Die Untersuchung <strong>der</strong> Kommunikationsbeziehungen zwischen den politischenAkteuren und den Bürgern […] zeigt unverkennbar, daß Symbolisierung e<strong>in</strong> unerläßliches Instrument des kommunikativenLoyalitätsmanagements ist. Durch den E<strong>in</strong>satz politischer Symbole und durch symbolische Handlungen werden komplexepolitische Interaktionslagen vere<strong>in</strong>facht ausgedrückt und als E<strong>in</strong>heit erlebbar. Das Bewußtse<strong>in</strong> wird dadurch entlastet,daß symbolische ›Verdichtungen‹ gleichsam als Wahrnehmungsfilter die Fähigkeit steigern, sich bei hoher InformationsundKommunikationsdichte zu orientieren.* (S. 240f.) Gleich im Anschluß an jene Sätze folgt jedoch auch e<strong>in</strong>e kritischeE<strong>in</strong>schätzung dieser Entwicklung: +Dabei drängt sich <strong>der</strong> E<strong>in</strong>druck auf, daß sich die Rolle des Bürgers weitgehenddar<strong>in</strong>erschöpft,Objektanthropologischerundsozialpsychologischer,kommunikations- undsprachstrategischerKalkülezu se<strong>in</strong>.* (Ebd.; S. 241)67. Meyer weist auf den Wi<strong>der</strong>spruch h<strong>in</strong>, daß Baudrillards These vom Simulakrum (bzw. ihre Formulierung) unmöglichwäre, wenn sie wahr wäre. Denn wenn die reale Welt schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Medien-Simulation aufgegangen wäre, wie Baudrillardbehauptet, so könnte auch Baudrillards Denken sich dieser Vere<strong>in</strong>nahmung nicht entziehen (vgl. Inszenierung desSche<strong>in</strong>s; S. 194f.). Er übersieht <strong>in</strong> dieser Kritik jedoch, daß Baudrillard von e<strong>in</strong>er ironischen Distanz <strong>der</strong> Theorie ausgeht,die es ihr erlaubt, als +<strong>fatal</strong>e Strategie* zu wirken, die die Hyperrealität des Simulakrum durchdr<strong>in</strong>gt (siehe S. 63f.).68. Hartley stellt heraus, daß Bil<strong>der</strong> erstens an sich politisch s<strong>in</strong>d und sie zweitens <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dazu dienen, politischeInhalte <strong>in</strong> die private Sphäre zu transportieren. Insoweit ist die Verb<strong>in</strong>dung zwischen Bildsymbolen und <strong>Politik</strong> engerals geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> angenommen (vgl. The Politics of Pictures; <strong>in</strong>sb. Kap. 2).


72 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE69. Dazu e<strong>in</strong>e +Illustration* bezogen auf das BSE-Fallbeispiel: E<strong>in</strong>e Netzrecherche (durchgeführt am 20.1.1998) zumStichwort +BSE* bei zwei populären Suchdiensten (+Altavista* und +Infoseek*) ergab 20.629 bzw. 12.423 +Treffer*,wobei sich die Reihenfolge <strong>der</strong> Anzeige <strong>der</strong> gefundenen Seiten re<strong>in</strong> nach ihrem statistisch ermittelten Themenbezugrichtet, d.h. e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Gewichtung o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Bevorzugung für +offizielle* Seiten ist 8<strong>der</strong>zeit) nicht gegeben.Das erhöht im Vergleich zu konventionellen Medien die Chancen für nicht-staatliche und kritische Stimmen.70. Auch Richard Münch weist darauf h<strong>in</strong>, daß politisches Handeln heute zum großen Teil öffentliche Kommunikationist (die sich über Medien +vermittelt*). (Vgl. Dialektik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft; S. 257)71. E<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Wahlrecht zu dem (mit nur e<strong>in</strong>geschränkten Kompetenzen ausgestatteten Reichstag) gab es <strong>in</strong>Deutschland z.B. erst mit <strong>der</strong> Reichsgründung 1871 – freilich war es auf die männliche Bevölkerung beschränkt. Frauenerhielten erst 1918 mit <strong>der</strong> Errichtung <strong>der</strong> Republik das Wahlrecht, das <strong>in</strong> den allermeisten Staaten immer noch alle<strong>in</strong>eauf die Staatsbürger begrenzt ist. In <strong>der</strong> EU ist diese Beschränkung erst mit den Verträgen von Maastricht <strong>in</strong>soweite<strong>in</strong> Stück aufgehoben worden, als EU-Bürgern nun <strong>in</strong> jedem Mitgliedsstaat das Recht zur Wahlbeteiligung auf kommunalerEbene e<strong>in</strong>zuräumen ist.72. Siehe zu den unterschiedlichen Modellen des Wohlfahrtsstaates S. 224.73. Offe vertritt <strong>in</strong> diesem Aufsatz die für mich noch immer überzeugende These, daß durch ihre mangelnde OrganisationsundKonfliktfähigkeit sowie durch die gefor<strong>der</strong>te +Legalität*, d.h. die B<strong>in</strong>dung an die (grund)gesetzliche Ordnung,all jene Interessen im pluralistischen System aus dem Willensbildungsprozeß ausgesperrt werden, +die allgeme<strong>in</strong> undnicht an Statusgruppen gebunden s<strong>in</strong>d; die konfliktunfähig, weil ohne funktionelle Bedeutung für den Verwertungsprozeßvon Kapital und Arbeitskraft s<strong>in</strong>d; und die als utopische die historischen Systemgrenzen transzendieren* (Politische Herrschaftund Klassenstrukturen; S. 171).74. Die hier gegebene Antwort fällt allerd<strong>in</strong>gs wenig befriedigend und viel zu vage aus. Denn Dettl<strong>in</strong>g for<strong>der</strong>t (ohnekonkret zu werden) im Anschluß an Etzionis Ausführungen <strong>in</strong> +The Moral Dimension* (1988), wo dieser das grundsätzlichneben Nutzenkalkülen immer auch gegebene moralische Empf<strong>in</strong>den des Menschen hervorhebt, lediglich e<strong>in</strong> neues+kommunitäres Leitbild*, das e<strong>in</strong>e wechselseitige Ergänzung und Unterstützung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaftermöglichen soll.75. Der Trend zu e<strong>in</strong>er s<strong>in</strong>kenden Wahlbeteiligung gilt, wie die vergleichende Analyse von Flickenberger und Studlarzeigt, für die allermeisten westeuropäischen Staaten (vgl. The Disappear<strong>in</strong>g Voters?).76. Da es hier primär um die Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> +klassischen* <strong>Politik</strong> geht, werde ich erst <strong>in</strong> Kapitel 5 (Abschnitt 2) näherauf die Problematik <strong>der</strong> Subpolitik e<strong>in</strong>gehen und mich hier auf e<strong>in</strong>ige knappe Bemerkungen beschränken.77. Allerd<strong>in</strong>gs stellt letzteres nach Luhmann nur e<strong>in</strong>en Ausnahmefall dar. In <strong>der</strong> Regel bedeutet die Exklusion ause<strong>in</strong>em Segment <strong>der</strong> Gesellschaft gleichzeitig die Inklusion <strong>in</strong> e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Segment.78. Derartiges galt selbstverständlich auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit nur bed<strong>in</strong>gt, doch waren z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> ständischenGesellschaft des Mittelalters <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat mit <strong>der</strong> Geburt auch <strong>der</strong> spätere Beruf (und die mit diesem verknüoften) politischenRechte weitgehend festgelegt.79. Dazu bemerkt Luhmann: +Es versteht sich von selbst, daß die funktionale Differenzierung ihren Exklusionsbereichnicht ordnen kann, obwohl sie sich aufgrund ihres gesellschaftsuniversalen Selbstverständnisses auch auf ihn erstreckt,also Geld nicht nach <strong>der</strong> Hand unterscheidet, die es ausgibt beziehungsweise empfängt, Recht für alle gelten läßt[…] Diese Logik <strong>der</strong> funktionalen Differenzierung gerät aber <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zu den Tatsachen <strong>der</strong> Exklusion. IhreUnwahrsche<strong>in</strong>lichkeit, ihre Künstlichkeit wird sichtbar. Ihre Codes gelten und gelten nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong>selben Gesellschaft[…]* (Inklusion und Exklusion; S. 41f.)80. Dieses Defizit wird deshalb häufig durch patronageartige +Selbstorganisationen*, also <strong>in</strong>formelle Netzwerke,kompensiert (vgl. Inklusion und Exklusion; S. 30ff.).81. Habermas rekurriert hier se<strong>in</strong>erseits auf Lockwood, <strong>der</strong> sich mit dem Begriff <strong>der</strong> sozialen Integration auf Beziehungenzwischen sozialen Akteuren bezieht, woh<strong>in</strong>gegen <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> System<strong>in</strong>tegration auf das Verhältnis von Teilen bzw.


A: ANMERKUNGEN 73+Teilsystemen* des sozialen Systems zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> (und zum Gesamtsystem) abzielt (vgl. Soziale Integration undSystem<strong>in</strong>tegration).82. Melucci weist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf das +Dilemma <strong>der</strong> abhängigen Partizipation* h<strong>in</strong>: Die (erwünschte)Ausweitung <strong>der</strong> Partizipation <strong>in</strong> pluralistischen Gesellschaften macht e<strong>in</strong>e parallele Ausweitung <strong>der</strong> bürokratischenKoord<strong>in</strong>ation notwendig, die die Partizipationsmöglichkeiten wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>schränkt. Zusätzlich nennt Melucci das+Dilemma <strong>der</strong> Surplus -Variabilität*, das durch die Notwendigkeit konstanten Wandels und die gleichzeitige Notwendigkeit,e<strong>in</strong>e gewisse Stabilität <strong>der</strong> Normen und Prozeduren zu gewährleisten, entsteht, sowie das +Dilemma <strong>der</strong> Unbestimmbarkeit<strong>der</strong> letzten Ziele*, das dadurch zustande kommt, daß die Zahl <strong>der</strong> zu treffenden Entscheidungen steigt, es allerd<strong>in</strong>gsimmer schwieriger wird zu bestimmen, welche Entscheidungen wirklich essentiell s<strong>in</strong>d. (Vgl. Nomads of the Present;S. 169f.)83. Wenn man, an<strong>der</strong>s als Appadurai, mehr den Blick auf die +fortgeschrittenen* Regionen wirft, so kann man me<strong>in</strong>erAnsicht nach feststellen, daß auch dort Ideen von außen aufgenommen wurden – z.B. aus dem Buddhismus, demTaoismus und von sog. +primitiven* Kulturen etc. Aber auch im Westen hat natürlich e<strong>in</strong>e +Indigenisierung* dieser(vorwiegend religiösen) +Ideoscapes* stattgefunden: Die +fremden* Vorstellungen werden an den eigenen Kontextangepaßt. Man kann me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach sogar soweit gehen, zu behaupten, daß e<strong>in</strong>e +kulturelle Ausbeutung* vorgenommenwird, <strong>in</strong>dem die (materiell und strukturell überlegenen) +Ideensucher* des Westens <strong>in</strong> die Welt ausströmenund alles (ungefragt) für ihr eklektisches +New-Age-Denken* vere<strong>in</strong>nahmen, während die Armen materiell wie ideellauf das Lokale beschränkt bleiben (vgl. hierzu auch me<strong>in</strong>en Essay: Die globale Klasse).84. Appadurai legt hier <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dar, daß das Verhältnis von Staat und Nation <strong>der</strong>zeit immer größere Problemeaufwirft: Nationen (bzw. ethnische Gruppierungen) versuchen sich als separate Staaten zu etablieren, und souveräneStaaten versuchen umgekehrt sich als (e<strong>in</strong>heitliche) Nationen darzustellen. In diesem +Kampf* zwischen Staaten undNationen spielen +Ideoscapes* (wie die Nationen-Idee selbst) und +Mediascapes* (z.B. zur symbolischen Pazifierungvon separatistischen Bewegungen) e<strong>in</strong>e zentrale Rolle. Aber auch die Ströme von Personen, Kapital und Technologien,für die die Grenzen <strong>der</strong> Staaten zum<strong>in</strong>dest zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad durchlässig se<strong>in</strong> müssen, dürfen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Analysenicht vernachlässigt werden, denn sie öffnen gleichzeitig die Türe für neue Herausfor<strong>der</strong>ungen des Nationalstaats,wie z.B. <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a, wo mit den westlichen Waren und <strong>der</strong> Freihandelsideologie auch <strong>der</strong> Demokratiegedanke importiertwurde.85. Wie bereits dargelegt (siehe S. 187), ist Individualisierung für mich <strong>der</strong> Ausdruck e<strong>in</strong>es bestimmten Niveaus vonDifferenzierung (und gleichzeitig dabei auch an e<strong>in</strong>e +materielle Basis* gekoppelt).86. Wenn ich hier von e<strong>in</strong>er +funktional differenzierter Gesellschaft* spreche, so me<strong>in</strong>e ich damit e<strong>in</strong>e Gesellschaft,die +so tut*, als ob sie funktional differenziert wäre. Das bedeutet, sie weist auf bestimmten Ebenen tatsächlich Merkmalefunktionaler Differenzierung auf, wie z.B. e<strong>in</strong>e formale Trennung <strong>der</strong> Sphären <strong>Politik</strong>, Recht, Wissenschaft etc., unddiese formale Trennung wird (zum Zweck <strong>der</strong> Deflexion) auch häufig +demonstriert*. An<strong>der</strong>erseits bestehen +untergründige*(Inter-)Dependenzen, wie beispielsweise die selbst von Luhmann gesehene Schließung im Exklusionsbereich. FunktionaleDifferenzierung, so wie sie sich +real* darstellt, hat damit primär ideologischen wie praxologischen Charakter.87. Mit diesem Begriff rekurriere ich auf Peter Gross (vgl. Die Multioptionsgesellschaft).88. Me<strong>in</strong>e +Excursion Term<strong>in</strong>ale* wird sich dieser Frage, allerd<strong>in</strong>gs auf eher philosophisch-abstrakter Ebene, ausführlicherwidmen. Im Vorgriff auf me<strong>in</strong>e dortigen Ausführungen möchte ich jedoch schon hier klarstellen, daß <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzbegrifffür mich sowohl Unbestimmbarkeit auf <strong>der</strong> Grundlage des Vorhandense<strong>in</strong>s verschiedener Möglichkeiten, wie diegleichzeitige Begrenztheit (Kont<strong>in</strong>gentierung) dieser Möglichkeiten ausdrückt (vgl. hierzu auch me<strong>in</strong>en Aufsatz: Diekont<strong>in</strong>gente Gesellschaft).89. Was die Problematik <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Identität betrifft, so möchte ich darauf hier nicht näher e<strong>in</strong>gehen, son<strong>der</strong>nverweise auf die diversen Beiträge <strong>in</strong> dem von He<strong>in</strong>er Keupp und Renate Höfer herausgegebenen Sammelband+Identitätsarbeit heute* (1997) sowie auf die Ausführungen von Anthony Elliot (vgl. Subject to Ourselves – Social Theory,Psychoanalysis and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity).90. Wie dargelegt, geht Individualisierung mit e<strong>in</strong>em Wertewandel und e<strong>in</strong>er Transformation <strong>der</strong> politischen Kulture<strong>in</strong>her.


74 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE91. Diese Aussage verlangt natürlich nach e<strong>in</strong>er differenzierenden Präzisierung: In Kapitel 2 wurde e<strong>in</strong>e Reihe vonTransformationsprozessen dargestellt: die Globalisierung (und gleichzeitige +<strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrialisierung*) <strong>der</strong> Wirtschaft(Abschnitt 2.1), die zunehmende Verrechtlichung (Abschnitt 2.2), die Verwissenschaftlichung und Technisierung(Abschnitt 2.3), die vom Aufkommen neuer Medien e<strong>in</strong>geleitete Wandlung des Öffentlichkeitssystems (Abschnitt2.4) und <strong>der</strong> von e<strong>in</strong>em Wertewandel und Umbruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Kultur begleitete Individualisierungsprozeß(Abschnitt 2.5). Diese Transformationsprozesse s<strong>in</strong>d natürlich nicht – wie auch im Resümee zu Kapitel 2 dargelegt– gleichermaßen +reflexiv* für die <strong>Politik</strong>. Während Globalisierung und Individualisierung primär Herausfor<strong>der</strong>ungenfür sie darstellen, ist die Entwicklung <strong>in</strong> den Bereichen Wissenschaft/Technik und Medien durchaus ambivalent, daWissenschaft, Technik und Medien auch mächtige Deflexionsressourcen für die <strong>Politik</strong> bereithalten. Was die Entwicklungim Rechtssystem betrifft, so hat sich me<strong>in</strong>es Erachtens sogar e<strong>in</strong>e deflexive Ko-Evolution gezeigt. Nun gilt jedoch,wie ich <strong>in</strong> diesem Kapitel versucht habe herauszuarbeiten, daß Deflexionsversuche ihrerseits ambivalent s<strong>in</strong>d. Denn<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e wo Deflexionsmechanismen bewußt (d.h. reflektiert) werden, s<strong>in</strong>d sie ihrerseits Ansatzpunkt für e<strong>in</strong>eH<strong>in</strong>terfragung des Systems, erhöhen also paradoxerweise dessen Instabilität. Nicht nur die Reflexion von +Reflexivität*(also die Produktion von un<strong>in</strong>tendierten Nebenfolgen durch Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesse), son<strong>der</strong>n auch die Reflexionvon deflexiven Prozessen, kann folglich e<strong>in</strong> Impuls für Subpolitisierung se<strong>in</strong> – allerd<strong>in</strong>gs mit den unten gemachtenE<strong>in</strong>schränkungen.92. Das Mittel <strong>der</strong> ökonomischen Integration ist deshalb aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> ambivalent zu bewerten.


A: ANMERKUNGEN 75KAPITEL 4: DER FALL +BSE*: VON UNGLÜCKLICHEN KÜHEN UND EINER VERUNGLÜCKTER BINNEN-MARKTPOLITIK1. Es handelt sich hier zwar um e<strong>in</strong>e populärwissenschaftliche Veröffentlichung, die jedoch (fachlich kompetent) vone<strong>in</strong>er Veter<strong>in</strong>ärmediz<strong>in</strong>er<strong>in</strong> verfaßt wurde.2. Die geschätzte Latenzzeit bis zum Ausbruch beträgt allerd<strong>in</strong>gs ca. 10 Jahre.3. Im folgenden beziehe ich mich vorwiegend auf Hacker: Stichwort BSE; S. 7–15 sowie auf diverse Web-Seiten.Unter letzteren ist <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Seite von Stephen Dealler (siehe auch unten) herauszustellen (vgl. Internet:www.airtime.co.uk/bse/hist.htm).4. Es wird allerd<strong>in</strong>gs angenommen, daß das <strong>in</strong> den USA <strong>in</strong> den 60er Jahren aufgetretene +Downer-Cow-Syndrom*(so genannt, da die Kühe durch die Krankheit unfähig waren aufzustehen) e<strong>in</strong>e Variante von BSE gewesen se<strong>in</strong> könnte(vgl. Köster-Lösche: R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n; S. 23f.).5. E<strong>in</strong>e genaue kl<strong>in</strong>ische und neuropathologische Krankheitsdef<strong>in</strong>ition erfolgte aber erst späterer (vgl. Wilesmith/Wells:Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy).6. Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre hatte man <strong>in</strong> Großbritannien – vermutlich auf Betreiben <strong>der</strong> Tiermehlproduzenten, die Kostensparen wollten – die Vorschriften zur Aufbereitung von Tiermehl (zu dem man auch an Scrapie gestorbene Schafeverarbeitete) gelockert. Zum Teil erhitze man das Endprodukt nur noch auf 80°C, was als ke<strong>in</strong>esfalls ausreichendgilt, um die +Erreger* spongiformer Enzephalopathien zu <strong>in</strong>aktivieren.7. Der Nutzen <strong>der</strong> Tiermehlverfütterung ist im übrigen umstritten, da Kühe (mit <strong>der</strong> Hilfe von <strong>in</strong> ihrem Darmtraktlebenden Mikroorganismen) die +hochwertigen* Eiweiße, die man mit dem Tiermehl dem Futter zusetzt, aus pflanzlicherNahrung selbst erzeugen bzw. synthetisieren können.8. Man faßt diese R<strong>in</strong><strong>der</strong>bestandteile unter dem Begriff +Specified Bov<strong>in</strong>e Offals* (SBOs) zusammen.9. In November 1989 verboten Deutschland, Italien und Frankreich auch den Import von britischem R<strong>in</strong>dfleisch.Dieses Import-Verbot wurde auf britischen Druck h<strong>in</strong> im Zuge <strong>der</strong> (bedeutend mil<strong>der</strong>en) EU-weiten Regelung vomJuni 1990 (siehe unten) wie<strong>der</strong> aufgehoben.10. Vgl. zur Problematik <strong>der</strong> BSE-Diagnose und damit auch des Labels +BSE-frei* aufgrund <strong>der</strong> langen Latenzzeit und<strong>der</strong> stark differierenden Symptomatik bei den e<strong>in</strong>zelnen Tieren Marsch: BSE-Free Status – What Does It Mean?11. Der H<strong>in</strong>tergrund hierfür ist natürlich, daß man verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n wollte, daß Tiere e<strong>in</strong>geführt und dann geschlachtetwürden. Zudem wollte man e<strong>in</strong>e +Verschleppung* von BSE verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. An<strong>der</strong>erseits wurden aus Großbritannienmeist wenig von BSE betroffene +R<strong>in</strong><strong>der</strong>assen* importiert. Und schließlich geht man ja nach wie vor davon aus, daßBSE sich nur durch unzureichend aufbereitetes Tiermehl hatte ausbreiten können. E<strong>in</strong>e direkte Ansteckungsgefahrfür den +heimischen* Bestand konnte also eigentlich nicht erwartet werden.12. Bis Mai 1996 wurden außerhalb Großbritanniens allerd<strong>in</strong>gs nur rund 400 BSE-Fälle offiziell registriert – <strong>der</strong> Großteildavon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz (213 Fälle), die bisher nicht EG- bzw. EU-Mitgliedsstaat ist. Ansonsten trat BSE <strong>in</strong> nennenswertenUmfang nur noch <strong>in</strong> Irland (105 Fälle) und Frankreich (20 Fälle) auf. Die Bundesrepublik war nur mit 4 Fällen betroffen.Wie <strong>in</strong> Italien, Dänemarkt, Portugal, Griechenland, Kanada, den USA, Argent<strong>in</strong>ien, Israel und Oman (die auch jeweilse<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> mehrere Fälle verzeichnen mußten) handelte es sich dabei sogar ausschließlich um britische Import-R<strong>in</strong><strong>der</strong>.(Vgl. Hacker: Stichwort BSE; S. 14).13. Die E<strong>in</strong>fuhr-E<strong>in</strong>schränkung für Fleisch aus BSE-betroffenen Betrieben bestand allerd<strong>in</strong>gs nur dar<strong>in</strong>, daß das Fleischentbe<strong>in</strong>t und (soweit möglich) von Nerven- und Lymphgewebe befreit se<strong>in</strong> mußte.


76 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE14. Das nur mehr +sporadische* Auftreten von BSE, das die Graphik, auf die ich verwiesen habe, für die Geburtsjahrgänge1990/91 und 1991/92 suggeriert, ist allerd<strong>in</strong>gs tatsächlich wohl eher darauf zurückzuführen, daß die meisten Tiereerst im Alter von etwa 5 Jahren BSE entwickeln. Trotzdem ist, wenn man diesen Medianwert zur Grundlage nimmt,das Abs<strong>in</strong>ken beim Jahrgang 1989/90 e<strong>in</strong>igermaßen aussagekräftig, und auch e<strong>in</strong>e Aufschlüsselung nach Altersklassen– die diese Verzerrung umgeht – zeigt, daß die Erkrankungszahlen deutlich zurückg<strong>in</strong>gen (vgl. Wilesmith: RecentObservations on the Epidemiology of Bov<strong>in</strong>e Spongiforme Encephalopathy; Tab. 4.2; S. 47). Daß überhaupt auch nachdem Tiermehl-Verfütterungsverbot von 1988 geborene Tiere noch an BSE erkrank(t)en, wird neben <strong>der</strong> illegalenVerfütterung von Tiermehl-Restbeständen auf e<strong>in</strong>e vertikale (vom Muttertier auf das Kalb erfolgende) Übertragungzurückgeführt – obwohl es für diesen Infektionsweg bisher zum<strong>in</strong>dest ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutigen wissenschaftlichen Belegegibt (vgl. Bradley: Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy Distribution and Update on Some Transmission and Decontam<strong>in</strong>ationStudies; S. 18f.).15. Die Tabelle ist, da sie, wie angegeben, weitgehend aus e<strong>in</strong>er Prus<strong>in</strong>er-Veröffentlichung von mir übernommenwurde, +prionentheoretisch e<strong>in</strong>gefärbt* (siehe zur Prionentheorie auch me<strong>in</strong>e untenstehenden Ausführungen). Füre<strong>in</strong>e neutralere und detaillierte Beschreibung vgl. Brown/Gajdusek: The Human Spongiform Encephalopathies.16. In Großbritannien starben zwischen 1990 und 1994 durchschnittlich etwa 0,7 Personen pro e<strong>in</strong>e Million E<strong>in</strong>wohnerund Jahr an CJK – das ist zwar nicht über dem weltweiten Durchschnitt, stellt aber e<strong>in</strong>e recht deutliche Steigerungim Vergleich zur Vergangenheit (1985–89: 0,46) dar (vgl. Will: Incidence of Creutzfeldt-Jakob Disease <strong>in</strong> the EuropeanCommunity; Tab 27.5, S. 368). E<strong>in</strong>e Aufschlüsselung <strong>der</strong> Fälle (1990–95) nach Berufsgruppen zeigt, daß tatsächlichbritische Farmer mit e<strong>in</strong>er hochgerechneten Rate von 4,1 Fällen pro e<strong>in</strong>e Million E<strong>in</strong>wohner bei den diagnostiziertenCJK-Fällen stark überrepräsentiert waren. Viel dramatischer war das CJK-Risiko allerd<strong>in</strong>gs ansche<strong>in</strong>end für Vikare (Rate:11,8), Berufsfahrern (Rate: 8,2) o<strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>ern und Sanitätern (Rate: 5,7). (Vgl. ebd.; Tab 27.8, S. 372)An<strong>der</strong>erseits muß bei diesem Rechenspiel angemerkt werden, daß so kle<strong>in</strong>e Fallzahlen natürlich ke<strong>in</strong>e verläßlichenHochrechnungen erlauben. Erkrankt z.B. auch nur e<strong>in</strong> Angehöriger e<strong>in</strong>es extrem seltenen Berufs, so ergibt dieHochrechnung zwangsläufig e<strong>in</strong>e dramatische Erkrankungsrate <strong>in</strong> dieser Berufsgruppe (wie z.B. im Fall <strong>der</strong> Vikare,wo nur zwei Erkrankte für die hohe Rate verantwortlich s<strong>in</strong>d). Die allgeme<strong>in</strong> erhöhten Fallzahlen <strong>in</strong> Großbritannienschließlich lassen sich auch auf die größere Aufmerksamkeit für und die größere Bekanntheit von CJK gerade durchdie Medienberichterstattung zurückführen. Aufgrund e<strong>in</strong>er ähnlichen Symptomatik kann CJK nämlich z.B. auch leichtmit <strong>der</strong> Alzheimer-Erkrankung verwechselt werden (die von manchen Wissenschaftlern sogar ursächlich <strong>in</strong> die Nähevon SE-Erkrankungen gebracht wird). Es mag also <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit (und sogar heute) e<strong>in</strong>e ganze Reihe von nichterkannten Fällen geben haben bzw. geben.17. Bei BSE zeigen sich nach dem Anfärben deutlich sichtbare Eiweißablagerungen vor allem im neuronalen Gewebe.Diese sog. +Plaques* bzw. Amyloide (so genannt nach <strong>der</strong> eigentlich zum Stärke-Nachweis gebrauchten Anfärbemethode)werden bei CJK normalerweise nicht im selben Ausmaß angetroffen bzw. konnten <strong>in</strong> manchen Fällen sogar erst mitverfe<strong>in</strong>erten Nachweismethoden gefunden werden. Zudem handelte es sich bei den an dieser neuen Variante erkranktenPersonen auch überwiegend um sehr junge Personen – was für CJK eher untypisch ist.18. Man unterscheidet zwischen e<strong>in</strong>er +horizontalen* Übertragung von e<strong>in</strong>em Herdentier auf das an<strong>der</strong>e und <strong>der</strong>+vertikalen* Übertragung vom Muttertier auf das Kalb.19. +Begrenzt* und +unter Schwierigkeiten* deshalb, weil im Labor meist <strong>der</strong> Weg e<strong>in</strong>er direkten Injektion <strong>in</strong>s Hirn(also direkt und mit vergleichsweise hohen Dosen von <strong>in</strong>fektiösem Material) beschritten wird und nicht e<strong>in</strong>mal das<strong>in</strong> allen Fällen zu e<strong>in</strong>er Erkrankung führt (vgl. z.B. Tell<strong>in</strong>g et al.: Decipher<strong>in</strong>g Prion Diseases with Transgenic Mice; S.205ff.). Prus<strong>in</strong>er, <strong>der</strong> maßgebliche Vertreter <strong>der</strong> +Prionentheorie* (siehe unten), führt dies darauf zurück, daß nurrelativ homolog gebaute Prion-Prote<strong>in</strong>e (die er für Enzephalopathien wie Scrapie, CJK o<strong>der</strong> BSE verantwortlich macht)das zelluläre Eiweiß <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e pathogene Form umwandeln können (vgl. Prionen-Erkrankungen; S. 50f.).20. Die Studie von Fraser et al. wurde bereits 1988 durchgeführt. In <strong>der</strong> Zwischenzeit wurde e<strong>in</strong>e Übertragbarkeitauch auf Schafe, Ziegen, Schwe<strong>in</strong>e, Krallenaffen und Nerze gezeigt (vgl. Bradley: Bov<strong>in</strong>e Spongiform EncephalopathyDistribution and Update on Some Transmission and Decontam<strong>in</strong>ation Studies; Tab. 2.1, S. 15).21. Mittlerweile gibt es zwei +Nature*-Veröffentlichungen, die fast schon als +Beweis* für die Übertragbarkeit vonBSE auf den Menschen gewertet werden können (vgl. Bruce et al.: Transmissions to Mice Indicate that ›New Variant‹CJD is Caused by the BSE Agent sowie Hill et al.: The Same Prion Stra<strong>in</strong> Causes vCJD and BSE).


A: ANMERKUNGEN 7722. Diese Mikrofilter hätten Bakterien o<strong>der</strong> gar E<strong>in</strong>zeller als Krankheitserreger herausfiltern müssen. Doch auch nachdem Filterungsprozeß war e<strong>in</strong>e Infektiosität gegeben.23. Dies s<strong>in</strong>d Stoffe, welche die Tertiärstruktur (d.h. die räumliche Anordnung) von Prote<strong>in</strong>en (Eiweißen) umbildenund deshalb schädigend auf die aus Prote<strong>in</strong>en bestehende Virushülle wirken.24. Hier ist ke<strong>in</strong>e gentechnische Clonierung geme<strong>in</strong>t. Der Begriff bezieht sich auf e<strong>in</strong> Verfahren, bei dem das verwendeteGewebematerial aus Tieren gewonnen wurde, die ursprünglich – aufgrund <strong>der</strong> angewendeten Prozeduren –höchstwahrsche<strong>in</strong>lich nur mit e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>fektiösen Partikel <strong>in</strong>fiziert wurden, so daß bei ihnen eigentlich nur e<strong>in</strong> +Stamm*des Erregers vorkommen kann (vgl. Bruce/Fraser: Scrapie Stra<strong>in</strong> Variation and Its Implications; S. 132).25. Narang glaubt, Teile sog. +Nemaviren* <strong>in</strong> den von ihm untersuchten Proben gefunden zu haben – e<strong>in</strong>e neue,von ihm selbst beschriebene Virenklasse, <strong>der</strong>en DNA, ähnlich wie bei Vir<strong>in</strong>os, von e<strong>in</strong>er schützenden Prote<strong>in</strong>hülleumgeben ist, wobei sich +Nemaviren* aber dadurch zusätzlich +auszeichnen*, daß ihre nur e<strong>in</strong>strängige (s<strong>in</strong>gle stranded)DNA ihrerseits um e<strong>in</strong> Prion-Prote<strong>in</strong> gewunden ist. Dieser Forscher, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ige Artikelzusammen mit Nobelpreisträger Gajdusek veröffentlichte, hatte übrigens als Angestellter des britischen Gesundheitsamtse<strong>in</strong>ige Jahre an e<strong>in</strong>em Ur<strong>in</strong>-Test für BSE gearbeitet. Als er diesen Test Anfang <strong>der</strong> 90er Jahre <strong>in</strong> Schlachthöfen erprobenwollte, wurde er von se<strong>in</strong>em damaligen Arbeitgeber entlassen (siehe auch unten).26. Prus<strong>in</strong>er, <strong>der</strong> <strong>in</strong>zwischen (1997) für se<strong>in</strong>e Arbeit ebenfalls (wie Gajdusek) mit dem Mediz<strong>in</strong>-Nobelpreis geehrtwurde, legte die Grundzüge se<strong>in</strong>er Prionen-Theorie 1982 Jahre dar (vgl. Novel Prote<strong>in</strong>aceous Infectious Particles CauseScrapie). In dem zitierten Artikel von Griffith, <strong>der</strong> 1967 veröffentlicht wurde, spekulierte dieser aber über e<strong>in</strong>en ganzähnlichen Mechanismus – nachdem bereits zuvor von an<strong>der</strong>en Wissenschaftlern die Vermutung geäußert wordenwar, daß e<strong>in</strong> <strong>in</strong> irgend e<strong>in</strong>er Weise <strong>in</strong>fektiös wirkendes Prote<strong>in</strong> und ke<strong>in</strong> Virus die Ursache von Scrapie se<strong>in</strong> könnte(vgl. Pattison/Jones: The Possible Nature of the Agent of Scrapie).27. Es wird vermutet, daß das PrP e<strong>in</strong>e Rolle im System <strong>der</strong> Wachstumsregulation von Nervenzellen spielt.28. E<strong>in</strong>e Animation auf <strong>der</strong> Web-Seite <strong>der</strong> Prionen-Forschungsgruppe am Genzentrum München stellt diesen Umwandlungsprozeßsehr anschaulich dar: www.lmb.uni-muenchen.de/groups/w<strong>in</strong>nacker/weiss/ma<strong>in</strong>_weiss.htm).29. Das hochgestellte +Sc* steht für Scrapie, denn Prus<strong>in</strong>er beschäftigte sich ursprünglich mit dieser Krankheit.30. Auf diese beiden Aufsätze beziehe ich mich im wesentlichen auch bei me<strong>in</strong>er folgenden Darstellung. Prus<strong>in</strong>ersArtikel erschien im +Spektrum <strong>der</strong> Wissenschaft* und ist deshalb für e<strong>in</strong> wissenschaftlich <strong>in</strong>teressiertes Laienpublikumabgefaßt, leicht verständlich und knapp gehalten. Bei dem Artikel von Horwich und Weissman (beides Mitarbeitervon Prus<strong>in</strong>er) handelt es sich um e<strong>in</strong> detailliertes +Review*, das den aktuellen Stand <strong>der</strong> Debatte (1997) aus <strong>der</strong> Sicht<strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> Prionentheorie für e<strong>in</strong> wissenschaftliches Fachpublikum zusammenfaßt und gewisse Vorkenntnissevoraussetzt. Es erschien <strong>in</strong> <strong>der</strong> renommierten Zeitschrift +Cell*.31. Alper et al. selbst hatten jedoch auf <strong>der</strong> Grundlage ihrer Daten ke<strong>in</strong>e Indizien zur Unterstützung für die bereitszur Zeit ihrer Experimente (1966/67) aufgekommenen Spekulationen gefunden, daß e<strong>in</strong> +Prote<strong>in</strong>* bei <strong>der</strong> Pathogenesevon Scrapie beteiligt se<strong>in</strong> könnte (siehe dazu auch nochmals Anmerkung 26), son<strong>der</strong>n hielten eher die von Field (1966)<strong>in</strong> die Debatte e<strong>in</strong>gebrachte Hypothese für wahrsche<strong>in</strong>lich, daß bei übertragbaren spongiformen Enzephalopathien– wie bei multipler Sklerose – e<strong>in</strong> Polysaccharid im Spiel se<strong>in</strong> könnte (vgl. Transmission Experiments with MultipleSclerosis).32. Jedes Gen enthält <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel den Code zur Herstellung e<strong>in</strong>es spezifischen Eiweiß-Moleküls. Deshalb kann (überkomplexe gentechnische Verfahren), wenn se<strong>in</strong>e Struktur bekannt ist, jedem Prote<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gen zugeordnet werden.33. Aufgrund von Experimenten mit transgenen Mäusen (denen teils das Gen für das humane Prion-Prote<strong>in</strong>, teilse<strong>in</strong> chimärisches Prion-Prote<strong>in</strong>-Gen übertragen worden war) zog man den Schluß, daß e<strong>in</strong> weiteres Prote<strong>in</strong> (außerdem Scrapie Prion-Prote<strong>in</strong>) bei <strong>der</strong> Umwandlung des Prion-Prote<strong>in</strong>s <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e pathogene Form e<strong>in</strong>e Rolle spielen muß,da e<strong>in</strong>e unterschiedliche +Anfälligkeit* <strong>der</strong> Mausstämme für das (humane) Scrapie-Prion-Prote<strong>in</strong> festgestellt wurde(vgl. Tell<strong>in</strong>g et al.: Prion Propagation <strong>in</strong> Mice Express<strong>in</strong>g Human and Chimeric PrP Transgenes Implicates the Interactionof Cellular PrP with Another Prote<strong>in</strong>).


78 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE34. Siehe die MAFF-eigenen Web-Seiten: www.maff.gov.uk/animalh/bse. Purdey, so <strong>der</strong> Name +unseres* Außenseiters(siehe unten), hatte zeitweise sogar e<strong>in</strong>flußreiche Befürworter <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> (allerd<strong>in</strong>gs nicht im Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isterium,wo die Fäden zusammenlaufen) und veröffentlicht mittlerweile auch (wie die zitierten Artikel zeigen) <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eren+wissenschaftlichen* Zeitschriften.35. Die altbekannten Scrapie-Fälle und Kuru br<strong>in</strong>gt Purdey <strong>in</strong> Zusammenhang mit <strong>der</strong> +natürlichen* Radioaktivitätund e<strong>in</strong>er Schwermetallbelastung <strong>der</strong> Böden <strong>in</strong> bestimmten Gegenden.36. Die Warble- o<strong>der</strong> Dasselfliege legt ihre Eier auf den Tieren ab. Nach dem Schlupfen bohren sich die Larven durchdie Haut.37. Zur Prävention müssen R<strong>in</strong><strong>der</strong> und Schafe <strong>in</strong> gefährdeten Gegenden bis zu zweimal jährlich mit Pestiziden abgesprühtwerden. Das früher e<strong>in</strong>gesetzte +L<strong>in</strong>dan* wurde Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre verboten und durch das Organophosphat +Phosmet*ersetzt.38. Purdey betont deshalb, um durch die Existenz <strong>der</strong> erblichen Se-Syndrome nicht <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche verstrickt zuwerden, daß auch e<strong>in</strong> genetischer Defekt für die Erkrankung ausschlaggebend se<strong>in</strong> kann.39. In <strong>der</strong> Schweiz wurden e<strong>in</strong>zig Schwe<strong>in</strong>e mit Organophosphaten +behandelt*. Nur extrem ger<strong>in</strong>ge Mengen <strong>der</strong>Pestizide könnten über das Tiermehl <strong>in</strong> die Nahrungskette <strong>der</strong> Kühe gelangt se<strong>in</strong>.40. Rifk<strong>in</strong>, <strong>der</strong> uns bereits durch se<strong>in</strong>e Thesen zum +Ende <strong>der</strong> Arbeit* (1995) bekannt ist, legt se<strong>in</strong> Hauptaugenmerk<strong>in</strong> diesem Buch auf den Landverbrauch durch die R<strong>in</strong><strong>der</strong>haltung und auf den Verlust an dr<strong>in</strong>gend benötigten Nahrungsmittelndurch die praktifizierte +Veredelung* des Getreides. So weist Rifk<strong>in</strong> e<strong>in</strong>leitend darauf h<strong>in</strong>, daß 24% <strong>der</strong> Landmasseunseres Planeten von R<strong>in</strong><strong>der</strong>n beansprucht werden und man <strong>in</strong> den USA über 70% <strong>der</strong> Getreideproduktion an R<strong>in</strong><strong>der</strong>verfüttert (vgl. Das Imperium <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>; S. 13).41. Die genannten Zahlen beziehen sich auf die gesamte Fleisch<strong>in</strong>dustrie (+establishments primarily engaged <strong>in</strong> theslaughter<strong>in</strong>g […] of cattle, hogs, sheep, lambs, and calves for meat to be sold or to be used on the same premises<strong>in</strong> cann<strong>in</strong>g, cook<strong>in</strong>g, cur<strong>in</strong>g, and freez<strong>in</strong>g, and <strong>in</strong> mak<strong>in</strong>g sausages, lard, and other products*). Die +R<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>in</strong>dustrie*hat hier allerd<strong>in</strong>gs den (wenn auch s<strong>in</strong>kenden) größten Anteil (1992 betrug <strong>der</strong> Anteil des R<strong>in</strong>dfleischs am Fleischumsatz<strong>in</strong> amerikanischen Supermärkten 42%).42. In <strong>der</strong> deutschen Ausgabe, die ich zitiert habe, ist – etwas unglücklich übersetzt – von <strong>der</strong> +jungste<strong>in</strong>zeitlichenUmwälzung* die Rede (vgl. Stufen <strong>der</strong> Kultur; S. 61).43. Ihr wichtigster Gott war Indra, <strong>der</strong> die Gestalt e<strong>in</strong>es Bullen hat, und <strong>der</strong> vedische Begriff für Krieg (gavisti) – die ..Veden spiegeln das religiöse und soziale Denken <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>er – bedeutet nichts an<strong>der</strong>es als +Begehren nach Kühen*.Selbst das Wort für den Himmel (ga) vah) kann etymologisch vom Wort für Kuh (gau) abgeleitet werden..44. Es gab im Industal zu dieser Zeit bereits seit ca. 1000 Jahren blühende Städte mit Backste<strong>in</strong>häusern und Kanalisation.45. In Indien besteht e<strong>in</strong> duales (und ke<strong>in</strong>esfalls homogenes) System von Varna . (den hauptsächlich rituell bedeutenden,<strong>in</strong> den Veden genannten vier +Hauptkasten*) und Ja) ti (den unzähligen, am Geburts- bzw. Berufsstand orientierten+Unterkasten*). Hier beziehe ich mich auf das Varna-System, . das auf e<strong>in</strong>en Rig-Veda-Mythos zurückgeht. Dort heißtes zum Urkörper (Purusa): . +Se<strong>in</strong> Mund ward zum Brahmanen [Priester], se<strong>in</strong>e beiden Arme wurden zum Ra) janya[Herrscher] gemacht, se<strong>in</strong>e beiden Schenkel zum Vai śya [Händler- und Bauernstand], aus se<strong>in</strong>en Füßen entstand<strong>der</strong> Su)dra ! [dienen<strong>der</strong> Stand].* (Zehnter Lie<strong>der</strong>kreis, Hymnus 90, Strophe 12) Die rassistische Komponente dieserSchichtungshierarchie des Varna-Systems, . wird schon daraus ersichtlich, daß Varna . e<strong>in</strong> Sanskrit-Begriff für Farbe ist(vgl. hierzu auch me<strong>in</strong>e Ausführungen <strong>in</strong> Shivas Tanz auf dem Vulkan; S. 39f.). E<strong>in</strong>e helle Hautfarbe gilt <strong>in</strong> Indien übrigensnoch immer als Zeichen +vornehmer* Abkunft.46. Das Aśvamedha-Opfer z.B. erfor<strong>der</strong>te die Schlachtung von 600 Bullen. Mit dieser Massentötung sollte wohl dieWichtigkeit des Rituals herausgestellte werden, denn R<strong>in</strong><strong>der</strong> hatten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ökonomie <strong>der</strong> kaum Ackerbau betreibenden+Aryas* große, wenn nicht zentrale Bedeutung.


A: ANMERKUNGEN 7947. Getrockneter Kuhdung wurde <strong>in</strong> wird <strong>in</strong> Indien als Brennmaterial benutzt. Sogar <strong>der</strong> Ur<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kühe wird als Heilmittel<strong>in</strong> <strong>der</strong> traditionellen Mediz<strong>in</strong> angewandt.48. Im Zeitalter <strong>der</strong> Opfermystik (ca. 1.000 bis 750 v. Chr.) wurde das religiöse und soziale Leben von <strong>der</strong> Priesterkaste<strong>der</strong> Brahmanen mit ihrem exklusiven, geheimen Opferwissen dom<strong>in</strong>iert. Im +Brahmana <strong>der</strong> hun<strong>der</strong>t Pfade* heißtes gar: +Die Sonne würde nicht aufgehen, würde nicht <strong>der</strong> Priester <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frühe das Feueropfer darbr<strong>in</strong>gen.* (Zitiertnach Glasenapp: Die Philosophie <strong>der</strong> In<strong>der</strong>; S.32) Dieses ritualistische Denken wandelte sich mit dem Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong>klassischen Periode ab ca. 550 v. Chr. – vor allem durch den E<strong>in</strong>fluß <strong>der</strong> religiösen und aber gleichzeitig auch sozialenBewegungen des <strong>Ja<strong>in</strong></strong>ismus und Buddhismus: +Hatte [noch] <strong>in</strong> <strong>der</strong> Upanishadenzeit [ca. 750 bis 550 v. Chr.] das Dorfden H<strong>in</strong>tergrund für die <strong>in</strong> <strong>der</strong> heiligen Sanskritsprache geführten Diskussionen gebildet, <strong>in</strong> welchen r<strong>in</strong><strong>der</strong>züchtendeBrahmanen und Krieger die höchsten Fragen zu lösen versuchten, so ist es jetzt die Stadt […] War bisher die Philosophiee<strong>in</strong>e Geheimlehre […], so wurde sie jetzt <strong>in</strong> steigendem Maße zu e<strong>in</strong>er Angelegenheit <strong>der</strong> geistig Bewegten aller Stände.*(Ebd.; S. 50) Die Autorität <strong>der</strong> Priesterkaste wurde so herausgefor<strong>der</strong>t und +nicht-arische* Adlige wie Maha) vi2ra (<strong>der</strong>Begrün<strong>der</strong> des <strong>Ja<strong>in</strong></strong>ismus) und Gautama Buddha stellten <strong>in</strong> ihren immer mehr Anhänger f<strong>in</strong>denden, das Kastensystemund die Autorität <strong>der</strong> Veden ablehnenden heterodoxen Lehren den Gedanken <strong>der</strong> +Gewaltlosigkeit* (ahimsa) . ) heraus.Das Zwang auch die Brahmanen zur Anpassung ihrer religiösen Praktiken und Vorstellungen – und vor allem zu e<strong>in</strong>erAufgabe ihrer blutigen Opferriten.49. VHP: Viśva H<strong>in</strong>du Parisad (H<strong>in</strong>duistischer Weltrat). Diese militante H<strong>in</strong>du-Vere<strong>in</strong>igung mit Ablegern <strong>in</strong> verschiedenen.Staaten war, wie z.B. <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er eigenen Arbeit über den H<strong>in</strong>du-Nationalismus <strong>in</strong> Indien nachgelesen werden kann,als treibende Kraft an den Agitationen beteiligt, die 1992 zur Stürmung <strong>der</strong> Ba2bri2-Moschee von Ayodhya2 durch militanteH<strong>in</strong>dus führten und ist <strong>in</strong> das Netzwerk <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeit <strong>in</strong> Indien regierenden (damals allerd<strong>in</strong>gs oppositionellen) h<strong>in</strong>dunationalistischenBJP (Bha2rati2ya Janata2 Party – Indische Volkspartei) <strong>in</strong>tegriert (vgl. Shivas Tanz auf dem Vulkan; Kap.2 sowie Abschnitt 5.3 und 5.4).50. Die betreffende Ausgabe kann ihm Web-Archiv dieser h<strong>in</strong>duistischen Propaganda-Zeitschrift angewählt werden(http://www.spiritweb.org/H<strong>in</strong>duismToday/96-06-Global_Dharma.html).51. Für den deflexiven Charakter dieser Maßnahmen ist es freilich weniger relevant, ob sie erfolgreich waren o<strong>der</strong>nicht, son<strong>der</strong>n daß sie am Systemerhalt orientiert waren, auf konventionellen +Techniken* aufsetzten und zur Ablenkungvon reflexiven (also das System herausfor<strong>der</strong>nden) Potentialen dienten.52. 1993 – also noch vor <strong>der</strong> großen Krise, aber bereits lange nach dem Bekanntwerden von BSE – führte Frankreich142.790 Tiere e<strong>in</strong>. In die Nie<strong>der</strong>lande g<strong>in</strong>gen 135.308 und nach Belgien und Luxemburg 30.828 britische R<strong>in</strong><strong>der</strong>.Alle an<strong>der</strong>e Staaten führten nur <strong>in</strong> sehr ger<strong>in</strong>gem Umfang britische Tiere e<strong>in</strong>.53. 1985 bis 1989 waren die Hauptabnehmer von britischem Tiermehl Frankreich (8.500t) und die Beneluxstaaten(5.450t). 1993 g<strong>in</strong>g jedoch <strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong> Ware (18.517t), aufgrund des Importverbots <strong>in</strong> viele europäische Län<strong>der</strong>n,nach Indonesien. Größere Mengen wurden aber auch nach Israel (3.745t), Thailand (1.964t), Italien (1.699t) undSri Lanka (1.352t) ausgeführt. Bei R<strong>in</strong>dfleisch war <strong>der</strong> größte Importeur (1993) wie<strong>der</strong>um Frankreich (89.348t), gefolgtvon Italien (15.331t) und den Nie<strong>der</strong>landen (8.120t). (Vgl. Hacker: Stichwirt BSE; S. 44f. u. S. 65)54. Es wird von mancher Seite e<strong>in</strong>e hohe Dunkelziffer vermutet. So spricht etwa Kari Köster-Lösche (ohne allerd<strong>in</strong>gsihre Quelle und Belege zu nennen) von e<strong>in</strong>er Dunkelziffer von 360.000 Tieren (bei 140.000 +offiziellen* Fällen) bis1995 (vgl. R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n; S. 114).55. Schnell stellte sich heraus, daß über e<strong>in</strong>e vermutete Übertragung vom Muttertier auf das Kalb auch e<strong>in</strong>e großeAnzahl von Tieren aus den Geburtsjahrgängen nach 1988 an BSE erkrankten – wenn auch deutlich weniger als zuvor.56. Es wird allerd<strong>in</strong>gs vermutet, daß beträchtliche Mengen britischen R<strong>in</strong>dfleischs über +Umwege* nach Deutschlandgelangt s<strong>in</strong>d (vgl. auch Reicherzer: Betrug leichgemacht).57. An dieser offiziellen These kann man freilich gewisse Zweifel anmelden, da, wie dargelegt, britisches Tiermehl<strong>in</strong> großem Umfang (auch schon <strong>in</strong> den 80er Jahren) nach Frankreich exportiert wurde – ohne daß es dort bisher zue<strong>in</strong>er BSE-Epidemie gekommen wäre. Auch wenn man aber wie Purdey (siehe S. 281f.) die Theorie e<strong>in</strong>er Organophosphat-Vergiftung vertritt, so war es e<strong>in</strong>e (eventuell auch im Interesse <strong>der</strong> chemischen Industrie getroffene) staatliche Vorschriftzur Pestizid-Behandlung, die <strong>der</strong> Krankheit vorausg<strong>in</strong>g.


80 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE58. Dies gilt natürlich vor allem, wenn man sich Purdeys These <strong>der</strong> Organophosphat-Vergiftung zu eigen macht. DieSchlachtung von Tieren, die nicht mit diesen Giften behandelt wurden, wäre danach offensichtlich uns<strong>in</strong>nig.59. Bei e<strong>in</strong>er Vernichtung des gesamten Bestands beliefen sich die Kosten sogar auf ca. 22 Milliarden DM. Das schließtallerd<strong>in</strong>gs nicht nur die Schlachtung, Verarbeitung und Deponierung e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n auch die Entschädigungszahlungenan die Landwirte, die mit ca. 1.300 DM pro Tier zu Buche schlagen.60. Inzwischen gibt es auch von schweizer Forschern ausgelöste Spekulationen, daß BSE bzw. CJK sich durch Blut<strong>in</strong>fusionenübertragen läßt (vgl. Schuh: Wahns<strong>in</strong>n im Blut) – was zu e<strong>in</strong>igem Medienwirbel und öffentlicher Verunsicherung <strong>in</strong>Großbritannien geführt hat.61. Es war schließlich auch das Drängen von an<strong>der</strong>en EU-Mitgliedsstaaten (vor allem Deutschland), das die britische<strong>Politik</strong> dem EU-Plan zustimmen ließ. Die ausländischen Befürworter e<strong>in</strong>er möglichst radikalen Lösung hofften wohlerstens, damit die Ausweitung <strong>der</strong> Seuche auf ihr Territorium zu unterb<strong>in</strong>den (was allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>esfalls gesichert ist),und zweitens konnte <strong>der</strong>art natürlich gegenüber <strong>der</strong> eigenen Bevölkerung e<strong>in</strong>e unnachgiebige und konsequente Haltungdemonstriert werden.62. Paradoxerweise s<strong>in</strong>d übrigens ausgerechnet diejenigen, <strong>der</strong>en Profitbegehrlichkeit die Krise möglicherweise auslöste,nämlich die Tiermühlen, die großen Gew<strong>in</strong>ner, da sie sich vor Aufträgen nun kaum retten können.63. E<strong>in</strong>e +reflexive* Antwort wäre demgegenüber e<strong>in</strong> risikom<strong>in</strong>imierendes Umschwenken h<strong>in</strong> zu +sanfteren* Produktionsmethodenim gesamten Bereich <strong>der</strong> Agro<strong>in</strong>dustrie gewesen, was zwar von vielen subpolitischen Gruppierungen schonlange gefor<strong>der</strong>t wird, aber im politischen Diskurs <strong>der</strong>zeit nicht durchsetzungsfähig ist.64. E<strong>in</strong>e (kommentierende) Übersicht über die bis 1996 getroffen Verordnungen gibt Kari Köster-Lösche (vgl.R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n; S. 65ff.).65. Verschiedene solche Worst-Case-Prognosen (vor allem von Dealler, aber auch von an<strong>der</strong>en Wissenschaftlern)können (mitQuellenangaben) nachgelesen werden unter: http://www.cyber-dyne.com/~tom/worse_case_scenario.html.66. In den Medien (um genau zu se<strong>in</strong>: <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Artikel des +Guardian* vom 20. August 1996 mit dem Titel +Manwith a Mission*) wurden allerd<strong>in</strong>gs auch e<strong>in</strong>ige Zweifel an <strong>der</strong> wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit und KompetenzNarangs geäußert. Wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorbemerkung <strong>der</strong> von mir herangezogenen Internet-Veröffentlichung des Guardian-Artikelsvon Grenn, so <strong>der</strong> Name <strong>der</strong> Autor<strong>in</strong>, zu lesen steht, zeichnet sich diese allerd<strong>in</strong>gs selbst nicht durch übermäßigeKompetenz <strong>in</strong> Sachen Wissenschaftsjournalismus aus, da sie sich bisher eher als Food-Journalist<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Namen machte(vgl. www.cyber-dyne.com/~tom/narang.html).67. Im Jahr 1990, e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> Höhepunkte <strong>der</strong> Medienberichterstattung über BSE <strong>in</strong> Großbritannien, sank <strong>der</strong> Anteildes R<strong>in</strong>dfleischs am gesamten Fleischverkauf (bei e<strong>in</strong>em deutlichen Preisverfall) von 30,8 auf 25,4%. Der Anteil vonLamm- und Schwe<strong>in</strong>efleisch stieg im selben Zeitraum um 3,1% bzw. 1,6%. Es wird jedoch damit gerechnet, daß<strong>der</strong> Langzeiteffekt deutlich ger<strong>in</strong>ger ausfallen wird. (Vgl. Burton/Young: Measur<strong>in</strong>g Meat Consumers’ Response to thePerceived Risks of BSE <strong>in</strong> Great Brita<strong>in</strong>; S. 23)68. Vgl. allgeme<strong>in</strong> dazu auch Freedberg: The Power of Images. Explizit kritisch zur +Macht <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>* äußert sichdagegen Mart<strong>in</strong> Warnke, <strong>der</strong> me<strong>in</strong>t, <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Darstellung manifestiere sich eher die Selbstverherrlichungssucht<strong>der</strong> Mächtigen, als daß sich das Publikum durch die (geschönten) (Ab-)Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Mächtigen bee<strong>in</strong>flussen lassen würde(vgl. Politische Ikonographie).69. Für Adam spielt hier, wie schon <strong>der</strong> Titel ihres Buches erahnen läßt, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>geschränkte Zeithorizont <strong>der</strong> Medien(siehe auch unten sowie S. 255) und <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>e allgeme<strong>in</strong> die zentrale Rolle.70. De Gaulle hat sogar zweimal e<strong>in</strong>en Beitritt Großbritanniens <strong>in</strong> die EG verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t.71. Der <strong>in</strong>szenierte Konflikt mit <strong>der</strong> EU (<strong>der</strong> natürlich, wie erwähnt, auch e<strong>in</strong>en materiellen H<strong>in</strong>tergrund durch dieInteressen <strong>der</strong> britischen R<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>in</strong>dustrie hat) diente also zum e<strong>in</strong>en dazu, die Radikalität <strong>der</strong> ergriffenen Maßnahmenals von außen oktruiert gegenüber <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite kann die britische <strong>Politik</strong>


A: ANMERKUNGEN 81nunmehr <strong>in</strong> Form <strong>der</strong> getöteten R<strong>in</strong><strong>der</strong> plastisch darauf verweisen, daß schließlich alles von ihr zur Bewältigung desBSE-Risikos unternommen wurde, daß ihr ke<strong>in</strong> +Opfer* zu groß war. Sie ist also doppelter Gew<strong>in</strong>ner <strong>in</strong> diesem +Spiel*– so erklärt sich <strong>der</strong> sche<strong>in</strong>bare Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Argumentation.72. Wenn <strong>der</strong> Fe<strong>in</strong>d bzw. das/<strong>der</strong> Fremde (denn <strong>der</strong> Fe<strong>in</strong>d ist immer e<strong>in</strong> Frem<strong>der</strong>, und das Fremde ist immer potentiellfe<strong>in</strong>dlich) durch e<strong>in</strong>e konkrete Person symbolisiert wird (wie z.B. im Golfkrieg Saddam Husse<strong>in</strong> als Repräsentant desGegners Irak +funktionierte*), so steht er eben gerade nicht für sich selbst als konkretes Individuum, son<strong>der</strong>n vertrittdie gesamte zum Fe<strong>in</strong>d def<strong>in</strong>ierte Gruppe, <strong>der</strong> er se<strong>in</strong> Gesicht +leiht*, um sie identifizierbar zu machen.73. Deren Zahlen lagen mir allerd<strong>in</strong>gs nicht direkt vor, son<strong>der</strong>n nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aufarbeitung durch Burton und Young(siehe unten sowie Anmerkung 67).74. Ich habe das an an<strong>der</strong>er Stelle <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er deutschen Übersetzung zitierte Buch von Rifk<strong>in</strong> (siehe S. 283) deshalban dieser Stelle im englischen Orig<strong>in</strong>al herangezogen, weil <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Übersetzung auch die englischsprachigenQuellen-Zitate mit übersetzt wurden, die ich jedoch <strong>in</strong> ihrer +ursprünglichen* Fassung wie<strong>der</strong>geben wollte.75. In dieser empirischen Studie beschäftigt sich Bourdieu mit den über den sozialen Status vermittelten, als Schließungsmechanismensehr wirksamen kulturell-ästhetischen Dist<strong>in</strong>ktionen <strong>in</strong> Frankreich.76. Veblen vertrat, bezogen auf die Prunksucht <strong>der</strong> (neureichen) amerikanischen F<strong>in</strong>anzelite am Ende des letztenJahrhun<strong>der</strong>ts, die These, daß <strong>der</strong>en Angehörige sich durch e<strong>in</strong>e offen zur Schau getragene Verschwendung von <strong>der</strong>arbeitenden Klasse abzusetzen bestrebt waren (vgl. The Theory of the Leisure Class). E<strong>in</strong>e Tendenz die (allerd<strong>in</strong>gs aufe<strong>in</strong>em +kultivierteren* Niveau) sicher auch bei <strong>der</strong> dekadent-snobistischen britischen Oberschicht anzutreffen war/ist.In beiden Fällen kann man me<strong>in</strong>es Erachtens jedenfalls sicher nicht jene von Weber herausgestellte +<strong>in</strong>nerweltlicheAskese* ausmachen (vgl. Die protestantische Ethik und er Geist des Kapitalismus und siehe auch hier S. XXXf.).77. Wie Montanari bemerkt, wich man – was die Essenskultur betrifft – zur sozialen Dist<strong>in</strong>ktion von <strong>der</strong> Fleisch-fixiertenArbeiterklasse <strong>in</strong> den +höheren* Schichten auf leichtere und vegetarische Kost aus (vgl. The Culture of Food; S. 168).78. Noch drastischer s<strong>in</strong>d diesbezüglich gentechnische E<strong>in</strong>griffe. So besteht (neben ökologischen Risiken) die Gefahr,daß durch die +Mischung* von genetischen Informationen unkalkulierbare bzw. (für die Verbraucher) unvorhersehbareallergische Reaktionen auftreten (vgl. z.B. Katzek: Gentechnik im Lebensmittelbereich).


82 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEKAPITEL 5: REFLEXIV-DEFLEXIVE MODERNISIERUNG UND DIE DIFFUSION DES POLITISCHEN1. Die emanzipatorische Orientierung <strong>der</strong> Kritischen Theorie am befreienden Potential <strong>der</strong> +Wahrheit* verbundenmit dem latent immer noch bestehenden Glauben, daß die Vernunft fähig wäre, Zwecke s<strong>in</strong>nvoll zu bestimmten,anstatt bloßes Mittel zu se<strong>in</strong>, ist <strong>der</strong> Anlaß für die explizite Kritik an <strong>der</strong> nicht mehr objektiven, son<strong>der</strong>n subjektivenVernunft bzw. Philosophie <strong>der</strong> neuzeitlichen Aufklärung. An diesem Wendepunkt beg<strong>in</strong>nt die +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung*(Horkeimer/Adorno 1944) ihr katastrophales Potential zu entfalten. So stellt Horkheimer se<strong>in</strong>er Schrift +Zur Kritik<strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft* (1947) zwar fest: +Der positivistische Angriff auf gewisse kalkulierte und künstlicheWie<strong>der</strong>belebungen veralteter Ontologien ist zweifellos berechtigt.* (S. 65) An<strong>der</strong>erseits kritisiert er: +In <strong>der</strong> Neuzeithat die Vernunft e<strong>in</strong>e Tendenz entfaltet, ihren eigenen objektiven Inhalt aufzulösen.* (Ebd.; S. 23) Und an spätererStelle heißt es gar: +Der Verdienst des [neuzeitlichen] Positivismus besteht dar<strong>in</strong>, daß er den Kampf <strong>der</strong> Aufklärunggegen Mythologien <strong>in</strong> den geheiligten Bezirk <strong>der</strong> traditionellen Logik getragen hat. Jedoch können die Positivistenwie die mo<strong>der</strong>nen Mythologen beschuldigt werden, e<strong>in</strong>em Zweck zu dienen, anstatt ihn zugunsten <strong>der</strong> Wahrheit[!] aufzugeben.* (S. 88) Damit ist Aufklärung laut Horkheimer und Adorno also selbst zum Mythos geworden, und+wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich <strong>in</strong> Mythologie*(Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung; S. 18). Erst im Spätwerk Adornos, <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Negative[n] Dialektik* (1966), wird diese Figur<strong>der</strong> geschichtsphilosophischen Metaerzählung, die sich ihrer übergeordeten historischen Wahrheit gewiß ist, zugunstene<strong>in</strong>er radikal reflexiven, je<strong>der</strong> Totalisierung sich entziehenden +kritischen Hermeneutik des Individuellen* aufgegeben(vgl. hierzu auch Schnädelbach: Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung).2. Auch im (postmo<strong>der</strong>nen) Bewußtse<strong>in</strong>, daß Realität immer konstruierte Realität bedeutet, kann und darf also nichtdarauf verzichtet werden, sich (reflektierend-kritisch) auf die Welt <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir leben zu beziehen. Vielmehr ist, geradeum sozialen Wandel zu <strong>in</strong>itiieren und Prozesse des +Empowerment* zu ermöglichen, nach den Bed<strong>in</strong>gungen zu fragen,unter denen diese Realität konstruiert und konstituiert wird – und nur im diesem S<strong>in</strong>n entspricht die kritisch-dialektischeTheorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, wie sie hier im folgenden entworfen werden soll, dem Programm von Roy Bhaskars<strong>in</strong> dem zitierten Band dargelegten +kritischen Realismus* (vgl. Reclaim<strong>in</strong>g Reality; <strong>in</strong>sb. S. 2f.). Welche Rolle <strong>in</strong> diesememanzipatorischenZusammenhangwie<strong>der</strong>umkritischeTheoriespielt,hatHorkheimerdargelegt:+Philosophiekonfrontiertdas Bestehende <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em historischen Zusammenhang mit dem Anspruch se<strong>in</strong>er begrifflichen Pr<strong>in</strong>zipien, um dieBeziehung zwischen beiden zu kritisieren und so über sie h<strong>in</strong>auszugehen. Philosophie hat ihren positiven Charaktergerade am Wechselspiel dieser beiden negativen Verfahren. Die Negation spielt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie [also] e<strong>in</strong>eentscheidende Rolle […] E<strong>in</strong>e Philosophie, <strong>der</strong> die Negation als Element eignet, darf [allerd<strong>in</strong>gs] nicht mit Skeptizismusgleichgesetzt werden. Dieser bedient sich <strong>der</strong> Negation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er formalistischen und abstrakten Weise. Die Philosophienimmt die bestehenden Werte ernst, <strong>in</strong>sistiert aber darauf, daß sie zu Teilen e<strong>in</strong>es theoretischen Ganzen werden,das ihre Relativität offenbart.* (Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft; S. 170)3. Ryan führt hier (1982) aus, daß e<strong>in</strong> nicht-totalitärer Marxismus vom dekonstruktivistischen Differenzdenken profitierenkönnte, da mit <strong>der</strong> Dezentrierung nicht mehr nur das (vere<strong>in</strong>heitlichte, objektivierte) +Subjekt* des <strong>in</strong>dustriellen Proletariatsim alle<strong>in</strong>igen Zentrum des kritischen Denkens steht, son<strong>der</strong>n auch an<strong>der</strong>en Stimmen Raum gegeben wird (vgl. Marxismand Deconstruction; S. 114f.). Auch Fredrik Jameson hat – obwohl er e<strong>in</strong>en sehr kritischen Blick auf die verflachte(Kultur-)Welt des Spätkapitalismus wirft – durchaus Geschmack am Konsum poststrukturalistischer Theorieware gefunden(vgl. <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism; S. 297ff.). An<strong>der</strong>e l<strong>in</strong>ksgerichtete Autoren goutierendiese jedoch weniger aufgeschlossen. Terry Eagleton z.B. stellt zwar e<strong>in</strong>erseits den überwiegend oppositionellen,antimonistischen Charakter des postmo<strong>der</strong>nistischen Denkens heraus. An<strong>der</strong>erseits verweist er gleichzeitig auf dessenUnfähigkeit, die harte +Realität* <strong>der</strong> kapitalistischen Ordnung zu reflektieren und zu transzendieren (vgl. Die Illusionen<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne; S. 174ff. und siehe auch nochmals Anmerkung 139, Entrée). Er führt deshalb (im Anschluß an Marx,Nietzsche und Freud) gegen die postmo<strong>der</strong>nen, +entd<strong>in</strong>glichten* Ideologien des Ästhetischen die materielle Wi<strong>der</strong>ständigkeitdes Körperlichen und <strong>der</strong> +S<strong>in</strong>nlichkeit* <strong>in</strong>s Feld (vgl. The Ideologie of the Aesthetic; S. 196ff. u. S. 409ff.)– und trifft sich dar<strong>in</strong> mit neueren Überlegungen Ryans (vgl. Body Politics; XIff.). Man kann jedoch gerade <strong>in</strong> dieserFigur auch e<strong>in</strong>en Berührungspunkt zum Ansatz Foucaults sehen (vgl. Strasen: Marxistische Ideologiekritik mit poststrukturalistischenMitteln). Ich selbst werde, was den möglichen Ansatzpunkt für e<strong>in</strong>e kritische Überschreitung betrifft, eherdie reflexiven Wi<strong>der</strong>standspotentiale e<strong>in</strong>es <strong>in</strong> ambivalenter Nichtidentität +authentischen* Selbst herausstellen (sieheExkurs).4. E<strong>in</strong>e spielerische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Position Derridas (<strong>in</strong> Absetzung zur eher klassisch marxistischen PositionTerry Eagletons) f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em kurzen Aufsatz +›Marx’ Gespenster‹ und ›Die Illusionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne‹* (1998).


A: ANMERKUNGEN 83Speziell die (immanente) Verb<strong>in</strong>dung des dekonstruktivistischen Ansatzes mit dem Gedanken <strong>der</strong> Gerechtigkeit wird<strong>in</strong> dem Band +Gesetzeskraft* (1990) erläutert. Hier legt Derrida nämlich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e dar, daß Dekonstruktion +denAnspruch erhebt, Folgen zu haben, die D<strong>in</strong>ge zu än<strong>der</strong>n und auf e<strong>in</strong>e Weise e<strong>in</strong>zugreifen, die wirksam und verantwortlichist* (S. 18).5. Folgt man Jean Baudrillard, so stellt <strong>der</strong> (symbolisch) wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Leben <strong>in</strong>tegrierte Tod, mit se<strong>in</strong>er radikalen Absagean das (aktuelle) Se<strong>in</strong>, den vielleicht e<strong>in</strong>zig möglichen Wi<strong>der</strong>stand gegen das totalitär gewordene, wuchernde kapitalistischeTauschsystem dar, das alle<strong>in</strong>e die Produktivität <strong>in</strong>s Zentrum stellt – und so doch nur Stillstand (Tod) produziert (vgl.Der symbolische Tausch und <strong>der</strong> Tod; <strong>in</strong>sb. S. 203ff. u. S. 227ff.). Wer wi<strong>der</strong>ständig denken will, muß sich also e<strong>in</strong>e(von den Vorspiegelungen des realen Kapitalismus befreite) todesbewußte, +<strong>fatal</strong>e* Sichtweise zu eigen machen (vgl.auch <strong>der</strong>s.: Die <strong>fatal</strong>en Strategien) – o<strong>der</strong> wie schon Montaigne (e<strong>in</strong>e Sentenz von Cicero aufgreifend) wußte:+Philosophieren heißt Sterben lernen* (1580). Und erst <strong>der</strong> +abgestorbene* (genspenstische) Marxismus <strong>der</strong> postmarxistischenÄra wäre demgemäß, <strong>in</strong>dem er se<strong>in</strong>e +Todeserfahrung* mit all den schmerzlichen Erkenntnissen über die eigenenIrrungen bereits h<strong>in</strong>ter sich hat (und <strong>in</strong>dem er sich nicht mehr als willkommener Gegenspieler zur abgrenzenden Identitätsbildungbenutzen läßt), zur E<strong>in</strong>lösung des formulierten Anspruchs – nämlich die kapitalistische Gesellschaftsordnungzu überw<strong>in</strong>den – fähig.6. Das hier von mir anvisierte kritische Projekt begnügt sich also bewußt damit, m<strong>in</strong>oritär zu bleiben. Denn nur allzuleicht läuft Kritik an<strong>der</strong>enfalls Gefahr, entwe<strong>der</strong> selbst zur unterdrückenden Macht zu werden (wie <strong>der</strong> Sozialismusim ehemaligen Ostblock) o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Macht vere<strong>in</strong>nahmt zu werden (wie z.B. die Umweltbewegung im Westen)(vgl. hierzu auch Lyotard: das Patchwork <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten; S. 7f. u. S. 10). Es gilt <strong>in</strong> negieren<strong>der</strong> S<strong>in</strong>gularität zu zeigen,daß es auch e<strong>in</strong> An<strong>der</strong>s-Denken gibt. Damit wird e<strong>in</strong> Raum <strong>der</strong> Differenz geöffnet, <strong>der</strong> dieses Differente nicht festlegtund fixiert, son<strong>der</strong>n ihm gerade +Abweichungen* ermöglicht.7. Giddens’ Konzept <strong>der</strong> +life politics* wurde – wie hoffentlich noch <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung ist – bereits <strong>in</strong> Abschnitt 1.5 nähervorgestellt.8. Im Glossar dieses Entwurfs zu e<strong>in</strong>er +Theorie <strong>der</strong> Strukturierung* wird +doppelte Hermeneutik* def<strong>in</strong>iert als: +Diewechselseitige Durchdr<strong>in</strong>gung zweier Bedeutungsrahmen als logisch notwendiges Moment <strong>der</strong> Sozialwissenschaften,die s<strong>in</strong>nhafte Sozialwelt, wie sie von den handelnden Laien und den von den Sozialwissenschaftlern e<strong>in</strong>geführtenMetasprachen konstituiert wird; <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> Sozialwissenschaften gibt es e<strong>in</strong>en beständigen ›Austausch‹ zwischenden beiden Bedeutungsrahmen.* (Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 429f.)9. Beck stellt neuerd<strong>in</strong>gs nicht mehr nur <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>nisierung e<strong>in</strong>e reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung gegenüber,son<strong>der</strong>n spricht im Anschluß an diese Unterscheidung von e<strong>in</strong>er ersten und e<strong>in</strong>er +zweiten Mo<strong>der</strong>ne* (und fungiertals Herausgeber für die gleichnamige Edition des Suhrkamp-Verlags). Becks Zweiteilung als zu wenig differenziertkritisierend postuliert Richard Münch sogar e<strong>in</strong>e +dritte Mo<strong>der</strong>ne* (vgl. Globale Dynamik, lokale Lebenswelten; S. 18ff.).Dies lädt zu e<strong>in</strong>er weiteren Inflation <strong>der</strong> unterschiedenen +Mo<strong>der</strong>nen* bzw. Mo<strong>der</strong>nestadien e<strong>in</strong>. An diesem +Spiel*möchte ich mich allerd<strong>in</strong>gs nicht beteiligen.10. +Risiko* ist im Verständnis Becks nichts an<strong>der</strong>es als gewußtes Nicht-Wissen (vgl. z.B. Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen?;S. 298). Und solches gewußtes Nicht-Wissen ist – wie bereits Nikolaus von Cues <strong>in</strong> Anlehnung an Sokrates aufwies– die (risikoreiche) Grundlage je<strong>der</strong> theoretischen Wissenschaft (vgl. Von <strong>der</strong> Wissenschaft des Nichtwissen; Buch 1).11. Ich möchte <strong>in</strong> diesem Zusammenhang <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch auf die bereits zitierten Erläuterungen von Engels verweisen(siehe Anmerkung 120, Prolog).12. Um nur e<strong>in</strong>ige Punkte zu nennen: Beck geht es nicht um die Aufhebung <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft (Revolution),son<strong>der</strong>n se<strong>in</strong> Horizont ist vielmehr die Weiterentwicklung <strong>der</strong> bestehenden +Civil Society* (Evolution). Er betont deshalbvorwiegend die Chancen, die <strong>in</strong> den von ihm ausgemachten Verän<strong>der</strong>ungsprozesse liegen und leiht se<strong>in</strong>e Stimme– an<strong>der</strong>s als Marx – nicht unbed<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie den Verlierern und den Marg<strong>in</strong>alisierten (siehe auch me<strong>in</strong>ediesbezügliche Kritik unten). Das führt weiterh<strong>in</strong> dazu, daß Beck häufig konkrete Vorschläge für +Reformen* macht,während es Marx immer angekreidet wurde, daß er, was die Wege zum kommunistischen +Reich <strong>der</strong> Freiheit* undse<strong>in</strong>e Ausgestaltung anbelangt, äußerst vage geblieben ist. Marx hat aus guten Gründen aber bewußt darauf verzichtet,Utopien zu entwerfen o<strong>der</strong> den Weg des +Reformismus* e<strong>in</strong>zuschlagen (vgl. auch Marx/Engels: Manifest <strong>der</strong> kommunistischenPartei; Abschnitt III).


84 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE13. Marx bemerkt im 24. Kapitel des +Kapitals* (Abschnitt VII): +Die kapitalistische Produktion erzeugt mit <strong>der</strong> Notwendigkeite<strong>in</strong>es Naturprozesses ihre eigene Negation.* So konnte denn auch Engels <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Grabrede für Marxausführen: +Wie Darw<strong>in</strong> das Gesetz <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz<strong>der</strong> menschlichen Geschichte.* (Zitiert nach Angehrn: Geschichtsphilosophie; S. 105) Allerd<strong>in</strong>gs kann mit gleichemRecht behauptet werden, Marx habe sich – <strong>in</strong>dem er die Geschichte als Produkt <strong>der</strong> menschlichen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungmit <strong>der</strong> Natur und dem sozialen Se<strong>in</strong> betrachtete – von <strong>der</strong> Geschichtsphilosophie gerade verabschiedet (vgl. ebd.;S. 108ff.).14. Beck beschreibt zwar, um es nochmals zu betonen, durchaus auch Schattenseiten <strong>der</strong> Individualisierung. Un<strong>der</strong> sieht auch gegenmo<strong>der</strong>ne Tendenzen, die reflexive Prozesse unterm<strong>in</strong>ieren (vgl. Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; Kap.IV). Die Chancen des ambivalenten Wandlungsprozesses, <strong>in</strong> dem sich die Gesellschaft <strong>der</strong>zeit bef<strong>in</strong>det, werden vonihm jedoch weit <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund gerückt.15. Dieser dynamische Charakter <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird – aus e<strong>in</strong>er sich explizit +mo<strong>der</strong>n* verstehenden Haltung herausund deshalb ohne sich <strong>der</strong> Zwanghaftigkeit des emphatisch betonten +Erneuerungsvermögens* <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne bewußtzu se<strong>in</strong> – sehr deutlich von Richard Münch formuliert: +Die Dynamik <strong>der</strong> Entwicklung ist […] das grundlegende Merkmal<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Kultur*, schreibt er (Die Kultur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; Band 1, S. 12). Und an an<strong>der</strong>er Stelle heißt es: +Die Mo<strong>der</strong>neist immer das Neue.* (Ebd.; S. 13) Trotzdem ist die Mo<strong>der</strong>ne Münchs – und dar<strong>in</strong> zeigt sich e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es für michzentrales, wennnicht +ursprüngliches*Element<strong>der</strong>(e<strong>in</strong>fachen)Mo<strong>der</strong>ne:nämlich ihr (aus <strong>der</strong> Angst gespeistes) gewaltvollesHegemonie- und Vere<strong>in</strong>heitlichungsstreben (siehe unten) – ke<strong>in</strong>esfalls für alle Neuerungen offen. Die komplexe undkont<strong>in</strong>gente +voluntaristische Ordnung*, die se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach die Mo<strong>der</strong>ne kennzeichnet, ist nämlich für Münchparadoxerweise an e<strong>in</strong> ganz bestimmtes normativ-kulturelles Muster, nämlich die jüdisch-christliche Tradition, gebunden.Deshalb lehnt Münch (<strong>der</strong> ohneh<strong>in</strong> eher <strong>der</strong> Theorie-Tradition <strong>der</strong> Parsons-Schule zuzurechnen ist) auch das funktionalistischeModell Luhmannscher Prägung ab, das die Autonomie und Eigengesetzlichkeit <strong>der</strong> Subsysteme zumentscheidenden Mo<strong>der</strong>nitätskriterium erhebt (siehe auch S. XXV). Für Münch zeigt sich <strong>der</strong> gesellschaftliche +Entwicklungsstand*gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionell verankerten sozio-kulturellen Begrenzung <strong>der</strong> Entfaltung <strong>der</strong> Teillogiken(vgl. <strong>der</strong>s.: Die Struktur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne; S. 11–22). Se<strong>in</strong> daraus abgeleiteter +normativ-kritischer* Ansatz entpuppt sichallerd<strong>in</strong>gs, wie oben bereits angedeutet wurde, schnell als eurozentrische Arroganz. Denn den Wert e<strong>in</strong>er (nicht-westlichen)Kultur für die weitere Erneuerung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne bemißt Münch alle<strong>in</strong>e daran, <strong>in</strong>wieweit sich ihre Muster <strong>in</strong> den durchden +Okzident* gesetzten Bezugsrahmen <strong>in</strong>tegrieren lassen (vgl. ebd.; S. 23–26).16. Es handelt sich hier also gewissermaßen um die im Begriff <strong>der</strong> Angst +verdichtete* Beschreibung <strong>der</strong> Bewegung<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Trotzdem wage ich – entgegen <strong>der</strong> explizit mikroskopischen Orientierung von Clifford Geertz (vgl.Thick Description – Toward an Interpretive Description of Culture; S. 20f.) – e<strong>in</strong>en +weiten* Blick. Denn wenn <strong>in</strong> dieserVer-Dichtung auch sicher nicht alle Momente zum Tragen kommen, so ist sie me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach doch als hermeneutischerAnsatzpunkt geeignet, zum Verständnis des kulturellen Kontexts unserer Mo<strong>der</strong>ne beizutragen.17. E<strong>in</strong>e grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Begriffen +Angst* und +Furcht* hält Freud (siehe auch unten)nicht für s<strong>in</strong>nvoll, wenngleich er – ähnlich Kierkegaard (vgl. Der Begriff Angst; S. 40) – betont, daß <strong>der</strong> Angst-Begriffsich eher auf e<strong>in</strong>en vom Objekt absehenden Zustand bezieht, während +Furcht die Aufmerksamkeit gerade auf dasObjekt richtet* (Vorlesungen zur E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Psychoanalyse; S. 310).18. Neben <strong>der</strong> Psychoanalyse gibt es vor allem e<strong>in</strong>flußreiche lerntheoretische und kognitionspsychologische Ansätze<strong>der</strong> Angst-Theorie. Letztere führen Angst primär auf Kontrollverluste zurück (vgl. z.B. Krohne: Theorien zur Angst;S. 76–107), was unten noch e<strong>in</strong>e Rolle spielen wird (siehe S. 343).19. E<strong>in</strong>en ausführlichen Überblick über Freuds Angsttheorie und ihre Weiterentwicklung gibt Thomas Geyer (vgl.Angst als psychische und soziale Realität).20. Umgekehrt kann beim <strong>in</strong>dividuellen Scheitern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Angstsituation auch <strong>der</strong> Mechanismus <strong>der</strong> +erlerntenHilflosigkeit* greifen (vgl. Seligman/Maier: Failure to Escape Traumatic Shocks sowie Abramson/Seligman/Teasdale:Learned Helplessness <strong>in</strong> Humans).21. Auch Anthony Giddens betrachtet die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – <strong>in</strong> Anlehnung an Konzepte <strong>der</strong> FreudschenPsychoanalyse – übrigens explizit als +zwanghaft* und +neurotisch* (vgl. Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er posttraditionalen Gesellschaft;S. 129ff.).


A: ANMERKUNGEN 8522. Als Beispiel dient Horkheimer und Adorno hier <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Homers Odysseus-Epos.23. Auf das latente mythologische Element <strong>der</strong> Metaerzählung <strong>der</strong> +Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung* hat z.B. Herbert Schnädelbach<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er kritischen Würdigung dieser Schrift h<strong>in</strong>gewiesen (vgl. Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung). SchnädelbachsArgumente wurden an an<strong>der</strong>er Stelle bereits kurz genannt (siehe S. LXXI). Allgeme<strong>in</strong> und auch was das Angst-Konzeptbetrifft, wird Adorno später allerd<strong>in</strong>gs wie<strong>der</strong> zu e<strong>in</strong>er tatsächlich dialektischen Sicht zurückf<strong>in</strong>den (siehe Abschnitt5.1.2 und 5.4).24. Coll<strong>in</strong>s beschränkt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Darstellung freilich nicht auf Hobbes alle<strong>in</strong>e, son<strong>der</strong>n bezieht sich auf e<strong>in</strong>e ganzeReihe weiterer historischer Persönlichkeiten: Shakespeare, Barkley, Hooker, Bacon, Filmer etc. Und für ihn geht esvor allem darum, deutlich zu machen, wie die historische Ordnung auf das (Selbst-)Bewußtse<strong>in</strong> wirkt (vgl. From Div<strong>in</strong>eCosmos to Sovereign State; S. 154f.).25. Bei den folgenden biographischen Anmerkungen habe ich mich an <strong>der</strong> Darstellung <strong>in</strong> Ferd<strong>in</strong>and Tönnies’ klassischemHobbes-Buch orientiert, dem auch, wie angegeben, das Zitat aus Hobbes’ Autobiographie entnommen wurde, sowiean Herfried Münkler: Thomas Hobbes (hier f<strong>in</strong>den sich auch relativ ausführliche Bemerkungen zum Bürgerkrieg <strong>in</strong>England).26. Der Vater hieß ebenfalls Thomas Hobbes.27. Hobbes versucht zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> antizipierenden Entkräftung solcher Vorwürfe, se<strong>in</strong>e +Gläubigkeit* zu betonen, aber<strong>in</strong>dem er zwischen öffentlichem und privatem Gottesdienst unterscheidet und bemerkt, daß die Ausgestaltung desersteren alle<strong>in</strong>e von <strong>der</strong> Staatraison abhängt (vgl. Leviathan; S. 300 [Kap. 31]), stellt er sich zugunsten e<strong>in</strong>es absolutistischenStaatsverständnisses klar gegen die kirchliche Macht.28. Mit dem Argument, daß die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Naturgesetze den unproduktiven Zustand <strong>der</strong> Angst überw<strong>in</strong>den kann,ist Hobbes übrigens gar nicht weit von Epikur entfernt. In se<strong>in</strong>em +Katechismus* bemerkte dieser: +Es ist nicht möglich,sich von <strong>der</strong> Furcht h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> wichtigsten D<strong>in</strong>ge zu befreien, wenn man nicht begriffen hat, welches die Naturdes Alls ist, son<strong>der</strong>n sich durch die Mythen beunruhigen läßt. Es ist also nicht möglich, ohne Naturwissenschaft ungetrübteLustempf<strong>in</strong>dungen zu erlangen.* (Von <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Furcht; S. 60f.)29. An Schmitt schließt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Schelsky mit se<strong>in</strong>er Hobbes-Darstellung an (vgl. Thomas Hobbes – E<strong>in</strong>e politischeLehre).30. Hobbes bemerkt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>leitung, daß man Masch<strong>in</strong>en wie Uhren gewissermaßen als künstliche Tiere auffassenkönne. Und wie es künstliche Tiere gibt, so gibt es auch den künstlichen Menschen: den Staatskörper des Leviathan(vgl. Leviathan; S. 5). Obwohl Hobbes von <strong>der</strong> (Himmels-)Mechanik so bee<strong>in</strong>druckt war, wählt er also das klassischeBild des Körpers für den Staat und nicht das Bild <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>e. Schmitt me<strong>in</strong>t aber, daß <strong>der</strong> staatliche Leviathan,wie Hobbes ihn konstruiert, wenig Organisches an sich hat und greift deshalb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Interpretation auf die Masch<strong>in</strong>en-Metapher zurück.31. Das Existentielle <strong>der</strong> Angst spielt im Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Weltkriegsgeneration, zu <strong>der</strong> Schmitt gehört, e<strong>in</strong>e wichtigeRolle, und immer wie<strong>der</strong> streicht er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Text, <strong>der</strong> gewissermaßen +am Vorabend* des Zweiten Weltkriegs verfaßtwurde, auch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs heraus, die se<strong>in</strong>en +kriegerischen Existentialismus* und se<strong>in</strong> aufe<strong>in</strong> Freund-Fe<strong>in</strong>d-Verhältnis reduziertes <strong>Politik</strong>verständnis (siehe S. 37) begründen. Aus dieser Sicht heraus kritisierter auch die Trennung von Innen und Außen, von öffentlich und privat, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konstruktion Hobbes’ se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ungnach bereits angelegt ist, weshalb <strong>der</strong> fürchterliche Leviathan <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge zu e<strong>in</strong>er seelenlosen, bürokratischen Gesetzesmasch<strong>in</strong>everkommt (vgl. Der Leviathan <strong>in</strong> <strong>der</strong> Staatslehre des Thomas Hobbes; S. 99ff.). Schmitt kritisiert also an Hobbes,den er überaus schätzt, dessen latenten +Liberalismus*. Mit dieser Kritik trifft er sich mit Crawford Macpherson, <strong>der</strong><strong>in</strong> Hobbes ebenfalls e<strong>in</strong>en Denker des Besitzbürgertums erblickt – allerd<strong>in</strong>gs natürlich an<strong>der</strong>s als Schmitt aus <strong>der</strong> Perspektivee<strong>in</strong>es +l<strong>in</strong>ken* Theoretikers (vgl. Die politische Theorie des Besitz<strong>in</strong>dividualismus und siehe auch Anmerkung 102 sowie129, Kapitel 1). Differenziertere Bemerkungen zum +sozialen Standort* <strong>der</strong> Theorie Hobbes’ macht dagegen Ir<strong>in</strong>gFetcher (vgl. Herrschaft und Emanzipation; S. 61–78).32. Dort bemerkt Herbert: +Or<strong>der</strong> is generated from the lowest [!] and most common of motions because it is implicit<strong>in</strong> the lowest.* (S. 161)


86 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE33. Dieser angesprochene Wi<strong>der</strong>spruch <strong>der</strong> +conditio humana* <strong>der</strong> Freiheit besteht dar<strong>in</strong>, daß formale Freiheit (alsnatürliches Recht auf alles) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en materiellen Konflikt führt (Krieg aller gegen alle). (Vgl. Die Angst, die Freiheit und<strong>der</strong> Leviathan; S. 80ff.)34. Hierzu heißt es bei Hobbes: +Bei e<strong>in</strong> und <strong>der</strong>selben Handlung können sich Furcht und Freiheit zugleich f<strong>in</strong>den;wenn z.B. jemand aus Furcht vor e<strong>in</strong>em Schiffbruche alles, was er hat, <strong>in</strong>s Meer wirft. Er tut es aus eigenem Entschluß,und hätte es, wenn er gewollt, unterlassen können […] So s<strong>in</strong>d auch die Handlungen <strong>der</strong> Bürger, die aus Furcht vorden Gesetzen geschehen, wenn sie ebenso unterlassen werden konnten, sämtlich frei.* (Leviathan; Kap., 21, S. 188)Der ideologische Charakter dieser Argumentation, die strukturelle Zwänge völlig ausblendet, dürfte offensichtlichse<strong>in</strong>.35. An<strong>der</strong>s sieht es allerd<strong>in</strong>gs z.B. Panajotis Kondylis. Kondylis stellt heraus, wie gerade Descartes’ gleichzeitiger (mechanistischer)Materialismus und (spiritualistischer) Intellektualismus, <strong>der</strong> im Unterschied zu Hobbes steht, ihn zum negativenBezugspunkt des – aus <strong>der</strong> Sicht Kondylis’ gerade anti<strong>in</strong>tellektualistischen/antirationalistischen – Aufklärungsdenkensdes 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts macht (vgl. Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus; Abschnitt III).36. Zusätzlich zu den im folgenden zitierten Werken habe ich mich bei <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Biographie Descartes’vor allem an Ra<strong>in</strong>er Specht: René Descartes orientiert, wo sich neben vielen Quellenzitaten und Bilddokumentenauch e<strong>in</strong>e umfangreiche Bibliographie f<strong>in</strong>det.37. Neben <strong>der</strong> Freundschaft mit Beekmann hat auch <strong>der</strong> Kontakt zu dem deutschen Mathematiker Johann Faulhaber,<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geheim-Sekte <strong>der</strong> +Rosenkreuzer* angehörte, Descartes tief geprägt, weshalb von e<strong>in</strong>igen Interpreten vermutetwird, daß auch er diesen beigetreten war.38. Ich habe Descartes’ Träume hier natürlich stark verkürzt wie<strong>der</strong>gegeben und nur die für die folgende Deutungzentralen Elemente angesprochen.39. Selbstverständlich habe ich mir die Mühe gemacht, mir den Aufsatz von Marie-Louise Franz im Orig<strong>in</strong>al zu besorgen.Sie leistet dort nicht nur e<strong>in</strong>e umfangreiche Deutungsarbeit, son<strong>der</strong>n macht auch ausführliche Bemerkungen zur BiographieDescartes’. Als Resümee bemerkt sie: +Was me<strong>in</strong>es Erachtens diese Träume so e<strong>in</strong>drucksvoll macht, ist, abgesehendavon, daß sie vieles über Descartes aussagen, daß sie eigentlich ›<strong>in</strong> nuce‹ das Problem des heutigen Menschen, desErben jener Zeit, des aufklärerischen Rationalismus, an <strong>der</strong>en Anfang Descartes steht, vorausskizzieren […]* (Der Traumdes Descartes; S. 119)40. Die <strong>in</strong> den beiden zitierten Büchern dargestellte Philosophie <strong>der</strong> M)adhyamika-Schule mit ihrem HauptvertreterN)ag)arjuna wird – aufgrund ihrer großen Ähnlichkeit zu bestimmten Ansätzen <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Philosophie – imfolgenden noch häufiger als nicht-westlicher Bezugspunkt von mir herangezogen werden.41. Im englischen Orig<strong>in</strong>al lautet <strong>der</strong> Titel von Fromms hier bereits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Hauptargumenten dargestellten Buchs+Die Furcht vor <strong>der</strong> Freiheit* (siehe S. XXVIIf.) bezeichnen<strong>der</strong>weise +Escape from Freedom*.42. Außer auf Descartes geht Toulm<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch auf Leibnitz und Newton e<strong>in</strong> (vgl. Kosmopolis;S. 163–193). E<strong>in</strong>e nähere Beschäftigung auch mit diesen (und weiteren) Denkern, würde hier jedoch nur vom Zielablenken: nämlich anhand <strong>der</strong> angeführten Beispiele e<strong>in</strong>e +angstgeleitete* Sicht auf die Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zuwerfen.43. Toulm<strong>in</strong> streicht zusätzlich den Bedeutungsverlust <strong>der</strong> Rhetorik und des Mündlichen heraus, den ich jedoch nichtals so zentral ansehe.44. Bandura stellt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Artikel unter Berufung auf empirische Befunde klar, daß die Bewältigung von Angst-Situationen(cop<strong>in</strong>g) bzw. die Art und die Intensität <strong>der</strong> versuchten Angst-Bewältigung von <strong>der</strong> wahrgenommenen Fähigkeit zurpersönlichen E<strong>in</strong>flußnahme (self-efficacy) abhängt. Lazarus und Averill def<strong>in</strong>ieren Angst von e<strong>in</strong>em ähnlichen Konzeptgeleitet folgen<strong>der</strong>maßen: +Anxiety is an emotion based on the appraisal of threat, an appraisal which entails symbolic,anticipatory, and uncerta<strong>in</strong> elements. These characteristics, broadly conceived, mean that anxiety results when cognitivesystems no longer enable a person to relate mean<strong>in</strong>gfully to the world about him [!].* (Emotion and Cognition; S. 246f.)


A: ANMERKUNGEN 8745. Dort bemerkt Heller <strong>in</strong> dem Kapitel +Hermeneutics of Social Science*: +Products of Western culture turn aga<strong>in</strong>sttheir own traditions and develop suicidal <strong>in</strong>cl<strong>in</strong>ations.* (S. 40) An<strong>der</strong>erseits zeigt Heller auch auf, wie <strong>der</strong> latente Todeswunsch<strong>in</strong> +Lebenswillen* umgeformt werden kann, nämlich wenn das durch die Vernunft zutage geför<strong>der</strong>te Bewußtse<strong>in</strong>für Kont<strong>in</strong>genz als +Geschick* (an)erkannt wird – doch zu dieser Transformationsleistung ist nach Heller eben nure<strong>in</strong>e mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft fähig: +Instead of destroy<strong>in</strong>g it [cont<strong>in</strong>gency], we could try to transform it <strong>in</strong>to our dest<strong>in</strong>y[…] And it is only mo<strong>der</strong>n society that can transform its cont<strong>in</strong>gency <strong>in</strong>to its dest<strong>in</strong>y, because it is only now that wehave arrived at the consciousness of cont<strong>in</strong>gency.* (Ebd.; S. 41)46. Latour konstatiert hier – obwohl wir doch angeblich nie mo<strong>der</strong>n gewesen s<strong>in</strong>d – e<strong>in</strong>e Krise <strong>der</strong> Ordnung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.Die Trennung zwischen Kultur/Gesellschaft und Natur, die für die Mo<strong>der</strong>ne konstitutiv war, ist durch die Ausbreitungvon Hybriden aufgehoben. Diese Ausbreitung <strong>der</strong> (technischen) Hybride <strong>in</strong> die soziale Welt wird von Latour dezidiertbegrüßt, denn er will den D<strong>in</strong>gen – entgegen <strong>der</strong> immaterialistischen Tendenz <strong>der</strong> (post)mo<strong>der</strong>nen Sprachphilosophieund <strong>der</strong> primär textzentrierten Wissenschaftssoziologie – ihr Recht zurückgeben, was allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e +neue Verfassung*notwendig macht. Dabei gilt: +Jeden Begriff, jede Institution und jede Praxis, die die kont<strong>in</strong>uierliche Entfaltung <strong>der</strong>Kollektive und ihr Experimentieren mit Hybriden stören, werden wir als gefährlich, schädlich, und […] unmoralischansehen. Die Vermittlungsarbeit wird damit zum Zentrum <strong>der</strong> doppelten natürlichen und sozialen Macht. Die Netzetreten aus <strong>der</strong> Verborgenheit heraus. Das Reich <strong>der</strong> Mitte wird repräsentiert. Der dritte Stand, <strong>der</strong> nichts war, wirdalles.* (Wir s<strong>in</strong>d nie mo<strong>der</strong>n gewesen; S. 186)47. E<strong>in</strong>en ganz ähnlichen und zugleich geradezu +entgegengesetzten* Vorwurf müssen sich gemäß Axel Honnethauch Horkheimer und Adorno gefallen lassen, <strong>in</strong>dem sie e<strong>in</strong>e Geschichtsphilosophie des Verfalls entworfen haben(vgl. Kritik <strong>der</strong> Macht; S. 68f.). Zudem habe speziell Adorno die soziologische Perspektive – an<strong>der</strong>s als später Foucaultund Habermas – zugunsten <strong>der</strong> verengenden Konzentration auf das Subjekt im Rahmen e<strong>in</strong>es verd<strong>in</strong>glichendenSystemzusammenhangs aufgegeben (vgl. ebd.; S. 110f.).48. Auch <strong>in</strong> Kierkegaards Biographie spielte die persönliche Erfahrung <strong>der</strong> Angst übrigens e<strong>in</strong>e zentrale Rolle (vgl.Der Begriff <strong>der</strong> Angst; Nachwort, S. 152ff.).49. Richter bemerkt aufgrund dieser z.T. explizit antitheologischen Umdeutung <strong>in</strong> ihrem Nachwort zum +Begriff <strong>der</strong>Angst* (erstmals veröffentlicht 1844): +Wie das Beispiels Heideggers [siehe unten], aber auch zahlreicher an<strong>der</strong>erExistentialisten zeigt, wird die Bedeutung <strong>der</strong> Aussagen Kierkegaards radikal mißverstanden und <strong>in</strong> ihr Gegenteil verkehrt,wenn man sie im profanen, glaubenslosen S<strong>in</strong>n nimmt.* (S. 172)50. Der Begriff <strong>der</strong> +Fürsorge* ist bei Heidegger selbst zwar ursprünglich wohl kaum sozialethisch geme<strong>in</strong>t, kann jedoch– <strong>in</strong> Anschluß an die poststrukturalistische Rezeptionsl<strong>in</strong>ie – selbstverständlich durchaus so <strong>in</strong>terpretiert werden. Auchdie hermeneutische Philosophie ist eben Auslegungssache.51. Heidegger kritisiert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Über den Humanismus* (1947) das bei Sartre vorliegende metaphysischeMißverständnis se<strong>in</strong>es oben zitierten Werks +Se<strong>in</strong> und Zeit* (1927): +[...] Plato[n] sagt: die essentia geht <strong>der</strong> existentiavoraus. Sartre kehrt diesen Satz um. Aber die Umkehrung e<strong>in</strong>es metaphysischen Satzes bleibt e<strong>in</strong> metaphysischerSatz* (S. 17) – und verkennt damit die Wahrheit des Se<strong>in</strong>s als ekstatische +Ek-sistenz*.52. Deshalb def<strong>in</strong>iert Sartre auch: +Das Bewußtse<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e eigene Zukunft nach dem Modus des Nicht-se<strong>in</strong>s zu se<strong>in</strong>,ist genau das, was wir Angst nennen.* (Das Se<strong>in</strong> und das Nichts; S. 96)53. In dem kurzen Aufsatz +L’existentialisme est un humanisme* (1946) stellt Sartre – sowohl auf Kritik von christlicherwie marxistischer Seite reagierend – se<strong>in</strong>en existentialistischen Entwurf aus +Das Se<strong>in</strong> und das Nichts* (1943) ausdrücklichals e<strong>in</strong>e humanistische Philosophie dar, da er die Freiheit <strong>in</strong>s Zentrum rückt. Dabei wähnt er sich – <strong>in</strong> Absetzungzu Kierkegaards theologischem Konzept – Heidegger nahe. Doch dieser reagierte eher polemisch auf Sartres Buchund se<strong>in</strong>e <strong>in</strong> diesem Aufsatz gezeigte humanistische Pose (siehe nochmals Anmerkung 51).54. Auch die (neurotische) Rastlosigkeit <strong>der</strong> Bewegung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird <strong>in</strong> Sartres Konzept nicht verabschiedet,son<strong>der</strong>n weitertransportiert, <strong>in</strong>dem er betont, daß das Selbst (für sich) nicht statisch ist, son<strong>der</strong>n notwendig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emProzeß des ständigen Entwerfens (Konstruierens) entsteht. Diese diskont<strong>in</strong>uierliche Auffassung des Subjekts ist zware<strong>in</strong> begrüßenswerter +Fortschritt* im Gegensatz zu essentialistischen und statisch-kont<strong>in</strong>uierlichen Ego-Konzepten,aber sie zeigt auch Momente e<strong>in</strong>er +protestantischen Arbeitsethik* im +Geist des Kapitalismus* (Weber), <strong>in</strong>dem das+für sich* niemals (für sich) se<strong>in</strong> darf, son<strong>der</strong>n sich beständig hervorbr<strong>in</strong>gen muß. Diese zwanghafte und for<strong>der</strong>nde


88 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEKomponente <strong>der</strong> Identität kommt beson<strong>der</strong>s deutlich <strong>in</strong> Adornos Begriff des +Identitätszwangs* sowie <strong>in</strong> He<strong>in</strong>er KeuppsBegriff <strong>der</strong> +Identitätsarbeit* zum Ausdruck (vgl. Identitätsarbeit heute).55. In se<strong>in</strong>en +Studien zum autoritären Charakter* (1950) identifiziert Adorno +Anti-Intrazeption*, also die +Abwehrdes Subjektiven, des Phantasievollen, Sensiblen* sogar als e<strong>in</strong>e wesentliche Merkmalskomponente des autoritärenCharakters (vgl. S. 45 u. S. 53f.).56. E<strong>in</strong>en ausführlichen Überblick über +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Perspektiven des Ethischen* (1997) gibt z.B. Hans-Mart<strong>in</strong> Schönherr-Mann.57. Bezüglich e<strong>in</strong>er möglichen Begründung des Werts <strong>der</strong> Differenz kann bestenfalls auf die +authentische Selbstdifferenz*verwiesen werden (siehe Schlußexkurs).58. Orig<strong>in</strong>al <strong>in</strong>: Liebe als Passion; S. 16. Luhmann hat sich übrigens – im <strong>in</strong>direkten Anschluß an Gehlen (siehe Anmerkung60, Entrée) – ähnlich positiv zur Entfremdung geäußert wie Bauman (siehe S. XL), dessen primärer Bezugspunkt hierallerd<strong>in</strong>gs Mannheim ist.59. E<strong>in</strong>e solche Entfremdung ist aber nicht an sich +positiv*, son<strong>der</strong>n nur, wenn sie als Entfremdung empfunden und<strong>in</strong> diesem Empf<strong>in</strong>den negiert wird. Dafür ist wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong> starkes Selbst erfor<strong>der</strong>lich, das vor <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Entfremdungnicht zurückschreckt und die Kraft zur Negation aufbr<strong>in</strong>gt. Ansonsten erzeugt Entfremdung Fluchtreaktionen unddie Steigerung <strong>der</strong> Angst (siehe auch die untenstehende Anmerkungen zum Fundamentalismus).60. Die verschiedenen antimo<strong>der</strong>nen Bewegungen <strong>der</strong> Gegenwart besitzen, wie u.a. Mart<strong>in</strong> Marty und Scott Appleby<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von ihnen herausgegeben Sammelband aufweisen, e<strong>in</strong>en Doppelcharakter: Sie wenden sich zwar gegenbestimmte Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, s<strong>in</strong>d aber selbst <strong>in</strong>tegraler Teil dieser Mo<strong>der</strong>ne, und deshalb besteht auche<strong>in</strong>e größere Aff<strong>in</strong>ität des antimo<strong>der</strong>nen Fundamentalismus zum Mo<strong>der</strong>nismus als zum Traditionalismus (vgl.Fundamentalism Observed; S. 827). Am Beispiel des H<strong>in</strong>dunationalismus habe ich selbst versucht, diese Ambivalenz<strong>der</strong> Gegenmo<strong>der</strong>ne herauszuarbeiten (vgl. Shivas Tanz auf dem Vulkan; <strong>in</strong>sb. Kap. 6).61. Se<strong>in</strong>e Stärke läge allerd<strong>in</strong>gs gerade im Zulassen von Schwäche.62. Daß z.B. Bauman Toleranz im Angesicht des An<strong>der</strong>en für unzureichend hält und an ihrer Stelle Solidarität e<strong>in</strong>for<strong>der</strong>t(siehe oben), steht noch auf e<strong>in</strong>em ganz an<strong>der</strong>en Blatt. Allerd<strong>in</strong>gs kann ich Bauman bei se<strong>in</strong>er Argumentation <strong>in</strong> diesemPunkt, wie dargestellt, ohneh<strong>in</strong> nicht ganz folgen.63. Dort heißt es wörtlich: +Wir s<strong>in</strong>d überzeugt, daß die Wi<strong>der</strong>entdeckung <strong>der</strong> asiatischen Philosophie, beson<strong>der</strong>s<strong>der</strong> buddhistischen Tradition, für die westliche Kulturgeschichte e<strong>in</strong>er ›zweiten Renaissance‹ entspricht und e<strong>in</strong> ebensogroßes kreatives Potential birgt wie e<strong>in</strong>st die Renaissance des griechischen Denkens für Europa.* (Der Mittlere Weg<strong>der</strong> Erkenntnis; S. 42)64. Diesen Punkt hat Giddens nur angedeutet und nicht ausgeführt. Er konzentriert sich auf die nachfolgend erwähnteTrennung von Raum und Ort.65. Auch hier dient <strong>der</strong> Londoner Vorort Greenwich, <strong>in</strong> dem sich e<strong>in</strong>st die britische Nationalsternwarte befand, als+Nullpunkt* (Nullmeridian).66. Beide faßt Giddens unter dem Begriff +abstrakte Systeme* (abstract systems) zusammen.67. Giddens spricht deshalb auch von +aktivem Vertrauen*. In diesem Punkt gleicht se<strong>in</strong>e Argumentation übrigensLuhmanns Position: Dieser weist auf, daß die Komplexität des Sozialsystems Mechanismen <strong>der</strong> Komplexitätsreduktionerfor<strong>der</strong>t. Vertrauen stellt e<strong>in</strong>en sehr wirksamen Mechanismus <strong>der</strong> Komplexitätsreduktion dar bzw. bereit, da es (gegebene)Vertrautheit <strong>in</strong> die Zukunft fortschreibt. Allerd<strong>in</strong>gs besteht immer die Gefahr, daß Vertrauen <strong>in</strong> Mißtrauen umschlägt.Um dem vorzubeugen und die Vertrauensbereitschaft zu för<strong>der</strong>n, müssen adäquate Strukturen geschaffen werden,die e<strong>in</strong> nachhaltiges +Systemvertrauen* (z.B. durch kalkulierbare Verhältnisse) gewährleisten (vgl. Vertrauen – E<strong>in</strong>Mechanismus <strong>der</strong> Reduktion sozialer Komplexität).


A: ANMERKUNGEN 8968. Unter <strong>der</strong> +Dualität von Struktur* versteht Giddens – wie schon an an<strong>der</strong>er Stelle kurz erläutert (siehe Anmerkung153, Kapitel 2) –, daß +Struktur [gleichzeitig] als Medium und Resultat des Verhaltens […] [aufzufassen ist]; die Strukturmomentesozialer Systeme existieren nicht außerhalb des Handelns, vielmehr s<strong>in</strong>d sie fortwährend <strong>in</strong> dessen Produktionund Reproduktion e<strong>in</strong>bezogen.* (Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 430 [Glossar]). Deshalb darf +Struktur nichtmit Zwang gleichgesetzt werden: sie schränkt Handeln nicht nur e<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n ermöglicht es auch* (ebd.; S. 77).69. Ich möchte <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch nochmals auf Heideggers bereits dargelegte Thesen <strong>in</strong> +Die Technikund die Kehre* (1962) verweisen (siehe Abschnitt 3.3).70. Die Argumentationsfigur <strong>der</strong> +Solidarität <strong>der</strong> Angst* hat schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> +Risikogesellschaft* (1986) nur e<strong>in</strong>e eher marg<strong>in</strong>aleStellung und wird <strong>in</strong> späteren Veröffentlichungen auch nicht ausgebaut. Allerd<strong>in</strong>gs gibt es noch unveröffentlichteneuere Überlegungen Becks im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>er transnationaler Vergeme<strong>in</strong>schaftung,die auf <strong>der</strong> Gedankenfigur <strong>der</strong> Solidarität <strong>der</strong> Angst aufsetzen. Hier wird nur e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Angstbegriffals bei Heidegger o<strong>der</strong> Sartre zugrunde gelegt. Angst ist für Beck ke<strong>in</strong> Existential, son<strong>der</strong>n die Reaktion auf wahrgenommene(und somit eventuell auch nur sozial konstruierte) Risiken. Und jedes Risiko wird schließlich erst dadurch zum Risiko,daß e<strong>in</strong> Positives – also <strong>der</strong> +Wert* des eigenen und kollektiven Überlebens, <strong>der</strong> Artenvielfalt o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> sozialenGleichheit etc. – als bedroht erkannt wird.71. +Wirkliche* Solidarität (d.h. e<strong>in</strong>e Solidarität <strong>der</strong> Solidarität) würde also eher <strong>in</strong> +sympathischer* Empathie bzw.<strong>in</strong> dem das <strong>in</strong>dividuelle Abgrenzungs- und Selbstbehauptungsbestreben dialektisch ergänzenden Entgrenzungsverlangenfußen (siehe auch Schlußexkurs).72. Lei<strong>der</strong> wird das +objektive* Moment <strong>in</strong> den neueren Formulierungen se<strong>in</strong>er Theorie wie<strong>der</strong> zurückgenommen.So heißt es <strong>in</strong> Becks Hauptbeitrag <strong>in</strong> dem zusammen mit Giddens und Lash herausgegebenen Sammelband +ReflexiveMo<strong>der</strong>nisierung* (1996): +Es geht nicht nur um externe Nebenfolgen, son<strong>der</strong>n um <strong>in</strong>terne Nebenfolgen <strong>der</strong> Nebenfolgen<strong>in</strong>dustriegesellschaftlicher Mo<strong>der</strong>nisierung. Es geht, beispielhaft gesprochen, gar nicht um den ›R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n‹ alssolchen, was er Tieren und Menschen antut, son<strong>der</strong>n darum, welche Akteure, Verantwortlichkeiten, Märkte etc.dadurch ›elektrisiert‹, <strong>in</strong> Frage gestellt werden […]* (Das Zeitalter <strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne;S. 27) Und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em auf Giddens und Lash Bezug nehmenden Diskussions-Text erläutert Beck: +Die Gedankenfigur›Nebenfolgen‹ steht […] letztlich nicht <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zum Wissensverständnis reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung, son<strong>der</strong>neröffnet e<strong>in</strong> erweitertes, komplexes Szenario, <strong>in</strong> dem es nicht nur um verschiedene Formen und Konstruktionen desWissens, son<strong>der</strong>n auch des Nicht-Wissens geht.* (Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen?; S. 290) Trotzdem kann aber me<strong>in</strong>esErachtens <strong>in</strong> <strong>der</strong> Berücksichtigung des objektiven Moments <strong>der</strong> Nebenfolgen <strong>der</strong> wichtigste Unterschied von Becksreflexiver Techniksoziologie zu Heideggers Konzept <strong>der</strong> +Kehre* gesehen werden, auf <strong>der</strong>en Ähnlichkeit ich <strong>in</strong> Abschnitt3.3 verwiesen habe.73. Den auf Angst gegründeten Charakter speziell des Kapitalismus stellt Dieter Duhm heraus, <strong>in</strong>dem er auf die kapitalistischenHerrschaftsverhältnisse, den Warencharakter <strong>der</strong> menschlichen Beziehungen, die Entfremdung sowie dasLeistungs- und Konkurrenzpr<strong>in</strong>zip als Angstauslöser verweist (vgl. Angst im Kapitalismus; <strong>in</strong>sb. Kap. 3). Duhm zeichnethier freilich ke<strong>in</strong> sehr differenziertes Bild. Dazu vermag schon eher <strong>der</strong> von He<strong>in</strong>z Wiesbrock herausgegebene Sammelband+Die politische und gesellschaftliche Rolle <strong>der</strong> Angst* (1967) zu verhelfen. Dort f<strong>in</strong>det sich auch e<strong>in</strong> Beitrag, <strong>der</strong> aufden zum<strong>in</strong>dest partiell +ideologischen* Charakter <strong>der</strong> Angst verweist, d.h. es gibt Angstzustände, die stark von(zeitspezifischen) kulturellen Vorstellungen geprägt s<strong>in</strong>d – und zu dieser +ideologischen Angst* gehört nach dem Verfassereben auch das Freudsche +Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur* (vgl. Kle<strong>in</strong><strong>in</strong>g: Angst als Ideologie).74. Die theoretische Figur <strong>der</strong> Gegenmo<strong>der</strong>ne stellt bei Beck allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong> zur Deflexion analoges dialektischesGegenmoment zur reflexiven Mo<strong>der</strong>nisierung dar. Sie ist zwar e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> Produkt (und damit <strong>in</strong>tegrales Element)<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, doch wi<strong>der</strong>spricht sie ihr gleichzeitig und stellt so gewissermaßen e<strong>in</strong>en (mo<strong>der</strong>n überformten) Rückfall<strong>in</strong> die Vormo<strong>der</strong>ne dar (vgl. Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; S. 100ff.). Deflexion me<strong>in</strong>t demgegenüber gerade e<strong>in</strong> Beharrenauf dem l<strong>in</strong>earen Fortgang <strong>der</strong> bisherigen Entwicklung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.75. In diesem sich daraus ergebenden paradoxen Zwang zur gleichzeitigen Fortsetzung und Umkehrung <strong>der</strong> Bewegung<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne liegt e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wesentlichen Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> +<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne*, auf die auch Bauman h<strong>in</strong>gewiesen hat,<strong>in</strong>dem er bemerkt: +Es gibt ke<strong>in</strong>en sauberen Bruch o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e unzweideutige Abfolge. Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist [ihremWesen nach] zur Ausschließung unfähig. Nachdem sie die Grenzen ausgegrenzt hat, muß sie zwangsläufig die Mo<strong>der</strong>ne[mit ihrem Trennungsbestreben] <strong>in</strong> genau die Diversivität e<strong>in</strong>schließen und e<strong>in</strong>verleiben, die ihr unterscheidendesMerkmal ist.* (Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz; S. 311) Deshalb ist die +Liberalität* <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ständig durch die


90 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEkämpferisch überlegene Strenge <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne gefährdet (vgl. ebd.; S. 312f.). Bauman sieht im (reflexiven) Bewußtse<strong>in</strong>dieser Bedrohung e<strong>in</strong>e Chance. Eher skeptisch formuliert dagegen Demirovi ć: +Die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne ist nichts weiterals <strong>der</strong> Versuch, die Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne beim Wort zu nehmen […] Doch <strong>in</strong>dem die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> die Mo<strong>der</strong>nezurückgezwungen wird, ist sie <strong>in</strong> das Scheitern <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gezogen.* (Freiheit o<strong>der</strong> die Dekonstruktion desPolitischen; S. 137) In diesem Punkt möchte ich mich, wie auch me<strong>in</strong>e weitere Argumentation zeigt, jedoch eherBauman anschließen.76. Insbeson<strong>der</strong>e, was Giddens betrifft, ist das e<strong>in</strong>e sicher nicht berechtigte Aussage. Schließlich hat gerade diesersich <strong>in</strong> vielen Veröffentlichungen sehr <strong>in</strong>tensiv mit <strong>der</strong> <strong>in</strong>terpretativen Soziologie ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt und alle<strong>in</strong>e, daßer von e<strong>in</strong>er +doppelten Hermeneutik* spricht, zeigt, daß Lash hier übertreibt.77. Die Bezugspunkte s<strong>in</strong>d dabei natürlich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Adornos +Negative Dialektik* (1966) und die (unvollendetgebliebene) +Ästhetische Theorie* (1970).78. Er nimmt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf Charles Taylor Bezug, auf den auch ich noch zu sprechen kommen werde (sieheSchlußexkurs).79. Obwohl Giddens den Begriff des +praktischen Bewußtse<strong>in</strong>s* <strong>in</strong> den unten zitierten Werken verwendet, erfolgendort allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e genauen Erläuterungen. Sehr ausführlich geht er jedoch <strong>in</strong> dem Band +Die Konstitution <strong>der</strong>Gesellschaft* (1984) auf das Konzept des praktischen Bewußtse<strong>in</strong>s e<strong>in</strong> (vgl. S. 91–116). E<strong>in</strong>e Kurzdef<strong>in</strong>ition im dortbeigefügten Glossar faßt den Begriff so: +Praktisches Bewußtse<strong>in</strong>: Was die Akteure über soziale Zusammenhängewissen (glauben), e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> Bed<strong>in</strong>gungen ihres eigenen Handelns, was sie aber nicht <strong>in</strong> diskursiver Weiseausdrücken können; allerd<strong>in</strong>gs wird das praktische Bewußtse<strong>in</strong> nicht durch Verdrängungsmechanismen blockiert,wie im Falle des Unbewußten.* (Ebd.; S. 431)80. Allerd<strong>in</strong>gs betont auch Giddens die Notwendigkeit am Festhalten des mo<strong>der</strong>nen Pr<strong>in</strong>zips des methodischen Zweifelsfür e<strong>in</strong>e kritische Theorie <strong>der</strong> Spätmo<strong>der</strong>ne. Diesem Zweifel unterliegen dann aber auch alle +Behauptungen überdie zentrale Bedeutung des Zweifels* (Kritische Theorie <strong>der</strong> Spätmo<strong>der</strong>ne; S. 21).81. Roszak spricht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 1978 erschienenen Buch vom e<strong>in</strong>em (unterschwelligen) +Manifest <strong>der</strong> Person*, das <strong>in</strong><strong>der</strong> Formulierung des Rechts zur Selbst-Entdeckung besteht (vgl. Person/Planet; S. 3). Mit den (anarchischen) Rechten<strong>der</strong> Person, die im Kontrast zur etablierten Ordnung stehen, geraten aber auch die Rechte <strong>der</strong> Umwelt und <strong>der</strong>Geme<strong>in</strong>schaft (wie<strong>der</strong>) <strong>in</strong> den Blick (vgl. ebd.; Kap. 2 u. 4). Das +befreite* Selbst entfaltet also e<strong>in</strong>e +subtile Kunst <strong>der</strong>kreativen Des<strong>in</strong>tegration*, die allerd<strong>in</strong>gs auch die Gefahr e<strong>in</strong>er +Pervertierung* birgt (vgl. ebd.; S. 318ff.).82. Als treffendes Beispiel kann hier die Abtreibungsdebatte gelten.83. Die +Risikogesellschaft* ersche<strong>in</strong> 1986. Ihren Sammelband zu den +Grenzen <strong>der</strong> Mehrheitsdemokratie* habenGuggenberger und Offe 1984 herausgegeben.84. Siehe zum (national-)staatsorientierten <strong>Politik</strong>verständnis <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Mo<strong>der</strong>ne z.B. die hier auf S. 3 zitierteLexikon-Def<strong>in</strong>ition.85. Die Klassengrenzen s<strong>in</strong>d für Jameson (durch die aktuelle Dynamik des globalisierten Kapitalismus) nur im <strong>in</strong>dividuellenBewußtse<strong>in</strong> und auch nur vorübergehend überdeckt.86. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wesentlichen Signaturen <strong>der</strong> Nachkriegszeit ist nach Daniel Bell ganz allgeme<strong>in</strong> das +Ende <strong>der</strong> Ideologie*– und damit korreliert lei<strong>der</strong> auch e<strong>in</strong>e Erschöpfung <strong>der</strong> utopischen Energien (vgl. The End of Ideology; Abschnitt III).An<strong>der</strong>erseits ist wie<strong>der</strong>um Jürgen Habermas <strong>der</strong> Auffassung, daß nur e<strong>in</strong>e spezifische (wenn auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheitdom<strong>in</strong>ante) Utopie von dieser Erschöpfung bedroht ist: nämlich die arbeitsgesellschaftliche Utopie, die parallel mitdem Wohlfahrtsstaat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e tiefe Krise geraten ist (vgl. Die Krise des Wohlfahrtsstaats und die Erschöpfung utopischerEnergien).87. Auf den Aspekt <strong>der</strong> Außenbegrenzung von Subpolitik werde ich jedoch erst im folgenden Anschnitt näher e<strong>in</strong>gehen,wo es um die Ablenkung <strong>der</strong> reflexiven Herausfor<strong>der</strong>ung durch deflexive Mechanismen gehen wird.


A: ANMERKUNGEN 9188. +Greenpeace* mußte im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>gestehen, übertrieben hohe Schadstoffmengen angegebenzu haben, so daß selbst viele Umweltschützer mittlerweile <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>d, die Plattform wäre besser im Meer versenktworden, anstatt sie, wie nun geschehen, mit hohem Aufwand an Land zu entsorgen.89. Die Partei <strong>der</strong> +Grünen* beispielsweise ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik auf dem besten Weg dazu.90. In e<strong>in</strong>e ganz ähnliche Richtung gehen auch neuere Überlegungen Lashs: Dieser postuliert e<strong>in</strong>en Wandel von<strong>der</strong>epistemologischen(erkenntnissuchenden,identifizierenden)Subjektivitätzur praktischen undreflektierendenSubjektivität, die ihre Basis im Se<strong>in</strong> hat: dem grundlosen Grund <strong>der</strong> subjektiven +Erfahrung*. Deshalb gilt auche<strong>in</strong> Wandel vom universalen zum s<strong>in</strong>gulären Subjekt, das sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Welterfahrung immer auf Objekte beziehtund damit für +den an<strong>der</strong>en* offen ist (vgl. Another Mo<strong>der</strong>nity – A Different Rationality).91. Bauman äußert sich hier <strong>in</strong> Anlehnung an Richard Rorty dah<strong>in</strong>gehend, das Toleranz alle<strong>in</strong>e nicht genügt unddiese sich <strong>in</strong> Solidarität transformieren muß. Er beruft sich dabei, wie von mir im vorangegangenen bereits kritisiertwurde (siehe S. 350), allerd<strong>in</strong>gs auf e<strong>in</strong>e Art Naturrecht des an<strong>der</strong>en auf se<strong>in</strong>e Fremdheit (aus dem sich wie<strong>der</strong>umzw<strong>in</strong>gend die Notwendigkeit <strong>der</strong> Solidarität ergibt), anstatt lediglich, wie ich es tue, e<strong>in</strong> normatives Ideal zu formulieren.92. Die emotionale Ebene ist me<strong>in</strong>er Ansicht nach von den Denkprozessen nicht zu trennen.93. In <strong>der</strong> <strong>in</strong>teraktionistischen Identitätstheorie von George Herbert Mead ist es e<strong>in</strong> wesentliches Moment <strong>der</strong> Identitätsbildung,daß das Individuum <strong>in</strong> <strong>der</strong> (spielerischen) Interaktion lernt, sich mit den Augen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en wahrzunehmen(vgl. Geist, Identität und Gesellschaft; S. 194ff.). Umgekehrt ist es e<strong>in</strong> wesentliches Element <strong>der</strong> sozialen Kompetenzund <strong>der</strong> sozialen Interaktionsfähigkeit, die an<strong>der</strong>en mit den +eigenen* Augen wahrzunehmen, sich <strong>in</strong> ihre Positionh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuversetzen. Diese grundsätzliche Fähigkeit beruht, wenn man Alfred Schütz folgt, auf <strong>der</strong> alltagspraktischenAnnahme, daß e<strong>in</strong>e Vertauschbarkeit und Wechselseitigkeit <strong>der</strong> Perspektiven gegeben ist: +Wäre ich dort, wo er jetztist, würde ich die D<strong>in</strong>ge [obwohl natürlich ›dasselbe‹ Objekt für jeden von uns Unterschiede aufweisen muß] <strong>in</strong> gleicherPerspektive […] erfahren wie er; und wäre er hier, wo ich jetzt b<strong>in</strong>, würde er die D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> gleicher Perspektive erfahrenwie ich* (Strukturen <strong>der</strong> Lebenswelt; S. 74). Durch diese pragmatische, vere<strong>in</strong>fachende Annahme kann schließlichzu e<strong>in</strong>er komplexen, empathischen Sicht des an<strong>der</strong>en gefunden werden. Denn es handelt sich bei Empathie – zum<strong>in</strong>destim +humanistischen* Konzept von Carl Rogers – um e<strong>in</strong>en reflexiven Prozeß <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fühlung, bei dem mir ständig bewußtist, daß es sich um e<strong>in</strong>e (gedachte) +als ob*-Situation handelt. Es geht also darum, auf <strong>der</strong> Grundlage dieses +hypothetischen*Bewußtse<strong>in</strong>s das Empf<strong>in</strong>den e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Person nachzuvollziehen, +zeitweilig das Leben dieser Person zu leben;sich vorsichtig dar<strong>in</strong> zu bewegen, ohne vorschnell Urteile zu fällen* (Empathie; S. 79). Das bedeutet <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e,+die Genauigkeit eigener Empf<strong>in</strong>dungen häufig mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Person zusammen zu überprüfen und sich von ihrenReaktionen leiten zu lassen* (ebd.). E<strong>in</strong>e solche verstehende Haltung war auch bereits e<strong>in</strong>e wesentliche Grundlage<strong>der</strong> +klassischen* Psychoanalyse (vgl. z.B. Kohut: Introspektion, Empathie und Psychoanalyse).94. Im (universal)pragmatischen Sprachmodell von Habermas betrifft <strong>der</strong> Geltungsanspruch <strong>der</strong> Wahrhaftigkeit, <strong>der</strong>etwa dem entspricht, was hier mit Aufrichtigkeit bezeichnet wurde, alle<strong>in</strong>e das Feld des Ausdrucks von subjektivenErlebnissen (expressive Sprechakte). Dagegen gilt für den Bereich <strong>der</strong> äußeren Natur (konstative Sprechakte) <strong>der</strong>Geltungsanspruch <strong>der</strong> Wahrheit, für den Bereich <strong>der</strong> Gesellschaft und ihrer Normen (regulative Sprechakte) gilt <strong>der</strong>Geltungsanspruch <strong>der</strong> Richtigkeit (vgl. Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns; S: 417–428und siehe auch hier Anmerkung 89, Kap. 2). Im Bewußtse<strong>in</strong>, daß objektive Aussagen über die Objektivität (also dieäußere Natur) nicht möglich s<strong>in</strong>d und auch Richtigkeitsvorstellungen immer e<strong>in</strong>e Verankerung im Subjekt haben (müssen),also subjektiv überformt s<strong>in</strong>d, liegt auf <strong>der</strong> Hand, daß, für das Individuum, immer nur <strong>der</strong> Anspruch <strong>der</strong> Wahrhaftigkeit– also e<strong>in</strong>e Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber – erfüllt werden kann.95. Auf das dialektische Moment werde ich, wie angekündigt, ausführlicher erst <strong>in</strong> Abschnitt 5.4 e<strong>in</strong>gehen. Hier sollschließlich vorerst nur e<strong>in</strong>e Klärung <strong>der</strong> Begriffe – allerd<strong>in</strong>gs notwendigerweise <strong>in</strong> Abgrenzung zu ihren dialektischenGegenbegriffen – erfolgen.96. Diese +Übertragung* be<strong>in</strong>haltet zugegebenermaßen durchaus problematische Aspekte, denn schließlich besitzensoziale Prozesse – abstrakt betrachtet – ke<strong>in</strong> +Innenleben*, ihre Ablenkungs- bzw. Verdrängungsmomente s<strong>in</strong>d alsostreng genommen we<strong>der</strong> bewußt noch unbewußt, son<strong>der</strong>n werden lediglich (subjektiv und von außen: vom mir)so <strong>in</strong>terpretiert und e<strong>in</strong>geordnet. Doch da soziale Prozesse das Resultat von akkumulierten <strong>in</strong>dividuellen Handlungens<strong>in</strong>d und zudem hier ja nur e<strong>in</strong>e Analogie aufgemacht werden soll, ke<strong>in</strong>esfalls e<strong>in</strong>e Identität behauptet wird, ersche<strong>in</strong>tes mir gerechtfertigt, so vorzugehen.


92 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE97. Schließt man sich Becks Perspektive an, so würde man ergänzen, daß durch die gesteigerte Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit/-Reflexivität des Mo<strong>der</strong>nisierungsprozesses das reflexive Element zunehmend an Gewicht gew<strong>in</strong>nt (wobei me<strong>in</strong>es Erachtensjedoch die Kapazität des +Systems* zur Deflexion <strong>der</strong> reflexiven Herausfor<strong>der</strong>ungen von ihm unterschätzt wird).98. Für die Freudsche Triade +Ich, Es, Über-Ich* hat sich im Englischen die Übersetzung +ego* (Ich), +id* (Es) und+super-ego* (Über-Ich) etabliert.99. Giddens spricht freilich, wie erläutert, ohneh<strong>in</strong> von e<strong>in</strong>er +Dualität von Struktur* bzw. von e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> die sozialenSysteme e<strong>in</strong>gelassenen +Dialektik <strong>der</strong> Herrschaft*, die dar<strong>in</strong> besteht, daß alle Formen von Abhängigkeit +gewisse Ressourcenzur Verfügung [stellen], mit denen die Unterworfenen die Aktivitäten <strong>der</strong> ihnen Überlegenen bee<strong>in</strong>flussen können*(Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft; S. 67).100. Beck spricht im Kontext se<strong>in</strong>er Ausführungen zur +Gegenmo<strong>der</strong>ne* ganz ähnlich von +hergestellter Fraglosigkeit*(vgl. Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen; S. 100ff.).101. Vor allem kann Deflexion e<strong>in</strong>e kurzfristige Entlastung von Reflexionsaufwand bewirken, wenn dieser aus Mangelan kognitiven o<strong>der</strong> Zeitressourcen aktuell nicht aufgebracht werden kann.102. Bezöge man zusätzlich die – ke<strong>in</strong>esfalls zu vernachlässigende – Ebene <strong>der</strong> Emotion mit e<strong>in</strong>, so stünden auf <strong>der</strong>Reflexionsseite emotionale Offenheit und Empathie und auf <strong>der</strong> Deflexionsseite Anti-Intrazeption und Verdrängung.103. Holbach bemerkt z.B. <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift +Système de la nature* (1820): +Die Obrigkeit ist gewöhnlich daran <strong>in</strong>teressiert,daß e<strong>in</strong>mal verbreitete Me<strong>in</strong>ungen bestehen bleiben. Die Vorurteile und Irrtümer, die sie für notwendig erachtet,um ihre Macht zu sichern, werden mit <strong>der</strong> Gewalt, bei <strong>der</strong> es ke<strong>in</strong> langes Überlegen gibt, aufrecht erhalten.* (S. 57)Weitere Ausführungen Holbachs f<strong>in</strong>den sich – wie e<strong>in</strong>e ganze Reihe an<strong>der</strong>er für die Ideologie-Diskussion relevanterTexte – (<strong>in</strong> Auszügen) <strong>in</strong> dem von Kurt Lenk herausgegebenen Band +Ideologie* (1984).104. Sehr ähnlich dazu formulierte übrigens Louis Althusser: +Die Ideologie stellt das imag<strong>in</strong>äre Verhältnis <strong>der</strong> Individuenzu ihren wirklichen Lebensverhältnissen dar.* (Ideologie und ideologische Staatsapparate; S. 147)105. Wir haben es also bei Ideologien bzw. ideologischen Narrationen/Metaerzählungen mit +Mythen* bzw. mythologischen+Metasprachen* im S<strong>in</strong>ne Roland Barthes zu tun, die e<strong>in</strong>e zweite Bedeutungsebene etablieren, mit <strong>der</strong> diezugrunde liegende Bedeutungsebene verschleiert wird (vgl. Mythen des Alltags; S. 92ff.). Der Mythologe sucht im(politischen) Bestreben e<strong>in</strong>er (positiven) Aufhebung <strong>der</strong> Wirklichkeit nach diesen verdeckten Bedeutungen (vgl. ebd.;S. 147ff.).106. Als Beispiele für strukturelle Kopplungen zwischen e<strong>in</strong>zelnen Subsystemen nennt Luhmann Steuern(<strong>Politik</strong>–Wirtschaft), Eigentum (Recht–Wirtschaft) und die Verfassung (<strong>Politik</strong>–Recht) etc. (vgl. Die Gesellschaft <strong>der</strong>Gesellschaft; S. 781ff.).107. Bernhard Giesen spricht im Zusammenhang mit dem Prozeß <strong>der</strong> funktionalen Differenzierung auch von e<strong>in</strong>erVerselbständigung <strong>der</strong> Codes. Die somit erfolgende Entkopplung von Code, Prozeß und Situation bewirkt e<strong>in</strong>e(problematische) +Entd<strong>in</strong>glichung des Sozialen* (1991).108. Selbst diese Aussage gilt freilich nur, wenn man sich auf die aktuellen Ausformulierung konzentriert. Betrachtetman dagegen Luhmanns Œuvre als zusammenhängendes Denk-System, so stellen selbst wohlwollende Kritiker fest,daß es sich um e<strong>in</strong> kaum kohärentes, äußerst +brüchiges* Theoriekonstrukt handelt, <strong>in</strong>dem Luhmann zugleich aufe<strong>in</strong>en +l<strong>in</strong>earen* und e<strong>in</strong>en autopoietischen Systembegriff rekurriert (vgl. z.B. Obermeier: Zweck – Funktion – System;S. 225ff.).109. Beim Vergleich mit me<strong>in</strong>en obigen Ausführungen gilt es allerd<strong>in</strong>gs zu beachten, daß Habermas sich auf weitfrühere Texte Luhmanns bezieht.110. Mit den +konstruktivistischen Perspektiven*beschäftigt sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Band 5 <strong>der</strong> +Soziologischen Aufklärung*.


A: ANMERKUNGEN 93111. Dieser ideologische Charakter ist freilich, um es nochmals zu betonen, nicht objektiv aufzuweisen, son<strong>der</strong>nkann, wie oben dargelegt wurde, nur – <strong>in</strong> (An-)Deutungen – plausibel gemacht werden.112. E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante biographische +Fußnote* stellt – vor allem im H<strong>in</strong>blick auf die folgenden Ausführungen – allerd<strong>in</strong>gsdie Tatsache dar, daß Luhmann se<strong>in</strong>e professionelle Karriere eben nicht als Wissenschaftler, son<strong>der</strong>n als Bürokratim m<strong>in</strong>isterellen System Nie<strong>der</strong>sachsens begann (und somit vielleicht auch e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Semantik als die wissenschaftlichever<strong>in</strong>nerlicht hat).113. Schulte orientiert sich bei se<strong>in</strong>er Darstellung eng an von Luhmann verwendeten Metaphern und deckt sehr gründlichund detailliert <strong>der</strong>en latente Gehalte auf. Diese Detailtreue muß hier lei<strong>der</strong> zugunsten e<strong>in</strong>er größeren Prägnanz geopfertwerden.114. In dem angegebenen Aufsatz bemerkt Luhmann: +Das humanistische Vorurteil [daß sich Wissenschaft am Menschenzu orientieren hätte] sche<strong>in</strong>t, gerade weil es so natürlich und traditionsgesichert auftreten kann, zu den ›obstaclesépistemologiques‹ zu gehören, die den Zugang zu e<strong>in</strong>er komplexeren Beschreibung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft blockieren[…]* (S. 168). Deshalb müssen, wie er an an<strong>der</strong>er Stelle des Sammelbands bemerkt, dem <strong>der</strong> zitierte Text entnommenist, +Traditionsbegriffe wie Subjekt und Person zurechtgerückt o<strong>der</strong> ganz aufgegeben werden* (Die Soziologie und<strong>der</strong> Mensch [Soziologische Aufklärung, Band 6]; S. 11).115. Es heißt hier: +Der Beobachter ist […] ke<strong>in</strong> ›Subjekt‹, wenn man diese Bezeichnung aus dem Unterschied zumObjekt gew<strong>in</strong>nt. Aber er ist die Realität se<strong>in</strong>er eigenen Operationen, was aber nur durch e<strong>in</strong>e weitere Beobachtungfestgestellt werden kann, die ihn als [Sub-]System <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Umwelt [dem Sozialsystem] auffaßt.* (S. 78)116. Als e<strong>in</strong>e Person, die <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e aufrund ihres +an<strong>der</strong>sartigen*, dunkelhäutigen Aussehens, aber auch wegenihrer m<strong>in</strong>oritären Ansichten häufiger Erfahrungen <strong>der</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierung machen muß, fühle ich mich diesem peripheren,randständigen Blickw<strong>in</strong>kel, den Luhmann ausklammert, beson<strong>der</strong>s verpflichtet.117. Diese Logik wird selbst auf den Bereich <strong>der</strong> +Intimität* von Luhmann angewandt. So wird Liebe konsequentauch nicht als Emotion betrachtet. Vielmehr gilt sie ihm als (abstrakter) symbolischer Code, <strong>der</strong> im Lauf <strong>der</strong> sozialenEvolution unterschiedliche Bedeutungen angenommen hat und die (konkreten) Gefühle <strong>der</strong> Individuen dementsprechendunterschiedlich formte (vgl. Liebe als Passion; S. 9ff.). Es kursiert übrigens das Gerücht, daß dieser Text die Verarbeitunge<strong>in</strong>er gescheiterten Beziehung Luhmanns darstellt.118. An <strong>der</strong> zitierten Stelle heißt es: +Wenn das Individuum durch Technik <strong>der</strong>art [durch Entfremdungsprozesse]mag<strong>in</strong>alisiert wird, gew<strong>in</strong>nt es die Distanz, die es möglich macht, das eigene Beobachten zu beobachten. Es weißnicht mehr nur sich selbst […] statt dessen gew<strong>in</strong>nt es die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Beobachtung zweiter Ordnung. Individuumim mo<strong>der</strong>nen S<strong>in</strong>n ist, wer se<strong>in</strong> eigenes Beobachten beobachtet.*119. Im Rahmen se<strong>in</strong>er Ausführungen zur +Ökologische[n] Kommunikation* (1988) bemerkt Luhmann übrigensbezeichnen<strong>der</strong>weise, daß er Angst als +Störfaktor im sozialen System* betrachtet (S. 240). Durch den Appell an dieAngst wird die soziale Kommunikation nämlich mit Moral aufgeladen – womit gemäß Luhmann e<strong>in</strong>e rationale Entscheidungsf<strong>in</strong>dungunmöglich wird (vgl. ebd.; S. 245f.). Durch die deflexive Negierung <strong>der</strong> (eigenen) Angst, die offenbarnicht ausgehalten werden kann und die zu kritischen Reflexionen im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es reflexiven Handelns zw<strong>in</strong>gen würde,wird so – ganz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> neuzeitlichen Aufklärung – versucht, e<strong>in</strong>en Rückhalt im rationalen Diskurs zu f<strong>in</strong>den.Mit Etzioni möchte ich dagegen auf die bedeutende Rolle normativ-affektiver Faktoren für jede Art von Entscheidungsf<strong>in</strong>dung(und als unabd<strong>in</strong>gbare Selektionsgrundlage gerade für rationale Entscheidungsprozesse) verweisen(vgl. The Moral Dimension; Abschnitt II).120. Luhmanns Reflexionsbegriff, <strong>der</strong> im Wesentlichen mit ebendieser Selbstbezüglichkeit zusammenfällt (siehe hierzuauch S. LXXVf.), ist selbst jedoch natürlich nicht reflexiv im hier def<strong>in</strong>ierten S<strong>in</strong>n, son<strong>der</strong>n erfüllt im Gegenteil, wieoben dargelegt wurde, die deflexiv-ideologische Funktion, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Thematisierung <strong>der</strong> Selbstbezüglichkeit <strong>der</strong> Systemeden eigenen Selbstbezug zu elim<strong>in</strong>ieren.121. Sloterdijk bemerkt übrigens explizit gegen den Funktionalismus gerichtet: +Jede soziologische Systemtheorie,die ›Wahrheit‹ funktionalistisch behandelt […], birgt e<strong>in</strong> mächtiges zynisches Potential […] Der Marxismus […] bewahrteimmerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ambivalenz zwischen verd<strong>in</strong>glichenden und emanzipatorischen Perspektiven. NichtmarxistischeSystemtheorien <strong>der</strong> Gesellschaft lassen noch die letzte Empf<strong>in</strong>dlichkeit fallen.* (Kritik <strong>der</strong> zynischen Vernunft; S. 63)


94 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE122.DerKonstruktcharakter<strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genzannahme (und ihre +imag<strong>in</strong>äre*,ideologischeFunktionalität) wird allerd<strong>in</strong>gsbei Fuchs natürlich nicht <strong>in</strong> gleicher Weise herausgearbeitet wie die paradoxe +reale* Nützlichkeit des Konstrukts<strong>der</strong> E<strong>in</strong>heit.123. In diesem Zusammenhang entwickelt Willke das Modell e<strong>in</strong>es +Supervisionsstaats*: Dieser läßt die Autonomie<strong>der</strong> Funktionssysteme unangetastet und beschränkt sich darauf, die vom politischen System erkannten Probleme andie Funktionssysteme zurück zu übermitteln (vgl. Ironie des Staates; S. 335ff.). Allerd<strong>in</strong>gs unterscheidet sich diesesModell me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach nur marg<strong>in</strong>al von dem von Willke ebenfalls kritisierten Modell des m<strong>in</strong>imalen (liberalistischen)Staats, <strong>der</strong> die Verteilung <strong>der</strong> kollektiven Güter (genauso wie <strong>der</strong> Wohlfahrtsstaat) nicht befriedigend regeln kann.Was an <strong>der</strong> Umwandlung von Fremdzwang <strong>in</strong> Selbstzwang, <strong>der</strong> +ethischen* Grundlage des +Supervisionsstaats*, +ironisch*se<strong>in</strong> soll, bleibt überdies unklar.124. Auch Peters macht im Rekurs auf den Begriff <strong>der</strong> Verdrängung also e<strong>in</strong>e Analogie zur Psychoanalyse auf, diejedoch lei<strong>der</strong>, wie er bemerkt, soziologisch +bisher selten und systematisch ausgearbeitet* wurde (Die Integrationmo<strong>der</strong>ner Gesellschaften; S. 347). So bleibt mir nur zu hoffen, daß me<strong>in</strong>e Arbeit, vor allem mit dem Konzept <strong>der</strong>Deflexion, hier e<strong>in</strong>en Beitrag zu leisten vermag.125. Bourdieu versteht unter Reflexivität <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>e Soziologie <strong>der</strong> Soziologie bzw. des Soziologen, um sichden sozialen Kontext und die unbewußten Motive, auch für die eigene (wissenschaftliche) Praxis, bewußt zu machen(vgl. Die Praxis <strong>der</strong> reflexiven Anthropologie; S. 287ff.). Wenn man Loïc Wacquant folgt, so stellt Bourdieus Ansatzdamit gar die (bisher) am weitesten gediehene Fassung e<strong>in</strong>er reflexiven Soziologie dar, <strong>in</strong>dem Bourdieu nicht nurdie eigene Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft und im akademischen Feld reflektiert, son<strong>der</strong>n ebenso den Eigenwert <strong>der</strong> Logik<strong>der</strong> Praxis anerkennt (vgl. Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>er Sozialpraxeologie und siehe auch unten). Auch bei Bourdieu fehltallerd<strong>in</strong>gs me<strong>in</strong>es Erachtens letztlich das dialektisch-dynamische Moment, und er entwickelt auch ke<strong>in</strong> Verständnisfür Reflexion als Modus des (fühlenden) Denkens und des Handelns.126. In diesem Zusammenhang kann an den Handlungsbegriff des Aristoteles angeschlossen werden, <strong>der</strong> im Rahmense<strong>in</strong>er praktischen Philosophie das ethische (geme<strong>in</strong>schaftsbezogene) Handeln vom zweckrationalen, auf die Herstellungvon Gütern und die Gew<strong>in</strong>nmaximierung bezogene Handeln unterscheidet (vgl. Nikomachische Ethik; Buch I).127. Das soll ke<strong>in</strong>eswegs bedeuten, daß im Kontext <strong>der</strong> Reflexion die Praxis <strong>der</strong> Theorie untergeordnet ist. ReflexiveGegenpraktiken s<strong>in</strong>d zur Aufhebung des ideologisch-praxologischen Deflexionszusammenhangs notwendig. Um reflexiveGegenpraktiken zu ermöglichen, ist aber die Erlangung e<strong>in</strong>es reflexiven Bewußtse<strong>in</strong>s die Grundlage. Dazu dienenauch kritische Begriffe wie <strong>der</strong> Deflexionsbegriff o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Praxologiebegriff. Bloße Oberflächentransformationen wiee<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Lebensstilmuster durch Individualisierungsprozesse s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>n nicht reflexiv. Dazumüßten sie <strong>in</strong> subversive Praktiken überführt werden. Subpolitik müßte zu e<strong>in</strong>er subversiven <strong>Politik</strong> geraten, undSubversion erfor<strong>der</strong>t Konversion: die Umwandlung von e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Denken zur an<strong>der</strong>en Praxis.128. Es handelt sich hier also um e<strong>in</strong>e Form struktureller bzw. <strong>in</strong>stitutionalisierter Deflexion (siehe S. 381).129. Man kann deshalb auch sagen, daß Sprache (als <strong>in</strong>teraktiv kommuniziertes Begriffssystem) den deflexiven (undreflexiven) Schnittpunkt zwischen Handlungs- und Bewußtse<strong>in</strong>seben darstellt.130. Saussure stellt dabei eher das (im positiven S<strong>in</strong>n) strukturierende und ordnende Element <strong>der</strong> Sprache heraus,die zusammenhängendes Denken erst ermöglicht: +Das Denken, für sich genommen, ist wie e<strong>in</strong>e Nebelwolke, <strong>in</strong><strong>der</strong> nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt ke<strong>in</strong>e von vornehere<strong>in</strong> feststehenden Vorstellungen, und nichts istbestimmt, ehe die Sprache <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung tritt […] Das Denken, das se<strong>in</strong>er Natur nach chaotisch ist, wird [durchdie Sprache] gezwungen, durch Glie<strong>der</strong>ung sich zu präzisieren […]* (Grundfragen <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Sprachwissenschaft;Kap. IV, § 1, S. 133f.) In <strong>der</strong> poststrukturalistischen französischen Philosophie, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e beim frühen Foucault,wird dagegen stärker <strong>der</strong> +machtvolle*, e<strong>in</strong>engende und normierende Charakter <strong>der</strong> (Dualität <strong>der</strong>) Sprachstrukturenbetont, die auf e<strong>in</strong>e Bändigung des Begehrens zielen und damit selbst e<strong>in</strong> Begehren darstellen: +Ich setze voraus,daß <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird– und zwar durch gewisse Prozeduren [Ausschließungen, <strong>in</strong>terne Ordnungssysteme, Verknappungen etc.], <strong>der</strong>enAufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, se<strong>in</strong> unberechenbar Ereignishaftes zu bannen,se<strong>in</strong>e schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen […] Denn <strong>der</strong> Diskurs – die Psychoanalyse hat es uns gezeigt– ist nicht e<strong>in</strong>fach das, was das Begehren offenbart (o<strong>der</strong> verbirgt): er ist auch e<strong>in</strong> Gegenstand des Begehrens; und<strong>der</strong> Diskurs – dies lehrt uns immer wie<strong>der</strong> die Geschichte – ist auch nicht bloß das, was die Kämpfe o<strong>der</strong> die Systeme


A: ANMERKUNGEN 95<strong>der</strong> Beherrschung <strong>in</strong> Sprache übersetzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, <strong>der</strong>en mansich zu bemächtigen sucht.* (Die Ordnung des Diskurses; S. 11) Ganz ähnlich argumentiert übrigens auch Derrida(vgl. z.B. Grammatologie; S. 16). Er stellt jedoch heraus, daß die unterdrückerische Macht <strong>der</strong> Sprache sich <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>eals logozentrischer Diskurs formt, <strong>in</strong> die Schrift (als Symbolisierung des Lauts) ist dagegen immer auch e<strong>in</strong>e grundlegendeDifferenz zum Bezeichneten e<strong>in</strong>gelassen, die zurückverfolgt, dekonstruiert werden kann, um <strong>der</strong> Stimme <strong>der</strong> Differenz(wie<strong>der</strong>) Gehör zu verschaffen (vgl. ebd.; S. 77ff. sowie Die Schrift und die Differenz; S. 21ff.).131. Auch die an<strong>der</strong>en Deflexionsmodi weisen allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>en Öffentlichkeitsbezug auf.132. +Bezeichnen<strong>der</strong>weise* hat das (Neu-)Hochdeutsche sich aus den frühneuzeitlichen Kanzleisprachen, die imwesentlichen Schriftsprachen waren, heraus entwickelt (vgl. z.B. König: dtv-Atlas zur deutschen Sprache; S. 91).133. Der mögliche Beitrag dieser theoretischen und vermutlich auf e<strong>in</strong> sehr begrenztes Publikum beschränkten Arbeit,sollte allerd<strong>in</strong>gs auch nicht überschätzt werden.134. Meyer stellt demantsprechend, ähnlich wie Willke (siehe S. 402), die Tragik <strong>der</strong> aktuellen Situation für die <strong>Politik</strong>heraus: +Das Dilemma <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne sche<strong>in</strong>t perfekt. Es öffnet <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenz se<strong>in</strong>er unaufgebbarenPr<strong>in</strong>zipien die politische Arena für e<strong>in</strong>e unabschließbare Fülle regelungsbedürftiger Fragen, richtet se<strong>in</strong>en Anspruchauf diskursive Verständigung, wegen <strong>der</strong> globalen Tendenz <strong>der</strong> Betroffenheit durch dieselben politischen UrsachenSchritt für Schritt an die Menschheit im ganzen. Gleichzeitig s<strong>in</strong>d ihm die klassischen Auswege – Begrenzung <strong>der</strong>Teilnahme auf die Urteilsfähigen und von <strong>der</strong> Existenzvorsorge Freigestellten sowie die Begrenzung <strong>der</strong> zugelassenenpolitischen Fragen – durch se<strong>in</strong> Legitimationsverständnis e<strong>in</strong> für allemal verbaut.* (Die Transformation des Politischen;S. 224) Daß aber trotz dieser Tragik <strong>der</strong> utopische Anspruch nicht aufgegeben werden muß und e<strong>in</strong> utopischer Bezugnicht gleichbedeutend mit e<strong>in</strong>er Elim<strong>in</strong>ierung des Differenten zusammenfällt, versuche ich im Rahmen me<strong>in</strong>es Exkurseszu zeigen.135. Berühmt ist Zenons Paradoxie <strong>der</strong> Zeit, die sowohl als unendlich und kont<strong>in</strong>uierlich wie auch als endlich und+gequantelt* vorgestellt werden muß. Denn +ausgehend von e<strong>in</strong>er Vorstellung von Zeit als Folge getrennter Zeitpunktewürde e<strong>in</strong> abgeschossener Pfeil, wenn man se<strong>in</strong>en Flug <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelne Zeitpunkte zerlegt, <strong>in</strong> jedem <strong>der</strong> Punkte feststehenund sich somit auch <strong>in</strong>sgesamt nicht bewegen. Nimmt man Zeit aber als e<strong>in</strong> unendl. Kont<strong>in</strong>uum an, so ergibt sichdas Paradox, daß z.B. Achill im Wettlauf mit e<strong>in</strong>er Schildkröte, die e<strong>in</strong>em Vorsprung hat, diese niemals überholenkönnte. Wenn Achill die Ausgangsposition <strong>der</strong> Schildkröte erreicht hat, so ist diese selber ja wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Stückweitergekommen, so daß <strong>der</strong> Abstand zwischen beiden zwar kle<strong>in</strong>er wird, aber immer bestehen bleibt.*(Kunzmann/Burkhard/Wiedmann: dtv-Atlas zur Philosophie; S. 33)136. Im Dialog +Parmenides* wird übrigens Zenon, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er dialektisch abgefaßten Schriften vorträgt, von Sokratesattackiert, <strong>der</strong> demgegenüber die +Wahrheit* <strong>der</strong> Ideen <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gt. Zenons ebenfalls anwesen<strong>der</strong> Lehrer Parmenidessteht ihm jedoch bei und erläutert dem jungen Sokrates anhand des zuvor <strong>in</strong> Zenons Schrift erörterten Problemsdes E<strong>in</strong>en und des Vielen die dialektische Methode – die später von Sokrates bzw. Platon mit <strong>der</strong> Ideenlehre verbundenund dazu benutzt wird, im dialogischen Gespräch (bzw. mittels dialogisch abgefaßter Schriften) die Wahrheit <strong>der</strong>Ideen dialektisch hervorzukehren. An dieses diskursive (idealistische) Dialektikverständnis von Sokrates/Platon schließterst Schleiermacher (1768–1834), <strong>der</strong> auch die unten zitierte Platon-Übersetzung verfaßt hat, explizit wie<strong>der</strong> an,<strong>in</strong>dem er unter Dialektik +die Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Kunst zu philosophieren* versteht (Dialektik; S. 4), d.h. +mit e<strong>in</strong>em Andrenzugleich [also im Dialog] e<strong>in</strong>e philosophische Konstruktion zu vollziehen* (ebd.; S. 5). Von Schleiermacher führt dieL<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>es diskursiven Verständnisses <strong>der</strong> Dialektik weiter zur Hermeneutik Gadamers und zur Diskurstheorie vonHabermas.137. Auf spätantike und mittelalterliche Dialektikkonzeptionen möchte ich nicht e<strong>in</strong>gehen, da sie für die neuzeitlicheWeiterführung des dialektischen Denkens kaum e<strong>in</strong>e Rolle spielen. Und auch die von Aristoteles zu Kant führendeL<strong>in</strong>ie kann, obwohl Hegel sich <strong>in</strong>tensiv mit Kant ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzte und teilweise auch auf diesem aufbaute (vgl. Röttges:Zur Entstehung und Wirkung des kantischen Begriffs <strong>der</strong> Dialektik), nur <strong>in</strong> groben Strichen nachgezogen werden – weilhier erstens <strong>der</strong> Raum für e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Diskussion fehlt und mir zweitens, zur Verdeutlichung me<strong>in</strong>er eigenenAuffassungen, e<strong>in</strong>e Konzentration auf die primär an Hegels Konzept anschließenden Ansätze am s<strong>in</strong>nvollsten ersche<strong>in</strong>t.E<strong>in</strong>ige kurze Bemerkungen zur L<strong>in</strong>ie Aristoteles–Kant möchte ich jedoch trotzdem machen:Für Aristoteles (384–324 v. Chr.) bedeutet die dialektische Vorgehenweise e<strong>in</strong> Schließen aus wahrsche<strong>in</strong>lichen Sätzen,d.h. Sätzen, +die allen o<strong>der</strong> den meisten o<strong>der</strong> den Klugen so [d.h. wahr] ersche<strong>in</strong>en* (Oragnon; Band 1: Topik I,1[100a]). Kant (1724–1804) schließt im Rahmen se<strong>in</strong>er +Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft* (1781) an diese +negative* Auffassung


96 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEvon Dialektik an, <strong>in</strong>dem er sie als +Logik des Sche<strong>in</strong>s* charakterisiert. Allerd<strong>in</strong>gs hat die dialektische Logik des Sche<strong>in</strong>sfür Kant, an<strong>der</strong>s als für Aristoteles, nichts mit Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit zu tun, +denn diese ist Wahrheit, aber durchunzureichende Gründe erkannt* (S. 244). Vielmehr bedeutet Dialektik für Kant e<strong>in</strong> Fehlschließen, das schon <strong>in</strong> dieStruktur des menschlichen Geistes e<strong>in</strong>gelassen ist. Und so kann die transzendentale Dialektik, die Kant anstrebt, denimmanenten dialektischen Sche<strong>in</strong> <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft – d.h. ihre Paralogismen und Ant<strong>in</strong>omien – nur aufdeckenund ihn nie wirklich beseitigen (vgl. ebd.; S. 245ff.). +Es gibt also e<strong>in</strong>e natürliche und unvermeidliche Dialektik <strong>der</strong>re<strong>in</strong>en Vernunft.* (Ebd.; S. 247) In <strong>der</strong> Denkfigur <strong>der</strong> regulativen transzendentalen Ideen – d.h. Ideen, die die Wi<strong>der</strong>sprüche<strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft mittels hypothetischer Konstrukte (wie z.B. Gott) <strong>in</strong>tegrieren und die zur Möglichkeit des Erkennensebenso notwendig s<strong>in</strong>d (also vorausgesetzt werden müssen), wie sie notwendig +außerhalb den Grenzen möglicherErfahrung* liegen (ebd.; S. 441) – gelangt Kant jedoch trotzdem, auf e<strong>in</strong>em +vernünftelnden* Umweg, zu e<strong>in</strong>er Aufhebung<strong>der</strong> (eigentlich doch unaufhebbaren) dialektischen Wi<strong>der</strong>sprüche. (Vgl. zu Kants Dialektik-Konzept allgeme<strong>in</strong> auchKaulbach: Kants Idee <strong>der</strong> transzendentalen Dialektik)138. Hegel bemerkt zu Kants Konzept <strong>der</strong> transzendentalen Dialektik: +Kant hat die Dialektik höher gestellt, […] <strong>in</strong>demer ihr den Sche<strong>in</strong> <strong>der</strong> Willkür nahm, den sie nach <strong>der</strong> gewöhnlichen Vorstellung hat, und sie als e<strong>in</strong> notwendiges Tun<strong>der</strong> Vernunft darstellte.* (Wissenschaft <strong>der</strong> Logik; S. 38 [E<strong>in</strong>leitung]) Sogleich schränkt er jedoch e<strong>in</strong>: +Kants dialektischeDarstellungen verdienen […] freilich [trotzdem] ke<strong>in</strong> großes Lob […] So wie nur bei <strong>der</strong> abstrakt-negativen Seite desDialektischen stehengeblieben wird, so ist das Resultat nur das Bekannte, daß die Vernunft unfähig sei, das Unendlichezu erkennen; – e<strong>in</strong> son<strong>der</strong>bares Resultat, <strong>in</strong>dem das Unendliche das Vernünftige ist, zu sagen, die Vernunft sei nichtfähig, das Vernünftige zu erkennen.* (Ebd.)139. Für Hegel manifestiert sich die dialektische Bewegung als Selbstf<strong>in</strong>dung und Verwirklichung <strong>der</strong> Vernunft (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>egemäß <strong>der</strong> Darstellung <strong>in</strong> <strong>der</strong> oben zitierten +Rechtsphilosophie*) auch +materiell* im historisch-gesellschaftlichenProzeß.140. Sehr ähnlich äußert sich Marx auch im Nachwort zur zweiten Auflage (des ersten Bands) des +Kapitals* (1873).Dort heißt es: +Die Mystifikation, welche die Dialektik <strong>in</strong> Hegels Händen erleidet, verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise, daßer ihre allgeme<strong>in</strong>en Bewegungsformen zuerst <strong>in</strong> umfassen<strong>der</strong> und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm[allerd<strong>in</strong>gs] auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern <strong>in</strong> <strong>der</strong> mystischen Hülle zu entdecken.*In dieser umgestülpten rationellen Gestalt, die sich an den materiellen Verhältnissen orientiert, +ist sie dem Bürgertumund se<strong>in</strong>en doktr<strong>in</strong>ären Wortführern e<strong>in</strong> Ärgernis und e<strong>in</strong> Greuel, weil sie <strong>in</strong> dem positiven Verständnis des Bestehendenzugleich auch das Verständnis se<strong>in</strong>er Negation, se<strong>in</strong>es notwendigen Untergangs e<strong>in</strong>schließt, jede gewordene Formim Flusse <strong>der</strong> Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihremWesen nach kritisch und revolutionär ist* (ebd.).141. Dort heißt es u.a.: +[...] <strong>in</strong>dem Hegel die Negation <strong>der</strong> Negation, <strong>der</strong> positiven Beziehung nach, die <strong>in</strong> ihr liegt,als das e<strong>in</strong>zig wahrhaft und e<strong>in</strong>zig Positive, <strong>der</strong> negativen Beziehung nach, die <strong>in</strong> ihr liegt, als den e<strong>in</strong>zig wahren Aktund Selbstbetätigungsakt des Se<strong>in</strong>s aufgefaßt hat, hat er nur den abstrakten, logischen und spekulativen Ausdruck fürdie Bewegung <strong>der</strong> Geschichte gefunden, die noch nicht wirkliche Geschichte des Menschen als e<strong>in</strong>es vorausgesetztenSubjekts, son<strong>der</strong>n erst Erzeugungsakt, Entstehungsgeschichte ist.* (Kritik <strong>der</strong> Hegelschen Dialektik; S. 184)142. Marx’ eigene Ausführungen s<strong>in</strong>d lei<strong>der</strong> – sieht man von den zitierten Stellen ab – eher vage und verstreut. Undauch bei Hegel kann man übrigens – trotz des enormen Stellenwerts, den er <strong>der</strong> dialektiktischen Methode e<strong>in</strong>räumt– kaum von e<strong>in</strong>em explizit ausgearbeiteten Konzept sprechen.143. Sartre selbst (siehe zu se<strong>in</strong>em Dialektikkonzept auch unten) unterscheidet im E<strong>in</strong>leitungskapitel zwischen e<strong>in</strong>erpositivistischen und die eigene Position aus <strong>der</strong> dialektischen Reflexion ausklammernden dogmatischen Dialektikund e<strong>in</strong>er offenen, auf die Freiheit gerichtenten (selbst-)kritischen Dialektik.144. Dazu Adorno explizit: +Dialektik als Verfahren heißt, um des e<strong>in</strong>mal an <strong>der</strong> Sache erfahrenen Wi<strong>der</strong>spruchswillen und gegen ihn <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>sprüchen zu denken. Wi<strong>der</strong>spruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Realität, ist sie Wi<strong>der</strong>spruch gegen diese.Mit Hegel aber läßt solche Dialektik nicht mehr sich vere<strong>in</strong>en. Ihre Bewegung tendiert nicht auf die Identität <strong>in</strong> <strong>der</strong>Differenz jeglichen Gegenstandes von se<strong>in</strong>em Begriff; eher beargwöhnt sie Identisches. Ihre Logik ist die des Zerfalls:<strong>der</strong> zugerüsteten und vergegenständlichten Gestalt <strong>der</strong> Begriffe, die zunächst das erkennende Subjekt unmittelbarsich gegenüber hat. Deren Identität mit dem Subjekt ist die Unwahrheit.* (Negative Dialektik; S. 146)


A: ANMERKUNGEN 97145. Andreas Arndt faßt se<strong>in</strong>e Konzeption negativer Dialektik dagegen primär als e<strong>in</strong>en selbstkritischen Reflexionsmodusauf: +Das Negativ-Vernünftige <strong>der</strong> Dialektik bezeichnet das allgeme<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Erkenntnisarbeit im Modus <strong>der</strong> Selbstkritik.*(Dialektik und Reflexion; S. 354) Dabei ist sie sich <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>lichkeit und Endlichkeit allen Se<strong>in</strong>s und allen Denkens– auch des eigenen – bewußt. Gefor<strong>der</strong>t ist demzufolge +e<strong>in</strong> Beharren auf den Wi<strong>der</strong>sprüchen <strong>der</strong> ersche<strong>in</strong>endenWirklichkeit, welche sich e<strong>in</strong>er Lösung durch die Verabsolutierung ihrer Extreme versagen. Sie s<strong>in</strong>d aber auch nicht<strong>in</strong>different zu machen und dadurch zu bannen. So f<strong>in</strong>det das vernünftige Erkennen ke<strong>in</strong>en Halt an etwas, worandie subjektiv erlebten und erlittenen Wi<strong>der</strong>sprüche aufgehoben und versöhnt wären. Das Beharren <strong>der</strong> Vernunftauf den Wi<strong>der</strong>sprüchen kann subjektiv nur als Standhalten <strong>in</strong> ihnen vollzogen werden. Ihr Begreifen gibt nicht mehr,als die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Bed<strong>in</strong>gungen, unter denen wir uns, selbst auf wi<strong>der</strong>sprüchliche Weise, <strong>in</strong> ihnen bewegen […]*(Ebd.; S. 357)146. Wenn man von den mo<strong>der</strong>nistischen Zügen absieht, hat aber somit natürlich gerade <strong>der</strong> späte Adorno großeRelevanz für e<strong>in</strong>e kritische und dialektische reflexive Gesellschaftstheorie im (postmo<strong>der</strong>nen) Kontext des Spätkapitalismus(vgl. hierzu auch Jameson: Late Marxism; <strong>in</strong>sb. S. 246ff.).147. Bachelard erblickt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er (dialektischen) +Philosophie des Ne<strong>in</strong>* e<strong>in</strong>e konstruktive Aktivität, die vielfältigeMöglichkeiten eröffnet, wobei er erläutert: +Dialectiser la pensée, c’est augmenter la garantie de créer scientifiquementdes phénomènes complets, de régénérer toutes les variables dégénérées ou étouffeés que la science, comme la penséenaïve, avait négligées dans sa première étude.* (La philosophie du non; S. 17). Auch Adornos Dialektik-Konzept istzwar im Pr<strong>in</strong>zip +offen* angelegt, doch bleibt se<strong>in</strong>e negative Dialektik, im Gegensatz zu Bachelard, an +objektiverWahrheit* orientiert (vgl. Negative Dialektik; S. 195f.).148. Im Neo-Kantianismus gibt es zwar gewisse Ansätze, die hier zu e<strong>in</strong>er Überschreitung ansetzten: Fichte (1762–1814),<strong>der</strong> das klassische dialektische Schema von These, Antithese, Synthese erstmals explizit dargelegt hat (vgl. Grundlage<strong>der</strong> gesamten Wissenschaftslehre; § 3), <strong>in</strong>terpretierte Kants Transzendental-Philosophie dah<strong>in</strong>gehend, daß dieser Denkenund Se<strong>in</strong> durch e<strong>in</strong> (dialektisches) Band im Gedanken des (transzendentalen) Absoluten verbunden sah (vgl. Wissenschaftslehre;S. 491ff. [2. Vortrag]) – wobei er jedoch gerade kritisiert, daß Kant eben damit dem Absoluten als +re<strong>in</strong> für sichbestehende Substanz* se<strong>in</strong>en absoluten Charakter genommen habe (vgl. ebd.; S. 496ff. [3. Vortrag]). Jonas Cohn,als zeitgenössischer Vertreten des Neo-Kantianismus, sieht ganz ähnlich e<strong>in</strong>e dialektische Spannung zwischen Objektund Subjekt, Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> wirken (vgl. Theorie <strong>der</strong> Dialektik; S. 297ff.). Aber auch im dialektischen SystemCohns bleibt Dialektik, obwohl selbst nicht Denken des Absoluten, so doch auf das Absolute ausgerichtet, strebt aufdieses zu und wird damit <strong>in</strong> E<strong>in</strong>heit synthetisch aufgelöst (vgl. ebd.; S. 348f.).149. Den angenommenen Vorrang des Objekts, <strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs die Subjekt-Objekt-Dialektik gemäß Adorno nichtabbricht (vgl. Negative Dialektik; S. 185), begründet er so: +Vermöge <strong>der</strong> Ungleichheit im Begriff <strong>der</strong> Vermittlung fälltdas Subjekt ganz an<strong>der</strong>s <strong>in</strong>s Objekt als dieses <strong>in</strong> jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sichaber diesem gegenüber immer als An<strong>der</strong>es; Subjekt jedoch ist <strong>der</strong> eigenen Beschaffenheit nach vorweg auch Objekt.Vom Subjekt ist Objekt nicht e<strong>in</strong>mal als Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt. Zum S<strong>in</strong>n von Subjektivitätrechnet es, auch Objekt zu se<strong>in</strong>; nicht ebenso zum S<strong>in</strong>n von Objektivität, Subjekt zu se<strong>in</strong>.* (Ebd.; S. 182) Auch ichgehe zwar davon aus, daß das Subjektive und das Bewußtse<strong>in</strong> <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n objektiv s<strong>in</strong>d, daß sie e<strong>in</strong>en +materiellenGehalt* haben, <strong>der</strong> ihre Impulse untranszendierbar macht (siehe auch Schlußexkurs). Für mich folgt daraus jedochke<strong>in</strong> Vorrang des Objekts, son<strong>der</strong>n hier zeigt sich vielmehr gerade die +materielle*, unaufhebbare Durchdr<strong>in</strong>gungvon Subjekt und Objekt, Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>.150. Auch ich verstehe me<strong>in</strong> Konzept natürlich <strong>in</strong>soweit als materialistische Dialektik, als ich davon ausgehen, daßdas auch Bewußtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e +materielle* Grundlage hat (siehe auch nochmals Anmerkung 149 sowie Schlußexkurs).Doch das bedeutet für mich nicht, die +Beweggründe* auf die Objekt-Seite zu verlagern, son<strong>der</strong>n Subjekt und Objekts<strong>in</strong>d durch die Grenze des Bewußtse<strong>in</strong>s (das wie <strong>der</strong> Name schon sagt, ebenso e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> ist) vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> geschieden(und vere<strong>in</strong>t), und erst <strong>in</strong> <strong>der</strong> – materiellen – dialektischen Reibung von beiden manifestiert sich Dialektik im sozialhistorischenProzeß (siehe unten).151. Ganz ähnlich spricht Sartre übrigens von e<strong>in</strong>er Dialektik <strong>der</strong> Passivität bzw. von Anti-Dialektik, umgekehrterDialektik, Pseudo-Dialektik o<strong>der</strong> auch Dialektik gegen die Dialektik, die als Moment <strong>der</strong> Intelligibilität +e<strong>in</strong>er Praxisentspricht, die sich gegen sich selbst kehrt, weil sie als ständiges Siegel des Inerten neu entstanden ist […]* (Kritik <strong>der</strong>dialektischen Vernunft; S. 69 [Fußnote 2]).


98 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE152. Wie me<strong>in</strong>e Ausführungen im Text ergeben, handelt es sich, an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abbildung dargestellt, eigentlichum e<strong>in</strong>e vierdimensionales dialektisches Feld: 1. Die Ebene <strong>der</strong> Dialektik von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong>; 2. Die Ebene<strong>der</strong> Dialektik von Reflexion und Deflexion; 3. Die Ebene <strong>der</strong> reflexiv-deflexiven Dialektik jeweils im Se<strong>in</strong>/Handeln(Praxis–Praxologie sich äußernd als Reflexivität) sowie im Bewußtse<strong>in</strong> (Theorie–Ideologie sich äußernd als Ambivalenz);4. Die Ebene <strong>der</strong> Dialektik von Se<strong>in</strong> und Bewußtse<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Reflexion (Theorie–Praxis ersche<strong>in</strong>end alsDynamisierung) sowie auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Deflexion (Ideologie–Praxologie ersche<strong>in</strong>end als Statik). Diese Vierdimensionalitätist jedoch (graphisch) schwer darstellbar und zudem, was die beiden letztgenannten Dimensionen betrifft, nur abgeleitetaus dem se<strong>in</strong>erseits (verschränkend) dialektischen Verhältnis <strong>der</strong> Dialektiken <strong>der</strong> beiden ersten Dimensionen.153. Bhaskar bemerkt hier: +[…] to exist is to be able to become, which is to possess the capacity for self-development,a capacity that can be fully realized only <strong>in</strong> a society founded on the pr<strong>in</strong>ciple of universal concretely s<strong>in</strong>gularizedhuman autonomy <strong>in</strong> nature. This process is dialectic; and it is the pulse of freedom.* (S. 385)154. Wenn Mart<strong>in</strong> Lipset allerd<strong>in</strong>gs von e<strong>in</strong>em +Work<strong>in</strong>g-Class Authoritarianism* spricht (vgl. Political Man; Kap. IV),um zu zeigen, daß die <strong>Politik</strong> besser <strong>in</strong> den Händen <strong>der</strong> weniger autoritär e<strong>in</strong>gestellten (weil ohneh<strong>in</strong> an <strong>der</strong> Machtpartizipierenden) sozialen Eliten aufgehoben ist und man <strong>in</strong> die Arbeitklasse kaum berechtigte Hoffnungen auf positiveWandlungsimpulse setzen kann, wie es selbst kritische Neomarxisten wie George Lukács noch taten, so verdecktLipset damit genau den ideologisch-praxologischen Konformierungsapparat, <strong>der</strong> zu diesen autoritären E<strong>in</strong>stellungengeführt hat.155. Gurvitch entwickelt hier e<strong>in</strong> dreifaches Verständnis von Dialektik: 1. Dialektik als reale (soziale) Bewegung; 2.Dialektik als ihrerseits bewegte, nicht fixierbare Methode <strong>der</strong> (dekonstruktiven) Spiegelung <strong>der</strong> dialektischen Bewegungdes Sozialen; 3. Dialektik als (selbst dialektisches) Verhältnis von sozialer Realität zu theoretischer Spiegelung (vgl.Dialektik und Soziologie; S. 218ff.) Dies führt Gurvitch zu e<strong>in</strong>em empirisch-realistischen Dialektikverständnis (ähnlichzu Bhaskar, siehe oben), d.h. Dialektik reflektiert immer wie<strong>der</strong> neu die +unendlich variierte[n] Erfahrungen, <strong>der</strong>enBezugsgrundlagen unablässig erneuert werden* (ebd.; S. 224).


A: ANMERKUNGEN 99EXCURSION TERMINAL: POLITISCHE APORIEN UND UTOPIEN – ZUM VERHÄLTNIS VON SEIN UNDBEWUßTSEIN, KONTINGENZ UND KONVERGENZ1. Hierzu bemerkt Adorno ganz ähnlich (allerd<strong>in</strong>gs nicht auf die grundlegende immanente Ambivalenz des +verkörperten*Bewußtse<strong>in</strong>s abhebend): +Die verme<strong>in</strong>tlichen Grundtatsachen des Bewußtse<strong>in</strong>s s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es als bloß solche. In<strong>der</strong> Dimension von Lust und Unlust ragt Körperliches <strong>in</strong> sie h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Aller Schmerz und alle Negativität, Motor desdialektischen Gedankens, s<strong>in</strong>d vielfach vermittelte, manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem […]*(Negative Dialektik; S. 200)2. Sousa Santos bevorzugt allerd<strong>in</strong>gs den Begriff +Heterotopia*: +What I am about to propose is not a[n] utopia.Let me call it heterotopia. Rather than the <strong>in</strong>vention of a place elsewhere or nowhere, I propose a radical displacementwith<strong>in</strong> the same place: ours. From orthotopia to heterotopia, from the center to the marg<strong>in</strong> [...] Theaim is to experiment with the frontiers of sociability as a form of sociability.* (Toward a New Common Sense;S. 481) Der Heterotopia-Begriff von Sousa Santos ist also durchaus +utopisch* – im Gegensatz zu Foucault, <strong>der</strong>Heteropopien als reale soziale Orte, als +Gegenplatzierungen* und +Wi<strong>der</strong>lager* <strong>in</strong>nerhalb des sozialen Raumes begreift(vgl. An<strong>der</strong>e Räume; S. 68ff.).3. In diesem negativ-dekonstruktiven S<strong>in</strong>n waren die frühneuzeitlichen utopischen Entwürfe e<strong>in</strong>es Morus o<strong>der</strong> Campanellaalso ke<strong>in</strong>e U-topien, son<strong>der</strong>n eher (utopische) Wunsch- und Traumbil<strong>der</strong> (siehe auch unten, Bloch).4. Dieser utopische Charakter <strong>der</strong> Kunstsphäre bleibt nach Fredric Jameson selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne erhalten, diedoch eigentlich e<strong>in</strong>e radikale Absage an das utopische Denken impliziert, <strong>in</strong>dem auf den ideologischen Charakterdes Utopischen h<strong>in</strong>gewiesen wird. Denn gerade +<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> unser M<strong>in</strong>imalkonsens gerade dar<strong>in</strong> besteht,daß alles Ideologie ist […], sche<strong>in</strong>t dies auch nicht länger e<strong>in</strong> erschreckendes E<strong>in</strong>geständnis zu se<strong>in</strong>.* (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>neund Utopie; S. 108) Und so f<strong>in</strong>det man – +nicht zuletzt unter den Künstlern und Schriftstellern – überall e<strong>in</strong>e […]›Utopie-Partei‹ […], e<strong>in</strong>e Untergrundspartei, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong>zahl schwer bestimmbar ist, <strong>der</strong>en Programm unerklärtund vielleicht sogar unformulierbar bleibt, <strong>der</strong>en Existenz <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Bürgerschaft und den Behörden unbekanntist, <strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> sich aber offensichtlich mit <strong>der</strong> Hilfe geheimer freimaurerischer Signale erkennen* (ebd.).5. Bewußtse<strong>in</strong> wird also hier – ohne, wie Adorno, e<strong>in</strong>en Vorrang des Objekts, son<strong>der</strong>n vielmehr e<strong>in</strong>en Vorrang desSubjekts anzunehmen – als durchaus +körperliches*, jedoch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er erlebten E<strong>in</strong>zigartigkeit (Qualia-Aspekt) vom+äußeren Se<strong>in</strong>* zu unterscheidendes Phänomen aufgefaßt, und schon Nietzsche bemerkte schließlich: +›Ich‹ sagstdu und bist stolz auf dies Wort. Aber das Größere ist […] de<strong>in</strong> Leib und se<strong>in</strong>e große Vernunft: die sagt nicht Ich, abertut Ich.* (Also sprach Zarathustra; S. 300 [Von den Verächter des Leibes])6. Auch im Denken von Adorno, Bloch und Castoriadis spielt natürlich das Subjekt e<strong>in</strong>e wichtige Rolle für die (utopische)Überschreitung, und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e zum Konzept Adornos besteht e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>s große Nähe und Aff<strong>in</strong>ität: Mit se<strong>in</strong>erHerausstellung des Nichtidentischen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem Mimesis-Gedanken legte er me<strong>in</strong>es Erachtens die Grundlagenfür e<strong>in</strong>e +subjektivistische* Ethik. An<strong>der</strong>erseits – und wie schon an an<strong>der</strong>er Stelle angemerkt (siehe auch nochmalsAnmerkung 149, Kap. 5) – behauptet Adorno, <strong>der</strong> hier noch deutlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> anti-idealistischen, materialistischen Traditiondes Marxismus steht, e<strong>in</strong>en Vorrang des (physischen) Objekts. Ich möchte im Gegensatz dazu jedoch explizit aufdie radikale Subjektivität aller Wahrnehmungen und Empf<strong>in</strong>dungen verweisen, die nicht objektivierbar s<strong>in</strong>d (Qualia-Problematik), aber gleichzeitig auch das e<strong>in</strong>zige darstellen, was für uns +greifbar* ist. Das Se<strong>in</strong> ist als Erfahrenes subjektiv.Zudem ist es ja e<strong>in</strong> wesentlicher Punkt <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Argumentation (siehe unten), daß ebendiese Empf<strong>in</strong>dungen immerauch ambivalenten Charakter haben (womit ich natürlich <strong>in</strong>direkt an Bauman anschließe). Es kommt jedoch sogarnoch e<strong>in</strong> weiterer Punkt h<strong>in</strong>zu, <strong>der</strong> sowohl für Adorno, wie auch für Bloch und Castoriadis gilt: Ihr Subjekt ist e<strong>in</strong>von vorne here<strong>in</strong> soziales Subjekt, d.h. +das Subjekt, von dem wir reden, ist […] nicht das abstrakte Moment <strong>der</strong>philosophischen Subjektivität, son<strong>der</strong>n das durch und durch von <strong>der</strong> Welt und den an<strong>der</strong>en geprägte wirkliche Subjekt*(Gesellschaft als imag<strong>in</strong>äre Institution; S. 181). Dies führt zu e<strong>in</strong>er Sicht, die zwar die (sozialen) Deformationen desSubjekts aufzeigt. +Daher kann es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em absoluten S<strong>in</strong>ne auch ke<strong>in</strong>e dem Subjekt ›eigene Wahrheit‹ geben. Dieeigene Wahrheit des Subjekts ist immer Teilhabe an <strong>der</strong> Wahrheit, die es überschreitet, weil sie letztlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaftund <strong>der</strong> Geschichte wurzelt […]* (Ebd.) Diese E<strong>in</strong>schätzung bietet aber me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach ke<strong>in</strong>en +wirklichen*Ansatzpunkt für utopische Transzendenz, die sich – da sie ihrem Charakter nach eben genau nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Faktizitätdes Sozialen liegen kann – aus dem s<strong>in</strong>gulären Subjekt speisen muß, das im reflexiven Bezug auf die an<strong>der</strong>en und


100 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEdie Welt zu sich und se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>neren Vielheit f<strong>in</strong>det und erst damit zu e<strong>in</strong>er dem +Wi<strong>der</strong>spruch* Raum gebendenÜberschreitung ansetzen kann.7. Dabei beziehe ich mich freilich auch auf Adorno. Allerd<strong>in</strong>gs ist bei ihm Nichtidentität (siehe oben) primär gegenden äußeren Identitätszwang gerichtet und bedeutet weniger, wie im Buddhismus, e<strong>in</strong> nach <strong>in</strong>neren gerichtetes Bewußtse<strong>in</strong>,daß es ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>heitlichen Selbstkern gibt (siehe unten).8. Die buddhistische Vorstellung des Nicht-Ich unterscheidet sich also von jener Fichtes, <strong>der</strong> dem Ich das Nicht-Ichnegativ entgegengesetzt und beide im Absoluten auflöst, anstatt das Ich zu dekonstruieren (vgl. Grundlage <strong>der</strong> gesamtenWissenschaftslehre; § 2, Punkt 9). Der buddhistischen Vorstellung (des Mittleren Wegs) schon näher steht dagegenHusserl, <strong>der</strong> bemerkt: +›Ich b<strong>in</strong>‹. Aber dieses Ich (ego) ist ke<strong>in</strong> Gegenstand im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Realität. Ich f<strong>in</strong>de mich alsIchpol, als Zentrum von Affektionen und Aktionen […] Eidetisch sehe ich aber e<strong>in</strong>, dass ich als Pol nicht denkbarb<strong>in</strong> ohne e<strong>in</strong>e reale Umgebung. Das Ich ist nicht denkbar ohne e<strong>in</strong> Nicht-Ich […]* (Die Transzendenz des Alter Egogegenüber <strong>der</strong> Transzendenz des D<strong>in</strong>ges; S. 244) Auch Husserl schließt damit aber (negativ) an Kants transzendentalphilosophischesIch-Konzept an, das davon ausgeht, daß +ke<strong>in</strong>e Erkenntnis von mir wie ich b<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n bloß wieich mir selbst ersche<strong>in</strong>e* möglich ist (Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft; § 25), da e<strong>in</strong> beständiges Ich nur gedacht, niemalsaber (selbst) erfahren werden kann – trotzdem aber e<strong>in</strong>e für jede Erfahrung notwendige, d.h. transzendentale Vorstellung/Ideeist (vgl. ebd.). Sartre wie<strong>der</strong>um betrachtet das (Nichts des) Ego, <strong>in</strong> Abgrenzung zu Husserl/Kant und anHeideggers Existenz-Philosophie angelehnt, als außerhalb des Bewußtse<strong>in</strong> stehendes Seiendes: +Es ist außerhalb, <strong>in</strong><strong>der</strong> Welt; es ist e<strong>in</strong> Se<strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt […]* (Die Transzendenz des Ego; S. 39).9. Die Vorstellung e<strong>in</strong>es +wesenhaften* Se<strong>in</strong>s beruht laut N)ag)arjuna auf bloßen Konventionen und an die Stelle <strong>der</strong>strengen Kausalität tritt bei ihm (wie im Buddhismus üblich) das +bed<strong>in</strong>gte Entstehen* (prat)itya-samutp)ada), d.h. esgibt zwar notwendige Bed<strong>in</strong>gungen (für das Handeln), die allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e notwendigen, son<strong>der</strong>n nur kont<strong>in</strong>genteFolgen haben.10. In <strong>der</strong> buddhistischen Lehre wird stets betont, daß auch das Bewußtse<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e eigenständige, (vom Körper und<strong>der</strong> Außenwelt) unabhängige Instanz ist, denn z.B. +nur <strong>in</strong> Abhängigkeit von e<strong>in</strong>em Auge […] und von Formen […]entsteht e<strong>in</strong> Sehbewußtse<strong>in</strong> […]* (zitiert nach Glasenapp: Die Philosophie <strong>der</strong> In<strong>der</strong>; S. 311 [ohne Quellenangabe]).11. In diesem bereits oben zitierten Band (siehe S. 352) stellen Varela und Thompson nicht nur die Ähnlichkeitenzwischen <strong>der</strong> Kognitionstheorie des Radikalen Konstruktivismus heraus, son<strong>der</strong>n betonen explizit die eigenständige+Wahrheit* <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> meditativen +Introspektion* beruhenden (empirischen) Erkenntnisse des Buddhismus.12. In <strong>der</strong> +Grammatologie* (1967) heißt es: +Die Dekonstruktion hat notwendigerweise von <strong>in</strong>nen her zu operieren,sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel <strong>der</strong> alten Strukturen zu bedienen […]* (S. 45) Erst <strong>in</strong>dieser aus dem Innen heraus erfolgenden Dekonstruktion wird die immanente Differenz freigelegt.13. Freud spricht <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch von e<strong>in</strong>er Kränkung des Narzißmus des mo<strong>der</strong>nen Selbst durchdie E<strong>in</strong>sicht <strong>der</strong> Psychoanalyse, daß das Ich +nicht Herr sei <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em eigenen Haus* (zitiert nach Lohmann: Freudzur E<strong>in</strong>führung; S. 46).14. Zizek wendet sich hier (übrigens an Lacan angelehnt) gegen die postmo<strong>der</strong>nen, dekonstruktivistischen Hetzjagdenauf das Cartesiansische Subjekt, dessen (begehrliche und damit subversive) Subjektivität e<strong>in</strong> wichtiges Element vonWi<strong>der</strong>ständigkeit darstellt.15. Die Rolle <strong>der</strong> (sexuellen) Triebkräfte im sozialen Kontext hob <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Herbert Marcuse hervor (vgl. Triebstrukturund Gesellschaft; S. 195ff.). Auch neuere Ansätze gehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ähnliche Richtung. So bemerk Terry Eagleton: +Thereis no reason to suppose that a denial of the <strong>in</strong>f<strong>in</strong>ite plasticity of human be<strong>in</strong>gs […] entails an assertion of their rigidunalterability. No necessarry comfort is given by this belief to the various reactionary brands of biologism […] Paradoxically,a certa<strong>in</strong> open-endedness and transformability is part of our natures, built <strong>in</strong>to what we are […] But such […] self-make<strong>in</strong>gis carried out with<strong>in</strong> given limits, which are f<strong>in</strong>ally those of the body itself.* (The Ideology of the Aesthetic; S. 409f.)Aufgrund dieser Limitierungen besitzt gerade das Körperliche e<strong>in</strong> politisches (Wi<strong>der</strong>stands-)Potential (vgl. auch dieBeiträge <strong>in</strong> Ryan: Body Politics). Allerd<strong>in</strong>gs geht es mir hier nicht um das utopisch-politische Potential alle<strong>in</strong>e desKörperlichen, son<strong>der</strong>n ich beziehe mich auf die gesamten Wi<strong>der</strong>standspotentiale des (reflexiven) Subjekts, das Köperund Bewußtse<strong>in</strong> ist – und auch auf <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sebene gibt es Grenzen <strong>der</strong> Verformbarkeit sowie (ambivalente)Empf<strong>in</strong>dungen, die nicht dauerhaft abgelenkt werden können (o<strong>der</strong> aber dann zu +Deformationen* führen).


A: ANMERKUNGEN 10116. Roma<strong>in</strong> Rolland, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong>tensiv mit dem H<strong>in</strong>duismus ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt hat, beschreibt das +ozeanische* Verlangennach Entgrenzung freilich primär als Basis <strong>der</strong> religiösen Orientierung (vgl. Freud: Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur; S.65f.). E<strong>in</strong> tatsächlich dialektisch dem Streben nach Selbstbehauptung entgegengesetzter (bzw. diesen ergänzen<strong>der</strong>)+Sozialtrieb* wird erst von Fromm gedacht, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> grundsätzliches Bedürfnis des Menschen sieht, +auf die Welt außerhalbse<strong>in</strong>er selbst bezogen zu se<strong>in</strong>* (vgl. Die Furcht vor <strong>der</strong> Freiheit; S. 20).17. Ricœur spielt im Titel auf e<strong>in</strong>e Sentenz von Rimbaud an (+Je est un autre*). Wie aus <strong>der</strong> im Selbst verwurzeltenAn<strong>der</strong>sheit so etwas wie e<strong>in</strong> sozialer bzw. +ethischer* Bezug entstehen kann, hat neben Ricœur auch Bernhard Waldensfels(<strong>in</strong> Anlehnung an die phänomenologische Philosophie von Husserl und Merleau-Ponty) dargelegt: +Die An<strong>der</strong>sheitdes An<strong>der</strong>en und <strong>der</strong> An<strong>der</strong>en ist angelegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> An<strong>der</strong>sheit e<strong>in</strong>es Selbst, das sich selbst <strong>in</strong> zeitlicher Diastase immerschon vorweg ist und niemals <strong>in</strong> <strong>der</strong> re<strong>in</strong>enGegenwart mit sich selbst ko<strong>in</strong>zidiert.* (Der Stachel des Fremden; S. 77)So s<strong>in</strong>d Eigenes und Fremdes schon immer (und durchaus auch körperlich-leiblich, im Rahmen <strong>der</strong> lebensweltlichenPraktiken) <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verflochten und +bedeuten* (gegenseitige) Verantwortung (vgl. ebd.; S. 76ff.).18. Dergestalt läßt sich Kont<strong>in</strong>genz <strong>in</strong> Anlehnung an die aristotelische Unterscheidung zwischen <strong>der</strong> mit Notwendigkeitbestehenden, unverän<strong>der</strong>lichen Substanz und <strong>der</strong> nur Möglichkeitscharakter besitzenden und durch Zufälligkeit geprägtenAkzidens bestimmen (vgl. z.B. Metaphysik; Buch XI, Kap. 8) – wobei allerd<strong>in</strong>gs Kant auf den re<strong>in</strong> transzendentalen(also vernunftgemäß abgeleiteten) Charakter des Notwendigen h<strong>in</strong>weist (vgl. Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft; TranszendentaleDialektik, Drittes Hauptstück sowie ergänzend Wetz: Die Begriffe ›Zufall‹ und ›Kont<strong>in</strong>genz‹; S. 27ff.).19. In ähnlicher Weise äußert sich auch Makropoulos (vgl. Kont<strong>in</strong>genz und Handlungsraum).20. In <strong>der</strong> <strong>in</strong>dischen Mythologie wird <strong>in</strong> geradezu +astronomischen* Zeitdimensionen gedacht: E<strong>in</strong> Maha) -Yuga (großesZeitalter) umfaßt <strong>in</strong>sgesamt 12.000 Götterjahre, wobei e<strong>in</strong> Götterjahr 360 Jahren entspricht. E<strong>in</strong> Tag Brahma) s (Kalpa),also des h<strong>in</strong>duistischen Weltenschöpfers, besteht aus 1.000 Maha) -Yugas. Ist e<strong>in</strong> Kalpa vorüber, so kommt es zu e<strong>in</strong>erzwischenzeitlichen Auflösung <strong>der</strong> Welt, <strong>der</strong> sich e<strong>in</strong>e Nacht Brahma) s anschließt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Welt im Ruhezustandverweilt. Doch auch e<strong>in</strong> Brahma) ist sterblich: Nach 1.000 Brahma) -Jahren (ca. 3 Billionen Jahre) kommt es zur +großenAuflösung* und e<strong>in</strong> neuer Zyklus von Werden und Vergehen beg<strong>in</strong>nt (vgl. Keilhauer: H<strong>in</strong>duismus; S. 62ff.). Aufgrundsolcher Dimensionen und des zyklischen Zeitverständnisses ist es verständlich, daß konkrete Zeitangaben <strong>in</strong> <strong>der</strong> klassischen<strong>in</strong>dischen Literatur kaum erfolgen, so daß die historische E<strong>in</strong>ordnung oft schwerfällt.21. In § 6 bemerkt Kant deshalb: +Die Zeit ist nicht etwas, was für sich bestünde, o<strong>der</strong> den D<strong>in</strong>gen als objektiveBestimmung anh<strong>in</strong>ge […] Wenn wir von unsrer Art, uns selbst <strong>in</strong>nerlich anzuschauen, und vermittelst dieser Anschauungauch [von] alle[n] äußere[n] Anschauungen […] abstrahieren, und mith<strong>in</strong> die Gegenstände nehmen, so wie sie se<strong>in</strong>mögen, so ist die Zeit nichts. Sie ist nur von objektiver Gültigkeit <strong>in</strong> Ansehung <strong>der</strong> Ersche<strong>in</strong>ungen […] Die Zeit istalso lediglich e<strong>in</strong>e subjektive Bed<strong>in</strong>gung unserer (menschlichen) Anschauung […]*22. Husserl begründet die angenommene Intersubjektivität <strong>der</strong> Zeit mit <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fühlenden, im sozialen Verständigungsprozeßvorgenommenen reziproken Vergegenwärtigung <strong>der</strong> je subjektiven Zeithorizonte – ohne allerd<strong>in</strong>gs damit e<strong>in</strong>e objektive,Subjekt-unabhängige Zeit zu postulieren (vgl. auch Konstitution <strong>der</strong> Intermonadischen Zeit).23. In diesem Band leistet Nassehi unter soziologischem Blickw<strong>in</strong>kel zusätzlich e<strong>in</strong>en Überblick über die historischeEntwicklung <strong>der</strong> Zeit-Konzepte, an <strong>der</strong> auch ich mich – neben <strong>der</strong> Darstellung von Lucia Stanko und Jürgen Ritsert(vgl. Zeit als Kategorie <strong>der</strong> Sozialwissenschaften) – mit me<strong>in</strong>en obigen Bemerkungen orientierte.24. Man kann sich also theoretisch auch frei fühlen, wenn es nur e<strong>in</strong>e Möglichkeit gibt. An<strong>der</strong>erseits ist es plausibel,daß mit <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> objektiven Möglichkeiten, auch die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit steigt, daß Individuen sich subjektivfrei fühlen. +Kont<strong>in</strong>gente Gesellschaften*, also Gesellschaften die e<strong>in</strong>en großen Raum <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz für das <strong>in</strong>dividuelleHandeln offen halten, haben deshalb bessere strukturelle Voraussetzungen für das Empf<strong>in</strong>den von Freiheit.


B: LITERATURVERZEICHNIS


104 POLITIK IN DER (POST-)MODERNELITERATURVERZEICHNIS:• Abramson, Lyn Y./Seligman, Mart<strong>in</strong> E./Teasdale, John D.: Learned Helplessness <strong>in</strong> Humans – Critique andReformulation. In: Journal of Abnormal Psychology. Vol 87, No. 1 (1978), S. 49–74• Ach<strong>in</strong>ger, Hans: Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik – Von <strong>der</strong> Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat. Deutscher Vere<strong>in</strong>für öffentliche und private Fürsorge, Frankfurt 1971• Adam, Barbara: Timescapes of Mo<strong>der</strong>nity – The Environment and Invisible Hazards. Routledge, London/NewYork 1998• Adomeit, Klaus: Antike Denker über den Staat – E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die politische Philosophie. Decker’s Verlag,Hamburg 1982• Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Suhrkamp, Frankfurt 1973• Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Suhrkamp, Frankfurt 1966• Adorno, Theodor W.: Jargon <strong>der</strong> Eigentlichkeit – Zur deutschen Ideologie. Suhrkamp, Frankfurt 1967• Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter. Suhrkamp, Frankfurt 1973• Adorno, Theodor W.: Soziologie und empirische Forschung. In: Ders. u.a. (Hg.): Der Positivismusstreit <strong>in</strong> <strong>der</strong>deutschen Soziologie. S. 81–101• Adorno, Theodor W. u.a. (Hg.): Der Positivismusstreit <strong>in</strong> <strong>der</strong> deutschen Soziologie. Deutscher Taschenbuch Verlag,München 1993• Agassi, Joseph: Cultural Lag <strong>in</strong> Science. In: Ders.: Science and Society. S. 119–131• Agassi, Joseph: Science and Society – Studies <strong>in</strong> the Sociology of Science. D. Reidel Publish<strong>in</strong>g Company,Dordrecht/Boston/London 1981• Agentur Bilwet: The Digital Society and Its Enemies. In: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien und Öffentlichkeit. S.361–366• Åkermann, Sune/Granatste<strong>in</strong>, Jack L. (Hg.): Welfare States <strong>in</strong> Trouble – Historical Perspectives on Canada andSweden. Swedish Science Press, Uppsala 1995• Alberts, Jörg (Hg.): Aufklärung und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – 200 Jahre nach <strong>der</strong> französischen Revolution das Ende allerAufklärung? Freie Akademie, Berl<strong>in</strong> 1991• Albrecht, Ulrich/Altvater, Elmar/Krippendorf, Ekkehart (Hg.): Was ist und zu welchem Ende betreiben wir <strong>Politik</strong>wissenschaft?Westdeutscher Verlag, Opladen 1989• Albrow, Mart<strong>in</strong>: The Global Age – State and Society Beyond Mo<strong>der</strong>nity. Polity Press, Cambridge 1996• Albrow, Mart<strong>in</strong>/K<strong>in</strong>g, Elizabeth (Hg.): Globalization, Knowledge and Society – Read<strong>in</strong>gs from International Sociology.Sage Publications, London/Newbury Park/New Delhi 1990• Alemann, Ulrich: Grundbegriffe und Entwicklungsstufen <strong>der</strong> Technikgesellschaft. In: Ders./Schatz, Heribert/Simonis,Georg (Hg.): Gesellschaft – Technik – <strong>Politik</strong>. S. 9–33• Alemann, Ulrich/Schatz, Heribert/Simonis, Georg (Hg.): Gesellschaft – Technik – <strong>Politik</strong>: Perspektiven <strong>der</strong>Technikgesellschaft. Leske+Budrich, Opladen 1989• Alföldy, Géza: Römische Sozialgeschichte. Franz Ste<strong>in</strong>er Verlag, Wiesbaden 1984• Allen, John/Braham, Peter/Lewis, Paul (Hg.): Political and Economic Forms of Mo<strong>der</strong>nity. Polity Press, Cambridge/-Oxford 1993• Almond, Gabriel A./Verba, Sidney: The Civic Culture – Political Attitudes and Democracy <strong>in</strong> Five Nations. Pr<strong>in</strong>cetonUniversity Press, Pr<strong>in</strong>ceton 1963• Alper, Tikvah et al.: Does the Agent of Scrapie Replicate without Nucleic Acid? In: Nature. Vol. 214 (1967), S.764ff.• Altheide, David L./Snow, Robert P.: Toward a Theory of Mediation. In: Communication Yearbook. Vol. 11 (1988),S. 194–223• Althusser, Louis: Die Krise des Marxismus. VSA-Verlag, Hamburg 1978• Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. In: Ders.: Marxismus und Ideologie. S. 111–172• Althusser, Louis: Marxismus und Ideologie. VSA-Verlag, Berl<strong>in</strong> 1973• Althusser, Louis: Über die Krise des Marxismus. In: Ders.: Die Krise des Marxismus. S. 53–68• Altrichter, Helmut: Kle<strong>in</strong>e Geschichte <strong>der</strong> Sowjetunion: 1917–1991. Verlag C. H. Beck, München 1993• Altvater, Elmar: Sachzwang Weltmarkt – Verschuldungskrise, blockierte Industrialisierung und ökologische Gefährdung:Der Fall Brasilien. VSA-Verlag, Hamburg 1987• Altvater, Elmar: Wettlauf ohne Sieger – Politische Gestaltung im Zeitalter <strong>der</strong> Geo-Ökonomie. In: Blätter für deutscheund <strong>in</strong>ternationale <strong>Politik</strong>. Heft 2/1995, S. 192–202• Altvater, Elmar/Mahnkopf, Brigitte: Grenzen <strong>der</strong> Globalisierung – Ökonomie, Ökologie und <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weltgesellschaft.Westfälisches Dampfboot, Münster 1997• Alworth, Julian S./Turner, Philip: The Global Patterns of Capital Flows <strong>in</strong> the 1980s. In: Siebert, Horst (Hg.): CapitalFlows <strong>in</strong> the World Economy. S. 121–157


B: LITERATURVERZEICHNIS 105• Am<strong>in</strong>, Samir: L’échange <strong>in</strong>égal et la loi de la valeur. Anthropos, Paris 1988• An<strong>der</strong>s, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. 2 Bände, Verlag C. H. Beck, München 1980• An<strong>der</strong>son, Benedict: Die Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Nation – Zur Karriere e<strong>in</strong>es erfolgreichen Konzepts. Campus, Frankfurt1988• Angehrn, Emil: Geschichtsphilosophie. Kohlhammer, Stuttgart/Berl<strong>in</strong>/Köln 1991• Angermüller, Johannes: <strong>Post</strong>Mo<strong>der</strong>ne zwischen Theorie und Kultur. In: Ders./N<strong>in</strong>hoff (Hg.): <strong>Post</strong>Mo<strong>der</strong>ne Diskursezwischen Sprache und Macht. S. 7–22• Angermüller, Johannes/Nonhoff, Mart<strong>in</strong> (Hg.): <strong>Post</strong>Mo<strong>der</strong>ne Diskurse zwischen Sprache und Macht. ArgumentVerlag, Hamburg/Berl<strong>in</strong> 1999• Appadurai, Arjun: Disjuncture and Difference <strong>in</strong> the Global Cultural Economy. In: Featherstone, Mike (Hg.): GlobalCulture. S. 295–310• Archer, Clive: International Organizations. George Allen & Unw<strong>in</strong>, Boston/Sidney 1983• Arendt, Hannah: Benjam<strong>in</strong>, Brecht – Zwei Essays. Piper, München 1971• Arendt, Hannah: Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem – E<strong>in</strong> Bericht von <strong>der</strong> Banalität des Bösen. Piper, München/Zürich 1986• Arendt, Hannah: Über die Revolution. Piper, München 1965• Arendt, Hannah: Vita activa o<strong>der</strong> vom tätigen Leben. Piper, München 1960• Arenhoevel, Diego/Deissler, Alfons/Vögtle, Anton (Hg.): Die Bibel – Die Heilige Schrift des alten und neuen Bundes:Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen <strong>der</strong> Jerusalemer Bibel. Her<strong>der</strong>, Freiburg 1968• Aristoteles: Metaphysik. Reclam, Stuttgart 1993• Aristoteles: Nikomachische Ethik. Reclam, Stuttgart 1994• Aristoteles: Organon. 2 Bände, Felix Me<strong>in</strong>er Verlag, Hamburg 1997• Aristoteles: Physik. 2 Bände, Felix Me<strong>in</strong>er Verlag, Hamburg 1987/88• Aristoteles: <strong>Politik</strong>. Reclam, Stuttgart 1993• Arm<strong>in</strong>geon, Klaus/Blum, Roger (Hg.): Das öffentliche Theater – <strong>Politik</strong> und Medien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Demokratie. VerlagPaul Haupt, Bern/Stuttgart/Wien 1995• Arndt, Andreas: Dialektik und Reflexion – Zur Rekonstruktion des Vernunftnegriffs. Felix Me<strong>in</strong>er Verlag, Hamburg1994• Arney, William R.: Experts <strong>in</strong> the Age of Systems. University of Mexico Press, Albuquerque 1991• Aronwitz, Stanley: Science as Power – Discours and Ideology <strong>in</strong> Mo<strong>der</strong>n Scoience. University of M<strong>in</strong>nesota Press,M<strong>in</strong>eapolis 1988• Arrighi, Giovanni: The Long Twentieth Century – Money, Power, and the Orig<strong>in</strong>s of Our Time. Verso, London/NewYork 1994• Asp<strong>in</strong>wall, Mark: The Unholy Social Tr<strong>in</strong>ity – Modell<strong>in</strong>g Social Dump<strong>in</strong>g un<strong>der</strong> Conditions of Capital Mobility andFree Trade. In: West European Politics. Heft 1/1996, S. 125–150• August<strong>in</strong>us, Aurelius: Vom Gottesstaat. 2 Bände, Artemis, Zürich/München 1978• Aust<strong>in</strong>, Michel/Vidal-Naquet, Pierre: Gesellschaft und Wirtschaft im alten Griechenland. Verlag C. H. Beck, München1984• Bachelard, Gaston: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes – Beitrag zu e<strong>in</strong>er Psychoanalyse <strong>der</strong> objektivenErkenntnis. Suhrkamp, Frankfurt 1984• Bachelard, Gaston: La philosophie du non – Essai d’une philosophie du nouvel esprit scientifique. Presses Universitairesde France, Paris 1949• Bacon, Francis: Neues Organon (Novum Organum). Felix Me<strong>in</strong>er Verlag, Hamburg 1990• Baecker, Dirk: Oszillierende Öffentlichkeit. In: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien und Öffentlichkeit. S. 89–107• Bakun<strong>in</strong>, Michail: Die Aufstellung <strong>der</strong> Revolutionsfrage. In: Stuke, Horst (Hg.): Staatlichkeit und Anarchie undan<strong>der</strong>e Schriften. S. 95–99• Bakun<strong>in</strong>, Michail: Staatlichkeit und Anarchie. In: Stuke, Horst (Hg.): Staatlichkeit und Anarchie und an<strong>der</strong>e Schriften.S. 417–656• Bandura, Albert: Self-Efficacy – Toward a Unify<strong>in</strong>g Theory of Behavioral Change. In: Psychological Review. Heft2, Vol. 84 (1977), S. 191–215• Barnes, Barry: The Nature of Power. University of Ill<strong>in</strong>ois Press, Urbana and Chicago 1988• Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Suhrkamp, Frankfurt 1996• Barton, John H.: Beh<strong>in</strong>d the Legal Explosion. In: Stanford Law Review. Vol. 27 (1974/75), S. 567–584• Baudrillard, Jean: Agonie des Realen. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1978• Baudrillard, Jean: Das An<strong>der</strong>e selbst. Edition Passagen, Wien 1987• Baudrillard, Jean: Der Symbolische Tausch und <strong>der</strong> Tod. Matthes & Seitz Verlag, München 1982• Baudrillard, Jean: Die <strong>fatal</strong>en Strategien. Matthes & Seitz, München 1985


106 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Baudrillard, Jean: Die Simulation. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. S. 153–162• Baudrillard, Jean: Videowelt und fraktales Subjekt. In: Ders. u.a. (Hg.): Philosophien <strong>der</strong> neuen Technologie. S.113–131• Baudrillard, Jean u.a.: Der Tod <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – E<strong>in</strong>e Diskussion. Konkursbuchverlag, Tüb<strong>in</strong>gen 1983• Baudrillard, Jean u.a. (Hg.): Philosophien <strong>der</strong> neuen Technologie. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1989• Bauman, Zygmunt: Ansichten <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Argument-Verlag, Hamburg/Berl<strong>in</strong> 1995• Bauman, Zygmunt: Is There a <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Sociology? In: Featherstone, Mike (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. S. 217–237• Bauman, Zygmunt: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Ethics. Blackwell, Oxford/Cambridge 1993• Bauman, Zygmunt: Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz. In: Bielefeld, Uli (Hg.): Das Eigene und das Fremde. S. 23–49• Bauman, Zygmunt: Mo<strong>der</strong>ne und Ambivalenz – Das Ende <strong>der</strong> E<strong>in</strong>deutigkeit. Junius, Hamburg 1992• Bauman, Zygmunt: Schwache Staaten – Globalisierung und die Spaltung <strong>der</strong> Weltgesellschaft. In: Beck, Ulrich(Hg.): K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit. S. 315–332• Baumgarten, Alexan<strong>der</strong> G.: Aesthetica. Jos. Laterza et Filios, Bari 1936• Bayer, Erich: Griechische Geschichte. Kröner, Stuttgart 1977• Bechmann, Gotthard/Rammert, Werner (Hg.): Technik und Gesellschaft – Jahrbuch 6: Großtechnische Systemeund Risiko. Campus, Frankfurt/New York 1992• Beck, Re<strong>in</strong>hart: Sachwörterbuch <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Kröner, Stuttgart 1986• Beck, Ulrich: Das Zeitalter <strong>der</strong> Nebenfolgen und die Politisierung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. In: Ders./Giddens, Anthony/Lash,Scott: Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung. S. 19–112• Beck, Ulrich: Die Erf<strong>in</strong>dung des Politischen – Zu e<strong>in</strong>er Theorie reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung. Suhrkamp, Frankfurt1993• Beck, Ulrich: Die Welt als Labor. In: Ders. (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft. S. 154–166• Beck, Ulrich: Der Konflikt <strong>der</strong> zwei Mo<strong>der</strong>nen. In: Zapf, Wolfgang (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>nisierung mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften.S. 40–53• Beck, Ulrich: Eigenes Leben – Skizzen zu e<strong>in</strong>er biographischen Gesellschaftsanalyse. In: Ders./Vossenkuhl, Wilhelm/-Ziegler, Ulf E.: Eigenes Leben. S. 9–174• Beck, Ulrich: Gegengifte – Die organisierte Unverantwortlichkeit. Suhrkamp, Frankfurt 1988• Beck, Ulrich: Jenseits von Stand und Klasse. In: Kreckel, Re<strong>in</strong>hard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. S. 35–74• Beck, Ulrich: Kapitalismus ohne Arbeit. In: Der Spiegel. Heft 20/1996, S. 140–146• Beck, Ulrich: Modell Bürgerarbeit. In: Ders. (Hg.): Schöne neue Arbeitswelt. S. 7–189• Beck, Ulrich: Renaissance des Politischen – o<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche des Konservatismus. In: Leggewie, Claus (Hg.):Wozu <strong>Politik</strong>wissenschaft? S. 34–46• Beck, Ulrich: Risikogesellschaft – Auf dem Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Mo<strong>der</strong>ne. Suhrkamp, Frankfurt 1986• Beck, Ulrich: Ursprung als Utopie – Politische Freiheit als S<strong>in</strong>nquelle <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. In: Ders.: K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit.S. 382–401• Beck, Ulrich: Väter <strong>der</strong> Freiheit. In: Ders. (Hg.): K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit. S. 333–381• Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung? Suhrkamp, Frankfurt 1997• Beck, Ulrich: Wissen o<strong>der</strong> Nicht-Wissen? – Zwei Perspektiven ›reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung‹. In: Ders./Giddens,Anthony/Lash, Scott: Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung. S. 289–315• Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos <strong>der</strong> Liebe. Suhrkamp, Frankfurt 1990• Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Individualisierung <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversene<strong>in</strong>er subjektorientierten Soziologie. In: Dies. (Hg.): Riskante Freiheiten. S. 10–39• Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang: Soziologie und Mo<strong>der</strong>nisierung – Zur Ortsbestimmung <strong>der</strong> Verwendungsforschung.In: Soziale Welt. Jahrgang 1984, S. 381–406• Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang: Verwissenschaftlichung ohne Aufklärung? – Zum Strukturwandel von Sozialwissenschaftund Praxis. In: Dies. (Hg.): We<strong>der</strong> Sozialtechnologie noch Aufklärung. S. 7–45• Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott: Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung – E<strong>in</strong>e Kontroverse. Suhrkamp, Frankfurt1996• Beck, Ulrich/Vossenkuhl, Wilhelm/Ziegler, Ulf E.: Eigenes Leben – Ausflüge <strong>in</strong> die unbekannte Gesellschaft, <strong>in</strong><strong>der</strong> wir leben. Verlag C. H. Beck, München 1995• Beck, Ulrich (Hg.): K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit. Suhrkamp, Frankfurt 1997• Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven <strong>der</strong> Weltgesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1998• Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft – Essays und Analysen. Suhrkamp, Frankfurt 1991• Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Globalisierung. Suhrkamp, Frankfurt 1998• Beck, Ulrich (Hg.): Schöne neue Arbeitswelt – Vision: Weltbürgergesellschaft. Campus, Frankfurt/New York 1999• Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. Suhrkamp, Frankfurt 1994• Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang (Hg.): We<strong>der</strong> Sozialtechnologie noch Aufklärung? – Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichenWissens. Suhrkamp 1989


B: LITERATURVERZEICHNIS 107• Becker, Kar<strong>in</strong>: Politisch-gesellschaftliche Dimensionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – E<strong>in</strong> Beitrag zum Wandel des Grundsätzlichenim Lichte und Medium von Zeitkritik. Verlag Friel<strong>in</strong>g & Partner, Berl<strong>in</strong> 1992• Becker, Werner: Idealistische und materialistische Dialektik – Das Verhältnis von ›Herrschaft und Knechtschaft‹bei Hegel und Marx. Kohlhammer, Stuttgart u.a. 1970• Becker, Werner/Essler, Wilhelm K. (Hg.): Konzepte <strong>der</strong> Dialektik. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 1981• Beermann, Wilhelm: Luhmanns Autopoiesisbegriff – ›or<strong>der</strong> from noise‹? In: Fischer, Hans R. (Hg.): Autopoiesis.S. 243–262• Beham, Mira: Kriegstrommeln – Medien, Krieg und <strong>Politik</strong>. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1996• Bell, Daniel: Die kulturellen Wi<strong>der</strong>sprüche des Kapitalismus. Campus, Frankfurt/New York 1991• Bell, Daniel: Die nach<strong>in</strong>dustrielle Gesellschaft. Campus, Frankfurt/New York 1975• Bell, Daniel: The End of Ideology – On the Exhaustion of Political Ideas <strong>in</strong> the Fifties. The Free Press, New York1965• Benhabib, Seyla: Kritik des ›postmo<strong>der</strong>nen Wissens‹ – e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Jean-François Lyotard. In:Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. S. 103–127• Bentele, Günter/Rühl, Manfred (Hg.): Theorien öffentlicher Kommunikation – Problemfel<strong>der</strong>, Positionen, Perspektiven.Ölschläger, München 1993• Bentham, Jeremy: An Introduction to the Pr<strong>in</strong>cipals of Morals and Legislation. Hafner Publish<strong>in</strong>g Company, NewYork 1948• Benveniste, Guy: The Politics of Expertise. Boyd & Fraser Publish<strong>in</strong>g Company, San Fransico 1977• Berd<strong>in</strong>g, Helmuth (Hg.): Nationales Bewußtse<strong>in</strong> und kollektive Identität. Suhrkamp, Frankfurt 1994• Bereano, Philip L. (Hg.): Technology as a Social and Political Phenomenon. John Wiley & Sons, New York u.a.1976• Berger, Johannes (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>ne – Kont<strong>in</strong>uitäten und Zäsuren. Soziale Welt [Son<strong>der</strong>band 4], Verlag OttoSchwartz & Co., Gött<strong>in</strong>gen 1986• Berger, Peter A./Hradil, Stefan (Hg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. Soziale Welt [Son<strong>der</strong>band 7], VerlagOtto Schwarz & Co., Gött<strong>in</strong>gen 1990• Berger, Peter L./Berger, Brigitte/Kellner, Hansfried: Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nität. Campus, Frankfurt/NewYork 1987• Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion <strong>der</strong> Wirklichkeit – E<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong>Wissenssoziologie. Fischer, Frankfurt 1993• Bermbach, Udo/Kodalle, Klaus.-M. (Hg.): Furcht und Freiheit – Leviathan: Diskussion 300 Jahre nach ThomasHobbes. Westdeutscher Verlag, Opladen 1982• Bernste<strong>in</strong>, Richard J.: Beyond Objectivism and Relativism – Science, Hermeneutics, and Praxis. Blackwell, Oxford1983• Bernste<strong>in</strong>, Richard J. (Hg.): Habermas and Mo<strong>der</strong>nitiy. The MIT Press, Cambridge 1985• Beyme, Klaus: Theorie <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t – Von <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Suhrkamp, Frankfurt1992• Bhagwati, Jagdish: Geschützte Märkte – Protektionismus und Weltwirtschaft. Keip Verlag, Frankfurt 1990• Bhaskar, Roy: Dialectic – The Pulse of Freedom. Verso, London/New York 1993• Bhaskar, Roy: Reclaim<strong>in</strong>g Reality – A Critical Introduction to Contemporary Philosophy. Verso, London/New York1989• Bielefeld, Uli: Das Konzept des Fremden und die Wirklichkeit des Imag<strong>in</strong>ären. In: Ders. (Hg.): Das Eigene unddas Fremde. S. 97–128• Bielefeld, Uli (Hg.): Das Eigene und das Fremde – Neuer Rassismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Alten Welt? Junius, Hamburg 1992• Bienefeld, Manfred: Capitalism and the Nation State <strong>in</strong> the Dog Days of the Twentieth Century. In: Miliband,Ralph/Panitch, Leo (Hg.): Between Globalism and Nationalism. S. 94–129• Bijker, Wiebe E./Hughes, Thomas P./P<strong>in</strong>ch, Trevor J. (Hg.): The Social Construction of Technological Systems– New Directions <strong>in</strong> the Sociology and History of Technology. The MIT Press, Cambridge/London 1997• Bijker, Wiebe E./Law, John (Hg.): Shap<strong>in</strong>g Technology/Build<strong>in</strong>g Society – Studies <strong>in</strong> Sociotechnical Change. TheMIT Press, Cambridge/London 1992• Bischoff, Joachim: Globalisierung – Zur Analyse des Strukturwandels <strong>der</strong> Weltwirtschaft. Supplement zur Zeitschrift+Sozialismus*, Heft 1/1996• Blanke, Thomas: Zur Aktualität des Risikobegriffs – Über die Konstruktion <strong>der</strong> Welt und die Wissenschaft vonihr. In: Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft. S. 275–287• Blankenburg, Erhard/Lenk, Klaus: Organisation und Recht – Organisatorische Bed<strong>in</strong>gungen des Gesetzesvollzugs.Westdeutscher Verlag, Opladen 1980• Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie. Verlag Ferd<strong>in</strong>and Schön<strong>in</strong>gh, Pa<strong>der</strong>born u.a. 1986• Bloch, Ernst: Das Pr<strong>in</strong>zip Hoffnung. 3 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1985


108 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Bloch, Ernst: Geist <strong>der</strong> Utopie. Verlag Paul Cassierer, Berl<strong>in</strong> 1923• Bloch, Ernst: Naturrecht und menschliche Würde [Gesamtausgabe, Band 6]. Suhrkamp, Frankfurt 1977• Blüthmann, He<strong>in</strong>z/Reicherzer, Judith: Betrug leichtgemacht. In: Die Zeit. Ausgabe vom 29. August (Nr. 36) 1997,S. 21• Blumenwitz, Dieter: Verteidigungs- und Sicherheitspolitik – E<strong>in</strong> Streitfall für das Verfassungsgericht? In: Piazolo,Michael (Hg.): Das Bundesverfassungsgericht. S. 87–105• Blumer, Herbert: Social Movements. In: Lymann, Stanford M. (Hg.): Social Movements. S. 60–83• Blüthmann, He<strong>in</strong>z/Reicherzer, Judith: Betrug leichtgemacht – Die krim<strong>in</strong>ellen britischen R<strong>in</strong>dfleischexporte habenSystem. In: Die Zeit. Ausgabe vom 29. August (Nr. 36) 1997, S. 21f.• Bock, Michael: Die Bedeutung <strong>der</strong> Verrechtlichung für Person und Geme<strong>in</strong>schaft. Dietrich Reimer Verlag, Berl<strong>in</strong>1988• Bod<strong>in</strong>, Jean: Les six livres de la république. Scienta, Aalen 1961• Böhme, Gernot: Technische Zivilisation. In: Bechmann, Gotthard/Rammert, Werner (Hg.): Technik und Gesellschaft– Jahrbuch 6. S. 17–39• Böhret, Carl: Öffentliche Verwaltung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Demokratie. In: Ders.: <strong>Politik</strong> und Verwaltung. S. 11–27• Böhret, Carl: <strong>Politik</strong> und Verwaltung – Beiträge zur Verwaltungspolitologie. Westdeutscher Verlag, Opladen 1983• Bohnsack, Ralf/Marotzki, W<strong>in</strong>fred (Hg.): Biographieforschung und Kulturanalyse. Leske+Budrich, Opladen 1998• Bonito Oliva, Achille: Die italienische Trans-Avantgarde. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.S. 121–130• Bonito Oliva, Achille: Im Labyr<strong>in</strong>th <strong>der</strong> Kunst. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1982• Borchers, Detlef: Der Kampf um die Schlüsselgewalt. In: Die Zeit. Ausgabe vom 14. Juni 1996, S. 70• Borchert, Jürgen: Sozialstaat unter Druck. In: Universitas. Heft 598 (1996), S. 318–330• Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter. Ullste<strong>in</strong>, Frankfurt/Berl<strong>in</strong>/Wien 1973• Bosl, Karl: Die Gesellschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte des Mittelalters. Vandenhoeck & Ruprecht, Gött<strong>in</strong>gen 1987• Bourdieu, Pierre: Die fe<strong>in</strong>en Unterschiede – Kritik <strong>der</strong> gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt 1987• Bourdieu, Pierre: Die Praxis <strong>der</strong> reflexiven Anthropologie. In: Ders./Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie.S. 251–294• Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel Re<strong>in</strong>hard (Hg.): SozialeUngleichheiten. S. 183–198• Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft – Zur Theorie des Handelns. Suhrkamp, Frankfurt 1998• Bourdieu, Pierre: Sozialer S<strong>in</strong>n – Kritik <strong>der</strong> gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, Frankfurt 1987• Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie. Suhrkamp, Frankfurt 1996• Bouthoul, Gaston (Hg.): Staatsideen und politische Programme <strong>der</strong> Weltgeschichte. Cotta Verlag, Stuttgart 1967• Boyle, Godfrey/Elliott, David/Roy, Rob<strong>in</strong> (Hg.): The Politics of Technology. Longman, New York 1977• Bradley, Ray: Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy Distribution and Update on Some Transmission and Decontam<strong>in</strong>ationStudies. In: Gibbs, Clarence J. (Hg.): Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy. S. 11–27• Bradshaw, York W./Wallace, Michael: Global Inequalities. P<strong>in</strong>e Forge Press, Thousand Oaks/London/New Delhi1996• Brand, Karl-Werner: Kont<strong>in</strong>uität und Diskont<strong>in</strong>uität <strong>in</strong> den neuen sozialen Bewegungen. In: Roth, Roland/Rucht,Dieter (Hg.): Neue soziale Bewegungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland. S. 30–44• Brand, Karl-Werner: Neue soziale Bewegungen – E<strong>in</strong> neoromantischer Protest? Thesen zur historischen Kont<strong>in</strong>uitätund Diskont<strong>in</strong>uität <strong>der</strong> ›neuen sozialen Bewegungen‹. In: Wasmuth, Ulrike C. (Hg.): Alternativen zur alten <strong>Politik</strong>?S. 125–139• Brecher, Jeremy: NAFTA – Ökonomische Wie<strong>der</strong>belebung <strong>der</strong> USA. In: Hoffmann, Re<strong>in</strong>er/Wannöffel, Manfred(Hg.): Soziale und ökologische Sackgassen ökonomischer Globalisierung. S. 58–73• Breda, H. 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B: LITERATURVERZEICHNIS 109• Bromberg, Heather u.a. [Interrogate the Internet]: Contradictions <strong>in</strong> Cyberspace – Collective Response. In: Shields,Rob (Hg.): Cultures of Internet. S. 125–132• Bronfenbrenner, Urie: Die Ökologie <strong>der</strong> menschlichen Entwicklung – Natürliche und geplante Experimente. Klett-Cotta,Stuttgart 1981• Bronfenbrenner, Urie: Ökologische Sozialisationsforschung. Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1976• Bryden, P. E. /Oliver, Dean F.: Canada/Sweden – Welfare States <strong>in</strong> Trouble. In: Åkermann/Granatste<strong>in</strong> (Hg.):Welfare States <strong>in</strong> Trouble. S. 171–182• Brown, P./Gajdusek, D. C.: The Human Spongiform Encephalopathies – Kuru, Creutzdeldt-Jakob Disease, andthe Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker Syndrome. In: Chesebro, Bruce W. (Hg.): Transmissible Spongiform Encephalopathies.S. 1–20• Bruce, M. E./Fraser, H.: Scrapie Stra<strong>in</strong> Variation and Its Implications. 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110 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Castoriadis, Cornelius: Durchs Labyr<strong>in</strong>th – Seele, Vernunft, Gesellschaft. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt1981• Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imag<strong>in</strong>äre Institution – Entwurf e<strong>in</strong>er politischen Philosophie. Suhrkamp,Frankfurt 1984• Chapman, John W.: Rousseau – Totalitarian or Liberal? Columbia University Press, New York 1956• Chapman, Philip C.: Der Neukonservatismus – Kulturkritik gegen politische Philosophie. In: Schumann, Hans-Gerd(Hg.): Konservatismus. S. 355–369• Charta <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen. In: Opitz, Peter J./Rittberger, Volker (Hg.): Forum <strong>der</strong> Welt. S. 318–334• Charta <strong>der</strong> wirtschaftlichen Rechte und Pflichten <strong>der</strong> Staaten. In: Opitz, Peter J./Rittberger, Volker (Hg.): Forum<strong>der</strong> Welt. S. 360–368• Chesebro, Bruce W. 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B: LITERATURVERZEICHNIS 111• Dahrendorf, Ralf: Lebenschancen – Anläufe zur sozialen und politischen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt 1979• Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie <strong>in</strong> Deutschland. Piper, München 1968• Dahrendorf, Ralf: Wenn <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. In: Matthes, Joachim (Hg.): Krise <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft?S. 25–37• Dallemagne, Jean-Luc: Die Grenzen <strong>der</strong> Wirtschaftspolitik. Suhrkamp, Frankfurt 1975• Davies, John K.: Das klassische Griechenland und die Demokratie. Deutscher Taschenbuch Verlag, München1983• Dealler, Stephen: History of BSE. Internet: www.airtime.co.uk/bse/hist.htm• Delleuze, Gilles: Foucault. Suhrkamp, Frankfurt 1992• Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus – Kapitalismus und Schizophrenie I. Suhrkamp, Frankfurt 1977• Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Merve, Berl<strong>in</strong> 1977• Demandt, Alexan<strong>der</strong>: Antike Staatsformen – E<strong>in</strong>e vergleichende Verfassungsgeschichte <strong>der</strong> alten Welt. Akademie-Verlag,Berl<strong>in</strong> 1995• Demirovi ć, Alex: Freiheit o<strong>der</strong> die Dekonstruktion des Politischen. In: Georg-Lauer, Jutta (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>neund <strong>Politik</strong>. S. 121–143• D’Entrèves, Alexan<strong>der</strong> P.: The Medieval Contribution to Political Thought – Thomas Aqu<strong>in</strong>as, Marsilius of Padua,Richard Hooker. The Human Press, New York 1959• Derrida, Jacques: Cogito und Geschichte des Wahns<strong>in</strong>ns. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. S. 53–101• Derrida, Jacques: Die différance. In: Engelmann, Peter (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Dekonstruktion. S. 76–113• Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Suhrkamp. Frankfurt 1976• Derrida, Jacques: Gesetzeskraft – Der ›mystische Grund <strong>der</strong> Autorität‹. Suhrkamp, Frankfurt 1991• Derrida, Jacques: Grammatologie. Suhrkamp, Frankfurt 1983• Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster – Der Staat <strong>der</strong> Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Fischer,Frankfurt 1996• Descartes, René: Discours de la méthode – Von <strong>der</strong> Methode. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1960• Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen <strong>der</strong> Philosophie [Meditationes]. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg1959• Dettl<strong>in</strong>g, Warnfried: Die moralische Generation. In: Beck, Ulrich (Hg.): K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Freiheit. S. 124–130• Dettl<strong>in</strong>g, Warnfried: <strong>Politik</strong> und Lebenswelt – Von Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft. Verlag BertelsmannStiftung, Gütersloh 1995• Dettl<strong>in</strong>g, Warnfried: Utopie und Katastrophe – Die Demokratie am Ende des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. In: Weidenfeld,Werner (Hg.): Demokratie am Wendepunkt. S. 101–118• Dewey, John: Erfahrung und Natur. Suhrkamp, Frankfurt 1995• Dick<strong>in</strong>son, A. G./Outram, G. W.: Genetic Aspects of Unconventional Virus Infections – The Basis of the Vir<strong>in</strong>oHypothesis. In: Ciba Foundation Symposium. Vol. 135 (1988), S. 63–83• Diemer, Alw<strong>in</strong>: Dialektik. Econ Verlag, Düsseldorf/Wien 1976• Dierks, Walter: Der restaurative Charakter <strong>der</strong> Epoche. In: Schumann, Hans-Gerd (Hg.): Konservatismus. S. 262–275• Dimmel, Nikolaus/Noll, Alfred J. (Hg.): <strong>Politik</strong> und Recht – Beiträge zum Wechselverhältnis von Gesellschaft undRecht. 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S. 17–39• Doran, Charles F./H<strong>in</strong>z, Manfred O./Mayer-Tasch, Peter C. (Hg.): Umweltschutz – <strong>Politik</strong> des peripheren E<strong>in</strong>griffs.Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1974• Dreitzel, Hans-Peter: Sozialer Wandel – Zivilisation und Fortschritt als Kategorien <strong>der</strong> soziologischen Theorie.Luchterhand, Neuwied/Berl<strong>in</strong> 1967• Droz, Jacques (Hg.): Geschichte des Sozialismus. 16 Bände, Ullste<strong>in</strong>, Frankfurt/Berl<strong>in</strong>/Wien 1974–1989• Droz, Jacques: Die sozialistischen Utopien <strong>der</strong> Führen Neuzeit. In: Ders. (Hg.): Geschichte des Sozialismus. Band1, S. 112–129• Dubiel, Helmut: Metamorphosen <strong>der</strong> Zivilgesellschaft [Teil 1] – Selbstbegrenzung und reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung.In: Ders.: Ungewißheit und <strong>Politik</strong>. S. 67–105• Dubiel, Helmut: Ungewißheit und <strong>Politik</strong>. Suhrkamp, Frankfurt 1994• Duden: Deutsches Universallexikon A–Z. Dudenverlag, Mannheim/Wien/Zürich 1989


112 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Durkheim, Emile: Über die Teilung <strong>der</strong> sozialen Arbeit. Suhrkamp, Frankfurt 1977• Dürr, Hans-Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. 3 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1988–93• Dürr, Hans-Peter (Hg.): Authentizität und Betrug <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ethnologie. Suhrkamp, Frankfurt 1987• Eagleton, Terry: Die Illusionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 1997• Eagleton, Terry: The Ideology of the Aesthetic. Blackwell, Oxford/Cambridge 1990• Edelman, Murray: Construct<strong>in</strong>g the Political Spectacle. The University of Chicago Press, Chicago/London 1988• Edelman, Murray: <strong>Politik</strong> als Ritual. 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S. 366–384• Eisenstadt, Shmuel N.: Die Ant<strong>in</strong>omien <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – Die jakob<strong>in</strong>ischen Grundzüge <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne und des Fundamentalismus:Heterodoxien, Utopismus und Jakob<strong>in</strong>ismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konstitution fundamentalistischer Bewegungen.Suhrkamp, Frankfurt 1998• Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Suhrkamp, Frankfurt 1994• Eliade, Mircea: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit. Suhrkamp, Frankfurt 1985• Elias, Norbert: Über den Prozeß <strong>der</strong> Zivilisation – Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bände,Suhrkamp, Frankfurt 1976• Elias, Norbert: Über die Zeit. Suhrkamp, Frankfurt 1984• Elliot, Anthony: Subject to Ourselves – Social Theory, Psychoanalysis and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity. Polity Press, Cambridge/-Oxford 1996• Ellul, Jacques: The Technological Society. V<strong>in</strong>tage Books, New York 1964• Elm, Ludwig: Konservatismus heute – Internationale Entwicklungstrends konservativer <strong>Politik</strong> und Gesellschaftstheorien<strong>in</strong> den achtziger Jahren. Pahl-Rugenste<strong>in</strong> Verlag, Köln 1986• Elwert, Georg: Nationalismus und Ethnizität. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Heft 3/1989,S. 440–464• Emmanuel, Arghiri: L’échange <strong>in</strong>égal – Essai sur les antagonismes dans les rapports éonomiques <strong>in</strong>ternationaux.Librairie François Maspero, Paris 1969• Engelmann, Peter (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Dekonstruktion – Texte französischer Philosophen <strong>der</strong> Gegenwart. Reclam,Stuttgart 1990• Engelmann, Peter: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Dekonstruktion – Zwei Stichwörter zur zeitgenössischen Philosophie. In:Ders. (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Deskonstruktion. S. 5–32• Engels, Friedrich: Anteil <strong>der</strong> Arbeit an <strong>der</strong> Menschwerdung des Affens. In: Marx, Karl/Ders.: Ausgewählte Werke.S. 344–354• Engels, Friedrich: Brief an Franz Mehr<strong>in</strong>g vom 14. Juli 1893. In: Marx, Karl/Ders.: Ausgewählte Werke. S. 664–667• Engels, Friedrich: Brief an Joseph Bloch vom 21. September 1890. In: Marx, Karl/Ders.: Ausgewählte Werke. S.656ff.• Engels, Friedrich: Dialektik <strong>der</strong> Natur [E<strong>in</strong>leitung]. In: Marx, Karl/Ders.: Ausgewählte Werke. S. 329–343• Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von <strong>der</strong> Utopie zur Wissenschaft. In: Marx, Karl/Ders.: AusgewählteWerke. S. 365–417• Engels, Friedrich: Herrn Eugen Dühr<strong>in</strong>gs Umwälzung <strong>der</strong> Wissenschaft (Anti-Dühr<strong>in</strong>g). Dietz Verlag, Berl<strong>in</strong> 1983• Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und <strong>der</strong> Ausgang <strong>der</strong> klassischen deutschen Philosophie. In: Marx, Karl/Ders.:Ausgewählte Werke. S. 565–599• Engels, Friedrich: Über die politische Aktion <strong>der</strong> Arbeiterklasse – Manuskript <strong>der</strong> Rede zur Sitzung <strong>der</strong> LondonerKonferenz <strong>der</strong> Internationalen Arbeiter-Assoziation am 21 September 1871. In: Marx, Karl/Ders.: AusgewählteWerke. S. 302• Epikur: Von <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Furcht – Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente. Artemis,Zürich/München 1983• Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp, Frankfurt 1973• Esp<strong>in</strong>g-An<strong>der</strong>sen, Gøsta: The Three Worlds of Welfare Capitalism. Polity Press, Cambridge 1990• Etzioni, Amitai: Die aktive Gesellschaft – E<strong>in</strong>e Theorie gesellschaftlicher und politischer Prozesse. WestdeutscherVerlag, Opladen 1975• Etzioni, Amitai: The Moral Dimension – Toward a New Economics. The Free Press, New York 1988• Etzioni, Amitai: The Spirit of Community – Rights, Responsibilities, and the Communitarian Agenda. Crown, NewYork 1993


B: LITERATURVERZEICHNIS 113• Faber, Richard (Hg.): Konservatismus <strong>in</strong> Geschichte und Gegenwart. Königshausen & Neimann, Würzburg 1991• Falk, Richard: Explorations at the Edge of Time – The Prospects for World Or<strong>der</strong>. Temple University Press, Philadelphia1992• Faßler, Manfred/Halbach, Wulf R. (Hg.): Cyberspace – Geme<strong>in</strong>schaften, Virtuelle Kolonien, Öffentlichkeiten. WilhelmF<strong>in</strong>k Verlag, München 1994• Fawcett, Louise/Hurrell, Andrew (Hg.): Regionalism <strong>in</strong> World Politics – Regional Organization and InternationalOr<strong>der</strong>. Oxford University Press, Oxford 1995• Fazis, Urs: ›Theorie‹ und ›Ideologie‹ <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Studien zur Radikalisierung <strong>der</strong> Aufklärung aus ideologiekritischerPerspektive. Social Strategies, Basel 1994• Featherstone, Mike: Consumer Culture and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. Sage Publications, London/Newbury Park/New Delhi1991• Featherstone, Mike: In Pursuit of the <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n – An Introduction. In: Ders. (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. S. 195–215• Featherstone, Mike: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism and the Aesthetization of Everyday Life. In: Lash, Scott/Friedman, Jonathan(Hg.): Mo<strong>der</strong>nity and Identity. S. 265–290• Featherstone, Mike (Hg.): Global Culture – Nationalism, Globalization and Mo<strong>der</strong>nity. Sage Publications, London/NewburyPark/New Delhi 1990• Featherstone, Mike (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. Sage Publications, London u.a. 1988• Featherstone, Mike/Lash, Scott/Robertson, Roland (Hg.): Global Mo<strong>der</strong>nities. Sage Publications, London/NewburyPark/New Delhi 1995• Fechner, Frank: <strong>Politik</strong> und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nisierung als Demokratiesierung? Passagen Verlag, Wien1990• Ferrara, Alessandro: Reflective Authenticity – Reth<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g the Project of Mo<strong>der</strong>nity. Routledge, London/New York1988• Fetscher, Ir<strong>in</strong>g: Herrschaft und Emanzipation – Zur Philosophie des Bürgertums. Piper, München 1976• Fetscher, Ir<strong>in</strong>g: Rousseaus politische Philosophie – Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs. Suhrkamp,Frankfurt 1990• Fetscher, Ir<strong>in</strong>g: Wieviel Konsens gehört zur Demokratie? In: Guggenberger, Bernd/Offe, Claus (Hg.): An den Grenzen<strong>der</strong> Mehrheitsdemokratie. S. 196–206• Fetscher, Ir<strong>in</strong>g (Hg.): Neokonservative und ›Neue Rechte‹ – Der Angriff gegen Sozialstaat und liberale Demokratie<strong>in</strong> den Vere<strong>in</strong>igten Staaten, Westeuropa und <strong>der</strong> Bundesrepublik. C. H. Beck, München 1983• Feyerabend, Paul: Erkenntnis für freie Menschen – Verän<strong>der</strong>te Ausgabe. Suhrkamp, Frankfurt 1980• Feyerabend, Paul: Irrwege <strong>der</strong> Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt 1989• Feyerabend, Paul: Wi<strong>der</strong> den Methodenzwang. Suhrkamp, Frankfurt 1983• Fichte, Immanuel H. (Hg.): Johann Gottlieb Fichtes sämtliche Werke [fotomechanischer Nachdruck <strong>der</strong> Ausgabevon 1845/46]. 8 Bände, De Gruyter, Berl<strong>in</strong> 1971• Fichte, Johann G.: Der geschloßne Handelsstaat. In: Fichte, Immanuel H. (Hg.): Johann Gottlieb Fichtes sämtlicheWerke. Band 3• Fichte, Johann G.: Grundlage <strong>der</strong> gesamten Wissenschaftslehre. In: Jocobs, Wilhelm G. (Hg.): Johann GottliebFichte – Schriften zur Wissenschaftslehre. S. 63–97• Fichte, Johann G.: Reden an die deutsche Nation. In: Fichte, Immanuel H. (Hg.): Johann Gottlieb Fichtes sämtlicheWerke. Band 7• Fichte, Johann G.: Wissenschaftslehre – Vorgetragen im Jahr 1804. In: Jocobs, Wilhelm G. (Hg.): Johann GottliebFichte – Schriften zur Wissenschaftslehre. S. 477–712• Fischer, Hans R. (Hg.): Autopoiesis – E<strong>in</strong>e Theorie im Brennpunkt <strong>der</strong> Kritik. Carl Auer Verlag, Heidelberg 1991• Fiedler, Leslie A.: Überschreitet die Grenze, schließt den Graben! In: Welsch, Wolfgang: Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.S. 57–74• Field, E. J.: Transmission Experiments with Multiple Sclerosis – An Interrim Report. In: British Medical Journal.Vol. 2 (1966), S. 564f.• F<strong>in</strong>k, Humbert: Machiavelli – E<strong>in</strong>e Biographie. Knaur, München 1990• F<strong>in</strong>ley, Moses I.: Das politische Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> antiken Welt. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1991• F<strong>in</strong>ley, Moses I.: Die antike Wirtschaft. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1977• Fischer, Günther: Über den komplizierten Weg zu e<strong>in</strong>er nachfunktionalistischen Architektur. In: Ders. et al.: Abschiedvon <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. S. 7–23• Fischer, Günther et al.: Abschied von <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Beiträge zur Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Orientierungskrise. VerlagVieweg & Sohn, Braunschweig/Wiesbanden 1980• Fischermann, Thomas: Die Yuppies von Bangalore. In: Zeit-Magaz<strong>in</strong>. Heft 11/97, S. 24–41• Fiske, John: Media Matters – Everyday Culture and Political Change. University of M<strong>in</strong>nesota Press, M<strong>in</strong>neapolis/London1994


114 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Flaig, Berthold B./Meyer, Thomas/Ueltzhöffer, Jörg: Alltagsästhetik und politische Kultur – Zur ästhetischen Dimensionpolitischer Bildung und politischer Kommunikation. Dietz Verlag, Bonn 1994• Flick<strong>in</strong>ger, Richard S./Studlar, Donley T.: The Disappear<strong>in</strong>g Voters? – Explor<strong>in</strong>g Decl<strong>in</strong><strong>in</strong>g Turnout <strong>in</strong> Western EuropeanElections. In: West European Politics. Heft 2, Vol. 26 (1992), S. 1–16• Forrester, Vivian: Der Terror <strong>der</strong> Ökonomie. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1997• Foster, Hal: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism – A Preface. In: Ders. (Hg.): The Anti-Aesthetic. S. IX–XVI• Foster, Hal (Hg.): The Anti-Aesthetic – Essays on <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Culture. Bay Press, Port Townsend 1987• Foucault, Michel: An<strong>der</strong>e Räume. In: Wentz, Mart<strong>in</strong> (Hg.): Stadt-Räume. S. 65–72• Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Suhrkamp, Frankfurt 1990• Foucault, Michel: Das Denken des Außen. In: Ders.: Von <strong>der</strong> Subversion des Wissens. S. 46–68• Foucault, Michel: Der Gebrauch <strong>der</strong> Lüste [Sexualität und Wahrheit 2]. Suhrkamp, Frankfurt 1989• Foucault, Michel: Die Geburt <strong>der</strong> Kl<strong>in</strong>ik – E<strong>in</strong>e Archäologie des ärztlichen Blicks. Fischer, Frankfurt 1991• Foucault, Michel: Die Ordnung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge – E<strong>in</strong>e Archäologie <strong>der</strong> Humnawissenschaften. Suhrkamp, Frankfurt1974• Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses – Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970.Carl Hanser Verlag, München 1974• Foucault, Michel: Die politische Technologie des Selbst. In: Ders. u.a. (Hg.): Technologien des Selbst. S. 168–187• Foucault, Michel: Die Sorge um sich [Sexualität und Wahrheit 3]. Suhrkamp, Frankfurt 1989• Foucault, Michel: Dispositive <strong>der</strong> Macht – Über Sexualität, Wissen und Macht. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1978• Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Von <strong>der</strong> Subversion des Wissens. S. 69–90• Foucault, Michel: Technologien des Selbst. In: Ders. u.a. (Hg.): Technologien des Selbst. S. 24–62• Foucault, Michel: Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp, Frankfurt 1976• Foucault, Michel: Um welchen Preis sagt die Vernunft die Wahrheit? – E<strong>in</strong> Gespräch [Interview mit Gérard Raulet].In: Spuren – Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft. Heft 1/83, S. 22–26 u. Heft 2/83, S. 38ff.• Foucault, Michel: Von <strong>der</strong> Subversion des Wissens. Fischer, Frankfurt 1987• Foucault, Michel: Vorrede zur Überschreitung. In: Ders.: Von <strong>der</strong> Subversion des Wissens. S. 28–45• Foucault, Michel: Wahns<strong>in</strong>n und Gesellschaft – E<strong>in</strong>e Geschichte des Wahns im Zeitalter <strong>der</strong> Vernunft. Suhrkamp,Frankfurt 1973• Foucault, Michel: Wahrheit und Macht. In: Ders.: Dispositive <strong>der</strong> Macht. S. 21–54• Foucault, Michel u.a. (Hg.): Technologien des Selbst. Fischer, Frankfurt 1993• Fourastié, Jean: Die große Hoffnung des zwangzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts. Bund-Verlag, Köln 1969• Fox, Matthew: A Mystical Cosmology – Toward a <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Spirituality. In: Griff<strong>in</strong>, David R. (Hg.): SacredInterconnections. S. 15–33• Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien. Suhrkamp, Frankfurt 1991• Fraenkel, Ernst: Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit <strong>der</strong> Bürger <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mo<strong>der</strong>nen parlamentarischenDemokratie. In: Ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien. S. 261–276• Frankel, Boris: The Cultural Contradiction of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity. In: Milner, Andrew/Thompson, Philip/Worth, Chris(Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Conditions. S. 95–112• Frampton, Kenneth: Die Architektur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – E<strong>in</strong>e kritische Baugeschichte. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart1991• Franz, Marie-Louise: Der Traum des Descartes. In: Meier, C. A. (Hg.): Studien aus dem C. G. Jung-Institut. Vol.III (1952), S. 49–119• Franzmeyer, Fritz: Vorteil für alle? – Probleme des Handels und <strong>der</strong> Handelspolitik im globalen Zusammenhang.In: Opitz, Peter J. (Hg.): Weltprobleme. S. 231–267• Fraser, H. et al.: Transmission of Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy to Mice. In: Veter<strong>in</strong>ary Record. Vol. 123(1988), S. 472• Freddi, Giorgio: Adm<strong>in</strong>istrative Rationalität und sozio-ökonomische Intervention. In: Voigt, Rüdiger (Hg.): Rechtals Instrument von <strong>Politik</strong>. S. 209–232• Freedberg, David: The Power of Images – Studies <strong>in</strong> the History and Theorie of Response. The University of ChicagoPress, Chicago/London 1989• Frenkel, Michael/Ben<strong>der</strong>, Dieter (Hg.): GATT und neue Welthandelsordnung – Globale und regionale Auswirkungen.Gabler, Wiesbaden 1996• Freud, Anna u.a. (Hg.): Sigmund Freud – Gesammelte Werke. 17 Bände, Imago Publish<strong>in</strong>g Co., London 1942• Freud, Sigmund: Abriß <strong>der</strong> Psychoanalyse. Fischer, Frankfurt 1993 (zusammen mit ›Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur‹)• Freud, Sigmund: Das Unbehagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur. Fischer, Frankfurt 1993 (zusammen mit ›Abriß <strong>der</strong> Psychoanalyse‹)• Freud, Sigmund: Die Zukunft e<strong>in</strong>er Illusion. Fischer, Frankfurt 1982 (zusammen mit ›Massenpsychologie undIch-Analyse‹)


B: LITERATURVERZEICHNIS 115• Freud, Sigmund: Jenseits des Lustpr<strong>in</strong>zips. In: Freud, Anna u.a. (Hg.): Sigmund Freud – Gesammelte Werke. BandXIII, S. 1–69• Freud, Sigmund: Vorlesungen zur E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Psychoanalyse. Fischer, Frankfurt 1983• Freud, Sigmund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. In: Freud, Anna u.a. (Hg.): Sigmund Freud – GesammelteWerke. Band X, S. 323–355• Freyermuth, Gundolf S.: Im Netz <strong>der</strong> Verschwörer. In: Die Zeit. Ausgabe vom 21. Juni 1996 (Nr. 26), S. 66• Frieden, Jeffry A.: Bank<strong>in</strong>g on the World – The Politics of American International F<strong>in</strong>ance.Harper & Row, NewYork u.a. 1987• Friedman, Jonathan: Be<strong>in</strong>g <strong>in</strong> the World – Globalization and Localization. In: Featherstone, Mike (Hg.): GlobalCulture. S. 311–328• Friedmann, Wolfgang: Recht und sozialer Wandel. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1969• Fritzsche, Klaus: Konservatismus. In: Neumann, Franz (Hg.): Handbuch Politischer Theorien und Ideologien. S.65–105• Fromm, Erich: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches – E<strong>in</strong>e sozialpsychologische Untersuchung.Detsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1980• Fromm, Erich: Die Furcht vor <strong>der</strong> Freiheit. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1990• Fromm, Erich: Haben o<strong>der</strong> Se<strong>in</strong>. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1987• Fuchs, Peter: Die Erreichbarkeit <strong>der</strong> Gesellschaft – Zur Konstruktion und Imag<strong>in</strong>ation gesellschaftlicher E<strong>in</strong>heit.Suhrkamp, Frankfurt 1992• Fukuyama, Francis: Das Ende <strong>der</strong> Geschichte? In: Europäische Rundschau. Heft 4/1989, S. 3–25• Fulbrook, Julian: Legal Implications – Is this Another Thalidomide Case? In: Risk Decision and Policy. Vol. 2 (1997),S. 9–18• Gajdusek, D. C./Gibbs, C. J./Alpers, M.: Experimental Transmission of a Kuru-Like Syndrom to Chimpanzees. In:Nature. Vol. 209 (1966), S. 794ff.• Gall, Lothar (Hg.): Liberalismus. Athenäum, Königste<strong>in</strong> 1985• Garfield, Jay L.: The Fundamental Wisdom of the Middle Way – Na) ga) rjuna’s Mu) lamadhyamakaka) rika). OxfordUniversity Press, New York/Oxford 1995• Garv<strong>in</strong>, Paul L. (Hg.): Cognition – A Multiple View. Spartan Books, New York/Wash<strong>in</strong>gton 1970• Gasteyger, Curt: Europa zwischen Spaltung und E<strong>in</strong>igung: 1945–1990. Bundeszentrale für politische Bildung,Bonn 1991• Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures – Selected Essays. Basic Books, New York 1973• Geertz, Clifford: Thick Description – Toward an Interpretive Theory of Culture. In: Ders.: The Interpretaion ofCultures. S. 3–30• Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter – Sozialpsychologische Probleme <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft.Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1962• Gehlen, Arnold: E<strong>in</strong>blicke. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 1975• Gehlen, Arnold: Ende <strong>der</strong> Geschichte? In: Ders.: E<strong>in</strong>blicke. S. 115–133• Gehlen, Arnold: Studien zur Anthropologie und Soziologie. Luchterhand, Frankfurt 1971• Gehlen, Arnold: Über kulturelle Kristallisation. In: Ders.: Studien zur Anthropologie und Soziologie. S. 311–328• Geiger, Theodor: Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel. Verlag Gustav Kiepenheuer, Köln/Hagen 1949• Geiger, Theodor: Vorstudien zu e<strong>in</strong>er Soziologie des Rechts. Luchterhand, Neiwied/Berl<strong>in</strong> 1964• Geißler, Ra<strong>in</strong>er: Schichten <strong>in</strong> <strong>der</strong> post<strong>in</strong>dustriellen Gesellschaft – Die Bedeutung des Schichtbegriffs für die Analyseunserer Gesellschaft. In: Berger, Peter A./Hradil, Stefan (Hg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. S. 81–101• Gellner, Ernest: Nationalismus und Mo<strong>der</strong>ne. Rotbuch Verlag, Hamburg 1995• Gellner, W<strong>in</strong>and: Ideenagenturen für <strong>Politik</strong> und Öffentlichkeit – Th<strong>in</strong>k Tanks <strong>in</strong> den USA und <strong>in</strong> Deutschland.Westdeutscher Verlag, Opladen 1995• General Agreement on Trade and Tarifs (GATT) – Allgeme<strong>in</strong>es Zoll- und Handelsabkommen. In: Liebich, Ferd<strong>in</strong>andK.: Grundriß des Allgeme<strong>in</strong>en Zoll- und Handelsabkommens. S. 45–145• Georg-Lauer, Jutta (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und <strong>Politik</strong>. Edition Diskord, Tüb<strong>in</strong>gen 1992• Gerhards, Jürgen: Neue Konfliktl<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mobilisierung öffentlicher Me<strong>in</strong>ung – E<strong>in</strong>e Fallstudie. WestdeutscherVerlag, Opladen 1993• Gerhards, Jürgen: Politische Öffentlichkeit – E<strong>in</strong> system- und akteurstheoretischer Bestimmungsversuch. In: Neidhardt,Friedhelm (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Me<strong>in</strong>ung, soziale Bewegungen. S. 77–105• Gerhardt, Volker (Hg.): Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Politik</strong> – Bed<strong>in</strong>gungen und Gründe politischen Handelns. J. B. Metzler,Stuttgart 1990


116 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Geyer, Thomas: Angst als psychische und soziale Realität – E<strong>in</strong>e Untersuchung über die Angsttheorien Freuds und<strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachfolge Freuds. Verlag Peter Lang, Frankfurt u.a. 1998• Gibbs, Clarence J. (Hg.): Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy – The BSE Dilemma. Spr<strong>in</strong>ger, New York/Berl<strong>in</strong>/Heidelberg1996• Giddens, Anthony: Beyond Left and Right – The Future of Radical Politics. Polity Press, Cambridge 1994• Giddens, Anthony: Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt 1984• Giddens, Anthony: Die Konstitution <strong>der</strong> Gesellschaft – Grundzüge e<strong>in</strong>er Theorie <strong>der</strong> Strukturierung. Campus,Frankfurt/New York 1995• Giddens, Anthony: Kritische Theorie <strong>der</strong> Spätmo<strong>der</strong>ne. Passagen Verlag, Wien 1992• Giddens, Anthony: Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er posttraditionalen Gesellschaft. In: Beck, Ulrich/Ders./Lash, Scott: ReflexiveMo<strong>der</strong>nisierung. S. 113–194• Giddens, Anthony: Mo<strong>der</strong>nity and Self-Identity – Self and Society <strong>in</strong> Late Mo<strong>der</strong>n Age. Stanford University Press,Stanford 1991• Giddens, Anthony: Risiko, Vertrauen und Reflexivität. In: Beck, Ulrich/Ders./Lash, Scott: Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung.S. 316–337• Giddens, Anthony: The Consequences of Mo<strong>der</strong>nity. Stanford University Press, Stanford 1990• Giddens, Anthony: The Nation State and Violence. Polity Press, Cambridge 1989• Giebel, Marion: Augustus. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1984• Giehle, Sab<strong>in</strong>e: Die ästhetische Gesellschaft. Verlag für Entwicklungspolitik, Saarbrücken 1994• Giernalczyk, Thomas/Freitag, Regula (Hg.): Qualitätsmanagement von Krisen<strong>in</strong>tervention und Suizidprävention.Vandenhoek & Rupprecht, Gött<strong>in</strong>gen 1998• Giesen, Bernhard: Die Entd<strong>in</strong>glichung des Sozialen – E<strong>in</strong>e evolutionstheoretische Perspektive auf die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne.Suhrkamp, Frankfurt 1991• Gilp<strong>in</strong>, Robert: The Political Economy of International Relations. Pr<strong>in</strong>ceton University Press, Pr<strong>in</strong>ceton 1987• Gilp<strong>in</strong>, Robert: War and Change <strong>in</strong> World Politics. Camebridge University Press, Cambridge 1981• Glasenapp, Helmuth: Die Philosophie <strong>der</strong> In<strong>der</strong>. Kröner, Stuttgart 1985• Gleichmann, Peter/Goudsblom, Johan/Korte, Hermann (Hg.): Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie.Suhrkamp, Frankfurt 1977• Globale Trends: siehe +Stiftung Entwicklung und Frieden*• Göhler, Gerhard/Kle<strong>in</strong>, Ansgar: Politische Theorien im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. In: Lieber, Hans-Joachim (Hg.): PolitischeTheorien von <strong>der</strong> Antike bis zur Gegenwart. S. 259–656• Görlitz, Axel: Politische Funktionen des Rechts. Akademische Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 1976• Görlitz, Axel/Voigt, Rüdiger (Hg.): Grenzen des Rechts. Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1987• Görtemaker, Manfred: Deutschland im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t – Entwicklungsl<strong>in</strong>ien. Bundeszentrale für politische Bildung,Bonn 1989• Goffman, Erv<strong>in</strong>g: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Suhrkamp, Frankfurt 1974• Goffman, Erv<strong>in</strong>g: Rahmen-Analyse – E<strong>in</strong> Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Suhrkamp, Frankfurt1977• Goffman, Erv<strong>in</strong>g: Verhalten <strong>in</strong> sozialen Situationen – Strukturen und Regeln <strong>der</strong> Interaktion im öffentlichen Raum.Bertelsmann, Gütersloh 1971• Goffman, Erv<strong>in</strong>g: Wir alle spielen Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag. Piper, München 1969• Goldenberg, Boris (Hg.): Karl Marx – Ausgewählte Schriften. K<strong>in</strong>dler, München 1962• Gordon, David M.: The Global Economy – New Edifice or Crumbl<strong>in</strong>g Foundations? In: New Left Review. Nr. 168(1988), S. 24–65• Gordon, W. S.: Advances <strong>in</strong> Veter<strong>in</strong>ary Research. In: Veter<strong>in</strong>ary Record. Vol. 58 (1946), S. 518–525• Gorz, André: Abschied vom Proletariat – Jenseits des Sozialismus. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1980• Gorz, André: Kritik <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft – S<strong>in</strong>nfragen am Ende <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft. Rotbuch Verlag,Hamburg 1994• Gottlieb, Gidon: Nations without States. In: Foreign Affairs. Heft 3/1994, S. 100–112• Gottweis, Herbert: <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft. In: Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Risikogesellschaft. S. 357–377• Graevenitz, Gerhart/Marquard, Odo (Hg.): Kont<strong>in</strong>genz. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1998• Gramsci, Antonio: Gedanken zur Kultur. Rö<strong>der</strong>berg, Köln 1987• Gramsci, Antonio: Sozialismus und Kultur [›Il Grido del Popolo‹ vom 29.1.1916]. In: Ders.: Gedanken zur Kultur.S. 7–11• Greb<strong>in</strong>g, Helga: Geschichte <strong>der</strong> deutschen Arbeiterbewegung – E<strong>in</strong> Überblick. Deutscher Taschenbuch Verlag,München 1970• Greb<strong>in</strong>g, Helga: L<strong>in</strong>ksradikalismus gleich Rechtsradikalismus – E<strong>in</strong>e falsche Gleichung. Kohlhammer, Stattgart 1971• Greiffenhagen, Mart<strong>in</strong>: Das Dilemma des Konservatismus <strong>in</strong> Deutschland. Suhrkamp, Frankfurt 1986


B: LITERATURVERZEICHNIS 117• Greiffenhagen, Mart<strong>in</strong>: Demokratie und Technokratie. In: Koch, Claus/Senghaas, Dieter (Hg.): Texte zur Technokratiediskussion.S. 54–70• Grewenig, Adi (Hg.): Inszenierte Information – <strong>Politik</strong> und strategische Kommunikation <strong>in</strong> den Medien. WestdeutscherVerlag, Opladen 1993• Griff<strong>in</strong>, David R. (Hg.): Sacred Interconnections – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Spirituality, Political Economy, and Art. State Universityof New York Press, Albany 1990• Griff<strong>in</strong>, David R./Falk, Richard (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Politics for a Planet <strong>in</strong> Crisis – Policy, Process, and PresidentialVision. State University of New York Press, Albany 1993• Griff<strong>in</strong>, Keith/Rahman Kahn, Azizur: Globalization and the Develop<strong>in</strong>g World – An Essay on the InternationalDimensions of Development <strong>in</strong> the <strong>Post</strong>-Cold War Era. URISD, Genf 1992• Griffith, J. S.: Self-Replication and Scrapie. In: Nature. Vol. 215 (1967), S. 1043f.• Grimm, Dieter: Recht und <strong>Politik</strong>. In: Juristische Schulung. Heft 11/1969, S. 501–510• Grimm, Klaus: Niklas Luhmanns ›soziologische Aufklärung‹ o<strong>der</strong> das Elend <strong>der</strong> apriorischen Soziologie – E<strong>in</strong> Beitragzur Pathologie <strong>der</strong> Systemtheorie im Licht <strong>der</strong> Wissenschaftslehre Max Webers. Hoffmann und Campe, Hamburg1974• Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1994• Großklaus, Götz: Medien-Zeit, Medien-Raum – Zum Wandel <strong>der</strong> raumzeitlichen Wahrnehmung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.Suhrkamp, Frankfurt 1995• Grossman, Lawrence K.: The Electronic Republic – Reshap<strong>in</strong>g Democracy <strong>in</strong> the Information Age. Vik<strong>in</strong>g, NewYork 1995• Grünewald, Joachim: Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Möglichkeiten und Grenzen. In: Ipsen, Jörn (Hg.):Privatisierung öffentlicher Aufgaben. S. 5–15• Gruppe von Lissabon: Grenzen des Wettbewerbs – Die Globalisierung <strong>der</strong> Wirtschaft und die Zukunft <strong>der</strong> Menschheit.Luchterhand 1997• Guéhenno, Jean-Marie: Das Ende <strong>der</strong> Demokratie. Artemis & W<strong>in</strong>kler, München/Zürich 1994• Guér<strong>in</strong>, Daniel: Anarchismus – Begriff und Praxis. Suhrkamp, Frankfurt 1978• Guggenberger, Bernd: Die politische Aktualität des Ästhetischen. Edition Isele, Egg<strong>in</strong>gen 1992• Guggenberger, Bernd: Globalität und Zukunft o<strong>der</strong> Demokratie <strong>in</strong> neuen Raum- und Zeitgrenzen. In: Ders./Meier,Andreas (Hg.): Der Souverän auf <strong>der</strong> Nebenbühne. S. 21–30• Guggenberger, Bernd: Zuvielisation. In: Ders./Janson, Dieter/Leser, Joachim (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> Das Endedes Suchens? S. 42–57• Guggenberger, Bernd/Offe, Claus: <strong>Politik</strong> aus <strong>der</strong> Basis – Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> parlamentarischen Mehrheitsdemokratie.In: Dies. (Hg.): An den Grenzen <strong>der</strong> Mehrheitsdemokratie. S. 8–21• Guggenberger, Bernd/Janson, Dieter/Leser, Joachim (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> Das Ende des Suchens? – E<strong>in</strong>eZwischenbilanz. Edition Isele, Egg<strong>in</strong>gen 1992• Guggenberger, Bernd/Meier, Andreas (Hg.): Der Souverän auf <strong>der</strong> Nebenbühne – Essays und Zwischenrufe zurdeutschen Verfassungsdiskussion. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994• Guggenberger, Bernd/Offe, Claus (Hg.): An den Grenzen <strong>der</strong> Mehrheitsdemokratie. Westdeutscher Verlag, Opladen1984• Gurvitch, Georges: Dialektik und Soziologie. Luchterhand, Neuwied 1965• Gurvitch, Georges: Grundzüge <strong>der</strong> Soziologie des Rechts. Luchterhand, Neuwied 1960• Gurvitch, Georges (Hg.): La physiologie sociale – Œuvres choisies de C.-H. De Sa<strong>in</strong>t Simon. Presses Universitairesde France, Paris 1965• Habermas, Jürgen: Dialektik <strong>der</strong> Rationalisierung. In: Ders.: Die neue Unübersichtlichkeit. S. 167–208• Habermas, Jürgen: Die E<strong>in</strong>beziehung des An<strong>der</strong>en – Studien zur politischen Theorie. Suhrkamp, Frankfurt 1996• Habermas, Jürgen: Die Krise des Wohlfahrtsstaat und die Erschöpfung <strong>der</strong> utopischen Energien. In: <strong>der</strong>s.: Dieneue Unübersichtlichkeit. S. 141–163• Habermas, Jürgen: Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt. In: Ders.: Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt.S. 32–54• Habermas, Jürgen: Die Mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong> unvollendetes Projekt: Philosophisch-politische Aufsätze. Reclam, Leipzig1992• Habermas, Jürgen: Die neue Unübersichtlichkeit. Suhrkamp, Frankfurt 1985• Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Suhrkamp, Frankfurt 1988• Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. In: Ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. S. 146–168• Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik. Suhrkamp, Frankfurt 1991


118 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung – Beiträge zur Diskussion des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats.Suhrkamp, Frankfurt 1992• Habermas, Jürgen: Jenseits des Nationalstaats. In: Beck, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Globalisierung. S. 67–84• Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Suhrkamp, Frankfurt 1973• Habermas, Jürgen: Moralbewußtse<strong>in</strong> und kommunikatives Handeln. Suhrkamp, Frankfurt 1983• Habermas, Jürgen: Praktische Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. In: Ders.: Theorie und Praxis.S. 336–358• Habermas, Jürgen: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. In: Ders..: Faktizität und Geltung. S. 632–659• Habermas, Jürgen: Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit – Untersuchungen zu e<strong>in</strong>er Kategorie <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft.Suhrkamp, Frankfurt 1990• Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Suhrkamp, Frankfurt 1968• Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. In: Ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹.S. 48–103• Habermas, Jürgen: Technischer Fortschritt und soziale Lebenswelt. In: Ders.: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹.S. 104–119• Habermas, Jürgen: Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> Sozialtechnologie? – E<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Niklas Luhmann.In: Ders./Luhmann, Niklas: Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> Sozialtechnologie. S. 142–290• Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1981• Habermas, Jürgen: Theorie und Praxis – Sozialphilosophische Studien. Suhrkamp, Frankfurt 1978• Habermas, Jürgen: Verwissenschaftlichte <strong>Politik</strong> und öffentliche Me<strong>in</strong>ung. In: Ders.: Technik und Wissenschaftals ›Ideologie‹. S. 120–145• Habermas, Jürgen: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Suhrkamp, Frankfurt1984• Habermas, Jürgen: Was heißt Universalpragmatik? In: Ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie deskommunikativen Handelns. S. 353–440• Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft o<strong>der</strong> Sozialtechnologie – Was leistet die Sysetmforschung?Suhrkamp, Frankfurt 1971• Habicht, Christian: Cicero <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>er. Verlag C. H. Beck, München 1990• Hacker, Alois: Stichwort BSE. Wilhelm Hyne Verlag, München 1996• Hagen, Johann J.: Politisierung des Rechts – Verrechtlichung <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. In: Dimmel, Nikolaus/Noll, Alfred J.:<strong>Politik</strong> und Recht. S. 17–26• Hajer, Maarten A.: The Politics of Environmental Discourse – Ecological Mo<strong>der</strong>nization and the Policy Process.Clarendon Press, Oxford 1995• Halehmi, Zohar/Hommel, Keren/Avital, Oren: Electronic Commerce. Internet: http://techunix.technion.ac.il/~orena/ec• Hall, Stuart/Held, David/McGrew, Anthony (Hg.): Mo<strong>der</strong>nity and Its Futures. Polity Press, Cambridge 1992• Hannertz, Ulf: Cosmopolitans and Locals <strong>in</strong> World Culture. In: Featherstone, Mike (Hg.): Global Culture. S. 237–252• Harraway, Donna J.: A Cyborg Manifesto – Science, Technology, and Socialist-Fem<strong>in</strong>ism <strong>in</strong> the Late TwentiethCentury. In: Dies.: Simians, Cyborgs, and Women. S. 149–181• Harraway, Donna J.: Simians, Cyborgs, and Women – The Re<strong>in</strong>vention of Nature. Free Association Books, London1991• Hartfiel, Günter/Hillmann, Karl-He<strong>in</strong>z: Wörterbuch <strong>der</strong> Soziologie. Kröner, Stuttgart 1982• Hartey, John: The Politics of Pictures – The Creation of the Public <strong>in</strong> the Age of Popular Media. Routledge, London/NewYork 1992• Harvey, David: The Condition of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity – An Equiry <strong>in</strong>to the Orig<strong>in</strong>s of Cultural Change. Blackwell,Oxford/Cambridge 1989• Hassan, Ihab: Culture, Indeterm<strong>in</strong>acy, and Immanence – Marg<strong>in</strong>s of the (<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n) Age. In: Ders.: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nTurn. S. 46–83• Hassan, Ihab: Pluralism <strong>in</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Perspective. In: Ders.: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Turn. S. 167–187• Hassan, Ihab: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne heute. In: Welsch, Wolfgang: Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ene. S. 47–56• Hassan, Ihab: POSTmo<strong>der</strong>nISM – A Paracritical Bibliography. In: Ders.: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Turn. S. 25–45• Hassan, Ihab: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Turn – Essays <strong>in</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Theory and Culture. Ohio State University Press,Ohio 1987• Hassan, Ihab: Toward a Concept of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. In: Ders.: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Turn. S. 84–96• Haug, Wolfgang F.: Kritik <strong>der</strong> Warenästhetik. Suhrkamp, Frankfurt 1971• Hayes, Carlton J. H.: The Historical Evolution of Mo<strong>der</strong>n Nationalism. Macmillan, New York 1960• Heer, Friedrich: Mittelalter – Vom Jahr 1000 bis 1350 [Teil 1 und 2]. Deutscher Taschenbuch Verlag, München1977• Hegel, Georg W. F.: E<strong>in</strong>leitung <strong>in</strong> die Geschichte <strong>der</strong> Philosophie. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1940


B: LITERATURVERZEICHNIS 119• Hegel, Georg W. F.: Grundl<strong>in</strong>ien <strong>der</strong> Philosophie des Rechts. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1967• Hegel, Georg W. F.: Phänomenologie des Geistes. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1988• Hegel, Georg W. F.: Wissenschaft <strong>der</strong> Logik. 2 Bände, Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1975• Hegenbarth, Ra<strong>in</strong>er: Von <strong>der</strong> legislatorischen Programmierung zur Selbststeuerung <strong>der</strong> Verwaltung. In: Blankenburg,Erhard/Lenk, Klaus (Hg.): Organisation und Recht. S. 130–152• Heidegger, Mart<strong>in</strong>: Die Technik und die Kehre. Verlag Günther Neske, Pfull<strong>in</strong>gen 1962• Heidegger, Mart<strong>in</strong>: Se<strong>in</strong> und Zeit. Max Niemeyer Verlag, Tüb<strong>in</strong>gen 1993• Heidegger, Mart<strong>in</strong>: Über den Humanismus. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt 1947• Heijl, Peter M.: Konstruktion <strong>der</strong> sozialen Konstruktion – Grundl<strong>in</strong>ien e<strong>in</strong>er konstruktivistischen Sozialtheorie. In:Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. S. 303–339• He<strong>in</strong>isch, Klaus (Hg.): Der utopische Staat. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1991• Heise, Arne: Der Mythos vom ›Sachzwang Weltmarkt‹ – Globale Konkurrenz und nationale Wohlfahrt. In: Internationale<strong>Politik</strong> und Gesellschaft. Heft 1/1996, S. 17–22• Heiß, Robert: Die großen Dialektiker des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts – Hegel, Kierkegaard, Marx. Kiepenheuer & Witsch,Köln/Berl<strong>in</strong> 1963• Heitmeyer, Wilhelm: Entsicherungen – Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse und Gewalt. In: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim,Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. S. 376–401• Heitmeyer, Wilhelm: Bundesrepublik Deutschland – Auf dem Weg von <strong>der</strong> Konsens- zur Konfliktgesellschaft. Suhrkamp,Frankfurt 1997• Held, David: Democracy and the Global Or<strong>der</strong> – From the Mo<strong>der</strong>n State to Cosmopolitan Governance. PolityPress, Cambridge 1995• Heller, Agnes: Can Mo<strong>der</strong>nity Survive? Politiy Press, Cambridge/Oxford 1990• Heller, Agnes: Existentialism, Alienation, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism – Cultural Movements as Vehicles of Change <strong>in</strong> the Patternsof Everyday Life. In: Milner, Andrew/Thompson, Philip/Worth, Chris (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Conditions. S. 1–13• Heller, Agnes: Hermeneutics of Social Science. In: Dies.: Can Mo<strong>der</strong>nity Survive? S. 11–42• Heller, Agnes/Fehér, Ferenc: The <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Political Condition. Polity Press, Cambridge 1988• Herbert, Gary B.: Thomas Hobbes’ Dialectics of Desire. In: New Scholasticism. Vol. 50 (1976), S. 137–163• Her<strong>der</strong>, Johann G.: Über den Ursprung <strong>der</strong> Sprache. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1965• Heuser, Uwe J.: Die Tiger werden erwachsen. In: Die Zeit. Ausgabe vom 10. Januar 1997, S. 23• Hilferd<strong>in</strong>g, Rudolf: Das F<strong>in</strong>anzkapital – E<strong>in</strong>e Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus. EuropäischeVerlagsanstalt, Frankfurt 1968• Hill, Andrew F.: The Same Prion Stra<strong>in</strong> Causes vCJD and BSE. In: Nature. Vol. 389 (1997), S. 448ff.• Hillstrom, Kev<strong>in</strong> (Hg.): Encyclopedia of American Industries. Gale Research Inc, New York u.a. 1994• Hirsch, Ernst E./Rehb<strong>in</strong><strong>der</strong>, Manfred (Hg.): Studien und Materialien zur Rechtssoziologie. Kölner Zeitschrift fürSoziologie und Sozialpsychologie [Son<strong>der</strong>band 11], Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1967• Hirsch, Fred: Die sozialen Grenzen des Wachstums – E<strong>in</strong>e ökonomische Analyse <strong>der</strong> Wachstumskrise. Rowohlt,Re<strong>in</strong>bek 1980• Hirsch, Joachim: Der nationale Wettbewerbsstaat – Staat, Demokratie und <strong>Politik</strong> im globalen Kapitalismus. EditionID-Archiv, Berl<strong>in</strong>/Amsterdam 1996• Hirst, Paul/Thompson, Grahame: Globalization <strong>in</strong> Question – The International Economy and the Impossibilitiesof Governance. Politiy Press, Camebridge 1996• Hitzler, Ronald: Wissen und Wesen des Experten. In: Ders./Honer, Anne/Mae<strong>der</strong>, Christoph (Hg.): Expertenwissen.S. 13–30• Hitzler, Ronald/Honer, Anne: Bastelexistenz – Über subjektive Konsequenzen <strong>der</strong> Individualisierung. In: Beck,Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. S. 307–315• Hitzler, Ronald/Honer, Anne/Mae<strong>der</strong>, Christoph (Hg.): Expertenwissen – Die <strong>in</strong>stitutionalisierte Kompetenz zurKonstruktion von Wirklichkeit. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994• Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela: Konsequenzen <strong>der</strong> Entgrenzung des Politischen – Existentielle Strategienam Beispiel ›Techno‹. In: Imhof, Kurt/Schulz, Peter (Hg.): Die Veröffentlichung des Privaten.• Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela: ›Let your body take control!‹ – Zur ethnographischen Kulturanalyse <strong>der</strong>Techno-Szene. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki, W<strong>in</strong>fred (Hg.): Biographieforschung und Kulturanalyse. S. 75–92• Hobbes, Thomas: Leviathan. Reclam, Stuttgart 1992• Hobbes, Thomas: Leviathan [late<strong>in</strong>ische Fassung]. In: Ders.: Opera Lat<strong>in</strong>a. Band 3• Hobbes, Thomas: Opera Lat<strong>in</strong>a. 5 Bände, Scientia Verlag, Aalen 1961• Hobbes, Thomas: Vom Bürger [De Cive]. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1977• Hobbes, Thomas: Vom Körper [De Corpore]. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1967• Hobbes, Thomas: Vom Menschen [De Hom<strong>in</strong>e]. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1977• Hobsbawm, Eric: Nationen und Nationalismus – Mythos und Realität seit 1780. Campus, Franktfurt 1991


120 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Hörn<strong>in</strong>g, Karl H./Michailow, Matthias: Lebensstil als Vergesellschaftungsform – Zum Wandel von Sozialstrukturund sozialer Integration. In: Berger, Peter A./Hradil, Stefan (Hg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. S. 501–522• Hoffmann, Re<strong>in</strong>er: NAFTA – E<strong>in</strong> Freihandelsabkommen ohne soziale Dimension. In: Ders./Wannöffel, Manfred(Hg.): Soziale und ökologische Sackgassen ökonomischer Globalisierung. S. 241–254• Hoffmann, Re<strong>in</strong>er/Wannöffel, Manfred (Hg.): Soziale und ökologische Sackgassen ökonomischer Globalisierung– Das Beispiel NAFTA. Westfälisches Dampfboot, Münster 1995• Hoffmann, Wolfgang: ›Wahl zwischen zwei Übeln‹ – ZEIT-Gespräch mit dem Frankfurter Ökonomen Joachim Mitschkeüber Lohnsubventionen und Bürgergeld. In: Die Zeit. Ausgabe vom 3. Oktober (Nr. 41) 1997, S. 27• Holbach, Dietrich Freiherr von: Système de la nature ou des lois du monde physique et du monde moral. InAuszügen unter dem Titel ›Die Funktion religiöser Vorstellungen‹ <strong>in</strong>: Lenk, Kurt (Hg.): Ideologie. S. 57–60• Hollan<strong>der</strong>, Anna: Social Perspectives – Aspects of the Relationship Between General Welfare and Welfare for Peoplewith Special Needs <strong>in</strong> Sweden. In: Åkermann/Granatste<strong>in</strong> (Hg.): Welfare States <strong>in</strong> Trouble. S. 137–144• Holl<strong>in</strong>g, C. S.: The Resiliance of Terrestrial Ecosystems – Local Surprise and Global Change. In: Clark, WilliamC./Munn, R. E. (Hg.): Susta<strong>in</strong>able Development of the Biosphere. S. 292–317• Holloway, John: Reform des Staates – Globales Kapital und nationaler Staat. In: Prokla. Heft 1/1993, S. 12–33• Holmsten, Georg: Rousseau. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1972• Holz-Bacha, Christa: Massenmedien und <strong>Politik</strong>vermittlung – Ist die Videomalaise-Hypothese e<strong>in</strong> adäquates Konzept?In: Jäckel, Peter/W<strong>in</strong>terhoff-Spurk, Peter (Hg.): <strong>Politik</strong> und Medien. S. 181–191• Honneth, Axel: Kritik <strong>der</strong> Macht – Reflexionsstufen e<strong>in</strong>er kritischen Gesellschaftstheorie. Suhrkamp, Frankfurt 1985• Honneth, Axel (Hg.): Kommunitarismus – E<strong>in</strong>e Debatte über die moralischen Grundlagen mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften.Campus, Frankfurt/New York 1993• Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie. In: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie. S. 205–259• Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie – Fünf Aufsätze. Fischer, Frankfurt 1992• Horkheimer, Max: Zur Kritik <strong>der</strong> <strong>in</strong>strumentellen Vernunft. Fischer, Frankfurt 1990• Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung. Fischer, Frankfurt 1994• Horwich, Arthur L./Weissman, Jonathan S.: Deadly Conformations – Prote<strong>in</strong> Misfold<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Prion Disease. In: Cell.Vol. 89 (1997), S. 499–510• Howe, Irv<strong>in</strong>g: Mass Society and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Fiction. In: Partisan Review. Heft 3/1959, S 420–436• Hradil, Stefan: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Sozialstruktur? – Zur empirischen Relevanz e<strong>in</strong>er ›mo<strong>der</strong>nen‹ Theorie sozialen Wandels.In: Berger, Peter A./Hradil, Stefan (Hg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile. S. 125–150• Hradil, Stefan: Sozialstrukturanalyse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fortgeschrittenen Gesellschaft – Von Klassen und Schichten zu Lagenund Milieus. Leske+Budrich, Opladen 1987• Hradil, Stefan: Sozialstrukturelle Paradoxien und gesellschaftliche Mo<strong>der</strong>nisierung. In: Zapf, Wolfgang (Hg.): DieMo<strong>der</strong>nisierung mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften. S. 361–369• Hucke, Jochen: E<strong>in</strong>schränkung und Erweiterung politischer Handlungsspielräume bei <strong>der</strong> Implementation von Recht.In: Blankenburg, Erhard/Lenk, Klaus (Hg.): Organisation und Recht. S. 81–97• Hübner, Kurt: Wissenschaftliche Vernunft und <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>ne. In: Koslowski, Peter/Spaemann, Robert/Löw, Re<strong>in</strong>hard(Hg.): Mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne? S. 63–78• Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. 10 Bände, Insel Verlag, Frankfurt/Leipzig 1991• Hudson, Wayne: Zur Frage postmo<strong>der</strong>ner Philosophie. In: Kamper, Dietmar/Reijen, Willem van (Hg.): Die unvollendeteVernunft. S. 122–156• Hughes, Thomas P.: Die Erf<strong>in</strong>dung Amerikas – Der technologische Aufstieg <strong>der</strong> USA seit 1870. C.H. Beck, München1991• Hughes, Thomas P.: Networks of Power – Electrification <strong>in</strong> Western Society, 1880–1930. The John Hopk<strong>in</strong>s UniversityPress, Baltimore/London 1988• Hughes, Thomas P.: The Evolution of Large Technological Systems. In: Bijker, Wiebe E./Ders./P<strong>in</strong>ch, Trevor J.(Hg.): The Social Construction of Techological Systems. S. 51–82• Hunt<strong>in</strong>gton, C. W.: The Empt<strong>in</strong>ess of Empt<strong>in</strong>ess – An Introduction to Early Indian Madhyamika. University ofHawai Press, Honolulu 1989• Hunt<strong>in</strong>gton, Samuel P.: The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs. Heft 3/1993, S. 22–49• Hunt<strong>in</strong>gton, Samuel P.: Konservatismus als Ideologie. In: Schumann, Hans-Gerd (Hg.): Konservatismus. S. 89–111• Husserl, Edmund: Die Transzendenz des Alter Ego gegenüber <strong>der</strong> Transzendenz des D<strong>in</strong>ges – Absolute Monadologieals Erweiterung <strong>der</strong> transzendentalen Egologie: Absolute Welt<strong>in</strong>terpretation. In: Breda, H. L. van/Ijsselig, Samuel(Hg.): Husserliana. Band XIV [Zur Phänomenologie <strong>der</strong> Intersubjektivität, Teil 2], S. 244–255• Husserl, Edmund: Konstitution <strong>der</strong> e<strong>in</strong>heitlichen Zeit und e<strong>in</strong>heitlich-objektiven Welt durch E<strong>in</strong>fühlung. In: Breda,H. L. van/Ijsselig, Samuel (Hg.): Husserliana. Band XV [Zur Phänomenologie <strong>der</strong> Intersubjektivität, Teil 3], S.331–336


B: LITERATURVERZEICHNIS 121• Husserl, Edmund: Konstitution <strong>der</strong> <strong>in</strong>termonadischen Zeit – Wie<strong>der</strong>er<strong>in</strong>nerung und E<strong>in</strong>führung. In: Breda, H. L.van/Ijsselig, Samuel (Hg.): Husserliana. Band XV [Zur Phänomenologie <strong>der</strong> Intersubjektivität, Teil 3], S. 332–350• Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie des <strong>in</strong>neren Zeitbewußtse<strong>in</strong>s. In: Breda, H. L. van/Ijsselig, Samuel (Hg.):Husserliana. Band X• Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Zeichen e<strong>in</strong>es kulturellen Wandels. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek1986• Huyssen, Andreas: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – e<strong>in</strong>e amerikanische Internationale? In: Ders./Scherpe, Klaus: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne.S. 13–44• Ignor, Alexan<strong>der</strong>: Abschied von <strong>der</strong> Antike – Aurelius August<strong>in</strong>us. In: Adomeit, Klaus: Antike Denker über denStaate. S. 167–203• Inglehart, Ronald: Kultureller Umbruch – Wertewandel <strong>in</strong> <strong>der</strong> westlichen Welt. Campus, Frankfurt/New York 1989• Inglehart, Ronald: Mo<strong>der</strong>nization and <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nization. Pr<strong>in</strong>ceton University Press, Pr<strong>in</strong>ceton 1997• Inglehart, Ronald: The Silent Revolution <strong>in</strong> Europe – Intergenerational Change <strong>in</strong> <strong>Post</strong><strong>in</strong>dustrial Societies. In: AmericanPolitical Science Review. Vol. 65 (1971), S. 991–1017• Illich, Ivan: Entmündigende Expertenherrschaft. In: Ders. u.a.: Entmündigung durch Experten. S. 7–35• Illich, Ivan u.a.: Entmündigung durch Experten – Zur Kritik <strong>der</strong> Dienstleistungsberufe. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1983• Imhof, Kurt/Schulz, Peter (Hg.): Die Veröffentlichung des Privaten. Seismo Verlag, Zürich (im Ersche<strong>in</strong>en)• Ipsen, Jörn (Hg.): Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Private F<strong>in</strong>anzierung kommunaler Investitionen (4. BadIburger Gespräche – Symposium des Instituts für Kommunalrecht <strong>der</strong> Universität Osnabrück am 15. September1993). Carl Heymanns Verlag, Köln u.a. 1994• Irw<strong>in</strong>, Alan: Citizen Science – A Study of Peolple, Expertise and Susta<strong>in</strong>able Development. Routledge, London/NewYork 1995• Irw<strong>in</strong>, Alan: Risk and the Controll of Technology – Public Politics for Road Traffic Safety <strong>in</strong> Brita<strong>in</strong> and the UnitedStates. Manchester University Press, Manchester 1985• Isensee, Josef: Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und <strong>Politik</strong>. In: Piazolo, Michael (Hg.): Das Bundesverfassungsgericht.S. 49–60• Iss<strong>in</strong>g, Otmar (Hg.): Geschichte <strong>der</strong> Nationalökonomie. Verlag Franz Vahlen, München 1994• Jacobs, Wilhelm G. (Hg.): Johann Gottlieb Fichte – Schriften zur Wissenschaftslehre [Werke, Band I]. DeutscherKlassiker Verlag, Frankfurt 1997• Jacobson, Harold K.: Networks of Interdependence – International Organisations and the Global Political System.Alfred A. Knopf, New York 1984• Jäckel, Peter: Auf dem Weg zur Informationsgesellschaft? – Informationsverhalten und die Folgen <strong>der</strong> Informationskonkurrenz.In: Ders./W<strong>in</strong>terhoff-Spurk, Peter (Hg.): <strong>Politik</strong> und Medien. S. 11–33• Jäckel, Michael/W<strong>in</strong>terhoff-Spurk, Peter (Hg.): <strong>Politik</strong> und Medien – Analysen zur Entwicklung <strong>der</strong> politischenKommunikation. Vistas Verlag, Berl<strong>in</strong> 1994• Jähnig, Ra<strong>in</strong>er: Freuds Dezentrierung des Subjekts im Zeichen <strong>der</strong> Hermeneutiken Ricœurs und Lacans. AV-Verlag,Augsburg 1987• <strong>Ja<strong>in</strong></strong>, <strong>Anil</strong> K.: Die globale Klasse. In: Wi<strong>der</strong>spruch. Heft 34 (1999), S. 80–84 sowie Internet: www.powerxs.de/agora/globale_klasse.html• <strong>Ja<strong>in</strong></strong>, <strong>Anil</strong> K.: Marx’ Gespenster und die Illusionen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – E<strong>in</strong>e virtuelle Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit JacquesDerrida und Terry Eagleton. In: HP – Zeitschrift <strong>der</strong> Historiker und Politologen an <strong>der</strong> Universität München. Ausgabe7 (1998), S. 63ff. sowie Internet: www.power-xs.de/agora/marx-gespenster.html• <strong>Ja<strong>in</strong></strong>, <strong>Anil</strong> K.: Shivas Tanz auf dem Vulkan – Genese und Entwicklung des H<strong>in</strong>du-Nationalismus <strong>in</strong> Indien. Internet:www.power-xs.de/agora/shivas_tanz.html• Jameson, Fredric: Late Marxism – Adorno, or, The Persistence of the Dialectic. Verso, London/New York 1990• Jameson, Fredric: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Zur Logik <strong>der</strong> Kultur im Spätkapitalismus. In: Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus(Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. S. 45–102• Jameson, Fredric: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne und Utopie. In: Weimann, Robert/Gumbrecht, Ulrich (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. S.73–109• Jameson, Fredric: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism. Verso, London/New York 1991• Jarchow, Hans-Joachim: Der Keynesianismus. In: Iss<strong>in</strong>g, Otmar (Hg.): Geschichte <strong>der</strong> Nationalökonomie. S. 193–213• Jencks, Charles: Die Sprache <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen Architektur. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne.S. 85–94• Joedicke, Jürgen: Architekturgeschichte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Verlag Karl Krämer, Stuttgart 1990


122 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Joerges, Bernward: Große technische Systeme. In: Bechmann, Gotthard/Rammert, Werner (Hg.): Technik undGesellschaft – Jahrbuch 6. S. 40–72• Joerges, Bernward: Large Technical Systems – Concepts and Issues. In: Mayntz, Renate/Hughes, Thomas P. (Hg.):The Development of Large Technical Systems. S. 9–36• Johnson, Hazel J.: Dispell<strong>in</strong>g the Myth of Globalization – The Case for Regionalization. Praeger Publishers, NewYork/Westport/London 1991• Johnson, Richard T.: Real and Theoretical Threats to Human Health Posed by the Epidemic of Bov<strong>in</strong>e SpongiformEncephalopathy. In: Gibbs, Clarence J. (Hg.): Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy. S. 359–363• Jonas, Hans: Das Pr<strong>in</strong>zip Verantwortung – Versuch e<strong>in</strong>er Ethik für die technologische Zivilisation. Insel, Frankfurt1979• Kairys, David (Hg.): The Politics of Law – A Progressive Critique. Pantheon Books, New York 1982• Kalter, Johannes: Die materielle Kultur <strong>der</strong> Massai und ihr Wandel. Bremer Afrika-Archiv (Band 4), Bremen 1978• Kamlah, Wilhelm: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie – Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zumfuturistischen Denken <strong>der</strong> Neuzeit. Bibliographisches Institut, Mannheim/Wien/Zürich 1969• Kamper, Dietmar: Aufklärung – was sonst? E<strong>in</strong>e dreifache Polemik gegen ihre Verteidiger. In: Ders./Reijen, Willemvan (Hg.): Die unvollendete Vernunft. S. 37–45• Kamper, Dietmar: Medienimmanenz und transzendentale Körperlichkeit – Acht Merkposten für e<strong>in</strong>e postmedialeZukunft. In: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien und Öffentlichkeit. S. 355–360• Kamper, Dietmar: Nach <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. In: Welsch, Wolfgang: Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – Schlüsseltexte <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskussion. S. 162–174• Kamper, Dietmar/Reijen, Willem van (Hg.): Die unvollendete Vernunft – Mo<strong>der</strong>ne versus <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Suhrkamp,Frankfurt 1987• Kant, Immanuel: Ausgewählte kle<strong>in</strong>e Schriften. Verlag Felix Me<strong>in</strong>er, Hamburg 1969• Kant, Immanuel: Beantwortung <strong>der</strong> Frage: Was ist Aufklärung? In: Ders.: Ausgewählte kle<strong>in</strong>e Schriften. S. 1–9• Kant, Immanuel: Grundlegung <strong>der</strong> Metaphysik <strong>der</strong> Sitten. In: Cassirer, Ernst (Hg.): Immanuel Kants Werke. BandIV, S. 241–324• Kant, Immanuel: Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft. In: Cassirer, Ernst (Hg.): Immanuel Kants Werke. Band III. Berl<strong>in</strong> 1922• Kant, Immanuel: Rechtslehre. In: Cassirer, Ernst (Hg.): Immanuel Kants Werke. Band VII, S. 3–180• Kant, Immanuel: Über den Geme<strong>in</strong>spruch – Das mag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theorie richtig se<strong>in</strong>, taugt aber nicht für die Praxis.In: Cassirer, Ernst (Hg.): Immanuel Kants Werke. Band VI. S. 355–398• Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden – E<strong>in</strong> philosophischer Entwurf. Felix Me<strong>in</strong>er Verlag, Hamburg 1992• Kapste<strong>in</strong>, Ethan B.: Workers and the World Economy. In: Foreign Affairs. Heft 3/1996, S. 16–37• Katzek, Jens: Gentechnik im Lebensmittelbereich. Internet: www.gsf.de/OA/higen2.html• Kaulbach, Friedrich: Kants Idee <strong>der</strong> transzendentalen Dialektik. In: Becker, Werner/Essler, Wilhelm K. (Hg.): Konzepte<strong>der</strong> Dialektik. S. 5–25• Keane, John: Democracy and Civil Society – On the Predicaments of European Socialism, the Prospects for Democracy,and the Problem of Controll<strong>in</strong>g Social and Political Power. Verso, London/New York 1988• Kehlsen, Hans: Re<strong>in</strong>e Rechtslehre. Verlag Franz Deuticke, Wien 1960• Keilhauer, Anneliese: H<strong>in</strong>duismus. Indoculture Verlag, Stuttgart 1986• Keohane, Robert O.: After Hegemony – Cooperation and Discord <strong>in</strong> the World Political Economy. Pr<strong>in</strong>ceton UniversityPress, Pr<strong>in</strong>ceton 1984• Kerckhove, Derrick de: Jenseits des Globalen Dorfes – Infragestellung <strong>der</strong> Öffentlichkeit. In: Maresch, Rudolf (Hg.):Medien und Öffentlichkeit. S. 135–148• Kerst<strong>in</strong>g, Wolfgang: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt1994• Kerst<strong>in</strong>g, Wolfgang: Thomas Hobbes zur E<strong>in</strong>führung. Junius, Hamburg 1992• Kettle, Mart<strong>in</strong>: Als wäre <strong>der</strong> Krieg ausgebrochen… – Englands Konservative nehmen die R<strong>in</strong>dfleischkrise zum Vorwand,um den Nationalismus auf <strong>der</strong> Insel neu zu beleben. In: Die Zeit. Ausgabe vom 31. Mai (Nr. 23) 1996, S. 8• Keupp, He<strong>in</strong>er: Auf <strong>der</strong> Suche nach <strong>der</strong> verlorenen Identität. In: Ders./Bilden, Helga (Hg.): Verunsicherungen.S. 47–69• Keupp, He<strong>in</strong>er: Grundzüge e<strong>in</strong>er reflexiven Sozialpsychologie – <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Perspektiven. In: Ders. (Hg.): Zugängezum Subjekt. S. 226–274• Keupp, He<strong>in</strong>er: Identitätsentwürfe zwischen postmo<strong>der</strong>ner Diffusität und <strong>der</strong> Suche nach Fundamenten. In: Giernalczyk,Thomas/Freitag, Regula (Hg.): Qualitätsmanagement von Krisen<strong>in</strong>tervention und Suizidprävention. S. 13–45• Keupp, He<strong>in</strong>er (Hg.): Zugänge zum Subjekt – Perspektiven e<strong>in</strong>er reflexiven Sozialpsychologie. Suhrkamp, Frankfurt1994


B: LITERATURVERZEICHNIS 123• Keupp, He<strong>in</strong>er/Bilden, Helga (Hg.): Verunsicherungen – Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel. Hofgrefe, Gött<strong>in</strong>gen1989• Keupp, He<strong>in</strong>er/Höfer, Renate (Hg.): Identitätsarbeit heute – Klassische und aktuelle Perspektiven <strong>der</strong> Identitätsforschung.Suhrkamp, Frankfurt 1997• Kierkegaard, Søren: Der Begriff Angst – E<strong>in</strong>e simple psychologisch-h<strong>in</strong>weisende Erörterung <strong>in</strong> Richtung des dogmatischenProblems <strong>der</strong> Erbsünde. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1991• K<strong>in</strong>gsley, Donal J.: Representative Bureaucracy – An Interpretation of the British Civil Service. The Antioch Press,Yellow Spr<strong>in</strong>gs 1944• Kirchheimer, Otto: Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus. In: Luthardt, Wolfgang (Hg.): Otto Krichheimer.S. 32–52• Kizer, John B.: The Browser War. 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Vandenhoeck & Ruprecht, Gött<strong>in</strong>gen 1974• Koepp<strong>in</strong>g, Klaus-Peter: Authentizität als Selbstf<strong>in</strong>dung durch den an<strong>der</strong>en: Ethnologie zwischen Engagement undReflexion, zwischen Leben und Wissenschaft. In: Dürr, Hans Peter (Hg.): Authentizität und Betrug <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ethnologie.S. 7–37• Köster-Lösche, Kari: R<strong>in</strong><strong>der</strong>wahns<strong>in</strong>n – BSE: Die neue Gefahr aus dem Kochtopf. Ehrenwirth Verlag, München1996• Kohut, He<strong>in</strong>z: Introspektion, Empathie und Psychoanalyse. Suhrkamp, Frankfurt 1977• Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Deutscher Taschenbuch Verlag/Klett-Cotta, München 1986• Kool, Frits/Krause, Werner (Hg.): Die frühen Sozialisten. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1972• Korte, Herman/Schäfers, Bernhard (Hg.): E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Hauptbegriffe <strong>der</strong> Soziologie. Leske+Budrich, Opladen1995• Koslowski, Peter: Die Baustellen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Wi<strong>der</strong> den Vollendungszwang <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. In: Koslowski,Peter/Spaemann, Robert/Löw, Re<strong>in</strong>hard (Hg.): Mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne? S. 1–16• Koslowski, Peter: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Kultur. Verlag C. H. Beck, München 1988• Koslowski, Peter/Spaemann, Robert/Löw, Re<strong>in</strong>hard (Hg.): Mo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne? – Zur Signatur des gegenwärtigenZeitalters. Acta humaniora, We<strong>in</strong>heim 1986• Kraus, Wolfgang: Das erzählte Selbst – Die narrative Konstruktion von Identität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Spätmo<strong>der</strong>ne. Centaurus,Pfaffenweiler 1996• Kreckel, Re<strong>in</strong>hard: Politische Soziologie <strong>der</strong> sozialen Ungleichheit. Campus, Frankfurt/New York 1992• Kreckel, Re<strong>in</strong>hard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt [Son<strong>der</strong>band 2], Gött<strong>in</strong>gen 1983


124 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Krempel, Stefan: Das Phänomen Berlusconi – Die Verstrickung von <strong>Politik</strong>, Medien, Wirtschaft und Werbung.Verlag Peter Lang, Frankfurt 1996• Kress, Gisela/Senghaas, Dieter (Hg.): <strong>Politik</strong>wissenschaft – E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> ihre Probleme. Europäische Verlagsanstalt,Frankfurt 1969• Kroeber-Riel, Werner: Informationsüberlastung durch Massenmedien und Werbung <strong>in</strong> Deutschland – Messung,Interpretation, Folgen. In: Die Betriebswirtschaft. Heft 3/1987, S. 257–264• Krönig, Jürgen: Ohne S<strong>in</strong>n und Verstand. In: Die Zeit. Ausgabe vom 28. März (Nr. 14) 1997, S. 29• Krönig, Jürgen: Orgiastische Beschwörung nationaler Leidenschaft – Die englische Presse schürt die Angst vor denDeutschen, um den Wi<strong>der</strong>stand gegen Europa zu stärken. In: Die Zeit. Ausgabe vom 28. Juni (Nr. 27) 1996, S.45• Krohne, He<strong>in</strong>z W.: Theorien zur Angst. Kohlhammer, Stuttgart u.a. 1981• Kübler, Friedrich (Hg.): Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität – Vergleichende Analysen.Suhrkamp, Frankfurt 1985• Küchler, Tilman: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Gam<strong>in</strong>g – Heidegger, Duchamp, Derrida. Peter Lang, New York u.a. 1994• Kuhn, Thomas: The Structure of Scientific Revolutions. The University of Chicago Press, Chicago 1970• Kulke, Hermann/Rothermund, Dietmar: Geschichte Indiens. Kohlhammer, Stuttgart 1982• Kunnemann, Harry/Vries, Hent de (Hg.): Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung – Zwischen Mo<strong>der</strong>ne und<strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Campus, Frankfurt/New York 1989• Kunzmann, Peter/Burkhard, Franz-Peter/Wiedmann, Franz: dtv-Atlas zur Philosophie. Deutscher TaschenbuchVerlag, München 1992• Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie – Zur Dekonstruktion des Marxismus. PassagenVerlag, Wien 1989• Ladeur, Karl-He<strong>in</strong>z: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Rechtstheorie: Selbstreferenz – Selbstorganisation – Prozeduralisierung. Duncker& Humblot, Berl<strong>in</strong> 1995• Lakatos, Imre: Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme. In: Ders./Musgrave,Alan (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. S. 89–189• Lakatos, Imre/Musgrave, Alan (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt. Vieweg, Braunschweig 1974• Lambert, Rob/Caspersz, Donella: International Labour Standards – Challeng<strong>in</strong>g Globalization Ideology? In: ThePacific Review. Heft 4/1995, S. 569–588• Langer, Rita: So heilt Homöopathie – Mediz<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> Natur. Manfred Pawlak Verlagsgesellschaft, Herrsch<strong>in</strong>g1989• Lappé, Frances M.: Politics for a Troubled Planet – Toward a <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Democratic Culture. In: Griff<strong>in</strong>, DavidRay/Falk, Richard (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Politics for a Planet <strong>in</strong> Crisis. S. 163–180• Larrabee, Eric/Meyersohn, Rolf (Hg.): Mass Leisure. The Free Press, Glencoe 1958• Lasch, Christopher: Das Zeitalter des Narzißmus. Ste<strong>in</strong>hausen Verlag, München 1980• Lash, Scott: Another Mo<strong>der</strong>nity – A Different Rationality. Blackwell, Oxford/Cambridge 1999• Lash, Scott: Ästhetische Dimension Reflexiver Mo<strong>der</strong>nisierung. In: Soziale Welt. Heft 3/1992, S. 261–277• Lash, Scott: Reflexivität und ihre Doppelungen – Struktur, Ästhetik und Geme<strong>in</strong>schaft. In: Beck, Ulrich/Giddens,Anthony/Ders.: Reflexive Mo<strong>der</strong>nisierung. S. 195–286• Lash, Scott: Sociology of <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism. Routledge, London/New York 1990• Lash, Scott/Urry, John: Economies of Signs and Space. Sage Publications, London/Thousand Oaks/New Delhi1994• Lash, Scott/Urry, John: The End of Organized Capitalism. The University of Wiscons<strong>in</strong> Press, Madison 1987• Lash, Scott/Friedman, Jonathan (Hg.): Mo<strong>der</strong>nity and Identity. Blackwell, Oxford/Cambridge 1992• Laski, Harold J.: Der Aufstieg des europäischen Liberalismus. In: Gall, Lothar (Hg.): Liberalismus. S. 122–133• Lassalle, Ferd<strong>in</strong>and: Das System <strong>der</strong> erworbenen Rechte (Vorrede). In: Reich, Norbert (Hg.): Marxistische undsozialistische Rechtstheorie. S. 25–32• Latouche, Serge: Die Verwestlichung <strong>der</strong> Welt – Essay über die Bedeutung, den Fortgang und die Grenzen <strong>der</strong>Zivilisation. Dipa-Verlag, Frankfurt 1994• Latour, Bruno: Aramis or the Love of Technology. Harvard University Press, Cambridge/London 1996• Latour, Bruno: Pasteur – Une science, un style, un siècle. Perr<strong>in</strong>/Institut Pasteur, Paris 1994• Latour, Bruno: Technology is Society Made Durable. In: Law, John: A Sociology of Monsters. S. 103–131• Latour, Bruno: Science <strong>in</strong> Action – How to Follow Scientists and Eng<strong>in</strong>eers Through Society. Harvard UniversityPress, Cambridge 1987• Latour, Bruno: Wir s<strong>in</strong>d nie mo<strong>der</strong>n gesewen – Versuch e<strong>in</strong>er symmetrischen Anthropologie. Akademie Verlag,Berl<strong>in</strong> 1995


B: LITERATURVERZEICHNIS 125• Latour, Bruno/Bastide, Françoise: Writ<strong>in</strong>g Science – Fact and Fiction: The Analysis of the Process of Reality ConstructionThrough the Application of Socio-Semiotic Methods to Scientific Texts. In: Callon, Michel/Law, John/Rip, Arie(Hg.): Mapp<strong>in</strong>g the Dynamics of Science and Technology. S. 51–66• Law, John: Laboratories and Texts. In: Callon, Michel/Ders./Rip, Arie (Hg.): Mapp<strong>in</strong>g the Dynamics of Scienceand Technology. S. 35–50• Law, John: Monsters, Mach<strong>in</strong>es and Sociotechnical Relations. In: Ders. (Hg.): A Sociology of Monsters. S. 1–23• Law, John: Power, Discreation and Strategy. In: Ders. (Hg.): A Sociology of Monsters. S. 165–191• Law, John (Hg.): A Sociology of Monsters – Essays on Power, Technology and Dom<strong>in</strong>ation. Routledge, London/NewYork 1991• Lazarsfeld, Paul F./Berelson, Bernard/Gaudet, Hazel: Wahlen und Wähler – Soziologie des Wahlverhaltens. 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Wissenschaftliche Buchgesellschaft,Darmstadt 1994• Lefort, Claude/Gauchet, Marcel: Über die Demokratie – Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen.In: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. S. 89–122• Leibfried, Stephan/Rieger, Elmar: Wohlfahrtsstaat und Globalisierung – O<strong>der</strong> vom E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> den Ausstieg aus<strong>der</strong> Weltwirtschaft? In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Heft 3/1996, S. 217–221• Le<strong>in</strong>er, Barry M. u.a: A Brief History of the Internet. Internet: www.isoc.org/<strong>in</strong>ternet-history• Leiser<strong>in</strong>g, Lutz: Zwischen Verdrängung und Dramatisierung – Zur Wissenssoziologie <strong>der</strong> Armut <strong>in</strong> <strong>der</strong> bundesrepublikanischenGesellschaft. In: Soziale Welt. 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Deutscher Taschenbuch Verlag,München 1992• Löw, Re<strong>in</strong>hard/Spaemann, Robert/Koslowski, Peter (Hg.): Expertenwissen und <strong>Politik</strong>. VCH Verlagsgesellschaft,We<strong>in</strong>heim 1990


126 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Luard, Evan: The Globalization of Politics – The Changed Focus of Political Action <strong>in</strong> the Mo<strong>der</strong>n World. NewYork University Press. New York 1990• Lucie-Smith, Edward: Die mo<strong>der</strong>ne Kunst: Malerei – Fotographie – Graphik – Objektkunst. Südwest Verlag, München1992• Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechts – Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Suhrkamp,Frankfurt 1981• Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechtssystems. In: Ders.: Ausdifferenzierung des Rechts. S. 35–52• Luhmann, Niklas: Beobachtungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Westdeutscher Verlag, Opladen 1992• Luhmann, Niklas: Das Mo<strong>der</strong>ne <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft. In: Zapf, Wolfgang (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>nisierung mo<strong>der</strong>nerGesellschaften. S. 87–107• Luhmann, Niklas: Das Recht <strong>der</strong> Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1993• Luhmann, Niklas: Der politische Code – ›Konservativ‹ und ›progressiv‹ <strong>in</strong> systemtheoretischer Sicht. In: Ders.:Soziologische Aufklärung 3. S. 267–286• Luhmann, Niklas: Die Beobachtung <strong>der</strong> Beobachter im politischen System – Zur Theorie <strong>der</strong> Öffentlichen Me<strong>in</strong>ung.In: Wilke, Jürgen (Hg.): Öffentliche Me<strong>in</strong>ung. S. 77–86• Luhmann, Niklas: Die Codierung des Rechtssystems. In: Rechtstheorie. Jahrgang 1986, S. 171–203• Luhmann, Niklas: Die Differenzierung von <strong>Politik</strong> und Wirtschaft und ihre gesellschaftlichen Grundlagen. In: Ders.:Soziologische Aufklärung 4. S. 32–48• Luhmann, Niklas: Die E<strong>in</strong>heit des Rechtssystems. In: Rechtstheorie. Jahrgang 1983, S. 129–154• Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft <strong>der</strong> Gesellschaft. 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1997• Luhmann, Niklas: Die <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft. Unveröffentlichtes Manuskript, Bielefeld 1993• Luhmann, Niklas: Die Realität <strong>der</strong> Massenmedien. Westdeutscher Verlag, Opladen 1996• Luhmann, Niklas: Die Soziologie und <strong>der</strong> Mensch. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. S. 265–274• Luhmann, Niklas: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen. In: Ders.: Soziologische Aufklärung6. S. 155–168• Luhmann, Niklas: Die Weltgesellschaft. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 2. S. 51–71• Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft <strong>der</strong> Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1988• Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft <strong>der</strong> Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1990• Luhmann, Niklas: Die Zukunft <strong>der</strong> Demokratie. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 4. S. 126–132• Luhmann, Niklas: E<strong>in</strong>ige Probleme mit ›reflexivem Recht‹. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie. Heft 1/1985, S. 1–18• Luhmann, Niklas: Funktionen <strong>der</strong> Rechtsprechung im politischen System. In: Ders.: Politische Planung. S. 46–65• Luhmann, Niklas: Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Me<strong>in</strong>ung. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 5.S. 170–182• Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. 4 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1980–1995• Luhmann, Niklas: Inklusion und Exklusion. In: Berd<strong>in</strong>g, Helmuth (Hg.): Nationales Bewußtse<strong>in</strong> und kollektiveIdentität. S. 15–45• Luhmann, Niklas: Kapital und Arbeit – Probleme e<strong>in</strong>er Unterscheidung. In: Berger, Johannes (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>ne.S. 57–78• Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren. Luchterhand, Neuwied/Berl<strong>in</strong> 1969• Luhmann, Niklas: Liebe als Passion – Zur Codierung von Intimität. Surhkamp, Frankfurt 1994• Luhmann, Niklas: Machtkreislauf und Recht <strong>in</strong> Demokratien. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 4. S. 142–151• Luhmann, Niklas: Öffentliche Me<strong>in</strong>ung. In: Ders.: Politische Planung. S. 9–34• Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation – Kann die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungene<strong>in</strong>stellen? Westdeutscher Verlag, Opladen 1990• Luhmann, Niklas: Politische Planung – Aufsätze zur Soziologie von <strong>Politik</strong> und Verwaltung. Westdeutscher Verlag,Opladen 1971• Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie. Westdeutscher Verlag, Opladen 1993• Luhmann, Niklas: Soziale Systeme – Grundriß e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en Theorie. Suhrkamp, Frankfurt 1984• Luhmann, Niklas: Soziologie als Theorie sozialer Systeme. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 1. S. 113–136• Luhmann, Niklas: Soziologie des politischen Systems. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 1. S. 154–177• Luhmann, Niklas: Soziologie für unsere Zeit – Seit Max Weber: Methodenbewußtse<strong>in</strong> und Grenzerfahrung <strong>in</strong> <strong>der</strong>Wissenschaft. In: Meyer, Mart<strong>in</strong> (Hg.): Wo wir stehen. S. 53–59• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 1 – Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Westdeutscher Verlag, Opladen1974• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 2 – Ansätze zur Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft. Westdeutscher Verlag, Opladen1975• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 3 – Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Westdeutscher Verlag,Opladen 1981


B: LITERATURVERZEICHNIS 127• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 4 – Beiträge zur funktionalen Differenzierung <strong>der</strong> Gesellschaft. WestdeutscherVerlag, Opladen 1987• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 5– Konstruktivistische Perspektiven. Westdeutscher Verlag, Opladen1988• Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 6 – Die Soziologie und <strong>der</strong> Mensch. Westdeutscher Verlag, Opladen1995• Luhmann, Niklas: Vertrauen – E<strong>in</strong> Mechanismus <strong>der</strong> Reduktion sozialer Komplexität. Ferd<strong>in</strong>and Enke Verlag, Stuttgart1973• Lukács, Georg: Die Verd<strong>in</strong>glichung und das Bewußtse<strong>in</strong> des Proletariats. In: Ders.: Geschichte und Klassenbewußtse<strong>in</strong>.S. 94–228• Lukács, Georg: Die Zerstörung <strong>der</strong> Vernunft [Werke, Band 6]. Luchterhand, Neuwied 1962• Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewußtse<strong>in</strong> – Studien über marxistische Dialektik. De Munter Verlag, Amsterdam1967• Lukács, Georg: Klassenbewußtse<strong>in</strong>. In: Ders.: Geschichte und Klassenbewußtse<strong>in</strong>. S. 57–93• Luthhardt, Wolfgang (Hg.): Otto Kirchheimer – Von <strong>der</strong> Weimarer Republik zum Faschismus: Die Auflösung <strong>der</strong>demokratischen Rechtsordnung. Suhrkamp, Frankfurt 1976• Luttwak, Edward N.: Weltwirtschaftskrieg – Export als Waffe: Aus Partnern werden Gegner. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek1994• Lyman, Stanford M. (Hg.): Social Movements – Critiques, Concepts, Case-Studies. New York University Press,New York 1995• Lyotard, Jean-François: Beantwortung <strong>der</strong> Frage: Was ist postmo<strong>der</strong>n? In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. S. 193–203• Lyotard, Jean-François: Das Patchwork <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten – Für e<strong>in</strong>e herrenlose <strong>Politik</strong>. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1977• Lyotard, Jean-François: Das postmo<strong>der</strong>ne Wissen – E<strong>in</strong> Bericht. Edition Passagen, Graz/Wien 1986• Lyotard, Jean-François: Der Wi<strong>der</strong>streit. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1989• Lyotard, Jean-François: Die Mo<strong>der</strong>ne redigieren. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. S. 204–214• Lyotard, Jean-François: Immaterialität und <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Merve Verlag, Berl<strong>in</strong> 1985• MacEwan, Arthur: Globalisation and Stagnation. In: Miliband, Ralph/Panitch, Leo (Hg.): Between Globalism andNationalism. S. 130–143• Machiavelli, Niccolò: Der Fürst (Il Pr<strong>in</strong>cipe). Kröner, Stuttgart 1978• Machiavelli, Niccolò: Discorsi [sopra la prima deca di Tito Livio] – Gedanken über <strong>Politik</strong> und Staatsführung. Kröner,Stuttgart 1966• MacIntyre, Alasdair: Der Verlust <strong>der</strong> Tugend – Zur moralischen Krise <strong>der</strong> Gegenwart. Suhrkamp, Frankfurt 1995• Macpherson, Crawford B.: Die politische Theorie des Besitz<strong>in</strong>dividualismus. Suhrkamp, Frankfurt 1967• Maddison, Angus: Phases of Capitalist Development. Oxford University Press, Oxford/New York 1982• Maheu, Louis (Hg.): Social Movements and Social Classes – The Future of Collective Action. Sage Publications,London/Thousand Oaks/New Delhi 1995• Maier, Hans: Epochen <strong>der</strong> wissenschaftlichen <strong>Politik</strong>. In: Lietzmann, Hans J./Bleek, Wilhelm (Hg.): <strong>Politik</strong>wissenschaft.S. 7–20• Maihofer, Werner: Ideologie und Recht. In: Ders. (Hg.): Ideologie und Recht. S. 1–35• Maihofer Werner (Hg.): Ideologie und Recht. Vittorio Klostermann, Frankfurt 1969• Makropoulos, Michael: Kont<strong>in</strong>genz und Handlungsraum. In: Graevenitz, Gerhart/Marquard, Odo (Hg.): Kont<strong>in</strong>genz.S. 23–26• Makropoulos, Michael: Mo<strong>der</strong>nität als Kont<strong>in</strong>genzkultur – Konturen e<strong>in</strong>es Konzepts. In: Graevenitz, Gerhart/Marquard,Odo (Hg.): Kont<strong>in</strong>genz. S. 75–79• Makropoulos, Michael: Mo<strong>der</strong>nität und Kont<strong>in</strong>genz. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1997• Mandel, Ernest: Der Spätkapitalismus. Suhrkamp, Frankfurt 1974• Mann, Michael: Empires with Ends. In: Ders. (Hg.): The Rise and Decl<strong>in</strong>e of the Nation State. S. 1–11• Mann, Michael (Hg.): The Rise and Decl<strong>in</strong>e of the Nation State. Basil Blackwell, Oxford/Cambridge 1990• Mannheim, Karl: Das konservative Denken. In: Schumann, Hans-Gerd (Hg.): Konservatismus. S. 24–75• Mannheim, Karl: Das utopische Bewußtse<strong>in</strong>. In: Ders.: Ideologie und Utopie. S. 169–226• Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. In: Ders.: Ideologie und Utopie. S. 49–94• Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie. Verlag G. Schulte-Blumke, Frankfurt 1952• Manschot, Henk: Nietzsche und die <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie. In: Kamper, Dietmar/Reijen, Willem van(Hg.): Die unvollendete Vernunft. S. 478–496


128 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Manuelidis, Elias E./Manuelidis Laura: A Transmissible Creutzfeldt-Jakob Disease-Like Agent is Prevalent <strong>in</strong> theHuman Population. In: Proceed<strong>in</strong>gs of the National Academy of Sciences of the United States of America. Vol.90 (1993), S. 7724–7728• Marc<strong>in</strong>kowski, Frank: Politisierung und Entpolitisierung <strong>der</strong> ›Realität‹ <strong>in</strong> unterschiedlichen Medienformaten – ›ADifference that Makes a Difference‹. In: Jäckel, Peter/W<strong>in</strong>terhoff-Spurk, Peter (Hg.): <strong>Politik</strong> und Medien. S. 35–53e• Marcos, +Subcomandante*: La 4 guerre mondiale a commencé. In: Le Monde diplomatique. Nr. 521 (August1997), S. 18 u. 4f. (Fortsetzung)• Marcuse, Herbert: Der e<strong>in</strong>dimensionale Mensch. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994• Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft – E<strong>in</strong> philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Suhrkamp,Frankfurt 1965• Maresch, Rudolf (Hg.): Medien und Öffentlichkeit – Positionierungen, Symptome, Simulationsbrüche. Klaus BoerVerlag,1996 [ohne Ortsangabe]• Marsh, Richard F.: BSE-Free Status – What Does it Mean? In: Gibbs, Clarence J. (Hg.): Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy.S. 114–121• Marshall, Thomas H.: Bürgerrechte und soziale Klassen – Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Campus, Frankfurt/NewYork 1992• Marshall, Thomas H.: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen. In: Ders.: Bürgerrechte und soziale Klassen. S. 33–94• Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens [Defensor pacis]. 2 Bände, Rütten & Loen<strong>in</strong>g, Berl<strong>in</strong> 1958• Mart<strong>in</strong>, Hans-Peter/Schumann, Harald: Die Gobalisierungsfalle – Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand.Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1996• Mart<strong>in</strong>, Peter: The Mad Cow Deceit. Orig<strong>in</strong>al <strong>in</strong>: Mail On Sunday. 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Gondrom Verlag, B<strong>in</strong>dlach 1987• Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest <strong>der</strong> Kommunistischen Partei. In: Dies.: Ausgewählte Werke. S. 31–57• Matthes, Joachim (Hg.): Krise <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft? – Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages <strong>in</strong>Bamberg 1982. Campus Verlag, Frankfurt/New York 1983• Maturana, Humberto R.: Neurophysology of Cognition. In: Garv<strong>in</strong>, Paul L. (Hg.): Cognition. S. 3–23• Maturana, Humberto R./Varela, Fracisco J.: Autopoiesis and Cognition – The Realization of the Liv<strong>in</strong>g. ReidelPublish<strong>in</strong>g Company, Dodrecht/London 1980• Maus, Ingeborg: Rechtstheorie und Politische Theorie im Industriekapitalismus. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München1986• Maus, Ingeborg: Verrechtlichung, Entrechtlichung und <strong>der</strong> Funktionswandel von Institutionen. In: Dies.: Rechtstheorieund Politische Theorie im Industriekapitalismus. 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Campus/Westview Press,Frankfurt/Boul<strong>der</strong> 1988• Mazz<strong>in</strong>i, Giuseppe: E<strong>in</strong>ige Ursachen, welche die Entwicklung <strong>der</strong> Freiheit <strong>in</strong> Italien bis jetzt verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten. In: Ders.:Politische Schriften. S. 181–248• Mazz<strong>in</strong>i, Giuseppe: Politische Schriften. Reichenbach’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1911• McCombs, Maxwell E./Shaw, Donald L.: The Agenda-Sett<strong>in</strong>g Function of Mass Media. In: Publik Op<strong>in</strong>ion Quaterly.Vol. 36 (1972), S. 176–187• McDonold, Joan: Rousseau and the French Revolution: 1792–1791. Atherlone Press, London 1965


B: LITERATURVERZEICHNIS 129• McGrew, Anthony: A Global Society? In: Hall, Stuart/Held, David/McGrew, Anthony (Hg.): Mo<strong>der</strong>nity and itsFutures. S. 61–116• McGrew, Anthony: Conceptualiz<strong>in</strong>g Global Politics. In: Ders/Lewis, Paul (Hg.): Global Politics. S. 1–28• McGrew, Anthony: Global Politics <strong>in</strong> a Transitional Era. In: Ders/Lewis, Paul (Hg.): Global Politics. S. 312–330• McGrew, Anthony/Lewis, Paul (Hg.): Global Politics – Globalization and the Nation State. Politiy Press, Camebridge1992• McKenzie, Richard B./Dwight, Lee R.: Quicksilver Capital – How the Rapid Movement of Wealth Has Changedthe World. The Free Press, New York u.a. 1991• McKibben, Bill: Das Ende <strong>der</strong> Natur. List, München 1989• McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle – ›Un<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g Media‹. Econ-Verlag, Düsseldorf/Wien 1968• McNeill, William H.: W<strong>in</strong>ds of Change. In: Foreign Affairs. 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Oldenbourg Verlag, München 1962• Melucci, Alberto: Nomads of the Present – Social Movements and Individual Needs <strong>in</strong> Contemporary Society.Hutchison Radius, London u.a. 1989• Melucci, Alberto: The New Social Movements Revisited – Reflections on a Sociological Misun<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g. In: Maheu,Louis (Hg.): Social Movements and Social Class. S. 107–119• Menschikow, Stanislaw: Lange Wellen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft – Theorie und aktuelle Kontroversen. Institut für MarxistischeStudien und Forschungen, Frankfurt 1989• Menzel, Ulrich: Die neue Weltwirtschaft – Entstofflichung und Entgrenzung im Zeichen <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. In: Peripherie.Heft 59/60 (1995), S. 30–44• Menzel, Ulrich: Internationale Beziehungen im Cyberspace. In: Universitas. Heft 1/1994, S. 43–55• Merton, Robert K.: Social Theory and Social Structure. The Free Press, Glencoe 1961• Messerl<strong>in</strong>, Patrick A./Sauvant, Karl P. (Hg.): The Uruguay Round – Services <strong>in</strong> the World Economy. The WorldBank, Wash<strong>in</strong>gton 1990• Meyer, Ahlrich: Frühsozialismus – Theorien <strong>der</strong> sozialen Bewegung 1789–1848. Verlag Karl Alber, Freiburg/München1977• Meyer, Eduard: Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums. In: Ders.: Kle<strong>in</strong>e Schriften zur Geschichtstheorieund zur wirtschaftlichen und politischen Geschichte des Altertums. S. 79–160• Meyer, Eduard: Kle<strong>in</strong>e Schriften zur Geschichtstheorie und zur wirtschaftlichen und politischen Geschichte desAltertums. Verlag Max Niemeyer, Halle 1910• Meyer, Mart<strong>in</strong> (Hg.): Wo wir stehen – Dreißig Beiträge zur Kultur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Piper, München 1988• Meyer, Thomas: Die Inszenierung des Sche<strong>in</strong>s. Suhrkamp, Frankfurt 1992• Meyer, Thomas: Die Transformation des Politischen. Suhrkamp, Frankfurt 1994• Meyers, Re<strong>in</strong>hard: Grundbegriffe, Strukturen und theoretische Perspektiven <strong>der</strong> Internationalen Beziehungen [zitiertals ›Internationale Beziehungen‹]. In: Stammen, Theo u.a. (Hg.): Grundwissen <strong>Politik</strong>. S. 220–316• Mieck, Ilja: Europäische Geschichte <strong>der</strong> Frühen Neuzeit – E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung. Kohlhammer, Stuttgart u.a. 1981• Miliband, Ralph/Panitch, Leo (Hg.): Between Globalism and Nationalism – Socialist Register 1994. The Merl<strong>in</strong>Press, London 1994• Mill, John S.: Betrachtungen über die repräsentative Demokratie. Svhön<strong>in</strong>gh, Pa<strong>der</strong>born 1971• Mill, John S.: Utilitarism. Hackett Publish<strong>in</strong>g Company, Indianapolis 1979• Mills, Wright C.: The Power Elite. Oxford University Press, London/Oxford/New York 1972• Milner, Andrew/Thompson, Philip/Worth, Chris (Hg.): <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Conditions. Berg, New York/Oxford/München1990• Mises, Ludwig: Bureaucracy. Arl<strong>in</strong>gton House, New Rochelle 1969• Mises, Ludwig: Nationalökonomie – Theorie des Handelns und des Wirtschaftens. Philosophia Verlag, München1980


130 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Mitchel, Jeremy: The Nature and Government of the Global Economy. In: McGreew, Anthony/Lewis Paul (Hg.):Global Politics. S. 174–196• Mittelman, James H.: Reth<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g the International Division of Labour <strong>in</strong> the Context of Globalisation. In: ThirdWorld Quaterly. Heft 2/1995, S. 273–295• Mittermüller, Hans G.: Ideologie und Theorie <strong>der</strong> Ökologiebewegung – Zur Konzeption e<strong>in</strong>er ›Ökologischen Philosophie‹.Peter Lang, Frankfurt u.a. 1987• Modelski, George: Pr<strong>in</strong>ciples of World Politics. The Free Press, New York 1972• Moles, Abraham A.: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung. Verlag M. DuMont, Schauberg 1971• Montaigne, Michel de: Philosophieren heißt sterben lernen. In: Wuthenow, Palph-Ra<strong>in</strong>er (Hg.): Michel de Montaigne– Essais. S. 7–31• Montaigne, Michel de: Über die Unbeständigkeit <strong>der</strong> menschlichen Handlungen. In: Wuthenow, Palph-Ra<strong>in</strong>er(Hg.): Michel de Montaigne – Essais. S. 102–112• Montanari, Massimo: The Culture of Food. Blackwell, Oxford/Cambridge 1994• Montesquieu, Charles de: Vom Geist <strong>der</strong> Gesetze. H. Laupp’sche Buchhandlung, Tüb<strong>in</strong>gen 1951• Mooser, Josef: Auflösung <strong>der</strong> proletarischen Milieus – Klassenb<strong>in</strong>dung und Individualisierung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeiterschaftvom Kaiserreich bis <strong>in</strong> die Bundesrepublik Deutschland. In: Soziale Welt. Heft 3/1983, S. 270–306• Morgenthau, Hans J.: Politics Among Nations – The Struggle for Power and Peace. Alfred A. Knopf, New York1978• Morse, Edward L.: Mo<strong>der</strong>nization and the Transformation of International Relations. The Free Press, New York1976• Morus, Thomas: Utopia. In: He<strong>in</strong>isch, Klaus (Hg.): Der utopische Staat. S. 7–110• Moscovici, Serge: Sozialer Wandel durch M<strong>in</strong>oritäten. Urban & Schwarzenberg, München/Wien/Baltimore 1979• Mossé, Claude: Die Ursprünge des Sozialismus im klassischen Altertum. In: Droz, Jacques (Hg.): Geschichte desSozialismus. Band 1, S. 65–111• Mossé, Claude: Der Zerfall <strong>der</strong> athenischen Demokratie. Artemis, Zürich/München 1979• Mouffe, Chantal: Deconstruction, Pragmatism and the Politics of Democracy. In: Dies. (Hg.): Deconstructionand Pragmatism. S. 1–11• Mouffe, Chantal (hg.): Deconstruction and Pragmatism. Routledge, London/New York 1996• Müller, Erika: Gesetzgebung im historischen Vergleich – E<strong>in</strong> Beitrag zur Empirie <strong>der</strong> Staatsaufgaben. Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1989• Müller, Erika/Nud<strong>in</strong>g, Wolfgang: Gesetzgebung – ›Flut‹ o<strong>der</strong> ›Ebbe‹? In: Politische Vierteljahresschrift. Heft 1/1984,S. 74–96• Müller-Funk, Wolfgang: Die Enttäuschungen <strong>der</strong> Vernunft – Von <strong>der</strong> Romantik zur <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. Edition Falter,Wien 1990• Münch, Richard: Dialektik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1991• Münch, Richard: Die Kultur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1986• Münch, Richard: Die Struktur <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – Grundmuster und differentielle Gestaltung des <strong>in</strong>stitutionellen Aufbaus<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1984.• Münch, Richard: Dynamik <strong>der</strong> Kommunikationsgesellschaft. Suhrkamo, Frankfurt 1995• Münch, Richard: Globale Dynamik, lokale Lebenswelten – Der schwierige Weg <strong>in</strong> die Weltgesellschaft. Suhrkamp,Frankfurt 1998• Münkler, Herfried: Machiavelli – Die Begründung des politischen Denkens <strong>der</strong> Neuzeit aus <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> RepublikFlorenz. Fischer, Frankfurt 1990• Münkler, Herfried: Thomas Hobbes. Campus, Frankfurt/New York 1993• Mulhearn, Chris: Change and Development <strong>in</strong> the Global Economy. In: Bretherton, Charlotte/Ponton, Geoffrey(Hg.): Global Politics. S. 155–193• Mulkay, Michael/Gilbert, Nigel: Theory Choice. In: Mulkay, Michael (Hg.): Sociology of Science. S. 131–153• Mulkay, Michael (Hg.): Sociology of Science – A Sociological Pilgrimage. Open University Press/Milton Keynes,Philadelphia 1991• Mumford, Lewis: Die Stadt – Geschichte und Ausblick. 2 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1979• Mumford, Lewis: The Myth of the Masch<strong>in</strong>e – Technics and Human Development. Harcourt, Brace & World,New York 1967• N)ag)arjuna: Mu) lamadhyamakaka) rika). In: Garfield, Jay L.: The Fundamental Wisdom of the Middle Way. S. 1–83• Nahamowitz, Peter: Kritische Rechtstheorie des ›Organisierten Kapitalismus‹ – E<strong>in</strong>e konzeptionelle Antwort aufpostregulatorische Rechtstheorie. In: Görlitz, Axel/Voigt, Rüdiger (Hg.): Grenzen des Rechts. S. 185–225


B: LITERATURVERZEICHNIS 131• Nairn, Tom u.a. (Hg.): Nationalismus und Marxismus – Anstoß zu e<strong>in</strong>er notwendigen Debatte. Rotbuch Verlag,Berl<strong>in</strong> 1978• Nairn, Tom: Der mo<strong>der</strong>ne Janus. In: Ders. u.a. (Hg.): Nationalismus und Marxismus. S. 7–44• Narang, Harash K.: Evidence that Homologous ssDNA Is Present <strong>in</strong> Scrapie, CJD, and BSE. In: Bjornsson, J. etal. (Hg.): Slow Infections of the Central Nervous System [Annals of the New York Academy of Sciences, Vol. 724(1994)]. S. 314–326• Narr, Wolf-Dieter/Schubert, Alexan<strong>der</strong>: Weltökonomie – Die Misere <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Suhrkamp, Frankfurt 1994• Nassehi, Arm<strong>in</strong>: Das stahlharte Gehäuse <strong>der</strong> Zugehörigkeit – Unschärfen im Diskurs um die ›multikulturelle Gesellschaft‹.In: Ders. (Hg.): Nation, Ethnie, M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit. 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S. 248–260• Neumann, Franz (Hg.): Handbuch Politischer Theorien und Ideologien. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1984• Neyer, Jürgen: Das Ende von Metropole und Peripherie? – Soziale Inklusion und Exklusion <strong>in</strong> <strong>der</strong> entgrenztenWeltwirtschaft. In: Peripherie. Heft 59/60 (1995), S. 10–29• Neyer, Jürgen: Globaler Markt und territorialer Staat – Konturen e<strong>in</strong>es wachsenden Antagonismus. In: Zeitschriftfür Internationale Beziehungen. Heft 2/1995, S. 287–315• Neyer, Jürgen/Seelaib-Kaiser, Mart<strong>in</strong>: Arbeitsmarktpolitik nach dem Wohlfahrtsstaat – Konsequenzen <strong>der</strong> ökonomischenGlobalisierung. In: Aus <strong>Politik</strong> und Zeitgeschichte. Heft 26/1996, S. 36–44• Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In: Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche. Band 2, S. 275–562• Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. In: Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche. Band 2, S. 7–274• Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. In: Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche. Band 2, S. 563–760• Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie <strong>der</strong> Moral. In: Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche. Band 2, S. 761–900• Nippel, Wilfried: Politische Theorien <strong>der</strong> griechisch-römischen Antike. In: Lieber, Hans-Joachim (Hg.): PolitischeTheorien von <strong>der</strong> Antike bis zur Gegenwart. S. 17–43• Noelle-Neumann, Elisabeth: Die Schweigespirale – Über die Entstehung <strong>der</strong> öffentlichen Me<strong>in</strong>ung. In: Dies.: Öffentlichlichkeitals Bedrohung. S. 169–203• Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentlichkeit als Bedrohung – Beiträge zur empirischen Kommunikationsforschung.Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1977• Noelle-Neumann, Elisabeth: Warum die Zeitung überleben wird. In: Dies.: Öffentlichkeit als Bedrohung. S. 89–98• Nonet, Philippe/Selznick, Philip: Law and Society <strong>in</strong> Transition – Toward Responsive Law. Octagon Books, NewYork 1978• Nonhoff, Mart<strong>in</strong>: Politische Theorie zwischen Dekonstruktion und Pragmatismus. In: Angermüller, Johannes/Ders.(Hg.): <strong>Post</strong>Mo<strong>der</strong>ne Diskurse zwischen Sprache und Macht. S. 23–34• Obermeier, Otto-Peter: Zweck – Funktion – System: Kritik konstruktive Untersuchung zu Niklas LuhmannsTheoriekonzeptionen. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1988• Offe, Claus: Das politische Dilemma <strong>der</strong> Technokratie. In: Koch, Claus/Senghaas, Dieter (Hg.): Texte zur Technokratiediskussion.S. 156–171


132 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Offe, Claus: Die Utopie <strong>der</strong> Null-Option – Mo<strong>der</strong>nität und Mo<strong>der</strong>nisierung als politische Gütekriterien. In: Berger,Johannes (Hg.): Die Mo<strong>der</strong>ne. S. 97–117• Offe, Claus: Disorganized Capitalism – Contemporary Transformations of Work and Politics. MIT Press, Cambridge1985• Offe, Claus: Politische Herrschaft und Klassenstrukturen – Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme.In: Kress, Gisela/Senghaas, Dieter (Hg.): <strong>Politik</strong>wissenschaft. S. 155–189• Offe, Claus: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Suhrkamp, Frankfurt 1980• Ogburn, William F.: Die Theorie des ›Cultural Lag‹. In: Dreitzel, Hans-Peter: Sozialer Wandel. S. 328–338• Ohmae, Kenichi: The Ende of the Nation State – The Rise of Regional Economies: How New Eng<strong>in</strong>es of Prosperityare Reshap<strong>in</strong>g Global Markets. 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Bayerische Landeszentralefür Politische Bildungsarbeit, München 1986• Ottmann, Henn<strong>in</strong>g: Politische Theologie als Begriffsgeschichte – O<strong>der</strong>: Wie man die politischen Begriffe <strong>der</strong> Neuzeitpolitisch-theologisch erklären kann. In: Gerhardt, Volker (Hg.): Der Begriff <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. S. 169–188• Palman, Guy (Hg.): Das bürgerliche Zeitalter. Fischer, Frankfurt 1974• Palonen, Kari: Das ›Webersche Moment‹ – Zur Kont<strong>in</strong>genz des Politischen. Westdeutscher Verlag, Opladen 1998• Palonen, Kari: <strong>Politik</strong> als ›chamäleonartiger‹ Begriff – Reflexionen und Fallstudien zum Begriffswandel <strong>der</strong> <strong>Politik</strong>.Hels<strong>in</strong>ki 1985• Pakulski, Jan: Social Movements and Class – The Decl<strong>in</strong>e of the Marxist Paradigm. In: Maheu, Louis (Hg.): SocialMovements and Social Class. S. 55–86• Panikkar, Raimon: Rückkehr zum Mythos. 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(Hg.): Work<strong>in</strong>g Papers <strong>in</strong> the Theorie of Action. The Free Press,Glencoe 1953• Parsons, Talcott/Shils, Edward A. (Hg.): Toward a General Theorie of Action. Harvard University Press, Cambridge1951• Pattison, I. H./Jones, K. M.: The Possible Nature of the Transmissible Agent of Scrapie. In: Verter<strong>in</strong>ary Record.Vol. 80 (1967), S. 2–9• Penski, Ulrich: Recht als Mittel von <strong>Politik</strong> – Möglichkeit o<strong>der</strong> Mißverständnis? In: Voigt, Rüdiger (Hg.): Rechtals Instrument von <strong>Politik</strong>. S. 35–59• Peter, Bernhard: Die Integration mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften. Suhrkamp, Frankfurt 1993• Peters, Bernhard: Der S<strong>in</strong>n von Öffentlichkeit. In: Neidhardt, Friedhelm (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Me<strong>in</strong>ung,soziale Bewegungen. S. 42–76• Pevsner, Nikolaus: Architecture <strong>in</strong> Our Time – The Anti-Pioneers. In: The Listener. Ausgabe vom 29.12.1966,S. 953ff. und Ausgabe vom 5.1.1967, S. 7ff.• Piazolo, Michael: Zur Mittlerrolle des Bundesverfassungsgerichts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Deutschen Verfassungsordnung. In: Ders.:Das Bundesverfassungsgericht. S. 7–11• Piazolo, Micheal (Hg.): Das Bundesverfassungsgericht – E<strong>in</strong> Gericht im Schnittpunkt von Recht und <strong>Politik</strong>. VonHase & Koehler Verlag, Ma<strong>in</strong>z/München 1995• Picker<strong>in</strong>g, Andrew (Hg.): Science as a Practise and Culture. University of Chicago Press, Chicago 1992• Pieterse, Jan N.: Globalization as Hybridization. In: Featherstone, Mike/Lash, Scott/Robertson, Roland (Hg.):Global Mo<strong>der</strong>nities. S. 45–68


B: LITERATURVERZEICHNIS 133• P<strong>in</strong>ch, Trevor J./Bijker, Wiebe E: The Social Construction of Facts and Artifacts – Or How the Sociology of Scienceand the Sociology of Technology Might Benefit Each Other. In: Bijker, Wiebe E./Hughes, Thomas P./P<strong>in</strong>ch, TrevorJ. (Hg.): The Social Construction of Technological Systems. S. 17–50• Pitz, Ernst (Hg.): Leben im Mittelalter – E<strong>in</strong> Lesebuch. Piper, München/Zürich 1990• Platon: Apologie. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band I• Platon: Kratylos. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band III• Platon: Kriton. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band I• Platon: Nomoi. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band IX• Platon: Parmenides. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band VII• Platon: Politeia. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band V• Platon: <strong>Politik</strong>os. In: Hülser, Karlhe<strong>in</strong>z (Hg.): Platon – Sämtliche Werke. Band VII• Plessner, Helmuth: Die Frage nach <strong>der</strong> Conditio humana – Aufsätze zur philosophischen Anthropologie. Suhrkamp,Frankfurt 1976• Plessner, Helmuth: Die Frage nach <strong>der</strong> Conditio humana. In: (Ders.): Die Frage nach <strong>der</strong> Conditio humana. S.7–81• Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und <strong>der</strong> Mensch – E<strong>in</strong>leitung <strong>in</strong> die philosophische Anthropologie.Verlag Walter de Gruiter & Co., Berl<strong>in</strong> 1965• Polanyi, Karl: Ökonomie und Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1979• Polanyi, Karl: The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen.Europaverlag, Wien 1977• Pönicke, Herbert: Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Europas im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Schön<strong>in</strong>gh, Pa<strong>der</strong>born1970• Popper, Karl R.: Logik <strong>der</strong> Forschung. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tüb<strong>in</strong>gen 1969• Popper, Karl R.: The Open Society and Its Enemies. Pr<strong>in</strong>ceton University Press, Pr<strong>in</strong>ceton 1950• <strong>Post</strong>man, Neil: Das Technopol – Die Macht <strong>der</strong> Technologien und die Entmündigung <strong>der</strong> Gesellschaft. Fischer,Frankfurt 1992• <strong>Post</strong>man, Neil: Wir amüsieren uns zu Tode – Urteilsbildung im Zeitalter <strong>der</strong> Unterhatlungs<strong>in</strong>dustrie. DeutscherBücherbund, Stuttgart/München 1986• <strong>Post</strong>man, Neil: Wir <strong>in</strong>formieren uns zu Tode. In: Die Zeit. Ausgabe vom 2. Oktober (Nr. 41) 1992, S. 61f.• Prajña) pa) rmita) -Hridaya-Su) . tra – Su) tra vom Herzen <strong>der</strong> Vollkommenen Weisheit [herausgegeben und e<strong>in</strong>geleitetvon Jên Wên]. Zero Verlag, Rhe<strong>in</strong>berg 1982• Pr<strong>in</strong>cen, Thomas/F<strong>in</strong>ger, Matthias/Manno, Jack P.: Translational L<strong>in</strong>kages. In: Pr<strong>in</strong>cen, Thomas/F<strong>in</strong>ger, Matthias(Hg.): Environmental NGOs <strong>in</strong> World Politics. S. 217–236• Pr<strong>in</strong>cen, Thomas/F<strong>in</strong>ger, Matthias (Hg.): Environmental NGOs <strong>in</strong> World Politics – L<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g the Local and the Global.Routledge, London/New York 1994• Prokop, Dieter: Medien-Macht und Medien-Wirkung – E<strong>in</strong> geschichtlicher Überblick. Rombach Verlag, Freiburg1995• Prus<strong>in</strong>er, Stanley B.: Novel Prote<strong>in</strong>aceous Infectious Particles Cause Scrapie. In: Science. Vol. 216 (1982), S. 136–144• Prus<strong>in</strong>er, Stanley B.: Prionen-Erkrankungen. In: Spektrum <strong>der</strong> Wissenschaft. Heft 3/1995, S. 44–52• Psichari, Henriette (Hg.): Œuvres complètes de Ernest Renan. 10 Bände, Calmann-Lévy, Paris 1947–1961• Prudey, Mark: Are Organophosphate Pesticides Involved <strong>in</strong> the Causation of Bov<strong>in</strong>e Spongiform Encephalopathy(BSE)? – Hypothesis Based upon Literature Review and Limited Trials on BSE Cattle. In: Journal of Nutritional Medic<strong>in</strong>e.Vol. 4 (1994), S. 43–82• Purdey, Mark: Mad Cows and Warble Flies – A L<strong>in</strong>k Between BSE and Organophosphates?. In: Ecologist. Vol.22 (1992), S. 52–57• Purdey, Mark: The UK Epedemic of BSE – Slow Virus or Chronic Pesticide-Initiated Modification of the Prion Prote<strong>in</strong>?[Part 1: Mechanisms for a Cemically Induced Pathogemesis/Transmissibility; Part 2: An Epidemiological Perspective].In: Medical Hypothesis. Vol. 46 (1996), S. 429–454• Racevskis, Karlis: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nism and the Search for Enlightenment. University Press of Virg<strong>in</strong>ia, Charlottesville/London1993• Ramm, Thilo (Hg.): Der Frühsozialismus – Ausgewählte Quellentexte. Kröner, Stuttgart 1956• Rammert, Werner/Bechmann, Gotthard (Hg.): Technik und Gesellschaft – Jahrbuch 7: Konstruktion und Evolutionvon Technik. Campus, Frankfurt/New York 1994• Raschke, Joachim: Zum Begriff <strong>der</strong> sozialen Bewegung. In: Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hg.): Neue soziale Bewegungen<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland. S. 19–29


134 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Rasehorn, Theo: Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt – Alternative Justizsoziologie. Nomos Verlagsgesellschaft,Baden-Baden 1989• Reich, Norbert (Hg.): Marxistische und sozialistische Rechtstheorie. Fischer/Athenäum, Frankfurt 1972• Reich, Robert B.: Die neue Weltwirtschaft – Das Ende <strong>der</strong> nationalen Ökonomie. Ullste<strong>in</strong>, Frankfurt/Berl<strong>in</strong> 1993• Renan, Ernest: Qu’est-ce qu’une Nation? In: Psichari, Henriette (Hg.): Œuvres complètes de Ernest Renan. Band1, S. 887–906• Ribhegge, Wilhelm: Konservatismus – Versuch zu e<strong>in</strong>er kritisch-historischen Theorie. In: Schumann, Hans-Gerd(Hg.): Konservatismus. S. 112–136• Ricardo, David: Grundsätze <strong>der</strong> politischen Ökonomie und <strong>der</strong> Besteuerung. Fischer Athenäum, Frankfurt 1972• Ricœur, Paul: Das Selbst als e<strong>in</strong> An<strong>der</strong>er. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1996• Riesman, David/Denney, Reuel/Glazer, Nathan: Die e<strong>in</strong>same Masse – E<strong>in</strong>e Untersuchung <strong>der</strong> Wandlung desamerikanischen Charakters. Rowohlt, München 1961• Riesman, David: Leisure and Work <strong>in</strong> <strong>Post</strong>-Industrial Society – A Venture <strong>in</strong> Social Forecast<strong>in</strong>g. In: Larrabee,Eric/Meyersohn, Rolf (Hg.): Mass Leisure. S. 363–388• Rifk<strong>in</strong>, Jeremy: Beyond Beef – The Rise and Fall of the Cattle Culture. Dutton, New York 1992• Rifk<strong>in</strong>, Jeremy: Das Ende <strong>der</strong> Arbeit und ihre Zukunft. Campus, Frankfurt/New York 1995• Rifk<strong>in</strong>, Jeremy: Das Imperium <strong>der</strong> R<strong>in</strong><strong>der</strong>. Campus, Frankfurt/New York 1994• Rig-Veda. In: Geldner, Karl F. [Übersetzer]: Der Rig-Veda. Verlag Otto Harrassowitz, Leipzig 1951• Rittberger, Volker: Internationele Organisationen – <strong>Politik</strong> und Geschichte. Leske+Budrich, Opladen 1994• Ritter, Gerhard A. (Hg.): Deutsche Parteien vor 1918. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1973• Ritter, Wigand: Welthandel – Geographische Strukturen und Umbrüche im <strong>in</strong>ternationalen Warenaustausch.Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994• Robertson, Roland: Globalization – Social Theory and Global Culture. Sage Publications, London/Newbury Park/NewDelhi 1992• Robertson, Roland: Glocalization – Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity. In: Featherstone, Mike/Lash,Scott/Robertson, Roland (Hg.): Global Mo<strong>der</strong>nities. S. 25–44• Robertson, Roland: Mapp<strong>in</strong>g the Global Condition – Globalization as a Central Concept. In: Featherstone, Mike(Hg.): Global Culture. S. 15–30• Rob<strong>in</strong>son, Micheal J.: Public Affairs Television and the Growth of Political Malaise – The Case of ›The Sell<strong>in</strong>g ofthe Pentagon‹. In: The American Political Science Review. Vol. 70 (1976), Heft 2, S. 409–432• Rob<strong>in</strong>son, Peter/Sauvant, Karl P./Govitrikar, Vishwas P. (Hg.): Electronic Highways for World Trade – Issues <strong>in</strong>Telekommunication and Data Service. Westview Press, Boul<strong>der</strong>/San Francisco/London 1989• Röd, Wolfgang: Descartes – Die Genese des cartesianischen Rationalismus. Beck, München 1995• Röd, Wolfgang: Die Rolle <strong>der</strong> Dialektik <strong>in</strong> Hegels Theorie <strong>der</strong> Erfahrung. In: Becker, Werner/Essler, Wilhelm K.(Hg.): Konzepte <strong>der</strong> Dialektik. S. 69–87• Röd, Wolfgang: Philosophie <strong>der</strong> Neuzeit – Von Francis Bacon bis Sp<strong>in</strong>oza [Geschichte <strong>der</strong> Philosophie, Band 7].Verlag C. H. Beck, München 1978• Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Suhrkamp, Frankfurt 1990• Röhrich, Wilfred (unter Mitwirkung von Karl G. Z<strong>in</strong>n): <strong>Politik</strong> und Ökonomie <strong>der</strong> Weltgesellschaft – Das <strong>in</strong>ternationaleSystem. Westdeutscher Verlag, Opladen 1983• Röhrs, Hermann: Jean-Jacques Rousseau – Vision und Wirklichkeit. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 1993• Roellecke, Gerd: Das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts und die Verfassung. In: Piazolo, Michael (Hg.):Das Bundesverfassungsgericht. S. 33–48• Röttges, He<strong>in</strong>z: Zur Entstehung und Wirkung des Kantischen Begriffs <strong>der</strong> Dialektik. In: Becker, Werner/Essler,Wilhelm K. (Hg.): Konzepte <strong>der</strong> Dialektik. S. 25–30• Rötzer, Florian: Die Telepolis – Urbanität im digitalen Zeitalter. Bollmann, Mannheim 1995• Rötzer, Florian: Interaktion – das Ende herkömmlicher Massenmedien. In: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien undÖffentlichkeit. S. 119–134• Rötzer, Florian (Hg.): Digitaler Sche<strong>in</strong> – Ästhetik <strong>der</strong> elektronischen Medien. Suhrkamp, Frankfurt 1991• Rogers, Carl R.: Empathie – E<strong>in</strong>e unterschätzte Sichtweise. In: <strong>der</strong>s./Rosenberg, Rachel L. (Hg.), Die Person alsMittelpunkt <strong>der</strong> Wirklichkeit. S. 75–93• Rogers, Csarl R./Rosenberg, Rachel L. (Hg.), Die Person als Mittelpunkt <strong>der</strong> Wirklichkeit. Klett-Cotta, Stuttgart1980• Rohwer, R. G.: The Scrapie Agent – A Virus by Any Other Name. In: Chesebro, Bruce W. (Hg.): TransmissibleSpongiform Encephalopathies. S. 195–232• Romano, Ruggiero/Tenenti, Alberto: Grundlegung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt – Spätmittelalter, Renaissance, Reformation.Fischer, Frankfurt 1984


B: LITERATURVERZEICHNIS 135• Ronge, Volker: Verwendung sozialwissenschaftlicher Ergebnisse <strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutionalisierten Kontexten. In: Beck, Ulrich/Bonß,Wolfgang (Hg.): We<strong>der</strong> Sozialtechnologie noch Aufklärung? S. 332–354• Ronge, Volker/Weihe, Ulrich (Hg.): <strong>Politik</strong> ohne Herrschaft? – Antworten auf die systemtheoretische Neutralisierung<strong>der</strong> <strong>Politik</strong>. Piper, München 1976• Roos, Theo: Rauheit des Realen – Short Cuts. In: Maresch, Rudolf (Hg.): Medien und Öffentlichkeit. S. 367–372• Rorty, Richard: Habermas and Lyotard on <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity. In: Bernste<strong>in</strong>, Richard J. (Hg.): Habermas and Mo<strong>der</strong>nity.S. 161–175• Rorty, Richard: Kont<strong>in</strong>genz, Ironie und Solidarität. Suhrkamp, Frankfurt 1989• Rorty, Richard (Hg.): The L<strong>in</strong>guistic Turn – Recent Essays <strong>in</strong> Philosophical Method. The University of ChicagoPress, Chicago/London 1967• Rose, Margaret A.: The <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>n and the <strong>Post</strong>-Industrial – A Critical Analysis. Cambridge University Press,Cambridge u.a. 1991• Rosecrance, Richard: Der neue Handelsstaat – Herausfor<strong>der</strong>ungen für <strong>Politik</strong> und Wirtschaft. Campus, Frankfurt1987• Rosecrance, Richard: The Rise of the Virtual State. In: Foreign Affairs. Heft 4/1996, S. 45–61• Rosenau, James N.: The Study of Global Interdependance – Essays on the Transnationalisation of World Affairs.Frances P<strong>in</strong>ter Publishers/Nichols Publish<strong>in</strong>g Company, London/New York 1980• Rosenau, James N.: Turbulence <strong>in</strong> World Politics – A Theory of Change and Cont<strong>in</strong>uity. Harvester/Wheatsheaf,New York u.a. 1990• Rosenoer, Janathan: CyberLaw – The Law of the Internet. Spr<strong>in</strong>ger, New York u.a. 1996• Rossi, Paolo (Hg.): Giambattista Vico – Opere. Rizzoli, Milano 1959• Roszak, Theodore: Person/Planet – The Creative Dis<strong>in</strong>tegration of Industrial Society. Anchor/Doubleday, GardenCitiy/New York 1978• Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hg.): Neue soziale Bewegungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bundesrepublik. Campus, Frankfurt/New York1987• Rothenberg, Randall: The Neoliberals – Creat<strong>in</strong>g New American Politics. Simon & Schuster, New York 1984• Rottleuthner, Hubert: Klassenjustiz? In: Kritische Justiz. S. 1–26• Rousseau, Jean-Jacques: Über die Ungleichheit. In: Weigand, Kurt (Hg.): Jean-Jacques Rousseau – Schriften zurKulturkritik. S. 61–269• Rousseau, Jean-Jacques: Über Kunst und Wissenschaft. In: Weigand, Kurt (Hg.): Jean-Jacques Rousseau – Schriftenzur Kulturkritik. S. 1–59• Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag o<strong>der</strong> Grundsätze des Staatsrechts. Reclam, Stuttgart 1994• Rubel, Maximilien: Marx-Chronik – Daten zu Leben und Werk. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1983• Rucht, Dieter: Mo<strong>der</strong>nisierung und neue soziale Bewegungen – Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich.Campus, Frankfurt/New York 1994• Rustermeyer, Re<strong>in</strong>hard: Zur Dezentrierung des Subjekts im neueren französischen Strukturalismus. Blaue EuleVerlag, Essen1985• Ryan, Michael: Marxism and Deconstruction. The Johns Hopk<strong>in</strong>s University Press, Baltimore/London 1982• Ryan, Michael: Politics and Culture – Work<strong>in</strong>g Hypotheses for a <strong>Post</strong>-Revolutionary Society. The Johns Hopk<strong>in</strong>sUniversity Press, Baltimore 1989• Ryan, Michael: <strong>Post</strong>-Mo<strong>der</strong>n Politics. In <strong>der</strong>s.: Politics and Culture. S. 82–97• Ryan, Michael/Gordon, Avery (Hg.): Body Politics – Disease, Desire, and the Family. Westview Press, Boul<strong>der</strong>/SanFrancisco/Oxford 1994• Ryffel, Hans: Rechtssoziologie – E<strong>in</strong>e systematische Orientierung. Luchterhand, Neuwied 1974• Sa<strong>in</strong>t-Simon, Claude-Heri de: Catéchisme des <strong>in</strong>dustriels. In: Gurvitch, Gorges (Hg.): La physiologie sociale. S.141–146• Sand, Stephanie: IBM – E<strong>in</strong>e kritische Geschichte des Computer-Giganten. Heyne, München 1988• Sarc<strong>in</strong>elli, Ulrich: ›Fernsehdemokratie‹ – Symbolische <strong>Politik</strong> als konstruktives und als destruktives Element politischeWirklichkeitsvermittlung. In: Wunden, Wolfgang (Hg.): Öffentlichkeit und Kommunikationsvermittlung. S. 31–41• Sarc<strong>in</strong>elli, Ulrich: Massenmedien und <strong>Politik</strong>vermittlung – E<strong>in</strong>e Problem- und Forschungsskizze. In: Wittkämper,Gerhard (Hg.): Medien und <strong>Politik</strong>. S. 37–62• Sarc<strong>in</strong>elli, Ulrich: Symbolische <strong>Politik</strong> – Zur Bedeutung symbolischen Handelns <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wahlkampfkommunikation<strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland. Westdeutscher Verlag, Opladen 1987• Sarte, Jean-Paul: Das Se<strong>in</strong> und das Nichts – Versuch e<strong>in</strong>er phänomenologischen Ontologie. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek1991• Sartre, Jean-Paul: Die Transzendenz des Ego: Philosophische Essays 1931–1939. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1982


136 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Sartre, Jean-Paul: Kritik <strong>der</strong> dialektischen Vernunft – Theorie <strong>der</strong> gesellschaftlichen Praxis. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1967• Sartre, Jean-Paul: L’existentialisme est un humanisme. In: Theissen, Joseph (Hg.): Ecriva<strong>in</strong>s existentialistes. S. 3–9• Sassen, Saskia: The Global City – New York, London, Tokyo. Pr<strong>in</strong>ceton University Press, Pr<strong>in</strong>ceton 1991• Saussure, Ferd<strong>in</strong>and de: Grundfragen <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Sprachwissenschaft. De Gruyter Verlag, Berl<strong>in</strong> 1967• Sauvant, Karl P.: Services and Data Service – Introduction. In: Rob<strong>in</strong>son, Peter/Ders./Govitrikar, Vishwas P. (Hg.):Electronic Highways for World Trade. S. 3–14• Sauvant, Karl. P.: The Tradability of Services. In: Messerl<strong>in</strong>, Patrick A./Ders.: The Uruguay Round. S. 114–122• Schäfer, Lothar/Ströker, Elisabeth (Hg.): Naturauffassungen <strong>in</strong> Philosophie, Wissenschaft, Technik. Verlag Karl Alber,Freiburg/München 1995• Schapiro, Salwyn: Was ist Liberalismus? In: Gall, Lothar (Hg.): Liberalismus. S. 20–36• Scharpf, F. A. (Hg.): Des Card<strong>in</strong>als und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften. Her<strong>der</strong>, Freiburg 1862• Scheer, Hermann: Zurück zur <strong>Politik</strong> – Die archimedische Wende gegen den Zerfall <strong>der</strong> Demokratie. Piper,München/Zürich 1995• Schefold, Bertram/Carstensen, Kristian: Die klassische Politische Ökonomie. In: Iss<strong>in</strong>g, Otmar (Hg.): Geschichte<strong>der</strong> Nationalökonomie. S. 63–87• Scheler, Max: Die Zukunft des Kapitalismus. In: Ders.: Die Zukunft des Kapitalismus und an<strong>der</strong>e Aufsätze. S. 75–90• Scheler, Max: Die Zukunft des Kapitalismus und an<strong>der</strong>e Aufsätze. Francke Verlag, München 1979• Schelsky, Helmut: Auf <strong>der</strong> Suche nach Wirklichkeit – Gesammelte Aufsätze. Verlag Eugen Die<strong>der</strong>ichs, Düsseldorf/Köln1965• Schelsky, Helmut: Die Bedeutung des Klassenbegriffs für die Analyse unserer Gesellschaft. In: Seidel, Bruno/Jenkner,Siegfried (Hg.): Klassenbildung und Sozialschichtung. S. 398–446• Schelsky, Helmut: Der Mensch <strong>in</strong> <strong>der</strong> wissenschaftlichen Zivilisation. In: Ders.: Auf <strong>der</strong> Suche nach Wirklichkeit.S. 439–471• Schelsky, Helmuth: Thomas Hobbes – E<strong>in</strong>e politische Lehre. Duncker & Humblot, Berl<strong>in</strong> 1981• Scherrer, Christian P.: Ethno-Nationalismus im Weltsystem – Prävention, Konfliktbearbeitung und die Rolle <strong>der</strong><strong>in</strong>ternationalen Geme<strong>in</strong>schaft. Agenda Verlag, Münster 1996• Schie<strong>der</strong>, Wolfgang: 1848/49 – Die ungewollte Revolution. In: Stern, Carola/W<strong>in</strong>kler, He<strong>in</strong>rich A. (Hg.): Wendepunktedeutscher Geschichte. S. 13–35• Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche – Werke <strong>in</strong> drei Bänden. Carl Hanser Verlag, München 1994• Schleiermacher, Friedrich: Dialektik. Felix Me<strong>in</strong>er Verlag, Hamburg 1986• Schmid, Josef: Bevölkerungswachstum und Entwicklungsprozeß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dritten Welt. In: Opitz, Peter J. (Hg.):Weltprobleme. S. 25–51• Schmidt, Karl-He<strong>in</strong>z: Merkantilismus, Kameralismus, Physiokratie. In: Iss<strong>in</strong>g, Otmar (Hg.): Geschichte <strong>der</strong> Nationalökonomie.S. 37–62• Schmidt, Kurt (Hg.): Buddhas Reden – Majjhimanikaya: Die Lehrreden <strong>der</strong> mittleren Sammlung. Kristkeitz Verlag,Leimen 1989• Schmidt, Siegfried J.: Der Radikale Konstruktivismus – E<strong>in</strong> neues Paradigma im <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Diskurs. In: Ders.(Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. S. 11–88• Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Suhrkamp, Frankfurt 1987• Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Duncker & Humblot, Berl<strong>in</strong> 1962• Schmitt, Carl: Der Leviathan <strong>in</strong> <strong>der</strong> Staatsleere des Thomas Hobbes – S<strong>in</strong>n und Fehlschlag e<strong>in</strong>es politischen Symbols.Hohenheim Verlag, Köln 1982• Schmitt, Carl: Politische Theologie. Duncker & Humblot, Berl<strong>in</strong> 1979• Schnädelbach, Herbert: Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung. In: Kunnemann, Harry/Vries, Hent de (Hg.):Die Aktualität <strong>der</strong> Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung. S. 15–35• Schnei<strong>der</strong>, Wolfgang L.: Kooperation als strategischer Prozeß – Adm<strong>in</strong>istrative Auftragsforschung im Spannungsfeldzwischen professionellem Interesse und politischer Instrumentalisierung. In: Beck, Ulrich/Bonß, Wolfgang (Hg.):We<strong>der</strong> Sozialtechnologie noch Aufklärung? S. 302–331• Schnupp, Peter: Standard-Betriebssysteme. R. Oldenbourg Verlag, München/Wien 1988• Schönherr-Mann, Hans-Mart<strong>in</strong>: Leviathans Labyr<strong>in</strong>th – Politische Philosophie <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Technik. WilhelmF<strong>in</strong>k Verlag, München 1994• Schönherr-Mann, Hans-Mart<strong>in</strong>: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Perspektiven des Ethischen – Politische Streitkultur, Gelassenheit,Existentialismus. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1997• Schönherr-Mann, Hans-Mart<strong>in</strong>: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne Theorien des Politischen – Pragmatismus, Kommunitarismus, Pluralismus.Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1996• Schoeps, Julius H./Knoll, Joachim H./Bärsch, Claus-E.: Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus – E<strong>in</strong>führung/-Texte/Bibliographien. Wilhelm F<strong>in</strong>k Verlag, München 1981


B: LITERATURVERZEICHNIS 137• Schütz, Alfred: Der s<strong>in</strong>nhafte Aufbau <strong>der</strong> sozialen Welt – E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die verstehende Soziologie. Suhrkamp,Frankfurt 1993• Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen <strong>der</strong> Lebenswelt. 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1979 und 1984• Schütz, Astrid: <strong>Politik</strong> o<strong>der</strong> Selbstdarstellung? – Beispiele von <strong>Politik</strong>erauftritten. In: Jäckel, Peter/W<strong>in</strong>terhoff-Spurk,Peter (Hg.): <strong>Politik</strong> und Medien. S. 193–209• Schuh, Hans: Wahns<strong>in</strong>n im Blut – Wird <strong>der</strong> BSE-Erreger auch durch Blutprodukte übertragen? In: Die Zeit. Ausgabevom 19. Dezember (Nr. 52) 1997, S. 34• Schuhmann, Helmut: Die nichteheliche Lebensgeme<strong>in</strong>schaft. Forkel-Verlag, Wiesbaden/Heidelberg 1993• Schulte, Günter: Der bl<strong>in</strong>de Fleck <strong>in</strong> Luhmanns Systemtheorie. Campus, Frankfurt/New York 1993• Schulz, Uwe: Immanuel Kant. Rowohlt, Re<strong>in</strong>bek 1990• Schulz, W<strong>in</strong>fried: Die Konstruktion von Realität <strong>in</strong> den Nachrichtenmedien – Analyse <strong>der</strong> aktuellen Berichterstattung.Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1990• Schumann, Hans-Gerd (Hg.): Konservativismus. Athenäum, Königste<strong>in</strong> 1984• Schumpeter, Jeseph A.: Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie. Francke Verlag, München 1980• Schwan, Alexan<strong>der</strong>: Politische Theorien des Rationalismus und <strong>der</strong> Aufklärung. In: Lieber, Hans-Joachim (Hg.):Politische Theorien von <strong>der</strong> Antike bis zur Gegenwart. S. 157–257• Schwarz, Michiel/Thompson, Michael: Divided We Stand – Redef<strong>in</strong><strong>in</strong>g Politics, Technology and Social Choice.University of Pennsylvania Press, Philadelphia 1990• Scott, Alan: Political Culture and Social Movements. In: Allen, John/Braham, Peter/Lewis, Paul (Hg.): Politicaland Economic Forms of Mo<strong>der</strong>nity. S. 127–160• Scott, Alan (Hg.): The Limits of Globalization – Cases and Arguments. Routlegde, London/New York 1997• Seidel, Bruno/Jenkner, Siegfried (Hg.): Klassenbildung und Sozialschichtung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft,Darmstadt 1968• Seligman, Mart<strong>in</strong> E./Maier, Steven F.: Failure to Escape Traumatic Shocks. In: Journal of Experimental Psychology.Vol. 74, No. 1 (1967), S. 1–9• Sengenberger, Werner: Arbeitsmarktstruktur – Ansätze zu e<strong>in</strong>em Modell des segmentierten Arbeitsmarkts. Campus,Frankfurt 1975• Senghaas, Dieter: Woh<strong>in</strong> driftet die Welt? Suhrkamp, Frankfurt 1994• Senghaas, Dieter: Zwischen Globalisierung und Fragmentisierung – E<strong>in</strong> Beitrag zur Weltordnungsdebatte. In: Blätterfür deutsche und <strong>in</strong>ternationale <strong>Politik</strong>. Heft 1/1993, S. 50–59• Sennett, Richard: Der flexible Mensch – Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berl<strong>in</strong> Verlag, Berl<strong>in</strong> 1998• Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens – Die Tyrannei <strong>der</strong> Intimität. Fischer, Frankfurt 1983• Shapiro, Michael J.: Read<strong>in</strong>g the <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Polity – Political Theory as Textual Practice. University of M<strong>in</strong>nesotaPress, M<strong>in</strong>neapolis/Oxford 1992• Sheehan, James J.: Der deutsche Liberalismus – Von den Anfängen im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t bis zum ersten Weltkrieg.C. H. Beck, München 1988• Sheldrake, Rupert: Die Wie<strong>der</strong>geburt <strong>der</strong> Natur – Wissenschaftliche Grundlagen e<strong>in</strong>es neuen Verständnisses <strong>der</strong>Lebendigkeit und Heiligkeit <strong>der</strong> Natur. Scherz, Bern/München/Wien 1991• Shields, Rob (Hg.): Cultures of Internet – Virtual Spaces, Real Histories, Liv<strong>in</strong>g Bodies. Sage Publications, London/-Thousand Oaks/New Delhi 1996• Siebert, Horst (Hg.): Capital Flows <strong>in</strong> the World Economy – Symposium 1990 des Instituts für Weltwirtschaft an<strong>der</strong> Universität Kiel. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tüb<strong>in</strong>gen 1991• Sieyès, Emmanuel: Qu’est-ce que le Tiers État? Librairie Droz, Genève 1970• Simmel, Georg: Soziologie – Untersuchungen über die Formen <strong>der</strong> Vergesellschaftung. Duncker & Humblot, München/-Leipzig 1922• Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung – Sociologische und psychologische Untersuchungen. Duncker &Humblot, Leipzig 1890• Simonis, Georg: Technik<strong>in</strong>novation im ökonomischen Konkurrenzsystem. In: Alemann, Ulrich/Schatz, Heribert/Simonis,Georg (Hg.): Gesellschaft – Technik – <strong>Politik</strong>. S. 37–74• Sklair, Leslie: Science, Technology and Democracy. In: Boyle, Godfrey/Elliott, David/Roy, Rob<strong>in</strong> (Hg.): The Politicsof Technology. S. 172–185• Sklair, Leslie: Sociology of the Global System. Harvester Wheatsheaf, New York u.a. 1991• Sloterdijk, Peter: Kritik <strong>der</strong> zynischen Vernunft. 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt 1983• Sloterdijk, Peter: Nach <strong>der</strong> Geschichte. In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. S. 262–273• Smart, Barry: Mo<strong>der</strong>n Conditions, <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>n Controversaries. Routledge, London/New York 1992• Smart, Barry: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>nity. Routledge, London/New York 1993• Smith, Adam: Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen – E<strong>in</strong>e Untersuchung se<strong>in</strong>er Natur und se<strong>in</strong>er Ursachen. DeutscherTaschenbuch Verlag, München 1988


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S. 149–165• Voigt, Rüdiger: Steuerung durch Anpassung? – Zur Transformation legislatorischer Steuerungsprogramme durchdie öffentliche Verwaltung. In: Görlitz, Axel/Ders. (Hg.): Grenzen des Rechts. S. 48–65• Voigt, Rüdiger: Verrechtlichung <strong>in</strong> Staat und Gesellschaft. In: Ders. (Hg.): Verrechtlichung. S. 15–37• Voigt, Rüdiger (Hg.): <strong>Politik</strong> und Recht – Beiträge zur Rechtspolitologie. Universitätsverlag Brockmeyer, Bochum1993• Voigt, Rüdiger (Hg.): Recht als Instrument von <strong>Politik</strong>. Westdeutscher Verlag, Opladen 1986


B: LITERATURVERZEICHNIS 141• Voigt, Rüdiger (Hg.): Verrechtlichung – Analysen zu Funktion und Wirkung von Parlamentarisierung, Bürokratisierungund Justizialisierung sozialer, politischer und ökonomischer Prozesse. Athenäum, Königste<strong>in</strong> 1980• Voruba, Georg: Autonomiegew<strong>in</strong>ne – Konsequenzen von Verrechtlichung und Deregulierung. In: Soziale Welt.Vol. 43 (1992), S. 168–181• Voß, Re<strong>in</strong>er: Der Traum von <strong>der</strong> großen Steuerreform. In: Zeitschrift für Rechtspolitik. Heft 4, Band 30 (1997),S. 142–148• Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Suhrkamp, Frankfurt 1990• Wallerste<strong>in</strong>, Immanuel: Geopolitics and Geoculture – Essays on the Chang<strong>in</strong>g World-System. Cambridge UniversityPress, Cambridge u.a. 1991• Wallerste<strong>in</strong>, Immanuel: The Capitalist World-Economy. 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142 POLITIK IN DER (POST-)MODERNE• Wells, Gerald A. et al.: A Novel Progressive Spongiform Encephalopathy <strong>in</strong> Cattle. In: Veter<strong>in</strong>ary Record. Vol.121 (1987), S. 419f.• Welsch, Wolfgang: <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne – Pluralität als ethischer und politischer Wert. In: Alberts, Jörg (Hg.): Aufklärungund <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne. S. 9–44• Welsch, Wolfgang: Unsere postmo<strong>der</strong>ne Mo<strong>der</strong>ne. Acta humaniora, We<strong>in</strong>heim 1987• Welsch, Wolfgang: Vernunft – Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept <strong>der</strong> transversalen Vernunft. Suhrkamp,Frankfurt 1995• Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – Schlüsseltexte <strong>der</strong> <strong>Post</strong>mo<strong>der</strong>ne-Diskussion. 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C: ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS


146 POLITIK IN DER (POST-)MODERNEABKÜRZUNGSVERZEICHNIS:ASEAN: Association of South-East Asian Nations – Zusammenschluß <strong>der</strong> süd-ostasiatischenNationenAWACS: Airborne Warn<strong>in</strong>g and Control SystemB90: Bündnis 90BAföG: Bundesausbildungsför<strong>der</strong>ungsgesetzBGB: Bürgerliches GesetzbuchBIP:Brutto<strong>in</strong>landsproduktBSE:Bov<strong>in</strong>e Spongiforme EnzephalopathieBSP:BruttosozialproduktBVerfGG: Bundesverfassungsgerichtsgesetz (Gesetz über das Bundesverfassungsgericht)CDU: Christlich Demokratische UnionCJK:Creutzdeldt-Jakob-KrankheitCSU: Christlich Soziale UnionDFG: Deutsche Forschungsgeme<strong>in</strong>schaftDNS: Desoxyribonukle<strong>in</strong>säureDOS: Disk Operat<strong>in</strong>g SystemEG:Europäische Geme<strong>in</strong>schaftEPZ:Europäische Politische ZusammenarbeitEU:Europäische UnionFCKWs: Flur-Chlor-KohlenwasserstoffeFDP: Freiheitlich Demokratische ParteiG7: Gruppe <strong>der</strong> Sieben (die sieben +größten* Industrienationen: USA, Japan,Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und Kanada)GASP: Geme<strong>in</strong>same Außen- und SicherheitspolitikGATT: General Agreement on Trade and Tarifs – Allgeme<strong>in</strong>es Zoll- und HandelsabkommenGG:GrundgesetzGSS:Gerstmann-Sträussler-Sche<strong>in</strong>ker-SyndromGUS: Geme<strong>in</strong>schaft Unabhängiger StaatenIGO(s): International Govermental Oganization(s) – Internationale Regierungsorganisation(en)INGO(s): International Non-Govermental Oganization(s) – Internationale nicht-staatlicheOrganisation(en)IWF:Internationaler WährungsfondkB:Kilo-ByteLDCs: Least Developped Countries – am wenigsten entwickelte StaatenLFI:Letale familiäre InsomnieMAFF: M<strong>in</strong>istery for Agriculture, Fischeries, and Food – britisches Landwirtschafts-,Fischerei- und Ernährungsm<strong>in</strong>isteriumMIT:Massachusetts Institue of TechnologyMS:MicrosoftNAFTA: North Atlantic Free Trade Association – Nordatlantische Freihandelsgeme<strong>in</strong>schaftNIC(s): Newly Industializ<strong>in</strong>g Countrie(s) – Schwellenlän<strong>der</strong>NGO(s): Non-Governmental Organization(s) – Nicht-staatliche Organisationen


C: ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 147OECD:PC:PDS:PrP:ScPrP :RNS:SBOs:SE:SEAC:SPD:UNCTAD:UNDP:UN(O):UNOSOM:UNRISD:ZDF:Organisation for Economic Co-operation and Development – Organisationfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und EntwicklungPersonal ComputerPartei des Demokratischen SozialismusZelluläre (+natürliche*) Variante des Prion-Prote<strong>in</strong>sPathogene Variante des Prion-Prote<strong>in</strong> (Scrapie Prion-Prote<strong>in</strong>)Ribonukle<strong>in</strong>säureSpecified Bov<strong>in</strong>e Offals – Spefizifierte R<strong>in</strong><strong>der</strong><strong>in</strong>nere<strong>in</strong>en (die als beson<strong>der</strong>sBSE-Erregerbelastet gelten)Spongiforme Enzephalopathie(n)Spongiform Ecephalopathy Advisory Commitee: wissenschaftliches Beratungskommitee(<strong>der</strong> britischen Regierung) für Spongiforme EnzephalopathienSozialdemokratische Partei DeutschlandsUnited Nations Conference on Trade and Development – Konferenz <strong>der</strong>Vere<strong>in</strong>ten Nationen über Handel und EntwicklungUnited Nations Development Programme – Entwicklungshilfeprogramm <strong>der</strong>Vere<strong>in</strong>ten NationenUnited Nations (Organization) – (Organisation <strong>der</strong>) Vere<strong>in</strong>te(n) NationenSomalia-E<strong>in</strong>satz <strong>der</strong> UNO-+Friedenstruppen*United Nations Research Institut for Social Development – Institut <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>tenNationen für soziale EntwicklungZweites Deutsches Fernsehen

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