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<strong>juridikum</strong>nr <strong>zeitschrift</strong> für <strong>kritik</strong> | <strong>recht</strong> | <strong>gesellschaft</strong> 2.2007themaGender MigrationSexarbeitFrauenhandelP.b.b. · Verlagspostamt 1030 · Euro 14,– · ISSN 1019-5394<strong>recht</strong> & <strong>gesellschaft</strong>Schubhaft und AsylRauchen und RechtZivildienst und VfGHFür Context herausgegeben von............................................Judith Schacherreiter · Alexia Stuefer · Matthias C. Kettemann · Lukas Oberndorfer


vor.satzParadigmenwechselin der Justizpolitik?Alexia StueferSeit knapp sechs Monaten wird Österreichvon einer rot-schwarzen Regierunggeführt. An der Spitze des Justizministeriumssteht die SPÖ-PolitikerinMaria Berger. In einem Anfang Märzveröffentlichten Interview in der deutscheWochenzeitung „Die Zeit“ (Nr11, Seite 15) ließ sie mit erstaunlichprogressiven und liberalen Vorstellungenaufhorchen. Sie mahnte nichtnur eine Senkung der Haftzahlen ein,sondern forderte darüber hinaus einenmenschenwürdigeren Umgang mitinhaftierten Personen. Eine scharfeRüge erteilte sie den Gerichten imBereich der Meinungsfreiheit: Österreichist im Laufe nur eines Jahres inneun (!) Fällen vom EGMR wegenVerletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerungverurteilt worden.Die Ministerin ortete diesbezüglich„Fehler in der grund<strong>recht</strong>skonformenInterpretation des Medien<strong>recht</strong>es.“ Inzwei anhängigen Fällen habe sie dieGeneralprokuratur angewiesen eineNichtigkeitsbeschwerde zur Wahrungdes Gesetzes an den OGH zu erheben,um so eine Wende der Judikatur der inMedien<strong>recht</strong>ssachen als letzte Instanzfungierenden Oberlandesgerichte herbeizuführen.Die Justizministerin hat Recht, ihreForderungen sind mit Nachdruck zubegrüßen. Endlich soll das – seit Jahrenakute – Problem der überfüllten Justizanstaltendurch mE sehr sinnvolleMaßnahmen gelöst oder zumindest gelindertwerden. Kurzfristige Freiheitsstrafensollen – wegen deren Sozialschädlichkeit– durch gemeinnützigeArbeit ersetzt oder ganz vermiedenwerden. „Es werde zu oft eingesperrt“,so die Ministerin. Weiters betonte sieden ureigensten Zweck des Strafvollzuges,die Resozialisierung der verurteiltenPerson. Die Verwahrungshaftsoll zur Betreuungshaft werden: „Fürdie Resozialisierung und somit für denSchutz der Bevölkerung ist aber auchwichtig, dass sich Gefangene nicht wieder letzte Dreck fühlen. Das wurde ihnenja oft ein ganzes Leben lang bedeutet,sonst wären die meisten gar nichtim Gefängnis gelandet. Um das Selbstwertgefühldieser Menschen zu heben,braucht es daher eine entsprechendeUmgebung und nicht irgendeine alteKaserne, wo Menschen einfach inSchlafsälen weggesperrt werden.“Weniger ambitioniert liest sichfreilich das rot-schwarze Regierungsprogramm.Die Forderung nach Einführungder gemeinnützigen Leistungals eigener Sanktionsform und alsErsatz von (kurzfristigen) Ersatzfreiheitsstrafenwird zwar erwähnt, derBereich des Strafvollzugs<strong>recht</strong>es wirdjedoch in einem Absatz abgehandeltund geht mE über programmatischeAnsätze nicht hinaus. So soll einerseitseine Differenzierung zwischengefährlichen RechtsbrecherInnen undsolchen, die einer Resozialisierungzugänglich sind und andererseits eineunterschiedliche Behandlung von aufenthaltsverfestigtenStraftäterInnenund anderen vorgenommen werden.Während ersteres bereits geltendes(vgl § 23 StGB, § 171 StVG) – undeigentlich totes – Recht ist, ist diezweite Forderung gleichheits<strong>recht</strong>lichfragwürdig und im höchsten Maße unbestimmt.Konkrete Maßnahmen, diezu einer besseren Betreuung der inhaftiertenPersonen führen sollen, bietetdas Programm nicht. Ebenso wenig der Zahl der Untersuchungshäftlingeund zur Vermeidung des sog. „Ost-/Westgefälles“: Die Wahrscheinlichkeitder Verhängung der Untersuchungshaftist in Wien am größten, in Grazund Innsbruck deutlich geringer, undzwar unabhängig von der regionalenKriminalitätsbelastung. Die Entscheidung,ob und wie lange eine Person inUntersuchungshaft bleibt, wird nachwie vor von hauseigenen Haftstilenund institutionellen Hausbräuchen bestimmt(vgl Soyer/Stangl, RegionaleDisparitäten in der Straf<strong>recht</strong>sanwendungund die neue Stellung des Staatsanwaltesim Vorverfahren, FS Miklau,523ff). Die von ExpertInnen mehrfachgeforderten Maßnahmen der „elektronischenFußfessel“ und des elektronischüberwachten Hausarrestes bleibenunerwähnt. Begrüßenswert ist,dass die Koalition sich zu einer „zügigen“Reform des strafprozessualenHaupt-, Rechtsmittel- und Geschworenenverfahrensbekennt.In weiten Teilen des Zivil<strong>recht</strong>es willdie Koalition zunächst vor allem „evaluieren“.So etwa in den Bereichen desErb<strong>recht</strong>es betreffend die Regelungenüber Schenkungen auf den Todesfallsowie die Anrechung von Vorausempfängen;zum Schutz der Kunstschaffendengegenüber den VerwerterInnen,des Schadenersatz<strong>recht</strong>es hinsichtlichder Schmerzengeldansprüche, desWettbewerbs<strong>recht</strong>es und letztlich desFamilien<strong>recht</strong>es. Hier soll „hinsichtlichder <strong>gesellschaft</strong>lichen Veränderungenund ihrer Form des familiärenund partnerschaftlichen Zusammenlebenseingehend evaluiert werdenund auf der Basis der Ergebnisse imKontext der familiären Solidarität(Ehe, Lebensgemeinschaft und Patchwork-Beziehungen)eine Hebung derErwerbsquote, Armutsbekämpfung,Beseitigung von Diskriminierungenund Altersabsicherung erreicht werden.“Ins Auge sticht und höchst bedauernswertist, dass im Programmdie gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaftennicht einmal Erwähnungsich in der ORF-Pressestunde am21.01.2007 zwar gegen eine „Öffnungdes Institutes der Ehe für gleichgeschlechtlicheLebenspartnerschaftenaus“, forderte aber immerhin „eingetragenePartnerschaften.“Zusammenfassend ist festzuhalten,dass das Regierungsprogramm fürdie 23. GP in Teilbereichen sinnvolleLösungsansätze bereit hält, die es zuunterstützen und zu bekräftigen gilt.Von einem Paradigmenwechsel inder Justizpolitik zu sprechen, wäreallerdings überzogen.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 57


Inhalt<strong>recht</strong> & <strong>gesellschaft</strong>Ronald Frühwirt Zivildienst und VfGH: Auf ein Neues ..................................... 60Marcel PilshoferVor 25 Jahren schaffte Frankreich die Todesstrafe ab – einMeilenstein auf dem Weg zum „todesstrafenfreien Europa“ ...... 64Matthias C. Kettemann Rauchen und Recht ............................................................ 67Margit Ammer Schubhaft und Asyl ........................................................... 72Manfred Füllsack Wissen und Eigentum unter „polykontexturalen“ Bedingungen 79themaP. Abel/D. Einwallner Vorwort ............................................................................ 83gender migrationMiriam Broucek Die sichtbar Unsichtbaren – ................................... 84Y. Riaño/N. Baghdadi Arbeitsmarktpartizipation gut ausgebildeter Migrantinnenaus ,Drittstaatenländern‘ in der Schweiz: .................. 87sexarbeitMarie Theres PrantnerSexarbeit – die österreichische Rechtslageund Entwicklungen in der Europäischen Union........................ 93Praktische Ansätze: LEFÖ, SOPHIE,Bericht Fachtagung Prostitution ........................................... 95A. Stuefer/D. Einwallner Sexarbeit in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung ............. 98 Sexarbeit in der Bundesrepublik Deutschlandund gewerkschaftliche Interessensvertretung ....................... 103frauenhandelJulia Planitzer Menschenhandel – Was hat sich seit Palermo getan? .............. 107rubrikenvor.satzmerk.würdignach.satzAlexia StueferParadigmenwechsel in der Justizpolitik? ............................... 57Konrad LachmayerDie Europäische Sicherheitsarchitektur rüstet auf .................. 59Nina EcksteinNeue Regierung – andere Frauenpolitik? ............................... 112impressum ....................................................................................... 71Seite 58 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


merk.würdigDie EuropäischeSicherheitsarchitekturrüstet aufKonrad LachmayerNeuerdings wird die Europäische Sicherheitslandschaftauch im Zusammenhangmit polizeilichen Befugnissendeutlich ausgeweitet. Kooperationheißt das Zauberwort und vieles wirdmöglich:Man stelle sich vor eine deutschePolizeispezialeinheit wird in Wien tätig.Allerdings nicht im Rahmen einersog „grenzüberschreitenden Nacheile“ brechersan der oberösterreichischenGrenze, sondern im Rahmen einerSportgroßveranstaltung eben irgendwoim österreichischen Bundesgebiet: undzwar in eigener Uniform, mit eigenerBewaffnung und am Ende sogar mit deneigenen Befugnissen. All dies ist nichtnur eine Zukunftsvision europäischerSicherheitsbehörden, sondern bereits<strong>recht</strong>lich beschlossen und in Österreichumgesetzt.Im sog „Vertrag von Prüm“ habensich im Mai 2005 Belgien, Deutschland,Spanien, Frankreich, Luxemburg,die Niederlande und Österreich überdie Vertiefung der grenzüberschreitendenZusammenarbeit, insbesonderezur Bekämpfung des Terrorismus, dergrenzüberschreitenden Kriminalitätund der illegalen Migration geeinigt.In Österreich wurde dieser Vertrag mitGenehmigung des Parlaments im BGBlIII 2006/159 kundgemacht.Der Titel des Vertrages klingt soweitnoch vage. Doch worum geht es beidiesem Vertrag wirklich? Die Kooperationsbefugnisseim Vertrag sind sehrkonkret ausgestaltet und bieten einegroße Bandbreite an unterschiedlichenFormen polizeilicher Zusammenarbeit.Da ist zunächst die informationelle Eingriffsdimension(Kap 2 des Vertrages)zu erwähnen: automatisierter AufrufmatisierterAbruf von Daten aus Fahrzeugregisternund die Übermittlung vonpersonenbezogenen Informationen zurVerhinderung terroristischer Straftaten.Aber das ist nur die Spitze des Eisberges…Neben diesen bereits öffentlich gefeiertenBereichen des Datenaustausches,kommt es zu einer Vielzahl weiterer Polizeikooperationen.Es sei hier die Möglichkeit„gemeinsamer Einsatzformen“näher beschrieben: Gemeinsame Einsatzformendienen zur „Abwehr vonGefahren für die öffentliche Sicherheitund Ordnung sowie zur Verhinderungvon Straftaten, in denen von den Vertragsparteienzu benennende Beamteoder sonstige staatliche Bedienstete beiEinsätzen im Hoheitsgebiet einer anderenVertragspartei mitwirken.“ Dabeikönnen PolizistInnen anderer Staatenmit der Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisseim Inland betraut werden.Drei Besonderheiten seien hervorgehoben:1. Hoheitliche Befugnisse dürfendabei nur unter der Leitung und in derRegel in Anwesenheit von Beamten desGebietsstaats wahrgenommen werden;die Anwesenheit inländischer Beamtemuss also „nur“ in der Regel gegebensein. Die ausländischen BeamtInnenkönnen daher auch in der Abwesenheitinländischer BeamtInnen hoheitlich aktivwerden.2. „Beamte einer Vertragspartei, diesich im Rahmen eines gemeinsamenEinsatzes im Hoheitsgebiet einer anderenVertragspartei aufhalten, könnendort ihre nationale Dienstkleidung tragen.Sie können ihre nach dem innerstaatlichenRecht des Entsendestaats zugelassenenDienstwaffen, Munition undAusrüstungsgegenstände mitführen.“(Art 28) Die Bewaffnung erfolgt alsonach dem Recht des Entsendestaates.3. Soweit es nach dem Recht desGebietsstaats zulässig ist, können BeamtInnenanderer Vertragsparteien dieWahrnehmung ihrer hoheitlichen Befugnissenach dem Recht ihres Entsendestaatseingeräumt werden. Das heißt,dass die Eingriffs- und Zwangsbefugnissedes Entsendestaates innerstaatlichangewendet werden können.Dies hat mit „grenzüberschreitenderNacheile“, wie sie bereits bisher möglichwar, nichts mehr zu tun. Nunmehrkönnen staatlich Bedienstete einesanderen Vertragsstaates im gesamtenStaatsgebiet tätig werden. Dabei könnensie nicht nur ihre eigene Ausrüstungund Bewaffnung mit sich führen,sondern bei entsprechender <strong>recht</strong>licherAusgestaltung sogar ihre hoheitlichenBefugnisse importieren. Es kommt alsozu einem Befugnis-Shopping im Raumder Sicherheit.Die ersten mit dem Vertrag verbundenenErfolge wurden bereits im Justiz-und Innenministerrat der EU am15. Februar 2007 hervorgehoben: „Derautomatisierte Datenaustausch hat bereitsin dieser frühen Phase zu großenkonkreten Erfolgen geführt: So habenz.B. die deutschen Behörden DNA-Pro-österreichischen Behörden abgeglichenund in mehr als 1500 Fällen eine Übereinstimmungfestgestellt.“ (Pressemitteilungdes Rats für Justiz und Inneresder Europäischen Union 5922/07– Presse 16).Angestrebte Konsequenz der „Erfolgsbilanz“ist die Ausweitung des„Vertrages von Prüm“ auf das gesamteGebiet der Europäischen Union. Es istbeabsichtigt diesen Vertrag in die 3. Säuleder Europäischen Union zu integrie- dehnungdes Anwendungsbereichs desVertrags auf alle 27 Mitgliedstaaten statt.Der Raum der Sicherheit weitet sich aus.Wie viel vermag da noch vom Raum derFreiheit und des Rechts verbleiben?Dr. Konrad Lachmayer istAssistent am Institut fürStaats- und Verwaltungs<strong>recht</strong>an der Universität Wien undRedaktionsmitglied des<strong>juridikum</strong>; konrad.lachmayer@univie.ac.at.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 59


echt & <strong>gesellschaft</strong>Zivildienst und VfGH:Auf ein Neues1. Einleitung 11.1. ZDG-Novelle 200113,60, 11,26 oder gar 6 Euro?Welchen Betrag braucht es, umeinen ZivildienstleistendenRonald Frühwirth················································Die Frage der angemessenen Ver- 2entwickelt sich zusehends zur neverending-storyim Verfassungsdiskurs.Mit Inkrafttreten der Zivildienstgesetz-Novelle2001 3 am 1.1.2001 wur-geregelt. Seit damals haben gem § 28Abs 1 Zivildienstgesetz 1986 (ZDG) 4die Rechtsträger der jeweiligen Einrichtungen„dafür Sorge zu tragen, dassdie Zivildienstleistenden angemessen führte dazu, dass die Mehrheit der ZDhohe Abschläge in Kauf nehmen muss- im Gegensatz zum früher ausbezahltendurch Verordnung 5 festgelegten Betragvon 155 Schilling (= 11,26 Euro) täglichwurde zum gängigen Durchschnitt.1.2. Judikatur des VfGHDer Bundesminister für Inneres (BMI)vertrat in allen diesbezüglich angestrengtenFeststellungsverfahren dieAnsicht, dass 6 Euro pro Tag geeignet iSd ZDG zu gewährleisten.In mehreren Erk legte der VfGHGrundsätze für eine verfassungskonformeAuslegung des Begriffs der an-fest. 6 Das Erk des VfGH 15.10.2005,B 360/05 ua 7 – wodurch zwei Feststellungsbescheidedes BMI aufgehobenwurden und festgehalten wurde, dasses sich bei Auszahlung eines Betragsvon 6 Euro täglich nicht um eine ange-nun den Gesetz- bzw Verordnungsgeberendlich zum Handeln. Der VfGHtrat zum wiederholten Male der Ansichtentgegen, dass der Begriff der angemes-ausreichend determiniert sei und stelltefest, dass es in der Rechtsordnung ausreichendAnhaltspunkte für eine verfassungskonformeAuslegung des Begriffsgebe. Drei Rechtsquellen waren für denVfGH maßgeblich:Zum einen die vor Inkrafttreten derverordnungdes Innenministers, wonachZD, soweit die jeweilige Einrichtung füreinen Anspruch auf Abgeltung in Höhevon 11,26 Euro täglich hatten.Zum anderen betonte der VfGH vildiensteszur umfassenden Landesverteidigung.Sowohl der Militär- alsauch der Zivildienst leiten sich aus der lichzulässig sind beide nur aufgrundder besonderen Regelung des Art 4 Abs3 lit b EMRK. Aus dieser gemeinsamenGrundlage zog der VfGH den Schluss,dass zur Bestimmung des Angemessenheitsbegriffesim Rahmen des Zivildienst<strong>recht</strong>esdie für Heeresangehörigegeltenden Regelungen vergleichsweiseherangezogen werden sollten. EinPräsenzdiener erhält demnach pro Tager sich außerhalb des Garnisonsortesselbst zu versorgen hat. Dieses Tatbestandsmerkmalregelt für den VfGH einenzumindest mit der Situation einesZD vergleichbaren Sachverhalt.Als drittes Auslegungskriterium wurdedie Rsp des OGH 8 herangezogen, wonachZD als selbsterhaltungsfähig einzustufensind. Daraus leitete der VfGHdie Feststellung ab, dass ZD währendder gesamten Dauer ihres Dienstes wirtschaftlichin die Lage versetzt werdenmüssten, sich versorgen zu können.Der VfGH hielt weiters fest, dassder Begriff der Angemessenheit verfassungskonformdahingehend zu interpretierensei, dass dadurch die verfassungs<strong>recht</strong>lichverankerte Möglichkeit,bei Vorliegen näher umschriebener Gewissensgründeeinen Wehrersatzdienstzu leisten, weder faktisch vereitelt noch(erheblich) erschwert werden dürfe. Derzu ermittelnde Betrag müsse zudem geeignetsein zu ermöglichen, dass sichZivildienstleistende regelmäßig bei Lebensmitteleinzelhändlernoder Gastge-2. Neue Rechtslage Der VfGH hat es ausdrücklich offengelassen, ob eine verfassungskonformeAuslegung durch eine generelle Regelungunter Zugrundelegung einer typisierendenBetrachtungsweise oderdurch eine Einzelfallbetrachtung unterAnwendung verfassungs<strong>recht</strong>lich unbedenklicherErmittlungsmethoden zugewährleisten sei. Den vom VfGH ge-1) Vgl Eisenberger, Zivildienst,die x-te, <strong>juridikum</strong> 2005, 112.2) Das Gesetz unterscheidet zwischenZivildienstleistenden und - nach ihrer Zivildiensterklärungdurch Bescheid. Ab diesem Zeitpunktund nach Ableistung desZivildienstes spricht man von der Zivildienstleistung von Zivildienstleistenden.Im Text ist mitder Abkürzung ZD der Begriff desZivildienstleistenden gemeint.3) BGBl I 2000/133.4) Bundesgesetz über den Zivildienst(Zivildienstgesetz 1986– ZDG), BGBl 1986/679 idF BGBlI 2006/40. BMI, BGBl 1994/288 idF BGBl II2000/25.6) VfSlg 16.389, 16.588, 16.985und 17.341.7) Noch nicht in die amtlicheSammlung aufgenommen; JAP2006/2007, 87 (Kucsko-Stadlmayer/Ennöckl);jüngst bestätigdurch VfGH 28.2.2006, B1281/05.8) OGH 7.12.2001, 7 Ob 279/01g.Seite 60 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


echt & <strong>gesellschaft</strong>währten engen Spielraum hat nun derVerordnungsgeber genutzt, indem er denBegriff der Angemessenheit in § 28 ZDGim Verordnungswege konkretisierte:Am 2.2.2006 wurde durch die da- gungsverordnung9 kundgemacht. Eine demnach täglich in der Bereitstellungvon Frühstück, einer warmen Hauptmahlzeitund einer weiteren Mahlzeit.Den Regelfall soll also die volle Natu- gungnicht möglich ist, hat dieser demZivildienstleistenden einen Betrag von13,60 Euro abzugelten.“ Dabei handeltes sich um den vom VfGH als zur analogenHeranziehung geeignet betrachtetenBetrag aus dem Heeresgebührengesetz(HGG) 10 . Ganz so großzügig gibt sichder Verordnungsgeber freilich nicht.Einschränkungen, die eine Auszahlungin der Höhe von 13,60 Euro zur Utopiemachen. Der Verordnungsgeber siehthier drei Kriterien vor, die den Rechtsträgerermächtigen, vom genannten Betragin Höhe von 13,60 Euro Abschlägegeltend zu machen: Gem § 4 Abs 2 Z 1können 15 % abgezogen werden, wennder ZD seinen Dienst an einem gleichbleibendenDienstort verrichtet. Weitere10 % können gem Z 3 in Abzug gebrachtwerden, wenn dem ZD an der Dienstverrichtungsstelleeine Kochgelegenheitzur Verfügung steht, die ihm auch dieZubereitung frischer Speisen ermöglicht.Und schließlich können noch jenach Ermessen des Rechtsträgers gemZ 2 bis zu 10 weitere Prozentpunkte abgezogenwerden, wenn der ZD überwiegendzu Tätigkeiten herangezogen wird,die mit geringer körperlicher Belastungverbunden sind.2.2. Zivildienst-Übergangs<strong>recht</strong> 2006Aufgrund der klaren Verfassungswidrigkeitder meisten bisher ausbezahlten gebernun für die Nachzahlungsforderungenehemaliger ZD das sogenannteZivildienstgesetz-Übergangs<strong>recht</strong>2006 11 (ZDÜ 2006) beschlossen.Rund 40.000 bis 50.000 ZD 12 , dieihren Dienst seit Anfang 2001 geleistethaben, sollen anspruchsbe<strong>recht</strong>igt sein.Das Gesetz sieht dafür ein mit strengenFristen versehenes Verfahren vor. EhemaligeZD hatten ihre Ansprüche beimjeweiligen Rechtsträger ihrer Einrichtungbei sonstiger Verjährung innerhalbvon sechs Monaten nach Inkrafttretendes ZDÜ 2006, somit bis spätestens29.09.2006, geltend zu machen. DemRechtsträger wurde sodann ein Zeitraumvon drei Monaten eingeräumt, umdie geltend gemachten Ansprüche unternungabzugelten. Sofern in dieser Zeitkeine Einigung mit dem ZD erzieltwerden konnte, stand diesem die Möglichkeitoffen, innerhalb von nur vierWochen nach Ablauf der drei Monate– bei sonstigem Anspruchsverlust – einenAntrag auf Feststellung der Höheeines allfälligen vermögens<strong>recht</strong>lichenAnspruches gegenüber dem Rechtsträgerbei der im BMI eingerichtetenZivildienstserviceagentur (ZISA) einzubringen.Diese entscheidet darübermit Bescheid, wogegen gem § 2a Abs 4ZDG die Möglichkeit der Berufung anden BMI offen steht.2.3. Kritische Würdigung der nunggenannten Abzugsmöglichkeitenkönnen erhebliche verfassungs<strong>recht</strong>licheBedenken geltend gemacht werden.So lässt sich einiges gegen die Sachlichkeitdes Abzuges wegen angeblichgeringer körperlicher Belastung gem§ 4 Abs 2 Z 2 vorbringen, zumal trotzoffensichtlich gewollter Einzelfallbetrachtungeine umfassende Betrachtungunter Einbeziehung weiterer Faktorenwie der Nahrungsgewohnheiten,der Körpergröße, des Körpergewichtesunterbleibt. Bedenklich erscheintin diesem Zusammenhang auch dieRechtsanwendung, die Angaben hinsichtlicheiner psychischen Belastung,selbst geltend gemachten Schlafstörungenwegen ständig wechselnderSchichtdienste, kein Gehör schenktund sie im Rahmen der Bemessung derkörperlichen Belastung unberücksichtigtlässt. lichkeitkeine Entsprechung in der Judikaturdes Verfassungsgerichtshofes.Der Verfassungsgerichtshof zieht – wieoben ausgeführt – in mittlerweile ständigerRsp als Anknüpfungspunkt für diegungsbetragesdie §§ 14 und 15 HGGheran. In völligem Gegensatz zur hierdargestellten Regelung in § 4 Abs 2 Zbereichdes HGG bei geringerer körperlicherBelastung nicht ein bestimmterBetrag abgezogen, sondern gebühren geradeumgekehrt gemäß § 14 Abs 2 HGGbei außergewöhnlicher körperlicher Be-zuschläge.Die Abschlagsmöglichkeit nachscheint schon aus diesem Grund nichtder Verfassung zu entsprechen.Gegen die AbschlagsmöglichkeitgenVorliegens einer Kochgelegenheitist insbesondere auszuführen, dass einesachgemäße und verhältnismäßige Regelungim Zuge einer Einzelfallbetrachtungauch auf tatsächlich vorhandeneKochkenntnisse, wie auch auf die – vorallem zeitlich – bestehende Möglichkeitder Nutzung dieser Kochgelegenheit abstellenmüsste.Der Verordnungsgeber hat sichjedenfalls einer stark individualisierendenRegelung bedient, die für denEinzelfall zu einer Auslegung desBegriffes der Angemessenheit führensoll. Zwar hat der VfGH selbst im ErkVfGH 15.10.2005, B 360/05 ua unterPkt 4.2. festgehalten, dass es auf derHand liege, dass „Abschläge von dengenannten Bezugsgrößen zulässig seinkönnen, wenn Zivildienstleistende ihrenDienst – anders als Soldaten, diebefehlsgemäß den Garnisonsort verlassen– an einem gleich bleibendenEinsatzort verrichten“, kurz daraufwird aber in Pkt 4.4. festgehalten, dassden Zivildienstleistenden jedenfalls„eine Geldleistung für ihre (tägliche)gewährleistet sein“ müsse, der sich „aneinschlägigen Regelungen im Bereich9) BGBl II 2006/43.10) Heeresgebührengesetz2001, BGBl I 2001/31 idF BGBl I2006/113.11) BGBl I 2006/40.12) Diese Zahl geisterte durch dieMedien, die Grünen verwendetensie etwa in ihrer Anfrage an denInnenminister vom 17.01.2007,271/J XXIII.GP. Es handelt sich dabeium eine vorsichtige Schätzunganhand der Zahl der Zuweisungenzum Zivildienst vom 1.1.2001 biszum 3.2.2006.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 61


echt & <strong>gesellschaft</strong>des Zivil- und Wehrdienstes, insbesonderean der Bestimmung des § 15 Abs2 erster Satz HGG 2001 iVm § 1 derVerordnung des Bundesministers fürLandesverteidigung über das Tageskostgeld,BGBl. II Nr. 126/2002, zuorientieren hat“. Damit gemeint ist derBei Heranziehung aller drei Ausnahmetatbeständeder nunmehrigen Ver- lediglich ein Betrag von 8,84 Euro zurAuszahlung, was deutlich unter denvom VfGH herangezogenen Bezugsgrößenliegt. Darum sind auch aus einerGesamtbetrachtung heraus Zweifel ander Verfassungskonformität der Ver-2.4. Verfassungswidrige VollziehungHinsichtlich der zugesprochenen Ver- Tage erweist sich die bisherige Rechtsanwendungder neuen Regelung durchdie ZISA als <strong>recht</strong>s- bzw verfassungs-gungsVlegt fest, dass für den Fall, dassdem Rechtsträger die angemessene oder Dienstfreistellung nicht möglichabzugelten“ hat. Die Höhe des abzugeltendenBetrages ergibt sich dabei auskann verfassungskonform nur dahingehendausgelegt werden, dass mit derFormulierung „Betrag, der sich aus §4 ergibtnicht aber der nach Ausschöpfung allerAbzugsmöglichkeiten gem § 4 Abs2 sich ergebende Betrag gemeint seinkann. Die ZISA spricht grundsätzlichfür dienstfreie Tage iSd § 5 den Betragzu, der sich aus § 4 nach Abzugaller Abschlagsmöglichkeiten ergibt.Andererseits gesteht sie in einzelnenBescheiden zu, dass das Vorliegeneiner Kochgelegenheit einem ZD andienstfreien Tagen nicht zum Vorteilgereichen kann und daher an diesennur folgerichtig, muss aber – wie obenausgeführt – für alle Abschläge gelten.Eine andere Auslegung führt nämlichzum Ergebnis, dass ZD an dienstfreienTagen trotz gleicher Umstände unterschiedlichbehandelt werden. Es kannaber an dienstfreien Tagen keine Rollespielen, ob dem ZD in der Einrichtungeine Kochgelegenheit zur Verfügungsteht, wie stark körperlich belastend seineTätigkeiten sind und ob er an einemgleichbleibenden Dienstort eingesetzt Tagen hat. Diese Rechtsansicht führtvielmehr dazu, dass Gleiches – nämlich dienstfreien Tagen – ungleich behandeltwird, worin ein Verstoß gegen dasverfassungsgesetzlich gewährleisteteGleichheitsgebot zu erblicken ist.2.5. Kritische Würdigung des ZDÜ2006 und dessen AnwendungDas ZDÜ 2006 macht es ehemaligenZD nicht gerade leicht, zu einer fairen langen.Der Geltendmachung verfassungs<strong>recht</strong>lichgewährleisteter Rechtesteht die Hürde entgegen, sich mit einerprivaten – zumeist gemeinnützigen –Organisation zu streiten. Zwar werdendie Kosten der Nachzahlungen durchdie Rechtsträger idR in der Höhe vonbis zu 4,20 Euro pro Person und Tagvom Bund ersetzt, darüber hinausgehendeAbgeltungen sind jedoch vomRechtsträger abzugelten. Für die Annahmeeines Angebotes des Rechtsträgerswar letztlich allerdings nicht nureine moralische Frage entscheidend,sie war vielfach auf einen gewissenPragmatismus zurückzuführen, dersich darin zeigte, lieber einen geringerendafür gleich ausbezahlten Betraganzunehmen als mit ungewissem Ausganglängere Zeit um einen höherenzu streiten. So bestand zwar in derüberwiegenden Anzahl an Fällen eineEinigkeit zwischen Rechtsträgern undZD hinsichtlich einer Nachzahlungdem Grunde nach, erfolgte aber dennochkeine Auszahlung des bereits anerkanntenBetrages, da sich die Rechtsträgerin allen dem Autor bekanntenFällen auf Angaben der ZISA stützten,wonach die Rechtsträger, soweit eineEinigung nicht erzielt werden konnte,eine Teilabgeltung nicht vorzunehmenhatten 13 . Aus dem Gesetz ergibt sich dieseRechtsanschauung nicht unbedingt.In § 1 Abs 3 Satz 2 ZDÜ 2006 heißtes lediglich, dass für den Fall, dass eszu keiner gütlichen Einigung kommtund der Rechtsträger eine Abgeltungnicht vornimmt, die ZISA auf Antragdes Anspruchsbe<strong>recht</strong>igten die Höheder vermögens<strong>recht</strong>lichen Ansprüche Es ist also keineswegs gesagt, dassder Rechtsträger nicht einen erstenvon beiden Seiten anerkannten Betragzur Auszahlung bringen kann, dieseKosten gegenüber dem Bund geltend hinsichtlich seiner weiteren strittigenAnsprüche einen Feststellungsbescheidbeantragt. Eine solche Vorgangsweisewäre nicht nur voll durch das Gesetzgedeckt, sie hätte vor allem wesentlichmehr ehemalige ZD dazu veranlasst,für ihr Recht zu streiten.Hinzu kommt für die Betroffenenein großer Zeitaufwand. Die ZISA gibtnur vor, ein umfassendes ErmittlungsverfahreniSd AVG durchzuführen.Sie beschränkt sich vielmehr auf dieEinholung von Aussagen der streitendenParteien, führt aber selbst in dendem Autor bekannten Fällen keinerleiamtswegige Ermittlungen durch. Einordentliches dem AVG entsprechendesErmittlungsverfahren wird dannscheinbar erst im Berufungsverfahrendurchgeführt.2.6. Verfahrenskosten durchAmtshaftung?2.6.1. Zivildienst als Kernaufgabe desStaatesZwar sind Eingaben im Anwendungsbereichdes Zivildienst<strong>recht</strong>es gem § 72ZDG von allfälligen Gebühren befreit,dennoch sind zumindest eigene Vertretungskostenzu tragen. Das schreckt zusätzlichab. Allerdings könnte im Falledes Obsiegens – egal in welcher Instanz– unter Umständen an einen Ersatz fürentstandene Verfahrenskosten über denAmtshaftungsweg zu denken sein. DerRsp des VfGH zufolge ist der Zivildienstals ausgliederungsfeste Kernaufgabedes Staates zu sehen. 14 Unstrittig13) Siehe etwa 2. Schreiben derZISA an die Rechtsträger vom Mai2006, abrufbar unter http://www.zivildienstverwaltung.at/material/Schreiben2_ZDUEG2006.pdf(18.2.2007).14) VfSlg 17.341, JAP 2005/2006,86 (Kucsko-Stadlmayer/Ennöckl)= ZfV 2005/3 (Raschauer); vglauch Pabel, Verfassungs<strong>recht</strong>licheGrenzen der Ausgliederung, JRP2005, 221.Seite 62 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


echt & <strong>gesellschaft</strong>um einen öffentlich-<strong>recht</strong>lichen Anspruchdes ZD, hielt der VfGH doch zur Ableistung des Zivildienstes diedie Dauer dieses Dienstes die Deckungder notwendigen Lebensbedürfnisse zugewährleisten. 15 Der Staat lagert dieseim Einzelfall auf die Rechtsträger aus,bleibt aber letztlich für die Einhaltungder verfassungs<strong>recht</strong>lichen Aufgabenverantwortlich. Diese Ansicht bestätigtsich nicht zuletzt in § 28a Abs 2 ZDG,wonach der Bund ermächtig ist, ZD,die nicht angemessen iSd § 28 ZDGsten.Der Staat nimmt seine jedenfallsbestehende Aufsichts- und Gewährleistungsfunktionwahr, indem er fürden Großteil der Nachzahlungen aufkommt,die Verwaltung und Klärungder Ansprüche aber – unter Kontrolledes Staates durch die Möglichkeit derEinleitung eines Feststellungsverfahrens– auf die Rechtsträger abschiebt.Diesen kommt dabei eine vom ZDÜ2006 aufgetragene entscheidende Rolleim Verfahren über die Nachzahlungzu, im Rahmen dessen sie zwingendeine Vorprüfung der Ansprüche vorzunehmenhaben. Die Rechtsträger tref-setzungeines öffentlich-<strong>recht</strong>lichenAnspruches. Diesbezüglich hielt derInnenausschuss des Nationalrates anlässlichder Verabschiedung des ZDÜ2006 in seinem Bericht fest, dass er davonausgeht, dass die Rechtsträger ihreehemaligen ZD „in geeigneter Formvon der Möglichkeit der Geltendmachungihrer vermögens<strong>recht</strong>lichen Ansprücheinformieren“ 16 .2.6.2. Rechtsträger als BelieheneAus der öffentlich-<strong>recht</strong>lichen Naturdes Anspruches und der Einbettung derRechtsträger in ein Verwaltungsverfahrenhinsichtlich der Nachzahlungeinem großen Teil vom Bund getragenwird, ergibt sich, dass die Rechtsträgersomit bei Anwendung des ZDÜ 2006 heitlicheFunktionen ausüben unddaher als Beliehene 17 anzusehen sind,weshalb ihr Handeln der kompetenz<strong>recht</strong>lichzuständigen Gebietskörperschaft– im konkreten Fall somit demBund 18 – zuzurechnen ist. Allfälliges<strong>recht</strong>swidriges und schuldhaftes Handelnkann daher zu AmtshaftungsansprücheniSd § 1 AHG 19 der betroffenenZD führen. Zu denken wäre dabei etwaan Fälle, in denen der Rechtsträger eineBefassung mit der Thematik von vornhereinablehnt, wider besseren Wissensjeglichen Anspruch verweigert oderbewusst falsche Angaben macht. Gem§ 1 Abs 2 ZDÜ 2006 hat der Rechtsträgergeltend gemachte Ansprücheverordnungbinnen drei Monaten abzugelten.Provoziert der Rechtsträgeretwa wegen Untätigkeit innerhalb vondrei Monaten die Einbringung einesFeststellungsantrages des ZD bei derZISA, könnte darin eine <strong>recht</strong>swidrigeund schuldhafte, einen Amtshaftungsanspruchauslösende Unterlassung gesehenwerden. Weiters bestimmt § 1Abs 3 ZDÜ 2006, dass der Rechtsträgerauf eine gütliche Einigung hinzuwirkenhat, soweit zwischen ihm unddem ZD keine Übereinstimmung überdie Höhe der abzugeltenden Ansprüchebesteht. Das Gesetz geht also schonvom Wortlaut her (arg hat) von einer terialiensprechen diesbezüglich aus- 20Versucht der Rechtsträger somit erstgar nicht, eine gütliche Einigung zuund damit <strong>recht</strong>swidrige Unterlassunggesehen werden.3. SchlussSchon die ZISA benötigt für ihr zumTeil mangelhaft durchgeführtes Verfahrensechs Monate. Ein ordentlichdurchgeführtes Ermittlungsverfahrendurch den BMI wird nicht weniger Zeitin Anspruch nehmen. Bis dahin erhaltenehemalige ZD keinen Cent. MitEinrechnung der dreimonatigen demVerfahren der ZISA vorgeschaltetenEntscheidungsfrist der Rechtsträgerkommt der streitende ehemalige ZDauf eine Verfahrensdauer von (mindestens)15 Monaten bis seine Ansprüchein einem (hoffentlich) ordentlichenErmittlungsverfahren festgestellt wordensind. Hinzu kommt, dass die Zivildienstleistungim schlimmsten Falldann schon sechs Jahre zurück liegt, bis dahin somit vom ZD selbst getragenwurden. Der vom VfGH aufgestellteGrundsatz, wonach die Zivildienstlei- faktisch weder vereitelt noch (erheblich)erschwert werden darf, wird dadurchad absurdum geführt.Aufgrund begründeter Zweifel an derVerfassungskonformität der nun beste-notwendige Klärung durch den VfGHgeradezu vorprogrammiert. Bis dahinhaben viele ehemalige ZD durch dieUnterzeichnung eines Vergleichs hinsichtlichihrer vermögens<strong>recht</strong>lichenAnsprüche einen Schlussstrich gezogen.Wohl um die Wirksamkeit derartigerVergleiche abzusichern, hat derGesetzgeber durch die jüngste Nov 21 desZDG in § 76b Abs 9 festgehalten, dassAnspruchsbe<strong>recht</strong>igte auf vermögens<strong>recht</strong>licheAnsprüche auf Grund desZDG jederzeit verzichten können. DerStaat versucht sich wiederum eines Teilsseiner Verantwortung zu entledigen.Ronald Frühwirth studiertRechtswissenschaften inGraz und ist als juristischerMitarbeiter in der KanzleiKocher & Bucher tätig;r.fruehwirth@kocher-law.at.15) VfSlg 16.588, VfGH15.10.2005, B 360/05 ua, VfGH28.2.2006, B 1281/05.16) 1343 BlgNR 22.GP, 2.17) Vgl zu Voraussetzungen undGrenzen der Beleihung VfSlg14.473 und 16.400.18) Angelegenheiten des Zivildienstessind in Gesetzgebungund Vollziehung gem § 1 ZDGBundessache.19) Amtshaftungsgesetz BGBl1949/20 idF BGBl I 1999/194.20) 1343 BlgNR 22.GP, 2.21) BGBl I 2006/40.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 63


echt & <strong>gesellschaft</strong>Vor 25 Jahren schaffteFrankreich die Todesstrafeab – ein Meilensteinauf dem Weg zum„todesstrafenfreien Europa“Analyse eines straf<strong>recht</strong>spolitischenUmdenkprozesses und seinergesamteuropäischen TragweiteMarcel Pilshofer················································Beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeitjährte sich im vergangenen Jahrein Ereignis, dessen innerstaatliche wieauch gesamteuropäische Bedeutung fürdie Fortentwicklung des Rechtsstaatesnicht unterschätzt werden sollte: Vor 25Jahren, am 9. Oktober 1981, beschlossdie französische Nationalversammlungdas Gesetz über die Abschaffung derTodesstrafe. Das Gesetz Nr. 81-908,eingebracht über Antrag der Regierungunmittelbar nach deren Amtsantritt undausgearbeitet unter dem entschiedenenTodesstrafengegner Robert Badinter alsJustizminister (garde des sceaux), tratbereits am folgenden Tag in Kraft. InArtikel 1 des Gesetzes heißt es (in deutscherÜbersetzung 1 ) : „Die Todesstrafeist abgeschafft.“ In weiterer Folge erklärtedie Nationalversammlung auchjede außerordentliche bzw. Standgerichtsbarkeit(juridicitions d`exception)per Gesetz für aufgehoben.Dieses Gesetz bildete den Paukenschlagjener neuen Straf<strong>recht</strong>spolitik,die der neu gewählte sozialistischeStaatspräsident Francois Mitterandbereits im Wahlkampf als eine seinerersten Maßnahmen angekündigt hatte,und die ab Mai 1981 durch die vonihm ernannte Regierung von MinisterpräsidentMauroy unter Federführungdes äußerst engagierten JustizministersBadinter in die Wege geleitet wurde. DieBedeutung dieses Gesetzesaktes gingüber das hinaus, was herkömmlich mitder Ablöse einer konservativ-<strong>recht</strong>endurch eine sozialistisch-linke Regierungspolitikverbunden ist: Frankreichwar zu diesem Zeitpunkt das letzte demokratischeLand in Europa, das die Todesstrafenicht bloß de iure im Straf<strong>recht</strong>verankert hatte, sondern auch de factobis zuletzt von dieser Strafe Gebrauchmachte. Die letzte Hinrichtung hatte erstam 10. September 1977 stattgefunden,und bei Inkrafttreten der Abschaffungder Todesstrafe befanden sich nochimmerhin sieben zum Tode verurteiltePersonen in Haft. 2Das Gesetz vom 9. Oktober 981machte Frankreich zu einem Teil jener„todesstrafenfreien“ Rechtssysteme, ausdenen die EG schon kurze Zeit späterausnahmslos bestand. Eben diese Zugehörigkeitsollte ab den 90-er Jahren WesensmerkmalEuropas und Abgrenzungskriteriumgegenüber den USA werden.Folgeentwicklung im Umgang mitder Todesstrafe in der EG/EUFrankreich war in Europa nicht bloß dieletzte westorientierte Demokratie, in dereine Hinrichtung stattfand (Griechenlandund Spanien vollstreckten jeweilsnoch als Diktaturen 1972 bzw. 1975 dieletzten Todesurteile) – Frankreich wardas einzige Land in der Geschichte derEuropäischen (Wirtschafts-)gemeinschaft,in dem noch während auf<strong>recht</strong>erE(W)G-Mitgliedschaft Todesurteilevollstreckt wurden. Zwar waren esGriechenland und Belgien, die längerals Frankreich – nämlich bis zum Zustandekommender Maastrichter Unionin den 90-er Jahren – die Todesstrafeim ordentlichen Gerichtsverfahren bzw.auch in Friedenszeiten vorsahen. Erstdann änderten schließlich auch diesebeide Staaten als letzte in der EG ihreStrafgesetzbücher.Frankreich war es aber, das sich nachAbschaffung der Todesstrafe zu einemVorreiter entwickelte, was den Kampfgegen die Todesstrafe auf europäischerund internationaler Ebene betraf. UnterJustizminister Badinter wirkte Frankreichentschieden am Zustandekommendes 6. Zusatzprotokolls zur EuropäischenMenschen<strong>recht</strong>skonvention1950 (EMRK) mit, das bereits 1983/84zustande kam. Dort heißt es u.a:„Artikel 1: Die Todesstrafe ist abgeschafft.Niemand darf zu dieser Strafeverurteilt oder hingerichtet werden.Artikel 2: Der Staat kann durchGesetz die Todesstrafe für Taten vorsehen,welche in Kriegszeiten oder beiunmittelbarer Kriegsgefahr begangenwerden ...“ –Frankreich gehörte neben Österreichund der Bundesrepublik Deutschlandzu den ersten Signatarstaaten diesesZusatzprotokolls. Dessen Unterzeich-Jahren nach dem damaligen Stand dereuropäischen Rechtsvereinheitlichung(noch) nicht für alle EG-Mitglieder reichvon Großbritannien und Nordirlandetwa lehnte die Unterzeichnungzunächst ab, weil der Vorbehalt für1) Wenn der Staat tötet – Todesstrafecontra Menschen<strong>recht</strong>e(Amnesty International Publications1989/Deutsche Erstausgabe1989), 192, weiters zitiert alsAmnesty.2) Amnesty, 192.Seite 64 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


echt & <strong>gesellschaft</strong>Kriegszeiten bzw. Kriegsgefahr offenbarals nicht weit genug angesehenwurde.Jedoch ging diese Entwicklung, dienun auch von Frankreich gefördert wurde,zügig weiter. Seit dem MaastrichterRechtsvereinheitlichungsprozess (derdie Schaffung der 3. Säule der Unionbewirkte) nimmt die EU neue Mitgliedstaatenerst auf, sobald diese dieEMRK samt allen Zusatzprotokollen das 6. Zusatzprotokoll mit ein, sodassder Bestand der Todesstrafe für „herkömmliche“Straftaten (solche, dieauch im Frieden, ohne Vorliegen einesAusnahmezustandes, begangen werdenwie z.B. Mord), bzw. die Anwendungder Todesstrafe im ordentlichenGerichtsverfahren nunmehr mit einerEU-Mitgliedschaft unvereinbar ist.Exkurs: Todesstrafenfrageam Beginn des europäischenEinigungsprozessesWenn die EU heute als Speerspitze imweltweiten Kampf für die Abschaffungder Todesstrafe erscheint und von ihreneigenen Mitgliedern unerbittlich die„Todesstrafenfreiheit“ (zumindest im ordentlichenVerfahren) fordert, so ist sichdie Öffentlichkeit oft nicht bewusst, dassdie Idee Europas als einer ausnahmslos„todesstrafenfreien Zone“ eine relativjunge ist. Frankreich war vielleicht einer– wenn nicht der entscheidende – Schrittmacherbei dieser Entwicklung: das Landhätte sich Ende der 50-er Jahre, bei Gründungder EWG, nie und nimmer den Gebrauchder Todesstrafe verbieten lassen.Frankreich war die einzige militärischeGroßmacht unter den Gründerstaaten derEWG. Zwar hatten die beiden anderengroßen Gründerstaaten Deutschland undItalien zu diesem Zeitpunkt die Todesstrafebereits in ihren Verfassungen abgeschafft.Jedoch waren beide im Verhältniszu Frankreich unterlegene Kriegsgegnerdes 2. Weltkrieges und noch dazu (u.a.)durch Frankreich von ihren autoritärenSystemen befreit worden. Es überwogdie Ansicht, Deutschland und Italienhätten ein besonderes Problem mit derTodesstrafe aufgrund ihrer autoritärenVergangenheit.Rechtsstaatliche Werte spielten innerhalbder EWG, wenngleich dieseim Kern eine Wirtschaftsgemeinschaftwar, zweifelsohne schon am Anfangeine Rolle. Aber die Gewichtung, diesie später bekommen hat, fehlte 1957.Gemeinsamer Nenner war damals dieAnerkennung jenes <strong>recht</strong>sstaatlichenGrundkonzeptes, das im Wesentlichenden Anforderungen der EMRK) entspricht.Dies bedeutete ein <strong>recht</strong>sstaatlichesVerfahren und ein auf Gesetzberuhendes Gericht (tribunal) in allenMitgliedsstaaten. Ein solches durfteaber im Rahmen eines fairen Verfahrensund für Taten, für die dies das Gesetzvorsah, sehr wohl auch die Todesstrafeverhängen und vollstrecken lassen, ohnedass der jeweilige Staat dadurch in Kon-Werten geraten müsste. So enthält Art 2EMRK bei Gewährung des Rechtes aufLeben einen ausdrücklichen Vorbehaltzugunsten der Todesstrafe:„ Art 2, Absatz 1: Das Recht jedesMenschen auf das Leben wird gesetzlichgeschützt. Abgesehen von der Vollstreckungeines Todesurteils, das voneinem Gericht im Falle eines durchGesetz mit der Todesstrafe bedrohtenVerbrechens ausgesprochen wordenist, darf eine absichtliche Tötung nichtvorgenommen werden. ... „Genau dies entsprach in den 50-erJahren noch der Auffassung und gelebtenPraxis in der anderen „großenalten Demokratie“ Europas: Im VereinigtenKönigreich von Großbritannien undNordirland wurden bis 1964 Todesurteilevollstreckt, 1965 erfolge – eher zögerlichals entschlossen – die Abschaffung derTodesstrafe für Mord, die zunächst nurbefristet für fünf Jahre und erst 1969 aufDauer ausgesprochen wurde. 3Die innere Veränderung in Frankreichsollten es sein, die den Wandelin der EG einläuteten: Frankreich warzwar ein Land, in dem die Bewegunggegen die Todesstrafe einen sehr langeGeschichte hat. Aber noch unter deGaulle schien in den 60-er Jahren dieAnwendung der Todesstrafe einem innenpolitischenKonsens der Mehrheitzu entsprechen. Die Forderung nacheiner Abschaffung erlangte kein ausreichendespolitisches Gewicht, zunächstauch nicht im linken Lager (das 1936/37der Regierung besaß). Dazu trugen auchdie Besonderheiten der französischenNachkriegsgeschichte bei, die von in- gezeichnet war: Nach der Machtübernahmedurch General de Gaulles 1958und der Ausrufung der Fünften Republikwar die Wiederherstellung der politischenund wirtschaftlichen StabilitätRechtfertigung für ein Festhalten anharten Abwehrmaßnahmen und Sanktionendes Staates gegen Angreifer aufseine und seiner Bürger Sicherheit. DieAnwendung der Todesstrafe passte alsInstrument in dieses System. Dies zeigteetwa der plakative Militärprozess nachdem gescheiterten Attentat auf de Gaulle1962 (einem mutmaßlichen Putsch- Bastien-Thierry, wurde im März 1963durch ein Erschießungskommando exekutiert,während ein paar Kilometerweiter das Pariser Großstadtleben einendurchaus zivilisierten, fortschrittlichenAnblick bot und im Kino die neuestenWerke einer avantgardistischen Filmkunstein modernes Frankreich zeigten.Während sich die letzten übrigenStaaten Westeuropas von der Todesstrafeverabschiedeten, blieb Frankreichtrotz der heftigen 68-er Unruhen in derTodesstrafenfrage noch unnachgiebig:de Gaulle`s Nachfolger als Präsidentder fünften Republik, Georges Pompidou,wurde zunächst von einigenStrafverteidigern (wie dem späterenJustizminister Badinter) als Todesstrafen-Skeptikereingeschätzt (wie er jaauch in der Außenpolitik von der hartenLinie de Gaulles abging). So fand inden ersten drei Jahren seiner Amtszeitkeine einzige Hinrichtung statt. Dochdie Regierungen unter Pompidou ändertendie Gesetzeslage nicht, und als1972 die Häftlinge Buffet und Bontems(letzterer verteidigt durch Badinter) wegeneines Mordes im Zuge einer Geiselnahmezum Tode verurteilt wurden, gabder Staatspräsident dem Gnadengesuchdes Verurteilten Bontems keine Folge.Beide Verurteilten wurden hingerichtet.Als 1977 die letzte Hinrichtung inder Geschichte Frankreichs und der EGerfolge, war Valérie Giscard d`EstaingStaatspräsident, und Jacques ChiracPremierminister. Beide sind noch heute– 25 Jahre später – in hohen politischen3) Amnesty, 432.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 65


echt & <strong>gesellschaft</strong>Gesetzbuch Sozial<strong>recht</strong> Tel.: 01- 610 77 - 315, Fax: - 589order@verlagoesterreich.atwww.verlagoesterreich.atÄmtern tätig. Beide zählen heute durchauszu den Verfechtern einer europäischenWertegemeinschaft, die eine Todesstrafenfreiheiteinschließt.SchlussbetrachtungDie Folgewirkung des Gesetzes Nr. 81-908 vom 9.Oktober 1981 sollten weitreichendersein, als an diesem Tag vorgenau 25 Jahren ersichtlich war.In Europa hat sich die Einsichtdurchgesetzt, dass Rechtsstaatlichkeitund Anwendung der Todesstrafe mit einanderunvereinbar sind. Dies ist aucheiner der entscheidenden Kriterien,nach denen sich Europa heute vom Restder westlichen Welt, insbesondere denUSA und Japan, absetzt.Ohne das entschlossene und tatkräftigeVorgehen der Staatsführung Mitterand/Mauroyim Jahr 1981, die derBewegung gegen die Todesstrafe einmächtiges Forum geboten hat, wäre derStellenwert der Todesstrafe im Rahmender Europäischen Integration einanderer gewesen. Es hätte zwar sichereine große Mehrzahl an Staaten ohneTodesstrafe gegeben (so wie Österreich,die Bundesrepublik Deutschlandoder Italien). Aber ein geschlossenesAuftreten des sich einigenden Europasgegenüber den neuen Beitrittswerbern,wie es seit dem Inkrafttretendes Maastrichter Vertrages 1993 statt-mussten auch die neuen DemokratienOsteuropas nach dem Sturz der kommunistischenDiktaturen die Erfahrungmachen, dass eine Hinrichtung nichtschon deshalb in den Augen Europasge<strong>recht</strong>fertigt war, weil sie im Rahmeneines gesetzmäßigen Verfahrenerfolgte und (tatsächlich) dem Willender Mehrheit des Volkes entsprach. 0Dieser Druck der EU hat meines ErachtensGroßes bewirkt: Ende 1998schaffte selbst Russland die Todesstrafeweitgehend ab, obwohl dieses Landkeine Aussichten (bzw. auch keineAmbitionen) auf einen EU-Beitritt hat.Das Leben des kurdischen PKK-FührersÖcalan in der Türkei hat mE nurdie vorgenannte Entwicklung gerettet.Inzwischen hat sogar die Türkei (einStaat, der großteils in Asien liegt undan den Iran und Irak grenzt) bereits dieTodesstrafe abgeschafft!Wenn wir uns heute nicht nur inÖsterreich selbst im „todesstrafen- rüberhinaus auch ausschließlich vonsolchen Staaten umgeben sind, so verdankenwir dies mE zu einem Gutteiljenem <strong>recht</strong>spolitischen Umdenken,das am 09. Oktober 1981 Frankreicherfasst hat.Mag. Marcel Pilshofer istjuristischer Mitarbeiter in derRechtsanwaltskanzlei Dr. inVera Weld, Wien; marcel_pilshofer@yahoo.de.4) So löste etwa die Hinrichtungdes Ehepaars Ceausescu in Rumänien1989, die nach einem Schnellverfahrenerfolgte, in Europa trotzder Freude über das Ende vonderen Herrschaft auch erheblicheAblehnung aus – StaatspräsidentIon Iliescu sah sich darauf hin genötigt,bereits am 01.01.1990 diesofortige Abschaffung der Todesstrafezu verkünden.Seite 66 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


echt & <strong>gesellschaft</strong>Rauchen und RechtErlaubt das Gemeinschafts<strong>recht</strong> dieDiskriminierung von Rauchenden aufArbeitssuche?Matthias C. Kettemann················································1. EinleitungIst die Diskriminierung von Rauchendennach Gemeinschafts<strong>recht</strong> erlaubt?Der vorliegende Beitrag untersucht anlässlicheines aktuellen Falles (2.) vordem Hintergrund des gemeinschafts<strong>recht</strong>lichenAntidiskriminierungsregimes(3.), ob die Benachteilung vonRauchenden bei der Aufnahme vonBeschäftigungsverhältnissen eine Deckungim europäischen Arbeits- und Conclusio (4.) fasst zentrale Erkenntnissezusammen.Eingangs ist festzuhalten, dass sichdie öffentlichen Aktivitäten gegen dasRauchen zu einer veritablen Gemengelagevon <strong>recht</strong>lichen Regelungen,politischen Erklärungen und internationalenCommitments verdichtet haben,die von einer teilweisen Renaissancedes lenkenden Staates kunden,den Habermas schon in der post-nationalenKonstellation konstituiertsah. 1 Indes enthebt der politische und<strong>gesellschaft</strong>liche Grundkonsens überdie Sinnhaftigkeit der Verfolgung vonZielen wie Gesundheitsschutz 2 die gesetztenMaßnahmen, namentlich imeng gewobene Netz europäischer Menschen<strong>recht</strong>sgarantien,das im Mehrebenensystemvon EU, Europarat undNationalstaaten festgemacht ist, zurespektieren. Im Folgenden wird dierein menschen<strong>recht</strong>liche Dimensionallerdings nicht untersucht werden;der Fokus liegt auf den Vorgaben desgemeinschafts<strong>recht</strong>lichen Antidiskriminierungsschutzes.2. VorgeschichteIm Mai 2006 veröffentlichte das irischeCall Center „Dotcom Directories“ eineStellenanzeige, in der explizit aufgeführtwar: „Raucher brauchen sich nicht zubewerben.“ Philip Tobin, der Geschäftsführerdes Call Centers, verteidigte dieFormulierung mit der Begründung,Rauchende seien „asozial“, gingen „zuoft in Krankenstand“ und kämen nachRauchpausen „stinkend ins Büro“ zurück.Weiters sei Rauchen „idiotisch“;wer die Vielzahl von Warnungen unddie Beweise für die Gefahren des Rauchensignoriere, habe nicht das für denangebotenen Job nötige „Intelligenzniveau“.3Eine europäische Dimension undeinen beachtlichen medialen Nachhallerhielt die Stellenanzeige erst, als dieAnfrage von Catherine Stihler, einesschottischen Mitglieds des EuropäischenParlamentes, an Kommissar VladimírSpidla, ob denn die verwendeteFormulierung dem gemeinschafts<strong>recht</strong>lichenAntidiskriminierungsregime widerspreche,negativ beantwortet wurde.Die Kommission teilte mit, dass dieDiskriminierung von Rauchenden unterkeinen der verbrieften Diskriminierungstatbeständefalle. Diese umfasstenausweislich Art 13 EG lediglich das Geschlecht,die Rasse, die ethnische Herkunft,die Religion, die Weltanschauung,eine Behinderung, das Alter oderdie sexuelle Orientierung.Konsequent zu Ende gedacht liefediese Argumentationslinie darauf hinaus,dass das europäische Recht Diskriminierungakzeptiert, solange sienicht explizit in ihren Gründungsverträgenverpönt ist. Ist dies vereinbar mitder Politik einer immer engeren Union,die gem Art 6 EU auf den Grundsätzender Freiheit, der Demokratie, der Achtungder Menschen<strong>recht</strong>e und Grundfreiheitensowie der Rechtsstaatlichkeitberuht (Abs 1) und die jene Grund<strong>recht</strong>eachtet, die in der EMRK gewährleistetsind und wie sie sich aus den gemeinsamenVerfassungsüberlieferungen derMitgliedstaaten als allgemeine Grundsätzedes Gemeinschafts<strong>recht</strong>s ergeben(Abs 2)?Während die unbedacht erscheinendeAntwort der Kommission aufStihlers Frage dem EU-kritischenLager Munition verschaffte, lässtsich ihre Kernaussage aus mehrerenGründen relativieren. Erstens ist dieAnsicht der Kommission – im Gegensatzzu einem Urteil des EuG oder desEuGH – nicht <strong>recht</strong>sverbindlich. Der inArt 249 EG festgeschriebene gemeinschafts<strong>recht</strong>licheRechtsquellenkatalogkennt keine „Rechtsansichten derKommission“. Zweitens hat die Kommissionselbst einen Tag nach Veröffentlichungder Antwort diese de factowiderrufen und Berichte, nach denendie EU die Diskriminierung von Rauchernerlaube, als „Falschauslegung“bezeichnet. 4 Drittens kann, wie dieserBeitrag zeigen wird, das EU-Antidiskriminierungsregimedergestalt interpretiertwerden, dass die Diskriminierungvon Tabakkonsumierenden beider Aufnahme von Beschäftigungsverhältnissenschon jetzt gegen gemeinschafts-und menschen<strong>recht</strong>liche Garantienverstößt. Schließlich, viertens,verbleibt unterhalb der gemeinschafts<strong>recht</strong>lichenEbene stets noch jene der1) Habermas, Die postnationaleKonstellation (1998/2005); s auchLeibfried/Zürn (Hrsg), Transformationdes Staates (2006).2) In der Antwort auf eine Anfrageeines MEP führte die Kommissionaus, dass angesichts der 500 MillionenTodesopfer aufgrund von mitTabak im Zusammenhang stehendenKrankheiten ein „rauchfreiesEuropa“ eine der Prioritäten deröffentlichen Gesundheitspolitikder Kommission darstelle (vglEuropäische Kommission, Antwortvon Kyprianou v 23.5.2006zu Frage E-1688/06 von Stihler(PSE), E-1688/06EN).3) Zit nach Bounds, EU bossesmay refuse jobs to smokers, FinancialTimes v 4.8.2006 (Übersetzungdurch den Verf).4) Europäische Kommission,Beschäftigung, soziale Angelegenheiten& Chancengleichheit,Pressemitteilung, „Die Kommissionist gegen die Diskriminierungvon Rauchern“, http://ec.europa.eu/employment_social/emplweb/news/news_de.cfm?id=171(30.8.2006).<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 67


echt & <strong>gesellschaft</strong>Mitgliedstaaten. Diese sind auch fürden Schutz gegen all jene Diskriminierungenkompetent, die nicht unterGemeinschafts<strong>recht</strong> fallen. 53. Rauchen im Kontext des EU-Antidiskriminierungsregimes3.1. Diskriminierungsschutz zwischenMarktharmonisierung undMenschen<strong>recht</strong>enIn ihrer zweiten, konkretisierendenAntwort auf die eingangs beschriebeneKontroverse betonte die Kommission,dass sie eine „rauchfreie Umgebungam Arbeitsplatz zum Schutz der Gesundheitsowohl von Rauchern als auchvon Nichtrauchern“ befürworte, jedoch„starke Zweifel“ hege, ob eine „Diskriminierungvon Rauchern politisch akzeptabel“sei. 6 Sinnhafter als die Bezugnahmeauf eine so ephemere Größe wiedie politische Akzeptabilität wäre einePrüfung anhand des elaborierten EU-Antidiskriminierungsregimes gewesen;diese wird im Folgenden überblickshaftnachgeholt.Das allgemeine Diskriminierungsverbotaufgrund der Staatsangehörigkeitist Grundprinzip der ursprünglichals Wirtschaftsgemeinschaft konstituiertenEU. Doch schon das Prinzipdes gleichen Entgeltes für Frauen undMänner (Art 141 Abs 1 EG/Art III-214Abs 1 VVE) stellt in seiner Konzeptionals Grund<strong>recht</strong> eine Loslösungvon ausschließlich der Marktharmonisierungund der Verhinderung vonWettbewerbsverfälschungen dienendenGleichheitsnormen dar. 7 Das aktuelleAntidiskriminierungsregime derGemeinschaft beruht auf Art 13 Abs1 EG (Art III-124 VVE), der den Ratermächtigt, auf Vorschlag der Kommissionund nach Anhörung des EuropäischenParlaments einstimmig geeigneteVorkehrungen zu treffen, „umDiskriminierungen aus Gründen desGeschlechts, der Rasse, der ethnischenHerkunft, der Religion oder der Weltanschauung,einer Behinderung, desAlters oder der sexuellen Ausrichtungzu bekämpfen.“ 8In Hinblick auf Nichtdiskriminierungim europäischen Arbeits<strong>recht</strong> sindweiters die Richtlinie 2000/43/EG zurGleichbehandlung ohne Unterschiedder Rasse 9 und die Richtlinie 2000/78/EG zur Gleichbehandlung im Bereichder Beschäftigung 10 einschlägig. 11 Dasich unter den verpönten Diskriminierungstatbeständenkein Hinweisauf Nikotinsucht oder die Rauchen-Schluss nahe legen, dass das Gemeinschafts<strong>recht</strong>die Ungleichbehandlungvon Rauchenden und NichtrauchendenzB bei der Aufnahme von Beschäftigungsverhältnissennicht verbietet.Dieser Argumentationslinie folgte dieKommission in ihrer eingangs thematisiertenersten Antwort. In diesemSinne argumentierte auch die GroßeKammer des EuGH in ihrer Entscheidungim Fall Chacón Navas 12 zum Begriffder Behinderung im Sinne der RL2000/78/EG. Das vorlegende Gerichtwollte wissen, ob die in der RL nichtexplizit genannte „Krankheit“ nebender genannten „Behinderung“ als einweiterer Grund angesehen werdenkann, derentwegen Personen zu diskriminierenverboten ist. 13 Der EuGH hebtunzweideutig hervor, dass der EG keineBestimmung enthält, die eine Diskriminierungwegen einer Krankheitals solcher verbietet und dass Art 13EG nicht Rechtsgrundlage für Maßnahmendes Rates zur Bekämpfung einersolchen Diskriminierung sein kann. 14Selbst aus dem allgemeinen Diskriminierungsverbot,das „integraler Bestandteilder allgemeinen Grundsätzedes Gemeinschafts<strong>recht</strong>s“ ist, ergebesich nicht, dass der Geltungsbereichvon Richtlinien auf nicht in diesen abschließendaufgezählten Gründe hinausausgedehnt werden darf. 15Da neben Art 13 EG und den aufseiner Grundlage verabschiedeten Richtlinienaber noch andere gemeinschafts<strong>recht</strong>licheNormen für den vorliegendenSachverhalt einschlägig sind, kann mit einigerBe<strong>recht</strong>igung vorgebracht werden,dass eine nur auf Art 13 EG basierendePrüfung der Frage der Rechtmäßigkeitvon Rauchendendiskriminierung nachGemeinschafts<strong>recht</strong> zu kurz greift.Aus einer Grund<strong>recht</strong>sperspektivebedeutender als Art 13 EG, der sich aufeine Regelung der Zuständigkeiten derGemeinschaft beschränkt, 16 ist nämlichArt II-81 VVE, der die verpöntenDiskriminierungstatbestände aus Art 17Ausweislich Abs 1 dieser noch nichtin Kraft getretenen, aber dennoch für5) In den meisten EU-Mitgliedstaatenstellt etwa das Arbeits<strong>recht</strong>in Fällen von unge<strong>recht</strong>fertigterDiskriminierung Rechtsmittel wieSchadenersatzklagen oder imöffentlichen Interesse zur Hintanhaltungunzulässiger Ungleichbehandlungennormierte Verwaltungsstrafenzur Verfügung.6) Europäische Kommission,Pressemitteilung (30.8.2006),Abs 3 (Hervorhebung durch denVerf).7) Kingreen in Ehlers, EuropäischeGrund<strong>recht</strong>e und Grundfreiheiten 2(EuGR) (2005) § 18 Rn 3.8) Zwei Antidiskriminierungsrichtliniensind auf Grundlage dieserBestimmung erlassen worden (vglStreinz in Calliess/Ruffert, Art 13EGV Rn 1).9) RL 2000/43/EG des Rates vom29.06.2000 zum Verbot von Diskriminierungaufgrund der Rasseoder der ethnischen Herkunft u.a.in den Bereichen Beschäftigungund Zugang zu Gütern, Dienstleistungenund Wohnraum, ABl L 180v 19.7.2000 S 22.10) RL 2000/78/EG des Rates vom27. November 2000 zur Festlegungeines allgemeinen Rahmensfür die Verwirklichung der Gleichbehandlungin Beschäftigung undArbeit, ABl L 303 S 16.11) Die Umsetzung der RL2000/28/EG in innerstaatlichesRecht musste bis zum 2.12.2003(für die EU-15) bzw bis zum1.5.2004 (für die EU-10) erfolgen.Österreich wollte jedoch für vierBundesländer die Ausnahmeregelungdes Art 18 nutzen, die Zusatzfristenvon bis zu drei Jahrenfür die Umsetzung der DiskriminierungstatbeständeAlter undBehinderung ermöglicht. Die MitteilungÖsterreichs wurde jedochnicht akzeptiert, weil diese – wieein Kommissionsbericht erläutert– „keine Angaben über die besonderenBedingungen, welche dieZusatzfrist erforderlich machten“enthielt und „weit nach Ablauf derUmsetzungsfrist der Richtlinie“erfolgte (vgl Bericht der Kommissionan den Rat, Umsetzung derBestimmungen über die Diskriminierungwegen des Alters undeiner Behinderung der Richtlinie2000/78/EG, http://ec.europa.eu/employment_social/fundamental_rights/pdf/legisln/agehan_de.pdf(15.1.2006).Zu Nichtdiskriminierung im europäischenArbeits<strong>recht</strong> sowie demvom EuGH verwendeten Gleichheitsbegriffvgl Bayer, (Nicht) vergleichbar.Formelle versus materielleGleichheit im europäischenArbeits<strong>recht</strong>, <strong>juridikum</strong> 2006/3,127-130.12) EuGH 11.7.2006, Rs C-13/05,Sonia Chacón Navas v Eurest ColectividadesSA.13) EuGH 11.7.2006, SoniaChacón Navas, Rn 53.14) EuGH 11.7.2006, SoniaChacón Navas, Rn 54, 55.15) EuGH 11.7.2006, SoniaChacón Navas, Rn 56.16) Vgl statt aller: EuGH11.7.2006, Sonia Chacón Navas,Rn 55.17) Zum Verhältnis von Art II-81 und III-124 VVE s Manhart/Maurer, EU-Verfassungsvertragund Grund<strong>recht</strong>scharta: WelcheAuswirkungen hat die Aufnahmeder Grund<strong>recht</strong>scharta in den Verfassungsvertragauf den Grund<strong>recht</strong>sschutzin Europa? MRM2005, 160-173 (165).Seite 68 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


echt & <strong>gesellschaft</strong>die Bestätigung und Konkretisierungdes bislang vom EuGH aus Art 6 Abs2 EUV ermittelten Grund<strong>recht</strong>sbestandeserheblichen Bestimmung 18 desals „Grund<strong>recht</strong>echarta“ bekannt gewordenenTeils II des VVE sind Diskriminierungen„insbesondere wegendes Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe,der ethnischen oder sozialenHerkunft, der genetischen Merkmale,der Sprache, der Religion oder derWeltanschauung, der politischen odersonstigen Anschauung, der Zugehörigkeitzu einer nationalen Minderheit, desVermögens, der Geburt, einer Behinderung,des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“und wegen der Staatsangehörigkeit(Abs 2) verboten. 19 Aufgrundder nicht enumerativen Aufzählungder verpönten Gründe für Ungleichbehandlungen(arg „insbesondere“) könnenauch Ungleichbehandlungen ausanderen als den erwähnten Gründen(zB Nikotinsucht) dem sachlichen Anwendungsbereichvon Art II-81 VVEunterfallen.Bei der Frage, ob Ungleichbehandlungeneiner Rechtfertigung zugänglichsind, ist zu differenzieren. Die Namhaftmachungeines sachlichen Grundes wirdbei bestimmen Merkmalen (Behinderung,Alter) als Rechtfertigung denkbarsein; bei anderen Merkmalen, namentlichRasse, ethnischer Herkunft und sexuellerAusrichtung, werden vorgebrachteRechtfertigungen indes in der Regel alsper se unsachlich zurückzuweisen sein.An die Prüfung der Sachlichkeit hat einerigide Verhältnismäßigkeitsprüfung desRechtfertigungsgrundes anzuschließen,in deren Rahmen geklärt wird, ob diepunktuelle Ungleichbehandlung zumSchutze anderer gemeinschafts<strong>recht</strong>lichgeschützter Güter unerlässlich ist. 203.2. Nikotinsucht als Krankheit oderBehinderungNeben dem Rückgriff auf die Grund<strong>recht</strong>echartaund ihre offene Konzepti-sich bei Deutung von Nikotinsucht alsKrankheit bzw Behinderung weitere Begründungswegefür eine Un<strong>recht</strong>mäßigkeitder Rauchendendiskriminierung.Erstens lässt sich ausgehend von derFeststellung, dass Nikotinsucht Krankheitswerthat und mithin trotz der regelmäßigenBeteuerung von Rauchenden,sie griffen aus persönlicher Entscheidungzur Zigarette, eine Krankheit kausalfür das Rauchen ist, argumentieren,dass Rauchende dem formal unverbindlichenaber <strong>recht</strong>serheblichen Art II-81VVE unterfallen. Da Art II-81 VVE,wie oben ausgeführt, die verbotenenDiskriminierungstatbestände nicht enumerativaufzählt, kann die Diskriminierungaufgrund einer Krankheit alsungeschriebener Tatbestand hineingelesenwerden. 21 Sollte das Rauchen selbsttrifft dies auf die in einem kausalenNexus stehenden Folgeerkrankungen 22regelmäßig zu. Die negativen gesundheitlichenFolgen des Rauchens zeitigendaher grund<strong>recht</strong>sdogmatisch das positiveErgebnis eines erhöhten Diskriminierungsschutzesfür Rauchende.In diesem Zusammenhang kann dieFrage gestellt werden, was Nikotinsuchtvon anderen Zivilisationskrankheitenunterscheidet. Das von dem irischenCall Center vorgebrachte Argument,Rauchende würden aufgrund des vonihnen ausgehenden starken Tabakgeruchsdas Arbeitsklima negativ beeinträchtigen,kann nur begrenzt <strong>recht</strong>lichreleviert werden. Auch Stellenanzeigen,die Personen mit palmarer, plantareroder axillärer Hyperhidrose 23 ex anteausschließen, würden wohl als diskriminierendwahrgenommen werden.Zweitens könnte Nikotinsucht als„Behinderung“ iSd Art 13 Abs 1 EGVund des Art II-81 VVE interpretiertwerden. Während dies prima facie abwegigerscheint, lassen sich dem Rechtmancher Mitgliedstaaten durchaus entsprechendeHinweise entnehmen. Dasirische Gleichheitstribunal („EqualityTribunal“), welches auch im Falle einerBeschwerde eines abgelehnten Rauchendengegen das Call Center „DotcomDirectories“ sachlich kompetentgewesen wäre, hat mehrfach festge- lity“in den Employment Equality Actsvon 1998 und 2004 sehr breit sei. 24Personen, die an Alkoholsucht leiden,seien ebenso als „disabled“ iSd irischenAntidiskriminierungsregeln zu betrachten25 wie Arbeitswerbende, die in einemMaße übergewichtig sind, dass einekrankhafte Adipositas vorliegt. 26 Nachder irischen Rechtsordnung ist es dahernicht gänzlich undenkbar, dass aucheine besonders schwere Nikotinsuchtals Behinderung angesehen wird.Erstmals äußerte sich der EuGH imFall Chacón Navas 27 zum Begriff derBehinderung im Sinne der RL 2000/78/EG über die Gleichbehandlung in Beschäftigungund Beruf. Die GroßeKammer führte aus, das „Behinderung“Bestimmung aber auch nicht in das innerstaatlicheRecht verweise, weshalbder Begriff autonom und einheitlichauszulegen sei. 28 „Behinderung“ imSinne der RL umfasse eine „Einschränkung,die insbesondere auf physische,geistige oder psychische Beeinträchtigungenzurückzuführen ist und die ein18) Calliess führt unter Bezugnahmeauf GA Tizzano (NZA2001, 827, Rn 26 ff) aus, dassdie Grund<strong>recht</strong>scharta ungeachtetihrer formalen Unverbindlichkeitaufgrund ihrer feierlichen Bestätigungdurch den EuropäischenRat von Nizza, das EuropäischesParlament, den Rat und die Kommissionin grund<strong>recht</strong>srelevantenVerfahren „nicht mehr ignoriertwerden kann“ (Calliess in Ehlers,EuGR (2005) § 20 Rn 35).19) Hervorhebung durch den Verf.20) Kingren in Ehlers, EuGR(2005) § 18 Rn 19.21) Diese Argumentation wirdbestätigt durch Parallelen im nationalenRecht. Nach österreichischemArbeits<strong>recht</strong> etwa istes dem Arbeitgeber im Rahmenvon Bewerbungsgesprächen nichtgestattet, nach Krankheiten zufragen, die keinen unmittelbaren Auf welche Krankheiten dies zutrifft,ist im Rahmen einer Abwägungzwischen den Persönlichkeits<strong>recht</strong>en(§§ 16 ff ABGB) desArbeitnehmenden und den Informationsinteressendes Arbeitgebendenzu beurteilen. So auchReissner, Arbeits<strong>recht</strong> (2003)127, der ein Frage<strong>recht</strong> nach demGesundheitszustand nur dannbejaht, wenn eine Gesundheitsgefährdungfür andere Personenim Arbeitsbereich des erkranktenArbeitnehmenden besteht.22) ZB Lungen-, Mundhöhlen-,Kehlkopf- oder Luftröhrenkrebs,Arteriosklerose oder erhöhteSchlag- oder Herzanfallneigung.23) Das Krankheitsbild einer fokalenHyperhidrose besteht in dererhöhten Schweißproduktion anbestimmten Körperregionen, zB(plantar) („Schweißfüße“) undAchseln (axillär), was zu einem bemerkbarenSchweißgeruch führenkann (vgl http://www.netdoktor.at/krankheiten/fakta/hyperhidrose.htm(15.1.2007)).24) Legal Island, Can Irish EmployersLawfully Advertise forNon-Smokers Only?, http://www.legal-island.com/employment/news_details.cfm?news_key=736&website_key=1 (11.8.2006).25) Irish Equality Tribunal, AComplainant v Café Kylemore,DEC-S2002/024.26) Irish Equality Tribunal, AHealth Service Employee v HSE,DEC-E2006/013.27) EuGH 11.7.2006, Rs C-13/05,Sonia Chacón Navas v Eurest ColectividadesSA.28) EuGH, Chacón Navas, Rn 39-40, 42.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 69


echt & <strong>gesellschaft</strong> Rauchen im Recht Tel.: 01- 610 77 - 315, Fax: - 589order@verlagoesterreich.atwww.verlagoesterreich.atHindernis für die Teilhabe des Betreffendenam Berufsleben bildet.“ 29als Behinderte iSd Gemeinschafts<strong>recht</strong>shätte zur Folge, dass diese in den Genusseiner besonderen gleichheits<strong>recht</strong>lichenGewährleistung kämen, die in derGrund<strong>recht</strong>echarta sogar den Charaktereines derivativen Teilhabe<strong>recht</strong>s 30 annimmt.Nach Art II-86 VVE über dieIntegration von Menschen mit Behinderunganerkennt und achtet die Unionden Anspruch dieser Personen aufMaßnahmen zur Gewährleistung ihrerEigenständigkeit, ihrer sozialen und be-nahmeam Leben der Gemeinschaft.Indes kann der Einschließung vonRauchenden in den Behindertenbegriffentgegen gehalten werden, dass nichtder Nikotingenuss selbst die Behinderteneigenschaftbewirken kann, sonderndie mit ihm zusammenhängenden Folgeerkrankungen,die bei einer gewissenSchwere durchaus Ursache von Behinderungensein können.4. ConclusioIn Artikel 8 der Rahmenkonventionüber Tabakkontrolle der Weltgesundheitsorganisation(WHO) 31 tensich die Vertragsstaaten to „adoptand implement […] effective legislative,executive, administrative and/orother measures, providing for protectionfrom exposure to tobacco smokein indoor workplaces, public transport,indoor public places and, as appropriate,other public places.” Die weltweit138 Vertragsstaaten, darunter auchÖsterreich, das die Konvention am 32 sind trotz des„Rahmen“-Charakters der Konventionangehalten, die Verwirklichung derfestgeschriebenen Ziele anzustreben. anderen Verträgen, namentlich jenen,die Antidiskriminierungsregeln festschreiben.Während daher der Schutz der Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer vorpassivem Rauchen im Lichte der WHO-Rahmenkonvention und der Gesundheitspolitikgeboten ist, sind die Rechtevon Rauchenden bei der Aufnahme vonBeschäftigungsverhältnissen ebenfalls inAnschlag zu bringen. Rauchende ex antevon Job-Bewerbungen auszuschließen,widerspricht dem Geist des europäischenAntidiskriminierungsregimes. Mit einigerBe<strong>recht</strong>igung kann auch argumentiertwerden, dass es den Lettern widerspricht:Einerseits ist die offene Konzeptionder Diskriminierungsgründe in ArtII-81 VVE zu relevieren, andererseitskann Nikotinsucht als Krankheit oder,in schwerwiegenden Fällen, als Behinderunggedeutet werden.Das politische Klima steht aktuelldem Konzept der Raucherdiskriminierungeher kritisch gegenüber. In-29) EuGH, Chacón Navas, Rn 43.30) Kingreen in Ehlers, EuGR(2005) § 18 Rn 55.31) WHO Framework Conventionon Tobacco Control idF WorldHealth Assembly Resolution 56.1v 21.5.2003, Datum des Inkrafttretens:27.5.2005, http://www.who.int/tobacco/framework/download/en/index.html(30.10.2006).32) WHO, Updated Status of theWHO Framework Convention onTobacco Control, http://www.who.int/tobacco/framework/countrylist/en/index.html(15.9.2006).Seite 70 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


echt & <strong>gesellschaft</strong>des darf auch ein legitimes Ziel vongrundlegender gesamt<strong>gesellschaft</strong>licherBedeutung (Gesundheitsschutz) nur inWahrung der Rechte der Betroffenen(Rauchenden wie Nichtrauchenden)verfolgt werden. Je wichtiger ein Zielerscheint, desto eher wird dessen Erreichungim Wertegefüge verabsolutiert,während den side constraints, wieinsbesondere Rechten, allzu geringeAufmerksamkeit geschenkt wird.Abschließend kann die <strong>gesellschaft</strong>licheRelevanz der Diskussion über die<strong>recht</strong>liche Reaktion auf Tabakkonsumam Schweizer Wort des Jahres 2006 illustriertwerden: die meisten Stimmen33) Internetplattform der Juryzur Wahl des Schweizer Wort desJahres, http://www.chwort.ch(1.2.2007).HeftrückschauDie <strong>juridikum</strong>-Themen seit 2001der Jury erhielt „Rauchverbot“. 33 Dagegenbergen das österreichische und dasdeutsche Wort des Jahres – „Penthousesozialismus“und „Fanmeile“ 34 – weitweniger <strong>recht</strong>sdogmatisches und -politischesDiskussionspotenzial.34) Vgl Kettemann, Endlich: Bawaggewürdigt, Die Presse, Spectrumv 27.1.2007, IV.Mag. Matthias C. Kettemannist Forschungsassistent amInstitut für Völker<strong>recht</strong> undInternationale Beziehungender Karl-Franzens-UniversitätGraz, Mitherausgeber des<strong>juridikum</strong> und Nichtraucher;matthias.kettemann@uni-graz.atAuf www.<strong>juridikum</strong>.at können Sie Einzelhefte bestellen;alle Ausgaben, die älter als zwei Jahre sind, können Sieim Volltext abrufen.Heft 1/2007: Urheber<strong>recht</strong>sdebattenHeft 4/2006: Recht und PsychoanalyseHeft 3/2006: Kinder und JustizHeft 2/2006: Lateinamerika und EuropaHeft 1/2006: Der gläserne MenschHeft 4/2005: RechtsanthropologieHeft 3/2005: Öffentliche DienstleistungenHeft 2/2005: Transitional JusticeHeft 1/2005: GesetzesfolgenabschätzungHeft 4/2004: Justiz und RandgruppenHeft 3/2004: Brechungen des LiberalismusHeft 2/2004: <strong>recht</strong> – macht – europaHeft 1/2004: Literatur und RechtHeft 4/2003: Der Konvent tanztHeft 1/2003: Historikerkommission und VermögensrestitutionHeft 4/2002: New JusticeHeft 3/2002: Triumph des Privat<strong>recht</strong>sHeft 2/2002: Implosion der Bürger<strong>recht</strong>eHeft 1/2002: im wilden netHeft 4/2001: Die Industrialisierung der KommunikationHeft 3/2001: Eingebildete Ausbildung – Ausgebildete EinbildungHeft 2/2001: Spuren im RechtHeft 1/2001: Strafende Ge<strong>recht</strong>igkeitImpressum<strong>juridikum</strong><strong>zeitschrift</strong> für <strong>kritik</strong> | <strong>recht</strong> | <strong>gesellschaft</strong>www.<strong>juridikum</strong>.atHerausgeberInnenUniv.-Ass in .Mag a .Dr in . Judith SchacherreiterRA in Dr in . Alexia StueferMag. Matthias C. KettemannAss. Mag. Lukas OberndorferMedieninhaber und Verleger:Verlag Österreich GmbH, Kandlgasse 21A-1070 Wien, Tel. 01/610 77Abonnements: Kl. 136, 315, Fax: 01/610 77/589E-Mail: order@verlagoesterreich.atwww.verlagoesterreich.atRedaktionsassistenz: Mag a . Ingrid FaberPreis: Jahresabonnement: Euro 45,– ,Studierendenabonnement: Euro 27,–,Förderabonnement Euro: 56,–,Einzelheft: Euro 14,–exkl. Euro 9,90 Porto- und Versandkosten (Inland)Erscheinungsweise: vierteljährlichRedaktion:Mag a . Pia Abel; Univ.-Prof. Dr. Nikolaus Benke,LL.M; Mag a . Nina Eckstein; RA in Mag a . DorisEinwallner; Univ.-Ass in .Dr in Iris Eisenberger,MSc.; Univ.-Ass. Dr. Daniel Ennöckl, LL.M; Dr.Ronald Faber, LL.M; ao. Univ.-Prof. Dr. ChristianHiebaum; Ass in .Mag a . Nicole Hofmann; Mag.Matthias C. Kettemann; Univ.-Ass. Dr. KonradLachmayer; Dr in . Nora Melzer-Azodanloo;Ass. Mag. Lukas Oberndorfer; Mag. MichaelReiter; Mag a . Ines Rössl; Mag a .Dr in . JudithSchacherreiter; Dr. Oliver Scheiber; Mag a .Marianne Schulze; LL.M: ao. Univ.-Prof. Dr.Alexander Somek; RA Univ.-Prof. Dr. RichardSoyer; Mag. Thomas Sperlich; Mag. JoachimStern; RA in Dr in . Alexia Stuefer; Ass. Mag. DominikThompson; Univ.-Prof. Dr. Ewald Wiederin; RA inDr in . Maria WindhagerAutorInnen dieser Ausgabe:Pia Abel, Margit Ammer, Nadia Baghdadi,Miriam Broucek, Nina Eckstein, Doris Einwallner,Ronald Frühwirt, Manfred Füllsack, CordulaHöbart, Matthias C. Kettemann, KonradLachmayer, Emilija Mitrovi, Marcel Pilshofer,Julia Planitzer, Marie Theres Prantner, Eva vanRahden, Yvonne Riaño, Alexia StueferOffenlegungDer Medieninhaber und Verleger ist zu 100 %Eigentümer des <strong>juridikum</strong>.Die grundlegende Richtung des <strong>juridikum</strong> ergibtsich aus den Context-Statuten und aus dem Inhaltder veröffentlichten Texte.Erscheinungsort: WienLayout und Satz:BuX. Verlagsservice, www.bux.ccContext ist Mitglied der VAZ (Vereinigungalternativer Zeitungen und Zeitschriften).Reaktionen, Zuschriften und Manuskriptebitte an die HerausgeberInnen:Univ.-Ass in .Mag a .Dr in . Judith SchacherreiterInstitut für Europa<strong>recht</strong>, Internationales Rechtund RechtsvergleichungJuridische Fakultät der Universität WienSchottenbastei 10-16, A-1010 WienTel: +43 1 42 77 35 130, Fax: +43 1 42 77 9351judith.schacherreiter@univie.ac.atRA in Dr in . Alexia Stuefer:stuefer@anwaltsbuero.atMag. Matthias C. Kettemann:matthias.kettemann@edu.uni-graz.atAss. Mag. Lukas Oberndorfer:lukas.oberndorfer@univie.ac.atDas <strong>juridikum</strong> ist ein „peer reviewed journal“.Beiträge werden anonym an externeGutachterInnen ausgesandt, bevor über eineVeröffentlichung entschieden wird.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 71


echt & <strong>gesellschaft</strong>Schubhaft und AsylMargit Ammer················································EinleitungIm Jahr 2006 waren von den 8.694 inSchubhaft angehaltenen Personen fastein Drittel AsylwerberInnen; 1 im Jahr2005 von 7.463 Fällen hingegen nur8,87%. 2 Zurückzuführen ist dieser Anstiegauf das Inkrafttreten des Fremden<strong>recht</strong>spakets(FRP) am 01.01.2006, 3das im Asylbereich (abgesehen von derUmsetzung der Aufnahme–RL 4 ) insbder Verfahrensbeschleunigung und -sicherungdienen soll, um eine „massiveEinsparung“ vorzunehmen und den „erheblichendurch Verfahrensentziehungentstehenden Problemen Österreichs“zu begegnen (ua im Bereich der Sicherheits-und Kriminalpolizei, Verfristungsregelnder Dublin II–VO). 5Parallel zur Einführung der neuenSchubhaftbestimmungen für AsylwerberInnen– nunmehr „aus systematischenGründen“ im FPG 6 – wurde imAsylG die Einleitung eines Ausweisungsverfahrens(vgl SchubhafttatbestandZ 2) geregelt, die bereits vor dererstinstanzlichen Entscheidung erfolgt.Generell war es „einer der zentralenEckpunkte des FRP, gegen AsylwerberInnenzu einem möglichst frühen Zeitpunktaufenthaltsbeendende Maßnahmeneinzuleiten” 7 : Demgemäß waren2006 die meisten AsylwerberInnen vonden Schubhafttatbeständen betroffen,die am frühesten Zeitpunkt im Asylverfahren– noch vor Einbringung desAsylantrags in der Erstaufnahmestelle(EASt) – ansetzen (in ca Hälfte derFälle wurde die Anhaltung wegen Annahmeder Unzuständigkeit Österreichsverfügt, ca 30% wegen Einleitung einesAusweisungsverfahrens). 8 Im Vergleichdazu konnte nach Rechtslage AsylG 97vor der Novelle 2003 grundsätzlich nurnach <strong>recht</strong>skräftig negativer Entscheidungder Asylbehörden 9 (damit verbundendie Durchsetzbarkeit der Ausweisung10 ) Schubhaft verhängt werden.Mit der AsylG-Novelle 2003 11 beganndie Vorverlagerung des Zeitpunkts deraufenthaltsbeendenden Maßnahmenhinsichtlich zurückweisender oder wegenoffensichtlicher Unbegründetheitabweisender Entscheidungen. 12UNHCR kritisierte die Einführungneuer Schubhaftbestimmungen fürAsylwerberInnen und das AsylG 2005dahingehend, dass es von einem „pauschalenMisstrauen gegenüber AsylwerberInnen“geprägt zu sein scheine undvornehmlich der Missbrauchsbekämpfungdiene. 13Auf Europa-Ebene dürfte die Inhaftierungvon AsylwerberInnen in „Dublin-Fällen“einem allgemeinen Trendentsprechen, 14 obwohl – abgesehenvon menschen<strong>recht</strong>lichen Bedenken– die Dublin II-VO selbst keine Bestimmungenzur Anhaltung enthält und insbdie Verfahrens-RL dagegen spricht. 15Die körperliche Bewegungsfreiheitist eine zwingende Voraussetzung fürdie volle Wahrnehmung der meisten übrigenMenschen<strong>recht</strong>e und ist insofernnur dem Recht auf Leben vergleichbar. 16Unter Punkt 1. wird Bezug auf individuelleRechtspositionen genommen, die imZustand des Freiheitsentzugs aufgrundfaktischer oder <strong>recht</strong>licher Einschränkungenrelevant werden.Angesichts der Tatsache, dass derZeitpunkt der möglichen Schubhaftverhängungmit Inkrafttreten des FRP deutlichnach vorne verlegt wurde, soll nachBeleuchtung der mit dem Verlust derpersönlichen Freiheit einhergehendenAuswirkungen untersucht werden, inwieferndie neuen Bestimmungen des§ 76 Abs 2 FPG verfassungskonformsind bzw inwiefern die vollziehendenBehörden dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatzge<strong>recht</strong> werden; letztererFrage ging auch der VfGH in seinerFrühjahr-Session nach.Der VwGH hat gem Art 140 Abs 1B-VG den Antrag an den VfGH gestellt,1) Bundesministerium für Inneres(BM.I), Fremdenstatistik, Jänner2007, www.bmi.gv.at/publikationen.2) BM.I, Asyl- und Fremdenstatistik,Jahresstatistik 2005, www.bmi.gv.at/publikationen.3) Der Anstieg wurde von derInnenministerin erwartet; siehe3456/AB XXII. GP, Dezember2005.4) RL 2003/9/EG vom 27.01.03,ABl L 31, 18 (25).5) Regierungsvorlage (RV) Erläuterungen,952 dB (XXII. GP), 4.6) RV Erläuterungen, 8: die Verhängungeiner Ausweisung ist idRAngelegenheit der Asylbehörden,die Durchsetzung dieser Ausweisungjedoch der Fremdenpolizeibehörden.7) Schumacher, Fremden<strong>recht</strong> 2(2006), 206.8) BM.I, Fremdenstatistik, Jänner2007, www.bmi.gv.at/publikationen;in den ersten zwei Monaten2007 gab es 286 „AsylwerberInnen-Schubhaftfälle“;davon123 Z4 betreffend (vgl StatistikFebruar 2007).9) Vgl § 19 Abs 4 AsylG 1997(BGBl I Nr 76/1997).10) Vgl § 20 Abs 2 AsylG 1997(sowohl BGBl I Nr 76/1997 alsauch idF Nr 82/2001).11) AsylG-Novelle 2003; BGBl I2003/101; vgl RV Erläuterungen120 dB (XXII. GP).12) § 34b Z2AsylG 97 idF Nov2003; dieser Schubhafttatbestandkam 2005 bei ca 60% der AsylwerberInnen-SchubhaftfällezurAnwendung; weitere Tatbestände:unge<strong>recht</strong>fertigtes Verlassender EASt (Zulassungsverfahren);Stellung eines „Folgeantrags“(vomVfGH wegen Widerspruchs zumRechtsstaatsprinzip aufgehoben;01.07.05, BGBl I 129/2004); kritAnmerkungen zur Verfassungsmäßigkeitder Schubhaftgründeder AsylG-Novelle 2003 sieheKhakzadeh, Verfassungs<strong>recht</strong>licheAnmerkungen zur AsylG-Nov2003, migralex 2004, 59ff; Thallinger,Das neue Asylgesetz – einverfassungs<strong>recht</strong>licher Grenzgänger,ZfV 2004/325, 161ff.13) UNHCR, Analyse der RV fürdas FRP 2005, 20.05.05; UNHCR,Stellungnahme zum Entwurf für dasAsylG 2005, 2; vgl auch UNHCR-Richtlinien über anwendbare Kriterienund Standards betreffenddie Haft von Asylsuchenden, März1999 mwN.14) ECRE/ELENA, Report on theApplication of the Dublin II Regulationin Europe, March 2006,AD3/3/2006/EXT/MH, 162.15) Vgl Art 17 der „Verfahrens-RL“2005/85/EG (ABl L 326), wonachniemand nur aus dem Grund, dasser/sie um Asyl angesucht hat, angehaltenwerden soll; vgl auch Art7 RL 2003/9/EG; vgl Council ofEurope, Committee of Ministers,Recommendation Rec(2003)5 onmeasures of detention of asylumseekers, 16.04.03, 837th meetingof the Ministers‘ Deputies.16) Kopetzki, Kommentierungzum PersFrG, in Korinek/Holoubek,Österreichisches Bundesverfassungs<strong>recht</strong>(ÖBVfR), Band III,2002, Vorbemerkungen, 14. Auchder EGMR sieht den Zweck nichtnur im Schutz vor willkürlicherFreiheitsberaubung, sondern auchin der Wahrung anderer Grund<strong>recht</strong>edes Häftlings; vgl Kopetzki,Vorbemerkungen, 14, verweist aufEGMR, Kurt, RJD 1998-III, 1185(Z 121ff); Aquilina, NJW 2001, 51(Z49); Aksoy, RJD 1996-VI, 2260(Z 76).Seite 72 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


echt & <strong>gesellschaft</strong> Fremden- und Asyl<strong>recht</strong> Dr. Gerhard Muzak Dr. Christoph Pinter Tel.: 01- 610 77 - 315, Fax: - 589order@verlagoesterreich.atwww.verlagoesterreich.at§ 76 Abs 2 Z 4 FPG als verfassungswidrigaufzuheben. 171. Auswirkungen derSchubhaft auf individuelleRechtspositionenZiel dieses Kapitels ist es lediglich, dieRelevanz des Rechts auf persönlicheFreiheit hervorzuheben, ohne die einzelnenAuswirkungen der Anhaltungin Schubhaft jeweils auf die Konformitätmit der Verfassung bzw Menschen<strong>recht</strong>enzu überprüfen; dies würdeden Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.Obwohl die „neue” Anhalteordnung(AnhO) 18 für den Schubhaftvollzug theoretischgewisse „Erleichterungen” 19 vorsieht,sieht die Realität anders aus:Privat-/FamilienlebenBesuche müssen von Schubhäftlingenim Polizeianhaltezentrum (PAZ) WienHernalser Gürtel hinter einer Glasabschirmungempfangen werden; 20 lautEuropäischem Komitee zur Verhütungvon Folter und unmenschlicher odererniedrigender Behandlung oder Strafe(CPT) ist dies nicht zu <strong>recht</strong>fertigenund hebt den grundsätzlichen Mangeldes Zugangs der österreichischen Behördenzu den Schubhäftlingen hervor:Die PAZ wurden als Einrichtungen fürwegen Straf- bzw Verwaltungsdelikteninhaftierte Personen ausgestattet undhaben weder die materiellen Rahmenbedingungennoch die menschlichenRessourcen, um für AsylwerberInnen ineiner Weise zu sorgen, die ihrem <strong>recht</strong>lichenStatus entspricht. 21 So ist im PAZLinz der Aufenthalt im Freien (vgl § 17AnhO mind eine Stunde pro Tag) praktischauf 30 Minuten beschränkt, undauch dies nicht an allen Tagen; im PAZHernalser Gürtel Wien wurden keinerleiAktivitäten außerhalb der Zelle, nichteinmal eine Stunde Bewegung im Freien,gestattet. 22 Generell wird die Realitätdem nunmehr in der AnhO geregeltenGrundsatz des „offenen Vollzugs“ oftnicht ge<strong>recht</strong>. 23Körperliche Unversehrtheit/Medizinische VersorgungEinige Einrichtungen (zB PAZ Linz,Wien Hernalser Gürtel) unterwerfenhungerstreikende Schubhäftlinge einemrestriktiveren Regime (zB Absonde-17) VwGH, Beschluss vom30.01.07, Zl A 2007/0010-1(2006/21/0090).18) Gem § 79 Abs 4FPG vom B.MIzu erlassen; BGBl II Nr. 128/1999zuletzt geändert durch BGBl II Nr439/2005.19) Frequenz und Dauer der Besuchsmöglichkeitensoll im Interesseder Auf<strong>recht</strong>erhaltung familiärer/persönlicherBindungenerhöht werden; dementsprechendsoll die Abwicklung der Besuchegestaltet werde. Auf eine Überwachungsolcher Besuche kanngrundsätzlich verzichtet werden.20) Vgl § 21 AnhO: Besuche dürfennur einmal wöchentlich währendder von der Behörde festgelegtenBesuchszeit eine halbeStunde und nur zwei erwachseneBesucher gleichzeitig empfangenwerden.21) CPT, Bericht des EuropäischenKomitees zur Verhütung von Folterund unmenschlicher oder erniedrigenderBehandlung oder Strafean die österreichische Regierungüber seinen Besuch in Österreichvom 14.-23.04.04 (deutschsprachigeFassung ist Arbeitsübersetzung),CPT/Inf (2005) 13, 21.07.05; Rz 59ff.22) CPT, Bericht über Besuch inÖsterreich 2004, Rz 8f.23) Zum Vollzug in „offenen Stationen“vgl Rz 46.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 73


echt & <strong>gesellschaft</strong>rungszelle), obwohl diese eher voneinem therapeutischen als von einemstrafenden Standpunkt betrachtet werdensollten. 24 In diesem Zusammenhangist auf die nunmehr mögliche Zwangsernährunghinzuweisen, 25 um die Vollziehungder Schubhaft bei schlechtemGesundheitszustand eines Fremden,dessen Abschiebung möglich ist, zu gewährleisten.26 Angesichts des Zwecksder Anhaltung (Sicherung einer Ausweisung/Abschiebung)und dem Statusvon AsylwerberInnen sollten gelindereMittel wie Verbesserung der Schubhaftbedingungen(offener Vollzug, ArbeitsundBeschäftigungsmöglichkeiten, besserepsychologische und medizinischeBetreuung durch Personen, die derenSprache sprechen) zur Anwendungkommen. 27Ein großes Problem stellt die nichtausreichende Schulung des Personalsdar, die zur Anwendung gefährlicherMittel führt, um Häftlinge, die sich selbstoder andere gefährden, unter Kontrollezu halten. 28Besonders schutzwürdige GruppenEin großes Problem ist der gänzlicheMangel an psychologischer und psychiatrischerUnterstützung. Eine Verlegungin ein psychiatrisches Krankenhauswürde bedeuten, dass diebetroffene Person als haftuntauglicherklärt und entlassen werden müsste.CPT betont, dass gerade der geistigenGesundheit und dem psychischen Zustandvon AusländerInnen in Gewahrsambesondere Aufmerksamkeit gezollt 2. Verfassungsmäßigkeit § 76werden müssen, da sich darunter Asyl- Abs 2 FPG im Lichte des Rechtsauf persönliche Freiheit 35Situationen – Folter und andere Arten Dass die Inschubhaftnahme, der Schubhaftbescheidund die weitere Anhaltungvon Misshandlungen – in ihren Heimatländernerfahren haben. 29einen Entzug der persönlichen Freiheit(sowohl nach Art 5 EMRK als auch nachAuswirkung auf ein fairesPersFrG) darstellen, bedarf keiner weiterenErörterung. 36 Zu prüfen sein wirdAsylverfahren/Rechtsschutz generellDie Anhaltung in Schubhaft erschwert aber die Zulässigkeit dieses Eingriffs.– abgesehen von der Wahrnehmung Aufgrund der Bedeutung dieses Grund<strong>recht</strong>ssteht es unter einem inhaltlichvon Rechtsmitteln gegen den Schubhaftbescheid– die Durchführung fairer sehr engen Gesetzesvorbehalt, der denund <strong>recht</strong>sstaatlicher Asylverfahren, Gestaltungsspielraum stärker als beida der effektive Zugang zu Rechtsberatungund -vertretung gefährdet ist. 30 ten anderer Grund<strong>recht</strong>e einschränkt. 37zweck- und wertorientierten Vorbehal-Aufgabe der Schubhaftbetreuung 31 istnämlich ausschließlich die Verbesserungder humanitären und sozialen2.1. Gesetzliche Deckung des Eingriffs(Art 1 Abs 2 PersFrG)Standards, nicht hingegen die <strong>recht</strong>licheBeratung und Unterstützung. tigung durch ein Gesetz im formellenDurch § 76 Abs 2 FPG ist eine Ermäch-Durch die Beistellung von RechtsberaterInnenim Zulassungsverfahren damit der über den Maßstab des ArtSinn gegeben, doch ist fraglich, obwird der Zugang zu einem effektiven 18 B-VG hinausgehenden Determinie-Rechtsmittel nicht gewährleistet. 32 Das 38 UmErfordernis der Gewährung von <strong>recht</strong>licherBeratung und Vertretung ergibt keit des Eingriffs garantieren zu können,die Vorhersehbarkeit und Berechenbar-sich jedoch auch aus Art 15 EU-Asylverfahrens-RL.33Abs 1 Z 7 PersFrG zulässigen Sicherungmüssen die Tatbestände einer iSd Art 2Anlässlich des Österreich-Besuchs der Ausweisung inkl Grundsätze fürhat CPT festgestellt, dass die meisten eine allfällige Ermessensausübung undKlagen von Schubhäftlingen wegen Interessenabwägung 39 präzise ausformuliertsein. Problematisch ist die Er-des Mangels an Kenntnis über ihrenVerfahrensstand und die in der Schubhafttätigen „nicht hilfreichen“ NGOs insb im Schubhafttatbestand Z 4, damessenseinräumung in § 76 Abs 2 FPGkamen; die Ungewissheit verschärfe hier auf eine „Annahme der zukünftigenjedoch die Situation des Eingeschlossenseinssehr. 34 dass hinreichend Anhaltspunkte fürUnzuständigkeit“ abgestellt wird, ohnedie24) CPT, Bericht über Besuch inÖsterreich 2004, Rz 51.25) § 79 Abs 1 FPG verweist auf§ 53d VStG, dieser auf § 69 StVG,der in Abs 2 – wenn alle anderenMaßnahmen nichts nützen, diePerson nicht freigelassen werdenkann und in der Haft sterben würde– die Möglichkeit der Zwangsernährungfür Strafhäftlinge zulässt.26) RV Erläuterungen zu § 78,104f.27) Siehe ausführlich zur Unverhältnismäßigkeitdes Eingriffs inArt 8 EMRK: Nowak, BoltzmannInstitut für Menschen<strong>recht</strong>e,Rechtsgutachten zur Frage derZwangsernährung von Schubhäftlingenin Österreich, 03.02.06; sieheauch Menschen<strong>recht</strong>sbeirat,Gesundheitsversorgung in Schubhaft,Bericht und Empfehlungenanlässlich des Todes von YankubaCeesay im PAZ Linz, 2007; vglauch Menschen<strong>recht</strong>sbeirat, EmpfehlungenNr 86-92 und 194-204zum Thema „Hungerstreik“.28) Vgl CPT, Bericht über Besuchin Österreich 2004, Rz 16; Menschen<strong>recht</strong>sbeirat,Gesundheitsversorgungin Schubhaft, Berichtund Empfehlungen anlässlich desTodes von Yankuba Ceesay im PAZLinz, 2007; vgl Die Zeit, Verdreckt,verprügelt, verdurstet, vergessen,29.03.2007, Nr 14, (abrufbarunter www.zeit.de/2007/14/Oe-Polizei?page=all).29) CPT, Bericht über Besuch inÖsterreich 2004, Rz 48 (52).30) UNHCR, Stellungnahme FPG2005, 1.31) Gem § 1a Z8 AnhO die vertraglichdem B.MI zur Betreuungvon Fremden in Schubhaft ver-32) UNHCR, Position zum Entwurffür Änderungen der Anhalteordnung,12.12.2005, 2.33) RL 2005/85/EG vom 01.12.05,ABl L 326, 13: im Falle einer ablehnendenEntscheidung einerAsylbehörde müssen die Mitgliedstaatensicherstellen, dass auf Antragkostenlose Rechtsberatungund/oder -vertretung gewährtwird (Abs 2) bzw diese nicht willkürlicheingeschränkt wird (Abs3). Vgl auch ECRE, Key Recommendationson the detention ofasylum seekers, 1996, no 9.34) CPT, Bericht über Besuch inÖsterreich 2004, Rz 57f; vgl auchForum Asyl, Wahrnehmungsbericht2006 (Auswirkungen des FRPauf den Asylbereich), Dezember2006, 21; Erwägungen zur Informationvon Schubhäftlingen über<strong>recht</strong>liche Umstände, Rechtsberatungdurch Förderungsnehmerdes Projektes Schubhaftbetreuungund ihre Dienstnehmer sieheauch Menschen<strong>recht</strong>sbeirat, Gesundheitsversorgungin Schubhaft,Bericht und Empfehlungenanlässlich des Todes von YankubaCeesay im PAZ Linz, 2007, 19.35) Auch im Lichte des Rechtsstaatsprinzipsergeben sich Bedenkenhinsichtlich der Verfassungsmäßigkeitdes TatbestandsZ4, da dieser von einem Generalmissbrauchsverdachtausgeht(vgl Rsp zu § 34b Abs 1 Z3 ASylG97).36) Vgl VfSlg 15.465/1989(Schutz richtet sich gegen <strong>recht</strong>swidrigeVerhaftung, Inverwahrungsnahme,Internierung und reicht); auch VfGH 11.3.99, B1159/98 zur „Allseitigkeit der Beschränkung“und Intentionalität.37) Kopetzki in Korinek/Holoubek,ÖBVfR, Art 1, 37.38) Öhlinger, Verfassungs<strong>recht</strong> 4 ,351f.39) Vgl VfSlg 10737/1985,11455/1987.Seite 74 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


echt & <strong>gesellschaft</strong>Handhabung durch die vollziehendenBehörden gegeben werden.Weiters hat der Gesetzgeber detaillierteVerfahrensregeln vorzusehen, 40 dieauch eine bestimmte Qualität aufweisenmüssen. 41 Da Schubhaft aber idR eineSicherungsfunktion erfüllt 42 und mittels kein Ermittlungsverfahren statt. 43 Es istfraglich, ob angesichts der mehrmonatigenDauer 44 ohne jegliche Befragung zuden Haftgründen diese „verfahrens<strong>recht</strong>lichkaum ausgeformten freiheitsentziehendenMaßnahmen“ den verfahrens<strong>recht</strong>lichenAnforderungen des Rechtsauf persönliche Freiheit genügen. 45 Erstnach einer durchgehenden sechsmonatigenHaftdauer wird die Verhältnismäßigkeit(insb Haftdauer zu Haftgrund)amtswegig geprüft. Es kann zwar schonvorher Beschwerde mit der Behauptungder Rechtswidrigkeit des Bescheids, derFestnahme oder der weiteren Anhaltungan den Unabhängigen Verwaltungssenaterhoben werden, 46 doch ist hier wiederauf die Schwierigkeit des Zugangs zurRechtsberatung/-unterstützung währendder Anhaltung zu verweisen. 472.2. Tatbestand iS Art 2 PersFrGDie Verhängung der Schubhaft ist derwichtigste Anwendungsfall des Art 2Abs 1 Z 7 PersFrG; 48 Voraussetzung füreinen <strong>recht</strong>mäßigen Freiheitsentzug istdemnach die Notwendigkeit zur Sicherungeiner beabsichtigten Ausweisung. 49Es muss daher zumindest ein Verfahrendurch die dafür zuständige Behörde (alsodie Asylbehörde) „durch irgendeinen positivenAkt” eingeleitet worden sein, andessen Ende die Außerlandesschaffungsteht. Eine „Inhaftierung auf Verdacht“bzw „auf Vorrat“ ist nicht gedeckt. 50 Bereitsan diesem Punkt ist äußerst fraglich,ob die bloße Annahme einer Unzuständigkeit51 bzw die Vorverlegung der AusweisungsverfahrenseinleitungdiesemTatbestand ge<strong>recht</strong> wird; insb angesichtsder Rsp von VfGH und EGMR, wonachdie Bestimmungen im Hinblick auf dieWertigkeit des zu schützenden Rechtsgutes„streng auszulegen“ sind; 52 vgl dazudie Bedenken des VwGH (siehe ausführlichunten 2.4.). 532.3. Verhältnismäßigkeit(Art 1 Abs 3 PersFrG) 54Dieser Grundsatz, der sich auch an dieVollziehung richtet, fordert die Geeignetheit,Erforderlichkeit und Angemessenheitdes Freiheitsentzugs. Geht man – trotzoben angemerkter Bedenken hinsichtlichZ 2 und Z 4 – von der Tatbestandsmäßigkeitaus, so werden die in § 76 Abs 2 FPGvorgesehenen Tatbestände wohl geeignetsein, den Zweck der Sicherung des Ausweisungsverfahrens(§ 10 AsylG) bzwnach durchsetzbarer Ausweisung denZweck der Abschiebung zu erreichen.Obwohl gemäß dem Erforderlichkeitsgrundsatzdie Verhängung der Schubhaftnur als ultima ratio vorgesehen werdendarf, sieht § 77 Abs 1 FPG vor, dass dieFremdenpolizeibehörde von der Anordnungder Schubhaft gegen FremdeAbstand nehmen kann, wenn sie Grundzur Annahme hat, dass der ursprünglicheZweck der Anhaltung in Schubhaft auchauf andere Weise (durch Anwendung„gelinderer Mittel“) 55 erreicht werdenkann. Dieser Gesetzeswortlaut räumtder Behörde zweifaches Ermessen ein:zunächst obliegt es ihr zu beurteilen, obsich der Fremde, gegen den die Schubhaftverhängt wird, auf andere Weise dazuverhalten werden kann sich dem Verfahrenzu stellen; selbst bei Bejahung dieserFrage darf die Behörde – zumindest demGesetzeswortlaut nach – trotzdem Schubhaftverhängen. Nur gegen Minderjährigehat die Behörde grundsätzlich gelindereMittel anzuwenden.Der VfGH „liest“ – wie auch in einemerst unlängst ergangenen Erkenntnis– den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz indiese Bestimmung „hinein“, 56 sodass sichdie Behörde in der Bescheidbegründunginsb mit der Frage, ob gelindere Mittelzur Anwendung gelangen hätten können,nachvollziehbar auseinander setzen muss.Angesichts der besonderen Determinie-der Gesetzgeber nicht für alle Fälle diegleiche Regelung wie für Minderjährigevorsieht (insb angesichts der Bedeutungdes Rechts der persönlichen Freiheit) undder VfGH diesbezüglich die Verfassungsmäßigkeitnicht in Frage stellt.Dies ist bei Durchsicht der Materialienzum FPG umso weniger verständlich:die Ergänzung der Schubhaft durch das40) „(...) nur auf die gesetzlichvorgeschriebene Weise“ in Art 1Abs 2, Art 2 Abs 1 PersFrG; Art 4und 5 PersFrG; Winterwerp: Art 5Abs 1 EMRK enthält „Idee einesfairen und ordentlichen Verfahrens“.41) Mindestmaß an strukturellerMissbrauchsverhinderung, EGMR24.10.1979 Winterwerp A/33, §45 = EuGRZ 1979, 650.42) RV Erläuterungen, 103f; sieheauch Khakzadeh, Die Schubhaft– Rechtsfragen des Vollzugsund des Rechtsschutzes, migralex2003, 43ff.43) Die Materialen stellen einenVergleich mit der Erlassung einesrichterlichen Haftbefehls her (auchhinsichtlich Zustell<strong>recht</strong>), vgl RVErläuterungen, 103.44) Die Asylantragstellung führtnunmehr automatisch zu einerzulässigen Höchstdauer von – anstattzwei Monaten – sechs Monatenund vier Wochen (vgl § 22AsylG iVm § 80 Abs 4 FPG) bzwin gewissen Fällen sogar zehn Monaten;Schubhäftlinge, die nichtAsylwerberInnen sind, dürfenlänger als sechs Monate nur beiVerschulden an der Verfahrensverzögerungangehalten werden(vgl § 80 Abs 2 und 4 FPG).45) Kopetzki in Korinek/Holoubek,ÖBVfR, Art 1, 46; verweistauf Wiederin, der kritisch zumEntfall von Partei<strong>recht</strong>en beimehrmonatigem FreiheitsentzugStellung nimmt.46) Siehe auch Khakzadeh,Schubhaft, 48; bei auf<strong>recht</strong>er Anhaltungbeträgt die Erledigungsfristeine Woche; Säumnis stelltVerletzung des Recht auf persönlicheFreiheit dar (VfGH B 1091/06vom 05.03.07).47) Vgl Forum Asyl, Wahrnehmungsbericht2006, 19: zitiertEntscheidung VwSen-400753/4/WIE/An Linz, 02.01.06, wonacheinem inhaftierten Schubhäftling,der selbst in Englisch eine Schubhaftbeschwerdeabfasste, ein Verbesserungsauftragerteilt wurdeund nach Verlauf der einwöchigenFrist die Beschwerde als unzulässigzurückgewiesen wurde.48) Berka, Lehrbuch Grund<strong>recht</strong>e,2000, 90.49) Art 5 Abs 1 lit f EMRK fordertein „schwebendes AusweisungsoderAuslieferungsverfahren“ bzwdie „Verhinderung einer <strong>recht</strong>swidrigenEinreise“; aufgrund Günstigkeitsprinzip(Art 53 EMRK) fürÖsterreich jedoch nicht relevant.50) Wiederin, Voraussetzungender Schubhaft, ZUV 1/96, 13f.51) Bedenklich, dass die Befragungzu Reiseroute durch Organedes öffentlichen Sicherheitsdienstesvorgenommen wird; die„Ausweisung“ bzw deren Einleitungsollte aber von den Asylbehördenausgesprochen werden.52) Kopetzki in Korinek/Holoubek,ÖBVfR, Vorbemerkungen,12, verweist in FN 68 auf VfSlg3214/1957; EGMR, Ciulla, Serie ANr 148 (Z41); etc.53) VwGH Beschluss vom30.01.07, Zl A 2007/0010-1(2006/21/0090).54) Das Verhältnismäßigkeitsgebotdes Art 5 EMRK ergibt sichmittelbar aus den Haftgründenund dem Willkürverbot. sich in einer von der Behördebezeichneten Unterkunft aufzuhaltenund sich in periodischenAbständen bei der Polizeikommandostellezu melden.56) VfGH, 27.02.07, B 223/06 und291/06 sowie VfGH, 24.06.06, B362/06: § 76 Abs 2 erster SatzFPG ist verfassungskonform zuinterpretieren, sodass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatzver- Behörden zu berücksichtigen ist.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 75


echt & <strong>gesellschaft</strong>Rechtsinstitut des gelinderen Mittels seiaus Aspekten der Menschen<strong>recht</strong>e einpositives Signal („weil hiermit die FreiheitsbeschränkungenFremder auf einMindestmaß reduziert werden könnten“),andererseits seien ökonomische Erwägungennicht zu vernachlässigen (Kostengünstigkeitder Unterbringung Fremderin einer „zugewiesenen Unterkunft”im Vergleich zum Vollzug von Schubhaft).57 Trotz dieser Vorteile gibt es nachwie vor nur eine sehr geringe Anzahl vonPlätzen 58 und eine geringe Anzahl vonFällen, in denen statt Schubhaft gelindereMittel angewandt werden (2005: 285 Fällenbetr alle Sicherungsfälle; 2006: 927Fälle); insb bei dem unten noch näher zubehandelnden Schubhafttatbestand Z4wäre angesichts der mE präventiven Verfahrenssicherung– sofern man überhauptdie Rechtsmäßigkeit dieses Tatbestandsannehmen möchte – eine generelle Anwendunggelinderer Mittel geboten undeine dahingehende explizite Regelung.Das gleiche gilt für besonders schutzwürdigeGruppen wie Traumatisierte oder älterePersonen.2.3.1. AngemessenheitIst die Inschubhaftnahme im Hinblick aufErreichung des Sicherungszwecks geeignetund stellt sie auch die ultima ratio dar,so sind als letzter Schritt die Interessender individuellen Freiheitsausübung gegendas öffentliche Interesse der Minimierungdes Vereitlungsrisikos abzuwägen;dabei ist die Dauer der Anhaltung einwesentlicher Aspekt. 592.4. Nähere Prüfung der einzelnenTatbestände des § 76 Abs 2 FPG(insb Angemessenheit)Im Folgenden wird die Verfassungsmä-der Anwendung im Jahr 2006 beurteilt.Anzunehmende Unzuständigkeit(„Dublin-Fälle“)Schubhaft kann bereits verhängt werden,wenn auf Grund des Ergebnissesder Befragung, 60 der Durchsuchung undder erkennungsdienstlichen Behandlunganzunehmen ist, dass der Antragdes Fremden auf internationalen Schutzmangels Zuständigkeit Österreichs zurPrüfung zurückgewiesen werden wird.Der Gesetzgeber ermöglicht dadurchden Fremdenpolizeibehörden, auf Basiseiner ersten Einschätzung (Prognose) dieKonsequenz eines späteren Asylverfahrensergebnisses(Zurückweisung wegenUnzuständigkeit Österreichs) durch dieAnordnung der Schubhaft zu sichern,wobei zu diesem Zeitpunkt noch nichteinmal ein Ausweisungsverfahren durchdie zuständige Asylbehörde eingeleitet ist(es liegt gerade kein „positiver Akt” derzuständigen Behörde vor). 61 Dieser Auffassungwar auch der Verfassungsdienstdes BKA in seiner Stellungnahme zumEntwurf des FRP. 62Weiters widerspricht diese Bestimmungdem der Angemessenheit immanentenGrundsatz, dass der Verdacht umsodringender sein muss, je weniger weitdas Prozedere der Außerlandesschaffungfortgeschritten ist. Solange noch nichtfeststeht, ob das Verfahren überhaupt einennegativen Verlauf nimmt, bedarf dieAnnahme des Verfahrensentzugs durch„Untertauchen“, massiverer Anhaltspunkte.63Abgesehen davon, dass die Dublin II-Verordnung einer massiven Kritik vonUNHCR und NGOs ausgesetzt ist 64 , istzu beachten, dass ein beträchtlicher Teilder von Österreich gestellten Ersuchenabgelehnt wurde. 65 Hinzu kommt, dasses keine seriösen Angaben zu der tatsächlichendurchschnittlichen Dauer von demErsuchen bis zu einer Antwort bzw vonZustimmung bis tatsächlicher Überstellunggibt. 6657) RV Erläuterungen, 104.58) Bgld: bis zu 20 Plätze; NÖ:14-19 konkrete und ständigePlätze; OÖ: 16, darüber hinausEinzellösungen; Stmk: bis zu 10;Vlbg: 10-30 Plätze; Wien: 40; 4unbegleitete Minderjährige für biszu zwei Wochen; Anmerkung: invielen der Fällen sind Einzelbedarfslösungenmöglich; es wurdenaber keine konkreten Zahlengenannt; siehe 4012/AB XXII. GP– Anfragebeantwortung, Antwortzu Frage 55.59) Vgl Kritik des Menschen<strong>recht</strong>sbeirats,der die Aufnahmevon Kriterien für die Prüfung derVerhältnismäßigkeit der Dauer indas Gesetz fordert; Stellungnahmedes Menschen<strong>recht</strong>sbeiratszum Begutachtungsentwurf desB.MI zum Asyl- und Fremdenpolizeigesetz2005, 45/SN-259/MEXXII. GP.60) Diese Befragung zur Ermittlungder Identität und Reiseroutewird gem § 19 Abs 1 AsylG durchOrgane des öffentlichen Sicherheitsdienstes– teilweise unmittelbarnach Grenzübertritt – durchgeführt.61) VwGH Beschluss vom30.01.07, Zl A 2007/0010-1(2006/21/0090): der Fall, dassdie zuständige Asylbehörde ihreAbsicht kundgetan hat, den Asylantragzurückzuweisen und miteiner Ausweisung vorzugehen, seibereits von § 76 Abs 2 Z 2 FPGerfasst.62) Zl BKA-600.938/0006-V/A/5/2005, 07.03.05, 62 f.63) Wiederin, 15, verweist aufUVS Stmk 16.03.93, 25-3-10/93;vgl auch UVS OÖ 14.12.93,VwSen-400235/2/Wie/Shn: unzulässig,Fremde nur aus präventivemBestreben heraus zu inhaftieren,allfällige Schwierigkeitenim Zusammenhang mit fremdenpolizeilichenMaßnahmen vonvornherein gar nicht entstehen zulassen.64) UNHCR, The Dublin II Regulation– A UNHCR Discussion Paper,April 2006; insb wird kritisiert:keine vollständige und faire Prüfungder Asylanträge von rücküberstelltenPersonen durch einigeMitgliedstaaten; kein effektiverRechtsschutz mit aufschiebenderWirkung gegen Überstellungsentscheidungen(dies kann aufgrundder Unterschiede in der Auslegung Anwendung der Drittstaaten-Regelunggravierende Auswirkungenhaben); zu restriktive Interpretationdes Familienbegriffs.65) Erstes Halbjahr 2005: von2.555 von Österreich gestellteErsuchen wurden 583 abgelehnt(ca. 23 %), siehe UNHCR, DiscussionPaper.66) 4012/AB (XXII. GP) zu Fragen33, 34.Seite 76 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


echt & <strong>gesellschaft</strong>Fraglich ist daher, ob das öffentlicheInteresse an der Umsetzung der DublinII-Verordnung vor Abschluss des Konsultationsverfahrens(zu diesem Zeitpunktliegen lediglich Indizien für die Einleitungvor) wirklich schwerer wiegt als dieInteressen des/r AsylwerberIn (insb angesichtsder Folgen für sein/ihr Asylverfahrenund die Konsequenzen für besondersschutzwürdige Gruppen).Während des Konsultationsverfahrenssollte daher die Inhaftierung aufunbedingt erforderliche und im Gesetz beschränktwerden. Weiters sollte angesichts deroben (Punkt 1.) beschriebenen Situationin den PAZ ein explizites Gebot der Anwendunggelinderer Mittel für besondersschutzwürdige Gruppen (Traumatisierte,Opfer von Gewalt, Schwangere, älterePersonen) vorgesehen werden.Nach Ansicht des VwGH ist dieserTatbestand verfassungswidrig (sieheoben); der VfGH hat die Verfassungsmäßigkeitdes § 76 Abs 2 Z 4 FPG bislangnur dahingehend bejaht als der Gesetzgeber„sichtlich davon ausgegangen“ sei,dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatzunmittelbar und im Einzelfall von denzuständigen Behörden zu Freiheitsentziehungenzu beachten ist. 67 In einem anderenVerfahren hat er anklingen lassen,dass die Verfassungswidrigkeit des § 76Abs 2 Z 4 FPG unwahrscheinlich ist. 68Einleitung einesAusweisungsverfahrens (Z2)2006 wurde in 799 Fällen Schubhaft verhängt,da ein Ausweisungsverfahren gem§ 27 AsylG 2005 – teilweise bereits vorerstinstanzlicher Entscheidung – eingeleitetwurde. Dazu reicht die Mitteilung imZulassungsverfahren, dass der Asylantragvoraussichtlich ab/zurückzuweisen seinwird. 69 Zu der in den Gesetzesmaterialienenthaltenen Begründung, dass nach demErmittlungsstand die Ausweisung desAsylwerbers wahrscheinlich sei, 70 ist anzumerken,dass die Prognose angesichtsder Kürze und Schnelligkeit des Zulassungsverfahrensin vielen Fällen fehlerhaftsein kann. Weiters beruht die „Erfahrung,dass sich der/die Asylwerber zwischender Mitteilung, dass ein Dublin-Verfahreneingeleitet wird und der Einvernahme zurWahrung des Parteiengehörs dem Verfahrenentzieht“ auf Erfahrungswerten, dienicht mit Datenmaterial belegt wurden. 71Die vollziehenden Behörden müssendie Notwendigkeit jedenfalls durch bestimmteTatsachen begründen. 72Der zweite Fall der „ex lege“-Einleitung– das Verfahren vor dem UBASwurde eingestellt und es liegt bereits eineerstinstanzliche Ausweisung vor – wirdmit der „zu erwartenden“ Ausweisungbegründet. 73 Der UBAS-Tätigkeitsbericht2006 74 zeigt jedoch, dass ein beträchtlicherTeil der UBAS-Entscheidungenim Berichtszeitraum 2004/05 den Berufungsanträgenstattgeben. 75Abgesehen von diesen „ex lege“-Einleitungenhat die Behörde das Ausweisungsverfahren– dokumentiert lediglichmit Aktenvermerk – einzuleiten, wenndie bisherigen Ermittlungen die Annahme<strong>recht</strong>fertigen, dass der Antrag auf internationalenSchutz ab- oder zurückzuweisensein wird und ein besonderes öffentlichesInteresse an der beschleunigten Durchführungeines Verfahrens besteht. Jeschwerer die Tat wiegt, desto früher solldie Einleitung des Ausweisungsverfahrensaus öffentlichem Interesse möglichsein. 76 Grundsätzlich darf die Schubhaftverhängungnie allein auf sicherheitspolitischeZwecke gestützt werden. 77 Weitersverfügt der/die AsylwerberIn über keineeffektive Beschwerdemöglichkeit gegendie Schubhaftverhängung, da gegenden Aktenvermerk kein abgesondertesRechtsmittel zulässig ist. 78Der Gesetzgeber versucht aber zumindestdahingehend dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatzge<strong>recht</strong> zu werden, als ernach Einleitung des Ausweisungsverfahrensdie prioritäre Behandlung des Asylverfahrensanordnet (Entscheidungsfristmax drei Monate pro Instanz).Durchsetzbare Ausweisung (Z1)Laut BMI-Statistik betraf dies nur 312von den 2.700 Fällen (11,56 %). Jedenegative asyl<strong>recht</strong>liche erstinstanzlicheEntscheidung wird mit einer Ausweisungverbunden; „durchsetzbar“ kann dieseaber bereits vor Rechtskraft der asyl<strong>recht</strong>lichenEntscheidung sein: Berufungen gegenzurückweisende Entscheidungen undden damit verbundenen Ausweisungenkommt grundsätzlich keine aufschiebendeWirkung zu (vgl § 36 Abs 1 AsylG). Berufungengegen abweisende Entscheidungenkommt zwar in der Regel aufschiebendeWirkung zu, diese kann jedoch aberkanntwerden. In all diesen Fällen der nicht aufschiebendenWirkung ist die Ausweisungauch durchsetzbar (§ 36 Abs 4 AsylG). 79Die Erläuterungen zur RV begründen denAusschluss der aufschiebenden Wirkunghinsichtlich „Dublin-Fällen” mit der „europa<strong>recht</strong>lichenGebotenheit” im Hinblickauf Art 19 Abs 2 Dublin-Verordnung. 80Wie schon oben angeführt, gibt der UBASeiner großen Anzahl von Fällen den Berufungsanträgen– auch in den „Dublin-Fällen” – statt.Obwohl der VfGH in einer Entscheidungzur „Vorgängerbestimmung“ in§ 34b Abs 1 Z 2 AsylG 1997 (idF Nov2003) ausgeführt hat, dass die Behördenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz imEinzelfall anzuwenden haben und das Vorliegeneiner Ausweisung für sich alleinenoch nicht die Verhängung bzw Auf<strong>recht</strong>-67) VfGH B 223/06 und 291/06vom 27.02.07; nehmen Bezug aufB 362/06 vom 24.06.06 (dieserFall betraf jedoch einen Asylwerber,über den erst nach Abschlussdes Asylverfahrens und nach Vorliegeneiner <strong>recht</strong>skräftigen AusweisungsentscheidungSchubhaftverhängt worden war).68) VfGH 05.03.07, B 1724, 1725/06; vgl unter www.deranwalt.at(Zerronnenes 2007 KW 14).69) Vollstreckt werden kann Ausweisungerst, wenn über Asylantragdurchsetzbare Entscheidunggetroffen wurde.70) RV Erläuterungen, 49.71) RV Erläuterungen, 5.72) Umstand, dass ein russischerStA bereits in Polen um Asyl angesuchthat, <strong>recht</strong>fertigt für sichnicht den Schluss, dass er „un<strong>recht</strong>mäßigin einen anderenSchengenstaat weiterziehen“ undsich so dem Verfahren entziehenwerde, vgl VfGH 28.09.04, B292/04 (Slg 17288); vgl weitersKhakzadeh, 44 mwN.73) RV Erläuterungen, 5.74) UBAS-Tätigkeitsbericht für dieJahre 2004 und 2005, 11. 08.06,Zl. 100.001/0-UBAS/2006.75) Inhaltliche Verfahren: von6.417 Berufungsanträgen wurdenin 3.841 Fällen der Berufung stattgegeben(S 12); Verfahren betreffendunzulässige Asylanträgewegen vertraglicher Unzuständigkeit:von 1.402 Entscheidungenhaben 709 zu einer Aufhebungdes erstinstanzlichen Bescheidesgeführt (S 18).76) RV Erläuterungen, 49f.77) Wiederin, 15.78) Der UVS prüft bei Beurteilungder Rechtmäßigkeit der Haft nurformelle Voraussetzungen undnicht asyl<strong>recht</strong>liche Einschätzungder Asylbehörde.79) Mit der Durchführung der Abschiebungist bis zum Ende derRechtsmittelfrist bzw bis zum Ablaufdes siebenten Tages ab Berufungsvorlagezuzuwarten (§ 36Abs 4 AsylG).80) Weiters wird argumentiert,der Ausschluss der aW bei Zuständigkeitsentscheidungenändere diePosition des Berufungswerbers imRechtsmittelverfahren nicht; vglVfGH 15.10.04, G 237, 238/03.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 77


echt & <strong>gesellschaft</strong>UNHCR (Hg.)Europäische AsylpolitikGrundwerk mit 5. Lieferung, ca. 1.800 Seiten, Loseblattsammlung, 978-3-7046-3962-1, Grundlagen, Asyl, Migration und Innere SicherheitSystematisierung der für den Flüchtlingsschutz und fürMigration einschlägigen EU-Dokumente,(Verordnungen, Richtlinien, Kommissionsvorschläge fürneue Rechtsakte, politische Diskussionspapiere) UNHCR-Stellungnahmen Handliches Werk für den PraktikerAnja Klug und Dr. Christoph Pinter sind Mitarbeitervon UNHCR in Genf und Wien. erhaltung der Schubhaft <strong>recht</strong>fertigt, 81 sowäre es angesichts der Bedeutung desRechts auf persönliche Freiheit verfassungs<strong>recht</strong>lichgeboten, Ausnahmen fürAsylwerberInnen, deren Berufung keineaufschiebende Wirkung hat, zu schaffen.Eine erstinstanzliche Entscheidung, dienach dem Ergreifen eines Rechtsmittelsnicht in Rechtskraft erwächst, aufgrundinnerstaatlicher Regelungen jedoch sofortdurchsetzbar ist, sollte keinen Grundfür eine Inhaftierung darstellen. 82Verschärfend kommt hinzu, dass – umwie laut Materialien durchsetzbare negativeEntscheidungen so schnell wie möglichsichern zu können – diese (selbst beiVorliegen eines Zustellungsbevollmächtigtenoder gewillkürten Vertreters) direktan den/die AsylwerberIn durch Organedes öffentlichen Sicherheitsdienstes zuzustellensind (§ 23 Abs 3 AsylG). Damitsollte ein „Zustand, wie er im Strafprozessherrscht“ hergestellt werden. 83 In Zusammenschaumit den bereits beschriebenenSchwierigkeiten, während der Anhaltung<strong>recht</strong>liche Beratung in Anspruch zu nehmenoder mit Beratungsstellen außerhalbder PAZ in Kontakt zu treten, ist dies imHinblick auf die Auswirkungen im Asylverfahrenbedenklich. 84Durchsetzbare Ausweisung/Aufenthaltsverbot vor Asylantrag (Z3)Die geringste Zahl der Fälle (259) betrifftdiesen Schubhafttatbestand: vorAsylantragstellung wurde bereits einedurchsetzbare Ausweisung bzw. einAufenthaltsverbot erlassen. Hier wirddie Inhaftierung im Wesentlichen mitder Asylantragsstellung begründet; umdem Verhältnismäßigkeitsgebot genügezu tun, sollte die Verhängung jedoch insbplötzliche Änderungen im Herkunftsstaatoder andere Gründe, die schon vorAntragstellung gegen eine Schubhaftverhängunggesprochen haben, berücksichtigen.UNHCR fordert dahingehendeine Formulierung, die zur Vorbeugungmöglicher Missbrauchsabsichten geeignetist, ohne potentiell Schutzbedürftigevon der Antragstellung abzuschreckenoder zu sanktionieren. 85ConclusioAngesichts der Auswirkungen der Anhaltungauf die einzelne Person einerseitsandererseits sollte die Inhaftierung aufbleiben und die Schubhaft die „ultima ratio“bleiben; insb hinsichtlich besondersschutzwürdiger Gruppen.Dies alles muss auch vor dem Hintergrundder mangelnden Geeignetheitder PAZ in Österreich zur Unterbringungvon Schubhäftlingen und der mitder Anhaltung verbundenen nachteiligenAuswirkungen auf das Asylverfahren gesehenwerden.Mag. a Margit Ammer ist wissenschaftlicheMitarbeiterinam Ludwig Boltzmann Institutfür Menschen<strong>recht</strong>e in Wien;margitammer@gmx.net.81) VfGH 26.09.06, B3544/05ua; vgl auch VfGH 24.06.06,B362/06.82) UNHCR, Stellungnahme FPG2005, 8.83) RV Erläuterungen, 103f.84) Vgl auch Forum Asyl, Wahrnehmungsbericht,22.85) UNHCR, Stellungnahme FPG, 9.Seite 78 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


echt & <strong>gesellschaft</strong>Wissen undEigentum unter„polykontexturalen“BedingungenZur „Passform“ vonIntellectual Property RightsManfred Füllsack················································Im Winter des Jahres 2001 wurde in russischenMedien eine Meldung kolportiert,wonach Bill Gates, nachdem er ineinem Moskauer Kongresszentrum einerussisch-sprachige Version seines neuestenBetriebssystems präsentiert hatte,auf dem Weg zum Hotel noch zu einemder Straßenhändler getreten sei, die dortauf kleinen Tischchen ihre Waren anboten,und mit Staunen feststellen musste,dass sein soeben präsentiertes Programmbereits für wenige Rubel als Raubkopieerhältlich war. Zwar wurden seitdem –insbesondere seit Russlands eigene Softwareindustriezu einem Wirtschaftsfaktorgeworden ist – die Intellectual PropertyRights auch in Russland an die Vorgabendes TRIPS-Abkommen angepasst. IhreExekution wird nun schärfer überwacht. 1Nach wie vor ist es aber für russischeKonsumenten kein allzu großes Problem,sich regelmäßig, billig und illegal mit denneuesten Software- oder auch Film- undMusik-Produktionen zu versorgen, ohnedie Maßnahmen zum Schutz geistigenEigentums dabei als nennenswerte Hür-Mit vielleicht leichten Variationendürfte Ähnliches heute für die meistenMitglieder der Welt<strong>gesellschaft</strong> gelten.Jede Maßnahme, die irgendwo in denunüberschaubaren Weiten des virtuellvernetzten Weltmarktes zum Schutz geistigenEigentums unternommen wird,scheint nahezu zeitgleich anderswo, abermit globaler Wirkung, eine „Gegenmaßnahme“hervorzurufen, die den Schutzunterhöhlt. Unternehmen, die Maßnahmenzum Schutz ihres Wissens erwägen,tun gut daran, in entsprechende Kalkulationendie Kosten nicht nur des Aufwandesder Maßnahmen selbst einzuberechnen,sondern auch die, welche durchdie nahezu sicher auf den Plan tretenden„Gegenmaßnahmen“ entstehen. GeistigesEigentum, so meine These, lässtsich heute nur mehr unter weitgehenderMiteinbeziehung dessen schützen, wasdurch die Eigentumsform ausgeschlossenwird.Dieser Umstand lässt sich theoretischals Folge einer global wirksamen Gesellschaftsstrukturbetrachten, die im Hinblickauf die Vielzahl der Perspektiven(Kontexte), die in ihr zu tragen kommen,als „polykontextural“ beschrieben wurde2 , als <strong>gesellschaft</strong>liche Ordnung also,in der, anders als unter „monokontexturalen“Bedingungen, nicht mehr eine die einer „Oberschicht“, oder wie dannspäter die des „Proletariats“ etc. – alleinige„Deutungshoheit“ besitzt und vondaher bestimmen kann, was in dieserGesellschaft Sache ist, sondern in dersich privilegierte Problemsichten nichtmehr dauerhaft behaupten lassen. DieProblemlösungsaktivität dieser Gesellschaft,sprich ihre Arbeit unterliegt damit sich die Arbeitsmittel und Instrumente,die aus früheren sozialen Gegebenheitenübernommen werden, nur mehr bedingtals brauchbar erweisen. Ein solches „Arbeitsmittel“,das im folgenden erörtertwerden soll, ist die Eigentumsform.I.Unter „monokontexturalen“ Bedingungenstellt – idealtypisch betrachtet – dieBehauptung, eine bestimmte Problemsichtsei relevanter als andere, keinProblem dar, weil diese Behauptungvon niemandem nachhaltig als „bloßeBehauptung“ problematisiert werdenkann, und zwar schon deswegen nicht,weil die soziale Ordnung keine Einrichtungen,allen voran die eines differenziertenWissenschaftsbetriebs bereithält,in denen wirkungsmächtig auf Distanzzur dominierenden Problemsicht gegangenwerden könnte. Die dominierendeProblemsicht hat unter solchen Bedingungen„ontologische Relevanz“. Sie istdie einzig mögliche Problemsicht und siebestimmt damit auch was jeweils als relevantesProblem gilt und was nicht. 3In ökonomischer Hinsicht bestimmtsie damit, was unter diesen Bedingungenjeweils als knappe Ressource gilt undworauf die Gesellschaft ihre Problemlösungsaktivitätenrichtet, um zu versuchen,ihre Knappheiten zu beseitigen. Auflängere Sicht Knappheiten dabei in Form von Arbeit,oder allgemeiner in Form wirtschaftlicherAktivitäten statt, die allerdings, darauf angewiesen sind, schon aktuellbis zu einem gewissen Grad mit Knappheitenzu Rande zu kommen. Ohne zumBeispiel über die nötige Arbeitskraft– hier einfach vielleicht als physischeStärke des Arbeitenden vorgestellt – zuverfügen, könnte keine Arbeit verrichtetwerden.Soziologisch betrachtet besteht eineMöglichkeit, bereits aktuell mit Knappheitenumzugehen, in der <strong>recht</strong>lichenZuordnung eines ausschließlichen undabsoluten Verfügungs<strong>recht</strong>s über knappeRessourcen zu einer Person oder einer sozialenInstitution als Eigentum. Eigentumfungiert in diesem Sinn als normative Re-1) Vgl u.a: Cooper 2006.2) Vgl u.a.: Luhmann 1990: 666f.3) Vgl u.a. Füllsack 2006: 101.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 79


echt & <strong>gesellschaft</strong>gelung von Arbeitsvoraussetzungen unterBedingungen der Knappheit. Die Gesellschaftschafft sich, anders gesagt, indemsie knappe Ressourcen bestimmten Personenoder Gesellschaftsteilen als Eigentumzuordnet und anderen nicht, und diesdann zum Beispiel als „gottgewollt“, als„natur<strong>recht</strong>lich begründet“ oder späterdann als „parlamentarisch ausgehandelt“betrachtet, eine Möglichkeit, schon aktuellmit Knappheiten so weit zu Randezu kommen, dass sie sich daran machenkann, sie in the long run durch Arbeit zubeheben. Die Gesellschaft schafft sich,anders gesagt, weil nur so überhaupt arbeitsteiligdas Problem der Knappheitsreduktionzu lösen ist, mit der Eigentumsformeine Möglichkeit zu arbeiten.Das erst unter Polykontexturalitätwahrnehmbare Problem dieser Möglichkeitbesteht freilich darin, dass die Gesellschaftes nicht vermeiden kann, im Zugeihrer Arbeit ihre Problemsicht und damitauch ihre Knappheitswahrnehmung zuverändern und damit die Eigentumszuordnungzu problematisieren. Im Zugeder Versuche, diese Problematik dann zubeheben, differenziert sie unweigerlichihre Problemlösungsaktivitäten in einerWeise, die schließlich die Funktionalitätder Eigentumsform selbst in sehr grundsätzlicherWeise unterminiert.II.Die entscheidende Knappheitswahrnehmungfrüher, als einfach vorgestellterGesellschaften bezieht sich, so wird jedenfallsgerne angenommen, auf simpleÜberlebensnotwendigkeiten, auf Lebensmitteletwa, oder den Schutz des eigenenDaseins vor Hunger, Kälte, Gefahren etc.Die normative Regelung dieser Knappheitsieht folgerichtig ein zunächst vonGott gegebenes und allmählich als natürlichbetrachtetes Recht auf Erhaltung desLebens und auf die dazu nötigen Mittelvor. Als unbestreitbar „eigen“ gilt deshalbin der Antike und bis weit ins Mittelalterzunächst vor allem das „suum“ 4 ,das eigene Leben, sowie die Freiheit unddas Ansehen der eigenen Person. Eigentumwird in den entsprechenden Rechtstheorienin einem (von Gott gegebenen)„Natur<strong>recht</strong>“ als Derivat des Selbsterhaltungstriebsbzw. Selbsterhaltungs<strong>recht</strong>sbegründet. 5Im Zentrum steht das Selbst, dasaber freilich nur mit Hilfe bestimmterMittel erhalten werden kann und dieseMittel bestehen in Landwirtschaft treibendenGesellschaften im Kern in derVerfügbarkeit über Grund und Boden,welche freilich – wie dies später dannam Beispiel außereuropäischer Gesellschaftenbetont wird 6 – eben weil sievorerst kaum knapp sind, zunächst keinerähnlich strengen Eigentumsregelungbedürfen. 7 Verfügbarkeit über Grundund Boden ist zunächst tatsächlich nur„Mittel“ zur Erarbeitung dessen, wasals knapp gilt, nämlich der Existenz. 8 Dieentsprechende Eigentumszuordnung reglementiertin Europa insbesondere dasChristentums, später das römische Recht.Die so geschaffene Ordnung sorgt mehroder weniger effektiv, jedenfalls aber anschlussfähigdafür, dass, was als knappwahrgenommen wird – die Existenz–, relativ „sozialverträglich“ verteiltwird und damit an der Behebung dieserKnappheit auch in the long run gearbeitetwerden kann.Im Zuge der „Erarbeitung“ der RessourceLeben, „vermischt“ sich nunfreilich, wie dies dann John Locke formulierenwird, folgenreich der Wert derArbeit und der des bearbeiteten Gegenstandes,des Grund und Bodens. Was zunächstnur „Mittel“ ist, wird so allmählich– und zwar im Zuge der Arbeit selbstund aufgrund ihrer relativ erfolgreichenVerrichtung – zum „Zweck“. Die Daseinssicherungkann nun auf Basis einesetablierten Rechts auf Selbsterhalt so relativeffektiv gewährleistet werden, dassimmer mehr Leben gesichert wird und dieBevölkerungszahlen rapide zu wachsenEntwicklung, die unter anderem dannThomas R. Malthus zur Formulierungseines „Naturgesetzes“ 9 treiben, beginntsich die Knappheitswahrnehmung zuverschieben. Nicht mehr die Knappheitträchtiggeregelt werden, sondern dieKnappheit des „Mittels“ – die Knappheitder Verfügbarkeit über Grund und Boden,über „estates“.Diese Verschiebung hat weitreichendeFolgen für die Eigentumsform, wie siein der Jura naturalia nun zur Verfügungsteht. Entstanden im Hinblick auf Lebenschancenhat sich das Recht daraufnoch relativ restfrei auf das Individuumzurechnen lassen. Die Verfügbarkeit überGrund und Boden assoziiert sich dagegenkeineswegs schon gleichsam intuitivmit einzelnen Menschen, und dies umsoweniger als in den zivilisatorischen Ballungsräumenimmer mehr MenschenAnspruch darauf anmelden. Schon kurznachdem die Verfügbarkeit über Grundund Boden den beiden anderen Komponentendes „Natur<strong>recht</strong>s“ – den „lives“und „liberties“ – hinzugefügt 10 und damitder eigentliche Begriff des Privateigentums,des property ob und wie dies tatsächlich legitimiertwerden kann. 11 Und diese Debatten werden,wie in der Rechts- und Arbeitsgeschichtedokumentiert 12 , alsbald schondadurch befördert, dass die Entwicklungder Arbeit immer abstraktere Kategorienwie „Arbeitskraft“, „Geld“, „Kapital“oder schließlich allgemein „Produktionsmittel“zu Ressourcen, zu „Zwecken“,werden lässt, die als knapp wahrgenommenund damit zum Gegenstand vonEigentumszuordnungen werden – vonZuordnungen freilich, die die jeweils4) Vgl dazu etwa: Cicero, De of- in hominumsocietate tuenda tribuendoquesuum cuique et rerum contracta- ...“.5) So etwa dann in den Natur<strong>recht</strong>slehrenvon Thomas Hobbesoder John Locke.6) Früh etwa bei Thomas Paine imHinblick auf indigene Nordamerikaner,aktueller etwa bei Dowling1968.7) Im Hinblick auf spätere Diskussionenließe sich hierauf vielleichtdie Unterscheidung von PrivatundGemeineigentum übertragen.Land konnte, solange es nicht imgroßen Stil als knapp wahrgenommenwurde, als Gemeingut,als „Common“ betrachtet werden,dessen „Tragödie“ (Hardin 1968)darin bestand, dass es geradedeswegen knapp zu werden begann,weil es effektiv als „Mittel“zur Daseinssicherung diente.8) Erst im Neolithicum wird, wiedie Archäologie feststellt, allmählichzwischen „Eigentum“ und„Besitz“ an Land, d.h. zwischen„eignen“ und „bearbeiten dürfen“unterschieden und damit eineDifferenzierung begründet, dieallmählich auch Anderes als dasSelbst und unmittelbar persönlicheDinge als knapp wahrnehmenlässt.9) „Population, when unchecked,increases in a geometrical ratio.Subsistence increases only in anarithmetical ratio.“ meint Malthusin seinem Principle of Population1798.10) Eine frühe Formulierung beiWilhelm von Ockham.11) Vgl dazu nur etwa die umwegigenRechtfertigungen in JohnLocke’s Eigentum-durch-Arbeit-Theorie, wie sie vielfach als Grundlagedes liberalen Besitzindividualismusgesehen wird und sichauch heute noch als „originärerEigentumserwerb“ im Privat<strong>recht</strong>widerspiegelt.12) Vgl u.a.: Brocker 1992.Seite 80 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


echt & <strong>gesellschaft</strong>relevanten Ressourcen immer schlechterin der, unter ganz anderen sozio-historischenBedingungen entstandenen Kategoriedes Eigentums verorten.Übersehen sei an dieser Stelle freilichnicht, dass diese Zuordnung betriebsnotwendigist. Ohne sie hätte die GesellschaftProbleme, mit ihren Knappheiten aktuellso weit zurande zu kommen, dass ihreBehebung auch in the long run betriebenwerden kann. Ohne sie würde der Gesellschafteine Voraussetzung zum arbeitenfehlen. Sobald allerdings diese Voraus- mit Knappheit durch Eigentum erfüllt ist,weiter entwickeln und im Zuge dessendie Knappheiten der Landwirtschaftdurch Knappheiten des Handwerks unddes Handels, diese durch solche der Industrieund diese wieder durch solcheder Organisation, der Dienstleistungund schließlich sogar der Freizeit<strong>gesellschaft</strong>ergänzen. Im Lauf der letzen zweiJahrhunderte ist es so in immer kürzerenZeitabständen notwendig geworden, dieRegulierung der Knappheiten, also unter der Eigentumsform nachzubessern. Unddabei ist es niemals nur darum gegangen,sie gleichsam für andere, nun als knappgeltende Ressourcen .Denn keine der relevanten Knappheitswahrnehmungenunserer Gesellschaft istim Zuge ihrer Geschichte verschwunden.Wir arbeiten nach wie vor für NahrungsundLebensmittel, haben diese Aktivitätenaber mittlerweile folgenreich durchdie Herstellung von Massenprodukten,von Kultur- und Bildungsgütern, vonLuxus- und Freizeit-Gadgets bis hin zuEntertainment- und Wissensproduktenergänzt. Die Knappheitswahrnehmungenunserer Gesellschaft haben sich im Zugedessen in kurzer Zeit multipliziert. Angesichtsder Diskrepanz etwa zwischeneuropäischen und außereuropäischenKnappheitswahrnehmungen, zwischender nach wie vor weitgehend wohl Existenz-bezogenenKnappheit in Afrikaetwa und der unübersehbar bereits großteilsauf Freizeit- und Unterhaltungsaktivitätenbezogenen Knappheit in Europa,ist damit deutlich geworden, dass Knappheitswahrnehmungenin der Modernegrundsätzlich als kontingent, als auch andersmöglich betrachtet werden müssen,und dass die moderne Gesellschaft ebennicht mehr nur einen, sondern vielmehreine Vielzahl von Blickwinkeln bereithält,aus denen sie wahrnimmt, was siefür knapp hält.Mit beigetragen zu dieser Polykontexturalitäthat dabei die Notwendigkeit,die in der Differenzierung der Arbeit neuentstehenden Knappheiten zu bemessenund zu systematisieren – prominent etwaim Versuch, sie primären, sekundärenund tertiären Wirtschaftssektoren zu zuordnen–, um sie so ihrer <strong>recht</strong>lichen Regelungin der Eigentumsform zugänglichzu machen. Dabei sind unter anderemStatistik und Wirtschaftsforschung oderallgemeiner noch Sozial- und Rechtswissenschaftentstanden, um ArbeitsundWirtschaftsoutput, Wohlstand undArmut, Einkommensentwicklungen,soziale Ungleichheiten und vieles mehrzu erheben, und im Zuge dessen Problemlösungsaktivitätenzu initiieren, diedie dabeisollen. 13Nicht zuletzt im Zuge dessen hat eine gewonnen, deren „Produkt“ heute alsdie maßgebliche knappe Ressource gilt– die Wissensarbeit und ihr „Produkt“Wissen.III.Auch die Form, mit der die Knappheitvon Wissen aktuell gesetzlich geregeltwird – die der Intellectual PropertyRights –, orientiert sich an der klassischenEigentumsform. Schon angesichts derbisherigen Überlegungen lässt sich alsovermuten, dass sich diese Form nur bedingteignet, um die als knapp wahrge-verorten.Abgesehen von den sonst oft vorgebrachtenAspekten der beschränktenEigentumsfähigkeit von Wissen (Nicht-Rivalität im Konsum, Nicht-Ausschließbarkeitvon der Nutzung etc.), weist dieseForm unter „polykontexturalen“ Bedin-blematikauf. Unter diesen Bedingungenlässt sich, wie gesagt, die Perspektivitätder Knappheitswahrnehmungen nichtübersehen. Zwar wird einerseits natürlichin vielen Bereichen daran gearbeitet,Zugang und Verfügbarkeit von Wisseneinzuschränken und es damit eigentumsfähigzu machen. In diesen Bereichen giltWissen offensichtlich in einer Weise alsknapp nahe legt. 14 Darüber hinaus lassen sich inder Moderne aber auch Bereiche ausmachen,in denen Wissen eher als zuviel undnicht als knapp scheint, in denen etwa„neue Unübersichtlichkeit“, über Unplanbarkeitvon Ausbildungs- und Karriereverläufenoder über sonstige Unkalkulierbarkeitenbei Wissensinvestitionengeklagt wird. Verschiedentlich werdendann zwar Differenzierungen eingezogen,um die je aktuelle ökonomischeoder bildungsrelevante Nutzbarkeit dochin den Griff zu kriegen. Das eigentlicheProblem polykontexturaler Knappheitswahrnehmungenscheint aber tiefer zuliegen, nämlich in dem Umstand, dass inder Moderne Wissen eigentlich nur mehrim Verbund mit dem je von ihm selbst determiniertenNicht-Wissen als Eigentumzugerechnet werden kann.Am anschaulichsten lässt sich dieserUmstand vielleicht an der Verselbständigungeines Problemlösungsbereichesverdeutlichen 15 , den die Gesellschaft,so ließe sich sagen, ursprünglich zurhandlungsentlasteten Bearbeitung spe- hat, der sich im Zuge seiner Entwicklungaber mehr und mehr „selbstgeschaffenen“Problemen und schließlich auchder Erkundung seiner eigenen Bedingungenund Voraussetzungen zugewandthat – dem Bereich der Wissenschaften.Mit den Wissenschaften steht der Moderneein auf Dauer gestellter Problematisierungsbetriebzur Verfügung, derspeziell und per Dekret darauf abstellt,nichts unhinterfragt zu lassen, nicht einmalseine eigenen Betriebsbedingungen,sprich jene Wissensstände, die ihmselbst zum einen Wissenserkundung ermöglichenund zum anderen dabei auchvorgeben, welche Erkundung jeweils relevantist. Mit Verselbständigung sei der(historisch etwa mit „Elfenbeinturm-“oder „Glasperlspiel“-Metaphern beklagte)Umstand angesprochen, dass dieser13) Vgl zu dieser „Dialektik“ vonProblemwahrnehmung und Wissenschaft:Füllsack 2006: 207ff.14) Für einen Überblick über Wissensformen,für die dies zu geltenscheint, vgl.: Füllsack 2006:290f.15) Vgl auch hierzu u.a.: Füllsack2006: 103ff, 207ff.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 81


echt & <strong>gesellschaft</strong>Betrieb nicht nur seinem <strong>gesellschaft</strong>lichenAuftrag, sondern einer Eigenlogikfolgt, die unter anderem dadurch bedientwird, dass in den Wissenschaftennur wer Neues entdeckt, Chancen erhältmitzumischen, also etwa einen Erwerbsarbeitsplatzim Wissenschaftsbetrieb zuergattern. 16 dafür, dass (zumindest in der europäisiertenWelt) Wissensstände kaum noch langeBestand haben, dass der Betrieb in derRegel nicht lange braucht, um sie wiederzu problematisieren. Die Moderne ist,wie dies genannt wurde, auf Treibsandgebaut. Ihre Festlegungen sind zu „Kurzfristveranstaltungen“geworden. 17Dies sorgt tendenziell für „Gleichzeitigkeit“der gerade im Fokus der Aufmerksamkeitstehenden Phänomene unddem, was in deren Latenz als „Mittel“oder als „Rahmen“ dafür fungiert, traditionellaber ausgeschlossen blieb. Essorgt, differenztheoretisch formuliert,für den Einschluss des in jeder UnterscheidungAusgeschlossenen. Andersgesagt, in der Moderne kann gewusstwerden, dass einerseits keine Aufmerksamkeitfür irgendetwas, ohne Ausschluss,sprich ohne Selektion möglichist – Eigentum schließt notwendig ebendie Nicht-Eigner von der Verfügbarkeitüber knappe Ressourcen aus –, dass aberzum anderen eben auch kein Ausschlussmehr von Dauer ist und damit gleichsamim Vollzug stets auch wieder miteinbezogenoder zumindest mitgedacht werdenmuss. Und dies betrifft insbesondere dasWissen selbst. Wer heute weiß, kann inder Regel auch wissen, was dabei jeweilsnicht gewusst wird, und er kannvor allem wissen, dass dies mit einigerWahrscheinlichkeit nicht lange nicht gewusstwerden wird.Dieser Umstand legt es nahe, Wissenunter polykontexturalen Bedingungenals „Zwei-Seiten-Form“ zu betrachten,die dasjenige Nicht-Wissen, das durchsie selbst ausgeschlossen wird, gleichsamschon mit einschließt. Wissen ist unterdiesen Bedingungen stets nur mit seinemKomplement, dem dazugehörigen Nicht-Wissen zu haben. Und dies gilt auch fürden Fall, in dem es, weil es als knappgilt, als Eigentum zugerechnet wird.Genau dann kann nämlich einerseits gewusstwerden, dass die Eigentumsformeine historische Errungenschaft ist, dieunter anderen, nämlich monokontexturalenBedingungen entstanden ist undschon damit nicht dazu taugt, die zentraleRessource der „Wissens<strong>gesellschaft</strong>“ zufassen. Und andererseits kann auch gewusstwerden, dass Eigentum selbst eine„Zwei-Seiten-Form“ ist, die unweigerlicheinschließt, was sie selbst ausschließt,die also, indem sie das Verfügungs<strong>recht</strong>über knappe Ressourcen bestimmtenGesellschaftsmitgliedern oder -teilenzuordnet und anderen nicht, diese anderenins Spiel bringt, zum Beispiel als gutvernetzte Internet- oder Hacker-Community,die schon ob ihrer Größe heutemit großer Wahrscheinlichkeit Lücken inden Manifestationen der Eigentumsformausmacht und diese zu nutzen weiß, umihre eigenen Knappheiten zu reduzieren.Oder eben grundsätzlicher noch: als globalerMarkt, der ob des Potentials seinerNachfrage und ob der Unmöglichkeit, ihnlückenlos zu regulieren, enorme Anreizebietet, zu jeder Maßnahme zum Schutzvon Eigentums<strong>recht</strong>en nahezu zeitgleichbereits – wie Bill Gates in Moskau erlebenmusste – „Gegenmaßnahmen“ aufden Plan zu rufen, die ihrerseits, und seies in physisch entfernten, für den vernetztenKonsumenten aber unmittelbar„nebenan“ liegenden Weltgegenden zu umgehen.Denn dies scheint das Charakteristikumder polykontexturalen Gesellschaft.Was immer ausgeschlossen wird,ist keine marginale und (dauerhaft) vernachlässigbareRestgröße mehr, sonderndrängt gleichsam von sich aus – undjemehr es durch Gesetze oder auch schon auszuschließen versucht wird – auf seinenEinschluss. Hegel hat ähnliches als„List der Vernunft“ bezeichnet, Adornohat es als „negative Dialektik“ beschrieben.Luhmann spricht vom Einschlussdes Ausgeschlossenen, von der „Zwei-Seiten-Form“ jeder Unterscheidung ineiner Moderne, deren soziale Differenzierungkeine privilegierten und damitdauerhaft dominanten Problemsichtenmehr kennt. 18 Was unter diesen Bedingungenals knapp wahrgenommen wird,wird stets nur unter einem bestimmtenBlickwinkel als knapp wahrgenommen,von einem Beobachter, der wissen kann,dass auch er bei seinen Knappheitswahrnehmungenbeobachtet wird, und dabeiganz andere KnappheitswahrnehmungenRelevanz haben.Knappheiten unter diesen Bedingungenmithilfe von Verfügungs<strong>recht</strong>enin Eigentumsform zu bewältigen, kanndamit gar nicht anders, als weitere Problemezu generieren – Probleme, die voraussagbarumso größer werden, je dynamischerdie Bedingungen werden, unterdenen an ihrer Lösung gearbeitet wird,und je enger die Eigentumsform – nichtzuletzt auch im Hinblick auf diese Problemeselbst – geschnürt wird.Univ.Doz.Dr.Manfred Füllsackist Dozent am Institut für Philosophieder Universität Wien;manfred.fuellsack@univie.ac.at.Literatur:Brocker, Manfred (1992): Arbeit undEigentum. Der Paradigmawechsel in derneuzeitlichen Eigentumstheorie. Darmstadt.Cooper, William H. (2006) Russia’sAccession to the WTO. CRS Report forCongress; unter: www.usembassy.it/pdf/other/RL31979.pdf (29.3.2007)Fuchs, Peter (1999) Intervention undErfahrung. Frankfurt/M.Füllsack, M. (2006): Zuviel Wissen.Zur Wertschätzung von Arbeit und Wissenin der Moderne. Berlin.Dowling, John H. (1968): IndividualOwnership and the Sharing of Game inHunting Societies; in: American AnthropologistVol. 70, No. 3, p. 502-507.Hardin, Garrett (1968): The Tragedyof the Commons; in: Science 162, 1243-1248.Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaftder Gesellschaft. Frankfurt/M.Luhmann, N. (1997): Die Gesellschaftder Gesellschaft. Frankfurt/M.Stehr, Nico (2001): Wissen und Wirtschaften.Frankfurt/M.16) Eine ähnliche Logik liegt demgleichermaßen zur Polykontexturalitätder Moderne beitragenden Bereichdes Journalismus zugrunde.17) Fuchs 1999: 157.18) Vgl. u.a.: Luhmann 1997: 60.Seite 82 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themagender migration –sexarbeit – frauenhandelVorwortPia Abel, Doris Einwallner„Gender Migration – Sexarbeit – Frauenhandel“ sind Begriffe,die in der medialen Rezeption oft durcheinander undnebeneinander gebraucht werden – eine klare Abgrenzungwird oft zu Gunsten von Voyeurismus wenig oder gar nichtvorgenommen. Die folgenden Beiträge sollen sich davondurch eine differenzierte Darstellung abheben. So war esuns wichtig, die juristische und <strong>gesellschaft</strong>liche Spange,die nach unserer Meinung all diese Themenbereiche umklammert,an den Beginn zu stellen.Im Abschnitt GENDER MIGRATION zeigen MiriamBroucek und Yvonne Riaño/Nadia Baghdadi in ihren Artikeln„Facts & Figures. Die sichtbar Unsichtbaren“ und„Arbeitsmarktpartizipation von gut ausgebildeten Migrantinnenaus Drittstaatländern in der Schweiz: Zwischen De--Migrationsprozessen ist stets (auch) eine weibliche.Im Abschnitt SEXARBEIT beleuchtet Marie TheresPrantner einleitend die österreichische Rechtslage undEntwicklungen in der Europäischen Union. Sie zeigt auf,dass die gesetzlichen Regelungen über Sexarbeit primärvom Aspekt der öffentlichen Ordnung und Sicherheit geprägtsind. So ist Sexarbeit zwar eine legale Tätigkeit, sieunterliegt aber zahlreichen bundes- und landesgesetzlichenEinschränkungen. Im Anschluss daran wird das Equal Projekt„SOPHIE BildungsRaum für Prostituierte“ vorgestellt.Diese Beratungseinrichtung betreut Sexarbeiterinnen mitdem Ziel, eine Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungzu erreichen. Weiters wird der Verein LEFÖ vorgestellt,der sich seit 1985 für die Rechte von Migrantinnenin Österreich – mit einem Arbeitsschwerpunkt zu Migrantinnenin der Sexarbeit – einsetzt und auch beratend tätigist. In Wien hat die 38. Fachtagung Prostitution, die ausdem sogenannten „Hurenkongress“ hervorgegangen ist,stattgefunden, auch darüber wird kurz berichtet.Doris Einwallner und Alexia Stuefer analysieren dieneuere höchstgerichtliche Rechtsprechung, die zum ThemenbereichSexarbeit ergangen ist und versuchen (neue)Entwicklungen herauszuarbeiten.Emilija Mitrovic rundet den Themenbereich Sexarbeitmit einer gewerkschaftlichen Perspektive ab, indem sie dieDeutsche Dienstleistungsgewerkschaft ver.di vorstellt unddie Herausforderungen, die der Weg der Legalisierung vonSexarbeit mit sich bringt, skizziert. Das deutsche Prostitutionsgesetz(ProstG), das am 1.1.2002 in Kraft getretenist, sollte die Situation der Sexarbeiterinnen verbessern.Es regelt die zivil<strong>recht</strong>lichen, arbeits- und sozial<strong>recht</strong>lichenBeziehungen zwischen den Sexarbeiterinnen undderen KundInnen und ArbeitgeberInnen. Es besteht nunmehrdie Möglichkeit, sich unter der Berufsbezeichnung„Prostituierte“ kranken- und pensions- zu versichern. DieSexarbeiterinnen können die Löhne einklagen und sichgewerkschaftlich organisieren. Die Ergebnisse der ver.diStudie zum Arbeitsplatz „Prostitution“ zeigen aber, dassNovellierungen des Prostitutionsgesetzes in Deutschlandnötig sind.Im Themenbereich FRAUENHANDEL fragt Julia Planitzer„Was hat sich seit Palermo getan?“ Die internationaleGesetzeslage betreffend den Menschenhandel verändertesich mit dem Übereinkommen des Europarats zurBekämpfung des Menschenhandels und hat im Vergleichzum Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafungdes Menschenhandels der Vereinten Nationen vorallem im Bereich des Opferschutzes eine deutliche Weiterentwicklungerfahren. Bei der Betrachtung der Umsetzungzeigt sich aber, dass Handlungsbedarf besteht. Opfer desMenschenhandels haben beispielsweise nach wie vor keinenAnspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung aus humanitärenGründen. Hinsichtlich der Kriminalisierung desMenschenhandels kommt das österreichische Straf<strong>recht</strong> stimmungseit In-Kraft-Treten im Jahr 2004 noch zu keinerVerurteilung.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 83


themagender migrationBereits bei der ersten Recherche zum Thema Frauen/weiblicheMigration zeigt sich, dass dieser Forschungsbereichin der wissenschaftlichen Welt nicht gerade lange Traditionbesitzt. Dieser Umstand scheint in erster Linie auf diegrundsätzlich androzentristische Sichtweise des PhänomensMigration, aber auch auf eigene patriarchale Denkmusterzurückführen zu sein. So wurde lange Zeit angenommen,die Zahl der Migrantinnen erschöpfe sich in derTatsache des „Nachzuges“ bzw sei meist vernachlässigbar.Die Statistiken sprechen hingegen seit jeher eine ganz andereSprache. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dassdie Geschichte von Migrationsprozessen stets auch – weltumspannend– eine Geschichte weiblicher Beteiligung ist.Bereits im 16. Jahrhundert war über ein Drittel allerspanischen ImmigrantInnen in Lateinamerikaweiblich. Die irische Auswanderung Ende des 19.Jahrhunderts wurde maßgeblich fast nur von Frauengetragen. Heutzutage ist knapp die Hälfte aller indie Europäische Union Immigrierenden weiblich, inmanch anderen Ländern stellen sie gar drei Viertelder Einwandernden.Dennoch blieben und bleiben Frauen in der Mi-nur, wie bereits erwähnt, in den verschleiernden Begriffender „Nachzügler“ oder der „Heimatfamilie“wieder. Der Mann gilt noch immer als klassischeVerkörperung des „Migranten“. Erst im Verlauf der80er Jahre nahm sich die Migrations- und Feminismusforschungder Bedeutung des Umstandes „Geschlecht“in der Migration an. Eigene Theorien wurdenentwickelt und infolge dessen selbst wieder einer ist etwa der Ansatz der Ethnologin und Leiterin derschweizerischen Eidgenössischen Ausländerkommission,Simone Prodolliet, die die feministischeMigrationsforschung in drei Generationen einteilt– von den ersten Schritten der Sichtbarmachungweitergehend zu einer eigenständigen autonomenFrauenperspektive, bis hin zur Auseinandersetzungder verschiedenen Differenzen und Differenzierungsmusterzwischen Frauen selbst. 1 Die Zahl der einschlägigen Publikationenist seitdem rapide angestiegen – der Faktor Genderdochnach wie vor nur als Detail am Rande. Auch zuverlässigesDatenmaterial und Statistiken sind rar gesät.1. Motive und Besonderheitenweiblicher EmigrationEs darf natürlich nicht außer Acht gelassen werden, dass„die Migrantin“ schlechthin nicht existiert – im Gegenteil,gerade die Annahme dieses Stereotyps hieße, die Rolle derFrau in Migrationsprozessen erneut auszublenden. UnterschiedlicheKulturkreise, soziale Verhältnisse und die ganzpersönliche Lebensgeschichte verhindern eine Reduktionauf ein „role model“. Dessen ungeachtet lassen sich dennocheinige gemeinsame Nenner ausmachen, die die Situationvon migrierenden Frauen kennzeichnen.Im Großen und Ganzen beruhen die Beweggründe vonFrauen, sich in einem anderen Land niederzulassen, durchausauf ähnlichen Motiven wie jene der Männer. Meist handeltes sich um ökonomische Notwendigkeiten, den Wunschseine eigene Lebenssituation zu verbessern, eine Flucht vorKrieg, Gewalt und Notlagen oder aber einfach auch die Lustauf Veränderung.In der feministischen Migrationsforschung wurde langeZeit von der zweifachen Diskriminierung der Frau gesprochen– einerseits in ihrer Rolle als Migrantin, andererseitsin ihrem Frausein. 2 Frauen in der Migration dürfen dabeiDie sichtbarUnsichtbaren –Frauen in derMigrationMiriam Broucek·································aber nicht nur als Opfer und passive „Spielbälle“ verschiedensterProzesse betrachtet werden. Um auch den eigenen,oft eindimensionalen Zugang zu erweitern, darf nie außeracht gelassen werden, dass sich weibliche Migration nichtnur auf einen einzigen Typus, schon gar nicht auf den einerInaktiven, nicht selbst Agierenden, festlegen lässt. Inden meisten Fällen steht auch bei Frauen eigenes, positivesHandeln hinter der Entscheidung, den Lebensmittelpunktzu wechseln – Frauen sind genauso Akteurinnen wie Männer,die schon a priori als ebensolche angesehen werden.Untersucht man, in welchen Arbeitsfeldern Migran-lich,dass ihnen zumeist nur ein äußerst begrenztes Spek- so genannten „Sweat-Shops“ (Niedrigstlohnfabriken in1) Vgl Simone Prodolliet lich:Geschlecht und Migration, Zeitschrift fürFrauenforschung, 17. Jg., H. 1 & 2 (1999):26-42.2) Vgl Elisabeth Aufhauser, Migration und Geschlecht:Zur Konstruktion und Rekonstruktionvon Weiblichkeit und Männlichkeit in der internationalenMigration, in: Karl Husa/ChristofParnreiter/Irene Stacher (Hg): InternationaleMigration. Die globale Herausforderung des21. Jahrhunderts, Brandes & Apsel/Südwind2000.Seite 84 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themagender migrationEntwicklungsländern) wieder – vor allen Dingen aber imDienstleistungssegment. Auch hier stehen ihnen allerdingsnur die von der Gesellschaft als „weiblich“ konnotiertenBetätigungsfelder offen – Reinigung, Bedienung, persön- haltsarbeit.Konstruktion von Weiblichkeit bestimmt nachwie vor was als „Frauenarbeit“ angesehen wird und so auch,in welchen Bereichen Migrantinnen gewünscht und gefragtsind, und vor allem, in welchen nicht. Dabei besitzen sie Zuwanderer, aufgrund der starren Rollenverteilung am Arbeitsmarkthaben sie jedoch kaum eine Chance, einem ihrerAusbildung entsprechenden Erwerb nachgehen zu können.Schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen, Arbeitslosigkeitund prekäre soziale Verhältnisse prägen ihre Situation.Aufstiegs- und Weiterbildungschancen gibt es kaum, auchKontakt zu inländischen Arbeitnehmerinnen ist selten – sinddie Kolleginnen doch zumeist ebenfalls Migrantinnen.2. Asyl und FrauenhandelDa das Phänomen Migration gerade in Bezug auf Frauennicht nur mit der Gewährung von Asyl, sondern auch oftmit dem Schlagwort „Frauenhandel“ in einen Topf geworfenwird, sei diesen beiden Bereichen hier noch ein kurzerAbsatz gewidmet. Auch wenn sich natürlich hier ganz sind diese dennoch von einer im Großen und Ganzen freigewählten Migration abzugrenzen.Nach Schätzungen beläuft sich der Anteil weiblicherAsylwerberinnen in etwa auf ein Viertel aller in Deutschlandund Österreich um Asyl Ansuchenden und dies, obwohlFrauen weltweit die überwiegende Mehrheit an Flüchtlingenstellen. Dies lässt sich nur zum Teil auf die immenseBedrohung durch sexuelle Übergriffe im Zusammenhangmit der Flucht zurückführen. Besonders erschwert und verhindertwird die Anerkennung von Frauen als Asylsuchendenämlich vor allem durch mangelnde Sensibilität der zuständigenBehörden und durch die fehlende Berücksichtigung Männern Asyl zuerkannt, Frauen in ähnlich gelagerten Fällenjedoch verwehrt. Fluchtgründe wie sexuelle Verfolgungoder Repression aufgrund des Geschlechts sind immer nochweitgehend unterrepräsentiert – in Österreich ist seit 1998sexuelle Gewalt als Asylgrund anerkannt, jedoch tragendie Bedingungen des österreichischen Asyl<strong>recht</strong>es nichtunbedingt dazu bei, hier eine Verbesserung der Situationzu erreichen.Österreich ist aufgrund der Ostöffnung in den letzten Jahrenzu einem der zentralen Knotenpunkte des Menschenhandelsin Europa geworden, als Ziel- sowie auch als Transitland.Nahezu alle von Zwangsverschleppung Betroffenensind ursprünglich auf der Suche nach Arbeit oder besserenPerspektiven unter die Räder des Menschenhandels gekommen.Über Anzeigen, Agenturen oder Bekannte werden denMädchen und Frauen in ihren Heimatländern lukrative Jobsund die Chance auf ein besseres Leben in einem der Industriestaatenin Aussicht gestellt. Ohne Arbeitsbewilligungund ohne Papiere sind sie jedoch so gut wie wehrlos und habenkaum eine Chance, ihre Rechte geltend zu machen. Dabeiverschwimmt oft auch die Grenze zwischen Opfer undTäter. Zwangsgehandelte Frauen erscheinen als Täterinnen,auf die geltendes Fremden<strong>recht</strong> mit seinen restriktiven Regelungenangewandt wird, nicht als die Opfer gravierendausbeuterischer Handlungen, die sie tatsächlich sind. 3 Zwarhaben sich internationale Organisationen wie die VereintenNationen oder auch die Europäische Union die immerakuter werdende Problematik „Menschenhandel“ bewusstgemacht, nach wie vor ist aber darüber hinaus die nationaleMenschenhandel und zur Entwicklung von Schutzprogrammenzu setzen.3. Weibliche Migration in ÖsterreichEine Analyse der Lage von Migrantinnen in Österreich kannnicht nur allein auf allgemeine Faktoren sowie auf die Bedingungendes Auswanderungslandes beschränkt werden,sondern muss vor allen Dingen auf die Verhältnisse des Ziellandesabstellen. Verschärfte Einwanderungsgesetze unddie allgemein ablehnende Haltung der ÖsterreicherInnengegenüber ZuwanderInnen verstärken das vorhandene Un-sich in den Bereich Gesundheit und Bildung. Das österreichischeBildungssystem ist nicht dazu angetan, die bestehendenHierarchien und Ungleichheiten auszugleichen, imGegenteil, es reproduziert diese vielmehr und verhindert eingelungenes Zusammenleben. Auch im Gesundheitssektorzeigt sich, dass Migrantinnen oft höheren Gesundheitsrisikenausgesetzt sind. Sie erhalten verspätete oder zu ungenaueUntersuchungen, was zumeist auf Verständigungsprobleme,Unverständnis seitens der Behandelnden odermangelnde soziale Absicherung zurückzuführen ist. 4Beruhend auf den unterschiedlichen Kulturkreisen verändertsich das bislang gewohnte Sozialgefüge neu eingetroffenerMigrantinnen in Österreich beträchtlich – dieUnterstützung aber auch Kontrolle durch die heimatlicheFamilie bricht weg, statt dessen tritt die Beziehung zumEhemann stärker hervor – vielfach als Abhängigkeit. Isolierungfolgt. Ein wichtiges Mittel gegen die Vereinzelung kannhier die Selbstorganisation und Vernetzung von Frauen ausunterschiedlichen Kulturkreisen bieten. In vielen europäischenZielländern, so auch in Österreich, gibt es bereits einvielfältiges Angebot von Vereinen und Gruppen, in denensich Migrantinnen über ihre Lebenssituation austauschen,Artikulationsformen entdecken können.4. FazitMigration birgt für Frauen die Chance, aus patriarchalenStrukturen auszubrechen, ein neues Selbstbewusstsein zuentdecken und damit auch eine Veränderung der eigenen3) Vgl Arbeitsgruppe Migrantinnen und Gewalt(Hg): Migration von Frauen und strukturelleGewalt. Milena Verlag 2003.4) Vgl Erna Appelt, Frauen in der Migration– Lebensform und soziale Situation, in: HeinzFassmann/Irene Stacher (Hg.): ÖsterreichischerMigrations- und Integrationsbericht.Demographische Entwicklungen – sozioökonomischeStrukturen – <strong>recht</strong>liche Rahmenbedingungen,Wien – Klagenfurt/Celovec,144 – 170. 2003<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 85


themagender migrationDas österreichische Gewaltschutzgesetz Mit dem Inkrafttreten des Gewaltschutzgesetzes am 1. Mai 1997 sind inÖsterreich Reformmaßnahmen Realität geworden, die zu einer Umwälzungder institutionellen Antwort auf Gewalt in der Familie geführt haben.Die Beiträge von Dearing zum polizeilichen Part, von Sorgo zur Rolleder Interventionsstellen und von Schrott zur Arbeit der Familiengerichtesind aus einer Innenperspektive verfasst und werden deshalb sinnvollvon einer kritischen Würdigung der Reformmaßnahmen durch Hallerergänzt. Alle AutorInnen greifen dabei auf die Erfahrungen von vielenJahren der Befassung mit einschlägigen Fragestellungen zurück. Rolle innerhalb der Familie oder der Beziehung herbeizuführen.Gleichzeitig bringt sie jedoch auch vielfach die Gefahrmit sich, die alte Ordnung noch zu verstärken. Es zeigtsich, dass dem Faktor Geschlecht eine ebenso bedeutendeRolle wie sozialem Hintergrund, Ethnie oder Bildung inder Migrationsforschung zukommt und auf diesen Umstandkeinesfalls vergessen werden darf. Aber es gilt ferner, dieeigene Befangenheit zu vergegenwärtigen. Denn auch linkeund feministische Kontexte beruhen auf falschen Vorzeichen,wenn sie Migrantinnen bevormunden anstatt sie alsgleichbe<strong>recht</strong>igt handlungsfähige und politische Subjekteanzuerkennen. Auch in gemischten antirassistischen Gruppenherrscht ein asymmetrisches Machtverhältnis, gibt espatriarchale Muster, die selten zum Thema gemacht werden.Integration in der Arbeitswelt, Kunst, Politik und im Alltagkann nur durch eine Beteiligung von Migrantinnen auf allenEbenen der Planung, Entscheidung und Durchführunggefördert und etabliert werden. 5Miriam Broucek ist Studentin der Rechtswissenschaftenund Philosophie in Wien;5) Vgl auch die Forderungen und Prinzipienvon MAIZ – Autonomes Integrationszentrumfür Migrantinnen, www.maiz.at.Seite 86 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themagender migrationZusammenfassungSituationen von 57 gut ausgebildeten Migrantinnen aus Lateinamerika,dem Nahen und Mittleren Osten sowie Südosteuropa.Die Untersuchung zeigt, dass diese Gruppe nur schwer die ihrer Ausbildung und ihren Erfahrungen entsprechen. Soerlangten lediglich zehn der Frauen eine solche Arbeitsstelle,ein Drittel ist nicht erwerbstätig resp. erwerbslos und der Rest sind folglich noch keine Garantie für eine erfolgreiche sozio-ökonomischeIntegration. Die Benachteiligung kann u.a.zurückgeführt werden auf Diskurse über Geschlecht,sozio-okönomischen Status und Ethnizität, welchezu institutionell verankerten Ungleichheiten beimZugang zum Arbeitsmarkt führen. Trotzdem reagierenMigrantinnen nicht passiv, sondern mobilisierenzahlreiche Strategien, um ihre Chancen zu erhöhen.EinführungDie Migration in die Schweiz zeichnet sich durch einezunehmende Feminisierung aus und das insbesondereim Fall von Einwandernden aus Ländern außerhalbder Europäischen Union. So waren 1980 48% der Personen,die aus Lateinamerika in die Schweiz kamen,Frauen; dieser Prozentsatz stieg bis im Jahr 2003 auf64% an. Bei der Migration aus Asien stieg der Frauenanteilvon 46% im Jahre 1980 auf 52% im Jahre 2003(BFS, 2004: 93). Das zunehmend weibliche Gesichtder Migrationsströme aus Ländern außerhalb Europaszeigt sich jedoch nicht nur in der Schweiz, sondern istvielmehr Teil einer globalen Entwicklung in Richtungzunehmender Feminisierung der Migration.Migrantinnen und ebenso Migranten aus Ländernaußerhalb Europas werden in politischen und medialenDiskursen oft in ein negatives Licht gerückt. Inder Regel werden sie als ungebildete Personen wahrgenommen,für welche Migration der einzige Ausweg aus ihrerökonomischen Situation in ihren Heimatländern darstellt.Vor allem Migrantinnen gelten oft als Opfer von Ausbeutungund als im Migrationsland ungenügend integrierte Personen.Die neuere Forschung – so auch die vorliegende Studie „In-der Schweiz“ – zeigt jedoch die Unangemessenheit solcherGeneralisierungen auf und macht aufmerksam auf die Folgen,wenn sich solche Bilder in der Migrations- und Integrationspolitikniederschlagen (Riaño, 2005). Migrantinnensind eine heterogene Gruppe und unterscheiden sich voneinanderbeispielsweise in Bezug auf ihre Herkunftsorte, ihrenBildungsstand, ihren Lebensstandard im Herkunftsland,ihre städtischen bzw. ländlichen Hintergründe, ihre religiöseZugehörigkeit, und nicht zuletzt aufgrund ihrer Migrationsgründeund -erfahrungen. Des Weiteren positionieren die Aufenthalts-und Bürger<strong>recht</strong>sregelungen in der Schweiz Migrantinnenunterschiedlich in Abhängigkeit von Aufenthaltsstatusund Nationalität. Damit die verschiedenen Situationen vonMigrantinnen vermehrt wahrgenommen werden und in <strong>gesellschaft</strong>licheund wissenschaftliche Diskurse wie auch inabdingbar.Stand der Forschung zur weiblichen MigrationBis anhin fehlt es jedoch an Grundlagenforschung; nur wenigeStudien befassten sich mit der Feminisierung der Migrationund untersuchten die Rolle von Geschlecht in Migrations-und Integrationsprozessen und das Spektrum anverschiedenen Situationen sozialer Integration von Migrantinnenin der Schweiz (Le Breton, 1998; Prodolliet, 1998,Arbeitsmarktpartizipationgut ausgebildeterMigrantinnen aus,Drittstaatenländern‘ inder Schweiz: Zwischen 1Yvonne Riaño und Nadia Baghdadi·································Sançar et al, 2001; Waldis, 2001; Carbajal, 2004; Wanner etal, 2005; Hettlage, 2005; Mainardi, 2006; Richter, 2006). Bisjetzt gibt es nur wenige schweizerische Studien, die gut ausgebildeteMigrantinnen in ihr Sample einbezogen, obwohlimmer mehr gut ausgebildete Frauen in die Schweizh einreisen(Riaño, 2003). Inzwischen sind hierzulande unter den berufstätigenFrauen mit universitärer Ausbildung zu gleichenTeilen Frauen ohne Schweizer Pass aus Asien, Afrika undauch deshalb erstaunlich, weil sich die Migrationspolitik inder Schweiz und in Europa in den letzten Jahren vornehm--und dass sich diese Personen, gerade weil sie gut ausgebildetsind, schneller in die hiesige Gesellschaft integrieren können.Wissenschaftliche Studien in Europa und Nordamerika1) Dieses Projekt wurde im Rahmen des NationalenForschungsprogramms 51 „Integrationund Ausschluss“ des SNF (Kredit Nr. 405140-69125) unter der Leitung von Yvonne Riañound Doris Wastl-Walter in den Jahren 2003-2006 durchgeführt. Das Projekt war am GeographischenInstitut der Universität Bern situiert.Für weitere Informationen: www.giub.unibe.ch/sg/immigrantwomen<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 87


themagender migrationHandbuch für den ArbeitnehmerschutzSammlung auflagepflichtiger und anderer für die Durchführungdes Arbeitnehmerschutzes wichtiger VorschriftenTeilband 1, Teilband 2, Teilband 3, Der Teilband 3 umfasst die für den Arbeitnehmerschutz bedeutsamenVorschriften des Kessel<strong>recht</strong>s und des Arbeitsstoff<strong>recht</strong>swie z. B. die einschlägig geltenden Vorschriften des ChemikalienundGift<strong>recht</strong>es und wichtige Vorschriften auf dem Gebiet derSprengmittel jeweils mit Stand 1. März 2007.Teilband 4, In diesem Teilband sind in Ergänzung zum Inhalt der Teilbändeeins bis drei weitere Vorschriften enthalten, die für den Arbeitnehmerschutzrelevant sind. Die im Teilband vier erfassten Vorschriftensind jeweils mit dem Stand 1. März 2007 angeführt. 9. AuflagePoinstinglHandbuch für denArbeitnehmerschutzSammlung auflagepflichtiger und anderer für dieDurchführung des Arbeitnehmerschutzeswichtiger Vorschriftenstellen solche Annahmen in Frage. In der Schweiz wissendeshalb dringender Bedarf an Forschung über die sozio-öko-sonen.Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen außerhalbder Schweiz (z.B. Kofman, 2000; Preston, 2003; Raghuramund Montiel, 2003) plädieren zudem dafür, gut ausgebildeteMigrantinnen vermehrt in den Fokus zu rücken und zu untersuchen,ob Geschlechterfaktoren ihre marginale Positionim Arbeitsmarkt zu erklären vermögen. Neben der mangelndenBeachtung des unterschiedlichen Bildungsgrads und dessozio-ökonomischen Hintergrunds von Migrantinnen wurdeder Zusammenhang zwischen Art der sozialen Integrationund nationaler Herkunft wenig beleuchtet. Ebenso bleibt zuklären, welche Rolle Ethnizität bei der sozialen Integrationkulturell, religiös und/oder äußerlich „Andere“.Das Projekt über die „Integration und Ausschluss von quali-zur Schließung dieser Wissenslücken, indem folgende Themenunter einer Geschlechterperspektive untersucht wurden:(a) Sozio-ökonomische Integrations- und Ausschluss-außerhalb der Europäischen Union, (b) Strategien, welcheMigrantinnen entwickeln, um sozial und ökonomisch integriertzu werden und (c) <strong>gesellschaft</strong>liche Diskurse 2 und Effekt auf die Integrationschancen von Migranten und Migrantinnen.Die empirische Fallstudie wurde mit 56 Migrantinnendurchgeführt, welche sich nach ihrer nationalenHerkunft (Länder Lateinamerikas, des Nahen und MittlerenOstens sowie Südosteuropa) und ihrem religiösen Hintergrund(christlich/muslimisch) unterscheiden. In der Fallstudiewurden sowohl gut ausgebildete Migrantinnen (mitFrauen (mit Universitätsstudium) berücksichtigt. Ergänzendwurden Migrations- und Integrationsdiskurse mittelsZeitungsartikeln, Gesetzestexten, Integrationsprogrammenund Experteninterviews untersucht (Riaño und Wastl-Walter,2006a, Riaño und Wastl-Walter, 2006b).Der konzeptuelle Rahmen für die empirische Analysesozio-ökonomischer Integrations- und Ausschlussprozessebasiert auf Strukturationstheorien (Giddens, 1984), Ansätzenzu sozialem und kulturellem Kapital (Bourdieu, 1986)und Intersektionalität von Klasse, Geschlecht und Ethnizität(Anthias, 2001, Knapp, 2005) sowie Theorien zu Diskursen(Foucault, 1980, Gregory, 2002) und citizenship (Marshall,1950, Yuval-Davies, 2002). Aus einer citizenship-Perspek-2) Diskurse werden in der vorliegenden Stu- die Welt verstanden wird und wie auf der Basisdieses Wissens darin gehandelt wird (Fou-begriffen, das die Art und Weise formt, wie cault, 1980).Seite 88 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themagender migrationlichkeitdes gleichbe<strong>recht</strong>igten Zugangs aller Mitglieder zuden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und symbolischenRessourcen einer Gesellschaft. Das methodische Vorgehenorientierte sich an partizipativen Forschungsansätzen, wobeidie theoretischen Prämissen von educación popular (Freire,1970), post-kolonialer Theorie (Said, 1978) und die Kritikfeministischer „Drittweltfrauen” (Mohanty, 1991) kombiniertwurden. Das übergeordnete Ziel des methodischen Ansatzeswar es, die analytische Stimme von Migrantinnen in den Forschungsprozesseinzuschließen und eine partnerschaftlicheForschungsbeziehung zwischen Akademikerinnen und Personenaußerhalb der Universitäten zu etablieren. Es wurdenals neue Methode partizipative Workshops mit dem NamenMINGA entwickelt, welche in Kooperation mit den MigrantinnenorganisationenWisdonna-cfd und MigrantInnenraumAargau durchgeführt wurden. Hierbei produzierten Frauen mitMigrationserfahrung, die in verschiedenen <strong>gesellschaft</strong>lichenBereichen (Universitäten, NGOs, private Firmen und öffentlicheInstitutionen) tätig sind, gemeinsam Wissen über Integrations-und Ausschlussprozesse. Die Ergebnisse der Workshopswurden von den Forscherinnen durch biographischeund problemzentrierte Interviews mit jeder Teilnehmerin ergänzt.Die Strategie zur Auswahl der Forschungspartnerinnenfolgte dem Prinzip des „theoretischen Samplings“ (Glaser undStrauss, 2005), welches sich anstatt an statistischer Repräsentativitätan für die Problematik relevanten Fallbeispielen orientiertund diese im Detail analysiert. Die Auswahlstrategieberücksichtigte folgende Kriterien: Migrationsgrund (Heirats-,Arbeits- und Bildungsmigration sowie Flucht); Art derMigrationserfahrung (erste Generation); Alter (28-60 Jahre);Aufenthaltszeit (3-35 Jahre); Aufenthaltsbewilligung (B-, C-,F- und N-Bewilligungen sowie schweizerische Staatsbürgerschaft);Zivilstand und Familiensituation (unverheiratet, verheiratet,geschieden; mit und ohne Kinder) und verschiedeneBerufe und Berufssituationen.ist Heirat (61%), gefolgt von Asylsuche (23%), Familienzusammenführung(9%) sowie Arbeit und Ausbildung (7%).Wirtschaftswissenschaften und Sozialwissenschaften (miteinem Anteil von 37%). An zweiter Stelle stehen Recht, Kunstund Architektur, Erziehungswissenschaften und Lehrerausbildungen,gefolgt von Geisteswissenschaften, medizinischenBerufen und Informatik. Die Teilnehmerinnen stammen alleaus der deutschsprachigen Schweiz (Kantone Bern, Aargauund Zürich).Migration und ArbeitsmarktpartizipationDie Untersuchung von Migrationsprozessen verdeutlicht,dass Geschlechterverhältnisse Migrationsmuster prägen undGeschlechtervorstellungen und -beziehungen im Prozess desGrenzüberquerens konstruiert und rekonstruiert werden. Konstruktionenvon Geschlechterdifferenz, etwa aufgrund vonMigrationsentscheidungen der Studienteilnehmerinnen undauf ihre Integrationsmöglichkeiten in den Einwanderungsländern.Geographische Vorstellungen (Said, 1978; Gregory,2002) sind weitere wichtige Faktoren, welche den Entscheidzur Migration sowie die Wahl des Ziellandes mitgestalten.Beispielsweise scheinen positive Vorstellungen von Europaund Europäern als auch von den Geschlechterverhältnissen inEuropa viele Frauen aus Lateinamerika, dem Nahen und MittlerenOsten und Südosteuropa zur Migration in die Schweizbewogen zu haben. Frauenmigration ist folglich im Kontextvon Transformationen in den Geschlechterverhältnissen sowohlin den Herkunfts- als auch in den Zielländern zu sehen und Baghdadi, 2007).Neben den Migrationsprozessen wurde die Arbeitsmarkt-gehenduntersucht. Dabei fällt auf, dass es lediglich einemViertel der Frauen gelang, eine unbefristete Arbeitsstelle obwohl die Studienteilnehmerinnen über sehr gute Ausbildungenund zudem meistens über Berufserfahrung verfügensowie der deutschen Sprache mächtig sind. Ein Drittel derStudienteilnehmerinnen ist überhaupt nicht im Arbeitsmarktintegriert und die restlichen Frauen (knapp die Hälfte) sindbeitsverhältnissenbeschäftigt. Wir erklären diese Lage derteilweisen Exklusion als Folge des Zusammenwirkens vonKlasse, Ethnizität und Geschlecht, d.h. Normvorstellungenund Diskursen, welche Differenzen entlang der Linien vonGeschlecht, Ethnizität und Klasse produzieren. Die drei genanntenDifferenz-Kategorien prägen hierarchisierende Konstruktionendes „Anderen”, auch Othering genannt, welchesich in verschiedenen Bereichen und auf unterschiedlichenEbenen (Individuum, Gruppen, Struktur) manifestieren.Othering-Prozesse gestalten die Rahmenbedingungen für diePartizipation von Migrantinnen im Sinne einer strukturellenZugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen und diePositionierung von Migrantinnen.Durch Ethnisierung, d.h. durch Zuschreibung von kulturellerDifferenz, werden Migranten und Migrantinnen ausLändern außerhalb der EU zu ‚Fremden’ stilisiert (ausführlichin Riaño und Wastl-Walter, 2006). Vorliegende Studiekonnte aufzeigen, dass u.a. Repräsentationen von kulturnahenund kulturfernen ethnischen Gruppen sowie Vorstellungenin Bezug auf Ressourcen und Anpassungswillebzw. –fähigkeit in der sogenannten Ausländergesetzgebungals Subtexte fungieren. Es werden Differenzen entlang vonHerkunft produziert, indem die Regelungen bezüglich derGewährung von Aufenthaltsbewilligungen zwischen zweiKategorien von Personengruppen unterscheiden: Migrantenund Migrantinnen aus dem EU/EFTA-Raum und solchen aus„Drittstaatenländern“. Außerdem werden Differenzen entlangvon Klasse produziert, indem aus letzteren nur hochstellungs-und Anerkennungspraxen. Beispiele sind dieoft fehlende Anerkennung von ausländischen Diplomenund die Unterbewertung der persönlichen Ressourcen vonNicht-EU-Migrantinnen sowie der Inländervorrang und dieBevorzugung von Personen aus dem EU-Raum durch dieSchweizer Migrations- und Integrationspolitik, aber auch inder persönlichen Haltung vieler Arbeitgeber. Solche Praxendeuten auf das vermeintlich grössere Potential von Personen<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 89


themagender migrationUrheber<strong>recht</strong> und ArbeitsverhältnisDie Autorin setzt sich mit der <strong>recht</strong>lichen Beurteilung geistiger Schöpfungenim Rahmen von Arbeitsverhältnissen auseinander.Während die Realität zeigt, dass ein beträchtlicher Teil urheber<strong>recht</strong>licherLeistungen von Arbeitnehmern in persönlich abhängiger Beschäftigunggeschaffen wird, hat die bisherige Gesetzgebung demArbeitnehmerurheber<strong>recht</strong> nicht jenen Stellenwert eingeräumt, der ihmeigentlich angemessen wäre.Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind daher immer wieder mit Fragestellungenkonfrontiert, die aus dem Spannungsverhältnis zwischenArbeits<strong>recht</strong> und Urheber<strong>recht</strong> resultieren.Dr. Christina Wartinger ist in der Dienstleistungseinrichtung Personalwesenund Frauenförderung an der Universität Wien tätig. aus dem EU-Raum und damit auf eine Werthierarchie inBezug auf Herkunft hin.Aus einer geschlechtersensiblen Perspektive betrachtetzeigt sich außerdem, dass die Gesetzgebung oft von einempatriarchalen Verständnis der Geschlechterrollen geprägt istund Differenz entlang der Genus-Gruppen (re)produziert.Normvorstellungen in Bezug auf die Aufgabenteilung zwischenden Geschlechtern (etwa „Migrantinnen als nachziehendeEhefrauen“ und „Mütter bleiben zu Hause“) spiegelnsich in der Gesetzgebung (s. bspw. VIntA) und werden mitwenig Ressourcen“) verknüpft. Solche Vorstellungen könnenauf der Ebene der institutionellen Handlungen etwa dieTätigkeit von nachziehenden Migrantinnen nicht vorsehen,die mangelnde familienergänzende Kinderbetreuung oderfehlende Programme für gut ausgebildete Migrantinnen erklären.Forschungspartnerinnen mit Kindern berichteten uns,dass sie von Vertretern und Vertreterinnen von Institutionenin Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf/Ausbildungwenig Unterstützung erhalten haben. So erzähltenverheiratete Frauen, dass sie wenig Aussicht auf Stipendienhätten, und dass sie auf den Wartelisten bei Krippenplätzenimmer weiter nach hinten rutschten mit dem Argument,dass ihre Ehemänner gut situiert seien und sie deshalb nichtunbedingt zu arbeiten/studieren bräuchten. In diesen Fällenverschränken sich die allgemeinen strukturellen Rahmenbedingungen– zu kleines Angebot an familienergänzenderKinderbetreuung – mit dem Handeln von institutionellenFamiliensituation werden v.a. in ihrer Mutterrolle gesehenchungvon Migrantinnen eingeschränkt wird.Ängste und negative Vorstellungen von „Drittweltfrauen“und/oder „muslimischen Frauen“ vieler Arbeitgeberhierzulande (Baghdadi, 2005) erschweren den ZugangProblematik wird dadurch akzentuiert, dass die professionelleStellung zugleich von den Forschungspartnerinnenals eine der wenigen Möglichkeiten gesehen wird, <strong>gesellschaft</strong>licheAnerkennung zu erlangen. Auf der anderenSeite deutet unsere Studie auch darauf hin, dass viele Migrantinneneinen starken Druck von der Familie ihres (i.R.Schweizer) Ehemannes verspüren, als „gute Mutter“ zuHause bleiben zu müssen. So wirken Geschlechternormenauch in der Familie und Paarbeziehungen widersprüchlichauf das Handlungsfeld von Migrantinnen. Die verschiedenenz.T. gegensätzlichen und widersprüchlichen Normenauf den unterschiedlichen Ebenen führen dazu, dass ihre persönlichen Werthierarchien in Frage stellen und ihreIntegrationsmöglichkeiten einschränken. Gut ausgebildeteprozessenund dem Verlust an Selbstvertrauen konfrontiert.Folglich resultiert Migration für viele gut ausgebildeteFrauen eher in einem Statusverlust als in einem sozialenAufstieg.Seite 90 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themagender migrationMigrantinnen reagieren jedoch nicht bloß passiv auf dieungünstigen Umstände bezüglich Partizipation im Arbeitsmarkt.Vorliegende Studie macht deutlich, dass Migrantinnenzahlreiche Strategien mobilisieren, um ihre Chancen im Arbeitsmarktzu verbessern. Die Strategien und Antworten aufAufbau von neuen Beziehungen über Verrichtung unquali- Tätigkeiten in sozialen und politischen Institutionen. Freiwilligeund meist unbezahlte soziale und politische Arbeitbezeichnen Migrantinnen als sehr wichtig für ihr Wohlergehen.Einerseits ermöglichen solche Arbeiten, Aktivitäten außerhalbdes privaten Raumes der Haus- und Familienarbeit,und andererseits kann freiwillige Arbeit aus der Sicht dertionensein bzw. ein wichtiger Schritt in Richtung bezahlterAnstellung. Gut ausgebildete Migrantinnen bezeichnentigerTeil ihrer persönlichen Identität. Die Migration in dieSchweiz impliziert jedoch, wie weiter oben ausgeführt, dieKonfrontation mit neuen Normen und Werten bezüglich Arbeitund Geschlechterrollen. Besonders Frauen mit Kindernsehen sich mit neuen Normen in Bezug auf das Muttersein viele Frauen zwingt, sich zu verändern, sich anzupassenoder zu kämpfen, um ihre professionelle Aktivität auf demNiveau vor der Migration zu erhalten.Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass hohesozio-ökonomische Integration sind. Besonders zu berücksichtigensind – wie unsere Untersuchung zeigen konnteArbeitsmarkt erschweren. Auf der strukturellen Ebene konntenzwei Hauptfaktoren ausgemacht werden: (a) die Politikund deren Regulationen in Bezug auf Migration und Integrationund (b) <strong>gesellschaft</strong>liche Diskurse in Bezug aufGeschlechterrollen und Bilder von Migranten und Migrantinnenaus Ländern außerhalb der EU.Es scheint ein Paradox, dass die Herkunftsländer außer-wichtige Ressourcen verlieren (brain drain), währenddessensich in der Schweiz für diese Frauen wenige Möglichkeitsräumezur Entfaltung ihres sozialen und kulturellenKapitals eröffnen und ihr Wissen auch volkswirtschaftlichnicht zum Tragen kommt (brain waste). Wenn die Schweizvom sozialen und kulturellen Kapital der gut ausgebildeten möchte, sind Maßnahmen und Programme unentbehrlich,um den Transfer dieses Kapitals und die dafür notwendigenStrategien von Migrantinnen zu unterstützen.Dr. Yvonne Riaño, 1955, Geographin, Lektorinam Geographischen Institut der Universität Bern,Bern; riano@giub.unibe.ch.Lic. phil. Nadia Baghdadi, 1976, Islamwissen-sitätBern, Bern; baghdadi@giub.unibe.ch.LiteraturAnthias, Floya (2001). „The material and the symbolic inclass”. In: British Journal of Sociology, 52(3), 367-390.Baghdadi, Nadia (2005). „Islamische Identitäten in derMigration“. In: SGMOIK-bulletin N.21, 24f.Bourdieu, Pierre (1986). ”The forms of capital”. In: JohnG. Richardson (ed.), Handbook of Theory and Research forthe Sociology of Education. New York: Greenwood Press,241-258.Bundesamt für Statistik (BFS) (2004). Ausländerinnenund Ausländer in der Schweiz. Bericht 2004. Neuchâtel.Carbajal Mendoza, Myriam (2004). Actrices de l’ombre:la réappropriation identitaire des femmes latino américainessans-papiers. MSc thesis. Fribourg: Université de Fribourg.Foucault, Michel (1980). Power/Knowledge: Selectedinterviews and other writings, 1972-1977. New York: PantheonBooks.Freire, Paulo (1970). Pedagogy of the Oppressed. NewYork: Continuum.Glaser, Barney G. und Anselm L. Strauss (2005). 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themasexarbeitSexarbeit 1 ist in Österreich grundsätzlich eine legale Tätigkeit,unterliegt jedoch zahlreichen gesetzlichen Einschränkungen.Auf Grund der geteilten Kompetenz zur Regelungvon Sexarbeit zwischen Bund und Ländern und einer konservativenRechtsprechung ist die Rechtslage zudem unübersichtlichund widersprüchlich.Wesentliche bundesgesetzliche Regelungen sind diewöchentlichen Gesundheitsuntersuchungen für Sexarbeiterinnen.Wer, wo und wann aber tatsächlich der Sexarbeitnachgehen darf, ist in neun Landesgesetzen auf – im Detail– sehr unterschiedliche Weise geregelt.Eine Gesamtbetrachtung der österreichischenRechtslage lässt erkennen, dass nicht vordringlichInteressen der Sexarbeiterinnen (Schutz vor Ausbeutungund Sicherung der legalen Erwerbsmöglichkeit)im Zentrum der Regelungen stehen, sondernder Schutz von Kunden und AnrainerInnen.So wird Sexarbeit vom Bundesgesetzgeber zwar geltender Rechtsprechung des OGH sind Verträgeüber sexuelle Dienstleistungen (die Körperkontaktinvolvieren) jedoch sittenwidrig und damit nichtig. 2Das hat auf <strong>recht</strong>licher Ebene zur Konsequenz, dassSexarbeiterinnen ihr Einkommen zwar versteuernmüssen, aber wenn der Kunde nicht zahlt, können sieihr Honorar nicht einklagen. Diese Rechtsprechungverhindert auch den Abschluss eines <strong>recht</strong>sgültigenDienstvertrages über sexuelle Dienstleistungen. Sexarbeiterinnenkönnen in Österreich daher nur alsSelbständige arbeiten. 3 Dass der Bundesgesetzgeberdiese Rechtsprechung nunmehr seit Jahrzehnten unwidersprochenhinnimmt, zeigt seine Unentschlossenheitim Umgang mit Sexarbeit.Auch eine Betrachtung der Landesgesetze undVollzugspraxis spiegelt diesen Zwiespalt wieder.In Vorarlberg etwa ist Sexarbeit nur in behördlichgenehmigten Bordellen zulässig (sog Bordellsystem).Derzeit gibt es in Vorarlberg jedoch kein einzigesgenehmigtes Bordell, womit in diesem Bundesland ein defacto Verbot von Sexarbeit besteht. Andere Bundesländersind liberaler, insbesondere Burgenland, Niederösterreich,Oberösterreich und Wien. In diesen Bundesländern darfSexarbeit grundsätzlich überall dort angeboten werden, woes nicht ausdrücklich verboten ist (den sog Schutzzonen).Sexuelle Dienstleistungen in der eigenen Wohnung anzubietenist generell verboten, Hausbesuche beim Kundensind jedoch im Burgenland, in Niederösterreich und Wienzugelassen. Auch das Schutzzonensystem lässt in der Praxisaber nur wenige legale Orte zur Ausübung der Prostitutionzu.Neben diesen örtlichen Einschränkungen sehen die meistenBundesländer für Sexarbeiterinnen eine Registrierungs-Aufnahme ihrer Tätigkeit bei der Bundespolizeidirektion(an-)melden.Manche Bundesländer sehen ausdrücklich auch ein Mindestalterfür Sexarbeiterinnen vor. Dieses liegt in manchenBundesländern bei 19 Jahren, in anderen bei 18 Jahren. Liegtdas gesetzlich vorgesehene Mindestalter nicht vor, machtSexarbeit – dieösterreichischeRechtslage undEntwicklungen inder EuropäischenUnionMarie Theres Prantner·································sich nach diesen Landesgesetzen jedoch nicht der Kundestrafbar, sondern die „geschützte“ Person. 4Ein weiterer wesentlicher Punkt, der bei einer <strong>recht</strong>lichenBetrachtung von Sexarbeit nicht übersehen werden darf, istdie Tatsache, dass etwa 80-90% der Sexarbeiterinnen inÖsterreich Migrantinnen sind. Viele von ihnen haben aufGrund der fremden<strong>recht</strong>lichen Bestimmungen derzeit keineMöglichkeit, in Österreich legal als Sexarbeiterin tätig zusein. Werden sie aufgegriffen, droht ihnen die Abschiebung.Eine Situation, die diese Gruppe besonders ausbeutungsgefährdetmacht.1) In diesem Artikel werden statt der gebräuchlichen,aber unscharfen Begriffe Prostitutionund Prostituierte die Begriffe „Sexarbeit“und „Sexarbeiterin“ verwendet. DerBegriff Sexarbeit umfasst ausschließlich sexuelleDienstleistungen, die von Erwachsenenund freiwillig erbracht werden. Der Begriff Prostitutionhingegen wird ebenso in Fällen vonZwang, Gewalt, krasser Ausbeutung und sexuellemMissbrauch von Minderjährigen ver- 2) OGH 28.06.1989, 3 Ob 516/89.einer sprachlichen Verwischung der Umstände.Die ausschließlich weibliche Formulierung„Sexarbeiterin“ und die ausschließlich männ- realen Verhältnisse, unbenommen der Tatsache,dass es auch männliche Sexarbeiter undweibliche Kunden gibt.3) Sexarbeiterinnen gelten als sog „NeueSelbständige“ gem. § 2 Abs 1 Z 4 GSVG.4) Diese landesgesetzliche „Straffreiheit“ desKunden und Kriminalisierung von Mädchenund jungen Frauen steht in Widerspruch zumösterreichischen Strafgesetzbuch, wonachsich der Kunde einer minderjährigen Person(unter 18 Jahre) wegen sexuellem Missbrauchzu verantworten hat, § 207b Abs 3 StGB.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 93


themasexarbeitDie Neuauflage des führenden Großkommentars zum ABGBHinteregger/Kissich2006, 242 Seiten, geb., 978-3-7046-4898-3, Ausführliche und übersichtliche Kommentierung der persönlichenRechtswirkungen der Ehe (§§ 44-100 ABGB) durch zwei Expertinnendes Familien<strong>recht</strong>s auf höchstem wissenschaftlichem Niveau. DerBand enthält außerdem eine gründliche Aufarbeitung der <strong>recht</strong>lichenProbleme der nichtehelichen Lebensgemeinschaft sowie einen ausführlichenExkurs zu den sicherheitspolizeilichen und exekutions<strong>recht</strong>lichenBestimmungen des Gewaltschutzgesetzes. Das Ehegesetzist einem weiteren Band vorbehalten. Das detaillierte Stichwortverzeichnisermöglicht ein rasches Auffinden der benötigten Informationen.Nützen Sie die Gelegenheit, die nachfolgenden Bände dieses unverzichtbarenWerkes zu einem Abopreis (-15%) zu bestellen. (Abonnement nach zweibezogenen Bänden jederzeit kündbar) Zusammengefasst ist die österreichische Rechtslage imHinblick auf den Interessensschutz von Sexarbeiterinnenunbefriedigend. Was sind nun mögliche Perspektiven einerNeuorientierung Österreichs?In der Europäischen Union lassen sich im <strong>recht</strong>lichenUmgang mit Sexarbeit zwei konträre Entwicklungen festmachen.Zum einen die Anerkennung von sexuellen Dienstleistungenals Arbeit, wie dies etwa in Deutschland der Fallist. Entgegen der Rechtslage in Österreich werden Verträgeüber sexuelle Dientsleitungen für <strong>recht</strong>sgültig erachtet.Auch Dienstverhältnisse sind möglich, jedoch mit eingeschränktemWeisungs<strong>recht</strong> zum Schutz der sexuellen Integrität.Umgekehrt gibt es den Versuch, die Nachfrage überKundenbestrafung abzuschneiden, wie dies von Schwedenheftig gefordert wird.Hinter beiden Lösungsansätzen steht der Wunsch, Frauen<strong>recht</strong>ezu schützen.Die Anerkennung als Arbeit soll Frauen in der Sexarbeitmehr Schutz durch mehr Rechte gewähren. Es wird davonausgegangen, dass bei Vorliegen bestimmter Rahmenbedingungendie Erbringung von sexuellen Dienstleistungen alsfreiwillig und damit als Arbeit zu betrachten ist. Die Kundenbestrafunghingegen ist Konsequenz einer Betrachtungvon Sexarbeit als Frauen<strong>recht</strong>sverletzung. Die Möglichkeit,dass sexuelle Dienstleistungen freiwillig erbracht werdenkönnen, wird kategorisch ausgeschlossen. Auch Sexarbeiterinnenwerden daher als Opfer betrachtet, Kunden hingegenals Täter.Ersterer Weg, die Anerkennung als Arbeit, erscheint mirder vielversprechendere Weg, die Interessen von Sexarbeiterinnentatsächlich zu schützen. Voraussetzung dafür ist, dassder Gesetzgeber bereit ist, dieses Ziel umfassend umzusetzen– eine Voraussetzung, die auch in Deutschland derzeit nochnicht gegeben ist. Die Kundenstrafbarkeit hingegen drängtden Markt in den Untergrund – eine Entwicklung, für die es(auch in Schweden) keine Lösung zu geben scheint und diedie Ausbeutungsgefahr für Sexarbeiterinnen erhöht.Mag. a Marie-Theres Prantner ist Juristin imBundesministerium für Frauenangelegenheiten.Im Rahmen des Masterlehrgangs „InternationaleGenderforschung und Feministische Politik“ desRosa-Mayreder-Colleges in Wien, beendete sie2006 eine <strong>recht</strong>svergleichende Arbeit zu demThema „Sexarbeit -Frauen<strong>recht</strong>sverletzung odereine Arbeit wie jede andere? (abrufbar unterhttp://www.sophie.or.at/category/service/downloads/);marie-theres-prantner@utanet.at.Seite 94 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themasexarbeitSeit 1985 arbeitet der Verein LEFÖ für die Rechte vonMigrantinnen in Österreich und seit über 15 Jahren gibtes einen Arbeitsschwerpunkt zu Migrantinnen, die in derSexarbeit tätig sind. LEFÖ fordert seitdem – gemeinsammit dem Verein maiz in Linz – Rechte für SexarbeiterInnen.Die Verbindung von Migration und Prostitution istein Bereich, in dem in der öffentlichen Diskussion vielerassistische und sexistische Vorurteile reproduziert werden– und gesetzlich eine <strong>recht</strong>loseSituation hergestellt wird.Um auf die <strong>gesellschaft</strong>liche Doppelmoraldiesbezüglich aufmerksamzu machen und die Menschen-, Arbeits-und MigrantInnen<strong>recht</strong>e vonSexarbeiterInnen einzufordern,wurde – erstmals in Österreich– eine bundesweite Kampagne fürdie Rechte von SexarbeiterInnenkonzipiert.Recht auf Information und BeratungSexarbeiterInnen haben viele nigRechten zufrieden geben: SexarbeiterInnenin Österreich sind zueiner behördlichen Registrierung amtsärztliche Untersuchung auf das„Freisein von Geschlechtskrankheiten“vor. SexarbeiterInnen, dienicht EU-BürgerInnen sind, dürfeninnerhalb eines Jahres höchstens 6Monate durchgehend in Österreichin der Sexindustrie arbeiten – eine Maßnahme, die nurdie Nachfrageseite bedient.In diesem Rahmen bietet LEFÖ seit Jahren – und alserste Organisation in Österreich – (muttersprachliche)Information und Beratung durch kulturelle Mediatorinnenfür Sexarbeiterinnen an. Sexarbeiterinnen selbstwerden – unter anderem als Multiplikatorinnen – in dieArbeit einbezogen und sind Teil der gemeinsamen Projekte.Die NGOs in diesem Bereich sind aber – trotz jahre-abgesichert. Im Gegensatz zu anderen europäischenLändern gibt es in Österreich kaum Einrichtungen mitgenügend Ressourcen, die SexarbeiterInnen unterstützen.LEFÖ fordert bereits seit Jahren die langfristigeForderungenGemeinsam mit KollegInnen aus der europäischen undinternationalen SexarbeiterInnenbewegung wird dieUmsetzung der Menschen-, Arbeits- und MigrantInnen<strong>recht</strong>e,die SexarbeiterInnen nach internationalenÜbereinkommen zustehen, gefordert.Für Österreich ganz konkret:• Die Entkoppelung des Regelungsbereichs der Prostitutionaus den Sitten- bzw. Anstandsnormen und diekonsequente Eingliederung in die Materien des Arbeits<strong>recht</strong>s,der Gewerbeordnung und des Vertrags<strong>recht</strong>s.SexarbeiterInnenhaben Lust …auf ihre Rechte!8. März 2007 I InternationalerFrauentag bis 2. Juni 2007I Internationaler Hurentag[Bundesweite Kampagne für die Rechte vonSexarbeiterInnen]• Die <strong>recht</strong>liche Gleichbehandlung und Gleichstellungvon SexarbeiterInnen mit anderen Erwerbstätigendurch die Legalisierung der Prostitution als Erwerbstätigkeit.• Veränderung des Fremden<strong>recht</strong>s:(Abschaffung des „Prostituiertenvisums“) illegalisiertenSexarbeiterInnen möglichkeitfür migrantische SexarbeiterInnen• Schutz vor Gewalt, Diskriminierung, Sexismus undRassismusDie Kampagne „SexarbeiterInnen haben Lust... aufihre Rechte“ ist eine Initiative von LEFÖ Beratung,Bildung und Begleitung für Migrantinnen in Kooperationmit maiz, Autonomes Zentrum von und für Migrantinnenund mit Unterstützung von thekla, die Lobbyfür Frauen in Graz und Frauentreffpunkt Salzburg.Mehr dazu: www.lustauf<strong>recht</strong>e.at<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 95


themasexarbeitWofür steht SOPHIE eigentlich?SOPHIE-BildungsRaum für Prostituierte ist ein Projektim Rahmen der Gemeinschaftsinitiative Equal undbietet in der Sexarbeit tätigen Frauen Unterstützungan. SOPHIE steht für die parteiliche Vertretung dieserFrauen. Die Grundlage unserer Arbeit ist eine akzeptierende,nicht moralisierende Haltung der Sexarbeitgegenüber.In vielerlei Hinsicht ist die Bilanz positiv. Unser Angebotwurde von den Frauen sehr gut angenommen.Es steht ein <strong>recht</strong> breit gefächertes Angebot zur Verfügung.Auch in der Öffentlichkeitsarbeit ist es gelungen,den Diskurs über das Thema zu verstärken. Indieser Hinsicht hat SOPHIE eine wichtige Schnittstellenfunktionwahrgenommen, einerseits durch gezielteInformationsweitergabe von Hintergrundwissen, etwadurch Interviews, Gespräche aber auch durch BesucheWelche Zielsetzungenverfolgt das Projekt, welcheAnsätze?Ziel von SOPHIE-BildungsRaum istdie Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungenvon Frauen in derSexarbeit und Weiterbildung bzw. Unterstützungbei der Integration in den’bürgerlichen’ Arbeitsmarkt. Sowohlaktive als auch ehemalige Sexarbeiterinnenin Wien sind Zielgruppe.Wie wird das von denbetroffenen Frauenangenommen?SOPHIE:einProjektEigentlich durchwegs positiv. Sie wissen,dass sie bei uns in Ihrer Tätigkeitakzeptiert werden und müssen nichterst großartig erklären. Grundsätzlichkann gesagt werden, dass die Phaseeines gelungenen Vertrauensaufbausentscheidend ist. Viele Frauen bringenoft schlechte Erfahrungen im Umgangmit Behörden oder Institution mit bzw. haben vielfachDiskriminierungen auf Grund ihrer Tätigkeit erfahren.Von Cordula Höbart und Eva van Rahdenvon StudentInnen, andererseits durch die Teilnahme anVeranstaltungen und Diskussionsrunden.Gibt es dazu Erfolgsmeldungen?Welche Ergebnisse und Forderungenstellen sich?Ende März erschien eine Fachpublikation von SO-PHIE zum Thema „wenn SEX ARBEIT war…“. Darinwird aus verschiedenen Blickwinkeln das ThemaUmstieg aus der Tätigkeit in der Sexarbeit in einenanderen ’bürgerlichen’ Beruf betrachtet. Meist ist esein sehr langer Prozess. Zwei Interviews zeigen diesehr persönlichen Sichtweisen und Erfahrungen vonzwei Frauen auf. Anhand von Fallbeispielen aus unsererArbeit wird der Beratungsprozess, der laufendwie die verschiedenen Bereiche im Projekt Unterstützunggeben können.Wie ist die Bilanz nach zwei Jahren desProjektes?Aus der Erfahrung der praktischen Arbeit heraus lassensich einige Empfehlungen für die Zukunft ableiten:Wesentlich ist der weitere Abbau von Vorurteilen undStereotypen; die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungenvon Sexarbeiterinnen: Durch das neueFremden<strong>recht</strong> hat sich die Situation einer großen Gruppevon Sexarbeiterinnen, der Migrantinnen, verschärft. Hierwürden wir uns, wie für andere Gruppen, Ausnahmeregelungenwünschen.Mag. a Eva van Rahden ist Projektleiterin,Mag. a Cordula Höbart ist Mitarbeiterin vonSOPHIE; sophie@volkshilfe-wien.at.Die Fragen stellten Mag. a Pia Abel undMag. a Doris Einwallner.Seite 96 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themasexarbeitVom 22. bis zum 24. März 2007 fand erstmals in Wiendie 38. FACHTAGUNG PROSTITUTION, die auf den1985 abgehaltenen „Hurenkongreß“ zurückgeht, statt.Diesmal wurde die Tagung durch das Projekt „SOPHIE-BildungsRaum für Prostituierte“ in Wien ausgerichtet.Neben Mitgliedern der Fachtagung – einer Vernetzungvon Beratungsstellen für Prostituierte, Selbsthilfegruppen,Gesundheitsämter und Sexarbeiterinnen ausDeutschland und Österreich – nahmen erstmals auchVertreterinnen aus Politik, Verwaltung,Interessensverbändenund NGOs teil.Die Projektleiterin von SO-PHIE-BildungsRaum, Eva vanRahden betonte zu Beginn derVeranstaltung: „Ich wünsche mir,dass die Fachtagung den Beginneiner intensiveren Diskussionnicht über Sexarbeit, sondern mitSexarbeiterInnen bedeutet.“Diskutiert wurden in Workshopsunter anderem die <strong>recht</strong>lichenRahmenbedingungen inÖsterreich: Iris Appiano-Kugler(Gender Mainstreaming Beauftragtedes ArbeitsmarktserviceWien) und Elisabeth Holzleithner(Institut für Rechtsphilosophie,Religions- und Kultur<strong>recht</strong>an der Universität Wien) thematisiertenin ihren Statements dieSituation von Frauen am Arbeitsmarktim allgemeinen und derSexarbeiterinnen im Besonderen.Sie hoben hervor, dass dieGleichstellung von Frauen am Arbeitsmarkt nach wievor nicht erreicht ist und die Einkommensschere mehrdenn je auseinanderdriftet. Die SexarbeiterInnen erfahrendurch ihre <strong>recht</strong>lich ungeschützte Position nocheinmal eine besondere Stigmatisierung.Ein weiterer Workshop widmete sich dem ThemaSozialarbeit: Gabriele Wild und Jana Circova (beideMitarbeiterinnen von SOPHIE) gestalteten eine Diskussionsplattformfür Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer.Hier wurde die Frage diskutiert, was dieUnterschiede an Formen der Prostitution in Verbindungmit einer Pluralität von AkteurInnen bewirken und eswurden Schlagworte wie „Partizipation, Peer- Ansätze,Selbstorganisation“ differenziert beleuchtet.Einen Workshop zum Thema „Feministische Theorien:Post-border feminists? Arbeit mit SexarbeiterInnenim transnationalen Kontext“ leiteten Faika AnnaEl-Nagashi (LEFÖ/TAMPEP) und Luzenir Caixeta(MAIZ): Gegenstand waren Theorie und Praxis auf derSuche nach neuen Interventionsmodellen in der Arbeitmit Sexarbeiterinnen in einer Zeit der Internationalisierungder Sexindustrie und der Ent<strong>recht</strong>ung der (v.a.migrierten) sexuellen DienstleisterInnen.Im Workshop „wenn SEX ARBEIT war…“ beleuchtetenunter anderem Johanna Reithner (SOPHIE) undMarie Steindl (SOPHIE, Interkulturelles Zentrum)Um- und Ausstiegsprozesse von Sexarbeiterinnen. Erörtertwurden insbesondere folgende Fragen: Was sinddie notwendigen Rahmenbedingungen für Bildungs- Berichtüber die38. FachtagungProstitutionPia AbelMaßnahmen erfolgreich ein- und umgesetzt werden?Emilija Mitrovic (ver.di Deutschland) referierteschließlich über den Themenbereich „Trade Unionsand Sex Workers Rights / Gewerkschaften und Rechtefür SexarbeiterInnen“. Sie stellte die Arbeit in denGewerkschaften vor und behandelte nicht zuletzt denAspekt, dass Sexarbeiterinnen derzeit noch wenig Interessehaben, sich gewerkschaftlich zu organisieren.Mag. a Pia Abel ist wissenschaftliche Mitarbeiterinam Institut für Österreichischesund Europäisches Öffentliches Recht (IOER),Wirtschaftuniversität Wien;pia.abel@wu-wien.ac.at.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 97


themasexarbeit1. EinleitungMit Sexarbeit, in der <strong>recht</strong>lichen Diktion (noch immer) „Prostitution“1 genannt, setzen sich die Höchstgerichte immerwieder auseinander. Im folgenden Beitrag wird die neuereRechtsprechung des Obersten Gerichtshofes in Zivil- undStrafsachen (OGH) sowie des Verwaltungsgerichtshofes(VwGH) durchleuchtet und dahingehend untersucht, obAnsätze einer Judikaturänderung zu erkennen sind.2. Die Judikatur des OGH in StrafsachenIm Mittelpunkt der zunächst anzustellenden straf<strong>recht</strong>lichenBetrachtung steht eine Entscheidung des OGH betreffendden Straftatbestand der Zuhälterei 2 (§ 216 StGB), der dasAusnützen, die Ausbeutung und die Einschüchterungvon SexarbeiterInnen unter Strafe stellt undsomit intentional deren Schutz dienen soll. Währenddie Ausbeutung eine rücksichtslose Ausnützung der/des SexarbeiterIn unter Hintanstellung ihrer/seinereigenen vitalen Interessen durch Ab- oder Übernahmedes ganzen oder überwiegenden Entgeltsihrer/seiner Tätigkeit durch Einschüchterung, Gewaltoder gefährliche Drohung des/der ZuhälterInerfordert, liegt Ausnützen eines/r SexarbeiterIndann vor, wenn der/die ZuhälterIn für empfangenematerielle Vorteile, die über trinkgeldartige Zuwendungenhinausgehen, keine oder nur eine verhältnismäßiggeringe Gegenleistung erbringt. 3 Mit demTatbestand des Ausnützens (§ 216 Abs 1 StGB) sollsomit das SchmarotzerInnentum im Vorfeld der nurschwer nachweisbaren Ausbeutung erfasst werden.Zur Verwirklichung des Tatbestandes genügt es daher, dassder/die TäterIn materielle Vorteile von dem/der SexarbeiterInannimmt, denen keine entsprechenden Gegenleistungengegenüberstehen. 4In seinem Urteil vom 23.08.2006 hat der OGH uE zueiner beachtenswerten Weiterentwicklung der Auslegungdes Tatbestandsmerkmales „Ausnützen“ im Sinne des § 216Abs 1 und Abs 2 vierter Fall StGB beigetragen. 5 Der Entscheidunglag – soweit aus dem Spruch erkennbar – folgenderSachverhalt zugrunde:Der Angeklagte wurde vom Landesgericht Linz alsSchöffengericht des Vergehens der Zuhälterei nach § 216Abs 2 vierter Fall StGB (idF vor dem StRÄG 2004) schuldigerkannt, „weil er von 01. Oktober 2000 bis Mai 2004in L***** und Le***** mit dem Vorsatz, sich aus der gewerbsmäßigenUnzucht einer anderen Person eine fortlaufendeEinnahme zu verschaffen, insgesamt 12 namentlichgenannten Frauen derart, dass jeweils zumindest zwei davongleichzeitig ausgenützt wurden, einen Teil ihrer Einkünfteaus (in nackt oder nur mit einem Slip bekleidet durchgeführter„Massage“ [auch] des Geschlechtsteils ihrer männlichenKundschaft bestehender) gewerbsmäßiger Unzucht,Sexarbeit in derhöchstgerichtlichenRechtsprechungAlexia Stuefer und Doris Einwallner·································nämlich 40 (von angenommenen 110 oder 80) Euro für eineeinstündige „Massage“ und 30 (von angenommenen 60)Euro für eine halbstündige „Massage“, sowie weitere 1bis 3 Euro – „später“ – 50 Euro pro Monat – für das Beistelleneiner Räumlichkeit, regelmäßige Zeitungsinserate,einen Telefondienst, sowie „allfällige Reinigungsmittel undMassageöle“ „abnahm“.Der dagegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde hat derOGH Folge gegeben. In der Begründung seiner Entscheidungverwies er zunächst auf die bisher zu § 216 StGB ergangenest Rsp, wonach das Tatbestandsmerkmal des „Ausnützens“einer sich prostituierenden Person zu bejahen ist, wenn derTäter für empfangene materielle Vorteile, die – wie in diesemFall –über trinkgeldartige Zuwendungen hinausgehen,keine oder nur eine verhältnismäßig geringe Gegenleistungerbringt. Sodann führte er aus, dass – wie auch im Spruchersichtlich – Feststellungen zum Wert der durch den Angeklagtenerbrachten Gegenleistung fehlten. So hatte das Erstgerichtzwar den Wert der von den Prostituierten an den Angeklagtenerbrachten Leistungen exakt festgestellt, nämlichbungeines Telefondienstes. Der Wert der vom Angeklagtenim Gegenzug erbrachten Leistungen, nämlich regelmäßigeWerbung im Internet und in einschlägigen Druckschriften,sachge<strong>recht</strong> eingerichtete Massagezimmer, einen ständigenTelefondienst zur Vermittlung von Kunden, die Bereitstellungvon Reinigungsmitteln und Massageölen sowie eineEinschulung in die am Kunden vorzunehmende Massagetätigkeitwurde vom Erstgericht hingegen nicht (ziffernmäßig)festgestellt. Ein Vergleich zwischen den – von denProstituierten – erbrachten Leistungen und den – vom Angeklagten– erbrachten Gegenleistungen war daher nichtmöglich. Da es dem OGH nach der Strafprozessordnung1) Der Begriff „Prostitution“ wurde durch dasStraf<strong>recht</strong>sänderungsgesetz 2004 (StRÄG2004) eingeführt und ersetzte die Wortfolge„gewerbsmäßige Unzucht“, vgl § 74 Abs 1 Z9 StGB; vgl zum Begriff auch Prantner, Sexarbeit– die österreichische Rechtslage undEntwicklungen in der Europäischen Union indieser Ausgabe, S 93). Soweit wir auf einzelneJudikate des OGH Bezug nehmen, behaltenwir die Terminologie der Rsp bei.2) Wie Phillip in WK 2 § 216 Rz 1 richtig ausführt,ist die Normüberschrift insofern irreführend,als nicht die Zuhälterei an sichstrafbar ist.3) Vgl Phillip in WK 2 § 216 Rz 7ff.4) Vgl ÖJZ-LSK 1986/3; Kienapfel/SchmollerBT III § 214-217 Rz 27.5) Vgl OGH 23.08.2006, 13 Os 65/06t =EvBl/166 S 863 – EvBl 2006, 863, ÖJZ-LSK2006/224.Seite 98 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themasexarbeit(StPO) verwehrt ist zu entscheidenden schulderheblichenTatsachen selbst Beweise (hier: zum Wert der erbrachtenGegenleistungen des Angeklagten) aufzunehmen, 6 war dieUrteilsaufhebung und Rückverweisung an das Erstgerichtunumgänglich.Hervorzuheben ist für den hier interessierenden Zusammenhang,dass der OGH es nicht bei der Urteilsaufhebungund Zurückverweisung an die erste Instanz belassen hat,sondern der Entscheidung nachfolgende Ausführungen hinzugefügthat: „Zur <strong>recht</strong>sfehlerfreien Beurteilung des Austauschverhältnissesim Sinn eines Ausnützens Prostituiertermüsste in sachverhaltsmäßiger Hinsicht (durch Feststellung)die (solcherart entscheidende) Frage, ob die Leistungdes Angeklagten aus wirtschaftlicher Sicht annähernd derHöhe der an ihn geleisteten Zahlungen entsprach, verneintwerden. Dazu bedarf es bei der vorliegenden Fallgestaltungauf der Begründungsebene – erforderlichenfalls unter Beiziehungeines Sachverständigen – eines Vergleichs mit ähnlichausgestalteten Vertragsbeziehungen des Wirtschaftslebensaußerhalb des Prostitutionsgewerbes. […] Entgegender auf Mayerhofer StGB 5 § 216 E 10a (OLG Innsbruck)gestützten Rechtsauffassung des Schöffengerichtes ist keinGrund ersichtlich, bei der Gegenleistung des Angeklagtendiejenigen Kosten, die dieser vor der ‚Vermietung’ der Räumezu deren Sanierung und Adaptierung aufgewendet hat’außer Betracht zu lassen.“Bemerkenswert ist zunächst, dass der OGH zur <strong>recht</strong>sfehlerfreienBeurteilung des Austauschverhältnisses erstmalseinen Vergleich mit „ähnlich ausgestalteten Vertragsbeziehungendes Wirtschaftslebens außerhalb des Prostitutionsgewerbes“fordert. 7 Zu diesem Zwecke – auch dies erfolgteerstmals – wird die Einholung eines Gutachtens zwar nichtausdrücklich angeordnet, 8 aber doch nahe gelegt. In derAnordnung eines Vergleiches der Sexarbeit mit ähnlichenVertragsbeziehungen des Wirtschaftslebens ist uE der großeVerdienst für die Anerkennung der SexarbeiterInnen zu erbli-auf die <strong>recht</strong>liche Beurteilung 9 der von den SexarbeiterInnenregelmäßig abgeschlossenen Verträge, dennoch lässt sich ausder Formulierung eine explizite Annäherung der Sexarbeitan die sonstigen Vertragsbeziehungen des Wirtschaftslebensableiten. Aber damit nicht genug. Der OGH sah sich zu einerweiteren Klarstellung veranlasst. Während nach der bisherigenRsp Aufwendungen, die der/die Angeklagte vor derVermietung der Räume zu deren Sanierung oder Adaptierungaufgewendet hatte, den SexarbeiterInnen nicht als Gegenleistungaufrechnen konnte, 10 spricht das Höchstgerichtnunmehr ganz klar aus, dass eine derartige Kompensation zulässigist. Auf den ersten Blick erscheint die Klarstellung einVorteil lediglich für den/die ZuhälterIn zu sein, da sich derWert der erbrachten Gegenleistung um die Aufwendungenzur Adaptierung und Sanierung vor der Vermietung erhöht.Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass der OGHeine umfassende wirtschaftliche Betrachtungsweise auf beidenSeiten einfordert. ZuhälterInnen und SexarbeiterInnenwerden als jeweils selbständige WirtschaftspartnerInnenanerkannt. Hervorzuheben ist weiters, dass der OGH in deraufgehobenen Entscheidung Feststellungen zur subjektivenTatseite vermisst, indem er ausführt: „Wird die Frage [gemeint:nach dem Verhältnis der Leistung und Gegenleistung]verneint, ist die – mängelfrei begründete – Feststellung vonnöten,dass der Angeklagte dieses Missverhältnis gegenüberähnlichen Fallgestaltungen des Wirtschaftslebens außerhalbdes Prostitutionsgewerbes erkannte (§ 5 Abs 1 StGB). Sollteim fortgesetzten Verfahren erwiesen werden, dass die Leistungdes Angeklagten aus wirtschaftlicher Sicht nicht annäherndder Höhe der an ihn geleisteten Zahlungen entsprach,müsste zudem festgestellt werden, dass er diese Abweichungerkannte. An und für sich fordert das Höchstgericht selbstverständlicheFeststellungen ein: Ein Schuldspruch wegeneiner strafbaren Handlung ist erst bei Vorliegen (und <strong>recht</strong>sfehlerfreienFeststellung) des objektiven und des subjektivenTatbestandes möglich. Indem der OGH nunmehr auch für dieFeststellung der inneren Tatseite einen Vergleich mit „ähnlichenFallgestaltungen des Wirtschaftslebens außerhalb desProstitutionsgewerbes“ einmahnt, lässt er erneut erkennen,dass er die Sexarbeit an sonstige damit vergleichbare Vertragsbeziehungenannähert. Eine Verurteilung wegen Zuhältereiist somit nur nach einem umfassenden Vergleich derwirtschaftlichen Verhältnisse des betreffenden Betriebes mitähnlichen Unternehmungen möglich.Aus straf<strong>recht</strong>licher Sicht ist resümierend festzuhalten,dass die Entscheidung des OGH wichtige Klarstellungenfür die Auslegung des Tatbestandsmerkmales „Ausnützen“iSd § 216 StGB bringt und mit dem geforderten Vergleichder Sexarbeit mit Vertragsbeziehungen des sonstigen Wirtschaftslebenseine Aufwertung derselben einhergeht.3. Sexarbeit in der zivil<strong>recht</strong>lichenRechtsprechungNach st Rsp des OGH in Zivilsachen gelten die von SexarbeiterInnenabgeschlossenen Verträge als sittenwidrig iSd §879 ABGB. Rechtlich folgt daraus, dass eine Person, die einesexuelle Dienstleistung in Anspruch genommen hat, die Bezahlungdes vereinbarten Entgeltes unter Berufung auf dieNichtigkeit des Vertrages verweigern kann. Die Gründe fürdiese Rechtsansicht hat der OGH in seiner Leitentscheidung3 Ob 516/89 11 unter Bezugnahme auf die österreichischeund deutsche Lehre und Rsp ausführlich dargelegt. So würden Leichtsinn, die Unerfahrenheit, die Triebhaftigkeit und dieTrunkenheit von Personen ausgenützt.“ Aus § 566, § 865und § 879 Abs 2 Z 4 ABGB ergebe sich, „dass ein solchesVerhalten dem Geist der Rechtsordnung“ widerspreche. Fürdie Sittenwidrigkeit spreche weiters „eine zu missbilligendeKommerzialisierung (…), eine Beeinträchtigung des Per-6) Vgl § 288 Abs 2 Z 3 zweiter Satz StPO;§ 285f StPO; Ratz WK-StPO § 281 Rz 598f.7) Der OGH lässt offen, welche „ähnlich ausgestaltetenVertragsbeziehungen des Wirtschaftslebens“er ins Auge fasst. Nahe liegendwären uE Dienstleistungsverträge im Bereichder (Heil-)Massage (vgl § 94 Z 4 Gewerbeordnung).8) Im Falle der expliziten Anordnung hätte derOGH wohl auf das Wort „erforderlichenfalls“verzichtet.9) Nach st Rsp sind Verträge über „die geschlechtlicheHingabe gegen Entgelt“ nach §879 ABGB sittenwidrig; vgl dazu unten 3.10) Vgl Mayerhofer StGB 5 § 216 E 10, OLGInnsbruck 01.09.1984, 7 Bs 418/94.11) OGH 28.06.1989, 3 Ob 516/89 = SZ62/123; JBl 1989, 784 = EvBl 1990/13.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 99


themasexarbeit Familien<strong>recht</strong> Univ.-Prof. Dr. Monika Hinteregger Tel.: 01- 610 77 - 315, Fax: - 589order@verlagoesterreich.atwww.verlagoesterreich.atsönlichkeitsschutzes und eine Gefahr für familien<strong>recht</strong>licheInstitutionen (…). All dies treffe auf die Prostitution zu,die sich – so der OGH weiter – „insbesondere gegen dieInstitution der Ehe [richtet], weil sie oft zu Ehebruch führt(…).“ All diese Gründe „führen jedenfalls in ihrer Gesamtheit“zur <strong>recht</strong>lichen Beurteilung, Verträge über sexuelleDienstleistungen seien sittenwidrig. 12An dieser Rsp hat der OGH seither festgehalten. DieBegründung des Höchstgerichtes für die Sittenwidrigkeitspricht für sich, sodass sich eine Kommentierung eigentlicherübrigt. Hervorzuheben ist an dieser Stelle nur, dassdie Begründung der Entscheidung uE zu einem tendenziellsexistischen Ergebnis führt. Nach dem Tenor der E sollenjust jene Personen, die die sexuellen Dienstleistungen inAnspruch nehmen (zum größten Teil Personen männlichenGeschlechts) sowie „familien<strong>recht</strong>liche Institutionen“ geschütztwerden. Dass auch jene Personen, die die sexuelleDienstleistung bereits erbracht haben (zum größten TeilPersonen weiblichen Geschlechts), durch die Rechtsordnung(auch vermögens<strong>recht</strong>lich) geschützt werden (müssen),wird stillschweigend übergangen. So gesehen, dürfen(meist männliche) Personen, zwar eine sexuelle Dienstleistungin Anspruch nehmen, werden aber von der Rsp davorgeschützt, ihren (meist weiblichen) VertragspartnerInnendas vereinbarte Entgelt bezahlen zu müssen. Eine Differenzierung,die sämtlichen der Rechtsordnung zugrunde liegendenGrundsätzen widerspricht. Wie Weitzenböck in ihrerEntscheidungsbesprechung überzeugend dargelegt hat, istdie Sittenwidrigkeit weder methodisch noch sachlich zu<strong>recht</strong>fertigen: Bei richtiger Betrachtung der Rechtsordnunggelingt es nicht, aus ihr einen Grundsatz abzuleiten, derdurch Sexarbeit gröblich verletzt wird. Weder die Institutionder Ehe wird durch sie gefährdet, noch ist außerehelicherGeschlechtsverkehr „unsittlich“. Ebenso wenig wird derPersönlichkeitsschutz der SexarbeiterInnen beeinträchtig,wenn sie sich freiwillig für diese Tätigkeit entscheiden. 13Ob der OGH anlässlich einer weiteren Befassung seineRsp ändern wird, erscheint fraglich, obwohl in der jüngerenerste Senat über die von einer Telefonnetzwerkbetreiberineingeklagten Entgelte für in Anspruch genommene besondereDienste („Sex-Hotlines“) zu entscheiden. Obwohl er zumSchluss kam, dass es in diesem Fall für die Entscheidungnicht auf die Frage der Sittenwidrigkeit ankomme, führte eraus: „Wenngleich in Österreich eine dem mittlerweile in derBundesrepublik Deutschland in Kraft getretenen Prostitutionsgesetz(BGBl 2001 I/74), wonach Vereinbarungen übergegen vorher vereinbartes Entgelt vorgenommene sexuelleHandlungen eine <strong>recht</strong>swirksame Forderung begründen,vergleichbare Bestimmung nicht existiert, sprechen den-12) AA Weitzenböck, Die geschlechtliche Hingabegegen Entgelt, JAP 1990/91, 14.13) Vgl Weitzenböck, JAP 1990/91, 14.Seite 100 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themasexarbeitnoch nach Ansicht des erkennenden Senates gewichtigeGründe dafür die Sittenwidrigkeit von Verträgen über „Telefonsex“zu verneinen: Neben dem bereits vom Bundesgerichtshofangesprochenen Wandel der Moralvorstellungensind wohl auch die von Lehre und Rechtsprechung mehrfachhervorgehobene Tatsache des mangelnden Kontaktes undder Umstand, dass nicht der Intimbereich der Anbieterinzur Ware degradiert wird, sondern dass diese lediglicheine davon losgelöste stimmlich-darstellerische Leistungschuldet, bedeutsam. Auch das Argument, diese Facettedes Sexualverhaltens vermeide einerseits die Berührungmit der oftmals mit Prostitution zusammenhängenden Kriminalitätsowie die Gefahr der Ansteckung und ermöglicheandererseits den bei diesen Diensten beschäftigten Frauenden Gelderwerb ohne körperliche Hingabe, ist nicht ohneweiteres von der Hand zu verweisen.“ 14 Diese Argumentationwurde vom zweiten Senat des OGH wenige Wochenspäter bekräftigt. 15Begrüßenswert ist, dass das Höchstgericht in beidenFällen ausführlich zur Frage der Sittenwidrigkeit Stellungnimmt 16 und – wenngleich unter Berufung auf die Jud desdeutschen Bundesgerichtshofes – einen Wandel der Moralvorstellungenkonstatiert. Alle weiteren Argumente, dienach Ansicht des OGH gegen die Sittenwidrigkeit der Verträgeüber Telefonsex sprechen sollen, wie insbesondere dermangelnde körperliche Kontakt und die dadurch vermeidbareDegradierung des Intimbereiches als Ware sowie dieGefahr der Ansteckung, sind jedoch abzulehnen. Sie stützenimplizit die oben zitierte Entscheidung 3 Ob 516/89 17 unddamit weiterhin eine benachteiligende und sexistisch gekennzeichneteHerangehensweise an die Thematik.4. Sexarbeit in der verwaltungsgerichtlichenRechtsprechungDer VwGH hatte sich mit dem Thema Sexarbeit – soweitüberblickbar – bisher in den Bereichen des Steuer- unddes Ausländerbeschäftigungs<strong>recht</strong>es zu befassen. Wirklichneue Entwicklungen in der jüngeren Judikatur sindnicht festzustellen. Vielmehr hat der VwGH bereits in den1980er Jahren klargestellt, dass Einkünfte aus der Prostitution– unabhängig davon, ob der zugrunde liegende Vertragliegen.18 Nicht neu ist auch die Ansicht des VwGH, dassSexarbeit durch Drittstaatsangehörige – sofern sie nicht alsselbständige Tätigkeit ausgeführt wird – dem Ausländerbeschäftigungsgesetz(AuslBG) und damit der Bewilligungs- AuslBG gilt neben der Verwendung in einem Arbeitsverhältnisunter anderem auch die Verwendung in einem arbeitnehmerInnenähnlichenVerhältnis. 19 „Arbeitnehmerähnlichist eine Rechtsbeziehung, wenn der Beschäftigte persönlichnicht weisungsgebunden, wirtschaftlich aber abhängig ist.Dabei liegen zwar die dienstvertraglichen Tatbestandsmerkmalenach § 1151 Abs. 1 ABGB vor, es fehlt aber diepersönliche Abhängigkeit“. 20terInnenin einschlägigen Lokalen in st Rsp als zumindestarbeitnehmerInnenähnlich. In einer Entscheidung aus demJahr 1999, es handelte sich um ein Verwaltungsstrafverfahrennach dem AuslBG gegen einen Bordellbetreiber, führteder VwGH folgendes aus: „Die Ausübung der Prostitutionder Ausländerinnen im Animierclub des Beschuldigtenunter Beteiligung am Umsatz (auch an den verkauften Getränken)ist auf Grund der wirtschaftlichen Gestaltung desabgeschlossenen Vertrages als Verwendung unter ähnlichenwirtschaftlichen und sozialen Bedingungen wie Arbeitneh- 21Dem Einwand des Beschuldigten, dass ArbeitnehmerIn- AuslBG auch deshalb nicht vorliegen könnten, weil eineAnmeldung für diese Tätigkeit bei der Sozialversicherungnicht möglich sei, entgegnete der VwGH, dass für die Beurteilung,ob Beschäftigungsverhältnisse nach dem AuslBGvorgelegen sind oder der Bordellbetreiber Arbeitgeber imSinne des AuslBG ist, die Frage der Zulässigkeit der Anmeldungbei der Sozialversicherung bzw ob Anmeldungenbeim zuständigen Sozialversicherungsträger gescheitertwären, unerheblich ist. 22Interessant daran ist die völlig andere, vom OGH inZivil<strong>recht</strong>ssachen abweichende, Herangehensweise desVwGH. Er wendet im Grunde Kriterien für die Einstufungals arbeitnehmerInnenähnliche Tätigkeit an, die imLichte der OGH-Judikatur zur Sittenwidrigkeit bedenklicherscheinen. Gerade die wirtschaftliche Unselbständigkeitbzw die Abhängigkeit vom/von der ArbeitgeberIn dürften jader vom OGH konstatierten Gefahr des Ausnützens schutzwürdigerPersonen und der Kommerzialisierung der sexuellenIntegrität Vorschub leisten. Konsequent gedacht folgtdaraus scheinbarer Paradoxes: Die von SexarbeiterInnen regelmäßigabgeschlossenen Verträge unterliegen trotz ihrerSo sehr die Herangehensweise des VwGH an das Themanommenbzw anerkannt wird, zu begrüßen ist, so sehr führtdie dargestellte Divergenz aber auch zu einer mehrfachenBenachteiligung von (drittstaatsangehörigen) Sexarbeite-im Übrigen mit denselben Rechten ausgestattet zu sein, wie- AuslBG, aus der SexarbeiterInnen jedoch keine durchsetzbarenRechte, insbesondere die Einklagbarkeit ihrer Honorare,erwachsen (sollen), weil die zugrunde liegendenVerträge nach Ansicht des OGH gegen die guten Sitten verstoßen(würden), zeichnet aber ein besonders krasses Bild.14) Vgl OGH 27.05.2003, 1 Ob 244/02t.15) Vgl OGH 12.06.2003, 2 Ob 23/03a.16) In 1 Ob 244/02t wäre dies nicht notwendiggewesen, da aus Sicht des OGH nicht entscheidungswesentlich;sehr wohl aber in 2 Ob23/03a.17) OGH 28.06.1989, 3 Ob 516/89 = SZ62/123; JBl 1989, 784 = EvBl 1990/13.18) VwGH 16.02.1983, 82/13/0208.19) Vgl §§ 1 und 2 AuslBG.20 VwGH 30.01.2007, 2004/21/0038.21) VwGH 10.2.1999, 98/09/0331; vglauch VwGH 2. 9. 1993, 92/09/0322, VwGH17.11.1994, 94/09/0195; VwGH 6.11.2006,2005/09/0112 u.v.a.22) Vgl dazu auch VwGH 18.11.1998,96/09/0366 und die dort zitierte Vorjudikatur.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 101


themasexarbeitPleischl/Soyer (Hg.)Gesetzbuch, 8. Auflage, Stand 1.1.2007682 Seiten, br., 978-3-7046-5005-4, 22,50,Abo- und Hörerpreis mit folgenden Neuerungen: Straf<strong>recht</strong>sänderungsgesetz 2006 Betrugsbekämpfungsgesetz 2006 Strafprozessreformgesetz als Anhang Es überrascht in diesem Zusammenhang auch nicht mehr,dass derartige Bewilligungen praktisch nie erteilt werden,dass aber die Aufnahme einer Tätigkeit als SexarbeiterInohne eine solche – auch – mit einem Aufenthaltsverbotsanktioniert werden kann.5. SchlussfolgerungenResümierend ist festzuhalten, dass Ansätze einer Weiterentwicklungzu erblicken sind. Die Höchstgerichte sind bemüht,<strong>gesellschaft</strong>lichen Problemstellungen Rechnung zu tragen,wobei die neuere straf<strong>recht</strong>liche und die verwaltungsgerichtlicheRsp hervorzuheben sind. Immerhin wird Sexarbeit zumindestals arbeitnehmerInnenähnlich gewertet, nicht zuletztaber als grundsätzlich zulässige Beschäftigung anerkannt.Zwar bewegt sich – wie aufgezeigt – auch die zivil<strong>recht</strong>licheJudikatur, greift aber – mit der grundsätzlichen Auf<strong>recht</strong>erhaltungder Sittenwidrigkeit – entschieden zu kurz. Geradeim Bereich des Zivil<strong>recht</strong>s wäre ein klarer Schritt hin zur umfassendenAnerkennung der Tätigkeit aber besonders wichtig,insbesondere um die aufgezeigten Problemstellungenzu vermeiden. Derzeit drängt sich ein Eindruck besondersstark auf; dass Sexarbeit nämlich dort, wo es um die Rechtein jenen Bereichen aber, die vor allem staatliche Interessenberühren, hingegen schon, aber auch hier nur soweit, als diesnotwendig ist, um Einschränkungen vorzunehmen.Mag. a Dr. in Alexia Stuefer ist Rechtsanwältinin Wien und Mitherausgeberin des <strong>juridikum</strong>;stuefer@anwaltsbuero.at.Mag. a Doris Einwallner ist Rechtsanwältinund Redaktionsmitglied des <strong>juridikum</strong>;doris.einwallner@chello.at.Seite 102 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themasexarbeitNach neueren Schätzungen ist der Wirtschaftsfaktor Prostitutionin Deutschland durchaus beachtlich. Der Umsatzliegt bei 14,5 Mrd. Euro jährlich. Das entspricht nahezudem Umsatz der Karstadt Quelle AG mit 15,2 Mrd. oderder MAN AG mit 15,0 Mrd. Euro. 1 Dennoch ist das Thema– auch nach der Legalisierung im Jahr 2002 – weiterhin einTabu. Nur an wenigen Universitäten wird es überhaupt zuKenntnis genommen, darüber gelehrt oder geforscht. DieBigotterie und Doppelmoral im Umgang mit Prostitutionund den handelnden Subjekten, den Prostituierten, wirdnicht nur in der Politik deutlich – wo Krokodilstränen überdie Opfer von Frauenhandel vergossen werden, während diegleichen konservativen Kreise die Rechte für Prostituiertewieder zurückschneiden wollen. Sie ist auch im Bereichder Wissenschaften zu erkennen, wo das Themaentweder ignoriert oder immer noch als deviantesHandeln von Seiten der Prostituierten stigmatisiertwird. Bereits August Bebel beschrieb und kritisiertedie Doppelmoral der »hohen Herren« in Deutschland,die regelmäßig in den Bordellen anzutreffenwaren, Ende des 19. Jahrhunderts folgendermaßen:„Da gehen Minister, hohe Militärs, Volksvertreter,Richter usw. neben den Repräsentanten der Geburts-, Finanz-, Handels- und Industriearistokratie ausund ein, Männer, die am Tag und in der Gesellschaftals Vertreter und Wächter von Moral, Ordnung, Eheund Familie gar würdevoll einherschreiten ... und ander Spitze der Vereine zu Unterdrückung der Prostitutionstehen.“ 2Für die neuere Geschichte seit Beginn des 20. Jahr- Schulte in ihren Buch Sperrbezirke 1979 zusammengetragenwurden, die eine gezielte Kriminalisierung und Stigmatisierungder Prostituierten als staatliche Strategie nachweisen.So wurde 1902 in Berlin eine Polizeivorschrift erlassen, diees den Prostituierten untersagte, eben auf den Straßen undPlätzen tätig zu werden, wo sich die Prostitution gerade ammeisten ausbreitete. Dadurch wurden die Orte, an denen Prostitutionstattfand, identisch mit kriminalisiertem Raum. DiePolizeivorschriften sollten der Polizei die totale Kontrolleder Prostituierten ermöglichen. Durch Individualisierung undPathologisierung „wird es der einmal kriminell gewordenenund registrierten Frau fast unmöglich gemacht, eine Existenzstatiert:Die Prostituierte, „die immerhin die Stütze der patriarchalischmonogamen Gesellschaft sein soll“ (S. 47) wirdkriminalisiert und mit ihr wird jeder, der in engem Zusammenhangzu ihr steht, sei es Pächter, Zuhälter, Wirtschafter aus derGesellschaft ausgegrenzt – nur der Kunde nicht. 3Während des Nationalsozialismus wurden Prostituierteals „gemeinschaftswidrige Elemente“ und als „Volksschädlinge“verfolgt und eingesperrt bzw. interniert. Gleichzeitigjedoch versuchte der Staat sich die Dienstleistungen der Prostituiertenzunutze zu machen. Der unglaubliche Höhepunktder Doppelmoral im NS Staat wurde mit der Einrichtungvon Wehrmachtsbordellen in Frankreich und Polen deutlich.Später wurden Bordelle für Fremdarbeiter eingerichtet (dazuwurden Frauen aus den besetzten Gebieten »rekrutiert«) undes wurden Bordelle für SS-Mannschaften und Bordelle inKonzentrationslagern für Funktionshäftlinge errichtet, in denenFrauen unter schlimmsten Bedingungen zu Prostitutiongezwungen wurden. 4Nach dem 2. Weltkrieg war Prostitution in Deutschlandzwar nicht ausdrücklich verboten, aber sie blieb bis zumSexarbeit in derBundesrepublikDeutschland undgewerkschaftlicheInteressensvertretung·································Jahre 2002 im Bürgerlichen Gesetzbuch als sittenwidrig die bürgerlichen Rechte – wie das Einklagen können desvereinbarten Lohnes – verwehrt. Durch eine Reihe von Gesetzen,die sich auf die Förderung der Prostitution sowiedie Zuhälterei bezogen, wurde die Ausübung der Prostitutionerschwert, behindert und in eine Grauzone zwischenIllegalität und Kriminalisierung gedrängt. Die Tätigkeit derProstituierten verwehrte den Frauen den Zugang zu einerKranken- und Sozialversicherung, ihr Einkommen war al-Nach der langen Phase der <strong>gesellschaft</strong>lichen Stigmatisierungund Ausgrenzung, hat die rot-grüne Regierung eine Gesetzeslagegeschaffen, die auf die Gleichstellung der Prostitutionmit anderen Arbeitsbereichen abzielt. 5 Das am 1.1.2002in Kraft getretene Prostitutionsgesetz (ProstG) regelt diezivil<strong>recht</strong>lichen, arbeits- und sozial<strong>recht</strong>lichen Beziehungenzwischen den Prostituierten und deren Kunden/innen und Arbeitgebern/innen.6 Zusammengefasst ergeben sich aus demGesetz folgende Veränderungen:1) Vgl Aufklärung und Kritik, Erlangen,2/2003.2) Bebel in: Die Frau und der Sozialismus,1879.3) Regina Schulte, Sperrbezirke: Tugendhaftigkeitund Prostitution in der bürgerlichenWelt, Frankfurt am Main 1979.4) Christa Paul, Zwangsprostitution, Berlin1994.5) Drucksache im Bundestag 14/5958.6) Dem Prostitutionsgesetz in Deutschland warengravierende Gesetzesänderungen in Holland undSchweden vorausgegangen, die sich aus <strong>recht</strong>svergleichenderSicht sehr polarisiert gegenüber stehen(vgl hierzu in dieser Ausgabe Prantner). Mit derVerabschiedung des Gesetzes „Kvinnofrid – Friedefür die Frauen“ am 1.1.1999 ist in Schweden zwardie Ausübung der Prostitution nicht strafbar, jedochwird der Kauf sexueller Dienstleistungen unter Strafegestellt. „Wer sich gegen Vergütung eine zufälligesexuelle Beziehung beschafft, wird – wenn die Tatnicht mit einer Strafe nach dem Strafgesetzbuchbelegt ist – für den Kauf sexueller Dienste zu einerGeldstrafe oder zu einer Gefängnisstrafe vonim Höchstfall sechs Monaten verurteilt.“ Das Interesseder schwedischen Regierung war nicht dieGleichstellung der SexarbeiterInnen mit anderen<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 103


themasexarbeit Prostituierte haben das Recht, in Ausübung ihres BerufesSozialabgaben abzuführen und entsprechende Leistungenin Anspruch zu nehmen (Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung) Prostituierte haben die Möglichkeit, Verträge mit ihren Arbeitgeber/-innen(Bordell-, Bar- und Clubbesitzer/innen)abzuschließen und haben somit Anspruch auf Arbeitnehmer/innen<strong>recht</strong>ewie bezahlten Urlaub, Lohnfortzahlungim Krankheitsfall etc. Der Paragraph, der die Förderung oder Begünstigung derProstitution kriminalisiert, wurde abgeschafft. Somit wirddie Bereitstellung von Kondomen und hygienischen Verbesserungennicht mehr unter Strafe gestellt. Ein Kunde, der den angemessenen und vorher vereinbartenPreis für die erbrachte Leistung nicht bezahlt, kann jetztstraf<strong>recht</strong>lich verfolgt werden.Die Intention des Gesetzgebers war es, die Prostituierten aufsozialer und <strong>recht</strong>licher Ebene besser zu stellen. Doch dasneue Gesetz zur Verbesserung der <strong>recht</strong>lichen und sozialenLage von Prostituierten ist ein Kompromiss, der nach langwierigenDebatten zwischen außerparlamentarischen Expertinnenaus Beratungsstellen für Prostituierte und Betroffenenauf der einen Seite und den Bundestagfraktionen auf der anderenSeite gefunden wurde. Es bedeutet für die Prostituiertenin Deutschland einen ersten Schritt im Sinne der Anerkennungihrer Tätigkeit und der Garantie ihrer Rechte in sozialen undarbeits<strong>recht</strong>lichen Bereichen.Bericht der Deutschen BundesregierungEnde Januar 2007 legte das Ministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend nach 5jähriger Laufzeit den Berichtzu den Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes in Deutschlandvor. Familienministerin Ursula von der Leyen nanntees eine ernüchternde Bilanz: „Das Gesetz hat sein Ziel nurin Teilen erreicht. Es konnte die soziale Situation der Prostituiertennicht wirklich verbessern“, beklagt sie auf der Pressekonferenzam 24.1.2007. 7 Wie auch, wenn die Länder undGemeinden sich in weiten Teilen weigern, das Gesetz in derPraxis umzusetzen. So kritisiert die Grünen-Politikerin IrmingardSchewe-Gerigk, die das Gesetz unter der rot-grünenBerufsgruppen, sondern langfristig die Abschaffungder Prostitution. Dabei stehe nicht der Bestrafungsgedankeim Vordergrund, sondern das Un<strong>recht</strong>sbewusstsein:„Das Allerwichtigste ist der Symbolwertund die Schaffung eines Tabus.“ In Holland dagegenwurde Prostitution im Jahre 2000 legalisiert; damitsind Arbeitsverträge zwischen Bordellbetreibern undProstituierten zulässig, die die Arbeitsbedingungenregeln und eine Absicherung der Rechte sowie einenhöheren Standard der hygienischen Bedingungenin den Bordellen festschreiben sollen. Bordelle (unddamit auch die Prostituierten) sind auf diese Weisestärker ins Visier der staatlichen Stellen gerückt undregelmäßigen Kontrollen unterworfen, TAZ-Beilage„Kunst Mythos Realität SEXWORK, Berlin 25.2.2007S.2). Es gibt von diesen beiden Polen ausgehendin den europäischen Mitgliedstaaten ganz allgemeineine sehr inhomogene Situation der Regelungenüber Prostitution, die für die Betroffenen, für die Sexarbeiterinnen,sehr oft Willkür bedeuten (vgl umfassendThe Declaration of the Rights of Sex Workers inEurope , October 1005, Brussels, Belgium).7) Kritik an dem ProstG in Deutschland wurde zuvorauch von der bundesweiten AG Recht, der FachtagungProstitution/ Hurenkongress geübt (BundesweiteAG Recht, Pressemitteilung, Nürnberg2.11.2006).Seite 104 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themasexarbeitKoalition mit auf den Weg gebracht hatte, dass etliche Länderdie nötigen Änderungen ihrer Gewerbe- und Gaststättenverordnungenverhindert hätten und mit Sperrgebietsverordnungendas Gesetz unterlaufen. Immerhin, die Bayern-CSU,die eine Rücknahme des Gesetzes und die „Förderung derProstitution“ wieder unter Strafe stellen wollte, konnte sichTätigkeit bleibt in Deutschland legal. Allerdings soll es einestärkere Eingrenzung der legalen Prostitution geben: mit Ge-sollen Bordelle künftig lizensiert und stärker kontrolliert werden,Freier von Zwangsprostituierten sollen bestraft werdenund das Mindestalter für die freiwillige Prostitution wird auf18 Jahre festgelegt. „Prostitution mit unter 18jährigen wird inKürze strafbar“ kündigte die Ministerin an. Konkrete Verbesserungenfür Prostituierte, die ihren Job legal ausüben wollen,soll es jedoch nicht geben. So soll das Werbeverbot für Prostitution,das die Preise für Anzeigen hochtreibt, auf<strong>recht</strong>erhaltenwerden. Ebenso die Sperrgebietsverordnungen, die jedeGemeinde willkürlich festsetzen kann. 8Das Prostitutionsgesetz ist für die meisten Migrantinnen,nämlich für jene ohne legalen Aufenthaltstatus, vollkommenunwirksam.Frauen in der MigrationFrauen und Kinder machen weltweit 80 % aller Flüchtlingeaus. 9 Nach Angaben der ILO (International Labor Organisation)sind etwa die Hälfte der 100 Millionen Arbeitsmigrant-Innen in regulären Arbeitsverhältnissen weiblich. Diese Entwicklungist eine Folge der globalisierten Nachfrage nachund auch in der Sexindustrie. „Diese als Feminisierung derMigration bezeichnete Entwicklung wird teilweise als Folgedes Globalisierungsprozesses interpretiert. Dieser mobilisiertFrauen zur Migration, weil sie vor allem in der häuslichenDienstleistungsökonomie generell zunehmend eine Lohnarbeit 10 Zu den Motiven wie Armut und politische Verfolgungzu:die Diskriminierung und Benachteiligung in patriarchalenGesellschaften bieten ihnen weniger Zugang zu Bildung undBerufsausbildung, sie verdienen weitaus weniger als die Män-der Kinder und das ökonomische Überleben der ganzen Familie von Pässen und Visa, sowie der Transportmittel, um den Wegüberhaupt antreten zu können. Trotzdem halten auch Abschreckungskampagnennicht von der Migration ab. Die unabhängigeMigration von Frauen; welche nicht durch die Migrationeines anderen Familienangehörigen begründet ist, ist heuteinnerhalb der Ströme globale Realität. 11Migration und SexarbeitWir nehmen einerseits die Feminisierung der Armut wahrund als Konsequenz die Entscheidung vieler Frauen in derProstitution tätig zu werden. Weltweit gehen hauptsächlichFrauen der Prostitution nach, um sich selbst und ihre Familienzu ernähren. In Brasilien z.B. sollen es eine Million Frauensein, die von der Sexarbeit leben. Auf der anderen Seite wirdvon der FrauenArbeitsMigration gesprochen. Die neuenWeltstrukturen haben massive Migrationsbewegungen verursacht,in denen Prostitution eine Tätigkeit ist, die bewusstwährend des Migrationsprozesses und im Gastland ausgeübtwird. Es werden heutzutage russische Frauen in Dubai angetroffensowie Thailänderinnen in Tokio und Brasilianerinnenin Tel Aviv. Diese internationale Dimension der Prostitutionist auch in Europa zu beobachten. Laut einer bundesweitenUmfrage von TAMPEP 12 in 2005, bilden in fast allen „alten“EU-Ländern Migrantinnen derzeit die Mehrheit der gesamtenSexarbeiterinnen im Lande. In Österreich und Italien sind esum die 80% – in Deutschland sind es 60%. Die Lage, in derdiese Frauen in der EU leben und arbeiten, ist von Rechtlosigkeitgeprägt. Sie ist Folge des begrenzten Zugangs zu einemlegalen Migrationsprozess und zum legalen Arbeitsmarkt.Aus dem illegalisierten Aufenthaltstatus ergeben sich direkteAuswirkungen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen dieserFrauen: Sie sind stärker Gewalt und gesundheitlichen Risikosituationenausgesetzt. Sie haben weniger Zugang zu Informationen und Beratungsstellen. Sie verzichten aus Angst vor Abschiebung und anderenRepressalien darauf, Anzeige gegen Täter zu erstatten.Es sind die immer restriktiver und repressiver werdenden europäischenMigrationsgesetze, die bewirken, dass Frauen sogenannte „dritte Personen“ brauchen, um in den Migrationsprozesseinzusteigen. Dies macht sie zu einer leichten Beutefür von Abhängigkeit und Ausbeutung geprägte Verhältnisseund im schlimmsten Fall für den Frauenhandel. Diese restriktivenund repressiven Maßnahmen resultieren unter anderemdaraus, dass in der EU heutzutage, Zwangsverhältnisse mitillegaler Migration gleichgesetzt werden. Sexarbeiterinnenwerden hierbei lediglich als Opfer gesehen und Sexarbeitwird meistens mit der organisierten Kriminalität und demSchutz der Grenzen assoziiert. Beides sollte aber getrenntbehandelt werden: ja, Frauenhandel ist eine Verletzung derMenschen<strong>recht</strong>e und soll bekämpft werden. Sexarbeit hingegenist Arbeit. Es ist eine Aktivität, die weltweit von Frauen,Männern, Transvestiten und Transsexuellen, in deren Heimatsowie während des Migrationsprozess selbstbestimmtausgeübt wird.EU-Osterweiterung und ihre Konsequenzenfür SexarbeiterinnenDie EU-Osterweiterung hat mittlerweile wesentliche Veränderungenmit sich gebracht: Es ist für BürgerInnen der neuen8) Vgl FR und TAZ vom 25.1.2007.9) Vgl in dieserAusgabe Broucek, Die sichtbar Unsichtbaren10) Regula Weiss, Macht Migration krank?, Zürich2003, S. 57.11) Vgl Petrus Han, Frauen und Migration, 2003. Dieabhängige Migration umfasst demgegenüber alleMigrantinnen, die – mit oder ohne weitere Familienangehörige– ihren bereits migrierten Ehemännernoder Vätern nachmigrieren, kurzum, der Bereich,der im allgemeinen als Familienzusammenführungbezeichnet wird.12) Vgl http://www.tampep.com , Stand 23.03.2006,ein europäisches Projekt vertreten in 24 Länden; inDeutschland von Amnesty for Women getragen.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 105


themasexarbeitEU-Staaten viel leichter geworden, sich in den europäischenLändern als Selbständige zu etablieren. Diejenigen, die in derSexindustrie tätig sein möchten, müssen das nicht angeben.Sie müssen sich in Deutschland beim Einwohnermeldeamtanmelden, bestätigen, dass sie als Selbständige arbeiteneine Krankenversicherung verfügen. Und sie müssen sich eineSteuernummer beim Finanzamt holen. Damit erhält die Personeine unbefristete Freizügigkeitsbescheinigung und kannselbständig und legal arbeiten. Die Anzahl von Frauen derneuen EU-Länder in der westlichen Sexindustrie ist in der Folgeenorm gestiegen. In Deutschland z.B. trifft man vermehrtFrauen aus Polen und den Baltischen Ländern, in den NiederlandenFrauen aus Ungarn. Es handelt sich dabei nicht nur umeine Frage der Quantität, sondern auch um eine der Qualität:die Mobilität dieser Gruppe ist durch die Visumsfreiheit unddie Grenznähe größer geworden. 13 Dies stellt insbesondereauch die Gewerkschaftsbewegung vor Herausforderungen.Gewerkschaften und SexarbeitDie Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat gleich nachInkrafttreten des ProstG 2002 beschlossen, auch für die Arbeits<strong>recht</strong>evon Sexarbeiterinnen einzutreten. In dem Statementzu den gewerkschaftlichen Perspektiven im Umgang mitProstitution und Frauenhandel in Europa, das auf der Konferenz„Prostitution und Frauenhandel“ im November 2005 inBerlin vorgestellt wurde, setzt sich ver.di für die <strong>recht</strong>licheGleichstellung von Prostituierten ein: „Sexarbeit ist Arbeitund Beruf. SexarbeiterInnen brauchen den gleichen Schutz ihrerArbeits-, Sozial- und Menschen<strong>recht</strong>e, wie andere ArbeiterInnenauch. Sie brauchen soziale Rechte, wie den Anschlussan die Sozialversicherung, an die Gesundheitsfürsorge undMindestlöhne.“ Dabei wurden die Forderungen der europäischenKonferenz zu Sexarbeit, Menschen<strong>recht</strong>en, Arbeit undMigration 2005 in Brüssel aufgegriffen: SexarbeiterInnen, MigrantInnen eingeschlossen, müssenin ganz Europa die Möglichkeit haben, legal zu arbeiten. SexarbeiterInnen müssen das Recht haben, sich zusammenzuschließenund sich in Gewerkschaften zu organisieren. Sexarbeiterinnen müssen unabhängig von ihrem Aufenthaltstatusdas Recht auf Unterstützung und Schutz bei Gewalttatenhaben. Die Rechte von migrierten SexarbeiterInnen und vomMenschenhandel betroffenen Personen müssen geschütztund gefördert werden.Die Durchführung der Konferenz „Prostitution und Frauenhandel“2005 in Berlin war als Offensive gegen die konservativenKräfte in Deutschland gedacht, die unter dem Vorwandder Bekämpfung des Frauenhandels die Rechte der Prostituiertenwieder einschränken wollten. Aus gewerkschaftlicherSicht hat sich die arbeits<strong>recht</strong>liche Praxis im Bereich der sexuellenDienstleistungen zwar noch nicht wesentlich verändert.Eine gewerkschaftliche Organisierung von Sexarbeiterinnenkommt bislang auch nur vereinzelt vor. Das Gesetz ist aber einerster wichtiger Schritt gegen die <strong>gesellschaft</strong>liche Doppelmoral.Deshalb ist ver.di – und inzwischen auch die Gewerkschaftder Polizei – für den Erhalt des Prostitutionsgesetzesin Deutschland, das im Interesse der Prostituierten weiterentwickeltwerden muss. Wer den Menschenhandel bekämpfenwill, muss – neben der polizeilichen Verfolgung – Maßnahmenzum Schutz der Opfer ergreifen. Eine Verbesserung derZeuginnenschutzprogramme ist ebenso dringend erforderlichwie der Ausbau des Netzes von Betreuungsstellen für die Opfervon Menschenhandel. Ein Bleibe<strong>recht</strong> für die Zeuginnenin Menschenhandelsprozessen, wie in Italien, sollte in derGesetzgebung aller Länder Europas verankert werden.Forderungen von Ver.di – Deutsche Dienstleistungsgewerkschaft: „Dass bessere <strong>recht</strong>liche, politische und soziale Bedingungengeschaffen werden für diejenigen Frauen, die alsProstituierte arbeiten wollen. Wir beteiligen uns an Aktionen gegen den Menschenhandelund Gewalt und Ausbeutung im Bereich der Zwangsprostitution;insbesondere auch während der Fußball WM2006. Wir werden politische Lobbyarbeit für Prostituierte leisten. Wir setzen uns ein für einen wirksamen Schutz und Bleibe<strong>recht</strong>für die vom Menschenhandel betroffenen Frauen undMädchen. Dass die Rechte von MigrantInnen in der Prostitution unddie Rechte der Opfer von Menschenhandel gestärkt werden.“14Dozentin in Hamburg an der Hochschule für angewandteWissenschaften Hamburg für den ThemenbereichProstitution und Frauenhandel. Mitgliedim Bundesvorstand des Bund demokratischerWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi).Durchführung der Studie „ Der <strong>gesellschaft</strong>licheWandel im Umgang mit Prostitution“. Leiterin derProjektbüros Arbeitsplatz Prostitution beim Bundesvorstandder Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und Mitinitiatorin des Ratschlag Prostitution inHamburg. Herausgeberin des Buches „Prostitutionund Frauenhandel“ (VSA-Verlag); Weitere Infos:www.arbeitsplatz-prostitution.de;emilija.mitrovic@verdi.de.13) Vgl TAMPEP, Final Report Germany, Hamburg2004.14) Emilija Mitrovic, Prostitution und Frauenhandel,Hamburg 2006, S. 131.Seite 106 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themafrauenhandelEinleitung1.1. Eckpunkte des Übereinkommens des Europarats undIm Jahr 2000 ist es schließlich gelungen, eine internatio- Vergleich Seit dem 16. Mai 2005 haben 30 Staaten das Übereinkommendes Europarats unterzeichnet, vier Staaten, darunterZusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafungdes Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und 11 Das Übereinkommenist noch nicht in Kraft getreten, denn dafür müssen ins-Kinderhandels (im Folgenden: Palermo-Protokoll) 1 zu entwickeln.Rechtsvereinheitlichung, verbesserte Zusammenarbeitder Staaten sowie Bekämpfung dergrenzüberschreitenden organisierten Kriminalitätbilden zweifellos die Schwerpunkte des Palermo-Protokolls. 2 In Bezug auf die Opfer<strong>recht</strong>e blieb dasPalermo-Protokoll allerdings hinter den Forderungenvon Menschen<strong>recht</strong>sorganisationen. 3 Schon im Jahr2003 bildete der Europarat ein „Ad-Hoc Komitee“ 4 ,das mit der Erstellung des Übereinkommens desEuroparats zur Bekämpfung des Menschenhandels(im Folgenden: Übereinkommen des Europarats) 5beauftragt wurde. Dieses Übereinkommen verfolgtandere Ziele: Bereits in der Präambel wird verankert,dass „Menschenhandel eine Verletzung derMenschen<strong>recht</strong>e“ und „die Achtung der Rechte derOpfer“ eines der „obersten Ziele“ ist. Auch auf diewichtigsten Instrumente der EU im Vorgehen gegenden Menschenhandel wird Bezug genommen. 6 Derim Palermo-Protokoll geschaffene Schutz soll verbessertund Standards sollen ausgebaut werden.1. Das Übereinkommen des Europarats zurBekämpfung des MenschenhandelsIn der internationalen Gesetzeslage rund um dieBekämpfung des Menschenhandels haben sich zweiRichtungen entwickelt, eine auf die Verfolgung derTäter und Täterinnen konzentrierte und eine „Opfer-orientierte“Richtung. 7 Als Teil des Übereinkommensder Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitendeorganisierte Kriminalität 8 zählt dasPalermo-Protokoll ohne Zweifel zur ersten Richtung.Charakteristisch dafür ist ein hartes Vorgehen bei derStrafverfolgung und eine „schwache“ Terminologie 9 beimSchutz der Rechte der Opfer. 10 Das Übereinkommen desEuroparats hingegen versucht, beide Richtungen miteinanderzu verbinden. Umfassende Schutzmaßnahmen werdenneben einer wirksamen Kriminalisierung des Menschenhandelsfestgelegt.Menschenhandel –Was hat sich seitPalermo getan?Ein Vergleich zwischen demZusatzprotokoll zur Verhütung,Bekämpfung und Bestrafung desMenschenhandels der VereintenNationen und dem Übereinkommendes Europarats zur Bekämpfungdes Menschenhandels mit Blickauf die Umsetzung in Österreich inausgewählten BereichenJulia Planitzer·································des Europarats, vorliegen.vom Palermo-Protokoll übernommen, wonach Menschenhandel„die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergungoder Aufnahme von Personen durch die Androhungoder Anwendung von Gewalt oder anderen Formen der Nö-1) Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfungund Bestrafung des Menschenhandels,insbesondere des Frauen- und Kinderhandels,zum Übereinkommen der Vereinten Nationengegen die grenzüberschreitende organisierteKriminalität, VN GV Resolution A/55/25, AnnexII, 15.11.2000.2) Kartusch, Internationale und europäischeMaßnahmen gegen den Frauen- und Menschenhandel– Rückblick und Ausblick, gender...politik...online,Dezember 2003, www.fu-berlin.de/gpo/angelika_kartusch.htm, 12.3) Kartusch, gender...politik...online, Dezember2003, 14.4) Comité ad hoc sur la lutte contre la traitedes êtres humains (CAHTEH), 838. Treffen derStändigen Vertreter, 30.4.2003.5) Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfungdes Menschenhandels, SEV-Nr 197,3.5.2005.6) Genannt werden ua der Rahmenbeschluss2002/629/JI zur Bekämpfung des Menschenhandels(ABl L 203 S 1) sowie die Richtlinie2004/81/EG über die Erteilung von Aufenthaltstitelnfür Drittstaatsangehörige, die Opferdes Menschenhandels sind oder denen Beihilfezur illegalen Einwanderung geleistet wurdeund die mit den zuständigen Behörden kooperieren(ABl L 261 S 19). Auf die Instrumenteder EU kann im Rahmen dieses Artikels nichtnäher eingegangen werden.7) Haynes, Used, Abused, Arrested and De- Quarterly 2004, 238.8) VN GV Resolution A/55/25, 15.11.2000.9) Beispielsweise „erwägt” jeder Staat dieDurchführung von Gesundheitsmaßnahmenfür Opfer in Art 6 Abs 3 Palermo-Protokoll.10) Haynes, Human Rights Quarterly 2004,239.11) http://conventions.coe.int/Treaty/ Commun/ChercheSig.asp?NT=197&CM=1&DF=2/26/2007&CL=GER (26.2.2007).<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 107


themafrauenhandeltigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauchdurch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungenoder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses einerPerson, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Zweckder Ausbeutung“ bedeutet. 12Diese lässt sich in drei Bereiche unterteilen: Handlung,Mittel und Zweck der Ausbeutung. Unter Handlung fälltbeispielsweise die Beförderung, zu den Mitteln zählt uadie Täuschung oder der Missbrauch von Macht. Der Zweckder Ausbeutung tritt in unterschiedlichen Formen auf und Ausbeutung über die Zwangsarbeit bis zur Entnahme vonOrganen.Wurde eines der Mittel angewendet, ist eine etwaige vorherigeEinwilligung des Opfers unerheblich. Bei Kindern istdie Anwendung eines Mittels in keinem Fall erforderlich. 13Während das Palermo-Protokoll nur auf grenzüberschreitendeFormen des Menschenhandels und unter Mitwirkungorganisierter krimineller Gruppen anwendbar ist, 14 ist es fürdas Übereinkommen des Europarats unbedeutend, ob derMenschenhandel national oder grenzüberschreitend ist und/oder mit der organisierten Kriminalität verbunden ist odernicht. Das Übereinkommen ist auch dann anwendbar, wenndas Opfer auf legale Weise in das Zielland eingereist ist. 15Im Vergleich zum Palermo-Protokoll lässt das Übereinkommendes Europarats eine Reihe von inhaltlichen Weiterentwicklungenund Verbesserungen der Rechte der OpferUnterstützung der Opfer, der Erholungs- und Bedenkzeitsowie der Erteilung von Aufenthaltstiteln für Opfer gezeigtwerden.als illegale Immigranten und Immigrantinnen, Prostituierteoder Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen behandelt unddafür bestraft oder in das Herkunftsland abgeschoben zuwerden. 16 Während das Palermo-Protokoll darauf nicht eingeht,sieht das Übereinkommen des Europarats vor, dass dienalausgestattet und Maßnahmen entwickelt werden, um dieauch längere Zeit in Anspruch nehmen können, müssen dieStaaten sicher stellen, dass Personen bis zur endgültigen 17Diese Unterstützung der Opfer umfasst weitreichendeMaßnahmen wie angemessene und sichere Unterkunft undmedizinische Notversorgung. 18 Die Gewährung der Unterstützungdarf nicht davon abhängig gemacht werden, obdas Opfer bereit ist, als Zeuge oder Zeugin im Verfahrenaufzutreten. 19 Staaten zum Schutz der Rechte der Opfer, nur sind dieseBestimmungen vage formuliert und lassen den Staaten daherweiten Ermessensspielraum. 20 So sollen Informationenüber etwaige Verfahren und Hilfe im Strafverfahren denOpfern nach Art 6 Abs 2 des Protokolls nur „in geeignetenFällen“ gegeben werden. Die Staaten werden in Abs 3 beiden Unterstützungsmaßnahmen aufgefordert zu „erwägen“,diese Maßnahmen bereitzustellen.Ein Novum des Übereinkommens des Europarats stelltdie Einräumung einer Erholungs- und Bedenkzeit von mindestens30 Tagen dar. In dieser Erholungs- und Bedenkzeitsoll die betroffene Person in Sicherheit darüber entscheiden,ob sie mit den zuständigen Behörden zusammenarbeitenwird. Während dieser Zeit darf keine aufenthaltsbeendendeMaßnahme gesetzt werden. 21 Auf Ebene der EU fanddie Bedenkzeit bereits 2004 in einer Richtlinie des Ratesbetreffend der Erteilung von Aufenthaltstiteln für Opfer desMenschenhandels 22 Eingang.Nichtregierungsorganisationen forderten bei der Erstellungdes Übereinkommens einen Zeitraum von zumindestdrei Monaten. 23 Auch die von der Europäischen Kommissiongebildete Sachverständigengruppe Menschenhandel 24 hat inmehreren Berichten und Stellungnahmen eine ErholungsundBedenkzeit von mindestens drei Monaten empfohlen. 25Die Studie Stolen Smiles 26 hat die Auswirkungen desMenschenhandels auf die Gesundheit von Opfern des Frauenhandelsuntersucht. Während Beeinträchtigungen der sexuellenund reproduktiven Gesundheit in ärztlicher Betreuungschnell verringert werden können, 27 ist bei psychischenKrankheiten wie Depression eine Verbesserung erst nachungefähr 90 Tagen Betreuung möglich. 28 auch diese Studie eine Erholungsphase von mindestens dreiMonaten. 29Wie lange auch eine Erholungs- und Bedenkzeit seinmag, danach kann sich die Frage nach Möglichkeit einesAufenthaltstitels stellen. sich auch hier und Staaten sollen nach Art 7 „erwägen“, ob sie„in geeigneten Fällen“ Opfern gestatten, im Staat zu bleiben.dem Opfer entweder einen verlängerbaren Aufenthaltstitelzu erteilen, wenn es die persönliche Situation des Opferserfordert, oder wenn der Aufenthalt des Opfers für Ermittlungenoder beim Strafverfahren erforderlich ist. 30 Die Staatenkönnen sich für einen dieser Gründe entscheiden oder inbeiden Fällen verlängerbare Aufenthaltstitel erteilen. 31 Diese12) Art 4 lit a Übereinkommen des Europarats,Art 3 lit a Palermo-Protokoll.13) Art 4 lit c Übereinkommen des Europarats,Art 3 lit c Palermo-Protokoll.14) Art 4 Palermo-Protokoll.15) Erläuternder Bericht des Europarats zuSEV-Nr 197, Z 62.16) Erläuternder Bericht des Europarats zuSEV-Nr 197, Z 128.17) Art 10 Abs 2 Übereinkommen des Europarats.18) Art 12 Übereinkommen des Europarats.19) Art 12 Abs 6 Übereinkommen des Europarats.20) Kartusch, gender...politik...online, Dezember2003, 13.21) Art 13 Übereinkommen des Europarats.22) RL 2004/81/EG, ABl L 261 S 19, Art 6.23) Vgl http://web.amnesty.org/library/Index/ENGIOR300062005(22.3.2005).24) Beschluss 2003/209/EG, ABl L 79 S 25.25) Zuletzt in der Stellungnahme v 11.10.2005im Zusammenhang mit der Konferenz „Tack-ticesin Europe“, 2.26) Zimmermann/Hossain/Yun/Roche/Morison/Watts,Stolen Smiles: The physical andpsychological health consequences of wom- http://www.lshtm.ac.uk/hpu/docs/Stolen%alth%20(2006).pdf (25.2.2007).27) Zimmermann et al, Stolen Smiles 69.28) Zimmermann et al, Stolen Smiles 94.29) Zimmermann et al, Stolen Smiles 113.30) Art 14 Übereinkommen des Europarats.31) Erläuternder Bericht des Europarats zuSEV-Nr 197, Z 182.Seite 108 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themafrauenhandelAnna Netrebko hat sie. Hier erfahren Sie, wie man sie bekommt - dieösterreichische Staatsbürgerschaft. Das vorliegende Buch verstehtsich als Werkzeug für die Praxis.Das Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 wurde durch die Novelle 2006 inwesentlichen Teilen neu gestaltet. Die Staatsbürgerschaftsprüfung istneu geschaffen worden.Das Buch umfasst das Staatsbürgerschaftsgesetz in der aktuellenFassung, zugehörige Normen, wie etwa die Staatsbürgerschaftsprüfungs-Verordnung,sowie Staatsverträge. Parlamentarische Materialien,ausgewählte Rechtsprechung und Anmerkungen dienen der praxisge<strong>recht</strong>enAnwendung. Übersichten erleichtern die Orientierung. Wahlmöglichkeit kann jedoch dazu führen, dass Opfer nur beiZusammenarbeit mit den Behörden in den Genuss eines Aufenthaltstitelskommen. In Bezug auf die persönliche Situationzählt der Erläuternde Bericht zwar Faktoren wie Sicherheitoder die Familiensituation auf, 32 allerdings werden auch so dieBehörden noch großen Ermessensspielraum in der Entscheidunghaben, ob die persönliche Situation des Opfers einesAufenthaltstitels bedarf. Es ist fraglich, wie Behörden in denverschiedenen Staaten die persönliche Situation einschätzenund ob sich nicht aufgrund des unbestimmten Begriffs verschiedeneMaßstäbe entwickeln werden.Über die Länge des Aufenthaltstitels gibt das Übereinkommendes Europarats keine Auskunft, einzig verlängerbarmuss der Titel sein. Auf EU-Ebene beispielsweise ist inder Richtlinie 2004/81/EG vorgesehen, bei Bereitschaft zurZusammenarbeit mit den Behörden einen Aufenthaltstitelvon mindestens sechs Monaten zu erteilen. 331.2. ErgebnisDas Übereinkommen des Europarats zeigt im Vergleichzum Palermo-Protokoll deutliche Weiterentwicklungen imBereich des Opferschutzes. Die ausdrückliche Anerkennungdes Menschenhandels als Menschen<strong>recht</strong>sverletzung,die weit reichenden unterstützenden Maßnahmen und dieErholungs- und Bedenkzeit zeigen, dass in Europa eine Verbesserungder Lage der Opfer gewollt wird. Trotzdem gibtes Bestimmungen, die diese Verbesserungen wieder verringern.Die Erholungs- und Bedenkzeit ist, wie Experten undExpertinnen festgestellt haben, mit 30 Tagen viel zu kurz.Die Wahlmöglichkeiten der Staaten in Bezug auf den Aufenthaltstitelkönnen auch dazu führen, dass die persönlicheSituation der Opfer außer Acht gelassen wird. Wenn diepersönliche Situation über einen Aufenthaltstitel entscheidet,lässt der sehr vage umschriebene Begriff einen großenEntscheidungsspielraum.2. Umsetzung des Übereinkommens desEuroparats in ÖsterreichÖsterreich hat das Palermo-Protokoll am 15. September 34 bereits nach wenig mehr als einem Jahrrats.35 Natur, Ausgangsposition und Ziel dieser beiden Dokumentesind in einigen Bereichen sehr unterschiedlich.Dies sollte auch in ihrer Umsetzung sichtbar sein. 3632) Erläuternder Bericht des Europarats zuSEV-Nr 197, Z 184.33) RL 2004/81/EG, ABl L 261 S 19, Art 8 Abs 3.34) BGBl III 220/2005 sowie http://www.unodc.org/unodc/en/crime_cicp_signatures_35) Siehe http://conventions.coe.int/Treaty/Commun/ChercheSig.asp?NT=197&CM=1&DF=2/26/2007&CL=GER (26.2.2007),36) Bei beiden Dokumenten beschloss derNationalrat einen Erfüllungsvorbehalt gem Art50 Abs 2 B-VG.<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 109


themafrauenhandel2.1. KriminalisierungIn Bezug auf die Kriminalisierung des Menschenhandels isteine Weiterentwicklung im Übereinkommen des Europaratszu erkennen. Die schlichte Aufforderung im Palermo-Protokoll,den Menschenhandel, „wenn vorsätzlich begangen,als Straftat zu umschreiben“ 37 , wird im Übereinkommen desEuroparats erweitert. Die Straftaten sollen mit „wirksamen,verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktionen bedrohtwerden“ 38 und erschwerende Umstände bei der Festsetzungdes Strafmaßes werden genannt. 39 Neu ist auch die in Art 22von juristischen Personen für die Straftat des Menschenhandelssicherzustellen.Die Kernbestimmung für die Umsetzung der Kriminali- 40 („Menschenhandel“),der am 1. Mai 2004 41 in Kraft getreten ist. Dieselässt ebenso die Einteilung in die drei Teile Handlung, Mittelund Zweck erkennen. Zu den Handlungen zählt nach § 104aStGB ua die Anwerbung, Beherbergung und Beförderungauf. Die Mittel werden als „unlautere Mittel“ in Abs 2 nä-und die Ausnützung einer Zwangslage. Als Zwecke werdendie sexuelle Ausbeutung, Organentnahme und Ausbeutung mo-Protokollsist bei minderjährigen Personen der Einsatzunlauterer Mittel nicht notwendig.Die im Übereinkommen des Europarats genannten er-des Delikts in Abs 4 pönalisiert und erhöhen das Strafmaß derFreiheitsstrafe von bis zu drei Jahren auf eine Freiheitsstrafevon einem bis zu zehn Jahren.Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch der frühereMenschenhandelstatbestand und der durch das StRÄG 2004inhaltlich unverändert gebliebene jetzige „GrenzüberschreitendeProstitutionshandel“ nach § 217 StGB, der das Zuführeneiner Person der Prostitution in einem anderen Staat oderdie Anwerbung dafür bestraft. Wird die Person getäuscht,durch Gewalt oder gefährliche Drohung dazu genötigt oderdurch Gewalt oder Ausnützung eines Irrtums in einen anderenStaat befördert, so wird das Strafmaß erhöht (Abs 2).Die Unterschiede zwischen § 104a und § 217 StGB liegendarin, dass bei § 217 StGB in seiner Grundform lediglich dieZuführung zur Prostitution in einem fremden Land bestraftund keine Anwendung unlauterer Mittel zur Erreichung desZieles verlangt wird. 42einkommendes Europarats ist in Österreich durch die Umsetzungin das österreichische Straf<strong>recht</strong>ssystem, zB durchdas Verbandsverantwortlichkeitsgesetz, 43 erfüllt.Wie Haynes für eine erfolgreiche Bekämpfung des Men- gleichzeitig betont, dass Gesetze allerdings nur so gut sindwie ihre Umsetzung, 44 so soll hier die Anwendung der Gesetzeden Menschenhandel betreffend in Österreich näherbetrachtet werden.Im Kriminalitätsbericht des Jahres 2005 45 scheinen fürden Zeitraum Jänner bis Dezember 2005 insgesamt 92 angezeigteFälle des § 104a StGB auf. Die Aufklärungsrateliegt bei 100 Prozent. Eine strafbare Handlung gilt im Sinnedes Kriminalitätsberichts als geklärt, wenn ua eine Personauf frischer Tat betreten wurde oder durch Geständnis oderandere Beweismittel als überführt gelten kann. 46 Bei denVerurteilungen hingegen zeigt sich eine andere Situation alsdie Aufklärungsrate vermuten lässt. Konnten im Jahr 2004noch insgesamt 44 Personen nach dem früheren Menschenhandelstatbestand§ 217 StGB verurteilt werden, 47 scheinenfür das Jahr 2005 keine Verurteilungen nach dem aktuellenMenschenhandelstatbestand § 104a StGB auf. 48 Daraus lässtsich schließen, dass diese Bestimmung zwar zu Anzeigenführt, die zur Gänze geklärt werden, aber zu keinen Verurteilungen,obwohl die Bestimmung seit 1. Mai 2004 inKraft ist.Interessant ist allerdings, dass es im Jahr 2005 insgesamt25 Verurteilungen wegen dem aktuellen „GrenzüberschreitendenProstitutionshandel“ (§ 217 StGB) gegeben hat. 49 EineErklärung für diesen nahtlosen Übergang der Urteile gem §217 StGB mit altem und neuem Titel könnte darin liegen,dass § 217 StGB den Menschenhandel nach § 104a StGBin bestimmten Fällen konsumiert. Weist der Täter oder dieTäterin zusätzlich zur Ausübung des grenzüberschreitendenProstitutionshandels einen Ausbeutungsvorsatz nach § 104aStGB auf, so ist dieser oder diese lediglich nach § 217 StGBzu verurteilen. 50Das führt zu dem Schluss, dass die in Österreich am häu- Zweck der sexuellen Ausbeutung im Rahmen der Prostitutionist. Die Opfer der Delikte nach § 104a und § 217 StGB warenim Jahr 2005 fast ausschließlich Frauen. 512.2. Opferschutz – Aufenthalt für OpferWie bereits oben gezeigt (siehe 1.2) stellen die Bestimmungendes Übereinkommens des Europarats in Bezug auf ErholungsundBedenkzeit sowie Aufenthalt im Vergleich zum Palermo-Protokoll wichtige Verbesserungen dar, allerdings mit Platzfür Kritik.Die Einräumung einer Erholungs- und Bedenkzeit wird inÖsterreich in Form eines Erlasses 52 umgesetzt, die dem Wortlautdes Übereinkommens des Europarats folgend für mindestens30 Tage zu gewähren ist. Trotz der zahlreichen Kritik37) Art 5 Abs 1 Palermo-Protokoll.38) Art 23 Übereinkommen des Europarats.39) Art 24 Übereinkommen des Europarats.40) StGB BGBl 1974/60 idF BGBl I 2006/56.41) StRÄG 2004 BGBl I 2004/15.42) Reiter auf das österreichische Straf<strong>recht</strong>-am Beispielder Deliktsgruppe Menschenhandel undSchlepperei (2006) 115.43) VbVG BGBl I 2005/151.44) Haynes, Human Rights Quarterly 2004, 259.45) Kriminalitätsbericht-Statistik und Analyse2005, Bundesministerium für Inneres.46) Kriminalitätsbericht 2005, A4.47) Gerichtliche Kriminalstatistik 2004, StatistikAustria, 72.48) Gerichtliche Kriminalstatistik 2005, StatistikAustria sowie nach telefonischer Auskunftder Statistik Austria.49) Kriminalstatistik 2005, 79.50) Vgl Reiter51) § 104a StGB: insgesamt 10 weibliche Opfer,§ 217 StGB: 62 weibliche, 1 männlichesOpfer, Kriminalitätsbericht 2005, B 23.52) BMI-FW1700/0090-III/4/05.Seite 110 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2


themafrauenhandelwurde die Mindestzeit von 30 Tagen übernommen, wie langediese Zeit dauern kann, wird nicht näher bestimmt.In der Frage der Aufenthaltstitel für Opfer hat sich zwischendem Palermo-Protokoll und dem Übereinkommen desEuroparats viel geändert. Während es im Palermo-Protokollausreichte, die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu erwägen,müssen Staaten nach dem Übereinkommen einen Aufenthaltstiteldann gewähren, wenn es die persönliche Situationoder die Strafverfolgung erfordert.Da die Bestimmung über den Aufenthalt aus humanitärenGründen 53 für die Umsetzung des Palermo-Protokolls sowieder Richtlinie 2004/81/EG 54 noch ausgereicht hat, die Erfordernissedes Übereinkommens des Europarats aber nicht erfüllt,wurde auch hier zum Mittel des Erlasses 55 gegriffen.§ 72 Abs 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG)legt fest, dass für „die Strafverfolgung von gerichtlich strafbarenHandlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzungvon zivil<strong>recht</strong>lichen Ansprüchen“ eine Aufenthaltsbewilligungaus humanitären Gründen für mindestens sechsMonate erteilt werden kann. Der Erlass führt dazu näheraus, dass Betroffenen des Menschenhandels, unabhängigvon ihrer Bereitschaft zur Kooperation mit den Behörden,humanitäre Aufenthaltstitel erteilt werden können, wenn esdie persönliche Situation des Opfers erfordert. 56 Das humanitäreAufenthalts<strong>recht</strong> des NAG wird zum einen kritisiert,weil im NAG nicht festgelegt wird, was unter humanitärenGründen zu verstehen ist. Eine undurchsichtige Praxis derErteilung von humanitären Aufenthaltsgenehmigungen istdie Folge. 57 Die Aufenthaltsbewilligung aus humanitärenGründen kann ausschließlich von Amts wegen erteilt werden58 und bedarf der Zustimmung des Bundesministers fürInneres ( § 75 NAG).Zum anderen werden durch § 72 Abs 2 NAG und demErlass die Vorgaben des Übereinkommens des Europaratsnach Art 14 nicht erfüllt. Die Staaten sind in mindestensbarenAufenthaltstitel zu erteilen, die bloße Möglichkeitdazu reicht nicht aus.Bereits im Jahr 2000 regte Kartusch in dieser Zeitschriftan, die damalige Bestimmung § 10 Abs 4 Fremdengesetz(FrG) betreffend des humanitären Aufenthalts von einer„Kann“- in eine „Muss“-Bestimmung umzuwandeln, sodassBetroffene des Frauenhandels tatsächlich in den Genuss derhumanitären Aufenthaltserlaubnis kommen. 59Die Aufenthaltsbewilligung nach § 72 Abs 2 NAG istnoch immer eine sogenannte „Kann“-Bestimmung. SiebenAufenthalts aus humanitären Gründen nicht viel geändert.3. SchlussbemerkungDas Übereinkommen des Europarats stellt trotz Lückenzweifellos eine Weiterentwicklung auf internationaler Ebenenach dem Palermo-Protokoll dar. Die Herangehensweisean die Problematik des Menschenhandels als Menschen<strong>recht</strong>sverletzungunterscheidet sich sehr von der Sicht desMenschenhandels als organisiertes Verbrechen. Diese unterschiedlichenAnsätze bedürfen auch unterschiedlicherMaßnahmen. In Österreich hinkt diese Entwicklung da undauch die Lücken des Übereinkommens werden sichtbar. Imneuen Regierungsprogramm kommt das Thema Menschenhandelan mehreren Stellen 60 zur Sprache, was wohl ein Zei-Handlungsbedarf sowie Raum für Verbesserungen besteht.Mag. a Julia Planitzer dissertiert im BereichMenschenhandel an der Universität Wien.julia.planitzer@chello.at.53) FrG BGBl I 1997/75 idF BGBl I 2002/126,§ 10 Abs 4; Seit 1.1. 2006: NAG BGBl I2005/100, § 72 Abs 2.54) RL 2004/81/EG, ABl L 261 S 19, Art 6.55) BMI-FW1700/0114-III/4/2005.56) Erläuterungen zur Regierungsvorlage betreffendÜbereinkommen des Europarats zurBekämpfung des Menschenhandels, RV 1565BlgNR 22.GP 14.57) Schumacher/Peyrl, Fremden<strong>recht</strong> 2 (2006)132.58) Kutscher/Poschalko/Schmalzl, Niederlassungs-und Aufenthalts<strong>recht</strong> (2006) 133.59) Kartusch, Humanitäres Aufenthalts<strong>recht</strong>für Betroffene des Frauenhandels?, <strong>juridikum</strong>2000, 196.60) Regierungsprogramm für die XXIII. Gesetzgebungsperiode,128 (Ausbau der Unterstützungfür von Frauenhandel Betroffene),139 (Intensive Bekämpfung von Menschenhandel),145 (Verstärkung der Bekämpfungdes Menschenhandels).<strong>juridikum</strong> 2007 / 2 Seite 111


nach.satzNeue Regierung – andere Frauenpolitik?Nina EcksteinIn Heft 01/2006 wurde an dieser Stelleüber die Frauenpolitik der damaligenSchwarz-Blauen Bundesregierung Bilanzgezogen, die nicht gerade positivNach monatelangem Ringen gibt esnun eine neue Bundesregierung unterdem SPÖ-Bundeskanzler Gusenbauergemeinsam mit der ÖVP. Für eine Bilanzist es wohl noch zu früh, doch dieSPÖ hat schon im Wahlkampf versprochen,dass sich in Sachen Frauenpolitikeiniges ändern wird, wenn sie in derRegierung ist.Was sich schon geändert hat, ist derName der Frauenministerin, die jetztDoris Bures heißt. Nicht wirklich neuist, dass ihr Ministerium wieder beimBundeskanzleramt angesiedelt ist undauch das Budget des Frauenministeriumslässt nicht gerade große Hoffnungenaufkommen.Dafür enthält das Regierungsübereinkommenetliche Vorschläge zur Verbesserungder Lebenssituation von Frauen.Unter der Überschrift FrauenpolitischeMaßnahmen ist beispielsweise das Bekenntnisenthalten, die Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf zu forcieren. Unterdem Schlagwort Mehr Chancengleichheitauf dem Arbeitsmarkt wird eineSteigerung der Frauenerwerbsquote von62% auf 65% gefordert sowie eine Erhöhungdes Frauenanteils in Wirtschaft,Politik, Wissenschaft und der Sozialpartnerschaftangestrebt. Generell sind vorgesehen um deren Chancen am Arbeitsmarktzu verbessern. Dazu zählenauch Maßnahmen zur Schließung derEinkommensschere zwischen Männernund Frauen am Arbeitsmarkt sowie eingenerelles Bekenntnis zur Verhinderungvon Frauenarmut durch Einführung eineskollektivvertraglich geregelten Mindestlohnsvon 1000 Euro.Auch im Bereich der Kinderbetreuungund des Kindergeldes soll sich einigesändern. So soll es ein höheres, dafüraber kürzer zu beziehendes Kindergeld inder Höhe von 800 Euro geben. Der Gewaltschutzsoll ausgebaut und verbessertwerden und im Bereich Frauenhandelsieht das jetzige RegierungsprogrammAktionspläne sowie einen Ausbau vonUnterstützungsmöglichkeiten- und angebotenfür die betroffenen Frauen vor.Die frauenpolitischen Ambitionenim Regierungsprogramm erscheinenauf den ersten Blick viel versprechend,doch stellt sich die be<strong>recht</strong>igte Frage,ob es sich dabei nicht bloß um schöneWorthülsen handelt und wie die konkreteUmsetzung aussehen wird? Dennes ist eine bekannte Tatsache, dass sichdie neue Bundesregierung von Anfangan in vielen Bereichen nur sehr schwereinigen konnte. In frauenpolitischen Fragenwaren die Ideologien von ÖVP undSPÖ sowieso schon immer am weitestenauseinander.Deutlich wurden diese Auffassungsunterschiedejust durch die neue ÖVP-Gesundheits- und FamilienministerinKdolsky. Diese trat ziemlich rasch nachihrer Angelobung – wohlgemerkt vorallem bei ihren eigenen Parteikollegenund -kolleginnen – ins Fettnäpfchen, weilsie sich in einem Interview trotz Kinderlosigkeitals zufrieden und glücklich bezeichnete.Den größten Fauxpas begingsie jedoch, als sie ebenfalls öffentlichkundtat, dass Kinder nicht immer nur liebund nett wären, sondern manchmal auchganz schön anstrengend sein könnten.Während die SPÖ sich nobel zurückhielt,gingen in der ÖVP nach diesenAussagen die Wogen ziemlich hoch. Vonbezüglich ihrer Ressortaufgaben bis hinzur Verteidigung des hehren Frauenbildesder ÖVP reichten die Stimmen. Mit Mühund Not gelang es der Ministerin die Wogenwieder zu glätten.Dieser Zwischenfall lässt nichts Guteserahnen. Zu Recht fragt sich frau, wie dieUmsetzung der frauenpolitischen Maßnahmenim Regierungsprogramm undgenerell eine neue Frauenpolitik möglichsein soll? Die Besorgnis scheint aber auchdahingehend begründet, als bei der SPÖdie Gefahr besteht, dass ihre Standhaftigkeitdiesbezüglich nicht allzu hoch seinwird, wie sich schon davor in den Koalitionsverhandlungenmit der ÖVP gezeigthat. Im Gegenteil, die „Umfaller“ seitensder SPÖ in für sie an sich wesentlichenBereichen sind schon fast legendär. Daslässt natürlich die Vermutung zu, dass dieSPÖ gerade in frauenpolitischen FragenWillen der ÖVP beugen wird.Der größte „Umfaller“ wird der SPÖbei der Ressortverteilung vorgeworfen,die durchaus Auswirkungen auf diekünftige Frauenpolitik haben kann. Allein schwarzer Hand und die Frauenministerinwird in vielen Angelegenheitenabhängig sein von der Kooperationsbereitschaftihrer schwarzen Ressortkollegenund -kolleginnen. Ob sie für ihreAll diese Dinge deuten nicht geradedaraufhin, dass es unter dieser Regierungeine ambitionierte und engagierteFrauenpolitik geben wird. Auf der einenSeite die SPÖ, deren einziges Programmin Wahrheit in der Erringung des Bundeskanzleramtesbesteht sowie eines Bundeskanzlers,der sich bisher vor allemmit seinen Sandkastenträumen hervorgetanhat. Auf der anderen Seite die ÖVP,die bekanntlich in Frauenfragen sowiesoeine gänzlich andere Anschauung hat undFrauenpolitik schon immer eigentlich alsFamilienpolitik betrachtet hat.Nachdem die SPÖ also kaum denMut und die Kraft aufbringen wird, sichin diesem Bereich gegenüber der ÖVPdurchzusetzen, muss frau leider davonausgehen, dass es auch unter dieser Regierungkeine wirklichen Fortschritte inder Frauenpolitik geben wird. Im Gegenteil,es ist sogar davon auszugehen, dassviele Versprechen lieber um des Koalitionsfriedenwillen geopfert werden, alsden Traum vom Bundeskanzleramt aufzugeben.Die Maßnahmen im Regierungsübereinkommenwerden also nichts weiterbleiben als schöne Worte und Papier istja bekanntlich geduldig.Es war daher wohl sehr optimistisch,zu glauben, dass sich durch den Urnengangim Herbst 2006 viel verändernwird.Mag. a Nina Eckstein ist Juristinin Wien und Redaktionsmitglieddes <strong>juridikum</strong>; nina.eckstein@gmx.at.Seite 112 <strong>juridikum</strong> 2007 / 2

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