20 Jahre Kunsthof Zürich - Zürcher Hochschule der Künste

20 Jahre Kunsthof Zürich - Zürcher Hochschule der Künste 20 Jahre Kunsthof Zürich - Zürcher Hochschule der Künste

12.07.2015 Aufrufe

26Zett 2–13 / Kulturanalysen und VermittlungBild von Gertrud Schwyzer (1896–1970), «Zwei Frauen am Tisch», Aquarell auf Papier, 11,8 x 14,9 cm, undatiert, Psychiatrie zentrum Appenzell AR, SammlungHerisau, Inventarnummer 38. Foto: Jacqueline FahrniPrekäre Kunst –Werke auspsychiatrischenAnstaltenZeichnungen von Patientinnen und Patienten derfrühen psychiatrischen Anstalten reflektiereneine Verflechtung gesellschaftlicher und ästhetischerFragen. Im Rahmen zweier Forschungsprojektewerden Werke aus zahlreichen Sammlungeninventarisiert und in einer Bilddatenbankzur Verfügung gestellt. Katrin Luchsinger*Die Psychiatrie befasst sich mit der Frage: Was gilt als «normal»,was als abweichend, krank, unnormal oder wahnsinnig?Dabei folgt das Fach entweder den geltenden gesellschaftlichenNormen oder es eilt ihnen pathologisierend odermanchmal liberalisierend voraus, indem es der Gesellschaftzum Beispiel mehr integrierende Aufgaben zumutet. Wellenheftiger Psychiatriekritik, wie sie um 1900 oder 1970 hochschlugen,wirkten als wichtiges Korrekturmittel, denn dasVerhältnis der Gesellschaft zu psychiatrischen Anstalten isthoch ambivalent.Um 1900 blühte das Fachgebiet auf. Es wandte sich wahrnehmungstheoretischen,neurologischen, psychotherapeutischenFragen und gross angelegten Entwürfen zur Verbesserungder «Volksgesundheit» zu. Trotz dieses Enthusiasmus bliebenGeisteskrankheiten meist unbehandelbar. Patientinnen undPatienten verbrachten oft viele Jahre in der Anstalt, wo sievorwiegend in der Landwirtschaft in sogenannter «Arbeitstherapie»beschäftigt wurden.Autorschaft und WerkManche von ihnen gestalteten, viele schrieben. Ihre bisweilensehr umfangreichen Gesamtwerke sind oft signiert undmanchmal mit Titel und Datum versehen: Sie richten sich andie Öffentlichkeit. Die Anliegen sind völlig unterschiedlich:hoch spekulativ, politisch, poetisch, theoretisch oder sozialihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern zugewandt.Implizit oder explizit wird im Werk die Frage verhandelt:

Kulturanalysen und Vermittlung / Zett 2–1327Ist ein Leben ohne Teilhabe an der Öffentlichkeit möglich?Wie gestalten sich unter diesen Voraussetzungen Werk undAutorschaft?Die Gründe, weshalb viele Psychiater begannen, die Werkeihrer Patientinnen und Patienten zu sammeln, sind sehr unterschiedlich:Arthur Kielholz in Königsfelden, HermannRorschach in Herisau oder Hans Bertschinger in Schaffhausenwaren Psychoanalytiker, Walter Morgenthaler, der inder «Waldau» bei Bern eine grosse Sammlung anlegte, saheinen kunsttherapeutischen Nutzen darin, Patientinnen undPatienten zum Zeichnen anzuregen. Morgenthaler veröffentlichte1921 eine Monografie über seinen heute berühmtenPatienten Adolf Wölfli** unter dem Titel «Ein Geisteskrankerals Künstler».PrimitivismusFür zeitgenössische Betrachter – und das waren vorerst nurdie behandelnden Psychiater – sahen manche Werke aus wiedie Kunst ihrer Zeit: Expressive, afrikanische oder auch mittelalterlicheReferenzen wurden zu Rate gezogen, das grosseInteresse am «Wilden» in uns und in der Kulturgeschichtediente als Inspiration. Umgekehrt verorteten Psychiater wieKarl Jaspers Schizophrenes im Zeitgeist des beginnenden 20.Jahrhunderts. Die Pathologisierung des modernen Künstlersentwickelte sich in den 1930er-Jahren zum gefürchtetenStigma.Die Frage der RelevanzEnde 2013 wird eine Bilddatenbank mit den Inventaren derrund zwanzig noch erhaltenen Sammlungen dem SchweizerischenInstitut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) übergeben,wo sie der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. DieBilddatenbank liefert die Grundlage für viele Fragestellungen,die in die Anfänge der Kunstpsychologie zurückreichen, aberauch kultur- und sozialgeschichtliche Themen aufgreifen. DieWerke, so heterogen sie auch sein mögen, belegen, dass an denRändern der Gesellschaft relevante Fragen gestellt werdenund dass der von Michel Foucault diagnostizierte Ausschlussder Anstaltsinsassinnen und -insassen aus den Diskursen ihrerZeit nicht kommentarlos hingenommen wurde. Die Werkegewinnen ihre Stärke gerade durch die Fragilität, welche dieprekarisierten Lebensentwürfe den Erschafferinnen und Erschaffernaufbürdeten. Gegenwärtig werden allenthalben –an Biennalen und in grossen Museen – Werke, die in Anstaltenentstanden sind, im Dialog mit solchen zeitgenössischer Kunstgezeigt, die ebenfalls Fragen in auf Bezug die Wege der Kommunikationthematisieren.* Katrin Luchsinger ist Leiterin des Forschungsprojekts «Bewahren besondererKulturgüter I und II» am Institute for Cultural Studies in the Arts (ICS) und amInstitute for Art Education (IAE) sowie Dozentin im Bachelor und Master ArtEducation, Dept. Kulturanalysen und Vermittlung (katrin.luchsinger@zhdk.ch).** Das Werk Adolf Wölflis (1864–1930) umfasst über 20 000 Blätter und wurde1973 auf Initiative von Harald Szeemann ins Kunstmuseum Bern transferiert.Bild von Fritz M. (1879–1960), «SozialisMuss», Tinte und Farbstift aufPapier, 27,8 x 39,5 cm, August 1924, Psychiatriezentrum Breitenau, SammlungBreitenau, Inventarnummer 95. Foto: Jacqueline FahrniMachen aussergewöhnliche Kulturgüter zugänglich: die ForscherinnenJacqueline Fahrni, Iris Blum und Katrin Luchsinger (von links) im Archiv des«Burghölzli», der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Foto: Betty FleckForschungsprojekt«Bewahren besonderer Kulturgüter II. Bestandesaufnahme Schweiz 1850–1930» des Schweizerischen Nationalfonds (SNF)/DORE am Institute for CulturalStudies in the Arts (ICS). Praxispartner: Institut universitaire d’histoire de lamédecine et de la santé publique, Lausanne; Adolf Wölfli-Stiftung, KunstmuseumBern; Sammlung Prinzhorn, Heidelberg. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen:Jacqueline Fahrni, Iris Blum. Projektleitung: Katrin Luchsinger.www.kulturgueter.ch

26Zett 2–13 / Kulturanalysen und VermittlungBild von Gertrud Schwyzer (1896–1970), «Zwei Frauen am Tisch», Aquarell auf Papier, 11,8 x 14,9 cm, undatiert, Psychiatrie zentrum Appenzell AR, SammlungHerisau, Inventarnummer 38. Foto: Jacqueline FahrniPrekäre Kunst –Werke auspsychiatrischenAnstaltenZeichnungen von Patientinnen und Patienten <strong>der</strong>frühen psychiatrischen Anstalten reflektiereneine Verflechtung gesellschaftlicher und ästhetischerFragen. Im Rahmen zweier Forschungsprojektewerden Werke aus zahlreichen Sammlungeninventarisiert und in einer Bilddatenbankzur Verfügung gestellt. Katrin Luchsinger*Die Psychiatrie befasst sich mit <strong>der</strong> Frage: Was gilt als «normal»,was als abweichend, krank, unnormal o<strong>der</strong> wahnsinnig?Dabei folgt das Fach entwe<strong>der</strong> den geltenden gesellschaftlichenNormen o<strong>der</strong> es eilt ihnen pathologisierend o<strong>der</strong>manchmal liberalisierend voraus, indem es <strong>der</strong> Gesellschaftzum Beispiel mehr integrierende Aufgaben zumutet. Wellenheftiger Psychiatriekritik, wie sie um 1900 o<strong>der</strong> 1970 hochschlugen,wirkten als wichtiges Korrekturmittel, denn dasVerhältnis <strong>der</strong> Gesellschaft zu psychiatrischen Anstalten isthoch ambivalent.Um 1900 blühte das Fachgebiet auf. Es wandte sich wahrnehmungstheoretischen,neurologischen, psychotherapeutischenFragen und gross angelegten Entwürfen zur Verbesserung<strong>der</strong> «Volksgesundheit» zu. Trotz dieses Enthusiasmus bliebenGeisteskrankheiten meist unbehandelbar. Patientinnen undPatienten verbrachten oft viele <strong>Jahre</strong> in <strong>der</strong> Anstalt, wo sievorwiegend in <strong>der</strong> Landwirtschaft in sogenannter «Arbeitstherapie»beschäftigt wurden.Autorschaft und WerkManche von ihnen gestalteten, viele schrieben. Ihre bisweilensehr umfangreichen Gesamtwerke sind oft signiert undmanchmal mit Titel und Datum versehen: Sie richten sich andie Öffentlichkeit. Die Anliegen sind völlig unterschiedlich:hoch spekulativ, politisch, poetisch, theoretisch o<strong>der</strong> sozialihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern zugewandt.Implizit o<strong>der</strong> explizit wird im Werk die Frage verhandelt:

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