72. Jg. – Nr. 140 Sommer 2008 - carocktikum.de
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»Macht das Tor auf« – Zugänge zum Geschichtsverständnis<br />
En<strong>de</strong> letzten Jahres kam es in <strong>de</strong>r Aula <strong>de</strong>s Gymnasium Carolinum Neustrelitz zur Aufführung<br />
<strong>de</strong>s �eaterstückes »Macht das Tor auf«, das Til Dellers vom Interkunst e.V. Berlin anlässlich<br />
<strong>de</strong>s 30. To<strong>de</strong>stages Michael Gartenschlägers produzierte. Geför<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong> das Projekt<br />
vom Lan<strong>de</strong>sbeauftragten für die Stasiunterlagen, Herrn Jörn Mothes. In 70 Minuten wur<strong>de</strong> die<br />
Geschichte <strong>de</strong>s SED-Regimegegners inszeniert. Vor <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r anwesen<strong>de</strong>n Zwölftklässler<br />
haben Felix Isenbügel als Protagonist und David Hannak in <strong>de</strong>r Rolle seines Freun<strong>de</strong>s Gerd<br />
Resag be<strong>de</strong>utsame Stationen ihres Wi<strong>de</strong>rstan<strong>de</strong>s auf die Bühne gebracht. In ihren vielfältigen<br />
Nebenrollen unterstützten Elisabeth Fritze sowie Frie<strong>de</strong>mann A. Nawroth das Schauspiel.<br />
Anhand dieses konkreten Beispiels wird über ein Stück <strong>de</strong>utscher Geschichte reflektiert. Aus<br />
<strong>de</strong>r Ernüchterung <strong>de</strong>r sozialen Realität im Strausberg <strong>de</strong>r 60er Jahre heraus fangen <strong>de</strong>r 17-jährige<br />
Michael und <strong>de</strong>r gleichaltrige Gerd an, ihren Zweifel an <strong>de</strong>r DDR zu leben: Sie hören klassenfeindliche<br />
Musik, sie beschmieren die Mauer, welche urplötzlich <strong>de</strong>n Weg ins vermeintliche<br />
Paradies Westberlin versperrt, sie beschließen daraufhin, sich <strong>de</strong>n Weg freizusprengen. Der<br />
Plan misslingt; sie wer<strong>de</strong>n inhaftiert. Im sich anschließen<strong>de</strong>n Schauprozess kommt es zur Verurteilung<br />
zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe. Konfrontiert mit menschenunwürdigen<br />
Haftbedingungen rebelliert Gartenschläger und radikalisiert sein Denken. Unter <strong>de</strong>n zwischen<br />
1964 und 1989 von <strong>de</strong>r BRD inoffiziell freigekauften 33755 Häftlingen befan<strong>de</strong>n sich auch Gartenschläger<br />
und Resag, die 1971 nach 10 Jahren politischen Gewahrsams befreit wur<strong>de</strong>n. Jenseits<br />
<strong>de</strong>r verhassten Mauer zeigt sich Gartenschläger gegenüber <strong>de</strong>r beschwichtigen<strong>de</strong>n Entspannungspolitik<br />
Brandts zunehmend enttäuscht. Auf <strong>de</strong>r Suche nach extremeren Protest -<br />
formen <strong>de</strong>montiert er einen »To<strong>de</strong>sautomaten«, welcher Bestandteil <strong>de</strong>s sogenannten To<strong>de</strong>sstreifens,<br />
in <strong>de</strong>m 270 DDR-Bürger starben, war. Die Selbstschussanlage wird <strong>de</strong>r west<strong>de</strong>utschen<br />
Presse übergeben; Staatsicherheitschef Mielke schäumt vor Wut und requiriert ein Liquidationskommando,<br />
welches <strong>de</strong>n 32 Jahre alten Gartenschläger bei seinem erneuten Versuch <strong>de</strong>r<br />
Entwendung 1976 erschießt.<br />
Das durch <strong>de</strong>n Einsatz von projizierten Bil<strong>de</strong>rn und weitestgehend minimalistisch anmuten<strong>de</strong>m<br />
Bühnen- und Requisitenrepertoire gestaltete Stück wirft die Problematik eines unzulänglich<br />
vermittelten Geschichtsverständnisses auf. Bezeichnen<strong>de</strong>rweise wirkt <strong>de</strong>r Prolog als Fingerzeig<br />
auf <strong>de</strong>n Missbrauch dieser Geschichte von rechts: NPD-Funktionäre benutzen nicht nur<br />
<strong>de</strong>n Fall Gartenschläger, son<strong>de</strong>rn auch weiteres Unrecht <strong>de</strong>r DDR zur Indoktrinierung. Das ordnet<br />
sich in die Gesamtheit falscher Interpretationsansätze <strong>de</strong>r Geschichte ein. Dieses mangeln<strong>de</strong><br />
Verständnis von Geschichte schlug sich auch in <strong>de</strong>m relativ geringen Engagement <strong>de</strong>r Schüler in<br />
<strong>de</strong>r auf das Stück aufbauen<strong>de</strong>n Diskussion nie<strong>de</strong>r. Derartiges scheinbares Desinteresse in einer<br />
Abiturstufe ist doch durchaus beunruhigend und fragwürdig: Fühlen sich die »Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
Ostens« nicht mehr von DDR-Geschichte betroffen? Ruft ein solcher Fall mutiger Rebellion<br />
keine Meinung hervor? Sollte man die Aufarbeitung historischer Begebenheiten allein <strong>de</strong>n politischen<br />
Extremen überlassen? Wie schafft die Schule <strong>de</strong>m Abhilfe?<br />
Vielleicht bringen unterrichtsergänzen<strong>de</strong> Projekte die Lösung. Am Gymnasium Carolinum<br />
haben die Lehrer Dr. J. Heinig und U. Beesk mit ihrem Projektkurs »Untersuchungshaftanstalt<br />
Töpferstraße« zur lokalen Stasivergangenheit erste erfolgsversprechen<strong>de</strong> Schritte eingeleitet.<br />
Mit <strong>de</strong>r Aufführung von »Macht das Tor auf«“ wur<strong>de</strong> an dieser Schule nun ein weiteres Zeichen<br />
gesetzt.<br />
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Jonas Wehling und Maxim Menschenin