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72. Jg. – Nr. 140 Sommer 2008 - carocktikum.de

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durch die Schliemann-Gesellschaft bestrebt, mehr Briefe <strong>de</strong>r Öffentlichkeit zugänglich zu machen.<br />

Das soll durch Transkription <strong>de</strong>r in Deutscher Schrift und durch Übersetzungen <strong>de</strong>r in<br />

zwölf Sprachen geschriebenen Briefe und - wo es sich anbietet - durch Veröffentlichungen<br />

geschehen. Schwerpunkt in <strong>de</strong>r Erschließung <strong>de</strong>r Archivbestän<strong>de</strong> im letzten Jahr waren die<br />

Briefe <strong>de</strong>s Neustrelitzer Bekanntenkreises Schliemanns. Darunter fan<strong>de</strong>n sich auch in Latein<br />

geschriebene Briefe von Carl Andreß.<br />

Am 10. März 1883 schreibt Schliemann, <strong>de</strong>r im <strong>Sommer</strong> jenen Jahres einen längeren Aufenthalt<br />

in seinem Heimatort plante, aus Athen an Pastor Becker in Ankershagen: »Kannst Du nicht<br />

meinen einstigen Lehrer Carl Andres 2 von N.Strelitz während unseres Dortseins logiren; <strong>de</strong>nn<br />

ich mögte ihn gerne 1 Monat bei mir haben, da er <strong>de</strong>r einzige ist <strong>de</strong>r im Stan<strong>de</strong> wäre geläufig<br />

altgriechisch zu sprechen; auch weiß er alle gr[iechischen] Tragiker auswendig und schreibt<br />

Briefe die <strong>de</strong>m Plato Ehre machen wür<strong>de</strong>n.« 3 Wer war dieser so hoch gelobte Mann? Der heute<br />

in Vergessenheit geratene Neustrelitzer Bürger Carl Andreß (1808-1885) war <strong>de</strong>r Sohn eines<br />

großherzoglichen Mundkochs, <strong>de</strong>r mit finanzieller Unterstützung durch <strong>de</strong>n Großherzog von<br />

Mecklenburg-Strelitz alte und neue Sprachen studieren konnte. Seit 1830 wirkte er als Haus -<br />

lehrer. In dieser Funktion lernte ihn <strong>de</strong>r zehnjährige Heinrich Schliemann in <strong>de</strong>r kin<strong>de</strong>rreichen<br />

Familie seines Onkels in Kalkhorst kennen, wohin ihn sein Vater wegen <strong>de</strong>r misslichen Verhältnisse<br />

im Ankershagener Pfarrhaus nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Mutter geschickt hatte. In Kalkhorst<br />

unterrichtete Andreß dann auch <strong>de</strong>n kleinen Heinrich in Latein. Carl Andreß wur<strong>de</strong> 1845 Hilfsbeamter<br />

<strong>de</strong>r Großherzoglichen Bibliothek in Neustrelitz. Er galt als sehr gelehrt, aber auch als<br />

sehr verschroben. Nach allem, was über ihn bekannt ist, fristete er in <strong>de</strong>r Resi<strong>de</strong>nzstadt ein sehr<br />

kümmerliches Leben. Kürzlich wur<strong>de</strong> er in einem Vortrag im Museum mit <strong>de</strong>m ›Armen Poeten‹<br />

von Carl Spitzweg verglichen – wahrscheinlich ein treffen<strong>de</strong>r Vergleich! Schliemann unterstützte<br />

seinen ehemaligen Lehrer seit Mitte <strong>de</strong>r 1850er Jahre finanziell, ließ ihn auch auf seine Kosten<br />

und zum damals üblichen Honorar die <strong>de</strong>utsche Übersetzung seines Buches ›Ithaque, le Péloponnèse,<br />

Troie. Recherches archéologiques‹ anfertigen, mit <strong>de</strong>r er aber nicht zufrie<strong>de</strong>n war.<br />

Über Carl Andreß fin<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>r Literatur eine interessante Notiz: »Er war von großer<br />

Gestalt, in seinem Alter stets gebückt gehend, trug einen langen Rock, an <strong>de</strong>m hinten stets ein<br />

rotes Taschentuch nach Spitzwegweise heraushing. Zwei Jahre nach <strong>de</strong>m Zusammensein mit<br />

Schliemann in Ankershagen ist er in Neustrelitz unbeachtet verstorben. Sein Grab hat <strong>de</strong>r Verfasser<br />

noch um 1926 auf <strong>de</strong>m Friedhof von Neustrelitz feststellen können.« 4 Im Archiv <strong>de</strong>s<br />

Heinrich-Schliemann-Museums befin<strong>de</strong>n sich insgesamt 49 Briefe aus <strong>de</strong>r Zeit vom 2. März<br />

1857 bis 16. Dezember 1884, davon 27 auf Deutsch, 16 auf Altgriechisch und 6 5 auf Latein.<br />

Schon seit vielen Jahren bestehen gute Beziehungen zwischen Museum und Gesellschaft mit<br />

<strong>de</strong>m Carolinum Neustrelitz, <strong>de</strong>ssen Schüler Heinrich Schliemann 1833 für kurze Zeit war, bis er<br />

dann wegen Geldmangels zur Realschule wechseln musste, die sich im gleichen Gebäu<strong>de</strong> befand.<br />

Somit war es nur eine Frage <strong>de</strong>r Zeit, dass sich die Beziehungen bei<strong>de</strong>r be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Kultur-<br />

und Bildungseinrichtungen <strong>de</strong>r Mecklenburgischen Seenplatte noch enger gestalten sollten.<br />

Dr. Peters kam je<strong>de</strong>s Jahr mit seinen Lateinschülern zu einem Projekttag ins Museum. Auch<br />

sonst ist er oft Gast <strong>de</strong>r Einrichtung. Nahezu von selbst drängte sich im Gespräch mit <strong>de</strong>m<br />

Museumsleiter die I<strong>de</strong>e auf, schulischen Unterricht mit interessanten Projekten zu bereichern:<br />

Warum sollten nicht begabte Schülerinnen und Schüler zusammen mit ihrem engagierten<br />

Lehrer bei <strong>de</strong>r Erschließung <strong>de</strong>r Museumsarchivalien helfen? Eine erste Antwort darauf liegt<br />

nun mit dieser kleinen Publikation vor.<br />

2 Der Leser möge sich nicht an <strong>de</strong>r unterschiedlich vorkommen<strong>de</strong>n Weise <strong>de</strong>s Namens stören: Andreß, Andress,<br />

Andres.<br />

3 Ernst Meyer (Hrsg.), Heinrich Schliemann. Briefwechsel, II. Band (= Meyer, BW II), Berlin 1958, S. 158.<br />

4 Ernst Meyer, Heinrich Schliemann. Kaufmann und Forscher, Göttingen - Zürich - Berlin - Frankfurt 1969, S. 61.<br />

Die Beschreibung beruht auf einer mündlichen Äußerung <strong>de</strong>s Neustrelitzer Architekten Hustädt im Jahre 1950<br />

gegenüber Meyer.<br />

5 Lei<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 6. Brief erst nach Redaktionsschluss ›ent<strong>de</strong>ckt‹.<br />

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