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72. Jg. – Nr. 140 Sommer 2008 - carocktikum.de

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Jetzt sah ich Josua aus <strong>de</strong>m Unterdorf am großen Holzkreuz stehen. Ein Soldat gab ihm eine<br />

Axt und befahl ihm, das Christuskreuz umzuhacken wie einen Baum, und es auf seinen Schultern<br />

die Straße entlangzuschleppen.<br />

Ich wollte ihm helfen, aber ein Soldat stieß mich zurück, die Soldaten lachten über mich und<br />

beschimpften Josua und stießen ihn, damit er schneller das Kreuz tragen sollte.<br />

Vor <strong>de</strong>m Gasthaus brach er zusammen und dort blieb das Kreuz liegen, viele Tage. Später<br />

warf man es im Gasthaus an die Seite <strong>de</strong>s großen Tanzsaales, dort lag es, solange ich mich er -<br />

innern kann. Wenn Feste waren, haben wir Kin<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Stamm <strong>de</strong>s Kreuzes beson<strong>de</strong>rs gern<br />

gesessen. Josua aber haben wir seit diesem Tag nicht wie<strong>de</strong>r gesehen.<br />

»Christus gibt es wirklich, er ist Josua aus <strong>de</strong>m Unterdorf, aber er ist nicht am Kreuz gestorben,<br />

vielleicht wird er wie<strong>de</strong>r zurückgekommen. Ist Josua schon immer Christus gewesen?«,<br />

fragte ich meine Mutter. »Du bringst alles durcheinan<strong>de</strong>r«, sagte sie, »Josua ist nicht Christus, er<br />

ist ein Pole und er ist ein Jid«, und ich merkte, sie wollte darüber mit mir nicht sprechen. Aber<br />

mir kam es vor, als wür<strong>de</strong> unser kleines Dorf eine beson<strong>de</strong>re Rolle spielen in <strong>de</strong>r Welt, wie ich es<br />

schon in <strong>de</strong>m dicken Buch gesehen hatte. Das machte mich stolz.<br />

Am nächsten Tag waren die Soldaten wie<strong>de</strong>r weg, dann dauerte es nicht lange, da wur<strong>de</strong><br />

mein Vater auch Soldat. Als er fortging, hat meine Mutter sehr geweint. Mir gefiel seine schöne<br />

Uniform, jetzt sah er aus wie die Soldaten, die in unser Dorf gekommen waren und wie die, die<br />

Josua zwangen, das Kreuz zu tragen. Aber wo waren meine Freun<strong>de</strong> Janek und Stephan und die<br />

an<strong>de</strong>ren, mit <strong>de</strong>nen ich immer zum Angeln ging. Wir spielten nicht mehr ›Ziegenhüten‹ o<strong>de</strong>r<br />

›Himmel und Hölle‹ o<strong>de</strong>r ›Wer hat Angst vor <strong>de</strong>m schwarzen Mann?‹ War ich dieser ›schwarze<br />

Mann‹, hatten sie Angst vor mir und warum?<br />

Meine Erinnerungen beginnen im <strong>Sommer</strong> 1939 und en<strong>de</strong>n im Herbst 1945, als wir unsere<br />

polnische Heimat verlassen mussten und über eine zerstörte O<strong>de</strong>rbrücke nach Deutschland<br />

gingen.<br />

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