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72. Jg. – Nr. 140 Sommer 2008 - carocktikum.de

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auch <strong>de</strong>r Kasper. Ich habe es <strong>de</strong>utlich gesehen, <strong>de</strong>nn alle Figuren wur<strong>de</strong>n an Schnüren gezogen,<br />

aber alles wirkte wie echt.<br />

Es war ein sehr schöner Junitag, aber dafür gab es gleich im September viel Aufregung, <strong>de</strong>nn<br />

eines Tages packte meine Mutter Decken und Kissen zusammen, etwas zu Essen und zu<br />

Trinken, und ich dachte, es geht wie<strong>de</strong>r auf eine große Reise, aber es ging nur in die Rübenfel<strong>de</strong>r<br />

hinter unserer Scheune, wo wir übernachteten. Mein Vater trug das Gepäck, meine Mutter<br />

hatte mein wenige Monate altes Schwesterchen in ein Kissenbün<strong>de</strong>l gepackt auf ihrem Arm. Ich<br />

aber stolperte Vater und Mutter singend voran, und begriff nicht, warum mein Vater mir energisch<br />

zurief: »Sei still, Bengel!« Ich reagierte sofort, <strong>de</strong>nn die Anre<strong>de</strong> ›Bengel‹ benutzten meine<br />

Eltern immer nur in einer sehr ernsten Situation. Ich verstand sofort, das gehört zu <strong>de</strong>m Abenteuer<br />

genauso wie die geheimnisvolle Dunkelheit, in die wir gingen. Also schwieg ich, aber ging<br />

immer noch mutig voran.<br />

»Warum schlafen wir nicht zu Hause?«<br />

»Es ist Krieg«, sagte mein Vater. »Seit sechs Tagen sind die Polen unsere Fein<strong>de</strong>.«<br />

»Auch Edmund und Janina?«<br />

Mein Vater antwortete mir nicht. Er sah mich nur an. Ich sagte: »Deshalb müssen wir uns vor<br />

ihnen in <strong>de</strong>n Rübenfel<strong>de</strong>rn verstecken. Vor Edmund und Janina und Onkel Karel und Tante<br />

Janka?«<br />

»Nein, nicht vor Tante Janka und nicht vor Onkel Karel.«<br />

»Und was ist mit <strong>de</strong>n polnischen Störchen?«<br />

Darauf antwortete mein Vater auch nicht. Nur meine Mutter sagte: »Störche sind eben Störche.<br />

Die haben damit nichts zu tun«.<br />

Na ja, dachte ich, wenn die Störche damit nichts zu tun haben, dann kann es so schlimm<br />

nicht sein.<br />

Nach vier abenteuerlichen Nächten in <strong>de</strong>n Rübenfel<strong>de</strong>rn kamen <strong>de</strong>utsche Soldaten ins Dorf<br />

und die verdarben mir alles, <strong>de</strong>nn jetzt musste ich wie<strong>de</strong>r in meinem Bett schlafen und brauchte<br />

mich nicht mehr vor meinen Fein<strong>de</strong>n verstecken.<br />

Die <strong>de</strong>utschen Soldaten bekamen Blumen geschenkt, aber ich wusste nicht wofür.<br />

Alles war durcheinan<strong>de</strong>r. Wo waren meine polnischen Freun<strong>de</strong>. Mussten die sich jetzt auch<br />

in <strong>de</strong>n Rübenfel<strong>de</strong>rn verstecken? Es wur<strong>de</strong> langweilig im Dorf. Ich konnte nicht einmal richtig<br />

spielen.<br />

Ich ging zum Babiniec, zu <strong>de</strong>m kleinen See, in <strong>de</strong>m wir im <strong>Sommer</strong> immer ba<strong>de</strong>ten und im<br />

Winter auf ihm schlid<strong>de</strong>rten o<strong>de</strong>r Piekschlitten fuhren.<br />

Dort sah ich an <strong>de</strong>r Wegkreuzung eine Menschenansammlung. Endlich war wie<strong>de</strong>r etwas los,<br />

und ich erlebte eine Geschichte, die ich schon in einem dicken Buch als Bild gesehen hatte. Ein<br />

Mann trug ein großes schweres Kreuz auf seinen Schultern. Meine Mutter erzählte mir oft<br />

Märchen aus diesem dicken Buch, die gefielen mir immer gut, aber das Märchen vom Christus<br />

mit <strong>de</strong>m Kreuz hatte ich nie so richtig verstan<strong>de</strong>n.<br />

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