72. Jg. – Nr. 140 Sommer 2008 - carocktikum.de
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Erhard Kunkel<br />
Erinnern ist Wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n<br />
Ich hatte immer Scheu, an meinen Geburtsort in Polen zurückzukehren. Als ich ihn dann nach<br />
über fünfzig Jahren aufsuchte, fand ich die Erinnerungen an meine früheste Kindheit wie<strong>de</strong>r,<br />
und ich entschloss mich, sie aufzuschreiben, um sie für mich zu vergegenwärtigen. Aber beim<br />
Schreiben stan<strong>de</strong>n mir meine heutigen Erkenntnisse um historische Zusammenhänge im Weg,<br />
die das unbelastete Erleben eines Kin<strong>de</strong>s verfälschen. Zu dieser Zeit kam mir ein Zufall zu Hilfe.<br />
Ich hörte ein Interwiev mit Siegfried Lenz, <strong>de</strong>r im Zusammenhang mit seinem Roman ›Heimatmuseum‹<br />
über diese Problematik sprach, er sagte sinngemäß:<br />
»Spreche ich über meine Erinnerungen, so gibt es zwei Erzähler – ich, <strong>de</strong>r die Geschichte erlebt<br />
hat, und ich, <strong>de</strong>r heute mehr um die ›Geschichte‹ <strong>de</strong>r Geschichte weiß. Ich darf die Erfahrung<br />
meiner Unerfahrung nicht stören, um ihr nicht ihre Wahrheit zu nehmen.«<br />
Diese Gedanken halfen mir, die Erlebnisse meiner frühen Kindheit aufzuschreiben, und<br />
ihnen ihre kindliche Naivität zu erhalten. Ich nannte sie: Vertreibung aus <strong>de</strong>m Paradies.<br />
Hineingeboren wur<strong>de</strong> ich in ein Paradies, in ein kleines Dorf im Posener Land, umgeben von<br />
Fel<strong>de</strong>rn und Wäl<strong>de</strong>rn, versteckt irgendwo zwischen <strong>de</strong>n Flüssen Netze und Warthe, es hieß<br />
Deutschro<strong>de</strong>. In diesem Dorf lagen <strong>de</strong>utsche und polnische Höfe eng beieinan<strong>de</strong>r, die Menschen<br />
waren sich freundlich und je<strong>de</strong>r Hof hatte ein Storchennest. Wenn ich über <strong>de</strong>n großen<br />
See sah, <strong>de</strong>r hinter <strong>de</strong>m Dorf lag, dachte ich, hier beginnt das Paradies.<br />
Mein Vater sagte: »Wenn es ein Paradies gibt, dann leben wir darin. Aber ein Paradies hat<br />
auch einen großen Nachteil, weil man irgendwann daraus vertrieben wer<strong>de</strong>n kann.«<br />
Vertrieben? Durch wen, dachte ich. Aber dann dachte ich auch wie<strong>de</strong>r, das Eigenartige an<br />
unserem Paradies ist, dass hier in zwei Sprachen gesprochen wird, in Deutsch und in Polnisch,<br />
das verstand ich nicht, aber es gefiel mir, auf <strong>de</strong>r Straße polnisch zu sprechen.<br />
Woran ich mich am weitesten zurückerinnern kann, ist an meine erste Reise in eine große<br />
Stadt.<br />
Eines Tages sagte mein Vater: »Morgen beginnt <strong>de</strong>r <strong>Sommer</strong>. Morgen fahren wir zum großen<br />
Fest <strong>de</strong>r Sonne nach Bromberg.«<br />
Am frühen Morgen ging es los.<br />
Das ›Sonnenfest‹ war ein großer Jahrmarkt. Ich sah wie Zigeuner auf Seilen tanzten, o<strong>de</strong>r auf<br />
<strong>de</strong>m Rücken <strong>de</strong>r galoppieren<strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>m Kopf stan<strong>de</strong>n. Es gab Feuerschlucker und<br />
Messerfresser.<br />
Und ich sah in einem Mäusezirkus viele Mäuse, die auf einer riesengroßen Trommel tanzten.<br />
Alles war sehr lustig.<br />
Aber dann gab es auch noch eine traurige Geschichte von einem guten Kasper und einem<br />
bitterbösen Teufel. Der gute Kasper kämpfte gegen <strong>de</strong>n Teufel. Aber weil ein Engel <strong>de</strong>m Kasper<br />
half, ging die Geschichte doch noch gut aus, darüber war ich sehr froh und ich musste nicht<br />
weinen. Es war ja auch kein richtiger Teufel und auch kein richtiger Engel, alles waren Puppen,<br />
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