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sozial - BruderhausDiakonie

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<strong>sozial</strong><br />

Magazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg<br />

Krisenzeit<br />

Wie Werkstätten der Flaute trotzen<br />

Stabile Beziehung<br />

Die Zusammenarbeit mit den<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong>-Werkstätten<br />

läuft trotz Krise gut, sagt<br />

ElringKlinger-Chef Stefan Wolf.<br />

Y Seite 4<br />

Pfiffige Ideen<br />

In den Werkstätten gibt es<br />

deutlich weniger Arbeit, dafür<br />

aber jede Menge pfiffige<br />

Ideen und kreative Lösungen.<br />

Y Seite 6<br />

Chancenreicher Kurs<br />

Trotz Auftragseinbußen sind<br />

die Weichen richtig gestellt,<br />

meint der Werkstättenleiter<br />

Gerhard Droste.<br />

Y Seite 8<br />

Ausgabe 2 | 2009<br />

Grüne Nische<br />

Das Geschäft mit Bio-Lebensmitteln<br />

blüht nach wie vor.<br />

Die Ravensburger Werkstätten<br />

haben volle Auftragsbücher.<br />

Y Seite 15


2<br />

EDitOriaL<br />

3 Werkstätten beschreiten<br />

neue Wege<br />

11 Münsingen-Buttenhausen:<br />

Landheim Buttenhausen<br />

hilft Suchtkranken<br />

4 Erfolgreich trotz Krise 12 Reutlingen:<br />

Morgens in die Klinik,<br />

abends wieder heim<br />

6 Die „fetten“ Jahre sind erst mal<br />

vorbei<br />

13 Münsingen:<br />

ZIB ist keine Mogelpackung<br />

7 Pappe stapelte sich bis zur Decke 14 Stuttgart:<br />

Leben fast wie zu Hause<br />

8 Die Weichen sind richtig gestellt 15 Ravensburg:<br />

„Fair, bio, <strong>sozial</strong>“<br />

spürt keine Flaute<br />

KOLUMNE DiaKONischEr iMpULs<br />

9 Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong>: Neue Arbeit –<br />

Wie können bedingt qualifizierbare<br />

Menschen an Arbeit teilhaben<br />

aKtUELLEs<br />

10 Ein dunkles Kapitel der<br />

Vergangenheit<br />

Krisenzeit – Wie Werkstätten der Flaute trotzen<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

wenn Sie dieses Heft in Händen halten, sind ein paar<br />

der wichtigen Veranstaltungen des Jubiläumsjahres,<br />

mit dem die <strong>BruderhausDiakonie</strong> den 200. Geburtstag<br />

ihres Begründers Gustav Werner begeht, bereits<br />

vorbei. Andere finden gerade statt oder stehen<br />

noch bevor: Am letzten Juniwochenende feierte die<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> auf dem Reutlinger Marktplatz<br />

ihr großes, zweitägiges Jubiläumsfestival. Am 12. Juli<br />

sendet das ZDF einen Fernsehgottesdienst aus den<br />

Werkstatträumen der <strong>BruderhausDiakonie</strong> in Dettingen<br />

im Ermstal. Und Ende September laden das<br />

Diakoniewissenschaftliche Institut der Uni Heidelberg<br />

und die <strong>BruderhausDiakonie</strong> zum Symposium<br />

nach Heidelberg. Thema: „Einstehen für die Zukunft –<br />

zur Teilhabe befähigen. Gustav Werner in zivilgesellschaftlicher<br />

Perspektive“. Im Innenteil dieses Heftes<br />

finden Sie einen Rückblick auf die Auftaktveranstaltung<br />

des Gustav-Werner-Jubiläumsjahrs am<br />

12. März. Unter dem Motto „Teil haben. Teil sein“<br />

feierten mehrere hundert Gäste in der Reutlinger<br />

Inhalt<br />

titELthEMa rEGiONEN<br />

15 Der richtige Maßstab<br />

des Wirschaftens<br />

Impressum<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009<br />

Marienkirche und beim Festakt in der Friedrich-List-<br />

Halle den Gründervater der <strong>BruderhausDiakonie</strong>.<br />

Um Teilhabe, speziell um Teilhabe an Arbeit geht es<br />

auch in unserem Schwerpunktthema. Die derzeitige<br />

Wirtschaftskrise lässt die Werkstätten für Menschen<br />

mit Behinderung nicht ungeschoren. Manche<br />

Bereiche der Werkstätten verzeichnen starke Umsatzrückgänge.<br />

Welche Bereiche betroffen sind und<br />

wie die Werkstätten mit der Krise umgehen, darüber<br />

berichten wir auf den Seiten 3 bis 8.<br />

Ich wünsche Ihnen informative und anregende Lektüre<br />

und lade Sie herzlich ein, die <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

auf einer der noch folgenden Veranstaltungen im<br />

Jubiläumsjahr näher kennenzulernen<br />

Ihre<br />

Klara Kohlstadt<br />

ISSN 1861-1281<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg<br />

Ringelbachstraße 211, 72762 Reutlingen<br />

Telefon 07121 278-225, Telefax 07121 278-955<br />

Mail redaktion@bruderhausdiakonie.de<br />

Herausgeber<br />

Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender<br />

Verantwortlich<br />

Klara Kohlstadt, Bereichsleiterin Kommunikation<br />

Redaktion<br />

Martin Schwilk (msk), Karin Waldner (kaw)<br />

Gestaltung und Satz<br />

www.mees-zacke.de<br />

Druck und Versand<br />

Grafische Werkstätte der <strong>BruderhausDiakonie</strong>,<br />

Werkstatt für behinderte Menschen<br />

Erscheint vierteljährlich<br />

Fotonachweis<br />

Titel + Seite 14: Oliver Hartmann;<br />

Seite 5: ElringKlinger AG;<br />

Seite 11: Rainer Fieselmann; Seite 16: privat<br />

alle übrigen: <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

Spendenkonto<br />

Evang. Kreditgenossenschaft Stuttgart,<br />

BLZ 600 606 06, Konto 4006


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009 Krisenzeit – Wie Werkstätten der Flaute trotzen titELthEMa<br />

Kreatives Krisenmanagement<br />

Werkstätten beschreiten neue Wege<br />

Die Krise ist in aller Munde, in den Medien folgt eine<br />

Hiobsbotschaft der anderen. Auch der Präsident der<br />

Industrie- und Handelskammer Reutlingen, Eberhard<br />

Reiff, konnte bei der Präsentation der aktuellen Konjunkturumfrage<br />

wenig Positives berichten. Zwar geht<br />

er davon aus, dass im Sommer die Talsohle erreicht<br />

wird. Die Probleme würden damit aber nicht aufhören.<br />

Stattdessen hält Eberhard Reiff einen Verlust von<br />

3000 Arbeitsplätzen im Kammerbezirk der IHK für<br />

möglich. Viele von der Wirtschaftskrise teilweise hart<br />

getroffene Unternehmen haben bisher einen Arbeitsplatzabbau<br />

verhindert, indem sie Kurzarbeit eingeführt<br />

haben und einfache Arbeiten selbst erledigen.<br />

Das wiederum bekommen diejenigen zu spüren, die<br />

von den Aufträgen dieser Unternehmen leben: die<br />

Werkstätten für Menschen mit Behinderung.<br />

Arbeit ist in unserer Leistungsgesellschaft ein (überlebens)<br />

wichtiges Gut. Das gilt für jeden Einzelnen,<br />

der seinen Lebensunterhalt sauer verdienen muss.<br />

Das gilt in besonderem Maße für Menschen, die<br />

gesellschaftlich benachteiligt sind wie Menschen<br />

mit geistiger Behinderung und Menschen mit psychischer<br />

Erkrankung. Die <strong>BruderhausDiakonie</strong> hat für<br />

ihr Jubiläumsjahr 2009 das Motto „Teil haben – Teil<br />

sein“ gewählt. Damit sich Menschen mit geistiger<br />

Behinderung und Menschen mit psychischer Erkrankung<br />

als Teil der Gesellschaft fühlen können, müssen<br />

sie die Chance haben, an den Werten dieser Gesellschaft<br />

teilzuhaben. Arbeit ist so ein Wert.<br />

Um die Beschäftigten auch in Zukunft ihren Fähigkeiten<br />

entsprechend fördern zu können, gehen die<br />

Werkstätten der <strong>BruderhausDiakonie</strong> auch neue,<br />

unkonventionelle Wege. Mit Bildungsmaßnahmen,<br />

pfiffigen Ideen und kreativen Lösungen versuchen<br />

sie, die Auftragsverluste wettzumachen. Menschen<br />

mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung<br />

haben das Recht auf einen Arbeitsplatz und<br />

ein monatliches Entgelt. Wenn es jedoch nicht mehr<br />

genug Aufträge gibt, können auch originelle Projekte<br />

wie der Bau von Tischkickern und das Anfertigen von<br />

Metalltieren als Dekostecker neue, wenn auch kleine<br />

Märkte erschließen.<br />

In den letzten Jahren haben die Werkstätten der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> mit rund 850 Beschäftigten in<br />

Für Menschen mit Handicap ist es besonders wichtig, am<br />

Arbeitsleben teilzuhaben<br />

Reutlingen und im Ermstal für über hundert, vorwiegend<br />

mittelständische Unternehmen Verpackungs-<br />

und Montagearbeiten erledigt, teilweise auch die<br />

Logistik, Warenlagerung und Qualitätssicherung. Ein<br />

großer Teil der Aufträge stammte seither von Firmen<br />

aus der Automobilbranche und der Automobil-Zuliefererbranche.<br />

Nach Auskunft von Gerhard Droste,<br />

dem Leiter der Werkstätten, haben diese seit Beginn<br />

der Krise 30 bis 35 Prozent ihrer Aufträge eingebüßt.<br />

Noch schlimmer wäre die Lage, hätte man nicht den<br />

Dienstleistungsbereich und die Vermarktung eigener<br />

Produkte kontinuierlich ausgebaut. Denn Dienstleistungen,<br />

so Droste, seien nach wie vor gefragt,<br />

genauso wie Lebensmittel aus biologischem Anbau.<br />

Darüber hinaus gehe man gezielt auf neue Firmen,<br />

im Bereich der Medizintechnik und der erneuerbaren<br />

Energien beispielsweise, zu.<br />

Letztendlich kann niemand sagen, wie schwerwiegend<br />

die Folgen der Wirtschaftskrise sein werden und<br />

wann die Konjunktur wieder steigt. Was man mit Sicherheit<br />

sagen kann ist, dass sich die Werkstätten der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> mit Engagement und Kreativität<br />

gegen die Krise zur Wehr setzen. kaw Z<br />

+ www.bruderhausdiakonie-werkstaetten.de<br />

3


4<br />

titELthEMa<br />

Kooperation mit der Industrie<br />

Krisenzeit – Wie Werkstätten der Flaute trotzen<br />

Erfolgreich auch in der Krise<br />

Y Sie sind Vorstandsvorsitzender eines weltweit tätigen<br />

Unternehmens. In Teilbereichen Ihrer Produktion<br />

arbeiten Sie eng zusammen mit Werkstätten für Menschen<br />

mit Behinderung (WfbM). Was ist Ihre unternehmerische<br />

Motivation dafür?<br />

Das wurzelt schon in der Geschichte des Unternehmens.<br />

Die ElringKlinger AG, vor allem die Firma Elring,<br />

die Teil der 1994 fusionierten Firma ElringKlinger ist,<br />

hat schon immer ein sehr starkes <strong>sozial</strong>es Engagement<br />

gezeigt. Die Gründerfamilie Lechler, die auch<br />

heute noch in der vierten Generation mit 55 Prozent<br />

am Aktienkapital beteiligt ist, legt sehr viel Wert auf<br />

den <strong>sozial</strong>en Aspekt. Familie Lechler unterstützt über<br />

die Paul Lechler Stiftung auch die <strong>BruderhausDiakonie</strong>.<br />

Und es war eigentlich schon immer Ansatz und<br />

Philosophie des Unternehmens, auch benachteiligte<br />

Menschen in den Arbeitsprozess einzubinden, ihnen<br />

eine sinnvolle Aufgabe zu geben und sie dafür natürlich<br />

auch zu entlohnen, um ein entsprechendes<br />

Erfolgserlebnis zu ermöglichen.<br />

Y Wie sind Ihre Erfahrungen?<br />

Wir haben mit der Werkstätte in Dettingen sehr gute<br />

Erfahrungen gemacht. Wenn sie so einen verlässlichen<br />

Partner haben, der ihnen wirklich zuverlässig<br />

und gut die Arbeit erbringt, dann überlegt man sich,<br />

wie man die Kooperation noch sinnvoll ausweiten<br />

kann und wie beide voneinander profitieren können.<br />

Und es ist natürlich, das kann man offen ansprechen,<br />

von der Kostengestaltung her durchaus konkurrenzfähig.<br />

Ich will jetzt nicht sagen, es ist deutlich billiger.<br />

Aber es ist konkurrenzfähig.<br />

Ich war zwei, drei Mal selbst in der Werkstätte und<br />

kenne auch andere, reine Wirtschaftsunternehmen,<br />

die Sortier- oder Verpackungsarbeiten machen – der<br />

ganze Geist und auch das Engagement der Leute in<br />

der Werkstätte ist völlig anders. Die Mitarbeiter dort<br />

sind einfach deutlich stärker dabei, die sind enga-<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009<br />

Stefan Wolf ist Vorstandsvorsitzender des Automobilzulieferers ElringKlinger,<br />

eines wichtigen Partners der Werkstätten der <strong>BruderhausDiakonie</strong>, vor allem<br />

am Standort Dettingen/Erms. Im Interview begründet der promovierte Jurist,<br />

warum die Zusammenarbeit trotz der Krise funktioniert.<br />

giert. Die freuen sich, dass sie die Arbeit verrichten<br />

dürfen. Und wenn sie in andere, rein wirtschaftlich<br />

geführte Betriebe gehen, da ist es doch manchmal so,<br />

dass die Leute dort die Arbeit mit einer völlig anderen<br />

Einstellung angehen. Die sehen das eher als Pflicht,<br />

und das Ergebnis ist nicht immer so gut wie bei den<br />

Werkstätten.<br />

Y Gibt es Arbeiten, die eine WfbM besser oder preisgünstiger<br />

ausführen kann als ein anderer Zulieferer?<br />

Eigentlich nicht. Ich würde sagen, sie sind vom Preis<br />

her im marktüblichen Bereich. Ich würde es im Übrigen<br />

auch für verfehlt halten, wenn sie mit Dumpingpreisen<br />

antreten würden, nur um Aufträge zu<br />

bekommen. Denn ich finde: Gute Arbeit muss auch<br />

reell entlohnt werden.<br />

Y Als Dichtungsspezialist beliefern Sie hauptsächlich<br />

die Automobilindustrie, aber auch Hersteller von<br />

Großmotoren. Ist Ihr Unternehmen von der derzeitigen<br />

weltweiten Krise mit betroffen?<br />

Ja, die aktuelle Krise macht sich natürlich auch bei uns<br />

deutlich bemerkbar. Die Fahrzeugindustrie ist in einer<br />

tiefen Krise. Die Pkw-Absatzzahlen gehen bei den<br />

Fahrzeugherstellern deutlich zurück, und das wirkt<br />

sich natürlich auch auf einen Teilehersteller wie Elring-<br />

Klinger aus. Wir haben in einigen Bereichen – wenn sie<br />

den reinen Teileumsatz mit der Fahrzeugindustrie<br />

nehmen – im ersten Quartal 2009 gegenüber dem<br />

Vorjahr bis zu 40 Prozent Minus gemacht. Wir haben<br />

aber sofort gegengesteuert und die notwendigen<br />

Maßnahmen ergriffen. Und wir haben – das will ich<br />

betonen – auch ohne betriebsbedingte Kündigungen<br />

bei der Stammbelegschaft im ersten Quartal 2009<br />

schwarze Zahlen geschrieben. Es gibt auch keine Auswirkungen<br />

auf die Werkstätten hier in Dettingen, die<br />

für das auch in der Krise bisher sehr stabile Ersatzteilgeschäft<br />

der ElringKlinger AG arbeiten.


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009 Krisenzeit – Wie Werkstätten der Flaute trotzen<br />

Y Das heißt, die Zusammenarbeit läuft normal weiter?<br />

Es läuft normal weiter. Wenn Sie fragen, ob wir Arbeiten<br />

zurücknehmen, so kann ich das klar verneinen.<br />

Y Was erwarten Sie von den WfbM in Bezug auf Ausrüstung,<br />

Qualität, Flexibilität, Termintreue? Wie sind<br />

Ihre bisherigen Erfahrungen mit den Werkstätten?<br />

Die Werkstätten müssen sich natürlich messen lassen<br />

mit anderen Anbietern, die vergleichbare Leistungen<br />

anbieten. Ich hab’s ja vorhin schon gesagt: Sie sind<br />

preislich absolut konkurrenzfähig. Man muss natürlich<br />

sehen: Wenn man heute in unserer Industrie<br />

tätig ist, dann muss die Qualität gut sein. Sie müssen<br />

über entsprechende Anlagen und Ausrüstung verfügen<br />

und die notwendigen Arbeitsmittel haben, damit<br />

die Leute effektiv und schnell arbeiten können. Und<br />

ich finde es beeindruckend, wie das hier bei der Werkstätte<br />

in Dettingen ist. Sie ist sehr gut ausgestattet,<br />

qualitativ hochwertig, die Leute und die Führung dieser<br />

Werkstätte sind sehr gut. Das ist natürlich auch<br />

ein Grund für den Erfolg, den wir miteinander haben.<br />

Weil es da einfach stimmt und die Dinge ordentlich<br />

und qualitativ hochwertig abgearbeitet werden. Wir<br />

haben, wie gesagt, eigentlich nur gute Erfahrungen<br />

mit der Werkstätte. Es gibt zwar immer mal wieder<br />

das eine oder andere, worüber man sprechen muss –<br />

aber das ist überall so. In der Gesamtschau haben wir<br />

eine wirklich sehr gute Zusammenarbeit.<br />

Y Arbeiten Sie auch an anderen Standorten mit WfbM<br />

zusammen oder beschränkt sich die Zusammenarbeit<br />

auf den Standort Dettingen?<br />

Im Wesentlichen beschränkt sich die Kooperation auf<br />

den Standort Dettingen. Wir haben noch ein bisschen<br />

was in unserem Werk in Runkel bei Limburg. Aber das<br />

ist eher marginal. Das liegt vor allem daran, dass die<br />

Arbeiten, die wir vergeben, ersatzteilbezogen sind.<br />

Und das Ersatzteilgeschäft läuft nur über Dettingen.<br />

Y Wie beurteilen Sie die gesamtwirtschaftliche Entwicklung<br />

in der näheren Zukunft und die Zukunft Ihres<br />

Unternehmens? Sehen Sie bereits den Silberstreif am<br />

Horizont oder erwarten Sie eine längere Durststrecke?<br />

Wir sehen ein kleines Licht am Ende des Tunnels.<br />

Wenn man sich die Aufträge anschaut, sind wir na-<br />

türlich bei weitem nicht<br />

auf dem Niveau, wo wir<br />

2008 waren. Aber wir<br />

sehen einen leichten<br />

Anstieg. Das heißt: Die<br />

Dinge bewegen sich<br />

zum Positiven. Und da<br />

wir uns bereits in der<br />

schwierigen Situation<br />

im ersten Quartal ganz Stefan Wolf kam 1997 zu ElringKlinger und war<br />

gut geschlagen haben, dort unter anderem Generalbevollmächtigter und<br />

gehen wir davon aus, Vorstandssprecher, bevor er 2006 Vorstandsvorsitzender<br />

wurde<br />

dass wir uns auch im<br />

zweiten Quartal ganz gut schlagen werden, wenn<br />

es jetzt – obgleich sehr verhalten – wieder etwas<br />

anzieht. Ich glaube auch, dass sich dieser Aufwärtstrend<br />

sehr verhalten und auf sehr niedrigem Niveau<br />

im Verlauf des Jahres fortsetzen wird. Und dass wir<br />

auch im Jahr 2010 wieder ein leichtes Anziehen<br />

sehen werden, so dass wir dann zumindest in unserer<br />

Industrie in eine moderate konjunkturelle Belebung<br />

hineingehen. In diesem Umfeld wird – natürlich<br />

immer stark ersatzteilbezogen – die Zusammenarbeit<br />

mit der Werkstätte entsprechend fortgesetzt. Sie wird<br />

sich auch in der Zukunft auf vergleichbarem Niveau<br />

bewegen.<br />

Y Was können die WfbM tun, um für Sie als großes<br />

Unternehmen auch in schwierigen Zeiten attraktive<br />

Kooperationspartner zu bleiben?<br />

Man muss sich – das kennen wir selbst ja auch – auf<br />

den Kunden einstellen. Man muss offen und flexibel<br />

sein. Wenn der Kunde mit Aufträgen kommt, dann<br />

muss man sicherstellen, dass man entsprechende Anlagen<br />

und Maschinen beschafft und die notwendigen<br />

Arbeitsplätze einrichtet, die es dann ermöglichen, die<br />

Arbeiten durchzuführen. Es gilt, Veränderungsbereitschaft<br />

zu zeigen.<br />

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das zumindest<br />

bei der Werkstätte hier in Dettingen durchaus<br />

gegeben ist. Sonst hätte sich das Geschäft auch nicht<br />

so positiv entwickelt. Es kam immer wieder etwas<br />

Neues dazu, weil auch von Seiten des Partners, der<br />

Werkstätte, die Bereitschaft da war, zu investieren.<br />

Und das ist, denke ich, ganz wichtig. Wenn man Flexibilität<br />

an den Tag legt, dann wird man als Werkstätte<br />

für behinderte Menschen auch in Zukunft erfolgreich<br />

sein können. msk Z<br />

titELthEMa<br />

5


6<br />

titELthEMa<br />

Wirtschaftskrise trifft Werkstätten<br />

Krisenzeit – Wie Werkstätten der Flaute trotzen<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009<br />

Die „fetten“ Jahre sind erst mal vorbei<br />

Die Wirtschaftskrise hat den Alltag in den Werkstätten der <strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

in Reutlingen und im Ermstal verändert. Es gibt deutlich weniger Arbeit. Mit Bil -<br />

dungsmaßnahmen, pfiffigen Ideen und kreativen Lösungen trotzt man der Flaute.<br />

Gemächlich rollt der Gabelstapler an haushohen<br />

Regalwänden entlang. Es herrscht noch gähnende<br />

Leere in der neuen, geräumigen Lagerhalle auf dem<br />

Gelände der Werkstatt für Menschen mit Behinderung<br />

in Dettingen/Erms. Das kleine Gefährt wirkt<br />

ein wenig verloren inmitten dieser gigantischen<br />

Regallandschaft. Sein Fahrer bremst behutsam und<br />

zögert eine Sekunde, bevor er weiterfährt – als fiele<br />

es ihm schwer, sich für einen der vielen freien Plätze<br />

zu entscheiden. Wenn alles läuft wie geplant, werden<br />

die blanken Bretter schon bald mit Ware gefüllt sein.<br />

Sowie die Bauarbeiten beendet sind, haben rund<br />

850 Paletten in der erweiterten Lagerhalle Platz.<br />

Theoretisch.<br />

Und praktisch? Wozu erweitern, wenn die Wirtschaft<br />

abflaut und kein Mensch weiß, wann die Krise vorbei<br />

ist? Eine legitime Frage eigentlich. Sven Rauer beantwortet<br />

sie gelassen. „Für uns ist das eine Investition<br />

in die Zukunft“, sagt der Assistent des Werkstattleiters.<br />

Er deutet auf die randvollen Regale im alten<br />

Warenlager, wo sich die Paletten fast bis zur Decke<br />

türmen. „Das sind alles Schrauben, die wir für die<br />

Firma ElringKlinger verpacken.“ Mit dem benachbarten<br />

Automobilzulieferer arbeitet die Dettinger<br />

Werkstatt seit Jahren eng zusammen. Anfangs habe<br />

man täglich bis zu 100 Päckchen mit Zylinderkopfschrauben<br />

verpackt, erzählt Sven Rauer. Inzwischen<br />

seien es etwa 1500. Weil die Produktion von Zylinderkopfschrauben<br />

nicht von der Automobilindustrie,<br />

sondern vom<br />

Ersatzteilmarkt<br />

abhängig sei, gehe<br />

das Geschäft nach<br />

wie vor gut.<br />

„Das ist im Moment<br />

ein Lichtblick<br />

für uns“, betont<br />

Werkstattleiter<br />

Albert Herb. Auch<br />

sein zweitgrößter<br />

Kunde, die Firma<br />

Bunt bemalte Vogelhäuser: Altenative zur Auftragsarbeit<br />

Magura aus Bad<br />

Urach, die in Dettingen Teile für Bremsen, Fahrräder<br />

und Motorräder bearbeiten und verpacken lässt, ist<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong> bis jetzt treu geblieben.<br />

„Mitte des Jahres müssen wir mit einer leichten<br />

Auftragsreduzierung rechnen“, weiß Albert Herb und<br />

ist froh darüber. Schließlich mussten er und seine<br />

Mitarbeiter weitaus gravierendere Einbußen hinnehmen,<br />

und das nicht nur von Zulieferern der Automobilindustrie.<br />

Erste Auftragskürzungen habe es<br />

bereits im Oktober 2008 gegeben. Seit April seien die<br />

Auswirkungen der Wirtschaftskrise extrem zu spüren.<br />

Einige Kunden hätten ihr Auftragsvolumen um 50<br />

bis 90 Prozent reduziert, bedauert der Werkstattchef,<br />

manche Aufträge seien komplett zurückgezogen<br />

worden. Das betrifft nicht so sehr die Werkstatt in<br />

Bad Urach, die sich auf die Holzbearbeitung spezialisiert<br />

hat, Bauklötze, Kleinmöbel und Spielwaren<br />

anfertigt und alles in allem noch gut im Geschäft<br />

ist. Es betrifft auch nicht die ausgelagerten Arbeitsplätze<br />

in zwei Schulkantinen. Albert Herb spricht vor<br />

allem von den Werkstätten in Dettingen/Erms und<br />

Metzingen, deren Stärken die Metallbearbeitung und<br />

die Spezialmontage sind und die die Krise besonders<br />

hart getroffen hat.<br />

Anders als in der freien Wirtschaft müssen Menschen<br />

mit Behinderung oder psychischer Erkrankung<br />

freilich nicht um ihren Arbeitsplatz bangen. Geht die<br />

Arbeit aus, werden sie vor allem beruflich und kreativ<br />

gefördert – selbst wenn sie viel lieber arbeiten würden.<br />

„In dieser Situation sind die Gruppenleiter stark<br />

gefordert“, sagt Albert Herb und weist auf einen<br />

positiven Aspekt der Krise hin. Auf der Suche nach<br />

Lösungen seien die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

erstaunlich kreativ gewesen.<br />

Was er damit meint, zeigt sich bei einem Rundgang<br />

in aller Deutlichkeit. Die Teichanlage im Innenhof der<br />

Werkstätten wurde neu angelegt und bepflanzt. Im<br />

Gras stecken Tiere aus Metall, deren glänzende Oberfläche<br />

der Regen rosten ließ. In den vergangenen<br />

drei „fetten“ Jahren, in denen fast pausenlos für die<br />

Industrie gearbeitet wurde, hatte man für solche<br />

„Spielereien“ keine Zeit. Jetzt erschließt man sich


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009 Krisenzeit – Wie Werkstätten der Flaute trotzen titELthEMa<br />

damit neue, wenn<br />

auch kleine Märkte. Die<br />

lustigen Metalltiere<br />

werden ebenso zum<br />

Kauf angeboten wie die<br />

bunt bemalten Vogelhäuser,<br />

von denen jedes<br />

ein Unikat ist.<br />

Gruppenleiterin Irmgard<br />

Marktanner hat eine<br />

Gärtnerei gefunden, für<br />

die ihre Arbeitsgruppe<br />

30 Dekostecker aus Ton<br />

Metalltiere wie dieser Igel ha-<br />

anfertigt. Ihre Kollegin<br />

ben in Dettingen Konjunktur<br />

Annette Türk, die eher<br />

schwächere Menschen betreut, macht Spiel- und<br />

Malprojekte zur Förderung motorischer Fähigkeiten.<br />

Ein paar Räume weiter werden im Auftrag einer<br />

Pappe stapelte sich bis zur Decke<br />

Selbst die Kartonage in Reutlingen leidet unter hohen Auftragsverlusten<br />

Die moderne, erst ein Jahr alte Schneidemaschine<br />

steht einsam und verlassen im Raum. Das, was zuzuschneiden<br />

war, ist zugeschnitten. Mehr wird es heute<br />

nicht geben, auch wenn der Tag erst halb vorbei ist.<br />

Hinter der Maschine liegen flache Stapel mit Pappe<br />

auf einem Wagen, der eindeutig für größere Dimensionen<br />

bestimmt ist. „Das sind etwa 250 Zuschnitte“,<br />

schätzt Produktionsleiter Detlef Gerdemann – extrem<br />

wenig für die Kartonage, die bereits zu Gustav<br />

Werners Lebzeiten eingerichtet wurde und seit 30<br />

Jahren ein eigener, erfolgreicher Produktionszweig<br />

der Werkstätten in Reutlingen ist. „Vor der Krise<br />

stapelte sich die Pappe bis zur Decke.“<br />

Zwar werden daraus nach wie vor Stülpdeckelkartons<br />

für vier große Kunden in der Region und<br />

zahllose kleine gemacht. Nur viel weniger als früher,<br />

Gerdemann spricht von 60 Prozent Einbußen, und<br />

viel leiser. „Letztes Jahr haben um diese Tageszeit<br />

sämtliche Heftmaschinen geklappert“, erinnert<br />

sich der Produktionsleiter. Jetzt ist es auffallend<br />

still in dem großen, langgezogenen Raum. Sabine<br />

Meier (Name geändert) schiebt einem Kollegen<br />

die geschnittene und genutete Pappe zu, die noch<br />

gestanzt werden muss, bevor sie geheftet oder<br />

geklebt werden kann. Wenn viel zu tun ist, arbeitet<br />

die 48-Jährige selbst an einer Stanzmaschine. „Dafür<br />

Druckerei Etiketten für Nudelpackungen sortiert<br />

und Prospekte verpackt. Etwas ganz Originelles ließ<br />

sich der Gruppenleiter der Metzinger Werkstatt,<br />

Francesco Nardiello, einfallen. Nachdem ein Auftrag<br />

komplett weggefallen war, beschloss der Meister<br />

des Metall- und Montagehandwerks, mit den Beschäftigten<br />

Tischkicker zu bauen. Darüber hinaus renovierte<br />

er mit seiner Gruppe Werkstatt und Küche<br />

und startete ein Kochprojekt.<br />

Neben pfiffigen Ideen gibt es auch diverse Anfragen.<br />

Eine Anfrage betrifft das Verpacken von Besteck,<br />

eine weitere den Bau von Hasenställen, eine dritte<br />

die Anfertigung von Klangtrommeln. „Wir prüfen<br />

jede Anfrage“, sagt Werkstattleiter Albert Herb. Er<br />

und seine Mitarbeiter stehen mit einigen Firmen in<br />

ständigem Kontakt. Was sich wann daraus ergeben<br />

wird, weiß niemand. Es sind Investitionen in die<br />

Zukunft – wie die erweiterte Lagerhalle. kaw Z<br />

sind wir jetzt nicht mehr so<br />

unter Druck“, meint sie. Und ihr<br />

Kollege Peter Lehmann (Name<br />

geändert) fügt hinzu: „Letztes<br />

Jahr hatten wir so viel Arbeit,<br />

dass wir gar nicht wussten, wo<br />

wir anfangen sollen.“ Immerhin<br />

werden in der Kartonage<br />

neben Stülpdeckelkartons unter<br />

anderem auch Schuber, Handarbeitsschachteln,<br />

Akten- und<br />

Zeichenmappen produziert,<br />

Sonderanfertigungen und Kaschierarbeiten<br />

ausgeführt.<br />

Gruppenleiter Simon Weidle<br />

verteilt die verbliebene Arbeit<br />

so gut wie möglich auf die 38<br />

Beschäftigten. Dazu gehört<br />

auch die Anfertigung von Kartons auf Reserve für<br />

Kunden, die auf Abruf bestellen und eine schnelle<br />

Lieferung erwarten. Wer nichts mehr zu tun hat, den<br />

lässt der gelernte Buchbinder Bücher für die Stadtbücherei<br />

binden, oder er bietet eine Schulung an. Peter<br />

Lehmann kommt damit ganz gut zurecht. Sabine<br />

Meier schaut nach vorn: „Es kommen wieder bessere<br />

Zeiten.“ kaw Z<br />

Simon Weidle<br />

verteilt die ver-<br />

bliebene Arbeit –<br />

viel ist es nicht<br />

7


8<br />

titELthEMa<br />

Im Zeichen der Krise<br />

Krisenzeit – Wie Werkstätten der Flaute trotzen<br />

Die Weichen sind richtig gestellt<br />

Werkstätten in Reutlingen setzen verstärkt auf Dienstleistungen<br />

Die Werkstätten der <strong>BruderhausDiakonie</strong> in Reutlingen<br />

und im Ermstal haben in den letzten Jahren<br />

ihren Dienstleistungssektor kontinuierlich ausgebaut<br />

und verstärkt auf Eigenprodukte gesetzt. Das zahlt<br />

sich jetzt aus. „Hätten wir das nicht gemacht, wären<br />

wir von der Krise viel stärker<br />

betroffen“, glaubt Gerhard<br />

Droste. Der Leiter der Werkstätten<br />

sieht sich und sein<br />

Team auf dem richtigen Weg.<br />

„Wir wollen den Beschäftigten<br />

ein möglichst breites<br />

Arbeitsangebot machen.“<br />

Dazu gehörten Dienstleis-<br />

Gerhard Droste tungen wie Büroservice,<br />

digitale Aktenarchivierung, Lettershop und Direktmarketing,<br />

KfZ-Service und Landschaftspflege genauso<br />

wie die Vermarktung eigener Produkte aus der<br />

Kreativwerkstatt oder dem Obst- und Gemüseanbau.<br />

Weitgehend unabhängig von der allgemeinen Wirtschaftslage<br />

seien auch die ausgelagerten Arbeitsplätze<br />

in integrativen Cafeterien und Cafés.<br />

„Die Weichen sind richtig gestellt“, ist Droste überzeugt.<br />

Das Ausmaß der Krise sei dadurch „ein Stück<br />

weit abgemildert worden“. Mit rund 850 Beschäftigten<br />

in Reutlingen, Metzingen, Dettingen/Erms und<br />

Bad Urach arbeiten die Werkstätten für über hundert,<br />

zum größten Teil mittelständische Unternehmen.<br />

Zwei Drittel der Aufträge kommen aus der Automobilbranche<br />

beziehungsweise von deren Zulieferern,<br />

die bekanntlich besonders stark unter der Konjunkturkrise<br />

leiden. Um Arbeitsplätze zu sichern, haben<br />

viele Firmen Kurzarbeit beantragt und selbst einfache<br />

Arbeiten in den Betrieb zurückgeholt. Dadurch<br />

sei das Auftragsvolumen der Werkstätten, so Gerhard<br />

Droste, um 30 bis 35 Prozent zurückgegangen.<br />

In dieser Situation versucht Frank von Malottky,<br />

Abteilungsleiter Akquisition, Vertrieb und Marketing,<br />

„eng mit den Kunden im Gespräch zu bleiben, um<br />

zu erfahren, wie es bei ihnen weitergeht“. Gleich-<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009<br />

zeitig gehe man gezielt auf neue Firmen, im Bereich<br />

der Medizintechnik und der erneuerbaren Energien<br />

beispielsweise, zu. Die entscheidende Frage ist für<br />

Frank von Malottky dabei: „Wie können wir der Firma<br />

am besten nutzen?“ Schließlich beschränke sich das<br />

Angebot der Werkstätten nicht auf Verpackungs- und<br />

Montagearbeiten. „Für ElringKlinger übernehmen wir<br />

die Logistik, Warenlagerung und Qualitätssicherung.“<br />

Für den Daimler-Konzern und den Reutlinger Strickmaschinenhersteller<br />

Stoll wurden spezielle Vorrichtungen<br />

gebaut, die einen reibungslosen Arbeitsablauf<br />

ermöglichen. Für den Stuttgarter Kosmos-Verlag<br />

werden Experimentierbaukästen in Kommission<br />

genommen und verpackt.<br />

Als Rehabilitationseinrichtung haben die Werkstätten<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong> die Aufgabe, Menschen mit<br />

Behinderung zu fördern und bei der Tagesstrukturierung<br />

zu unterstützen. Wie jeder Arbeitgeber müssen<br />

sie aber auch auf ihren<br />

Umsatz achten. Um konkurrenzfähig<br />

zu sein, müssen<br />

Terminvorgaben eingehalten<br />

und den Kunden qualitativ<br />

hochwertige Arbeiten geliefert<br />

werden. „Wir verteilen<br />

die verbliebene Arbeit so gut<br />

es geht“, meint Frank von Ma-<br />

Frank von Malottky<br />

lottky dazu. Und wenn nichts<br />

mehr zu tun ist? „Dann nutzen die Gruppenleiter die<br />

Zeit, um die Beschäftigten weiterzubilden, gemeinsam<br />

Arbeitsabläufe zu optimieren und Arbeitsplätze<br />

neu zu gestalten.“ Oder es gibt ein <strong>sozial</strong>es Projekt<br />

mit einem anderen Unternehmen. In Dettingen/Erms<br />

kommen derzeit Auszubildende des Automobilzulieferers<br />

ElringKlinger in die benachbarte Werkstatt,<br />

um mit den Beschäftigten kreativ zu arbeiten.<br />

Ideen zur Krisenbewältigung gibt es somit zuhauf.<br />

„Wir nutzen die Krise als Chance“, betont Gerhard<br />

Droste. „Auch wenn es noch nie so einen Einbruch in<br />

den Werkstätten gegeben hat.“ kaw Z


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 1 | 2009 Krisenzeit – Wie Werkstätten der Flaute trotzen<br />

KOLUMNE<br />

Lothar Bauer: Neue Arbeit – Wie können<br />

bedingt qualifizierbare<br />

Menschen an Arbeit teilhaben?<br />

Das Verschwinden der „alten Arbeit“ ist eine der<br />

eindrücklichen Erinnerungen aus meinen frühen<br />

Kindertagen. Der Fortschritt hielt Einzug dadurch,<br />

dass die Tiere vor den traditionellen Fuhrwerken<br />

ausgespannt und statt ihrer Traktoren eingespannt<br />

wurden. Die Maschine übernahm die Arbeit, die bis<br />

dahin Menschen und Tiere zu leisten hatten. Werkzeuge<br />

und Geschirre, die das Leben der Menschen<br />

über Jahrtausende bestimmt hatten, wurden damit<br />

an den Nagel gehängt. Nach 1945 war die Landwirtschaft<br />

noch der Jobmotor Nummer eins. Eine<br />

Rationalisierungsentwicklung ohnegleichen hat<br />

dazu geführt, dass es heute gerade noch drei Prozent<br />

aller Beschäftigten sind, die in diesem Bereich Arbeit<br />

und Brot haben.<br />

„Neue Arbeit“ war gefragt, um den Verlust an alter<br />

Arbeit zu kompensieren. Die Industrie sorgte für<br />

Ersatz. Aber auch viele Arbeitsplätze, die seit Beginn<br />

der Industrialisierung geschaffen wurden, sind<br />

längst wieder verloren. Bei einer Betriebsbesichtigung<br />

wurden wir kürzlich durch riesige Maschinenhallen<br />

geführt; zwischen den Maschinenanlagen<br />

bewegten sich fast verloren ein paar wenige Menschen.<br />

Noch wird im Land des Exportweltmeisters<br />

viel Arbeit in der Güterproduktion angeboten. Die<br />

Rationalisierung schreitet aber in hohem Tempo<br />

voran. Wie viel Arbeit wird hier bleiben? Es ist eine<br />

spannende Frage, wie eine berechenbare Demografiekurve,<br />

die sinkende Bevölkerungszahlen zeigt, mit<br />

dem Bedarf des weniger berechenbaren Arbeitsmarktes<br />

zusammenpassen oder auseinanderfallen<br />

wird.<br />

„Neue Arbeit“ ist in den vergangenen Jahrzehnten<br />

vor allem in der sogenannten Dienstleistung entstanden,<br />

insbesondere auch im Sozial- und Gesundheitsbereich<br />

und in Verwaltungen. In Reutlingen<br />

befinden sich die Kommune, die Kliniken und die<br />

Der erste arbeitsmarkt verhält sich<br />

zunehmend intolerant gegenüber<br />

Menschen mit Leistungsminderungen<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> inzwischen unter den fünf<br />

größten Arbeitgebern. Diese Arbeitsplätze sind<br />

einerseits transferabhängig. Sie sind überwiegend<br />

finanziert durch Steuern und Abgaben. Andererseits<br />

sichern sie ein Grundangebot an Beschäftigung, das<br />

nicht in gleicher Weise den Zyklen des Weltmarktes<br />

unterworfen ist wie die Güterproduktion. Unser<br />

<strong>sozial</strong>staatliches Selbstverständnis war eine große<br />

Jobmaschine.<br />

„Neue Arbeit“ ist aber auch dadurch entstanden<br />

dass regelrecht neue Arbeitplätze generiert wurden.<br />

Neben dem ersten Arbeitsmarkt haben sich ein<br />

zweiter und ein dritter Arbeitsmarkt etabliert. Die<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> bietet auf diesem <strong>sozial</strong>staatlich<br />

geschaffenen Arbeitsmarkt 1500 Arbeitsplätze<br />

in Werkstätten für Menschen mit Behinderung an.<br />

Der erste Arbeitsmarkt verhält sich zunehmend intolerant<br />

gegenüber Menschen mit Leistungsminderungen.<br />

Eine Zahl veranschaulicht nachhaltig, wohin<br />

die Entwicklung gegangen ist: Mitte der 1970er<br />

Jahre waren noch 40 Prozent aller Arbeitsplätze von<br />

Menschen ohne Ausbildung besetzt. Heute stehen<br />

für diesen Personenkreis, der keine Qualifikationen<br />

nachweisen kann, gerade noch zehn Prozent aller<br />

Arbeitsplätze zur Verfügung. Die Frage, wie Menschen,<br />

die nur bedingt qualifizierbar sind, an Arbeit<br />

teilhaben können, wird dringender werden.<br />

Das wirtschaftliche Veränderungstempo ist ungebremst<br />

hoch. Die Halbwertszeit von Arbeitsplätzen<br />

nimmt damit ab. Da, wo Altes „ausgespannt“ wird,<br />

kommt es darauf an, dass genug wirtschaftliche<br />

und politische Innovationskraft da ist, damit Neues<br />

„eingespannt“ werden kann.<br />

Pfarrer Lothar<br />

Bauer, Vorstandsvorsitzender<br />

der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong><br />

9


10<br />

aKtUELLEs<br />

Günter Braun<br />

(links), Fachlicher<br />

Vorstand der <strong>BruderhausDiakonie</strong>,<br />

zeigte Edgar Völler<br />

und seiner Tochter<br />

moderne Jugendhilfeeinrichtungen<br />

Heimerziehung in der Nachkriegszeit<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009<br />

Ein dunkles Kapitel der Vergangenheit<br />

Die Wunden von damals sind noch offen. Menschen, die in den 1950er Jahren in<br />

Heimen aufwuchsen, melden sich jetzt zu Wort – und finden zunehmend Gehör.<br />

Die Entschuldigung des Diakonie-Präsidenten ist eindeutig:<br />

„Ich bedauere zutiefst, was damals im Namen<br />

der Diakonie geschehen ist.“ Das sagte Klaus-Dieter<br />

Kottnik, als er Mitte Mai die erste wissenschaftliche<br />

Untersuchung vorstellte zum Schicksal von Heimkindern,<br />

die in den 1950er Jahren in diakonischen Einrichtungen<br />

lebten. „Ich habe mir bis vor zwei Jahren<br />

nicht vorstellen können, dass wir so etwas in unserer<br />

Geschichte der Diakonie mitschleppen.“<br />

Edgar Völler, heute 68<br />

Jahre alt und erfolgreicher<br />

Seniorchef eines<br />

Unternehmens mit 20<br />

Mitarbeitern, ist ein<br />

ehemaliges Heimkind.<br />

1950, nach der Scheidung<br />

seiner Eltern,<br />

kam er als Zehnjähriger<br />

zusammen mit seiner<br />

älteren Schwester und seinem jüngeren Bruder in das<br />

Kinderheim Loßburg der damaligen Gustav-Werner-<br />

Stiftung. Vier Jahre blieb er dort. Mit 14 wurde er<br />

entlassen und machte, vermittelt durch die Kirche,<br />

eine Bäckerlehre, später die Meisterprüfung. Etliche<br />

Jahre engagierte er sich dann im Entwicklungsdienst<br />

auf den Philippinen. Was er in Loßburg erlebt hatte,<br />

behielt er lange für sich. Aber es prägte sein Leben.<br />

Wenn er beruflich in den Nordschwarzwald musste,<br />

machte er um Loßburg einen großen Bogen.<br />

Ermutigt durch Medienberichte über die Heimerziehung<br />

in der frühen Nachkriegszeit begann er, seine<br />

Erlebnisse im Heim aufzuzeichnen. Und er wandte<br />

sich mit seiner Geschichte an den Südwestrundfunk.<br />

Zeitgleich schrieb er einen Brief an den Vorstand<br />

der <strong>BruderhausDiakonie</strong>, die in Loßburg heute den<br />

Jugendhilfeverbund Kinderheim Rodt betreibt. „Ich<br />

hatte den Gedanken, die damals Verantwortlichen<br />

eventuell zur Rechenschaft zu ziehen“, sagt der agile<br />

Endsechziger. „Es ging mir um die Aufarbeitung des<br />

Leids der vergessenen Kinder.“<br />

Er berichtet von harter Arbeit in der Landwirtschaft.<br />

Selbst im Winter bei Schnee und Eis hätten die Kinder<br />

aufs Feld gemusst, um Rüben aus der Erde zu holen.<br />

Und er berichtet, wie der gefürchtete Heimleiter,<br />

den er nur den „kleinen Hitler“ nennt, im großen<br />

Schlafsaal und im Speisesaal mit drakonischen Strafen<br />

und Schlägen Ruhe und Disziplin durchsetzte.<br />

„Für mich ist wichtig, dass bekannt wird, welches<br />

Leid die Kinder damals ertragen mussten.“<br />

Als ihn der Vorstand der <strong>BruderhausDiakonie</strong> einlud,<br />

den Jugendhilfeverbund Kinderheim Rodt zu<br />

besuchen, überwand sich Edgar Völler und traute<br />

sich nach über fünf Jahrzehnten erstmals wieder<br />

nach Loßburg. Beim Rundgang durch die Einrichtung<br />

erlebte er, dass heute nichts mehr so ist, wie<br />

es einst war: kleine Wohngruppen mit eigener<br />

Küche und Einzel- oder Zweibettzimmern statt eines<br />

großen Schlaf- oder Speisesaals; jede Menge Spiel-,<br />

Bastel- und Lernmöglichkeiten statt harter Kinderarbeit;<br />

liebevolle und qualifizierte Erzieher statt<br />

überforderter Aufseher. „Zitternde Beine und ein<br />

beklemmendes Gefühl habe ich gehabt, als ich nach<br />

Loßburg gekommen bin“, erinnert er sich an den Besuch.<br />

„Danach ist der Druck weggenommen worden,<br />

weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass es heute<br />

anders ist als früher.“ Edgar Völler zeigte sich beeindruckt<br />

von der Vielfalt der pädagogischen Angebote<br />

und davon, dass die Institution Heim tatsächlich der<br />

Vergangenheit angehört. „Dass so eine Änderung<br />

stattgefunden hat, konnte ich mir gar nicht vorstellen“,<br />

betont er, „die Kinder haben hier alles, was sie<br />

brauchen für ihr späteres Leben – das hätte ich nie<br />

für möglich gehalten.“ Seine Aufzeichnungen über<br />

die Heimzeit will Edgar Völler nicht mehr öffentlich<br />

machen, sagt er, „weil ich überzeugt bin, dass die<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong> gute Arbeit leistet“. Das dunkle<br />

Kapitel der Nachkriegs-Heimerziehung möchte er<br />

dennoch aufgearbeitet wissen: „Da werde ich keine<br />

Ruhe geben.“ Dass die Einrichtungen sich ihrer Vergangenheit<br />

stellen und der Diakoniepräsident sich<br />

stellvertretend entschuldigt hat, das ist eine späte<br />

Genugtuung für das ehemalige Heimkind.<br />

msk Z<br />

+ www.bundestagsausschuss.blogspot.com/2008/12/<br />

medien.html


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009<br />

Münsingen-Buttenhausen<br />

Ein guter Platz für Suchtkranke<br />

Das Leben auf dem Land gilt oft als langweilig. Für Menschen mit schweren<br />

Abhängigkeitserkrankungen können Überschau barkeit und Ruhe ein Segen sein.<br />

Buttenhausen: ein Dorf im Großen Lautertal auf der<br />

Schwäbischen Alb, seit Mitte der 1970er Jahre Teilgemeinde<br />

der Stadt Münsingen. Mittendrin das Landheim<br />

Buttenhausen, einer der großen Arbeitgeber<br />

am Ort. Und eine große Einrichtung der Bruderhaus-<br />

Diakonie, die verschiedenartigste Hilfeleistungen<br />

anbietet für Menschen mit psychischer Erkrankung,<br />

für Menschen, die abhängig sind von Suchtmitteln<br />

wie Alkohol, für Menschen mit geistiger Behinderung<br />

und für alte und pflegebedürftige Menschen.<br />

Seit einigen Jahren verändert sich das Landheim<br />

Buttenhausen stark. „Wir befinden uns in einem<br />

kontinuierlichen Umstrukturierungsprozess“, sagt<br />

Landheim-Leiter Thomas Niethammer. „Das wird zu<br />

einer deutlichen Verkleinerung der Einrichtung im<br />

Ort Buttenhausen selbst führen und zur Verlagerung<br />

von Angeboten an andere Standorte.“<br />

Stationäre Wohnplätze, also Plätze mit Rundumbetreuung,<br />

sowie ambulant betreute Wohnplätze hat<br />

die Einrichtung bereits verlagert, unter anderem nach<br />

Münsingen und nach Bad Urach. Am Standort Buttenhausen<br />

entwickelt sich, was Thomas Niethammer<br />

„bedarfsorientierte Schwerpunktversorgung“ nennt:<br />

ein breit gefächertes Wohn-, Arbeits- und Betreuungsangebot<br />

für Menschen, die von der dörflichen<br />

Umgebung und dem Leistungsangebot besonders<br />

profitieren können. Das sind beispielsweise Männer<br />

und Frauen mit einer schweren Suchterkrankung und<br />

dauerhaften psychischen und körperlichen Einschränkungen.<br />

In der spezialisierten Suchthilfe fallen diese<br />

Menschen – im Fachjargon: chronisch und mehrfach<br />

beeinträchtigte Abhängigkeitserkrankte – leicht<br />

durch den Rost. In Buttenhausen dagegen ist die Zahl<br />

der Aufnahmeanfragen aus diesem Personenkreis in<br />

der jüngeren Vergangenheit deutlich angestiegen.<br />

„In den vergangenen fünf Jahren hat dieser Personenkreis<br />

etwa 25 Prozent unserer Neuaufnahmen<br />

ausgemacht“, berichtet Niethammer. Es lag also<br />

nahe, die Versorgung dieser Menschen auszubauen<br />

und fachlich weiterzubringen.<br />

„Bislang wurden dieser Personenkreis generell<br />

in bestehende Wohn- und Betreuungsangebote<br />

integriert“, so Niethammer, „heute haben wir auch<br />

getrennte Wohnangebote<br />

für sie, und zwar<br />

sowohl mit als auch<br />

ohne Abstinenzforderung.“<br />

Das ist deshalb<br />

wichtig, weil manche<br />

chronisch Abhängigen<br />

nicht dauerhaft abstinent<br />

leben können,<br />

andere aber den Schutz<br />

einer abstinenten Umgebung brauchen. Es gibt<br />

deshalb Wohnbereiche, etwa im neu eingerichteten<br />

„Haus Quelle“, wo für alle Bewohner gilt: kein<br />

Alkohol, keine Droge. Auch in den Werkstätten, wo<br />

Maschinen laufen, herrscht strengstes Alkoholverbot.<br />

Und es gibt Wohnbereiche, wo Alkoholkonsum<br />

toleriert wird – in individueller Absprache mit den<br />

Betreuern und dem behandelnden Arzt. Am Ende der<br />

Skala steht dann das weitgehend selbstbestimmte<br />

Wohnen mit ambulanter Betreuung. „Wir sind der<br />

Ansicht, dass Abstinenz das wichtigste und für die<br />

Gesundheit förderlichste Ziel ist, sie darf aber nicht<br />

die Voraussetzung sein für jede weitere Hilfe“, betont<br />

Thomas Niethammer, „deshalb gehen wir nach<br />

einem mehrstufigen Modell vor, an dessen erster<br />

Stelle die Sicherung des Überlebens steht und das im<br />

besten Fall schrittweise wieder zur selbstständigen<br />

Lebensführung anleitet.“<br />

Thomas Niethammer ist sich sicher, dass das Landheim<br />

Buttenhausen sich auf den richtigen Weg<br />

gemacht hat: Eine Tagung zur Betreuung Suchtkranker<br />

im Rahmen der Eingliederungshilfe lockte Ende<br />

April so viel Fachpublikum ins Lautertal, dass der<br />

vorgesehene Tagungssaal grade mal für die Hälfte<br />

der Teilnehmer reichte. Er nimmt es als „ein Zeichen<br />

dafür, dass die Fachleute ein zunehmendes Bewusstsein<br />

entwickelt haben für das Problem der Versorgung<br />

dieses Personenkreises“. msk Z<br />

+ www.dndberlin.de/content/aktuelles/documents/<br />

30bdk_abstracts.pdf<br />

+ www.bruderhausdiakonie.de/infobereich/wir/organisation/<br />

standorte/d.php?hid=911<br />

rEGiONEN<br />

Arbeitsmöglichkeiten<br />

auch für<br />

Suchtkranke gibt<br />

es in der Gärtnerei<br />

des Landheims<br />

Buttenhausen (im<br />

Vordergrund)<br />

11


12<br />

rEGiONEN<br />

Christian Fuchs<br />

(links) und Jochen<br />

Bügler sehen die<br />

Tagesklinik als<br />

wichtiges Bindeglied<br />

zwischen<br />

ambulanter<br />

Versorgung und<br />

Rundumversorgung<br />

Reutlingen<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009<br />

Morgens in die Klinik, abends wieder heim<br />

Die Reutlinger Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie hat sich zu einem<br />

wichtigen Baustein der psychiatrischen Versorgung in der Region entwickelt.<br />

Seit langem führt sie Wartelisten. Jetzt, im 15. Jahr ihres Bestehens, wurde ihre<br />

Platzzahl erhöht.<br />

Am Sonntagnachmittag geht es nicht mehr. Ihrer<br />

Freundin hat die alleinerziehende Mittdreißigerin<br />

zwar schon einmal erzählt, dass sie an Suizid denkt.<br />

Aber jetzt sind die Gedanken so stark geworden, dass<br />

die Freundin sie kurzerhand ins Auto gepackt hat und<br />

mit ihr zur Reutlinger Tagesklinik für Psychiatrie und<br />

Psychotherapie gefahren ist. Im Aufnahmegespräch<br />

erzählt die Mutter von<br />

ihrem zehnjährigen<br />

Sohn, den sie nicht<br />

allein lassen kann. Und<br />

von ihrem Lebensgefährten,<br />

mit dem sie<br />

in einer anscheinend<br />

glücklichen Beziehung<br />

lebt. Schnell wird klar:<br />

Die alleinerziehende<br />

Mutter ist hochgradig selbstmordgefährdet. Sie<br />

braucht eine intensive psychotherapeutische Behandlung<br />

– Medikamente allein helfen hier nicht weiter. Ein<br />

längerer Klinikaufenthalt ist aber ausgeschlossen, weil<br />

die Frau befürchtet, ihr Lebensgefährte versorge den<br />

Sohn nicht richtig.<br />

Jochen Bügler, Leitender Chefarzt der Klinik für<br />

Psychiatrie und Psychotherapie Reutlingen (PP.rt),<br />

beschreibt die Geschichte der selbstmordgefährdeten<br />

alleinerziehenden Mutter als typischen Fall einer<br />

Tagesklinik-Patientin: In der Regel sind das Menschen<br />

in schweren existenziellen Krisen, die einen, so Bügler,<br />

„unterstützenden Rahmen“ brauchen. Menschen, die<br />

intensiver behandelt werden müssen, als es in der<br />

Praxis eines niedergelassenen Psychiaters möglich ist.<br />

Und Menschen, die über einen längeren Zeitraum, das<br />

heißt über mehrere Wochen hinweg, behandlungsbedürftig<br />

sind. Die Tagesklinik habe sich etabliert in der<br />

Lücke zwischen der ambulanten Versorgung – etwa<br />

durch niedergelassene Ärzte – und der 24-Stunden-<br />

Rundumversorgung in einer Psychiatrischen Klinik,<br />

sagt Bügler. Vor 15 Jahren wurde die Reutlinger<br />

Tagesklinik eingerichtet. Ursprünglich gedacht war sie<br />

vor allem für chronisch psychisch kranke Menschen,<br />

die nach jahrelangem Klinikaufenthalt über einen<br />

langen Zeitraum hinweg therapeutische Unterstützung<br />

brauchen. Mittlerweile sind die Patienten in<br />

der Überzahl, die sich in einer schweren Lebenskrise<br />

oder Erkrankung neu orientieren müssen. So wie die<br />

alleinerziehende Mutter. Schon nach den ersten Therapiesitzungen<br />

schält sich heraus, dass die Beziehung<br />

zu ihrem Lebensgefährten entgegen ihrer Aussage<br />

miserabel ist – und dass sie sich nicht traut, sich ihm<br />

gegenüber durchzusetzen. Die Wurzeln dieser Unfähigkeit<br />

liegen in tief eingeprägten Verhaltensmustern<br />

aus der Kindheit, die in einer langfristigen Psychotherapie<br />

bearbeitet werden müssen.<br />

Anders als in einer psychiatrischen Klinik, in der die<br />

Patienten über Nacht bleiben, geht die Mutter nachmittags<br />

wieder heim und kann so ihren Sohn auch<br />

während der klinischen Behandlung weiter versorgen.<br />

„Die Menschen kommen zu uns, wie sie zur Arbeit gehen“,<br />

erläutert Christian Fuchs, Oberarzt der Tagesklinik,<br />

„und um 16 Uhr gehen sie wieder nach Hause.“<br />

Das erleichtert es den Therapeuten, auch die Angehörigen<br />

der Patienten in die Therapie mit einzubeziehen.<br />

Und dadurch verschwinde, das betont Jochen Bügler<br />

besonders, die Angst der Patienten vor der Psychiatrie.<br />

Sie kämen so selbstverständlich zur psychiatrischen<br />

Behandlung in der Tagesklinik wie sonst zur Dialyse<br />

oder zu einer ambulanten Operation.<br />

Weil die Nachfrage nach Behandlungen in der Reutlinger<br />

Tagesklinik steigt und seit der Gründung vor 15<br />

Jahren immer eine Warteliste geführt werden muss,<br />

hat die PP.rt die Platzzahl der Tagesklinik zu Jahresbeginn<br />

von 20 auf jetzt 24 Plätze erhöht. Die meisten<br />

der Patienten halten die Behandlung durch. Auch die<br />

alleinerziehende Mutter wird durchhalten – bis sie<br />

gelernt hat, nein zu sagen. msk Z<br />

+ www.pprt.de


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009 rEGiONEN<br />

Münsingen<br />

ZIB ist keine Mogelpackung<br />

Das Projekt Zeitintensive Betreuung (ZIB) ist ein zusätzliches Angebot der<br />

Diakoniestationen in Münsingen und im Ermstal für pflegende Angehörige.<br />

Seit Betreuungsleistungen bis zu 200 Euro im Monat bereits ab Pflegestufe 0<br />

abgerechnet werden können, ist die Nachfrage deutlich gestiegen.<br />

Die alte Dame hat fast die ganze Welt gesehen. Jetzt<br />

ist sie 91 und kann eine Menge erzählen von Reisen,<br />

die sie in jüngeren Jahren rund um den Globus geführt<br />

haben. „Sie war überall“, schwärmt Hanna Hunger<br />

von der Vorliebe ihrer unternehmungslustigen<br />

Klientin. „Wenn ich bei ihr bin, schauen wir uns meistens<br />

alte Fotos an und reden über fremde Länder.“<br />

Hanna Hunger ist Präsenzkraft bei ZIB, der Zeitintensiven<br />

Betreuung für das Ermstal sowie die Uracher<br />

und Münsinger Alb. Das Projekt, das Angehörige bei<br />

der Betreuung kranker oder behinderter Familienmitglieder<br />

entlastet, ist ein Angebot der Diakoniegesellschaft<br />

Münsingen und der Diakoniestation Oberes<br />

Ermstal-Alb in Kooperation mit dem Diakonieverband<br />

Reutlingen. 20 geschulte Präsenzkräfte, 18 Frauen<br />

und zwei Männer, betreuen derzeit 65 Menschen mit<br />

Pflegebedarf oder erhöhtem Betreuungsaufwand –<br />

Tendenz steigend.<br />

Für die alte Dame, die im hohen Alter an Demenz erkrankt<br />

ist und zu Hause betreut wird, ist Hanna Hunger<br />

die ideale Gesprächspartnerin. „Ich gehe selbst<br />

gern auf Reisen“, sagt die 63-Jährige, die ihre Klientin<br />

einmal pro Woche besucht. Darüber hinaus betreut<br />

sie einen Klienten, der an den Folgen eines Schlaganfalls<br />

leidet, und eine psychisch kranke Frau aus Bad<br />

Urach. „Mit ihr gehe ich ins Café oder schwimmen,<br />

manchmal in eine Ausstellung.“ Hanna Hunger, die<br />

viele Jahre berufstätig war, genießt das Gefühl, „auch<br />

als Rentnerin noch gebraucht zu werden“, und möchte<br />

ihre Arbeit nicht mehr missen.<br />

Durchweg positiv sind auch die Reaktionen von Angehörigen<br />

und Betreuten, weiß Christa Herter-Dank.<br />

Als Projektkoordinatorin und Einsatzleiterin sorgt die<br />

Sozialpädagogin dafür, dass alle Klienten „passgenau,<br />

individuell und zeitlich flexibel“ versorgt werden.<br />

Pro Einsatzstunde werden 8,50 Euro in Rechnung<br />

gestellt. Seit die Pflegeversicherung auch Menschen<br />

mit erhöhtem Betreuungsaufwand (Pflegestufe 0)<br />

bis zu 200 Euro monatlich für Betreuungsleistungen<br />

erstattet, ist die Nachfrage laut Christa Herter-Dank<br />

deutlich gestiegen. Wobei die Betonung auf dem Wort<br />

Betreuung liegt. „Denn ZIB ist keine Mogelpackung“,<br />

sagt Lothar Schnizer, der Leiter der Diakoniegesellschaft<br />

Münsingen, einer Kooperation der Bruderhaus-<br />

Diakonie mit der Samariterstiftung. „Es geht um die<br />

gemeinsame Tagesgestaltung und nicht um hauswirtschaftliche<br />

oder pflegerische Leistungen.“<br />

Im Übrigen geht es um die Qualifizierung von Frauen<br />

und Männern, die auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt<br />

sind. Für Menschen mit Migrationshintergrund etwa<br />

wie Cosmina Lummer-Man könnte ZIB ein Sprungbrett<br />

sein. Die studierte Chemieingenieurin aus Rumänien<br />

lebt seit neun Jahren in Münsingen. Bevor sie sich zur<br />

Präsenzkraft ausbilden ließ, arbeitete sie im Münsinger<br />

Tafelladen ehrenamtlich mit. „Ich wollte mehr Kontakt<br />

haben und besser Deutsch lernen“, sagt die 40-Jährige,<br />

die mit einem Banater Schwaben verheiratet ist und<br />

einen vierjährigen Sohn hat. Einmal pro Woche betreut<br />

sie einen zwölfjährigen<br />

Jungen<br />

mit geistiger Behinderung,<br />

dessen<br />

Eltern noch zwei<br />

kleinere Kinder<br />

haben. „Wir machenHausaufgaben,<br />

spielen und<br />

lesen. Manchmal<br />

improvisiert er auf<br />

dem Klavier.“<br />

Nach dem Präsenzkräftetarif der Diakonie Württemberg<br />

erhält Cosmina Lummer-Man 5,85 Euro pro<br />

Stunde plus Fahrtkosten, ein Zuverdienst, mehr nicht.<br />

Der Gewinn ist eher persönlicher und pädagogischer<br />

Natur. Arbeitskollegin Hanna Hunger formuliert das<br />

so: „Ich lerne gerne und ich arbeite gerne – am liebsten<br />

mit Menschen.“ kaw Z<br />

+ www.diakonie-reutlingen.de/diakonieverband-rt-projekte/<br />

zib.html<br />

Engagierte<br />

Präsenzkräfte:<br />

Hanna Hunger<br />

(rechts) und<br />

Cosmina Lummer-<br />

Man<br />

13


14<br />

rEGiONEN<br />

Der Alltag der<br />

Hausgemeinschaftsbewohner<br />

spielt sich in der<br />

Wohnküche ab<br />

Stuttgart<br />

Leben fast wie zu Hause<br />

Noch ist vieles Zukunftsmusik. Doch die alten und<br />

pflegebedürftigen Menschen, die bisher in der Villa<br />

Seckendorff lebten, einem Pflegeheim in Stuttgart-<br />

Bad Cannstatt, haben ein Ausweichquartier in der<br />

Stuttgarter Forststraße bezogen. Und die Pläne für<br />

ihre neue Heimat am alten Standort werden bereits<br />

in die Tat umgesetzt: Auf dem Villa Seckendorff-<br />

Gelände werkeln die Bauarbeiter. Die Gebäude aus<br />

den 1950er Jahren werden abgerissen. An ihrer Stelle<br />

baut die <strong>BruderhausDiakonie</strong> zwei moderne Wohnhäuser.<br />

Was da entsteht, ist nicht nur in architektonischer<br />

Hinsicht modern. „Wir errichten ein Haus für Betreutes<br />

Wohnen, in dem auch gemeinschaftliches Wohnen<br />

in Wohngemeinschaften<br />

möglich ist,<br />

und ein Haus für Wohnen<br />

mit Pflege“, erläutert<br />

Jochen Ziegler, der<br />

Leiter der Bruderhaus-<br />

Diakonie Stuttgart. Die<br />

neue Villa Seckendorff<br />

soll den persönlichen<br />

Lebensvorstellungen<br />

der alten Menschen soweit wie möglich Raum lassen.<br />

„Wir wollen die Lebensumstände auch in der stationären<br />

Altenpflege so gestalten, dass sie dem normalen<br />

Wohnen möglichst nahe kommen“, betont<br />

Barbara Steiner, Altenhilfe-Bereichsleiterin der<br />

<strong>BruderhausDiakonie</strong>. „Wir versuchen deshalb, alle<br />

institutionellen Notwendigkeiten möglichst in den<br />

Hintergrund zu drängen.“ Das heißt: Es gibt in der<br />

neuen Villa Seckendorff keine Großküche, die das<br />

Essen für die Bewohner liefert. Auch eine zentrale<br />

Wäscheversorgung wird man vergeblich suchen.<br />

Stattdessen leben die Menschen dort in sechs sogenannten<br />

Hausgemeinschaften. Das sind kleine<br />

Wohneinheiten mit einer großen Wohnküche als<br />

Mittelpunkt, um die sich die Apartements der zwölf<br />

Bewohner gruppieren.<br />

<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009<br />

Die Ansprüche und Bedürfnisse älterer Menschen haben sich in den letzten<br />

Jahren stark verändert. Neue Wohn- und Betreuungskonzepte sind gefragt.<br />

In Stuttgart-Bad Cannstatt in der Villa Seckendorff werden derzeit die Voraussetzungen<br />

dafür geschaffen.<br />

In den Hausgemeinschaften geht es zu wie in einem<br />

ganz normalen Familien- oder Wohngemeinschaftshaushalt:<br />

Da wird gekocht und gegessen, gewaschen<br />

und geputzt, Besuch empfangen, vorgelesen und<br />

geplaudert. Um den Haushalt kümmern sich sogenannte<br />

Alltagsbegleiter – und zwar mindestens zwölf<br />

Stunden am Tag.<br />

„Die Alltagsbegleiter haben die Aufgabe, die Menschen<br />

in der Hausgemeinschaft bei all dem zu unterstützen,<br />

was sie nicht mehr selbst tun können“,<br />

beschreibt Jochen Ziegler deren Arbeit. Weil sich „die<br />

meisten Notwendigkeiten des Alltags“, wie sich Jochen<br />

Ziegler ausdrückt, vor allem in der Wohnküche<br />

der Hausgemeinschaft abspielen, ergibt sich fast automatisch<br />

ein enges Miteinander der Bewohner und<br />

der Alltagsbegleiter bei nahezu allen Tätigkeiten. Wer<br />

Wäsche zusammenlegen kann und will, faltet seine<br />

Blusen selbst. Wessen Finger noch geschickt genug<br />

sind, der hilft beim Kartoffelschälen. Und wer nur ein<br />

wenig Gesellschaft sucht, sitzt einfach mit am Tisch<br />

und schaut zu, was die anderen machen. „Die Bewohner<br />

haben jederzeit die Möglichkeit, einen Ansprechpartner<br />

zu finden“, lobt Jochen Ziegler das Hausgemeinschaftskonzept,<br />

„es ist immer jemand da.“<br />

Pflegerisch versorgt werden die Hausgemeinschaftsbewohner<br />

von Pflegefachkräften, die ähnlich arbeiten<br />

wie ein ambulanter Pflegedienst: „Die Pflegerinnen<br />

und Pfleger kommen von einem Pflegestützpunkt<br />

aus in die Hausgemeinschaften“, erklärt Jochen<br />

Ziegler, „dabei achten wir darauf, dass jeder Bewohner<br />

möglichst immer von denselben Pflegepersonen<br />

versorgt wird.“<br />

Im Interimsquartier in der Forststraße sind die Vorbereitungen<br />

für die neue Villa Seckendorff in vollem<br />

Gang: Mitarbeiterinnen werden geschult, Alltagsbegleiter<br />

rekrutiert. „Wir versuchen derzeit, das neue<br />

Konzept in den Köpfen zu verankern“, sagt Jochen<br />

Ziegler, „damit es nach Fertigstellung der neuen Häuser<br />

auch von heute auf morgen losgehen kann.“<br />

msk Z


<strong>sozial</strong> • Ausgabe 2 | 2009 rEGiONEN<br />

Ravensburg<br />

„Fair, bio, <strong>sozial</strong>“ spürt keine Flaute<br />

Ökologisch angebaute und fair gehandelte Lebensmittel, deren Vertrieb Menschen<br />

mit psychischer Erkrankung Arbeitsplätze bringt, werden auch in Zeiten<br />

der Rezession gekauft. Das Projekt „fair, bio, <strong>sozial</strong>“ der <strong>BruderhausDiakonie</strong> und<br />

der Ravensburger Fairhandelsgenossenschaft dwp läuft so gut wie eh und je.<br />

Während andernorts die Arbeit ausgeht, wird in<br />

den Werkstätten der Sozialpsychiatrischen Hilfen<br />

Ravensburg-Bodenseekreis fleißig gearbeitet. „Unsere<br />

Beschäftigten sind zum großen Teil ausgelastet“, sagt<br />

Andreas Weiß. Der Leiter der Sozialpsychiatri schen<br />

Hilfen rechnet in den kommenden Monaten „höchstens<br />

mit einem leichten Abschwung“. Deutlich spürbar<br />

sei die Krise bei der Vermittlung von Menschen<br />

mit psychischer Erkrankung auf den ersten Arbeitsmarkt.<br />

„Arbeits plätze außerhalb der Werkstätten sind<br />

schwierig zu bekommen. Die Vermittlungsquote ist<br />

gesunken“, bedauert Weiß.<br />

Dafür floriert der Verkauf von ökologisch angebauten<br />

und fair gehandelten Lebensmitteln. „Fair, bio, <strong>sozial</strong>“,<br />

ein gemeinsames Projekt der <strong>BruderhausDiakonie</strong> und<br />

der Ravensburger Fairhandelsgenossenschaft dwp,<br />

habe bisher keine erkennbare Absatzflaute verzeichnet.<br />

Gegen über großen Werkstätten für Menschen mit<br />

Behinderung, die viel für die Autozuliefererbranche<br />

arbeiten, seien die Werkstätten der Sozialpsychiatrischen<br />

Hilfen in Ravensburg und Wangen eindeutig<br />

im Vorteil. „Sie sind klein und überschaubar, gemeindenah<br />

und beschäftigen sich mit Nischenprodukten“,<br />

betont Andreas Weiß.<br />

Für das knapp zwei Jahre alte Projekt „fair, bio, <strong>sozial</strong>“<br />

seien bereits 43 Werkstattplätze an den dwp-Firmensitz<br />

in Ravensburg ausgelagert worden. Im dortigen<br />

Hochregallager arbeiten die Werkstattbeschäftigten<br />

„unter Bedingungen, die dem ersten Arbeitsmarkt<br />

entsprechen“. Über 50 Produkte der Fairhandelsgenossenschaft<br />

werden hier abgefüllt, etikettiert, in Kartons<br />

verpackt und für die Lieferung an die Kunden versandfertig<br />

gemacht. Bei den Produkten handelt es sich<br />

um „rieselfähige“ Lebensmittel wie Tee, Kaffee, Reis<br />

und Zucker. Biologisch angebaut und fair gehandelt,<br />

sichern diese Produkte den Lebensunterhalt von Kleinbauernfamilien<br />

und Kooperativen in Entwicklungsländern.<br />

Gleichzeitig bringt der Vertrieb in Deutschland<br />

Menschen mit psychischen Erkrankungen anspruchsvolle<br />

Arbeitsplätze. Fragt man Andreas Weiß, ob sich<br />

das Projekt bewährt hat, sagt er: „Eindeutig ja! Es ist<br />

für beide Partner eine Win-win-Situation.“<br />

Weitere Werkstattplätze gibt es am Standort Riesenhof<br />

in Ravensburg-Bavendorf. Dort ist die Biolandgärtnerei<br />

mit 15 Beschäftigten angesiedelt. Den<br />

Hauptumsatz erzielen die Biogärtner auf dem Wochenmarkt<br />

in Weingarten, außerdem beliefern sie drei<br />

Bioläden in der Region – bislang ohne Umsatzeinbußen.<br />

Voll ausgelastet sind auch die 41 Beschäftigten in<br />

der Wangener Werkstatt, die neben kleineren Aufträgen<br />

vor allem Aufträge von zwei Großkunden bearbeiten.<br />

Die Produkte des Schokoladehändlers Denany<br />

werden für den deutschen Großvertrieb im gleichen<br />

Umfang wie bisher etikettiert. Der Lampenhersteller<br />

LTS allerdings, der in Wangen Einzelteile hochwertiger<br />

Lampen montieren lässt, hat seine Aufträge nach Auskunft<br />

von Brunhilde Brugger um 30 bis 40 Prozent reduziert.<br />

„Den Verlust haben wir bereits ausgeglichen“,<br />

sagt die kommissarische Werkstattleiterin. Bisher<br />

seien Schokoriegel von Denany teilweise in anderen<br />

Werkstätten in der Region etikettiert worden. „Jetzt<br />

machen wir alles selber.“ Auch flüssige Lebensmittel<br />

wie Öl, Essig und Likör werden für dwp in Wangen<br />

abgefüllt, ebenso wie Mango-Kokos-Bällchen und<br />

schokolierte Kaffeebohnen. Die sind zwar „rieselfähig“,<br />

würden die Kapazität der Ravensburger Werkstatt<br />

jedoch sprengen. kaw Z<br />

Sie hat gut<br />

lachen: In der<br />

Ravensburger<br />

Werkstatt<br />

geht die Arbeit<br />

nicht aus<br />

15


16<br />

DiaKONischEr iMpULs<br />

Pfarrer Hartmut<br />

Zweigle ist Betriebsseelsorger<br />

in<br />

Sindelfingen und<br />

Autor des kürzlich<br />

erschienenen<br />

Gustav-Werner-<br />

Buchs: „Herrschen<br />

mög‘ in unserm<br />

Kreise Liebe und<br />

Gerechtigkeit“<br />

Hartmut Zweigle<br />

Krisenzeit – Wie Werkstätten der Flaute trotzen<br />

<strong>sozial</strong> • • Ausgabe 2 1 | 2009<br />

Der richtige Maßstab des Wirtschaftens<br />

„Wir nehmen mit Besorgnis wahr, dass die Krise<br />

der Wirtschaft für viele Unternehmen bedrohlich<br />

wird“, schreiben die Landesbischöfe von Baden und<br />

Württemberg in einer Pressemitteilung im April.<br />

Und in der Tat ist besorgniserregend, was sich in den<br />

Unternehmen abzeichnet: In den exportabhängigen<br />

Betrieben ist der Absatz dramatisch eingebrochen.<br />

Einzelnen droht die Insolvenz. Kurzarbeit ist flächendeckend<br />

eingeführt – verbunden mit der Angst um<br />

den Arbeitsplatz. Am schmerzhaftesten trifft die Krise<br />

die Schwächsten im Arbeitsprozess, etwa Leiharbeiter<br />

und befristet Beschäftigte, die man zu einem großen<br />

Teil schon entlassen hat. Oder Menschen mit Behinderungen,<br />

die befürchten müs-<br />

sen, mit fortschreitender Krise<br />

ins Abseits gedrängt zu werden.<br />

Die Bischöfe fordern, dass die<br />

Rendite künftig nicht mehr das<br />

Maß des Wirtschaftens sein<br />

dürfe. Stattdessen müsse nach<br />

dem „richtigen Maßstab“ gesucht<br />

werden. Was aber ist der richtige Maßstab?<br />

Da lohnt der Blick auf den Gründervater der <strong>BruderhausDiakonie</strong>.<br />

Gustav Werner sah sich als Christ<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls von einer<br />

wirtschaftlichen Krise herausgefordert. Er beschrieb,<br />

wie Maschinen die Handarbeit verdrängten und eine<br />

große Zahl von Arbeitern überflüssig machte. Er sah,<br />

dass Niedriglöhne bezahlt wurden, von denen sich<br />

vielfach nicht mehr leben ließ.<br />

Den tieferen Grund für das <strong>sozial</strong>e Elend sah Werner<br />

darin, dass das Wirtschaftssystem gänzlich von Eigennutz<br />

und Selbstsucht bestimmt sei. „Die Selbstsucht“,<br />

urteilt er, „hat die Menschen einander entfremdet<br />

und getrennt und sie arm und unglücklich gemacht<br />

bis auf den Grad, dass jetzt der menschlichen Gesellschaft<br />

die Auflösung droht.“<br />

Er war überzeugt, dass die wirtschaftliche Krise nur<br />

gelöst werden könne, wenn die von Jesus gelehrte<br />

Liebe und Gerechtigkeit sich durchsetzen werde. Er<br />

selbst wollte mit gutem Beispiel vorangehen und<br />

Lichtpunkte in der Dunkelheit aufstrahlen lassen.<br />

So gründete er über 30 Rettungshäuser für <strong>sozial</strong><br />

Schwache und Arme. Und er wollte eine „christliche<br />

Fabrik“. Gerade auch in der Industrie sollten „Liebe<br />

und Gerechtigkeit“ zur Anwendung kommen.<br />

Was der „richtige Maßstab“ des Wirtschaftens für<br />

Werner war, lässt sich so zusammenfassen: Der Egoismus<br />

darf nicht die alles beherrschende Triebfeder<br />

sein. Die von Jesus gelehrte „Liebe und Gerechtigkeit“<br />

soll auch in der Arbeitswelt gelten: in der barmherzigen<br />

Zuwendung zu den Schwachen und Armen und<br />

in einer gerechten Ordnung. Wirtschaftsprofit darf<br />

nicht zum Selbstzweck verkommen, sondern muss<br />

der Gemeinschaft dienen. Und schließlich: Alles Wirtschaften<br />

hat sich daran messen zu lassen, ob es den<br />

Ärmsten hilft und ihre Lage verbessert.<br />

Werners Maßstäbe klingen naiv. Oder sollte man<br />

besser sagen: Sie klangen bis vor dem Ausbruch<br />

der Finanz- und Wirtschaftskrise naiv? Inzwischen<br />

Die von Jesus gelehrte „Liebe und Gerechtigkeit“ soll<br />

auch in der Arbeitswelt gelten: in der barmherzigen<br />

Zuwendung zu den Schwachen und Armen und in<br />

einer gerechten Ordnung.<br />

dämmert uns nämlich, dass eine Wirtschaft, die allein<br />

auf Profit ausgerichtet ist, langfristig nicht existieren<br />

kann. Zwar spricht nichts gegen Gewinnstreben,<br />

wenn es Werte schafft. Aber ein Gewinnstreben, das<br />

sich von der Gesellschaft abkoppelt, ist wertlos. Wir<br />

verstehen allmählich auch, dass ein Wirtschaftssystem<br />

nur zukunftsfähig ist, wenn es den Egoismus<br />

wirksam begrenzt. Deshalb ist das Gebot der Stunde,<br />

dem Markt einen besseren politischen Rahmen<br />

zu zimmern. Diakonie und Kirche sollten in dieser<br />

Aufgabe die Politik drängend „ins Gebet nehmen“.<br />

Und schließlich erkennen immer mehr, dass bei allem<br />

wirtschaftlichen Handeln die Frage gestellt werden<br />

muss, ob es den Armen und Schwachen nützt. Denn<br />

wir können uns nicht leisten, Menschen „draußen vor<br />

der Tür“ zu lassen.<br />

Die Wirtschaftskrise kann auch eine Chance sein –<br />

wenn man das Wort „Krisis“ im Wortsinn begreift als<br />

Zeit der Entscheidung und des Umdenkens. Es lohnt<br />

sich, heute über andere Maßstäbe des Wirtschaftens<br />

nachzudenken. Wir brauchen eine Werte-Diskussion,<br />

damit aus einer „Wertpapier-Gesellschaft“ wieder<br />

eine „Werte-Gesellschaft“ wird. Zur Resignation<br />

besteht kein Grund. „Denn Gott hat uns nicht einen<br />

Geist der Verzagtheit gegeben, sondern der Kraft und<br />

der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim 1, 17).

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