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März 2003 (PDF) - An.schläge

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Offener Brief<br />

von den TeilnehmerInnen des Weltsozialforums an die österreichische Bundesregierung in spe:<br />

Blind, taub, stumm?<br />

Wir haben vom 23. – 28. 1. <strong>2003</strong> am 3. Weltsozialforum in Porto Alegre, Brasilien, teilgenommen. Dort waren über 100.000 Menschen aus der ganzen<br />

Welt versammelt, um die Probleme aufzuzeigen, die die neoliberale Globalisierungspolitik in allen Ländern der Erde verursacht. Gemeinsames Motto<br />

der über 2.000 Veranstaltungen dieser Tage: „Eine andere Welt ist möglich!“<br />

Denkt man in Porto Alegre an Österreich, das gerade gewählt hat und sich im Prozess der Regierungsbildung befindet, dann fragt man sich, ob sich<br />

Österreich eigentlich auf dem selben Planeten befindet. Vielleicht ist es ja so, dass für Österreich wunderbarerweise all das nicht gilt, was hier aus allen<br />

5 Kontinenten berichtet wird: Die internationalen Großkonzerne benutzen die Regierungen weltweit, um restlos alle Dinge, Ressourcen und Lebewesen<br />

in Waren zu verwandeln, also zu vermarkten und entsprechend alle menschliche Tätigkeit restlos in Warenproduktion bzw. vermarktbare<br />

Dienstleistungen. Bei all dem sollen weder ein öffentlicher Sektor, noch demokratische Kontrolle, noch eine garantierte allgemeine Versorgung, noch<br />

eine angemessene Qualität und Preisgestaltung mehr möglich sein und auch ein kleines und mittleres bzw. nationales privates Kapital nicht mehr übrig<br />

bleiben.<br />

In Österreich ist weder im Wahlkampf, noch nach dem Wahlkampf, noch bisher bei der versuchten Regierungsbildung von den Verantwortlichen darüber<br />

gesprochen worden. Glückliches Österreich. Es hat sich nur mit Ambulanzgebühren herumzuschlagen! Ja, auch Studiengebühren und<br />

Universitätsreform, Pensionen und eine plötzlich, nach den Wahlen auf ominöse Weise notwendig gewordene „große Staatsreform“ haben anscheinend<br />

allesamt nichts mit der Durchsetzung des Neoliberalismus in Österreich zu tun. Selbst die Abfangjägerdebatte ließ nichts ahnen von dem halben<br />

Weltkrieg, dessen Beginn mit dem Aufmarsch von einer Viertelmillion-Mann-Armee in Mittelost zu beginnen droht!<br />

Umso weiter man von Österreich entfernt ist, desto gespenstischer erscheint einem die Blindheit, Taubheit und Stummheit der hiesigen politischen<br />

Debatte. Oder wird sie doch geführt, jenseits der Öffentlichkeit?<br />

Wir wissen alle, dass Österreich zur EU gehört, das es WTO-Mitglied ist und dass es Verhandlungen über das GATS, das sogenannte „Allgemeine<br />

Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen“ führt. Das heißt: Österreich hat sich der neoliberalen Politik der Europäischen Union angeschlossen,<br />

hat das ganze Programm der neoliberalen Globalisierung übernommen – nur nicht seine Folgen? Glauben die österreichischen PolitikerInnen<br />

tatsächlich, von den Ergebnissen dieser Projekte als einzige ausgenommen zu bleiben?<br />

Die SPÖ hätte von Brasilien lernen können, wie man an die Macht kommt. Der neue brasilianische Präsident mit dem Spitznamen „Lula“ war Arbeiter<br />

und Gewerkschafter und wurde Präsident, weil er die wahren Probleme Brasiliens, die aus der gleichen Politik resultieren, der Österreich sich angeschlossen<br />

hat, deutlich beim Namen genannt hat. Wieso haben die Roten und auch die Grünen in Österreich dieses versäumt? Von den Tatsachen her<br />

gesehen haben sie jedenfalls der ÖVP das politische Feld einfach und kampflos überlassen, indem sie noch nicht einmal deren ausgesprochen pro-neoliberale<br />

Politik kritisierten. Nun wollen sie mit der ÖVP dennoch an die Macht. Die Frage ist, warum. Denn es ist ja nicht so, dass es innerhalb der SPÖ<br />

oder der Grünen keine Kritik am Neoliberalismus gäbe. Ganz im Gegenteil, gerade Alfred Gusenbauer hat sich neben seiner pro-neoliberalen Rede von<br />

einer angeblich möglichen „solidarischen Hochleistungsgesellschaft“ wiederholt öffentlich – wenn auch nur auf ausdrückliche Nachfrage hin – dezidiert<br />

gegen Globalisierung, Neoliberalismus und insbesondere das GATS geäußert. Bedeutet dies, dass man bei einer Regierungsbeteiligung nun im<br />

Nachhinein oder irgendwie heimlich doch noch das Schlimmste verhindern will? Kann man etwas verhindern, von dem nie die Rede ist? Kann eine<br />

Regierung gebildet werden, die sich darauf einigt, die wirklichen Probleme der Zeit gar nicht anzugehen?<br />

Von Porto Alegre aus gesehen wundert es nicht, dass die Regierungsbildung in Österreich ein Problem darstellt. Denn wie soll regiert werden, wenn<br />

verleugnet wird, worum es eigentlich geht? Worum es aber geht, liegt nicht im Belieben einer offiziellen Definition. Was nicht benannt wird, ist dennoch<br />

vorhanden und hat Wirkungen. Die Folgen des globalen Neoliberalismus haben ja längst angefangen, sich auch in Österreich bemerkbar zu<br />

machen, selbst wenn sie damit nicht in Zusammenhang gebracht werden. Durch die Hintertür wird allemal auch Österreich von dem eingeholt, was es<br />

mit betreibt. Je später mit den Reaktionen begonnen wird, desto schwieriger. Alle wissen z.B.: Nur bis Ende <strong>März</strong> ist Zeit, die europäischen<br />

Verhandlungen zum GATS durch Einspruch einer Bundesregierung noch zu beeinflussen. Danach verhandelt die EU stellvertretend für alle ihre<br />

Mitglieder allein bei der WTO. Der Februar hat bereits begonnen. Wer redet öffentlich über das GATS? Spielt es bei den Regierungsverhandlungen überhaupt<br />

eine Rolle?<br />

Eins steht fest: Wer jetzt noch etwas gegen das GATS unternehmen will, bräuchte dafür einen massiven Rückhalt in der Bevölkerung. Weil dieser<br />

Rückhalt gar nicht gesucht wird, ist davon auszugehen, dass alle im Parlament vertretenen österreichischen Parteien den globalen Neoliberalismus auch<br />

für Österreich restlos akzeptiert haben und durchzusetzen gedenken.<br />

Eine Sozialdemokratie, die wieder einmal den historischen Moment versäumt, dem Wahnsinn etwas entgegenzusetzen und stattdessen so tut, als beruhe<br />

das neoliberale Projekt auf einer seriösen, ernstzunehmenden und schließlich doch zu akzeptierenden Grundlage, vertut sehenden Auges ihre letzte<br />

Chance, dem sich weltweit ausbreitenden Neototalitarismus Einhalt zu gebieten – oder dies wenigstens zu versuchen. Genau dies aber wäre ihre historische<br />

Aufgabe (gewesen). Für eine ÖVP-SPÖ-Koalition würde eigentlich nur dann etwas sprechen, wenn sie dazu führt, 80% der WählerInnen in eine<br />

antineoliberale Politik mitzunehmen. Will sie dies nicht, ist sie ein Verrat und Betrug am Volk. Geht die SPÖ jetzt nicht in Opposition zum<br />

Neoliberalismus, sei es innerhalb oder außerhalb der Regierung, wird sie ihre Glaubwürdigkeit für immer verlieren.<br />

Wir sehen schon, das Austrian Social Forum (ASF), das im Frühjahr in Hallein gegründet werden wird, wird in den nächsten Jahren genug zu tun haben!<br />

Univ. Prof. Dr. Claudia von Werlhof (Institut für Politikwissenschaft, Universität Innsbruck), Dr. Leo Gabriel (Ludwig Boltzmann-Institut für zeitgenössische<br />

Lateinamerikaforschung) und Dr. Walter Baier (KPÖ)

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