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Spiegelbilder<br />

Mit völlig neuen erzählerischen Mitteln widmet sich<br />

Malgorzata Saramonowicz einem der letzten Tabu-Themen<br />

unserer Gesellschaft. Von Gabi Horak<br />

„Spieglein, Spieglein an der<br />

Wand, wer ist die Schönste im<br />

ganzen Land?“ Diese Frage<br />

stellt sich im zweiten Roman<br />

der polnischen Autorin Malgorzata<br />

Saramonowicz niemand. Trotzdem<br />

sind alle Ereignisse nur Spiegelungen,<br />

denn Wandspiegel sind die Erzähler,<br />

die auch und gerade das Hässliche<br />

und Grausame, das Alter und den<br />

Tod widergeben. Der Spiegel ist es, der<br />

Elemente aus der Vergangenheit, die<br />

die Protagonistinnen einholt, einfügt.<br />

Er liest aus ihren Gesichtern, liest deren<br />

Gedanken, entlarvt ihre Lügen und<br />

Ängste. „Verzweifelt sucht sie in mir<br />

Halt“, weiß der Spiegel über seine<br />

identitätsstiftende Funktion Bescheid,<br />

denn: „Nur ich kann das tun. Schauen.<br />

Spiegeln. Erinnern.“<br />

Die Geschichte, die so erzählt wird,<br />

spannt sich über sechzig Jahre. Im Zentrum<br />

steht Ewa, im Jahr 1938 eine junge<br />

Medizinstudentin, die drei alte und teilweise<br />

todkranke Damen in ihren Wohnungen<br />

pflegt – 1998 ist Ewa selbst jene<br />

Alte, die von einer Studentin gepflegt<br />

wird.„Der Mensch muss seinen Abgang<br />

genauso geduldig ertragen wie seine<br />

<strong>An</strong>kunft“, ist die junge Ewa noch überzeugt.<br />

Jahrzehnte später ist sie selbst<br />

von Todesängsten geplagt, die ihre Ursprünge<br />

in Ereignissen haben, in die wir<br />

mit Hilfe zahlreicher Spiegelbilder immer<br />

mehr Einblicke bekommen. Dabei<br />

kommt des öfteren Krimispannung auf.<br />

Das zentrale Thema hinter dem<br />

(Er)leiden von Krankheit und Alter ist<br />

der Wunsch nach einem Ende der Qualen.<br />

Das beginnt bei den verzweifelten<br />

und erfolglosen Versuchen, Radiomeldungen<br />

Glauben zu schenken, wonach<br />

Ärzte Mittel zur Verjüngung gefunden<br />

hätten. Dazwischen liegen missglückte<br />

Selbstmordversuche und endlose Diskussionen<br />

über die Legitimität von Euthanasie.<br />

Es endet im Jahr 1938 mit<br />

tatsächlich geleisteter Sterbehilfe und<br />

im Jahr 1998 mit Ewas Aufbäumen dagegen.<br />

Der Tod bestimmt das Denken der<br />

Menschen, kehrt immer wieder etwa in<br />

Zeitungs- und Radioberichten über Unfälle<br />

und Morde, Mütter, die ihre Kinder<br />

töten und Männer, die ihre Frauen töten<br />

und dazwischen die immer gleichen<br />

Fragen:War es eine Erlösung? Steht es<br />

den Menschen zu, darüber zu bestimmen?<br />

<strong>An</strong>twort darauf gibt es keine, aber<br />

sehr wohl begründete Zweifel:„Was<br />

heißt denn unheilbar krank? Woher die<br />

Gewißheit nehmen?“ fragt Gabriela, die<br />

sich weigert, vor der letzten und endgültigen<br />

Diagnose ihres Arztes zu kapitulieren.<br />

Tatsächlich verlangen die alten Damen<br />

den Tod mit keinem Wort, umso<br />

größer ist ihr Ekel vor dem eigenen<br />

Sterben: vor den Urinflecken in der<br />

Bettdecke, dem Erbrochenen auf dem<br />

Flur, den Schweißausbrüchen und der<br />

fahlen Haut. Im Gesicht der jungen<br />

Pflegerin Ewa erkennt der Spiegel genau<br />

diesen Ekel wieder, und sechzig<br />

Jahre später im Gesicht ihrer Pflegerin<br />

Joanna. Die junge Ewa zieht ihre eige-<br />

nen Schlüsse aus dem Miterleben des<br />

Leidens – 1998 holt sie diese Schuld als<br />

Todesangst wieder ein. Ihr einziger<br />

Zeuge: der Spiegel.<br />

Zuerst war ich befremdet über die<br />

Tatsache, dass es im Roman ausschließlich<br />

Frauen sind, die altern und leiden,<br />

während Männer als berufstätige Ärzte,<br />

Apotheker und Juristen auftreten<br />

und akademische Diskussionen über<br />

Sterbehilfe führen. Auch auf dieser<br />

Ebene Zweifel:„Wer hätte denn zu entscheiden,<br />

ob das Leiden einen Sinn<br />

hat?“ Tatsächlich ist es aber genau jene<br />

Distanz, die den Männern jeden Einblick<br />

in die Welt des Alterns verwehrt.<br />

Sie verstehen nie wirklich, worum es<br />

geht, spiegeln nur ihre eigene Wirklichkeit.<br />

Um die vielen Wege, die die Geschichte<br />

geht, begreifen zu können,<br />

muss frau sie eigentlich gleich noch eimal<br />

lesen. Erst dann ergeben die ersten<br />

Szenen im Jahr 1998 Sinn – mit dem<br />

Wissen über die Vorgänge im Jahr 1938.<br />

Die Geschichte ist erst verständlich,<br />

wenn sie sich selbst spiegelt!<br />

Was fehlt, ist ein Blick auf die andere<br />

Seite des Alter(n)s: Der Schatz an Erfahrungen,<br />

den alte Frauen an junge<br />

Frauen weiter geben können, die zur Ruhe<br />

gekommene Zufriedenheit nach einem<br />

langen Leben, ein Alleine-Sein, das<br />

nicht unbedingt Einsamkeit bedeuten<br />

muss. Das kann der Roman nicht leisten<br />

(vielleicht will er das auch gar nicht?).<br />

Diesen Spiegel müssen wir uns selbst<br />

vorhalten. ❚<br />

lese.zeichen<br />

Malgorzata Saramonowicz: Spiegel<br />

Roman, aus dem Polnischen<br />

von Ursula Kiermeier<br />

Rotbuch 2002, euro 20,50 (Ö)<br />

märz <strong>2003</strong>an.<strong>schläge</strong> 39

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