März 2003 (PDF) - An.schläge
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Spiegelbilder<br />
Mit völlig neuen erzählerischen Mitteln widmet sich<br />
Malgorzata Saramonowicz einem der letzten Tabu-Themen<br />
unserer Gesellschaft. Von Gabi Horak<br />
„Spieglein, Spieglein an der<br />
Wand, wer ist die Schönste im<br />
ganzen Land?“ Diese Frage<br />
stellt sich im zweiten Roman<br />
der polnischen Autorin Malgorzata<br />
Saramonowicz niemand. Trotzdem<br />
sind alle Ereignisse nur Spiegelungen,<br />
denn Wandspiegel sind die Erzähler,<br />
die auch und gerade das Hässliche<br />
und Grausame, das Alter und den<br />
Tod widergeben. Der Spiegel ist es, der<br />
Elemente aus der Vergangenheit, die<br />
die Protagonistinnen einholt, einfügt.<br />
Er liest aus ihren Gesichtern, liest deren<br />
Gedanken, entlarvt ihre Lügen und<br />
Ängste. „Verzweifelt sucht sie in mir<br />
Halt“, weiß der Spiegel über seine<br />
identitätsstiftende Funktion Bescheid,<br />
denn: „Nur ich kann das tun. Schauen.<br />
Spiegeln. Erinnern.“<br />
Die Geschichte, die so erzählt wird,<br />
spannt sich über sechzig Jahre. Im Zentrum<br />
steht Ewa, im Jahr 1938 eine junge<br />
Medizinstudentin, die drei alte und teilweise<br />
todkranke Damen in ihren Wohnungen<br />
pflegt – 1998 ist Ewa selbst jene<br />
Alte, die von einer Studentin gepflegt<br />
wird.„Der Mensch muss seinen Abgang<br />
genauso geduldig ertragen wie seine<br />
<strong>An</strong>kunft“, ist die junge Ewa noch überzeugt.<br />
Jahrzehnte später ist sie selbst<br />
von Todesängsten geplagt, die ihre Ursprünge<br />
in Ereignissen haben, in die wir<br />
mit Hilfe zahlreicher Spiegelbilder immer<br />
mehr Einblicke bekommen. Dabei<br />
kommt des öfteren Krimispannung auf.<br />
Das zentrale Thema hinter dem<br />
(Er)leiden von Krankheit und Alter ist<br />
der Wunsch nach einem Ende der Qualen.<br />
Das beginnt bei den verzweifelten<br />
und erfolglosen Versuchen, Radiomeldungen<br />
Glauben zu schenken, wonach<br />
Ärzte Mittel zur Verjüngung gefunden<br />
hätten. Dazwischen liegen missglückte<br />
Selbstmordversuche und endlose Diskussionen<br />
über die Legitimität von Euthanasie.<br />
Es endet im Jahr 1938 mit<br />
tatsächlich geleisteter Sterbehilfe und<br />
im Jahr 1998 mit Ewas Aufbäumen dagegen.<br />
Der Tod bestimmt das Denken der<br />
Menschen, kehrt immer wieder etwa in<br />
Zeitungs- und Radioberichten über Unfälle<br />
und Morde, Mütter, die ihre Kinder<br />
töten und Männer, die ihre Frauen töten<br />
und dazwischen die immer gleichen<br />
Fragen:War es eine Erlösung? Steht es<br />
den Menschen zu, darüber zu bestimmen?<br />
<strong>An</strong>twort darauf gibt es keine, aber<br />
sehr wohl begründete Zweifel:„Was<br />
heißt denn unheilbar krank? Woher die<br />
Gewißheit nehmen?“ fragt Gabriela, die<br />
sich weigert, vor der letzten und endgültigen<br />
Diagnose ihres Arztes zu kapitulieren.<br />
Tatsächlich verlangen die alten Damen<br />
den Tod mit keinem Wort, umso<br />
größer ist ihr Ekel vor dem eigenen<br />
Sterben: vor den Urinflecken in der<br />
Bettdecke, dem Erbrochenen auf dem<br />
Flur, den Schweißausbrüchen und der<br />
fahlen Haut. Im Gesicht der jungen<br />
Pflegerin Ewa erkennt der Spiegel genau<br />
diesen Ekel wieder, und sechzig<br />
Jahre später im Gesicht ihrer Pflegerin<br />
Joanna. Die junge Ewa zieht ihre eige-<br />
nen Schlüsse aus dem Miterleben des<br />
Leidens – 1998 holt sie diese Schuld als<br />
Todesangst wieder ein. Ihr einziger<br />
Zeuge: der Spiegel.<br />
Zuerst war ich befremdet über die<br />
Tatsache, dass es im Roman ausschließlich<br />
Frauen sind, die altern und leiden,<br />
während Männer als berufstätige Ärzte,<br />
Apotheker und Juristen auftreten<br />
und akademische Diskussionen über<br />
Sterbehilfe führen. Auch auf dieser<br />
Ebene Zweifel:„Wer hätte denn zu entscheiden,<br />
ob das Leiden einen Sinn<br />
hat?“ Tatsächlich ist es aber genau jene<br />
Distanz, die den Männern jeden Einblick<br />
in die Welt des Alterns verwehrt.<br />
Sie verstehen nie wirklich, worum es<br />
geht, spiegeln nur ihre eigene Wirklichkeit.<br />
Um die vielen Wege, die die Geschichte<br />
geht, begreifen zu können,<br />
muss frau sie eigentlich gleich noch eimal<br />
lesen. Erst dann ergeben die ersten<br />
Szenen im Jahr 1998 Sinn – mit dem<br />
Wissen über die Vorgänge im Jahr 1938.<br />
Die Geschichte ist erst verständlich,<br />
wenn sie sich selbst spiegelt!<br />
Was fehlt, ist ein Blick auf die andere<br />
Seite des Alter(n)s: Der Schatz an Erfahrungen,<br />
den alte Frauen an junge<br />
Frauen weiter geben können, die zur Ruhe<br />
gekommene Zufriedenheit nach einem<br />
langen Leben, ein Alleine-Sein, das<br />
nicht unbedingt Einsamkeit bedeuten<br />
muss. Das kann der Roman nicht leisten<br />
(vielleicht will er das auch gar nicht?).<br />
Diesen Spiegel müssen wir uns selbst<br />
vorhalten. ❚<br />
lese.zeichen<br />
Malgorzata Saramonowicz: Spiegel<br />
Roman, aus dem Polnischen<br />
von Ursula Kiermeier<br />
Rotbuch 2002, euro 20,50 (Ö)<br />
märz <strong>2003</strong>an.<strong>schläge</strong> 39