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in der Unterwelt

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Berl<strong>in</strong> AktuellWährend sich Berl<strong>in</strong> zurzeit an <strong>der</strong> Oberfläche als Metropoleneu erf<strong>in</strong>det, steigen Verwegene immer häufiger h<strong>in</strong>ab <strong>in</strong> denBauch <strong>der</strong> Stadt. Der Untergrund hat es <strong>in</strong> sich: bl<strong>in</strong>de Tunnelund Bunker, Rohrpostanlagen und Schächte.Willkommen<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Unterwelt</strong>Die Jacke von Jack Wolfsk<strong>in</strong>,die Schuhe wasserdicht, amHelm e<strong>in</strong>e Stirnlampe, damitdie Hände frei s<strong>in</strong>d. So machensich geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> Höhlenforscher aufden Weg. Tropfste<strong>in</strong>höhlen mitten <strong>in</strong>Berl<strong>in</strong>?Ganz nach untenDie, die sich auf dem Alexan<strong>der</strong>platzversammelt haben, wollen tiefh<strong>in</strong>unter, zur Exkursion <strong>in</strong> die Bunkeranlageunter dem Platz. H<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>er schäbigen Tür <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>der</strong>U-Bahn-Schächte tut sich das Reich<strong>der</strong> <strong>Unterwelt</strong> auf. Unter die Erdegehen, das machen viele nicht zumersten Mal. Das erkennt man sofort.Wie sie gewisse Ecken ausleuchten,wie sie an Decken klopfen, wie sieden Mo<strong>der</strong> e<strong>in</strong>atmen – wie sie sichsorglos von <strong>der</strong> Gruppe entfernen,obwohl das nicht ungefährlich ist.Die Kegel <strong>der</strong> Taschenlampen flitzen,Sickerwasser läuft den Kragenentlang.Hier wachsen ke<strong>in</strong>e Tropfste<strong>in</strong>e,doch dafür f<strong>in</strong>det man Luftfilteranlagen,Notwasserversorgung und Abluftschächte.80 Räume gibt es hier –e<strong>in</strong> Riesenbunker. Das Gefühl, <strong>in</strong>e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Zeit zurückgeworfen zuwerden, br<strong>in</strong>gt die Augen zumLeuchten. Dietmar Arnold, <strong>der</strong> dieGruppe anführt, ist Leiter des Vere<strong>in</strong>sBerl<strong>in</strong>er <strong>Unterwelt</strong>en. Er kenntdas Glänzen <strong>in</strong> den Augen se<strong>in</strong>erKunden, ist er doch selbst seit 1989im feuchten Untergrund unterwegs.Schon hört er die L<strong>in</strong>ie 5 über sichrumpeln. «Wer von den Fahrgästenda oben weiss schon, dass unter ihmGeisterbahnhöfe existieren?»Foto: Berl<strong>in</strong>er <strong>Unterwelt</strong>en e. V.Stadt. «Nach dem Fall <strong>der</strong> Mauer ist<strong>der</strong> unterirdische Teil schneller zusammengewachsenals <strong>der</strong> oberirdische»,erzählt Arnold. SämtlicheU-Bahn-Verb<strong>in</strong>dungen s<strong>in</strong>d wie<strong>der</strong>hergestellt,was nicht heisst, dass <strong>der</strong>Ruch des Verwegenen weg ist. ImGegenteil: Die <strong>Unterwelt</strong>en s<strong>in</strong>dzum Abenteuerspielplatz für Stadtabenteurerund Zeitgeschichtler geworden.Sie kennen Schätze, von denenan<strong>der</strong>e nichts wissen. Während<strong>der</strong> Untergrund <strong>in</strong> Paris, Wien o<strong>der</strong>London touristisch längst vermarktetwird, hat die Spreemetropole ihngerade erst entdeckt. Das Interessewächst. Vor je<strong>der</strong> Führung des Vere<strong>in</strong>sBerl<strong>in</strong>er <strong>Unterwelt</strong>en <strong>in</strong> denBunker am U-Bahnhof Gesundbrunnendrängen sich Menschentrauben.Ähnliche Szenen spielen sich beiden nächtlichen Cabriofahrten <strong>der</strong>Berl<strong>in</strong>er Verkehrsbetriebe ab. Es iste<strong>in</strong> Uhr morgens, doch zumU-Bahnhof Alexan<strong>der</strong>platz, <strong>der</strong>E<strong>in</strong>e Führung durch unterirdische Labyr<strong>in</strong>thegehört nicht zum üblichen Touristenprogramm.sonst um diese Zeit wie leergefegt ist,strömen Menschen. E<strong>in</strong> Alkoholikerschaut ihnen irritiert nach. Heutewollen e<strong>in</strong>ige, die sich auf e<strong>in</strong>e langeWarteliste haben setzen lassen, mite<strong>in</strong>em Cabriolet durch den Untergrundrauschen. Was vor drei Jahrenals Versuch begann, um das bie<strong>der</strong>eImage <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er U-Bahn aufzupolieren,hat sich als Hot-Spot erwiesen.«Wir s<strong>in</strong>d überrascht über soviel Resonanz. Die Leute rennen unsdie Bude e<strong>in</strong>», sagt Viola Völker, zuständigfür die Vermarktung.Durch die SchächteAuch heute s<strong>in</strong>d es wie<strong>der</strong> überhun<strong>der</strong>t Menschen, die schonsprungbereit am Bahnsteig stehen,um sich gleich e<strong>in</strong>en gelben Bauhelmzu schnappen. Das Gefährt ruckt,und los geht die Fahrt mit <strong>der</strong> offenenBahn. Alles was kreucht undfleucht wird jetzt unter den Gleisenlebendig. Die Ratten rennen schon.Kalt weht <strong>der</strong> W<strong>in</strong>d um die Nase, esFotos: KeystoneBerl<strong>in</strong> lebt –auch unterhalb<strong>der</strong> Oberfläche.TouristenattraktionKanalisationsschächte, Filtergewölbe,vergessene Bunker, Phantoml<strong>in</strong>ien– davon gibt es viele unter Berl<strong>in</strong>sPflaster. E<strong>in</strong>e Stadt unter <strong>der</strong>Nr. 03/02 21


Aktuell Berl<strong>in</strong>ADVICO YOUNG & RUBICAMDer Berl<strong>in</strong>erUntergrund♦ Geschichte:Aufgrund schwieriger technischerVoraussetzungen war lange nichtabzusehen, ob Berl<strong>in</strong> je e<strong>in</strong> ansehnlichesunterirdisches System erhaltenwürde. Erst mit Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Industrialisierungkann von e<strong>in</strong>er Untergrundbebauunggesprochen werden.«Schuld» am Ausbau des Untergrundswar auch das Bier: Berl<strong>in</strong>er Brauereienbrauchten für den Gerstensaftbeträchtliche Lagerkapazitäten.♦ Berl<strong>in</strong>er Verkehrsbetriebe:1902 raste das Volk erstmals <strong>in</strong> unddurch den Untergrund. Es folgte dieHochphase <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kaiserzeit, dann dieVollbremsung: Krieg, Inflation, Firmenpleiten,Materialmangel. Währenddes Zweiten Weltkriegs diente dieU-Bahn als Luftschutzanlage. Resultatnach dem Mauerbau 1961 warenzerschnittene Ost-West-Verb<strong>in</strong>dungen,Fluchttunnel und Phantoml<strong>in</strong>ien.♦ Rohrpostanlage:Die ältere Schwester <strong>der</strong> U-Bahn,1865 <strong>in</strong> Betrieb genommen, war diebedeutendste <strong>in</strong> Mitteleuropa. ImJahre 1944 umfasste sie 99 Rohrpostämterund hatte e<strong>in</strong>e Gesamtlängevon 400 Kilometern. Mit <strong>der</strong>E<strong>in</strong>führung des Postbarschecks 1969war sie erledigt.♦ Nazi-Bunker:Ab 1935 wurde <strong>der</strong> Untergrund mitBunkern, Militär- und Zivilverwaltungsräumenverbaut. Alle<strong>in</strong> um denPotsdamer Platz gab es e<strong>in</strong> DutzendLuftschutzanlagen. Etwa 1000 Bunkergab es, jetzt s<strong>in</strong>d es noch 60.♦ U-Bahn-Cabrio-Fahrt:Dieses Erlebnis bieten die Berl<strong>in</strong>erVerkehrsbetriebe an. Anmeldungerfor<strong>der</strong>lich. Informationen:www.bvg.de♦ Bestseller:Dietmar und Ingmar Arnold: «DunkleWelten. Bunker, Tunnel und Gewölbeunter Berl<strong>in</strong>.»Ch. L<strong>in</strong>ks-Verlag 2000, 224 Seiten,Fr. 68.–. ISBN 3-861-53189-5.Foto: Berl<strong>in</strong>er <strong>Unterwelt</strong>en e. V.Zwischen den S-Bahn-Gleisen am Brandenburger Tor hat sich e<strong>in</strong>unterirdischer See gebildet.riecht nach verbranntem Gummi undDiesel. In forschem Tempo kreuzt dasCabrio die Strecken von fünf verschiedenenU-Bahn-L<strong>in</strong>ien. ÜberAufstellgleise und Verb<strong>in</strong>dungstunnelfährt die Bahn kreuz und querdurch den Untergrund, zum Teil aufStrecken, die <strong>der</strong> Fahrgast noch niegesehen hat. Terra <strong>in</strong>cognita, fasz<strong>in</strong>ierendund geheimnisvoll. Vom Alexan<strong>der</strong>platzgeht es zum U-BahnhofPankstrasse, <strong>der</strong> im Ernstfall alsAtomschutzbunker 3000 MenschenPlatz bieten könnte. Zu je<strong>der</strong> Stationgibt <strong>der</strong> U-Bahn-Mo<strong>der</strong>ator Anekdotenzum Besten. Während er lässig amGelän<strong>der</strong> lehnt, erzählt er, wie es e<strong>in</strong>igenzu DDR-Zeiten gelang, sich überdie Kanalisation <strong>in</strong> den Westen abzusetzen.Ins Schwärmen kommt er, alser sich an das Jahr 1990 er<strong>in</strong>nert, alsdie U-Bahnhöfe gen Osten wie<strong>der</strong>geöffnet wurden. «Gespenstisch wardas und voller Sp<strong>in</strong>nen», sagt er sotheatralisch, dass <strong>der</strong> Zuhörer erschau<strong>der</strong>t.Das Cabrio quietschtdurch hohe, tiefe und runde Tunnel.Die Reise bietet architektonischeGenüsse. Deutlich erkennt man amStil die verschiedenen Epochen.Manchmal ist die U-Bahn-Stationnackt und ohne jede Pracht, dannwie<strong>der</strong> pompös mit verschnörkelterGrün<strong>der</strong>zeitarchitektur. Während <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>ator über zahlreiche stillgelegteo<strong>der</strong> nie fertig gebaute Streckenschwadroniert, kriecht langsam dieKälte <strong>in</strong> die Mitternachtsfahrer, diesich mit roten Nasen tief <strong>in</strong> die SesselFoto: Keystonegedrückt haben. Der letzte Regelzugim U-Bahn-Verkehr rauscht geisterhaftvorbei. Der Zug rollt zurück <strong>in</strong>den hell beleuchteten Bahnhof. Manatmet kräftig durch. Durchgerütteltnach zwei Stunden Fahrt zu den Anfängendes vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>tsund zurück, steigen die Leute ausdem Gefährt aus und greifen nachdem heissen Pott Kaffee, <strong>der</strong> ihnenam Bahnsteig gereicht wird.Der Goebbels-Bunker ist e<strong>in</strong> stummerZeuge e<strong>in</strong>er unrühmlichen Vergangenheit.Swisscom Fixnet:die e<strong>in</strong>fachste Art zu telefonieren.Zu Hause, im Geschäft undunterwegs <strong>in</strong> 10 000 Telefonkab<strong>in</strong>en.Informationen erhalten Sie unterwww.swisscom-fixnet.ch und <strong>der</strong>Gratisnummer 0800 800 800.AnzeigeKellerjugendU-Bahn-Cabrio-Fahrten, Bunker-Besichtigungen – darüber lacht Berl<strong>in</strong>sTechno-Jugend. Sie hat den Berl<strong>in</strong>erUntergrund längst okkupiertund für sich entdeckt. Schon gleichnach <strong>der</strong> Wende verschwanden sie <strong>in</strong>den vergessenen Löchern <strong>der</strong> Stadt.Vor allem im Osten <strong>der</strong> Stadt warPartytime angesagt. Vor zehn Jahrenwurden <strong>in</strong> fahlen Kellern und Bunkerndie ersten Techno-Raves veranstaltet.Hier schlug die Geburtsstunde<strong>der</strong> Turboherzschläge – bis dasTiefbauamt kam, die illegalen Löcherstopfte und die Szene zum nächstenBunker zog. Der stadtbekannte Bunker«Tresor» unter e<strong>in</strong>em ehemaligenLuxuskaufhaus hat die neunzigerJahre überdauert. Jugendlichen gelanges 1990 auch, <strong>in</strong> den Bunker <strong>der</strong>Neuen Reichskanzlei e<strong>in</strong>zusteigen.Historische SpurensucheInzwischen nützt auch die Kulturszenedas unterirdische Flair fürihre Events. Dem Vere<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>erE<strong>in</strong>fach abnehmen.E<strong>in</strong>fach «Hallo».E<strong>in</strong>fach «Papi».E<strong>in</strong>fach auflegen.E<strong>in</strong>fach verbunden.<strong>Unterwelt</strong>en geht es jedoch um e<strong>in</strong>eernsthafte Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit<strong>der</strong> Stadtgeschichte. Rat holt sich dasTeam bei Archäologen und Militärhistorikern.Sie s<strong>in</strong>d sozusagen dieStofflieferanten für die Sem<strong>in</strong>are undBuchbeiträge des Vere<strong>in</strong>s. Dadurchwerden nicht zuletzt die weissenFlecken auf Berl<strong>in</strong>s Untergrundkartegetilgt. Viel Wissen ist bereits unwie<strong>der</strong>br<strong>in</strong>glichverloren: Pläne, Fotos,Akten und sonstige Dokumente verbrannten,wurden gestohlen o<strong>der</strong>verschwanden unter mysteriösenUmständen aus den Archiven. «JedeEpoche, von <strong>der</strong> Reichsgründung biszum Mauerfall, hat im Berl<strong>in</strong>er BodenSpuren h<strong>in</strong>terlassen, zum Teilverwischt, aber auch bestens konserviert.Das gilt es für die Nachwelt zuerhalten», sagt Arnold.Voller Elan br<strong>in</strong>gen die <strong>Unterwelt</strong>lerdie Vergangenheit ans Licht.Das ist, im Gegensatz zu manchenStadttouristikern, manch an<strong>der</strong>engar nicht recht. 1999 s<strong>in</strong>d die Restedes Goebbels-Bunkers ausgerechnetunter dem Gelände, das für das Holocaust-Denkmalvorbereitet wird,wie<strong>der</strong> aufgetaucht. Der Stadtentwicklungssenatorwollte alles zuschüttenlassen, doch <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong> <strong>in</strong>tervenierte.Zu ihren ärgsten Fe<strong>in</strong>denzählen die Grossbaustellen. Statistischgesehen verschw<strong>in</strong>det jede Wochee<strong>in</strong> Bunker. Doch dass dieseZeugnisse <strong>der</strong> Vergangenheit <strong>in</strong> Vergessenheitgeraten könnten, glaubtke<strong>in</strong>er <strong>der</strong> <strong>Unterwelt</strong>ler ernsthaft.Sie führen nicht nur die historischenEckdaten <strong>in</strong>s Feld, die zur Er<strong>in</strong>nerungmahnen. Und: Wer die Untiefen<strong>der</strong> Spree-Metropole e<strong>in</strong>mal besuchthat, ahnt: Von bestimmten Geistern<strong>der</strong> Vergangenheit kommt dieseStadt nicht so schnell wie<strong>der</strong> los ...Vera Rüttimann22 Nr. 03/02Nr. 03/02 23

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