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11. Das römische Epos - UniFr Web Access

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Survol de la littérature antique XXIV Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

<strong>11.</strong>1.1. Vergil, Aeneis 1,1-33<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris<br />

Italiam fato profugus Laviniaque venit<br />

litora, multum ille et terris iactatus et alto<br />

vi superum, saevae memorem Iunonis ob iram,<br />

multa quoque et bello passus, dum conderet urbem<br />

inferretque deos Latio; genus unde Latinum<br />

Albanique patres atque altae moenia Romae.<br />

Musa, mihi causas memora, quo numine laeso<br />

quidve dolens regina deum tot voluere casus<br />

insignem pietate virum, tot adire labores<br />

impulerit. tantaene animis caelestibus irae?<br />

Urbs antiqua fuit (Tyrii tenuere coloni)<br />

Karthago, Italiam contra Tiberinaque longe<br />

ostia, dives opum studiisque asperrima belli,<br />

quam Iuno fertur terris magis omnibus unam<br />

posthabita coluisse Samo. hic illius arma,<br />

hic currus fuit; hoc regnum dea gentibus esse,<br />

si qua fata sinant, iam tum tenditque fovetque.<br />

progeniem sed enim Troiano a sanguine duci<br />

audierat Tyrias olim quae verteret arces;<br />

hinc populum late regem belloque superbum<br />

venturum excidio Libyae; sic voluere Parcas.<br />

id metuens veterisque memor Saturnia belli,<br />

prima quod ad Troiam pro caris gesserat Argis-<br />

necdum etiam causae irarum saevique dolores<br />

exciderant animo; manet alta mente repostum<br />

iudicium Paridis spretaeque iniuria formae<br />

et genus invisum et rapti Ganymedis honores:<br />

his accensa super iactatos aequore toto<br />

Troas, reliquias Danaum atque immitis Achilli,<br />

arcebat longe Latio, multosque per annos<br />

errabant acti fatis maria omnia circum.<br />

tantae molis erat Romanam condere gentem.<br />

<strong>11.</strong> <strong>Das</strong> <strong>römische</strong> <strong>Epos</strong>: Vergil und Ovid<br />

Waffen besinge ich und ihn, der zuerst vor Troias<br />

Gestaden / durch das Geschick landflüchtig Italien<br />

und der Laviner / Küsten erreicht; den lange durch<br />

Meer und Länder umhertrieb / Göttergewalt, wegen<br />

des dauernden Grolls der erbitterten Iuno. (5)<br />

Vieles erduldete er auch im Krieg, bis er die Stadt<br />

gegründet / und die Penaten nach Latium gebracht<br />

hatte; von dort stammt das Volk der Latiner, /<br />

Albas Väter, und Roms hochragende Mauern. /<br />

Sag mir an, o Muse, weshalb, verletzt in der Gottheit<br />

/ oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen<br />

Fürstin den frömmsten (10) Mann so viel Drangsal<br />

bestehen und Mühen erdulden / liess. Ist wirklich<br />

der Zorn so gross in den himmlischen Seelen? /<br />

Fern gegenüber Italiens Strand und der Mündung<br />

des Tiber / lag vor Alters die Stadt / Karthago<br />

— tyrische Kolonisten / wohnten daselbst — an<br />

Besitztum reich und geübt in des Krieges rauhem<br />

Geschäft. (15) Sie erkor, so sagt man, Iuno vor allen<br />

/ Ländern, vor Samos selbst, sich zum Sitz. Hier<br />

hatte sie die Waffen, / hier den Wagen; die Herrschaft<br />

der Welt, wenn das Schicksal es wollte,/<br />

hier zu begründen, war damals schon ihr heisses<br />

Verlangen. / Aber sie hatte vernommen, dass ein<br />

Stamm aus troischem Blute (20) spross, bestimmt,<br />

dereinst zu zerstören die tyrische Stadtburg. / Von<br />

ihm werde ein Geschlecht, weit herrschend und<br />

stolz in den Waffen, / kommen, dem Libyerland<br />

zum Verderben: so spännen die Parzen. / Dieses<br />

befürchtend und stets sich erinnernd des früheren<br />

Krieges, / den sie zuerst bei Troia für das teuere<br />

Argos geführt hatte — (25) denn noch waren die<br />

Gründe des Zorns und die grimmigen Schmerzen /<br />

nicht aus dem Geist gelöscht; sie bewahrt im tiefen<br />

Gemüte / das Urteil des Paris und der Schönheit<br />

schnöde Verachtung, / all das verhasste Geschlecht,<br />

Ganymedes' Raub und Erhebung: / Darum entbrannt<br />

jagt jetzt Saturnia über die Tiefen, (30) was<br />

von Troern den Griechen entging und dem grimmen<br />

Achilles, / und wehrte sie weit von Latium<br />

ab; mehrere Jahre lang / irrten sie, verfolgt vom<br />

Geschick, ringsum durch alle Meere. / Solch mühseliges<br />

Geschäft war die Stiftung des Römergeschlechts.<br />

(Übersetzung nach M. von Albrecht)


Survol de la littérature antique XXV Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

<strong>11.</strong>1.2. Vergil, Aeneis 1,227-296<br />

230<br />

235<br />

240<br />

245<br />

250<br />

255<br />

260<br />

atque illum (= Iovem) talis iactantem pectore curas<br />

tristior et lacrimis oculos suffusa nitentis<br />

adloquitur Venus: 'o qui res hominumque deumque<br />

aeternis regis imperiis et fulmine terres,<br />

quid meus Aeneas in te committere tantum,<br />

quid Troes potuere, quibus tot funera passis<br />

cunctus ob Italiam terrarum clauditur orbis?<br />

certe hinc Romanos olim volventibus annis,<br />

hinc fore ductores, revocato a sanguine Teucri,<br />

qui mare, qui terras omnis dicione tenerent,<br />

pollicitus - quae te, genitor, sententia vertit?<br />

hoc equidem occasum Troiae tristisque ruinas<br />

solabar fatis contraria fata rependens;<br />

nunc eadem fortuna viros tot casibus actos<br />

insequitur. quem das finem, rex magne, laborum?<br />

Antenor potuit mediis elapsus Achivis<br />

Illyricos penetrare sinus atque intima tutus<br />

regna Liburnorum et fontem superare Timavi,<br />

unde per ora novem vasto cum murmure montis<br />

it mare proruptum et pelago premit arva sonanti.<br />

hic tamen ille urbem Pataui sedesque locavit<br />

Teucrorum et genti nomen dedit armaque fixit<br />

Troia, nunc placida compostus pace quiescit:<br />

nos, tua progenies, caeli quibus adnuis arcem,<br />

navibus (infandum!) amissis unius ob iram<br />

prodimur atque Italis longe disiungimur oris.<br />

hic pietatis honos? sic nos in sceptra reponis?'<br />

Olli subridens hominum sator atque deorum<br />

vultu, quo caelum tempestatesque serenat,<br />

oscula libavit natae, dehinc talia fatur:<br />

'parce metu, Cytherea, manent immota tuorum<br />

fata tibi; cernes urbem et promissa Lavini<br />

moenia, sublimemque feres ad sidera caeli<br />

magnanimum Aenean; neque me sententia vertit.<br />

hic tibi (fabor enim, quando haec te cura remordet,<br />

longius et volvens fatorum arcana movebo)<br />

bellum ingens geret Italia populosque ferocis<br />

contundet moresque viris et moenia ponet,<br />

Da Jupiter nun in der Brust solcherlei Sorgen<br />

bewegte, / nahet bekümmert, den strahlenden Blick<br />

mit Tränen umgossen, / Venus und redet ihn an:<br />

»O du, der du die Angelegenheiten der Menschen<br />

und Götter (230) mit ewigem Gebote lenkst und sie<br />

mit dem Blitze schreckst, / was hat mein Aeneas<br />

an dir so Grosses verschuldet, / was die Troer, für<br />

die, nachdem sie schon so viele Tote betrauert, /<br />

der gesamte Erdkreis Italiens wegen verschlossen<br />

bleibt? / Und doch sollten von hier die Römer<br />

einst mit kreisenden Jahren, (235) sollten die Feldherrn<br />

kommen, von Teukros' wiedererwecktem<br />

Stamm, / die das Meer und alle Länder fest hielten<br />

im Gehorsam / — so versprachst du. Was hat dir<br />

den Sinn, o Erzeuger, geändert? Dadurch tröstete<br />

ich mich ob Troias Fall und der schmerzlichen<br />

Trümmer, / indem ich Geschick mit Geschick<br />

wog; (240) aber dasselbe Schicksal verfolgt auch<br />

jetzt die durch so viel Nöte getriebenen Männer.<br />

Wann machst du den Mühen, o erhabener König,<br />

ein Ende? / Konnte doch, mitten entschlüpft durch<br />

das Heer der Achiver, Antenor / /in die illyrische<br />

Bucht eindringen und bei dem versteckten / Reich<br />

der Liburner vorbei und Timavus' Quellen gelangen,<br />

(245) der mit lautem Getöse des Bergs sich<br />

jäh in das Meer stürzt, / durch neun Mündungen<br />

und das Gefilde mit rauschender Flut deckt! / Und<br />

hier baute er die Stadt Patavium, gründete Sitze<br />

hier / für die Teukrer, benannte das Volk und hing<br />

die trojanischen / Waffen auf, er, der jetzt ausruht,<br />

in Frieden bestattet. (250) Wir, dein Geschlecht,<br />

dem du selbst die Himmelshöhe gewährtest, /<br />

werden, o Schmach, nach der Schiffe Verlust um<br />

einer einzigen Zorn / verraten und weit von den<br />

italischen Küsten verschlagen. / Soll das der Lohn<br />

für unsere Frömmigkeit sein? Verleihst du so uns<br />

das Szepter? / Und mild lächelt sie an der Erzeuger<br />

der Menschen und Götter (255) mit einem<br />

Blick, der Himmel und Wetter erheitert. /<br />

Sanft dann küsste er die Tochter auf den Mund<br />

und sprach: »Lass von der Furcht, Cytherea, unwandelbar<br />

bleibt der Deinen / Schicksal; du wirst<br />

noch die Stadt Laviniums und die verheissenen /<br />

Mauern sehen. Du trägst empor zu den Sternen des<br />

Himmels (260) den erhabenen Aeneas; mein Sinn<br />

hat sich nicht geändert. / Er — ich will es gestehn,<br />

da dich solche Sorge plagt, ja, ich will das verhüllte<br />

Geschick noch weiter entrollen — / wird<br />

noch gewaltige Kriege führen in Italien und wilde<br />

Völker / bändigen, Gesetze geben den Männern


Survol de la littérature antique XXVI Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

265<br />

270<br />

275<br />

280<br />

285<br />

290<br />

295<br />

tertia dum Latio regnantem viderit aestas<br />

ternaque transierint Rutulis hiberna subactis.<br />

at puer Ascanius, cui nunc cognomen Iulo<br />

additur (Ilus erat, dum res stetit Ilia regno),<br />

triginta magnos volvendis mensibus orbis<br />

imperio explebit, regnumque ab sede Lavini<br />

transferet, et Longam multa vi muniet Albam.<br />

hic iam ter centum totos regnabitur annos<br />

gente sub Hectorea, donec regina sacerdos<br />

Marte gravis geminam partu dabit Ilia prolem.<br />

inde lupae fulvo nutricis tegmine laetus<br />

Romulus excipiet gentem et Mavortia condet<br />

moenia Romanosque suo de nomine dicet.<br />

his ego nec metas rerum nec tempora pono:<br />

imperium sine fine dedi. quin aspera Iuno,<br />

quae mare nunc terrasque metu caelumque fatigat,<br />

consilia in melius referet, mecumque fovebit<br />

Romanos, rerum dominos gentemque togatam.<br />

sic placitum. veniet lustris labentibus aetas<br />

cum domus Assaraci Pthiam clarasque Mycenas<br />

servitio premet ac victis dominabitur Argis.<br />

nascetur pulchra Troianus origine Caesar,<br />

imperium Oceano, famam qui terminet astris,<br />

Iulius, a magno demissum nomen Iulo.<br />

hunc tu olim caelo spoliis Orientis onustum<br />

accipies secura; vocabitur hic quoque votis.<br />

aspera tum positis mitescent saecula bellis:<br />

cana Fides et Vesta, Remo cum fratre Quirinus<br />

iura dabunt; dirae ferro et compagibus artis<br />

claudentur Belli portae; Furor impius intus<br />

saeva sedens super arma et centum vinctus aënis<br />

post tergum nodis fremet horridus ore cruento.'<br />

und schützende Mauern errichten, (265) bis ihn in<br />

Latium drei Sommer als König gesehen haben, /<br />

dreimal ins Winterlager zogen die gebändigten<br />

Rutuler. / Aber der Knabe Ascanius, der den Beinamen<br />

Iulus / erhält — Ilus war er, solange das<br />

Reich von Ilium blühte, — / wird dreissig Jahre<br />

lange der Monde / Kreislauf (270) mit Herrschergewalt<br />

füllen, sein Reich von Laviniums Sitz /<br />

weiter verlegen, und Alba Longa mit grosser<br />

Macht befestigen. / Drei Jahrhunderte lang wird<br />

die Herrschaft ununterbrochen andauern / unter<br />

des Hektor Geschlecht, bis die fürstliche Priesterin<br />

endlich, / Ilia, schwanger von Mars, ein Zwillingspaar<br />

auf die Welt bringt. (275) Von da führt<br />

glückverheissend im rotbraunen Fell der Wölfin /<br />

Romulus den Stamm weiter. Er wird die Mavortischen<br />

Mauern / gründen und die Römer nach<br />

dem eigenen Namen heissen. / Diesen bestimme<br />

ich kein Ziel ihrer Taten und keine Zeiten: Herrschaft<br />

ohne Ende habe ich ihnen verliehen. Selbst<br />

Juno, die harte, (280) welche durch Meer und Land<br />

und Himmel Entsetzen verbreitet, wird zu besserem<br />

Rat gelangen, und zusammen mit mir die<br />

Römer / unterstützen, die Beherrscher der Welt<br />

und das Volk, das die Toga trägt. / So ist es beschlossen.<br />

Einst wird im Laufe der Jahrhunderte<br />

die Zeit kommen, / da Assaracus' Haus Phthias<br />

und das erlauchte Mykene (285) unter das Joch<br />

beugt und als Herr dem geknechteten Argos<br />

gebietet. Dann sprosst auf aus dem schönen Geschlecht<br />

der troianische Caesar, / dessen Gebot bis<br />

zum Ozean, dessen Ruhm zum Himmel reicht, /<br />

Iulius: sein Name entstammt vom grossen Iulus. /<br />

Ihn wirst du einst, beschwert mit den Trophäen<br />

des Ostens, im Himmel (290) fröhlich empfangen.<br />

Auch er wird mit Gelübden angerufen werden. /<br />

Dann, von den Kriegen erlöst, wird das rauhe<br />

Zeitalter sanfter: / die ehrwürdige Fides (Treue) und<br />

Vesta (Göttin des Herdes), Quirin (der zum Gott erhobene<br />

Romulus) zusammen mit seinem Bruder Remus /<br />

geben die Gesetze; mit Stahl und klemmenden<br />

Riegeln / bleiben die Tore des Kriegs geschlossen;<br />

drin sitzt die verruchte / Wut grimmig auf den<br />

Waffen und, mit ehernen Knoten / hinter dem Rücken<br />

gebunden, schnaubt das Scheusal mit blutigem<br />

Schlund.«<br />

(Übersetzung nach M. von Albrecht)


Survol de la littérature antique XXVII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

<strong>11.</strong>1.3. Vergil, Aeneis 1,736–756. 2,1–9<br />

740<br />

745<br />

750<br />

755<br />

5<br />

dixit et in mensam laticum libavit honorem<br />

primaque, libato, summo tenus attigit ore;<br />

tum Bitiae dedit increpitans; ille impiger hausit<br />

spumantem pateram et pleno se proluit auro;<br />

post alii proceres. cithara crinitus Iopas<br />

personat aurata, docuit quem maximus Atlas.<br />

hic canit errantem lunam solisque labores,<br />

unde hominum genus et pecudes, unde imber et ignes,<br />

Arcturum pluviasque Hyadas geminosque Triones,<br />

quid tantum Oceano properent se tingere soles<br />

hiberni, vel quae tardis mora noctibus obstet;<br />

ingeminant plausu Tyrii, Troesque sequuntur.<br />

nec non et vario noctem sermone trahebat<br />

infelix Dido longumque bibebat amorem,<br />

multa super Priamo rogitans, super Hectore multa;<br />

nunc quibus Aurorae venisset filius armis,<br />

nunc quales Diomedis equi, nunc quantus Achilles.<br />

'immo age et a prima dic, hospes, origine nobis<br />

insidias' inquit 'Danaum casusque tuorum<br />

erroresque tuos; nam te iam septima portat<br />

omnibus errantem terris et fluctibus aestas.'<br />

Liber II<br />

Conticuere omnes intentique ora tenebant;<br />

inde toro pater Aeneas sic orsus ab alto:<br />

Infandum, regina, iubes renovare dolorem,<br />

Troianas ut opes et lamentabile regnum<br />

eruerint Danai, quaeque ipse miserrima vidi<br />

et quorum pars magna fui. quis talia fando<br />

Myrmidonum Dolopumve aut duri miles Ulixi<br />

temperet a lacrimis? et iam nox umida caelo<br />

praecipitat suadentque cadentia sidera somnos.<br />

Sagt es und feuchtet den Tisch mit des Weinstocks<br />

heiliger Spende, / kostet als erste den Trank, netzt<br />

kaum nur eben die Lippe, / reicht ihn mit fröhlichem<br />

Wort dem Bibias. Dieser, nicht träge, /<br />

schlürfte aus dem goldenen Rund in vollen Zügen<br />

die Schaumflut. (740) Andere tun es ihm nach. Zur<br />

goldenen Zither hebt Iopas, / der lockige, an, was<br />

ihn der mächtige Atlas gelehrt hat. / Er singt vom<br />

Wechsel des Monds, von den Mühen der wandernden<br />

Sonne, / woher der Menschen Geschlecht und<br />

das Kleinvieh, woher Regen und Blitz, / und Arcturus<br />

und Regengestirn und die beiden Trionen,<br />

(240) singt, warum mit dem Herbst in den Ozean<br />

früher das Tageslicht niedertaucht, / und was die<br />

verspäteten Nächte zurückhält. / Beifall klatscht<br />

das Tyrervolk, ihm folgen die Troer. / Derweil<br />

verbringt die Nacht mit vielen Gesprächen / die<br />

unglückselige Dido, sie trinkt in langen Zügen die<br />

Liebe, (750) will von Priamus viel, will viel von<br />

Hektor vernehmen. / Fragt nach Aurorens Sohn<br />

und dem Harnisch, den er getragen, / forscht nach<br />

dem Wagengespann Diomedes, dem Wuchs des<br />

Achilles. / »Wahrlich«, so bittet sie, »Gast, heb an<br />

vom ersten Beginn, / nenne der Danaer List, erzähl<br />

der Deinen Verhängnis und (755) dein eigenes Verschulden.<br />

Schon ist's der siebte Sommer, / der dich<br />

im Erdenrund umtreibt durch Länder und Meere.«<br />

2. Buch<br />

Still wurde es ringsum, sie blickten ihn an und<br />

lauschten seiner Rede, / Also erhob sich von der<br />

erhabenen Liege der Vater Aeneas und begann: /<br />

»Unauskündbaren Schmerz, o Königin, soll ich erneuern,<br />

/ sagen, wie Danaer der klagenswerten<br />

Troja Reichtum (5) stürzten und Reich, das Grauen,<br />

das ich selber gesehen, / wovon ich selbst ein Teil<br />

war. – Wer hielt bei solchem Berichte,/ Myrmidone,<br />

Doloper, ja selbst des harten Odysseus<br />

Krieger / die Tänen zurück? Schon schwindet die<br />

feuchte Nacht / am Himmel, und es mahnen die sinkenden<br />

Sterne zum Schlummer.«<br />

(Übersetzung nach R.A. Schröder)


Survol de la littérature antique XXVIII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

<strong>11.</strong>1.4. Vergil, Aeneis 4,642–705<br />

645<br />

650<br />

655<br />

660<br />

665<br />

670<br />

675<br />

680<br />

685<br />

690<br />

at trepida et coeptis immanibus effera Dido<br />

sanguineam volvens aciem, maculisque trementis<br />

interfusa genas et pallida morte futura,<br />

interiora domus inrumpit limina et altos<br />

conscendit furibunda rogos ensemque recludit<br />

Dardanium, non hos quaesitum munus in usus.<br />

hic, postquam Iliacas vestis notumque cubile<br />

conspexit, paulum lacrimis et mente morata<br />

incubuitque toro dixitque novissima verba:<br />

'dulces exuviae, dum fata deusque sinebat,<br />

accipite hanc animam meque his exsolvite curis.<br />

vixi et quem dederat cursum Fortuna peregi,<br />

et nunc magna mei sub terras ibit imago.<br />

urbem praeclaram statui, mea moenia vidi,<br />

ulta virum poenas inimico a fratre recepi,<br />

felix, heu nimium felix, si litora tantum<br />

numquam Dardaniae tetigissent nostra carinae.'<br />

dixit, et os impressa toro 'moriemur inultae,<br />

sed moriamur' ait. 'sic, sic iuvat ire sub umbras.<br />

hauriat hunc oculis ignem crudelis ab alto<br />

Dardanus, et nostrae secum ferat omina mortis.'<br />

dixerat, atque illam media inter talia ferro<br />

conlapsam aspiciunt comites, ensemque cruore<br />

spumantem sparsasque manus. it clamor ad alta<br />

atria: concussam bacchatur Fama per urbem.<br />

lamentis gemituque et femineo ululatu<br />

tecta fremunt, resonat magnis plangoribus aether,<br />

non aliter quam si immissis ruat hostibus omnis<br />

Karthago aut antiqua Tyros, flammaeque furentes<br />

culmina perque hominum volvantur perque deorum.<br />

audiit exanimis trepidoque exterrita cursu<br />

unguibus ora soror foedans et pectora pugnis<br />

per medios ruit, ac morientem nomine clamat:<br />

'hoc illud, germana, fuit? me fraude petebas?<br />

hoc rogus iste mihi, hoc ignes araeque parabant?<br />

quid primum deserta querar? comitemne sororem<br />

sprevisti moriens? eadem me ad fata vocasses,<br />

idem ambas ferro dolor atque eadem hora tulisset.<br />

his etiam struxi manibus patriosque vocavi<br />

voce deos, sic te ut posita, crudelis, abessem.<br />

exstinxti te meque, soror, populumque patresque<br />

Sidonios urbemque tuam. date, vulnera lymphis<br />

abluam et, extremus si quis super halitus errat,<br />

ore legam.' sic fata gradus evaserat altos,<br />

semianimemque sinu germanam amplexa fovebat<br />

cum gemitu atque atros siccabat veste cruores.<br />

illa gravis oculos conata attollere rursus<br />

deficit; infixum stridit sub pectore vulnus.<br />

ter sese attollens cubitoque adnixa levavit,<br />

ter revoluta toro est oculisque errantibus alto<br />

Dido aber, erhitzt und wild durch das grause Beginnen,<br />

/ rollte den blutunterlaufenen Blick; um die<br />

bebenden Wangen / bläulich gefleckt und blaß von<br />

dem nah schon drohenden Tode (645) stürzt sie<br />

durch die innere Tür des Hofs und steigt, rasend,<br />

auf den hohen / Holzstoß hinauf. Dann entblößt sie<br />

die Dardanerklinge, / die sie nicht zu solchem Gebrauch<br />

sich erbeten, / sieht die troischen Kleider<br />

und erkennt das bekannte / Lager, da weilte sie ein<br />

wenig, sinnend und weinend; (650) dann sank sie<br />

hin auf das Kissen und sprach noch die letzten<br />

Worte: / »Reste, so teuer mir einst, solang es Gott<br />

und das Schicksal / zuließ, nehmt den Geist jetzt<br />

auf und erlöst mich von der Qual. / Mein Leben ist<br />

abgeschlossen, ich habe die Bahn, die das Schicksal<br />

mir bestimmte, durchlaufen, / unter die Erde<br />

hinab steigt bald mein erhabener Schatten. (655)<br />

Herrlich erhebt sich die Stadt, mein Werk; ich sah<br />

deren Mauern, / habe den Gatten gerächt und den<br />

felndlichen Bruder gezüchtigt. / Glücklich, ach allzu<br />

glücklich, / hätten sich der Dardaner / Kiele niemals<br />

unseren Gestaden genaht.« / So sprach sie<br />

und drückte ihr Gesicht tief in das Kissen. »Zwar<br />

sterbe ich ohne Vergeltung. (660) Doch will ich<br />

sterben, und so geh ich gern hinab zu den Schatten.<br />

Trinke den Feuerschein auf offenem Meer mit<br />

den Augen / der Troer, und mein Tod begleite ihn<br />

als unheilkündendes Zeichen.« / Während sie noch<br />

rief, lag sie schon zusammengesunken / unter dem<br />

Stahl da. So sahen sie die Frauen: das Schwert<br />

(665) noch schäumend von Blut und die Hände<br />

befleckt. Da schallt / durch die hohen / Hallen der<br />

Lärm, das Gerücht durchtobt die Gassen der Stadt.<br />

/ Stöhnen und Wehgeschrei und Weibergeheul in<br />

den Häusern / tobt durcheinander. es hallt von den<br />

Klagen des Himmelsgewölbe, / grad, als wäre der<br />

Feind in der Stadt, als stürzte ganz (670) Karthago<br />

oder die alte Tyros in Schutt, als wälzten sich die<br />

Flammen / wild durch die Giebel der Menschen<br />

und der Götter. / Es hörte es, gleichsam entseelt,<br />

die Schwester und lief rasend herbei, / die Wangen<br />

zerkratzt, die Brust mit Schlägen geschändet. / Sie<br />

stürzt sich mitten hinein und ruft die Sterbende mit<br />

ihrem Namen: (675) »Dies also, Schwester, war es?<br />

Schändlichem Betrug setztest du mich aus? / Dies<br />

war es, wozu der Scheiterhaufen, dies, wozu Feuersbrunst<br />

und Altar dienten? / Was soll ich Verlaßene<br />

zuerst klagen? Der Schwester Begleitung /<br />

hat dein Scheiden verschmäht? Hättest du mich gerufen,<br />

mit dir zu sterben, / dann hätte der Schmerz


Survol de la littérature antique XXIX Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

695<br />

700<br />

705<br />

quaesivit caelo lucem ingemuitque reperta.<br />

tum Iuno omnipotens longum miserata dolorem<br />

difficilisque obitus Irim demisit Olympo<br />

quae luctantem animam nexosque resolveret artus.<br />

nam quia nec fato merita nec morte peribat,<br />

sed misera ante diem subitoque accensa furore,<br />

nondum illi flavum Proserpina vertice crinem<br />

abstulerat Stygioque caput damnaverat Orco.<br />

ergo Iris croceis per caelum roscida pennis<br />

mille trahens varios adverso sole colores<br />

devolat et supra caput astitit. 'hunc ego Diti<br />

sacrum iussa fero teque isto corpore solvo':<br />

sic ait et dextra crinem secat, omnis et una<br />

dilapsus calor atque in ventos vita recessit.<br />

durch das Schwert uns beide zur gleichen Stunde<br />

getroffen. (680) Und nun türmte ich selber den<br />

Stoß, habe selber der Heimat / Götter berufen und<br />

ließ dich grausam enden und einsam! / Ausgelöscht<br />

hast du, Schwester, dich und mich, dein<br />

Volk und deine Väter / von Tyros, deine Stadt. –<br />

Bringt Wasser, daß ich die Wunden / wasche und<br />

den letzten Hauch, wenn sie noch atmet, (685) vom<br />

Munde küsse.« – Sprach es und hat die steilen<br />

Stufen erklommen, / hält mit Armen und Schoß<br />

die sterbenden Schwester umfangen, / traurig bemüht,<br />

mit den Kleidern das dunkle Blut zu stillen.<br />

/ Jene versucht's und hebt die schweren Lider,<br />

vermag es nicht / und sinkt hin: inmitten der Brust<br />

gähnt klaffend die Wunde. (690) Dreimal hob sie<br />

sich auf und stützte sich wankend im Lager, /<br />

dreimal sank sie zurück aufs Bett. Mit irrenden<br />

Augen / sucht sie im Himmel das Licht, seufzt,<br />

wenn sie es gewahr wird. / Endlich erbarmt sich<br />

die allmächtige Juno der langen Leiden / und des<br />

verzögerten Todes und sendet Iris vom Olymp,<br />

(695) daß sie den ringenden Geist entbinde und die<br />

Glieder löse. / Denn weil weder Geschick noch<br />

eigene Schuld sie getötet, / sondern bevor ihre Tage<br />

gezählt, unzeitiger Wahnsinn, / hatte Proserpina<br />

ihr noch nicht vom Scheitel die blonde Locke /<br />

geraubt und zum Styx ihr Haupt, in den Orcus<br />

verbannt. (700) Drum flog Iris, betaut, auf Safranflügeln<br />

hernieder, / unter der Sonne Gesicht in tausend<br />

Farben gekleidet, / stand ihr zu Häupten und<br />

sprach: »Diese bring ich dem Dis (Unterweltsgott) /<br />

als heilige Spende, sie mir befohlen, und löse dich<br />

also vom Leibe.« / Sagt es, ergreift und schneidet<br />

das Haar. Im selben Moment (705) schwindet die<br />

Wärme dahin und das Leben kehrt zu den Winden<br />

zurück.<br />

(Übersetzung nach M. v. Albrecht und R.A. Schröder)


Survol de la littérature antique XXX Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

<strong>11.</strong>2.1. Ovid, Amores 1,1,1–30<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

Arma gravi numero violentaque bella parabam<br />

edere, materia conveniente modis.<br />

par erat inferior versus; risisse Cupido<br />

dicitur atque unum surripuisse pedem.<br />

'Quis tibi, saeve puer, dedit hoc in carmina iuris?<br />

Pieridum vates, non tua turba sumus.<br />

quid, si praeripiat flavae Venus arma Minervae,<br />

ventilet accensas flava Minerva faces?<br />

quis probet in silvis Cererem regnare iugosis,<br />

lege pharetratae Virginis arva coli?<br />

crinibus insignem quis acuta cuspide Phoebum<br />

instruat, Aoniam Marte movente lyram?<br />

sunt tibi magna, puer, nimiumque potentia regna;<br />

cur opus adfectas, ambitiose, novum?<br />

an, quod ubique, tuum est? tua sunt Heliconia tempe?<br />

vix etiam Phoebo iam lyra tuta sua est?<br />

cum bene surrexit versu nova pagina primo,<br />

attenuat nervos proximus ille meos;<br />

nec mihi materia est numeris levioribus apta,<br />

aut puer aut longas compta puella comas.'<br />

Questus eram, pharetra cum protinus ille soluta<br />

legit in exitium spicula facta meum,<br />

lunavitque genu sinuosum fortiter arcum,<br />

'quod' que 'canas, vates, accipe' dixit 'opus!'<br />

Me miserum! certas habuit puer ille sagittas.<br />

uror, et in vacuo pectore regnat Amor.<br />

Sex mihi surgat opus numeris, in quinque residat:<br />

ferrea cum vestris bella valete modis!<br />

cingere litorea flaventia tempora myrto,<br />

Musa, per undenos emodulanda pedes!<br />

<strong>11.</strong>2.2. Ovid, Metamorphosen 1,1–37. 69–88<br />

5<br />

In nova fert animus mutatas dicere formas<br />

corpora; di, coeptis (nam vos mutastis et illas)<br />

adspirate meis primaque ab origine mundi<br />

ad mea perpetuum deducite tempora carmen!<br />

Ante mare et terras et quod tegit omnia caelum<br />

unus erat toto naturae vultus in orbe,<br />

quem dixere chaos: rudis indigestaque moles<br />

nec quicquam nisi pondus iners congestaque eodem<br />

non bene iunctarum discordia semina rerum.<br />

Waffen in schwerem Takt und gewaltsame Kriege<br />

zu singen / war ich gerüstet; dem Stoff sollte sich<br />

fügen die Form; / gleich lang waren die Verse; da<br />

soll Cupido gelacht haben, und immer / stahl aus<br />

dem zweiten des Paars einen der Füsse der Schalk.<br />

(5) »Wer gab, wilder Gesell, dir Recht auf meine<br />

Gedichte? / Den Pieriden geweiht bin ich als<br />

Dichter, nicht dir! / Raubt auch Venus vielleicht die<br />

Waffen der blonden Minerva? / Facht der Fackeln<br />

Glut Minerva, die bonde, vielleicht? Wer fände es<br />

erlaubt, wenn Ceres im Bergwald herrschte? (10)<br />

Wenn die beköcherte Jungfrau den Fluren das<br />

Gesetz gäbe? Rüstet mit spitzigem Speer wohl einer<br />

den lockenumwallten / Phoebus Apollo, und bewegt<br />

Mars die böotische Lyra? / Gross, o Knabe, ist dein<br />

Reich, zu mächtig ist deine Herrschaft! / Weshalb,<br />

Ehrgeiziger, strebst du neuem Beginnen nach? /<br />

Oder gehört alles, was überall ist, dir? (15) Ist dein<br />

die Bergschlucht des Helikon? Kaum noch die<br />

Leier Apolls, scheint es, ist vor dir sicher. / Als mit<br />

dem ersten Vers mein Lied sich trefflich emporschwang,<br />

/ wurden die Sehnen sogleich mir beim<br />

zweiten geschwächt. / Und doch fehlt mir ein passender<br />

Stoff für die leichteren Rhythmen, (20) ein<br />

Knabe, ein schmuckes Mädchen mit wallendem<br />

Haar.« / Also klagte ich; da löste er sofort den<br />

Köcher, / wählte ein Geschoss daraus, mir zum<br />

Verderben bestimmt, krümmt kraftvoll mit dem<br />

Knie zur Halbmondsform den Bogen, / spricht:<br />

»Hier nimm für dich, Dichter, den passenden<br />

Stoff!« (25) Weh mir Armen! Es hat gar sichere<br />

Pfeile der Knabe! / Ich brenne, in meiner leeren<br />

Brust herrscht Amor. / Mit sechs Füssen beginne<br />

ich mein Lied; es endet mit fünfen. / Eiserne Kriege<br />

mit euren Rhythmen, lebt wohl! / Jetzt mit der Myrte<br />

vom Strand umkränze die goldenen Schläfen, (30)<br />

Muse, der nun in elf Takten erklinge das Lied.<br />

(Übersetzung nach M. v. Albrecht)<br />

Von Gestalten zu künden, die in neue Körper verwandelt<br />

wurden, treibt mich der Geist. Ihr Götter –<br />

habt ihr doch jene Verwandlungen bewirkt –, beflügelt<br />

mein Beginnen mit eurem göttlichen Atem und<br />

führt meine Dichtung ununterbrochen vom allerersten<br />

Ursprung der Welt bis zu meiner eigenen Zeit!<br />

Ehe es Meer, Land und den Himmel gab, der alles<br />

umschließt, (5) hatte die ganze Natur rinsgum einerlei<br />

Aussehen; man nannte es Chaos; eine rohe, un-


Survol de la littérature antique XXXI Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

35<br />

70<br />

75<br />

nullus adhuc mundo praebebat lumina Titan,<br />

nec nova crescendo reparabat cornua Phoebe,<br />

nec circumfuso pendebat in aere tellus<br />

ponderibus librata suis, nec bracchia longo<br />

margine terrarum porrexerat Amphitrite;<br />

utque erat et tellus illic et pontus et aer,<br />

sic erat instabilis tellus, innabilis unda,<br />

lucis egens aer; nulli sua forma manebat,<br />

obstabatque aliis aliud, quia corpore in uno<br />

frigida pugnabant calidis, umentia siccis,<br />

mollia cum duris, sine pondere, habentia pondus.<br />

Hanc deus et melior litem natura diremit.<br />

nam caelo terras et terris abscidit undas<br />

et liquidum spisso secrevit ab aere caelum.<br />

quae postquam evolvit caecoque exemit acervo,<br />

dissociata locis concordi pace ligavit:<br />

ignea convexi vis et sine pondere caeli<br />

emicuit summaque locum sibi fecit in arce;<br />

proximus est aer illi levitate locoque;<br />

densior his tellus elementaque grandia traxit<br />

et pressa est gravitate sua; circumfluus umor<br />

ultima possedit solidumque coercuit orbem.<br />

Sic ubi dispositam quisquis fuit ille deorum<br />

congeriem secuit sectamque in membra coegit,<br />

principio terram, ne non aequalis ab omni<br />

parte foret, magni speciem glomeravit in orbis.<br />

tum freta diffundi rapidisque tumescere ventis<br />

iussit et ambitae circumdare litora terrae.<br />

[…]<br />

Vix ita limitibus dissaepserat omnia certis,<br />

cum, quae pressa diu fuerant caligine caeca,<br />

sidera coeperunt toto effervescere caelo;<br />

neu regio foret ulla suis animalibus orba,<br />

astra tenent caeleste solum formaeque deorum,<br />

cesserunt nitidis habitandae piscibus undae,<br />

terra feras cepit, volucres agitabilis aer.<br />

geordnete Masse, nichts als träges Gewicht und auf<br />

einen Haufen zusammengeworfene, im Widerstreit<br />

befindliche Samen von Dingen, die keinen rechten<br />

Zusammenhang hatten. Noch kein Titan spendete<br />

der Welt Licht, (10) kein Phoebe ließ ihr Mondhorn<br />

immer wieder aufs neue nachwachsen. Keine Tellus<br />

schwebte in der Luft, die sich um sie ergießt, und<br />

hielt sich durch ihre eigene Schwerkraft im Gleichgewicht;<br />

keine Amphitrite hatte die Arme weit um<br />

den Rand der Länder gespannt. Zwar gab es da<br />

Erde, Wasser und Luft; (15) doch konnte man auf<br />

der Erde nicht stehen, die Woge ließ sich nicht<br />

durchschwimmen, und die Luft war ohne Licht.<br />

Keinem Ding blieb die eigene Gestalt, im Wege<br />

stand eines dem anderen, weil in ein und demselben<br />

Körper Kaltes kämpfte mit Heißem, Feuchtes mit<br />

Trockenem, Weiches mit Hartem, Schwereloses mit<br />

Schwerem. (20)<br />

Diesen Streit schlichtet Gott und die bessere Natur.<br />

Er schied nämlich vom Himmel die Erde und von<br />

der Erde die Gewässer, und er sonderte von der<br />

dichten Luft den klaren Himmel. Nachdem er diese<br />

vier herausgeschält und aus dem unübersichtlichen<br />

Haufen genommen hatte, trennte er sie räumlich<br />

und verband sie so in einträchtigem Frieden. (25)<br />

Die feurige Kraft des schwerelosen Himmelsgewölbes<br />

sprühte empor und schuf sich ganz oben in<br />

der höchsten Höhe einen Platz. Am nächsten steht<br />

ihr die Luft, was die Leichtigkeit und auch was den<br />

Standort betrifft. Dichter als beide ist die Erde; sie<br />

zog die wuchtigen Elemente an sich und wurde<br />

durch die eigene Schwere nach unten gedrückt.<br />

Ringsum strömte das Feuchte, (30) nahm den Rand<br />

in Besitz und umschloß das feste Erdenrund. Kaum<br />

hatte er – welcher der Götter es auch sein mochte –<br />

das Durcheinander so geordnet, zerschnitten und<br />

gegliedert, da ballte er zuerst die Erde zusammen,<br />

damit sie auf allen Seiten gleich sei, und gab ihr die<br />

Gestalt einer großen Kugel. (35) Dann gebot er den<br />

Meeren, sich weithin zu ergießen, von stürmischen<br />

Winden gepeitscht anzuschwellen und die Küsten<br />

der Erde rings zu umfließen. […]<br />

Kaum hatte er so alles durch klar umrissene Grenzen<br />

aufgegliedert, als plötzlich die Sterne, die lange<br />

von undurchdringlichem Dunkel bedeckt gewesen<br />

waren, (70) am ganzen Himmel aufzuglühen begannen.<br />

Und damit kein Bereich ohne Lebewesen sei,<br />

die ihm angehören, haben Gestirne und Göttergestalten<br />

den Himmelsboden inne, den schimmernden<br />

Fischen fielen die Wogen als Wohnstatt zu, die<br />

Erde nahm Tiere auf und Vögel die bewegliche<br />

Luft. (75)


Survol de la littérature antique XXXII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

80<br />

85<br />

Sanctius his animal mentisque capacius altae<br />

deerat adhuc et quod dominari in cetera posset:<br />

natus homo est, sive hunc divino semine fecit<br />

ille opifex rerum, mundi melioris origo,<br />

sive recens tellus seductaque nuper ab alto<br />

aethere cognati retinebat semina caeli.<br />

quam satus Iapeto, mixtam pluvialibus undis,<br />

finxit in effigiem moderantum cuncta deorum,<br />

pronaque cum spectent animalia cetera terram,<br />

os homini sublime dedit caelumque videre<br />

iussit et erectos ad sidera tollere vultus:<br />

sic, modo quae fuerat rudis et sine imagine, tellus<br />

induit ignotas hominum conversa figuras.<br />

<strong>11.</strong>2.3. Ovid, Metamorphosen 10,1–77<br />

5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

Inde per inmensum croceo velatus amictu<br />

aethera digreditur Ciconumque Hymenaeus ad oras<br />

tendit et Orphea nequiquam voce vocatur.<br />

(Hymenaeus [Hochzeitsgott] hatte mit Venus und Iuno am Hochzeitsfest<br />

von Iphis und Ianthe teilgenommen. – Cicones: thrak. Volk)<br />

adfuit ille quidem, sed nec sollemnia verba<br />

nec laetos vultus nec felix attulit omen.<br />

fax quoque, quam tenuit, lacrimoso stridula fumo<br />

usque fuit nullosque invenit motibus ignes.<br />

exitus auspicio gravior: nam nupta per herbas<br />

dum nova Naïadum turba comitata vagatur,<br />

(Naïades: Fluss-, Quell- und Seenymphen)<br />

occidit in talum serpentis dente recepto.<br />

quam satis ad superas postquam Rhodopeius auras<br />

deflevit vates, ne non temptaret et umbras,<br />

(Rhodope: thrakisches Gebirge [Thrakien = Heimat des O.)<br />

ad Styga Taenaria est ausus descendere porta<br />

(Tainaron, südliches Vorgebirge Lakoniens, Eingang zur Unterwelt)<br />

perque leves populos simulacraque functa sepulcro<br />

Persephonen adiit inamoenaque regna tenentem<br />

(Persephone, Tochter des Iuppiter und der Ceres, von Pluto geraubt)<br />

umbrarum dominum pulsisque ad carmina nervis<br />

sic ait: 'o positi sub terra numina mundi,<br />

in quem reccidimus, quicquid mortale creamur,<br />

si licet et falsi positis ambagibus oris<br />

vera loqui sinitis, non huc, ut opaca viderem<br />

Tartara, descendi, nec uti villosa colubris<br />

(Tartaros: Totenreich)<br />

terna Medusaei vincirem guttura monstri:<br />

(Cerberus, der dreiköpfige Höllenhund, Urenkel der Medusa)<br />

causa viae est coniunx, in quam calcata venenum<br />

vipera diffudit crescentesque abstulit annos.<br />

posse pati volui nec me temptasse negabo:<br />

Noch fehlte ein Lebewesen, heiliger als diese,<br />

fähiger, den hohen Geist aufzunehmen, und imstande,<br />

die übrigen zu beherrschen. Es entstand der<br />

Mensch, sei es, dass ihn aus göttlichem Samen jener<br />

Weltschöpfer schuf, der Ursprung der besseren<br />

Welt, sei es, dass die junge Erde, erst kürzlich vom<br />

hohen Äther getrennt, (80) noch Samen des verwandten<br />

Himmels zurückbehiehlt; diese mischte<br />

der Sproß des Iapetus mit Regenwasser und formte<br />

sie zum Ebenbild der alles lenkenden Götter. Und<br />

während die übrigen Lebewesen nach vorn geneigt<br />

zur Erde blicken, gab er dem Menschen ein nach<br />

oben schauendes Antlitz, gebot ihm, den Himmel<br />

zu sehen (85) und das Gesicht aufrecht zu den<br />

Sternen zu erheben. So nahm die Erde, die eben<br />

noch roh und gestaltlos gewesen war, verwandelt<br />

die bisher unbekannten menschlichen Formen an.<br />

(Übersetzung M. v. Albrecht)<br />

Von dort schreitet Hymenaeus in seinem Krokusgelben<br />

Gewand druch den unermesslichen Äther; er<br />

eilt zu den Gestaden der Ciconen; dorthin ruft ihn<br />

Orpheus' Stimme, doch vergebens. Anwesend war<br />

er zwar, (5) doch brachte er nicht die gewohnten<br />

Segensworte, keine fröhlichen Gesichter, kein<br />

glückliches Omen; auch die Fackel in seiner Hand<br />

zischte immerfort; nur tränenerregender Rauch,<br />

keine Flamme entstieg ihr, mochte man sie noch so<br />

sehr schwingen. Der Ausgang war schlimmer als<br />

das Vorzeichen; denn während die Neuvermählte,<br />

von der Schar der Naiaden begleitet, durch die<br />

Wiesen streifte, (10) starb sie, weil eine Schlange sie<br />

in die Ferse gebissen hatte. Nachdem sie der Seher<br />

vom Rhodopegebirge an den Lüften des Himmels<br />

zur Genüge beweint hatte, wollte er es auch noch<br />

mit dem Schattenreich versuchen. So wagte er durch<br />

die taenarische Pforte zur Styx hinabzusteigen.<br />

Mitten durch die schwerelosen Völker und die<br />

Schattenbilder der Bestatteten (15) kam er bittend zu<br />

Persephone und zu dem König im unwirtlichen<br />

Reich, dem Herrn der Schatten. Dann schlug er zum<br />

Liede die Saiten und sang: »O ihr Gottheiten der<br />

unterirdischen Welt, in die wir zurückfallen, wir,<br />

alles Sterbliche, was entsteht! Ist es erlaubt und<br />

gestattet ihr mir, ohne Trug und Umschweife (20)<br />

die Wahrheit zu sagen, so wisst: Ich bin nicht hier<br />

herabgestiegen, um den finsteren Tartarus zu sehen,<br />

nicht, um die drei Hälse des medusischen Höllenhundes<br />

zu fesseln, an denen Schlangen als Zotteln<br />

hängen. Der Grund meiner Fahrt ist meine Gattin;


Survol de la littérature antique XXXIII Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

30<br />

35<br />

40<br />

45<br />

50<br />

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60<br />

65<br />

vicit Amor. supera deus hic bene notus in ora est;<br />

an sit et hic, dubito: sed et hic tamen auguror esse,<br />

famaque si veteris non est mentita rapinae,<br />

vos quoque iunxit Amor. per ego haec loca plena timoris,<br />

per Chaos hoc ingens vastique silentia regni,<br />

Eurydices, oro, properata retexite fata.<br />

omnia debemur vobis, paulumque morati<br />

serius aut citius sedem properamus ad unam.<br />

tendimus huc omnes, haec est domus ultima, vosque<br />

humani generis longissima regna tenetis.<br />

haec quoque, cum iustos matura peregerit annos,<br />

iuris erit vestri: pro munere poscimus usum;<br />

quodsi fata negant veniam pro coniuge, certum est<br />

nolle redire mihi: leto gaudete duorum.<br />

Talia dicentem nervosque ad verba moventem<br />

exsangues flebant animae; nec Tantalus undam<br />

(Tantalus: Büssergestalt der Unterwelt)<br />

captavit refugam, stupuitque Ixionis orbis,<br />

(Ixion: König der Lapithen; in der Unterwelt an ein Rad geschmiedet,<br />

weil er sich der Iuno bemäChtigen wollte)<br />

nec carpsere iecur volucres, urnisque vacarunt<br />

Belides, inque tuo sedisti, Sisyphe, saxo.<br />

(Belides: Enkelinnen des Königs Belus von Ägypten, nach ihrem<br />

Vater Danaos auch Danaiden genannt. Sie töteten ihre Männer in<br />

der Hochzeitsnacht und mussten ewig Wasser in ein leckes Fass<br />

schöpfen. – Sisyphus: Sohn des Aeolus, des Königs der Winde; König<br />

von Korinth, verschlagen und gewalttätig, von Theseus getötet und<br />

in der Unterwelt verdammt, einen Felsblock bergauf zu rollen, der<br />

stets kurz vor dem Gipfel zurückrollt.)<br />

tunc primum lacrimis victarum carmine fama est<br />

Eumenidum maduisse genas, nec regia coniunx<br />

(Eumenides: Erinnyen, die Bluträcherinnen)<br />

sustinet oranti nec, qui regit ima, negare,<br />

Eurydicenque vocant: umbras erat illa recentes<br />

inter et incessit passu de vulnere tardo.<br />

hanc simul et legem Rhodopeius accipit heros,<br />

ne flectat retro sua lumina, donec Avernas<br />

exierit valles; aut inrita dona futura.<br />

(der Averner See in Campanien, ein Eingang zur Unterwelt)<br />

Carpitur adclivis per muta silentia trames,<br />

arduus, obscurus, caligine densus opaca,<br />

nec procul afuerunt telluris margine summae:<br />

hic, ne deficeret, metuens avidusque videndi<br />

flexit amans oculos, et protinus illa relapsa est,<br />

bracchiaque intendens prendique et prendere certans<br />

nil nisi cedentes infelix arripit auras.<br />

iamque iterum moriens non est de coniuge quicquam<br />

questa suo (quid enim nisi se quereretur amatam?)<br />

supremumque 'vale,' quod iam vix auribus ille<br />

acciperet, dixit revolutaque rursus eodem est.<br />

Non aliter stupuit gemina nece coniugis Orpheus,<br />

quam tria qui timidus, medio portante catenas,<br />

colla canis vidit, quem non pavor ante reliquit,<br />

quam natura prior saxo per corpus oborto,<br />

(unbekannte Sage)<br />

eine Viper, auf die sie trat, hat Gift in ihr Blut<br />

gespritzt und ihr die jungen Jahre geraubt. (25) Ich<br />

wollte es ertragen und bekenne: Ich hab's versucht;<br />

doch Amor hat gesiegt. In der Oberen Welt ist dieser<br />

Gott wohlbekannt; ob er es auch hier ist, weiss<br />

ich nicht. Doch ich vermute, dass er es auch hier ist;<br />

denn, sofern die alte Sage von dem Raub nicht<br />

erlogen ist, hat auch euch Amor vereint. Bei diesen<br />

Gefilden voller Angst, (30) bei diesem riesigen<br />

Chaos und dem Schweigen des öden Reiches bitte<br />

ich euch: Macht Eurydikes übereilten Tod rückgängig!<br />

Alles ist euch verfallen, und nach kurzem<br />

Aufenthalt eilen wir früher oder später zu ein und<br />

demselben Wohnsitz. Wir alle streben hierher; dies<br />

ist unser letztes Heim, (35) und ihr herrscht am<br />

längsten über das Menschengeschlecht. Auch Eurydike<br />

wird euch gehören, wenn sie die Jahre, die ihr<br />

zustehen, vollendet hat und reif ist. Ich bitte euch<br />

nicht, sie mir zu schenken, nur zu leihen. Verweigert<br />

aber das Geschick meiner Gattin die Gnade,<br />

bin ich fest entschlossen, nicht zurückzukehren:<br />

Freut euch dann über den Tod zweier Menschen!«<br />

(40) Während er so sang und zu seinen Worten die<br />

Saiten schlug, weinten die blutlosen Seelen, Tantalus<br />

griff nicht nach der fliehenden Welle, staunend<br />

stand Ixions Rad still, die Vögel zerfleischten nicht<br />

die Leber des Tityos, die Beliden liessen ihre Krüge<br />

stehen, und du, Sisyphus, sassest auf deinem Stein.<br />

(45) Damals sollen zum ersten Mal die Wangen der<br />

Eumeniden von Tränen feucht geworden sein, weil<br />

der Gesang sie überwältigte. Weder die Königin<br />

noch der Herrscher der Untertwelt bringen es über<br />

sich, die Bitte abzuschlagen, und sie lassen Eurydike<br />

rufen. Sie befand sich unter den neuangekommenen<br />

Schatten, kam heran, und die Wunde<br />

erlaubte ihr nur langsam zu schreiten. (50) Orpheus<br />

vom Rhodopegebirge erhält sie unter der Bedingung,<br />

nicht zurückzublicken, bevor er die Täler des<br />

Avernus verlassen habe – sonst werde das Geschenk<br />

zunichte.<br />

Der Pfad führte sie durch die Totenstille bergan;<br />

steil ist er, dunkel und in dichten Nebel gehüllt. (55)<br />

Schon waren sie nicht weit vom Rand der Erdoberfläche<br />

entfernt _– besorgt, sie könne ermatten,<br />

und begierig, sie zu sehen, wandte Orpheus voll<br />

Liebe den Blick, und alsbald glitt sie zurück. Sie<br />

streckt die Arme aus, will sich ergreifen lassen, will<br />

ergreifen und erhascht doch nichts, die Unselige, als<br />

flüchtige Lüfte. (60) Schon starb sie zum zweiten<br />

Mal, doch mit keinem Wort klagte sie über ihren<br />

Gatten – denn worüber hätte sie klagen sollen als<br />

darüber, dass sie geliebt wurde? –, sprach ein letztes


Survol de la littérature antique XXXIV Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

70<br />

75<br />

quique in se crimen traxit voluitque videri<br />

Olenos esse nocens, tuque, o confisa figurae,<br />

infelix Lethaea, tuae, iunctissima quondam<br />

pectora, nunc lapides, quos umida sustinet Ide.<br />

(Olenos/Lethaea: ein Phrygier, Gemahl der Lethaea; mit dieser in<br />

einen Stein im Idagebirge verwandelt)<br />

Orantem frustraque iterum transire volentem<br />

portitor arcuerat: septem tamen ille diebus<br />

squalidus in ripa Cereris sine munere sedit;<br />

(Ceres: Demeter, Göttin des Ackerbaus. Ihre Gaben sind Getreide, Brot<br />

und andere Speisen)<br />

cura dolorque animi lacrimaeque alimenta fuere.<br />

esse deos Erebi crudeles questus, in altam<br />

se recipit Rhodopen pulsumque aquilonibus Haemum.<br />

(Erebus: die Unterwelt – Haemus: das Balkangebirge)<br />

Orpheus, Eurydike und Hermes, der Psycho-<br />

pompos (›Seelengeleiter‹)<br />

Lebewohl, das er kaum noch hören konnte, und<br />

sank wieder an denselben Ort zurück. Über den<br />

zweifachen Tod seiner Gattin war Orpheus so entsetzt<br />

(65) wie der Mann, der voll Grauen die drei<br />

Hälse des Höllenhundes – den mittleren in Ketten –<br />

erblickte und den die Angst nicht eher verliess als<br />

seine bisherige Natur, da sein Leib zu Stein wurde,<br />

oder wie Olenus, der den Vorwurf auf sich selbst<br />

lenkte und als der Schuldige gelten wollte, und du,<br />

(70) unglückliche Lethaea – allzu viel hast du dir auf<br />

deine Schönheit eingebildet –; einst wart ihr zwei<br />

engverbundene Herzen, jetzt seid ihr Steine auf dem<br />

quellenreichen Ida.<br />

Den Bittenden, der vergeblich noch einmal ans andere<br />

Ufer wollte, hatte der Fährmann abgewiesen;<br />

dennoch sass Orpheus von Trauer entstellt sieben<br />

Tage lang am Ufer, ohne Ceres' Gaben zu geniessen.<br />

(75) Sorge, Seelenschmerz und Tränen waren<br />

seine Speise. Er klagt über die Grausamkeit der<br />

Götter des Erebus und zieht sich auf die hohe Rhodope<br />

und den sturmgepeitschten Haemus zurück.<br />

(Übersetzung M. v. Albrecht)


Survol de la littérature antique XXXV Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

<strong>11.</strong>2.4. Ovid, Metamorphosen 10,243–97<br />

245<br />

250<br />

255<br />

260<br />

265<br />

270<br />

275<br />

280<br />

'Quas quia Pygmalion aevum per crimen agentis<br />

(quas = Propoetides: Mädchen auf Zypern, die Venus<br />

verachten; Pygmalion. zyprischer Bildhauer)<br />

viderat, offensus vitiis, quae plurima menti<br />

femineae natura dedit, sine coniuge caelebs<br />

vivebat thalamique diu consorte carebat.<br />

interea niveum mira feliciter arte<br />

sculpsit ebur formamque dedit, qua femina nasci<br />

nulla potest, operisque sui concepit amorem.<br />

virginis est verae facies, quam vivere credas,<br />

et, si non obstet reverentia, velle moveri:<br />

ars adeo latet arte sua. miratur et haurit<br />

pectore Pygmalion simulati corporis ignes.<br />

saepe manus operi temptantes admovet, an sit<br />

corpus an illud ebur, nec adhuc ebur esse fatetur.<br />

oscula dat reddique putat loquiturque tenetque<br />

et credit tactis digitos insidere membris<br />

et metuit, pressos veniat ne livor in artus,<br />

et modo blanditias adhibet, modo grata puellis<br />

munera fert illi conchas teretesque lapillos<br />

et parvas volucres et flores mille colorum<br />

liliaque pictasque pilas et ab arbore lapsas<br />

Heliadum lacrimas; ornat quoque vestibus artus,<br />

(Heliadum lacrimas: Töchter des Sonnengottes; sie weinten<br />

um ihren Bruder Phaethon, bis sie in Pappeln verwandelt<br />

wurden; ihre Tränen wurden zu Bernstein)<br />

dat digitis gemmas, dat longa monilia collo,<br />

aure leves bacae, redimicula pectore pendent:<br />

cuncta decent; nec nuda minus formosa videtur.<br />

conlocat hanc stratis concha Sidonide tinctis<br />

adpellatque tori sociam adclinataque colla<br />

mollibus in plumis, tamquam sensura, reponit.<br />

Miniatur, 15. Jh.<br />

Pygmalion<br />

'Festa dies Veneris tota celeberrima Cypro<br />

venerat, et pandis inductae cornibus aurum<br />

conciderant ictae nivea cervice iuvencae,<br />

turaque fumabant, cum munere functus ad aras<br />

constitit et timide "si, di, dare cuncta potestis,<br />

sit coniunx, opto," non ausus "eburnea virgo"<br />

dicere, Pygmalion "similis mea" dixit "eburnae."<br />

sensit, ut ipsa suis aderat Venus aurea festis,<br />

vota quid illa velint et, amici numinis omen,<br />

flamma ter accensa est apicemque per aera duxit.<br />

ut rediit, simulacra suae petit ille puellae<br />

incumbensque toro dedit oscula: visa tepere est;<br />

Weil Pygmalion sah, wie diese Frauen (= Propoetiden)<br />

ihr Leben verbrecherisch zubrachten, blieb er<br />

einsam und ehelos, abgestossen von den Fehlern,<br />

(245) mit denen die Natur das Frauenherz so freigebig<br />

beschenkt hat, und schon lange teilte kein<br />

Weib mehr sein Lager. Inzwischen bearbeitete er<br />

mit glücklicher Hand und wundersamer Geschicklichkeit<br />

schneeweisses Elfenbein, gab ihm eine<br />

Gestalt, wie keine Frau auf Erden sie haben kann,<br />

und verliebte sich in sein eigenes Geschöpf. (250) Es<br />

sieht aus wie ein wirkliches Mädchen! Du möchtest<br />

glauben, sie lebe, wolle sich bewegen – nur die Sittsamkeit<br />

halte sie zurück. So vollkommen verbirgt<br />

sich im Kunstwerk die Kunst! Pygmalion steht<br />

bewundernd davor, und gierig trinkt seine Brust das<br />

Feuer in sich hinein, das von dem Scheinbild ausgeht.<br />

Oft legt er prüfend die Hände an das Geschöpf,<br />

ob es (255) Fleisch und Blut sei oder Elfenbein,<br />

und will immer noch nicht wahrhaben, dass es<br />

nur Elfenbein ist. Küsse gibt er und glaubt sie<br />

erwidert; er redet mit dem Bild, er hält es im Arm.<br />

Rührt er es an, so ist ihm, als drückten sich seine<br />

Finger in den Körper ein; ja, er fürchtet, an den<br />

Gliedern, die er presst, möchten blaue Male entstehen.<br />

Bald schmeichelt er, bald bringt er (260) Gaben,<br />

wie sie ein Mädchenherz erfreuen: Muscheln, geschliffene<br />

Steinchen, kleine Vögel, Blumen in tausenderlei<br />

Farben, Lilien, bunte Bälle und Bernstein,<br />

vom Baum getropfte Tränen der Sonnentöchter. er<br />

schmückt ihr die Glieder mit Gewändern, die Finger<br />

mit Edelsteinen, den Hals mit langen Ketten. (265)<br />

Am Ohr hängt eine zierliche Perle, an der Brust ein<br />

Geschmeide. Alles steht ihr, aber auch nackt erscheint<br />

sie nicht weniger schön. Er legt sie auf<br />

Decken, die mit sidonischem Purpur gefärbt sind,<br />

nennt sie seine Gemahlin, die sein Lager teilt, und<br />

bettet den geneigten Nacken, als müsse es dieser<br />

spüren, auf weichen Flaum.<br />

(270) Der Feiertag der Venus, den ganz Cypern<br />

festlich begeht, war gekommen. Schon waren die<br />

Opferkühe, deren krumme Hörner Gold überzog, in<br />

den schneeweissen Nacken getroffen, niedergestürzt,<br />

und Weihrauch stieg empor: Da trat Pygmalion,<br />

nachdem er der heiligen Pflicht genügt hatte,<br />

zum Altar und sprach zaghaft: »Ihr Götter, könnt<br />

ihr alles gewähren, (275) so soll meine Gattin« – er<br />

wagte nicht zu sagen: »das elfenbeinerne Mädchen<br />

sein«; darum sprach er nur: »dem Mädchen aus<br />

Elfenbein gleichen!« Venus, die Goldene, erriet –<br />

war sie doch selbst bei ihrem Fest zugegen –, was


Survol de la littérature antique XXXVI Die antike Literatur von den Anfängen bis zur Spätantike<br />

Cours SE 2007 Vorlesung SoSe 2007<br />

285<br />

290<br />

295<br />

admovet os iterum, manibus quoque pectora temptat:<br />

temptatum mollescit ebur positoque rigore<br />

subsidit digitis ceditque, ut Hymettia sole<br />

(Hymettos: Berg in Attika; durch Bienenzurcht berühmt)<br />

cera remollescit tractataque pollice multas<br />

flectitur in facies ipsoque fit utilis usu.<br />

dum stupet et dubie gaudet fallique veretur,<br />

rursus amans rursusque manu sua vota retractat.<br />

corpus erat! saliunt temptatae pollice venae.<br />

tum vero Paphius plenissima concipit heros<br />

verba, quibus Veneri grates agat, oraque tandem<br />

ore suo non falsa premit, dataque oscula virgo<br />

sensit et erubuit timidumque ad lumina lumen<br />

attollens pariter cum caelo vidit amantem.<br />

coniugio, quod fecit, adest dea, iamque coactis<br />

cornibus in plenum noviens lunaribus orbem<br />

illa Paphon genuit, de qua tenet insula nomen.<br />

Falconet (18 . Jh.), Pygmalion und Galateia<br />

mit diesem Wunsch gemeint war. Und zum Zeichen,<br />

dass die Gottheit ihm hold sei, stieg dreimal<br />

die Flamme züngelnd in die Luft empor. (280) Als er<br />

nach Hause kam, zog es ihn zu seinem Mädchenbild.<br />

Er warf sich auf das Lager und küsste sie. Da<br />

war ihm, als sei sie warm. Wieder legt er Mund an<br />

Mund und tastet mit der Hand nach der Brust. Er<br />

tastet noch, da wird das Elfenbein weich, verliert<br />

seine Starreit, weicht zurück und gibt den Fingern<br />

nach, so wie Wachs vom Hymettus (285) an der<br />

Sonne geschmeidig wird, sich unter dem Druck des<br />

Daumens zu tausenderlei Gestalten formen lässt<br />

und in der Hand des Bildners immer bildsamer<br />

wird. Pygmalion staunt. Er traut seiner Freude noch<br />

nicht und fürchtet, er täusche sich. Wieder und wieder<br />

prüft der Liebende mit der Hand sein Wunschbild.<br />

Fleisch und Blut ist's; mit dem Daumen prüfte<br />

er, wie es in den Adern pocht. (290) Da dankt der<br />

Held von Paphos der Venus mit Worten, die aus<br />

vollstem Herzen strömen, und presst den Mund<br />

endlich auf wirkliche Lippen.<br />

<strong>Das</strong> Mädchen hat den Kuss empfunden, sie ist<br />

errötet! Jetzt hebt sie scheu zu seinem Auge ihr<br />

Auge empor – und zugleich mit dem Himmel erblickt<br />

sie den Mann, der sie liebt. (295) Der Ehe, die<br />

sie gestiftet, steht die Göttin bei. Schon haben sich<br />

die Hörner des Mondes neunmal zur vollen Scheibe<br />

gerundet, da gebiert sie Paphos, nach der die Insel<br />

benannt ist.<br />

(Übersetzung M. v. Albrecht)

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