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Inhalt60 JahreSoziale MarktwirtschaftAndreas M. Rauch Die Vorbereitung der Währungsreform von 1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Udo Wengst <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>s Durchbruch zur Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Jenaer Aufruf zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft . . . . . . . . . 16Ordnungspolitische Positionen Regulierung des Bankensektors:Freiwilliger Verhaltenskodex versus staatliche RegulierungManfred Weber Selbstverpflichtung hat Vorrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23Thomas Hartmann-Wendels Die Notwendigkeit staatlicher Bankenaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28Probleme derWirtschaftsordnungWolfgang SchulhoffUwe Jens Markt- oder Politikversagen im internationalen Finanzsystem? . . . . . . . . 33Managerhaftung – Ein vernachlässigtesGrundprinzip der Sozialen Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38Christian Scholz Generation Praktikum – Wie ist Missbrauch zu verhindern? . . . . . . . . . . 42InternationaleWirtschaftspolitikK. Michael Finger 60 Jahre multilaterale Handelskooperation: Eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . 46Franz Nuscheler Die Ernährungskrise verlangt eine differenzierte Analyse . . . . . . . . . . . . 53LänderberichteFederico Foders Argentiniens Regierung setzt den erreichten Wohlstand aufs Spiel . . . . 60Hermine Vidović Slowenien – Eine Erfolgsgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64Piotr Pysz Die aktuelle ordnungspolitische Diskussion in Polen . . . . . . . . . . . . . . . 69<strong>Ludwig</strong>-<strong>Erhard</strong>-Preisfür WirtschaftspublizistikPreisträger 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72BuchbesprechungAndreas SchirmerSind wir nicht alle ein bisschen Freiburg?Zu einem Buch von Nils Goldschmidt und Michael Wohlgemuth . . . . . 37


EditorialVon der Freiheit – Für die FreiheitDie Währungs- und Wirtschaftsreform vom 20. Juni 1948 bedeutet mehr alsneues Geld und volle Schaufenster.„Die Freiheit! Die Freiheit vor allem!“ Das Zitat ist in seiner Lakonie so nichtüberliefert. Aber man könnte, wenn eine Wette noch möglich wäre, mit großerSicherheit darauf setzen: „Freiheit!“, das wäre <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>s Antwort, wennman ihn heute, nach sechzig Jahren fragte, was die Botschaft der WährungsundWirtschaftsreform vom 20. Juni 1948 gewesen ist. Neues Geld in Kooperationmit den amerikanischen Besatzern. Preisfreigabe und Aufhebung derBewirtschaftung als Draufgabe von <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>. Daraus entsteht kein „Wirtschaftswunder“,das unerklärbar vom Himmel fällt. Aber so erklärt sich die vonirdischer Energie getriebene, produktive Explosion einer Marktwirtschaft in einemzerstörten Land. Die Alliierten hatten an der Kraft dieser Initialzündunggezweifelt. Und sie hatten von so viel Mut zur Freiheit abgeraten. Aber <strong>Ludwig</strong><strong>Erhard</strong> hatte daran geglaubt, ohne auf die Erfahrung mit einem konkretenVorbild zurückgreifen zu können. Er hatte es geglaubt im Glauben an dieFreiheit.Der unerschütterliche Glaube <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>s an die Möglichkeit des Menschen,in freier Willensbildung zu handeln, ist der Schlüssel zum Verständnisdessen, was seine „Soziale Marktwirtschaft“ in ihrem philosophischen Kern ist,was sie dem Bürger wirtschaftlich verspricht und was sie von ihm sozial fordert.Die bis heute wissenschaftlich nicht beantwortete Frage, ob das Bewusstsein desMenschen, über die Möglichkeit der Inanspruchnahme und der Ausübungvon Freiheit zu verfügen, vielleicht doch nur eine Illusion sei, ist von <strong>Ludwig</strong><strong>Erhard</strong>, wie von allen Liberalen, mit einer persönlichen Entscheidung beantwortetworden: Ja, der Mensch ist zur Freiheit befähigt.Wie nichts anderes begründet und prägt die Befähigung des Menschen zurFreiheit die Soziale Marktwirtschaft. Erst aus der Freiheit, so oder anders zuhandeln, erwächst die Möglichkeit des Wettbewerbs als Voraussetzung für dasEntstehen eines Marktes. Ohne die Freiheit des Wägens, Annehmens oder Verwerfenseiner Vermutung oder einer Strategie ließen sich kalkulierendes Wettbewerbsverhaltenund daher auch die Existenz sowie die Funktionsweise desMarktes nicht erklären. Bienenvölker wirken zielstrebig, aber sie bilden keineWettbewerbs- und Marktgesellschaft.Ohne die Möglichkeit der Freiheit des Wägens von Geben und Nehmen entstehtaber auch keine Solidarität aus dem Geiste einer ethisch begründeten Verantwortung.Die Leopardin, die ihrem Wurf ein gerissenes Gnukalb bringt,kümmert sich nicht darum, dass auch die physisch Schwächsten ihren Teil bekommen.Die daraus folgende Selektion wirkt im Einzelnen eindrucksvoll, hatdie Leoparden aber nicht zur beherrschenden Gattung gemacht. Es sind dieMenschen, die sich im Verlauf der Evolution durch ihre dem Freiheitsbewusstseingeschuldete Befähigung zum innovationsfördernden Wettbewerb und zurgemeinschaftsfördernden Solidarität die Erde untertan gemacht haben.Ohne Freiheit kein Markt, ohne Freiheit keine Solidarität, ohne Freiheit keineSoziale Marktwirtschaft. Man kann der Sozialen Marktwirtschaft <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>sdas eine oder andere Detail ihrer je zeitbedingten gesetzlichen Zurichtungnehmen, ohne sie im Kern zu ändern oder zu gefährden. Wer ihr aber auchnur gedanklich die Freiheit entzieht, der nimmt ihr nicht nur die faktische,Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)1


60 Jahre Soziale Marktwirtschaftsondern bereits die methodologische Grundlage dessen, für was sie steht: Wettbewerbum die besseren Lösungen, Verantwortung und Eigenverantwortung,Leistungsstreben und Solidarität. Dass daraus die realistische Möglichkeit einesWohlstands für alle folgt, ist nicht schwer einzusehen.<strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> hat daran geglaubt. Und weil er wusste, wo die Bewegungskräfteseiner Sozialen Marktwirtschaft lagen, wusste er, dass es keines Wunders bedurfte,um die Leistungen der Sozialen Marktwirtschaft zu erklären. Er waraber auch fest davon überzeugt, dass der Wohlstand für alle ein hohles, mindestensaber doch ein fragiles Versprechen bleiben würde, wenn es nicht gelänge,Freiheitsliebe und Bereitschaft zum Wettbewerb, Eigenverantwortungund Solidarität als weithin akzeptierte Werte der Gesellschaft zu wecken, zuerhalten und zu nutzen.Viele seiner dramatisch klingenden und gelegentlich auch belächelten Warnungenund Appelle erklären sich aus der Sorge, die aufblühende Wohlstandsgesellschaftvergesse die Basis ihrer Erfolge. Und er wird nicht müde, diemotorische Kraft der Freiheit zu schildern. So heißt es in der von Karl Hohmannherausgegebenen Schrift „Gedanken aus fünf Jahrzehnten“: „Wo immerwir hinblicken, wird es sinnfällig, dass die Freiheit ein unendlich viel besseresund wirksameres Element der Ordnung verkörpert als es der Zwang mit seinenOrganisationskünsten je sein kann.“ Und in „Wohlstand für alle“ kann mannachlesen, was Freiheit im Verständnis von <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> eben nicht meint:„Die Soziale Marktwirtschaft beinhaltet eben nicht die Freiheit des Unternehmers,durch Kartellabmachungen die Konkurrenz auszuschalten; sie beinhaltetvielmehr die Verpflichtung, sich durch eigene Leistung im Wettbewerb mitden Konkurrenten die Gunst des Verbrauchers zu verdienen.“Man weiß, dass <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> in der Auseinandersetzung mit den politischenKräften der Vor- und Frühzeit der Bundesrepublik in unterschiedlichem Maßereüssiert hat. Die Amerikaner hat er wohl schlicht überrumpelt. Mit der neuenWährung – der D-Mark – wollten die Amerikaner den Inflationsdruck aus derMangelwirtschaft nehmen, an die Einführung von Marktpreisen hatten sienicht gedacht. Sie fürchteten, der politische Schock der Offenlegung vonKnappheitspreisen sei den Deutschen nicht zumutbar. Für <strong>Erhard</strong> aber war esunvorstellbar, auf die Indikatorfunktion von Knappheitspreisen zu verzichten.Ganz ohne amerikanische Helfer hat er die Preisfreigabe nicht durchsetzenkönnen. Aber er hat sie mit schlagkräftigen Argumenten und – wie Zeitzeugenberichten – mit der List des Sichtaubstellens gegenüber ablehnenden Votender Amerikaner befördert.Die Zustimmung Konrad Adenauers zur Zerschlagung der Kartelle – vor allemdes mächtigen Ruhrkartells – hat <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> sich gegen eine verbreiteteStimmung in der CDU ertrotzt. So konnte er dem Wettbewerb einen wirkmächtigenAnstoß geben. In der Sozialpolitik – damals schon eine halbsozialistischeDomäne der eigentlich doch bürgerlichen CDU des Rheinlandes undWestfalens – hat <strong>Erhard</strong> sich nicht durchsetzen dürfen. Seine Warnungen, niedie Bedeutung der Eigenverantwortung zu verkennen, wenn es darum geht,Solidarität im Kollektiv bereitzustellen, wurden nur kurz als lästig empfunden.Dann hörte man auf, hinzuhören. Die Sozialpolitik durfte nicht sein politischesSpielfeld sein.Das war eine – bis heute nachwirkende – zunächst für die westliche Bundesrepublik,dann für ganz Deutschland teure Fehlentscheidung. Mit seherischerBegabung hat <strong>Erhard</strong> – ausweislich einer ganzen Reihe von Zitaten in „Wohlstandfür alle“ – händeringend vor dem von ihm wörtlich sogenannten Sozi-2 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Editorialalmodell „Die Hand in der Tasche des Nachbarn“ gewarnt. Es heißt in diesemKontext: „Soziale Sicherung ist nicht gleichbedeutend mit der Übertragungder individuellen menschlichen Verantwortung auf irgendein Kollektiv… AmAnfang muss die eigene Verantwortung stehen. Wo sollen wir hinkommen…,wenn wir uns immer mehr in eine Form des Zusammenlebens von Menschenbegeben, in der niemand mehr die Verantwortung für sich selbst zu übernehmenbereit ist und jedermann Sicherheit im Kollektiv gewinnen möchte? DieBlindheit und die intellektuelle Fahrlässigkeit, mit der wir dem VersorgungsundWohlfahrtsstaat zusteuern, kann nur zu unserem Unheil ausschlagen.“In diesem Jahr feiern wir den sechzigsten Jahrestag des <strong>Erhard</strong>schen Urknallsder Marktwirtschaft im Nachkriegsdeutschland. „Ja, ja“, wird mancher meinen,„das war eine Leistung. Aber ist <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> nicht doch – irgendwie – vongestern?“ Wer so denkt, dem sei der Erinnerungsband „Gedanken aus fünfJahrzehnten“ empfohlen. Es heißt da mit verblüffender Aktualität: „Wer dashierzulande auf vier Jahre geltende Parlamentsmandat nicht als den Auftragversteht, nach bester eigener Ansicht zu handeln, wer es nur als den Platz zwischenzwei Wahlen begreift, der wird sich tunlichst auf Aktivitäten beschränken,die tatsächliche oder scheinbare Popularität versprechen… Wir wollenkeine Politik des Augenzwinkerns… Freiheit und Sicherheit werden wir nurdann zurückerlangen, wenn auch der letzte Ruf nach materieller Hilfe desStaates einmal verhallt sein wird, denn solche Hilfe kann immer nur auf Kostenzusätzlicher Belastung des Staatsbürgers erfolgen… Es gibt keine Leistungendes Staates, die sich nicht auf Verzichte des Volkes gründen.“<strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> von gestern? Ja, von gestern – für heute und für morgen.Hans D. BarbierOrientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)3


60 Jahre Soziale MarktwirtschaftDie Vorbereitung der Währungsreform von 1948Dr. Andreas M. RauchEhemaliger Leiter des Archivs der <strong>Ludwig</strong>-<strong>Erhard</strong>-<strong>Stiftung</strong>, BonnDer 20. Juni 1948 gilt als der Tag, an dem durch die Währungs- und Wirtschaftsreform die Soziale Marktwirtschaft inDeutschland eingeführt wurde. In der „Sonderstelle Geld und Kredit“ waren zuvor unter Vorsitz von <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> die Modalitätenfür die Währungsumstellung vorbereitet worden.Die Alliierten packten das Thema einer Neuordnungdes Geldwesens in den deutschen Westzonenzunächst nicht an. Dadurch verschlimmerte sichdie Versorgungslage in Deutschland dramatisch.Eine der ersten Entscheidungen des neu geschaffenenWirtschaftsrates bezog sich daher auf dieEinrichtung eines Expertenstabes, der von autorisierterSeite konkrete Vorschläge ausarbeiten sollte.So beschlossen im Frühjahr 1947 die britischeund amerikanische Militärregierung, zur Vorbereitungeiner Währungsreform eine „SonderstelleGeld und Kredit“ einzurichten, um bei der Umsetzungdieser Frage deutsche Experten hinzuziehenzu können.Dieser Beschluss wurde am 23. Juli 1947 auf der2. Vollversammlung des Wirtschaftsrates des VereinigtenWirtschaftsgebietes formal gefasst; er kamzustande aufgrund eines Antrages des Finanzausschusses,den der Abgeordnete Franz Blücher einbrachte,um eben eine Anlaufstelle zur Erledigungvon Vorarbeiten auf dem Gebiet der Geld-, Währungs-und Finanzreform zu haben. In dem Beschlussheißt es wörtlich: „Es ist eine vordringlicheAufgabe der deutschen Wirtschaftsverwaltung, alleVorarbeiten für die Beseitigung des Geldüberflussesund die eigentliche Währungsreform, fürdie Finanzreform insgesamt und im Zusammenhangdamit den Besitz- und Lastenausgleich, fürdie öffentliche Haushaltsgebarung unter Berücksichtigungder vorgenannten Reformen (und) fürdie danach notwendige Planung der Kreditpolitikvoranzubringen.“ 11 Wörtliche Berichte über die Vollversammlung des Wirtschaftsrates,o. J., Band 1 und 2, Seite 7 (Bundesarchiv); vgl. Willi Schickling,Entscheidung in Frankfurt. <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>s Durchbruch zur Freiheit.30 Jahre Soziale Marktwirtschaft, herausgegeben von der <strong>Ludwig</strong>-<strong>Erhard</strong>-<strong>Stiftung</strong>,Stuttgart 1978; Fritz Ullrich Fack/Peter Hort, SozialeMarktwirtschaft. Stationen einer freiheitlichen Ordnung, Freiburg1990.Die Gründung der„Sonderstelle Geld und Kredit“Die „Sonderstelle Geld und Kredit“ war dem Direktorder Verwaltung für Finanzen angegliedert.Sie sollte selbständig arbeiten und nach Erfüllungihrer Aufgabe aufgelöst werden. Da im Jahr 1947die Stadt Frankfurt/Main noch stark durch dieFolgen des Zweiten Weltkrieges zerstört war, standnicht ausreichend Büroraum zur Verfügung. Deshalbwich die Verwaltung für Wirtschaft in denFrankfurter Vorort Höchst und die Verwaltung fürFinanzen nach Bad Homburg v. d. Höhe aus. Dadie Sonderstelle der Verwaltung für Finanzen zugeordnetwar, lag es auf der Hand, sie ebenfalls inBad Homburg v. d. Höhe anzusiedeln.Der nunmehr gesuchte Vorsitzende der gerade gegründetenSonderstelle musste zwei Voraussetzungenerfüllen: Er musste ein deutscher Nationalökonom sein,der nicht mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet und ihre Ideen unterstützt hatte. Er musste das volle Vertrauen der Alliierten,insbesondere der Amerikaner, besitzen und sichim Sinne der Alliierten politisch bewährt haben.Diese Voraussetzungen trafen auf <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>zu. <strong>Erhard</strong> brachte 1947 ein theoretisches Gerüstnach Bad Homburg, das denen der Amerikanerähnelte und objektiv die Chance in sich trug, daswirtschaftliche Chaos jener Jahre zu beenden. Sotrat <strong>Erhard</strong> ganz im Sinne der Amerikaner für einenharten Schnitt mit der Reichsmarkwährungein. Als ehemaliger, bayerischer Wirtschaftsministerwar er mit den wirtschaftlichen und politischenRahmenbedingungen in der britischen und amerikanischenZone gut vertraut.4 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Homburger PlanDer Erfolg von <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> als Vorsitzender der„Sonderstelle Geld und Kredit“ und in seiner da -rauf folgenden Politikerkarriere lag unter anderemdarin, dass er sich als Integrationsfigur glaubwürdigbehaupten konnte. Dies lag zum Teil in <strong>Erhard</strong>sliberalem, christlich orientierten Elternhausbegründet. Die weltoffene Toleranz und sparsameKleinbürgerlichkeit von <strong>Erhard</strong>s Eltern, die ihnnachhaltig prägten, stießen späterhin in der Öffentlichkeitauf Sympathie. <strong>Erhard</strong>s Aufrufe zu Toleranzund Sparsamkeit fanden ein positives Echo.Sein Name wurde in den 1950er Jahren zum Sy -nonym der baldigen Überwindung der Nachkriegsnot,des raschen Wiederaufbaus Westdeutschlandsund des Erstarkens der westdeutschenWirtschaft.Die Zusammensetzung der SonderstelleIm Oktober 1947 nahm die Sonderstelle ihre Arbeitauf. Zunächst mussten die notwendigen, administrativenVoraussetzungen geschaffen werden,um danach die einzelnen Aufgaben der Sonderstellekonkret abstecken zu können. Hierbei galtes, wirtschaftspolitische Überlegungen der Son -derstelle zu konkretisieren und in ein abschließendesPapier, den „Homburger Plan“ einzubringen.Die „Sonderstelle Geld und Kredit“ war nicht anWeisungen des Direktors für Finanzen gebundenund damit in ihrer Arbeit weitgehend unabhängig.Die Verwaltung für Finanzen berief die Mitgliederder Sonderstelle in eigener Verantwortung, wiesich aus einer Pressemitteilung des Finanzausschussesvom 30. September 1947 ergibt. Als ordentlicheMitglieder gehörten der Sonderstelle zuBeginn der Arbeit folgende Persönlichkeiten an:<strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> als Vorsitzender, Erwin Hielscher(Mitglied des Verwaltungsrates der LandeszentralbankBayern), Carl Bernard (Vorstandsmitglied derFrankfurter Hypothekenbank), Fritz Cahn-Garnier(Landesdirektor der Finanzen), Heinrich Hartlieb(ehm. Reichsbankdirektor), Günther Keiser (Verwaltungsamtfür Wirtschaft in Minden) und GünterWrede (Leiter der Senatsbehörde für Wirtschaftin Hamburg).<strong>Erhard</strong> lebte in Bad Homburg und auch noch inder ersten Zeit seiner Tätigkeit beim Wirtschaftsratin Frankfurt „aus dem Koffer“. Auf den Teilnehmerlistender Sitzungen der Sonderstelle inBad Homburg gab <strong>Erhard</strong> als Wohnsitz jeweils„München“ an. Im Frühjahr 1946 war seine Fraumit ihrer Tochter von Fürth nach München umgezogen.München blieb <strong>Erhard</strong>s Erstwohnsitzwährend seiner Arbeit in Bad Homburg undFrankfurt.Obwohl die „Sonderstelle Geld und Kredit“ selbstkein demokratisches Gremium war, sondern eineRunde aus Experten, spiegelte sie doch die politischenKonturen jener Zeit wider. Hans Möller, derhäufig in Vertretung von Günther Keiser an den Sitzungender Sonderstelle teilnahm, beschrieb späterdie Bad Homburger Einrichtung als interministeriellenAusschuss und als Sachverständigengremium,welches „kein fester Bestandteil derdeutschen Verwaltung“ 2 gewesen sei. Diese Aussagedarf aber nicht zu eng genommen werden, daaus den Protokollen über die ersten Sitzungen, andenen Möller noch nicht teilnahm, hervorgeht,dass deren Mitglieder sowohl dem Wirtschaftsratals auch der Verwaltung für Finanzen zugeordnetwaren. Der Wirtschaftsrat bestand aus 52 Mitgliedern,die proportional – einer für 750 000 Einwohner– von den acht Länderparlamenten beiderZonen gewählt worden waren.Während Hielscher sich im Kreise von Adolf Weberengagierte, waren Wrede und Keiser die treibendenKräfte des Währungsreformprogramms, des sogenannten„Minden-Reports“, der in der britischenBesatzungszone ausgearbeitet worden war. 3 DerMinden-Report trat für einen langsamen Übergangzu marktwirtschaftlichen Strukturen ein, wobeier bei großen Teilen der Güterversorgung anplanwirtschaftlichen Elementen festhielt. So sprachensich Wrede und Keiser – im Unterschied zu <strong>Erhard</strong>und Hielscher – dafür aus, den Umlauf des Geldeszunächst nur allmählich zu reduzieren.Wenngleich politische Überlegungen der drei großenParteien (CDU/CSU, SPD und FDP) Eingangin die Arbeit der Sonderstelle fanden, so blieb diesesGremium vorrangig ein Sachverständigenrat.Es kann keine Rede davon sein, dass <strong>Erhard</strong> undHielscher Positionen der CDU/CSU und der FDPvertraten, während Keiser und Wrede für die Sozialdemokratenkämpften. Allerdings war mit demVorsitzenden <strong>Erhard</strong> und seinem StellvertreterHielscher – beide klare Weber-Anhänger, die ihnauch zu Diskussionen in die Sonderstelle einluden– ein wirtschaftspolitischer Kurs eingeschlagen,2 Hans Möller, Zur Vorgeschichte der Deutschen Mark. Die Währungsreformpläne1945–1948, Basel/Tübingen 1961, Seite 5; vgl.<strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>, Deutsche Wirtschaftspolitik, Düsseldorf 1962, Seite580.3 Vgl. Volkhard Laitenberger, <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>. Der Nationalökonom alsPolitiker, Göttingen 1986, Seiten 54 ff.; Alfred Grosser, GeschichteDeutschlands seit 1945. Eine Bilanz, München 1984, Seiten 85 ff.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)5


60 Jahre Soziale Marktwirtschaftder sich unzweideutig zur sofortigen Einführungder Sozialen Marktwirtschaft bekannte.Zudem waren der Vorsitzende der Sonderstelleund sein Stellvertreter den einzelnen Mitgliedernder Sonderstelle nur begrenzt rechenschaftspflichtig.<strong>Erhard</strong> und Hielscher mussten sich vorrangigmit Edward A. Tenenbaum für die Amerikaner,L. Cook für die Engländer und H. Lefort für dieFranzosen auseinandersetzen. Hinzu kam, dass <strong>Erhard</strong>oder Hielscher bei allen Sitzungen anwesendwaren. Die Mehrheit der Mitglieder der Sonderstelleübte ihre Tätigkeit in Bad Homburg nebenamtlichaus. Da sie aus allen Regionen der Zonenkamen und teilweise große Entfernungen bei derdamals noch ungenügenden Infrastruktur infolgebestehender Kriegsschäden zu bewältigen hatten,konnten sie oftmals nur stundenweise in BadHomburg präsent sein. So haben <strong>Erhard</strong> und Hielscherdurch ihre permanente Anwesenheit sicherlichwesentliche Konturen des „Homburger Plans“schlichtweg ausgesessen.Die Anfangswochen der Sonderstelle galten derInformation und der Klärung einiger prinzipiellerFragen. Dazu wurde eine Reihe von Experten ausunterschiedlichen Wirtschaftsgebieten einge<strong>laden</strong>,mit denen im Wesentlichen folgende Fragekreisebesprochen wurden: die Frage nach der Beseitigung des Geldüberflussesund dem günstigsten Zeitpunkt für denWährungsschnitt, die Höhe der Abschöpfungsquote und die allgemeinenVoraussetzungen der Geldreform, die geplante Finanzreform und im Zusammenhangdamit der Besitz- und Lastenausgleich, das Problem der Schuldenregelung und diePlanung einer Kreditpolitik sowie die künftige Entwicklung der öffentlichenHaushaltsgebarung.Wer die amtlichen Niederschriften der Sonderstelleaufmerksam liest und mit den anderen stenographischenMitschriften vergleicht, der stellt fest,dass der Sekretär (ab der sechsten Sitzung HeinzSauermann) um das Unterstreichen einer Konsensbildungzwischen den Sonderstellenmitgliedernbemüht ist. Die fast gegensätzlich wirtschaftspolitischenHaltungen der Sonderstellenmitglieder undder harte Ton der kritischen Auseinandersetzungwerden hingegen in den unredigierten Stenoprotokollenspürbar.So wird beispielsweise auf der zweiten Sitzung derSonderstelle Sauermann von <strong>Erhard</strong> für die Aufgabeeines Generalsekretärs vorgeschlagen. Darauffolgt eine harte Diskussion, in der nicht nur diePerson Sauermanns, sondern auch die Funktionund das Amt eines Generalsekretärs der Sonderstelleinfrage gestellt wird. Das amtliche Protokollvermerkt kommentarlos lediglich den Personalvorschlagvon <strong>Erhard</strong>. Hier wie später zeigt sichübrigens, dass sich <strong>Erhard</strong> als Vorsitzender derSonderstelle gut durchzusetzen vermochte.Hintergrund war, dass <strong>Erhard</strong> nicht von den einzelnenMitgliedern der Sonderstelle gewählt, sondernvon der Militärregierung ernannt wurde,weshalb er gegenüber den einzelnen Mitgliedernder Sonderstelle in keinem Abhängigkeits-, allenfallsin einem Loyalitätsverhältnis stand.Streitpunkte und erste ErgebnisseDie Sitzungen und die Arbeit der Sonderstelle warenstreng vertraulich. Interne Auseinandersetzungenwaren oftmals Spiegelbild gesellschaftsundwirtschaftspolitischer Auseinandersetzungenjener Zeit. Dies zeigte sich besonders auf der fünftenSitzung vom 16. Oktober 1947, als die Rahmenbedingungenfür die Durchführung der Währungsreformdiskutiert und die politischen, technischen,organisatorischen sowie die güter- und finanzwirtschaftlichenVoraussetzungen erörtertwurden.Eine von allen Mitgliedern der Sonderstelle getrageneForderung war die Schaffung einer Zent -ralbank und einer Zentralfinanzverwaltung, ohnedie eine Währungsreform kaum durchführbarwürde. Die Idee einer Zentralbank kam Ende1947 auch von den Amerikanern. Viele Gedanken,die in der Sonderstelle zu Funktionen undAufgaben der künftigen Notenbank geäußert wurden,finden sich zehn Jahre später im Bundesbankgesetzwieder. Neben einer Zentralbank sah<strong>Erhard</strong> die Notwendigkeit der Kreditvergabe, sowohlvon Staats- wie von Privatkrediten. In diesemZusammenhang war zu klären, wie alte Reichsschuldenzu behandeln bzw. umzustellen waren.Erschwerend für die Arbeit der Sonderstelle wardie Zusammenarbeit mit den Alliierten. So warendie Militärregierungen nicht bereit, Informationenüber Vorarbeiten auf dem Währungsgebietzu geben. In der Rückschau lag dies wohl größten-6 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Homburger Planteils daran, dass es hier von alliierter Seite auchnicht viel zu berichten gab. Erst durch das ständigeInsistieren der Sonderstelle begannen die Militärregierungenüber die technischen Problemenachzudenken, die mit dem Herstellen von neuenNoten und Münzen verbunden waren. 4Immer wieder wurde die Frage diskutiert, ob eineWährungsreform im Rahmen einer trizonalen Lösungüberhaupt durchführbar und dieser Wirtschaftsrauman sich lebensfähig sei, wo doch allevier Zonen einen einheitlichen Wirtschaftskörperdarstellten. <strong>Erhard</strong> ist vehement für eine vierzonaleLösung eingetreten, 5 insbesondere weil die PotsdamerBeschlüsse bestanden. <strong>Erhard</strong> verwies da -rauf, dass es sich in der Frage eines zukünftigenWirtschaftsgebietes um eine politische Entscheidunghandle, die von der Sonderstelle selbst nichtzu tragen sei. Schließlich habe die Sonderstellevon der Militärregierung nur eine Genehmigungzur Wahrnehmung einer spezifischen Aufgabe,nicht aber für ein politisches Mandat erhalten. Insoweitkonnte die Sonderstelle keine Entscheidungentreffen, sondern nur Anregungen geben.Ein ständiger Diskussionspunkt war, wie altes„Reichsgeld“, also auch Reichsschulden undReichsbankguthaben, eingestuft werden solltenund ob eine achtzigprozentige Abwertung auchder tatsächlichen Gütererzeugung entspräche. Beider Ausgabe neuen Geldes war nicht nur zu berücksichtigen,dass die neu entstehende Kaufkrafteiner entsprechenden Produktion auf dem MarktDeckung finden muss, sondern dass die Leute, diekeine Reserven haben, über das neu verdienteEinkommen auch ausreichend güterwirtschaftlicheDeckung finden müssten. <strong>Erhard</strong> setzte sichwiederholt bei der Währungsreform für die schärfs -te Lösung ein. Deswegen erntete <strong>Erhard</strong> 1948 nachder Umsetzung der Währungsreform gemäß seinenVorstellungen barsche Kritik: „16 Wochensind seit der Währungsreform verflossen. Sie hätteuns mit der hochwertigen Deutschland-Mark beivernünftiger Handhabung der Wirtschaft eine Gesundungder gesamten Volkswirtschaft bringenkönnen. Stattdessen erleben wir in dieser Zeit einegeradezu irrsinnige Steigerung der Preise. Das verdankenwir der freien Wirtschaft und der Freigabeder Preise durch den Direktor für Wirtschaft, Dr.<strong>Erhard</strong>, und den Parteien, die diesem hervorragendenTheoretiker und versagenden Praktiker ineinem Ermächtigungsgesetz Vollmacht gaben.“ 6Die besondere Sensibilität einer Währungsreformlag darin, dass ein Fehlschlag zu unüberschaubarengesellschaftlichen Konflikten führen konnte.Eine dauerhaft negative Wirtschaftsentwicklunghätte eine baldige Rückkehr der Deutschen zu Eigenständigkeitund Souveränität praktisch unmöglichgemacht.Bei der technischen Umsetzung der Währungsreformschlug die Sonderstelle vor, Noten zu 1, 2, 5,10, 20, 50 und 100 Mark sowie Münzen zu 1, 5, 10und 50 Pfennig auszugeben. Für 1-DM-Scheine waren300 Millionen Exemplare vorgesehen. Als ers -tes Arbeitsergebnis konnte die Sonderstelle am 30.Oktober 1947 den Militärregierungen ein Memorandumüber den Druck von Banknoten und diePrägung von Münzen geben. 7 Dabei ging dieSonderstelle davon aus, dass rund sechs MilliardenMark in Noten und Münzen verfügbar sein müssen.Die Zahl der erforderlichen Noten betrug –bei Verzicht auf Tausendmarknoten – für den ers -ten Zeitraum nach der Reform rund 800 MillionenMark. An Münzen waren 2 300 MillionenStück geplant.Kontroverse Überlegungenzur geplanten WährungsreformDie Entscheidungsgewalt in der Sonderstelle lagallein bei den Alliierten, die jedoch über den einzuschlagendenKurs uneinig waren. So setzte Londoneher auf planwirtschaftliche Aspekte und eineneue Währung im Rahmen der Bizone. 8 Dies entsprachaber nicht amerikanischen Vorstellungen.Da aber Großbritannien durch seine Rezessionund die vielen Kriegsschäden wirtschaftlich angeschlagenund vom Internationalen Währungsfondsund damit indirekt von den Amerikanernabhängig war, 9 blieb die amerikanische Positionletztlich ausschlaggebend. Umso mehr fandenMitte März 1948 Einzelheiten zu amerikanischenVorschlägen der deutschen Währungsreform Beachtung,die nach ihren Urhebern als der Dodge-Colm-Goldsmith-Plan benannt wurden. Nach diesemPlan sollte die neue deutsche Währung „DeutscheMark“ (DM) heißen. Sämtliche Forderungen4 Vgl. <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>, Deutung der Demontage, in: Karl Hohmann(Hrsg.), <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>. Gedanken aus fünf Jahrhunderten, Düsseldorf1988, Seiten 83–93.5 Vgl. Bundesarchiv, Z 32/5, Seite 22.6 Ebenda, Seite 15.7 Ebenda, Seite 27.8 Vgl. Josef Ebner, <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>. Sein Weg – Deutschlands Aufstieg,München 1965, Seiten 6 und 8.9 Vgl. Bundesarchiv, Z 32/ 25 Band 6, Nr. 84.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)7


60 Jahre Soziale Marktwirtschaftsollten im Verhältnis zehn zu eins zusammengelegtwerden, und zwar das gesamte umlaufende Geld,sämtliche Bank- und Sparkassenguthaben, Hypothekensowie öffentliche und private Schulden(mit Ausnahme der Reichsschuld, der Sozialversicherungsansprücheund der Pensionszahlungen).Die Reichsschuld sollte für null und nichtig erklärtwerden, doch sollten die Banken, Kreditinstituteund Versicherungsgesellschaften neue Reichsschuldtitelin Höhe von zehn Prozent des altenUmfanges erhalten. Die Preise, Löhne und Mietensollten mit kleinen Veränderungen praktisch unverändertbleiben. 10 Damit gingen die amerikanischenVorschläge durchaus in <strong>Erhard</strong>s Richtung,wenngleich in der deutschen Öffentlichkeit vielfachdie Forderung nach einer Umstellung eins zufünf laut wurde.Aber nicht nur bei den Alliierten und in der Öffentlichkeitwurde die Frage der geplanten Währungsreformkontrovers behandelt, sondern auchinnerhalb der Sonderstelle wurden unterschiedlichewirtschaftspolitische Überlegungen ausgebracht.So kam es auf der 13. Sitzung der Sonderstellevom 6. November 1947 zu einem Eklat zwischendem Sonderstellenmitglied Günther Keiser,Abteilungsleiter in der Verwaltung für Wirtschaft,und dem als Wirtschaftsexperten ge<strong>laden</strong>en ProfessorWalter Eucken. Keiser rechnete sich selbst zuden Vertretern der gelenkten Wirtschaft und bestritt,dass mit einer Währungsreform von einerzentralen Lenkungswirtschaft abgegangen werdenkönne. Eine stabile Währung ziehe, auch wenn siemit einer Wirtschaftsliberalisierung verbunden sei,keineswegs automatisch eine stabile Währungnach sich. Dem widersprechend hatte Walter Euckenzuvor dargelegt, dass es Sinn der Währungsreformsei, „dass wir wieder richtige Preisrelationenbekommen, um dadurch die Direktive der volkswirtschaftlichenKräfte zu haben“. 1110 Vgl. Erich Achtenberg, Chancen für eine Weltwährung? Betrachtungenzur Frage der Währungsreformen, in: Die Weltkugel, Berlin,Januar 1948.11 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 17. Januar 1948.12 Vgl. Handelsblatt vom 18. März 1948.Nach der Auseinandersetzung zwischen Euckenund Keiser legte <strong>Erhard</strong> Wert auf die Feststellung,dass Keiser nicht die Meinung der Sonderstelle formulierthabe. Allerdings war <strong>Erhard</strong>s Wirtschaftskonzeptnicht von gleicher Rigorosität wie dasjenigeEuckens, da er Keiser zugestand, dass man Kohle,Eisen, Stahl und Holz güterwirtschaftlicher Lenkungbelassen könne. 12 In diesem Sinne erklärte<strong>Erhard</strong> gegenüber Edward A. Tenenbaum, dem Währungsreform-Expertender US-Regierung: „DieWährungsreform wird dann psychologisch als gelungenbetrachtet werden können, wenn wir siegüterwirtschaftlich unterbauen können“, 13 denn„wenn man für das neue Geld nichts kaufen kann,dann ist die neue Währung nicht haltbar“. 14 Dabeiwar es <strong>Erhard</strong>s Meinung, dass ein Übergang zufreien Marktverhältnissen unmittelbar mit derWährungsreform zu lösen sei: „Ich glaube tatsächlich,dass die beste Lösung wäre, grundsätzlich miteiner Währungsreform tendenziell zu einer Marktwirtschaftmit freier Preisbildung überzugehen.“ 15Im zweiten Teil ihrer Treffen (21. bis 45. Sitzung)konzentrierte sich die Sonderstelle auf die Vorbereitungeines Grundgesetzentwurfs zur Währungsreform,wobei gesellschafts-, sozial- und wirtschaftspolitischeThemen erörtert wurden. In dieserZeit entwickelte sich die Sonderstelle zu einerArt nationalem Forum, auf dem zentrale finanzundwirtschaftspolitische Themen behandelt wurden.Einzelne Mitglieder der Sonderstelle oderSachverständige, die zu vertraulichen Vorträgen indie Sonderstelle gebeten wurden, waren späterwichtige Persönlichkeiten der Adenauer-Ära: TheodorBlank, Robert Pferdemenges, Gerd Bucerius, FritzTerhalle und Erwin Hielscher.Ein wichtiger Diskussionspunkt war wiederholt derLastenausgleich bzw. die geplante Vermögensabgabe.Hier spielte die Frage der Bewertung (SachoderGeldvermögen) bzw. die Frage der Behandlungvon Sondergruppen (Flüchtlinge, Arbeitsloseetc.) eine zentrale Rolle. Viele Fragen, die in derSonderstelle erörtert wurden, fanden später inentsprechenden Gesetzen ihren Niederschlag, soim Bundesbankgesetz oder im Vertriebenengesetz.Im Januar 1948 legten <strong>Erhard</strong> und Hielscher einekurzgefasste Darstellung des Währungsplans der„Sonderstelle Geld und Kredit“ vor. Darin setztesich <strong>Erhard</strong> für eine Kopfquote von 50 D-Mark undeine uneingeschränkte Verfügbarkeit bestehenderBar- und Giralgeldbeträge von fünf Prozent in derneuen Währung ein. Weitere 15 Prozent sollten alsGeldanspruch in Form von Festkonten mit vierjährigerBindung festgelegt werden. Damit war <strong>Erhard</strong>sVorschlag weit schärfer als die amerikanischenInitiativen.Am 28. Januar 1948 präsentierte <strong>Erhard</strong> einen Katalogder Vorbereitungs- und Durchführungsmaß-13 Bundesarchiv, Z 32/6, Seiten 104 ff.14 Bundesarchiv, Z 32/7, Seite 170.15 Bundesarchiv, Z 32/7, Seite 71.8 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Homburger Plannahmen zum Währungsgesetz (Gesetze, Durchführungsverordnungen,Anweisungen, Formulare).In diesem Katalog waren enthalten: Gesetz zur Neuordnung des Geldwesens, Notenbankgesetz, Gesetz über die Ausgleichskasse, Gesetz über die Ausgabe von Marknoten undMarkmünzen durch die Länderunionbank, Gesetz über die Abwicklung der Reichsbank, Gesetz über die Überleitung der Sozialversicherungauf die Markwährung, Gesetz über Kriegs- und Kriegsfolgeschäden.<strong>Erhard</strong> nahm den Vorsitz der Sonderstelle bis einschließlichder 45. Sitzung wahr. Danach kam erin das wichtige Amt des Direktors der Verwaltungfür Wirtschaft. Die Sonderstelle arbeitete ohne<strong>Erhard</strong> vom März bis Juni 1948. Dann stellte sieihre Tätigkeit ein, da mit der Währungsreformvom 20. Juni 1948 die Aufgaben ihrer Vorbereitungentfallen waren. Das geplante Arbeitspensum,die Ausarbeitung der verschiedenen Gesetzentwürfe,konnte gar nicht oder nur im Ansatzerfüllt werden.Der „Homburger Plan“Der Auffassung <strong>Erhard</strong>s folgend legte die Sonderstelleim April 1948 den sogenannten „HomburgerPlan“ vor. An ihm war <strong>Erhard</strong> allerdings schonnicht mehr unmittelbar beteiligt, da er am 2. März1948 zum Direktor der Verwaltung für Wirtschafternannt worden war. Damit hatte <strong>Erhard</strong> praktischdie Funktion eines Wirtschaftsministers der Bizoneinne. <strong>Erhard</strong> trug den „Homburger Plan“ in allenTeilen voll mit und kritisierte seine Nichtanwendungdurch die Alliierten.Der „Homburger Plan“ war Ergebnis der monatelangenBeratungen der Sonderstelle. Auf einer allgemeinwirtschaftspolitischen Ebene wurden Fragenzur Ernährungslage, zur Arbeitslosigkeit, zuKohle- und Rohstahlpreiserhöhungen sowie zurMarshallplan-Hilfe erörtert. Ein weiterer Diskussionspunktwar das Problem der Demontage undder Reparationszahlungen. Im kleineren Bereichder Geld- und Kreditpolitik wurden die Regelungder privaten Kreditverschuldung, die technischeAbwicklung der Kopfquote und das Projekt zurGründung einer Länderunionsbank diskutiert. Im„Homburger Plan“ wurden die Etappen einerWährungsumstellung behandelt, wobei gegen einePreisfreigabe im Lebensmittelsektor, für Mietenund Kohle optiert wurde. Außerdem sah derPlan eine Lastenausgleichsregelung vor, die sichdann aber erst später realisieren ließ.Der „Homburger Plan“ war Grundlage des „Konklavesvon Rothwesten“, welches am 20. April 1948begann. Für 49 Tage wurden die Mitglieder derSonderstelle in einem Bus mit Milchglasscheibenvon den Amerikanern nach Rothwesten als geheimenKonferenzort gebracht. Hintergrund war dasgroße Interesse der deutschen Öffentlichkeit andiesen Beratungen. Allerdings waren die Sitzungender Sonderstelle zuvor ebenfalls unter derstrengen Verpflichtung zur Geheimhaltung abgehaltenworden.Für die Amerikaner und Briten war die eingeschränkteBeteiligung der Deutschen in der unmittelbarenVorbereitungsphase vor der Währungsreformvon großer Bedeutung, da sie selbstvor Ort über wenige Sachverständige verfügten –so etwa den Assistenten des Finanzberaters von GeneralLucius D. Clay, Edward A. Tenenbaum –, die diedeutschen Verhältnisse richtig einzuschätzen vermochten.Sicherlich war der Mangel an alliiertenWährungsfachleuten in Deutschland ein Hintergrundfür die Einrichtung der „Sonderstelle Geldund Kredit“.In Rothwesten sollten die Deutschen in erster Liniealliierte Vorgaben realitätsgerecht umsetzenund hierbei rechtstechnische und organisatorischeProbleme lösen. Im Übrigen folgten die Alliiertenin zentralen Fragen (zum Beispiel der Diskussionum die Preisfreigabe und des Lastenausgleichs)nicht der Sonderstelle und dem „HomburgerPlan“. Damit wird deutlich, dass dieSonderstelle nur ein Beratungs- und kein Entscheidungsgremiumwar. Allerdings votierte <strong>Erhard</strong>in gewisser Weise für die Alliierten, da er inder „scharfen Lösung“, also der völligen Freigabeder Preise, die sozialste Lösung sah. In anderenFragen, etwa dem Memorandum vom 15. Oktober1947 zur Frage des Notendrucks und der Münzprägung,schlossen sich die Alliierten dem Vorschlagder Sonderstelle weitgehend an und setztenihn um.Das Ziel des „Homburger Plans“ war die Beseitigungdes Geldüberflusses, die Stabilisierung desöffentlichen Haushaltsgebarens und die PlanungOrientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)9


60 Jahre Soziale Marktwirtschafteiner soliden Kreditpolitik. Im Prinzip arbeitetedie Sonderstelle in vierzonaler Richtung, wenngleichsie auch zur unmittelbaren Aufnahme vonVerbindungen zur Sowjetzone nicht ohne Weiteresbefugt war. Die politische Lage Anfang 1948gestaltete sich dann aber so, dass durch das Verhaltender Sowjetunion jedwede Kooperation undenkbarwurde. So informierte <strong>Erhard</strong> am 31.März 1948 die Sonderstelle von einer Besprechungmit General Clay, 16 bei der dieser zum Ausdruckbrachte, dass man sich nicht von den Russenweiter hinhalten lassen sollte. Seitdem war dieDiskussion über eine einheitliche WirtschaftsundWährungspolitik für die Sonderstelle praktischbeendet. Deshalb wurden Fragen der Reichsschuld– auch im Ausland –, die Höhe des Volksvermögensund der Produktionswirtschaft (Konsumgütererzeugung)ausschließlich auf die dreiwestlichen Zonen bezogen.Am 18. Juni 1948 wurde das erste Währungsreformgesetzverabschiedet, welches am Sonntag,den 20. Juni 1948 in Kraft trat. Damit wurde dieDeutsche Mark für die Trizone (einschließlichWest-Berlin ab dem 24. Juni 1948) das neue Zahlungsmittel.Es gab für jeden Bürger 60 DM Kopfgeld,wovon 40 DM sofort ausgezahlt wurden. DieUnternehmen erhielten 60 DM als „Geschäftsbetrag“pro Arbeitnehmer. Das Altgeld wurde nachdem Verhältnis 100 zu 6,5 umgetauscht. Die meistenprivaten Reichsmarkverbindlichkeiten wurdenauf das Verhältnis von 10 zu 1 in Deutsche Markumgewandelt. Die Reduzierung der privatenSchuldverhältnisse auf ein Zehntel hatte die„Sonderstelle Geld und Kredit“ vergeblich zu verhindernversucht. Das neu eingeführte Geld wurdeals Zahlungsmittel von der Bevölkerung ohneProbleme angenommen. Es trat der sogenannte„Schaufenster-Effekt“ ein, in dessen Folge dieschwarzen Märkte verschwanden und die Warenhortungenabgebaut wurden. Damit zeigte <strong>Erhard</strong>sWirtschaftspolitik seine ersten Erfolge.Zur geschichtlichen Bedeutung der„Sonderstelle Geld und Kredit“Die Sonderstelle in Bad Homburg stellte in derNachkriegszeit ein erstes, maßgebendes, überregionalesForum dar, auf welchem deutsche WirtschaftsexpertenKonturen der künftigen WirtschaftspolitikDeutschlands abstecken konnten.Wer Zeitungen aus den Jahren zwischen 1945 und1947 liest, erkennt bald, wie brisant das Thema derWährungsreform damals gewesen ist. Für die Alliiertenbot die Einrichtung einer „SonderstelleGeld und Kredit“ auch die Möglichkeit, einen Teildes massiven innenpolitischen Drucks in dieserFrage von sich auf die Sonderstelle abzulenken.Die zeitgeschichtliche Bedeutung der „SonderstelleGeld und Kredit“ wäre sicherlich gering, hättesich ihr Vorsitzender <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> mit seinemKonzept der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschlandin den darauf folgenden Jahren nicht durchsetzenkönnen. So kann zu Recht gesagt werden,dass die Soziale Marktwirtschaft den Ausgangspunktfür ihren Siegeszug in Bad Homburg genommenhat. Der Vorsitz der „Sonderstelle Geldund Kredit“ war für <strong>Erhard</strong> der Beginn seines überregionalenWirkens in Deutschland und sein Eintrittin die europäische Politik. 17 16 Bundesarchiv, Z 32/2, Seiten 50 ff.17 Der vorliegende Text ist eine gekürzte Fassung von: Andreas M.Rauch, <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> und die Währungsreform. Die „SonderstelleGeld und Kredit“ in Bad Homburg, in: Aus dem Stadtarchiv. Vorträgezur Bad Homburger Geschichte 1993/94, herausgegeben von derStadt Bad Homburg v. d. Höhe, Bad Homburg 1995.10 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


<strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>s Durchbruch zur MarktwirtschaftProf. Dr. Udo WengstStellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), München„Das deutsche Volk ist heute ruhig und besonnen an seine Arbeit gegangen, und ich glaube, es werden wenige daruntergewesen sein, die sich dabei nicht mit einem Gefühl der Befreiung bewusst geworden sind, dass erst mit diesem Tag derSpuk jener Massenhysterie von uns abgefallen ist, die uns auch diesen tollen Finanzschwindel der preisgestoppten Inflationbeschert hatte. Von diesem Rausch ernüchtert, erkennen wir erst recht deutlich, wie hart am Abgrund wir gewandertsind, und wie hohe Zeit es war, mit der Einführung unserer neuen Währung wieder den Pfad der Ehrlichkeit undder Wahrhaftigkeit zu beschreiten“ (<strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> in einer Rundfunkansprache am 21. Juni 1948).Im Jahr 1974 hat der Zeithistoriker und PolitologeHans-Peter Schwarz in einem Band zum 25-jährigenJubiläum der Bundesrepublik Deutschland festgestellt,dass es in der „jüngeren Nachkriegsgeschichtenach 1945 nur noch ein Schicksalsjahr“gebe, „das diese Bezeichnung wahrhaft verdient:eben das Jahr 1948“. Diese These hat einiges fürsich, da in der Tat in diesem Jahr in Deutschlandund Europa Entscheidungen fielen, die für dienächsten Jahrzehnte bis 1989/90, zum Teil auchdarüber hinaus grundlegend waren.Zuerst ist auf das Scheitern einer gemeinsamenVier-Mächte-Verantwortung gegenüber Deutschlandhinzuweisen, das durch das Ende der Arbeitdes Alliierten Kontrollrats im Frühjahr 1948 jedermannklar vor Augen geführt wurde. Parallel hierzubegann die Auseinanderentwicklung der Westzonenund der Ostzone, immer deutlichere Konturenanzunehmen. Im Januar 1948 erhielt das VereinigteWirtschaftsgebiet eine neue Organisationsstrukturund die Westzonen wurden in das EuropäischeWiederaufbauprogramm einbezogen. Aufder Londoner Sechs-Mächte-Konferenz wurdendie Voraussetzungen für die Gründung eines westdeutschenStaats geschaffen, sodass im Spätsommerdes Jahres die Beratungen über das Grundgesetzbeginnen konnten. Zu dem Zeitpunkt hatteein Verfassungsausschuss in der Sow jetischen Besatzungszone(SBZ) bereits Richtlinien für die Verfassungder Deutschen Demokratischen Republik(DDR) vorgelegt. Darüber hinaus demonstriertedie Berlin-Blockade, dass das Verhältnis zwischenden Westmächten und der UdSSR in offene Feindschaftumgeschlagen und eine Einigung über diedeutsche Frage nicht mehr zu erwarten war.In diesem Zusammenhang sind die Währungsreformenzu betrachten, die Ende Juni sowohl in denWestzonen wie in der SBZ durchgeführt wordensind. Dadurch entstanden im Westen und im Ostennicht nur unterschiedliche Währungsgebiete, sonderndie Reformen wurden von den betroffenenBevölkerungen unterschiedlich wahrgenommen.Die Menschen in den Westzonen erlebten die Währungsreformals tief greifende Änderung der Lebensumstände,da über Nacht alle Waren mit derneuen Währung käuflich erworben werden konntenund der Schwarzmarkt keine Bedeutung mehrbesaß. Die Währungsreform im Westen Deutschlandswurde im Lauf der Jahre zum Mythos, zumStart in das „Wirtschaftswunder“ und damit auchzu einer der wichtigsten Grundlagen für dieschnelle Stabilisierung der westdeutschen Demokratie.Die Währungsreform in der SBZ hingegenhat in der Erinnerung der DDR-Bevölkerung keineSpuren hinterlassen, sie wurde zu einer „vergessenenWährungsreform“. 1 Dies ist vor allem daraufzurückzuführen, dass die Währungsreform im Ostennicht mit einer Wirtschaftsreform verbundenwar. Denn erst die mit der Währungsreform imWesten eingeleitete Wirtschaftsreform hat dieGrundlagen für den Wirtschaftsaufschwung imWesten gelegt.Die Währungsreformen von 1948Eine Währungsreform war nach dem Ende desZweiten Weltkriegs notwendig, weil die Kriegsfinanzierungder Nationalsozialisten die öffentlichenFinanzen zutiefst zerrüttet hatte. Das dramatischgeschrumpfte Sozialprodukt und die umlaufenderelativ hohe Geldmenge befanden sichnicht mehr im Gleichgewicht. Die Bewirtschaftungsmaßnahmenund der staatlich veranlasste1 Frank Zschaler, Die vergessene Währungsreform. Vorgeschichte,Durchführung und Ergebnisse der Geldumstellung in der SBZ 1948,in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45 (1997), Seiten 191–223.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)11


60 Jahre Soziale MarktwirtschaftPreisstopp verhinderten eine erkennbare Inflation,die jedoch dadurch nur zurückgestaut wurde.Bis in das Jahr 1948 scheint es sowohl bei den Sow -jets wie bei den Westmächten Bestrebungen gegebenzu haben, eine gemeinsame Währungsreformfür alle vier Zonen durchzuführen. Hierfür fehltenmit dem Ende der Arbeit des Alliierten Kontrollratsim Frühjahr 1948 aber alle Voraussetzungen.Auf westlicher Seite stellten vor allem die Amerikanerfrühzeitig Überlegungen für eine Währungsreforman und nahmen dann die für dieUmsetzung der Reform notwendigen Maßnahmenin Angriff. Dabei wollten sie zunächst die Währungsreformmit einem umfassenden Lastenausgleichverbinden. Diese Idee ließen sie jedoch späteraus Termingründen fallen. Die Grundstrukturder Währungsreform in den Westzonen beruhtein weiten Teilen auf Vorstellungen der Amerikaner,die auch die Durchführung organisierten. Sowurden zum Beispiel die neuen Banknoten in denVereinigten Staaten gedruckt und nach Europatransportiert. Im Hinblick auf das starke Engagementder Amerikaner ist die Währungsreform voneinem deutschen Historiker als ein „Diktat der amerikanischenMilitärregierung“ bezeichnet worden. 2Dieser Feststellung kann man wohl aber nur mitEinschränkungen zustimmen. Deutsche Politiker,unter ihnen auch <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>, sind von den Alliiertenfrühzeitig um ihre Vorstellungen gebetenworden. So hat <strong>Erhard</strong> noch als Leiter der Sonderstellefür Geld und Kredit im Januar 1948 den„Homburger Plan“ vorgelegt, der detaillierte Überlegungenzur Währungsreform enthielt und auchihre Verbindung mit einem Lastenausgleich vorsah.Auch wenn sich die Alliierten auf diese Argumentationnicht einließen und an ihren eigenen Vorstellungenim Prinzip festhielten, haben sie deutscheExperten weiterhin in die Vorbereitungen einbezogen.Von Ende April bis Anfang Juni 1948 habendeutsche Währungsexperten im Konklave vonRothwesten die mit der Währungsreform zusammenhängendenFragen ausgiebig diskutiert.Dabei ist es ihnen nicht gelungen, grundsätzlicheKorrekturen an den amerikanischen Vorstellungenanzubringen. Wohl aber ist der deutsche Sachverstandin die Texte der Gesetze, Durchführungsverordnungenund Anweisungen eingeflossen und hatdamit wesentlich zur reibungslosen Organisationder Währungsreform beigetragen.2 Eckhard Wandel, Die Entstehung der Bank deutscher Länder unddie deutsche Währungsreform 1948. Die Rekonstruktion des westdeutschenGeld- und Währungssystems 1945–1949 unter Berücksichtigungder amerikanischen Besatzungspolitik, Frankfurt am Main1980, Seite 106.Die Währungsreform in der Bizone erfolgte imZeitraum vom 21. bis 27. Juni 1948 durch die Verkündungdes Währungs-, des Emissions- und desUmstellungsgesetzes. Das Währungsgesetz regeltedie Einführung der Deutschen Mark (DM) sowiedie Erstausstattung mit Zahlungsmitteln für dieBevölkerung, die Unternehmen und die öffentlicheHand. Jeder Deutsche erhielt 40 DM auf dieHand und 20 weitere DM innerhalb der folgendenbeiden Monate. Das Emissionsgesetz hatte bankundwährungstechnische Bestimmungen zum Inhalt,und das Umstellungsgesetz enthielt die Regelungenzur Umwandlung von Altgeldguthabenund -schulden. Die Altgeldguthaben wurden zumgrößten Teil gestrichen. Der durch die Währungsreformherbeigeführte Geldschnitt war beträchtlichund lag mit etwas über 20 zu 1 erheblich überden Empfehlungen alliierter und deutscher Sachverständiger.<strong>Erhard</strong> war am 15. Juni mit anderendeutschen Sachverständigen von den alliierten Militärgouverneurennoch einmal zur Währungsreformgehört worden. Zwei Durchführungsalternativenwurden ihnen präsentiert. Gegen den Widerstandanderer deutscher Teilnehmer sprach sich<strong>Erhard</strong> entschieden für die Lösung aus, die wenigeTage später von den Alliierten gewählt wurde.Auch in dieser Situation hatte sich <strong>Erhard</strong> auf deutscherSeite mit seinen Vorstellungen durchgesetzt.Die Durchführung der Währungsreform in derSBZ verlief nahezu zeitgleich wie das Umstellungsverfahrenim Westen. Auch hier stand ein Bargeldaustauscham Beginn, auf den die Umstellung derSpar- und Girokonten folgte. Einen zweiten Bargeldaustauschgab es Ende Juli. Allerdings war dieWährungsreform weniger gut vorbereitet als imWesten. Beispielsweise gab es keine neuen Banknoten,sodass die alten Reichsmarkscheine mit Kupons(Kuponmark, in Berlin deswegen schnell als„Tapetenmark“ bezeichnet) überklebt werdenmussten. Es war jedoch nicht so sehr die wenig professionelleDurchführung der Währungsreform,die die neue Währung von Beginn an schwächte.Wichtiger war, dass es nicht gelang, die Geldmengein einem annähernd ähnlichen Ausmaß wie imWesten zu senken. Die Reduzierungsquote betruglediglich 9,7 zu 1. Außerdem hatte die Währungsreformkeine Auswirkungen auf das Wirtschaftssystem.Die umfassende Bewirtschaftung wurde auchnach der Währungsreform in der SBZ aufrechterhaltenund in den folgenden Jahren ausgebaut. DaGeld- und Währungspolitik in einem solchen Systemeinen deutlich geringeren Stellenwert als in einerMarktwirtschaft besitzen, war es folgerichtig,dass die Währungsreform den Bürgern der DDRkaum in Erinnerung geblieben ist.12 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Historische WeichenstellungenDie Aufhebung der Planwirtschaft<strong>Erhard</strong> hatte in den Diskussionen über die Währungsreformfrühzeitig erkennen lassen, dass er inVerbindung hiermit die Planwirtschaft beseitigenund eine marktwirtschaftliche Ordnung einführenwollte. Entsprechend hatte er schon in einer internenSitzung am 25. Februar 1948 verlauten lassen,dass man „die Währungsreform so machen“ müsse,„dass, wenn die Dinge so glatt gehen, man tendenziellund grundsätzlich zur freien Marktwirtschaftübergehen könnte“. 3 Er hat daher alles da -ran gesetzt, die Währungsreform mit einem Gesetzzu verbinden, das die Wirtschaftsordnung inder Bizone auf eine neue Grundlage stellte.<strong>Erhard</strong> hatte seine marktwirtschaftlichen Vorstellungenbereits während des Zweiten Weltkriegsentwickelt und in der Auseinandersetzung mitWilhelm Röpke und Vertretern der ordoliberalenSchule in Freiburg geschärft. <strong>Erhard</strong> war ein konsequenterVerfechter einer liberalen Marktwirtschaft,der jedoch stets betonte, dass er kein Anhängereiner Laissez-faire-Politik sei. Er hielt es daherfür notwendig, dass der Staat den Markt organisiert,das heißt die Wettbewerbsregeln festlegtund das System überwacht. <strong>Erhard</strong> wollte auf dieWeise einen Markt schaffen, der am Wohl der Verbraucherorientiert ist und auf Wachstum setzt,um so die sozialen Probleme zu lösen.Im festen Vertrauen auf dieses Konzept hat <strong>Erhard</strong>die Einführung der Marktwirtschaft in der Bizonebetrieben. Nur wenige Tage vor der Währungsreformbehandelte der Wirtschaftsrat der Bizone einenGesetzentwurf in dritter Lesung, der sich damitbefasste, welche Güter weiterhin bewirtschaftetund welche aus der Bewirtschaftung herausgenommenwerden sollten. <strong>Erhard</strong> kämpfte für eineweitgehende Beendigung der Bewirtschaftung, daer auf Markt und Leistungswettbewerb setzte undeine Preissenkung voraussagte. Obwohl ihm dasnicht alle abnahmen, gelang es ihm, eine Mehrheitfür sein Anliegen zu gewinnen und in denAusschussberatungen eine Änderung des Gesetzestexteszu erreichen, der zufolge die Freigabevon der Bewirtschaftung nicht mehr als Ausnahme,sondern die weitere Bewirtschaftung als zeitlichbefristete Ausnahme für bestimmte Güter festgeschriebenwurde. Da das Gesetz aus einer Reihevon Leitsätzen zur künftigen Bewirtschaftungspraxisund Preispolitik bestand, erhielt es kurzweg dieBezeichnung „Leitsätzegesetz“. An der Spitze3 Alfred C. Mierzejewski, <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>. Der Wegbereiter der SozialenMarktwirtschaft. Biografie, München 2005, Seite 98.stand das Bekenntnis, dass die Freigabe aus der Bewirtschaftungderen Beibehaltung vorzuziehen sei– erst danach wurden jene Güter aufgezählt, dievorerst weiter bewirtschaftet werden sollten. Trotzdieser Einschränkung war mit der Verabschiedungdes Leitsätzegesetzes grundsätzlich der Weg in dieMarktwirtschaft eingeschlagen. Allerdings fehltezu dem Zeitpunkt die Zustimmung der beiden MilitärgouverneureLucius D. Clay und Brian Robertsonsowie des Länderrats der Bizone.Dies hinderte <strong>Erhard</strong> jedoch nicht daran, amAbend des 20. Juni 1948, dem Sonntag, an demdie Deutschen ihr „Kopfgeld“ erhielten, durch seinenPressesprecher im Rundfunk verkünden zulassen, dass in Kürze eine Reihe von Bewirtschaftungsmaßnahmenund Preisbindungen aufgehobenwürde. Ob er damit die Geschäftsleute bewegenwollte, die bisher zurückgehaltenen Warenam nächsten Tag zum Kauf anzubieten, steht dahin.Das Ergebnis fiel immerhin so aus, wie er esgewünscht hatte. Die Schaufenster waren am nächs -ten Tag übervoll, und angesichts des relativ hohenKopfgelds – 160 DM für eine vierköpfige Familieentsprachen ungefähr einem Monatsgehalt – wurdeentsprechend gekauft.Die Reaktion von Clay ließ nicht auf sich warten.Er zitierte <strong>Erhard</strong> am nächsten Tag in sein Büround kritisierte ihn, weil er ohne Ermächtigung derMilitärgouverneure gehandelt habe. <strong>Erhard</strong> wiesden Vorwurf zurück und verwies auf seine Verantwortungfür die deutsche Wirtschaft. Dabei ließ erdurchblicken, dass er seine Entscheidung gegenden Rat der meisten seiner Sachverständigen, alsoquasi im Alleingang gefällt habe. Damit machte erbei Clay offensichtlich Eindruck, der <strong>Erhard</strong>s Kursgrundsätzlich für richtig hielt. Er war wohl auchüber <strong>Erhard</strong>s Eigenmächtigkeit nicht unglücklich,weil auf die Weise der Widerspruch des britischenMilitärgouverneurs Robertson überwunden werdenkonnte. Als auch noch der Länderrat das Gesetzam selben Tag annahm, war der Weg in die Marktwirtschaftfrei. Dies war vor allem <strong>Erhard</strong> zu danken,der sowohl in den parlamentarischen Gremiender Bizone wie gegenüber den Besatzungsmächtenum sein Konzept gekämpft und es gegenalle Widerstände durchgesetzt hatte.Die Durchsetzung des Konzeptsder Sozialen Marktwirtschaft in der CDUIm Juni 1948 gehörte <strong>Erhard</strong> noch keiner Parteian, und auch in den Jahren ab 1949, als er alsBundeswirtschaftsminister dem Kabinett unterOrientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)13


60 Jahre Soziale MarktwirtschaftKonrad Adenauer angehörte und für die CDU einBundestagsmandat wahrnahm, war er kein Mitgliedder Partei. Er vollzog den Parteieintritt erstkurz vor seiner Wahl zum Bundeskanzler im Jahr1963. Für ihn stellte sich 1948 die Frage, welchePartei ihm die besten Chancen zur Umsetzung seinesKonzepts bot. Seine Wahl in das Amt des Direktorsfür Wirtschaft war mit Unterstützung derUnion, der FDP und der Deutschen Partei erfolgt.FDP und CDU bemühten sich anschließend darum,<strong>Erhard</strong> zur Mitarbeit zu bewegen. Er zögertelange, bis er sich entschied. Noch im Mai 1949rechneten Kreise in der FDP damit, ihn als Kandidatenfür die Bundestagswahlen im August des Jahreszu gewinnen. Dies war ein Irrtum, da er sich zudem Zeitpunkt bereits für die Union entschiedenhatte, ohne dies jedoch klar zu erkennen zu geben.Sein Zögern, sich eindeutig für die CDU zu entscheiden,hing sicherlich damit zusammen, dassdie wirtschaftspolitische Programmatik der Parteiüber längere Zeit wenig marktwirtschaftlich ausgerichtetwar. So hatte im Februar 1947 der Zonenverbandin der britischen Zone das „Ahlener Programm“verabschiedet. Hierin dominierten eherplanwirtschaftliche als marktwirtschaftliche Elemente.Es forderte die „Entflechtung der Konzernein selbständige Einzelunternehmen, doch auchihre Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Auslandsowie Verstaatlichung, überwiegend jedochVergesellschaftung von Bergwerken und der eisenschaffendenIndustrie, wobei Vergesellschaftungdefinitorisch Kartellgesetzgebung, gesetzliche Beschränkungdes Aktienbesitzes sowie das sogenanntemachtverteilende Prinzip umfasste, dassdie Aufteilung wirtschaftlicher Macht auf verschiedeneTräger verlangte“. Das vom Programm formuliertePrinzip der Gewaltenteilung gründete jedochnicht auf sozialistischen, sondern ordoliberalenVorstellungen, und es stand in der Traditiondes „katholischen Solidarismus“. 4 Als Ziel der Wirtschaftspolitiknannte das Programm die „Bedarfsdeckungdes Volkes“, die nicht durch eine Rekons -truktion der als gescheitert angesehenen kapitalistischenOrdnung anzustreben sei, sondern nurdurch eine neue „gemeinwirtschaftliche Ordnung“erreicht werden könne. 54 Dorothee Buchhaas, Die Volkspartei. Programmatische Entwicklungder CDU 1950–1973, Düsseldorf 1981, Seite 161.5 Text des Programms abgedruckt in: Konrad Adenauer und die CDUin der britischen Zone 1946–1949. Dokumente zur Gründungsgeschichteder CDU Deutschlands, bearbeitet von Helmuth Pütz, Bonn1975, Seiten 280–286.Seit Ende 1947/Anfang 1948 gab es jedoch in derCDU Kräfte, die eine andere Ausrichtung der Wirtschaftspolitikder CDU propagierten. Diese Kräfte,die vom Parteivorsitzenden in der britischen ZoneAdenauer unterstützt wurden, wollten eine „Abkehrvon der zentral gelenkten Verwaltungswirtschaftund eine Rückkehr zur Marktwirtschaft unter starkerBetonung des Leistungswettbewerbs“. 6 Damitstimmten sie überein mit <strong>Erhard</strong>, als dessen FördererAdenauer seit Anfang 1948 eintrat.Dies geschah erstmals anlässlich eines Auftritts <strong>Erhard</strong>svor dem Zonenausschuss der CDU in der britischenZone im Februar 1949. Adenauer lobte vorseinen Parteifreunden <strong>Erhard</strong>s Fähigkeit, „die Dingezurückzuführen auf möglichst einfache undklare Begriffe“ und gab seiner Überzeugung Ausdruck,dass die wirtschaftliche Entwicklung derletzten Monate die Richtigkeit von <strong>Erhard</strong>s Prinzipienbewiesen habe. 7 Adenauer sprach sich deshalbauch dafür aus, ihm eine zentrale Stellung in derWahlkampfführung der CDU für die erste Bundestagswahleinzuräumen. Hierfür erhielt er die Zustimmungseiner Parteifreunde. Offen blieb zudem Zeitpunkt aber, ob und wo <strong>Erhard</strong> zu kandidierenwünschte. Nach Absprache mit Adenauernahm er im Juni das Angebot an, als Spitzenkandidatder CDU in Württemberg-Baden anzutretenund sich im Wahlkreis Ulm/Heidenheim um einDirektmandat zu bewerben.Seit Februar 1948 war <strong>Erhard</strong> auch in die Diskussionenüber ein neues Wirtschaftsprogramm derCDU einbezogen. Seine Ausführungen vor demZonenausschuss der CDU in der britischen Zonevom Februar 1948 bildeten aufgrund von AdenauersVorschlag die Grundlage für das neue Programm.Das Programm, das als die „DüsseldorferLeitsätze“ in die Geschichte eingegangen ist,unterschied sich deutlich vom Ahlener Programmvon 1947. Während die Eigentumsproblematiknicht angesprochen wurde und damit ein Gegensatzzum Ahlener Programm nicht zum Vorscheinkam, bezogen die Düsseldorfer Leitsätze in Bezugauf die Planwirtschaft eine klare Position. ImGegensatz zum Ahlener Programm lehnten dieLeitsätze jede Art von Planwirtschaft ab, „ganzgleich, ob in ihr die Lenkungsstellen zentral oderdezentral, staatlich oder selbstverwaltungsmäßigorganisiert sind“. 8 Dass das Programm die Zustimmungder Parteigremien fand, ist sicherlich in ers -ter Linie Adenauer zu danken, der immer wiederdarauf hinwies, dass es die Grundsätze enthalte,6 Udo Wengst, Die CDU/CSU im Bundestagswahlkampf 1949, in:Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986), Seite 29.7 Ebenda, Seite 24.8 Konrad Adenauer, a. a. O., Seiten 866–880, Zitat Seite 868.14 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Historische Weichenstellungendie die Grundlage der erfolgreichen Arbeit <strong>Erhard</strong>sim Frankfurter Wirtschaftsrat gewesen seien.Da die Partei bis hin zu ihrem linken Flügel vomErfolg dieser Arbeit überzeugt war, war es kaummöglich, gegen die Düsseldorfer Leitsätze zu opponieren.Sie wurden im Juli 1949 der Öffentlichkeitvorgestellt und dienten als wesentliche Grundlageder CDU in ihren Wahlkampfauftritten.Der künftige wirtschaftspolitische Kurs war dasHauptthema des Wahlkampfs, und <strong>Erhard</strong> stand imZentrum der Auseinandersetzung. Plakate mit derAufschrift „Es geht um Deutschland: christliche Freiheitoder marxistischer Zwang“ und Reden <strong>Erhard</strong>szum Thema „Zwangswirtschaft oder soziale Marktwirtschaft“formulierten in scharfer Zuspitzung diezur Debatte stehenden Gegensätze. Die SPD bezeichneteer als „Nachtwächter der Zwangswirtschaft“und als „verblendete Anhänger der sozialistischenIrrlehre“. 9 Er verteidigte stets den von ihm imFrankfurter Wirtschaftsrat eingeleiteten marktwirtschaftlichenKurs und machte deutlich, dass er aufden Wettbewerb „als Motor der Marktwirtschaft“ setze,und es damit gelingen werde, die „moralischenVerfallserscheinungen“ der Planwirtschaft zu beseitigen.10 Die Zuspitzung des Wahlkampfs auf denGegensatz von Markt- und Planwirtschaft war erfolgreich.Sowohl die damaligen politischen Beobachterals auch die heutigen Historiker sind sich einig, dassder Sieg der Union über die SPD in erster Linie einErgebnis dieser Polarisierungsstrategie war. Insofernkann man <strong>Erhard</strong> als den Sieger der ersten Bundestagswahlbezeichnen, und erst mit diesem Sieg warder von ihm eingeschlagene marktwirtschaftlicheKurs über das Jahr 1949 hinaus abgesichert.Die Bedeutung <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>s für dieWirtschaftspolitik der BundesrepublikDie Mehrheit der Wirtschaftshistoriker ist heutedavon überzeugt, dass der rasche wirtschaftlicheWiederaufbau in den westlichen Besatzungszonenund in der Bundesrepublik ab 1948 in besonderemMaße <strong>Erhard</strong> zu verdanken ist. Nach dieserAuffassung hat die Einführung der SozialenMarktwirtschaft in Verbindung mit der Währungsreformund der einsetzenden Marshallplan-Hilfeden „Treibsatz“ für den Start des „Wirtschaftswunders“der 1950er Jahre gebildet. Hiergegen hatWerner Abelshauser eingewandt, dass in der britischenund amerikanischen bzw. in der Bizoneschon unmittelbar nach Kriegsende ein schneller9 Udo Wengst, a. a. O., Seite 34.10 Ebenda, Seite 38.wirtschaftlicher Aufschwung stattgefunden habe,der nach einer Delle im Winter 1946/47 in einenanhaltenden Aufschwung übergegangen sei, denerst die Warenspekulation im Vorfeld der Währungsreformunterbrochen habe. Des Weiterenhat Abelshauser die Ansicht vertreten, dass für dieschnelle Rekonstruktion der westdeutschen Wirtschaftin den 1950er Jahren „systemunabhängigeWachstumsdeterminanten“ wichtiger waren als dieWirtschaftsordnung des westdeutschen Staates. 11Durchgedrungen ist Abelshauser mit diesen Argumentennicht. Andere Wirtschaftshistoriker habenmit guten Gründen bis in das Jahr 1948 hinein eine„Lähmungskrise“ diagnostiziert, aus der erst dieWährungsreform und der Übergang zur marktwirtschaftlichenOrdnung herausgeführt hätten. 12Der Münchener Wirtschaftshistoriker Knut Borchardtpflichtet dieser These bei und hält daher dieWährungsreform für den „quasirevolutionärenGründungsakt“ der Bundesrepublik. 13 Ähnlich fälltdie Bewertung von Borchardts Schüler ChristophBuchheim aus, der als Schlussfolgerung seiner Forschungenfestgehalten hat, „dass die WährungsundBewirtschaftungsreform eine Schlüsselrollebei der Initiierung dynamischen Wirtschaftswachstumsin Westdeutschland gespielt hat“. 14Wenn man sich diesen Auffassungen anschließt,muss man <strong>Erhard</strong> bescheinigen, dass er in derGründungsgeschichte der Bundesrepublik einengewichtigen Part gespielt hat. Mit der von ihm inauguriertensowie parteiintern und in der Bevölkerungdurchgesetzten Wirtschaftsordnung hat ereinen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung derBundesrepublik geleistet. Im Prinzip gilt die vonihm verfolgte Wirtschaftspolitik bis heute. Die vonseinen Nachfolgern, vor allem von Karl Schiller vorgenommenenKorrekturen waren entweder nurzeitweise von Bedeutung oder haben Veränderungenherbeigeführt, die die Wirtschaftsordnung alssolche nicht verändert haben. Insofern ist <strong>Erhard</strong>unter den bisher zwölf amtierenden Bundeswirtschaftsministernals herausragend anzusehen. 11 Werner Abelshauser, Wirtschaft in Westdeutschland 1945–1948.Rekonstruktion und Wachstumsbedingungen in der amerikanischenund britischen Zone, Stuttgart 1975, Seiten 167–170.12 Zum Beispiel Bernd Klemm/Günter J. Trittel, Vor dem „Wirtschaftswunder“.Durchbruch zum Wachstum oder Lähmungskrise?Eine Auseinandersetzung mit Werner Abelshausers Interpretationender Wirtschaftsentwicklung 1945–1948, in: Vierteljahrshefte fürZeitgeschichte 35 (1987), Seite 613.13 Knut Borchardt, Die Bundesrepublik in den säkularen Trends derwirtschaftlichen Entwicklung, in: derselbe (Hrsg.), Wachstum, KrisenHandlungsspielräume in der Wirtschaftspolitik, Göttingen 1982,Seite 125.14 Christoph Buchheim, Die Währungsreform 1948 in Westdeutschland,in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 36 (1988), Seite 231.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)15


60 Jahre Soziale MarktwirtschaftJenaer Aufrufzur Erneuerung der Sozialen MarktwirtschaftIm Juni dieses Jahres ist es 60 Jahre her, dass die Wirtschafts- und Währungsreform die Grundlagen für die Soziale Marktwirtschaftlegte und Deutschland aus Ruinen auferstehen ließ. Damit begann eine bis dahin unvorstellbare Erfolgsgeschichte;die Soziale Marktwirtschaft gehört zu den international bekanntesten Markenzeichen. Ihre Überlegenheit erwiessich, als nach 1989 das DDR-Regime im „Wettbewerb der Systeme“ endgültig unterlag. Weder die sozialistische Ökonomieder Planwirtschaft noch das sozialistische Menschenbild und die entsprechende Ethik einer sogenannten sozialenGerechtigkeit waren in der Lage, Wohlstand und Freiheit der Menschen zu sichern. Alles Aufbieten staatlicher Gewaltkonnte die Menschen nicht daran hindern, nach Freiheit zu streben und ihren eigenen, nicht diktierten Interessen zufolgen. Die Soziale Marktwirtschaft wurde nach 1990 auf das frühere Gebiet der DDR übertragen; allerdings konntenviele Betriebe nicht die damit verbundenen finanziellen Lasten schultern. Darunter leiden die jungen Länder bis heute.Inzwischen droht das Fundament der Sozialen Marktwirtschaft generell wegzubrechen. Die sozialpolitische Bevormundungnimmt den Bürgern Freiheit und schwächt das wirtschaftliche und soziale Potenzial unseres Landes. Der JenaerAufruf will Bürgern und Politikern Mut machen, den Weg aus der sozialen Unmündigkeit zu wagen und unser Gemeinwesenwieder freiheitlich, sozial und gerecht zu gestalten. Der Aufruf geht von Jena aus, da Jena mit zwei Vätern der SozialenMarktwirtschaft – Geburtsstadt Walter Euckens und erste akademische Wirkungsstätte Wilhelm Röpkes – eng verbundenist.1. Das Menschenbild der Sozialen Marktwirtschaftberuht auf der abendländischchristlichenTradition„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zuachten und zu schützen ist Verpflichtung allerstaatlichen Gewalt.“ So beginnt unser Grundgesetz.Das deutsche Volk hat sich dieses Grundgesetzkraft seiner verfassungsgebenden Gewalt gegeben– „im Bewusstsein seiner Verantwortung vorGott und den Menschen“. Vor Gott sind alle Menschengleich. Die christliche und humanistisch-liberaleGesellschaftslehre betonen daher die Personalitätdes Menschen. Er darf weder Knetmassein den Händen kollektivistischer Gesellschaftsplanernoch ausbeutbares Subjekt ökonomischer Partikularinteressenund von Politikern sein, die Umverteilungbereits für eine tragfähige Sozialpolitikhalten. Der Mensch muss frei sein, damit er Verantwortungvor Gott und für sich selbst übernehmenkann. Zur Würde des Menschen gehört auch,dass er – soweit er dazu in der Lage ist – für seinenLebensunterhalt selbst aufkommen kann. Selbstachtungerwächst vor allem aus Arbeit und Beschäftigung.Eine Gemeinschaft ist mehr als die Ansammlungvon Individuen. Der Mensch als „soziales Wesen“ist durchaus bereit, Gemeinsinn in eine Gemeinschafteinzubringen. Ohne Gemeinsinn kann keineGesellschaft auf Dauer überleben. Die Doppelnaturdes Menschen – frei sein zu wollen, um sichbewähren zu können, und sich zugleich in einerGemeinschaft aufgehoben zu wissen und sich auchfür sie einzusetzen – ist die Grundlage der SozialenMarktwirtschaft. Freilich darf der Gemeinsinnnicht überfordert werden. Die Menschen fühlensich sonst ausgenutzt. Regelt in einer Gesellschaftder Staat immer mehr über kollektive Umverteilung,wird private Initiative erstickt. Der Gemeinsinnverkümmert.„Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch; das Maßdes Menschen ist sein Verhältnis zu Gott“ (WilhelmRöpke).16 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Jenaer Aufruf2. Der freie, durch eine Wettbewerbsordnunggesicherte Wettbewerb schafft„Wohlstand für alle“Eingebettet in einen demokratischen Rechtsstaatist die Soziale Marktwirtschaft die Gesellschaftsordnung,die dem christlichen Menschenbild undauch den Prinzipien der humanistisch-liberalenGesellschaftslehre entspricht. Das Streben nachGlück und individuellem Nutzen hat die Menschenseit jeher zu größerer Leistung angespornt.Gemäß der Sozialnatur des Menschen hat diesesStreben zu immer höheren Formen der Zusammenarbeitgeführt – bis hin zur hochkomplexenArbeitsteilung mit elektronischem Zahlungsverkehrauf globalen Märkten.Die so ausdifferenzierte Arbeitsteilung und Spezialisierungsowie der damit verbundene technischeFortschritt haben enorme Produktivitätssteigerungenermöglicht. Sie sind die entscheidendeGrundlage des Wohlstands für alle. Dazu bedarf esdes freien, von einem starken Staat gegen Machtkonzentrationengeschützten Wettbewerbs, alsodes freien Zugangs aller zum Markt, um Warenund Dienstleistungen anbieten zu können. DerMarkt ist das tägliche Plebiszit über den Dienst desUnternehmers am Kunden. Erfolg hat nur derUnternehmer, der den Bedürfnissen der Konsumentendient. Damit sind die Auswirkungen einermarktwirtschaftlichen Ordnung auch sozial.Dies gilt besonders für Familienbetriebe; die persönlichhaftenden Unternehmer fühlen sich ihrenMitarbeitern gegenüber in der Pflicht. Es zahltsich aus, dass sie über den Tag hinaus denken. Beilängerfristiger Perspektive identifizieren sich dieMitarbeiter mit ihrem Betrieb: Sie sind motivierterund damit auch produktiver. Sie entgelten gewissermaßendie Treue des Unternehmers zur Firmamit einer höheren Leistungsbereitschaft. Auch Politikmuss über den Tag hinaus denken und geradedie Belange der Eigentümerunternehmer und derFacharbeiter im Blick haben. Sie sind das Rückgratunserer Gesellschaft.„Wohlstand für alle und Wohlstand durch Wettbewerbgehören untrennbar zusammen; das erstePostulat kennzeichnet das Ziel, das zweite denWeg, der zu diesem Ziel führt“ (<strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>).3. Der Umverteilungsstaat istnicht die Soziale MarktwirtschaftAlfred Müller-Armack, der den Begriff „SozialeMarktwirtschaft“ prägte, verstand darunter dieVerbindung von Freiheit auf dem Markt mit sozialemAusgleich. Das ist keine beliebige Mischung,sondern eine ordnungspolitische Idee, die auf derBasis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiativemit einem gerade durch die marktwirtschaftlicheLeistung gesicherten sozialen Fortschritt verbindenwill. Daher muss ein System der sozialen Sicherungdem Prinzip der Marktkonformität entsprechen.Da der Markt über bewegliche Preisedie Dringlichkeit der Bedürfnisse und die Knappheitder Ressourcen signalisiert und so auch dieAnreize für Innovationen setzt – F. A. von HayeksFormel vom „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“–, zerstört Umverteilung gegen den Markt dieBasis, die den „Wohlstand für alle“ schafft.Im Rahmen einer marktkonformen Sozialpolitikentspricht es der personalen Würde jedes Menschen,dass er für die Erwirtschaftung seines Lebensunterhaltszunächst selbst- bzw. erst-verantwortlichist. Für den Einzelnen muss Raum bleiben,private Vorsorge zu treffen und Vermögen zubilden. Dies ist die entscheidende Voraussetzungfür eine Gesellschaftsordnung, in der der EinzelneVerantwortung übernimmt und sich auch für denNächsten verantwortlich fühlt. Wenn er nicht zurErwirtschaftung des notwendigen Einkommens inder Lage ist, tritt die Solidarpflicht der Gemeinschaftin Kraft. Dies sind zunächst Familien, kirchlicheEinrichtungen und andere Selbsthilfeorganisationen.Die gesamte Solidargemeinschaft ist fürdie Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimumseines jeden letzt-verantwortlich.Im Verhältnis von subsidiärer Erst-Verantwortungdes Einzelnen und solidarischer Letzt-Verantwortungder Gemeinschaft spielt die Erwerbsfähigkeitdes Einzelnen eine entscheidende Rolle. Die Solidarpflichtder Gemeinschaft gegenüber einem Erwerbsunfähigen,der sich wegen Behinderungoder Alter nicht selber helfen kann, ist eine andereals die gegenüber einem Erwerbsfähigen, dersich selber helfen kann und deswegen einer Selbsthilfepflichtunterliegt. Wir fordern die Politik auf,bei der Ausgestaltung der Sozialpolitik strikt zwischenam Leistungsprinzip orientierten und beitragsfinanziertenVersicherungsleistungen einerseitsund am Bedürftigkeitsprinzip ausgerichtetenund daher steuerfinanzierten Sozialleistungen andererseitszu unterscheiden.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)17


60 Jahre Soziale Marktwirtschaft„Wir fordern daher eine saubere, ja radikale Trennungder Reform der Sozialversicherung von allenMaßnahmen der Fürsorge und Versorgung. Eshandelt sich um zwei grundverschiedene Aufgaben,die daher auch verschiedener Behandlungbedürfen und verschiedenen Gesetzen unterstelltwerden müssen“ (Wilfried Schreiber).4. Mehr Freiheit auf dem Arbeitsmarktschafft mehr Arbeit und mehr ChancenSozial ist, was wettbewerbsfähige Arbeitsplätzeschafft. Wir brauchen Arbeitsplätze, damit unsereleistungsbereite Jugend nicht auswandern muss;wir brauchen Arbeitsplätze, um notwendige sozialeLeistungen finanzieren zu können; wir brauchenArbeitsplätze, um die Lasten von morgen –Rente, Pflege, Gesundheit – finanzieren zu können.Pro Arbeitsplatz müssen jetzt und in Zukunftgenügend Überschüsse erwirtschaftet werden, umdiesen Herausforderungen gerecht zu werden.Entscheidend sind die Produktivität und die Zahlder Arbeitsplätze. Die Umsetzung dieses Kerns derSozialen Marktwirtschaft ist eine soziale, politische,ja kulturelle Notwendigkeit. Sie erfordert dieAbkehr von vertrauten Verhaltensweisen undzwingt die Politik zu Rückbesinnung und Neuorientierung.Das Beruhigende ist, dass die Lösungdes Problems in unserer Hand liegt, das Beunruhigende,dass viele die Lösung für bedrohlicherals das Problem halten.Das deutsche Arbeitsmarktproblem besteht nachwie vor darin, dass der Arbeitsmarkt nicht alsMarkt, sondern als Objekt sozialpolitischer Betätigungangesehen wird. Wenn beispielsweise Arbeitsgerichteauf die Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmersabstellen, ohne die damit verbundenengesamtwirtschaftlichen Konsequenzen zu bedenken,sehen sie offenbar das Verhältnis von Arbeitnehmerund Arbeitgeber aus der „David gegenGoliath“-Perspektive; sie haben ein gutes Gewissen,wenn sie dem David zu einem Sieg über denvermeintlich übermächtigen Goliath verhelfen.Dass die Summe solcher Urteile die Finanzkraftund Anpassungsfähigkeit der Unternehmenschwächt und auch die Möglichkeit, sich im internationalenWettbewerb zu behaupten – daran denkensie zu selten.Ein existenzsicherndes Mindesteinkommen ist wesentlicherBestandteil der Sozialen Marktwirtschaft.Angesichts absehbarer finanzieller Herausforderungenan die sozialen Sicherungssysteme,offensichtlicher Fehlanreize und zunehmenderUnübersichtlichkeit ist es an der Zeit, neue Konzeptewie negative Einkommensteuer, „Flat tax“,„Solidarisches Bürgergeld“ und Grundeinkommenwissenschaftlich und politisch zu analysieren.Mindestlöhne werden sich gegen die Erwerbstätigenselbst richten, weil sie zu mehr Arbeitslosigkeitführen. Entscheidend für die Erhöhung des Arbeitseinkommenssind wirtschaftliches Wachstumund bessere Ausbildung.In der Schweiz wird der Arbeitsmarkt wie einMarkt behandelt. Die Konsequenz: Die Arbeitslosenquotebeträgt nur ein Drittel der deutschenQuote. Dabei ist die Erwerbsquote – sowohlbei Männern als auch bei Frauen – weitaushöher; auch ist die Lebensarbeitszeit deutlichlänger als bei uns. Man wird doch nicht sagenkönnen, dass die Deutschen dümmer oder faulerwären. Wir können uns nicht länger den Luxusleisten, gut ausgebildete Arbeitskräfte vorzeitigin Rente zu schicken. Wir fordern die Politikauf, die Gesetzmäßigkeiten des Arbeitsmarkteszu respektieren, damit Arbeitsplätze geschaffenund individueller wie gesellschaftlicherWohlstand vermehrt werden.„Wahrhaft frei als Persönlichkeit und wahrhaft freigegenüber dem Staat und seinen Einrichtungenist nur derjenige, der gewiss sein kann, kraft eigenerLeistung und eigener Arbeit bestehen zu können,ohne Schutz, aber auch ohne Behinderungdurch den Staat“ (<strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>).5. Das gesamte Begabungspotenzialausschöpfen – Den Menschen ChanceneröffnenUnsere Sozialleistungsquote ist eine der höchstenweltweit, doch versagt eine ausgeuferte Umverteilungspolitikin einem gesellschaftlich zentralenPunkt: Sie lähmt in weiten Teilen der Bevölkerungdas Streben, sich um sozialen Aufstieg zu bemühen.Das ist ein ernstes Krankheitssymptom unsererGesellschaft.Entscheidend für individuelles Wohlbefinden sinddie Ziele, die sich ein Mensch setzt, und die Befriedigungüber das Erreichen dieser Ziele. Dies ist einewesentliche Triebfeder für wirtschaftliche Dynamik.Politik muss zu eigener Initiative anregen unddamit zu mehr Selbstvertrauen beitragen. Unterden gegenwärtigen Umständen geschieht dasGegenteil. Leistungsmotivation wird gemindert,weil viele Menschen feststellen, dass sich eigenes Bemühenum Arbeit kaum oder nur wenig lohnt. Auf18 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Jenaer Aufrufder anderen Seite bewirkt eine solche Politik, diestets aus der Ertragskraft bestehender sozialpflichtigerArbeitsplätze schöpft, dass es immer schwierigerwird, sich durch eigene Leistung in die Gesellschafteinzubringen: Unternehmer bieten zu wenige Ausbildungsplätzean; die nach Erwerbstätigkeit strebendenjungen Menschen werden gegenüber denArbeitsplatzbesitzern systematisch diskriminiert,und die beruflichen Alternativen im Ausland sindgerade für die Jüngeren oft attraktiver.Die Politik muss sich vom rückwärts gewandtenVerständnis sozialer Gerechtigkeit – aus bestehendenArbeitsplätzen Mittel abzuschöpfen und umzuverteilen– verabschieden und auf eine vorwärtsgerichtete soziale Gerechtigkeit setzen. Hierunterverstehen wir die Eröffnung von Chancen währendder Ausbildungszeit und im Erwerbsleben.Hierzu gehört die Stärkung des Willens, geboteneChancen wahrzunehmen und dabei auch Durststreckendurchzustehen. Die Erziehung zu Freiheitund Eigenverantwortung und damit zur Bereitschaft,die Widrigkeiten des Lebens als Herausforderungzu sehen, beginnt in der Familie undsetzt sich in Schule und Weiterbildung fort. DieBereitschaft zu Freiheit und Eigenverantwortunghat wenig mit gesellschaftlicher Stellung, ererbtemVermögen sowie körperlichen und geistigen Gabenzu tun; sie ist der Wille jedes Einzelnen, sichden Herausforderungen des Lebens zu stellen.Die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts lehrtuns, in welche Richtung wir gehen müssen. Arbeiterbildungsvereinehaben geholfen, den sozialenAufstieg zu bewältigen. Prüfen wir die Epochenund Länder, wo ein solcher Aufstieg möglich war,dann lässt sich erkennen, woran es bei uns fehltoder wovon es bei uns zu viel, im Sinne des Abtötensvon individuellen Anreizen, gibt. Wir forderndie Politik auf, den Menschen wieder mehr Verantwortungfür den eigenen Lebensentwurf zu gebenund ihnen die Chance zu lassen, ihr Glück inunserem Lande zu machen.„Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich willdas Risiko meines Lebens selber tragen, ich will fürmein Schicksal selbst verantwortlich sein. SorgeDu, Staat, dafür, dass ich hierzu in der Lage bin“(<strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>).6. Die staatliche Ordnung muss die Elternstärken, ihrem Recht und ihrer Pflicht zurErziehung nachzukommenJeder Mensch ist darauf angewiesen, die Fähigkeitzur eigenständigen Erwirtschaftung des zum Lebennotwendigen Existenzminimums vermittelt zu bekommen.Dies ist ein Recht, ohne das er nicht seinerMenschenwürde gemäß leben kann. Das Rechtauf Bildung umfasst aber mehr als nur die Vermittlungvon Erwerbsfähigkeit. Es geht um die ganzheitlichePersönlichkeitsentwicklung des jungenMenschen und um seine Gewissens- und Herzensbildung.Ein einseitig ökonomisches Bildungsverständniswäre fatal, denn gerade in einer globalisiertenWirtschaft und einer pluralistischen Gesellschaftmuss es jungen Menschen ermöglicht werden,zu ganzheitlich – also auch religiös und kulturell– gebildeten Persönlichkeiten heranzureifenund ethisches Urteilsvermögen zu entwickeln.Dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend liegt dieErst-Verantwortung für Bildung und Erziehungder Kinder bei ihren Eltern. Entsprechend christlichemMenschenbild und Grundgesetz sind Bildungund Erziehung „das natürliche Recht der Elternund die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“(Artikel 6 Absatz 2 GG). Dem Solidaritätsprinzipgemäß ist dieses „Recht auf Bildung“ in die Letzt-Verantwortung der Gesamtgemeinschaft gestellt.Die staatliche Ordnung muss die Eltern stärken,ihrem Recht und ihrer Pflicht zur Erziehung nachzukommen.Die Einkommensbestandteile der Eltern, die diesezusätzlich zum existenzsichernden Unterhalt ihrerselbst und ihrer Kinder zur Sicherstellung undVerwirklichung des Rechts ihrer Kinder auf Bildungaufwenden, darf nicht vom Staat in Anspruchgenommen werden. Sie sind existenzsicherndeAufwendungen und als solche steuerfreizu stellen. Gleiches gilt für Einkommensbestandteile,die Erwachsene für ihre Fort- und Weiterbildungausgeben, um ihre Erwerbsfähigkeit zu sichernoder zu verbessern. Für die verschiedenenLebens- und Bildungsphasen sind entsprechendeSteuerfreibeträge zu gewähren.Wenn Eltern nicht in der Lage sind, die zur Verwirklichungder Rechte ihrer Kinder notwendigenMittel selber zu erwirtschaften, ist die Gesellschaftnach dem Solidaritätsprinzip verpflichtet, die fehlendenMittel bereitzustellen. Familien- und Bildungspolitiksowie deren Finanzierung müssen alsgesamtgesellschaftliche Aufgaben unbedingtePriorität erhalten.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)19


60 Jahre Soziale MarktwirtschaftZwischen dem Grundsatz der Erst-Verantwortung,für den eigenen Lebensunterhalt und den derKinder zunächst selber aufzukommen und entsprechenderwerbstätig zu sein, und dem Primatdes Elternrechtes, die Erziehung ihrer Kinderselbst zu übernehmen, bedarf es eines Ausgleichs.Entscheidendes Kriterium der Gewichtung von Erziehungsarbeitund Erwerbsarbeit ist das Kindeswohl.Die Entscheidungshoheit hierüber liegt beiden Eltern; der Gemeinschaft und dem Staat kommeneine unterstützende und da, wo Missbrauchund Vernachlässigung herrschen oder drohen, eineschützende Funktion zu. Flexibilität und Wahlfreiheitim betrieblichen Alltag müssen Eltern ermöglichen,auf individuelle Weise die Erziehungihrer Kinder mit Erwerbstätigkeit zu verbinden.Staatliche Ordnung, Gesellschaft und Wirtschaftmüssen familiengerecht gestaltet werden, nichtdie Familie arbeitsgerecht.Ein Kind, das am ersten Schultag nicht richtigDeutsch sprechen kann oder Schwierigkeiten hat,ganze Sätze zu formulieren, Probleme mit seinersozialen Kompetenz oder mit seiner Konzentrationsfähigkeithat, holt diese Defizite oft nichtmehr auf. Einen Ausbildungsplatz erreicht es vielleichtnoch, ein Studienplatz aber bleibt praktischunerreichbar. In der vorschulischen Erziehung bedarfes daher einer Akzentverschiebung weg vomBetreuen und Verwahren hin zum Bilden und Erziehen.Da bei den Eltern gemäß dem Subsidiaritätsprinzipdie Erst-Verantwortung für die Vermittlungvon Erziehung und Bildung liegt, haben siedas Recht, in Eigeninitiative und Eigenverantwortungdie Organisation dieser Bildung für ihre Kinderselbst in die Hand zu nehmen. Dies schließtdie Gründung und Unterhaltung entsprechenderBildungsinstitutionen ebenso ein wie die freieWahl, welche Bildungseinrichtungen die Kinderbesuchen sollen. Doch hat der Staat – in Deutschlandsind dies die Bundesländer – aufgrund derLetzt-Verantwortung das Recht und die Pflicht,Standards festzulegen und durchzusetzen.„Der Mensch ist von Natur aus ein Gemeinschaftswesen;die Verbundenheit mit seiner Familie undmit der Gruppe, in der und mit der er lebt, ist ihminstinktiv und angeboren, und die Kultur hat dieseVerbundenheit teils vertieft, teils auf weitere Solidaritätskreise– Großfamilie, Klan, Stamm, Volk,Nation – ausgedehnt“ (Alexander Rüstow).7. Eine an Stabilitätsregelnorientierte Geldpolitik ist sozialStabiles Geld sichert die sozialen Auswirkungen einerWettbewerbsordnung; minderwertiges Geldunterminiert sie. Wenn Menschen sparen, um fürNotfälle und für das Alter vorzusorgen, so vertrauensie auf die Stabilität des Geldes. Inflation zerstörtdieses Vertrauen und untergräbt die Glaubwürdigkeitdes Staates. Selbst eine Preissteigerungsratevon „nur“ zwei Prozent halbiert denWert von Geldvermögen nach 35 Jahren. StabilesGeld diszipliniert zudem die Politik, weil mangelndeAusgabendisziplin die Zinsen hoch treibt undUnternehmen von Investitionen in zukünftige Arbeitsplätzeabhält. Haushaltsdisziplin ihrerseits erleichtertder Zentralbank die schwierige Aufgabeeiner stabilitätsorientierten Geldmengenbemessung.Stabiles Geld und solide Finanzen sind zweiSeiten ein und derselben Medaille.Die Deutsche Bundesbank hat ihr Renommee inDeutschland und in der Welt durch ihren generellstabilitätsorientierten Kurs – oft gegen politischenWiderstand – erworben und gefestigt. Sie hat es indas System der Europäischen Zentralbanken eingebracht;Griechen, Italiener, Spanier, Iren… habenes in Form eines historisch niedrigen Zinsniveaus„geerbt“. Dieses Erbe ist stets durch politischenDruck bedroht. Deswegen betonen wir diestabilitätspolitische Verpflichtung der EuropäischenZentralbank (EZB). Langfristig ist dies auchwegen der davon ausgehenden Verlässlichkeit diebeste Beschäftigungspolitik. Um der Entstehungvon Blasen (Vermögenspreisinflation) entgegenzuwirken,empfehlen wir, der Geldmengenbemessungwieder stärkere Beachtung zu schenken.Überdies stärkt das die stabilitätspolitische Positionder EZB gegenüber politischem Druck.„Die Erfahrung zeigt, dass eine Währungsverfassung,die den Leitern der Geldpolitik freie Handlässt, diesen mehr zutraut, als ihnen im Allgemeinenzugetraut werden kann. Unkenntnis, Schwächegegenüber Interessentengruppen und der öffentlichenMeinung, falsche Theorien, alles dasbeeinflusst diese Leiter sehr zum Schaden der ihnenanvertrauten Aufgabe“ (Walter Eucken).8. Bei Globalisierung stehen die nationalenOrdnungspolitiken auf dem PrüfstandDer Zusammenbruch des Sowjetimperiums eröffneteeine neue Dimension des Freihandels als Vo -raussetzung für Globalisierung. Die damit verbun-20 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Jenaer Aufrufdene Arbeitsteilung mit entsprechend steigenderProduktivität fördert nicht nur den Wohlstand, erverbindet die Völker auch durch ein Netz gegenseitigenInteresses, das die Chance für Frieden vermehrt.Gerade der Exportweltmeister Deutschlandprofitiert von der Globalisierung. Oft hörtman: Weil die Globalisierung die Welt verändere,stünden auch die Konzepte auf dem Prüfstand, aufdenen Politik fuße.Das ist richtig. In einer globalen offenen Welt könnenUnternehmer und Erwerbstätige die Alternativenin anderen Ländern nutzen. Immer mehrjunge bestausgebildete Menschen machen davonGebrauch. Die Auffassung, dass bei Globalisierungdie nationale Politik an ihr Ende gekommen sei,weil die großen Unternehmen weltweit operierten,sie selbst aber auf die nationale Jurisdiktionbeschränkt sei, ist dagegen falsch. Die internationaleStandortkonkurrenz ist letztlich eine Bewertungder Ordnungspolitik in den jeweiligen Ländern.Die Regierungen haben ihr Regelsetzungsmonopolverloren. Das heißt aber nicht, dass sienun hilflos den Stürmen der Globalisierung ausgesetztwären.Die erhöhte Wettbewerbsintensität birgt Chancenund Risiken: Die Absatzmärkte vergrößern sich,die Produktivität steigt, doch nimmt auch der Konkurrenzdruckzu. Daher muss die Regierung dieRegulierungsintensität senken, damit Unternehmenauf globale Herausforderungen flexibel reagierenkönnen; sie muss betriebliche Kapitalbildungund so die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern,damit unsere gut ausgebildeten jungen Arbeitskräftenicht auswandern müssen; sie muss indie Ausbildung unserer weitgehend außerordentlichleistungsbereiten Jugend investieren, ummittels Innovationen der internationalen Konkurrenzimmer einen Schritt voraus zu sein. Wir müssenakzeptieren, dass sich der Wettbewerb in demMaße verschärft, wie die Entwicklungs- undSchwellenländer fähig werden, auf den internationalenMärkten als starke Wettbewerber aufzutreten.Ihre wachsende Kaufkraft macht sie zukünftigaber auch zu Nachfragern unserer Waren undDienstleistungen. So lassen sich für alle Wohlstandsgewinnerealisieren.„So bleibt der Welt nur übrig, zu der einzigen Lösungzurückzukehren, die es gibt, solange wir keinenWeltstaat besitzen ... der liberalen Lösung derechten Weltwirtschaft mit ihrem multilateralenCharakter“ (Wilhelm Röpke).9. Die Bewahrung der Schöpfung ist eingenuines Anliegen der Sozialen MarktwirtschaftUmweltschutz ist ein weltweites Problem. Deshalbist ein globaler Ansatz, wie er im Kyoto-Protokollversucht wird, richtig. Das sollte aber kein Land –gerade Deutschland nicht – davon abhalten, Vorreiterzu sein. Für die Väter der Sozialen Marktwirtschaftwar das harmonische Miteinander vonMensch und Natur, von Industrie und menschenwürdigerGestaltung der Umwelt ein zentrales Anliegen.Frühzeitig hat Walter Eucken auf die Notwendigkeitder Korrektur der betrieblichen Rechnungslegungaufmerksam gemacht, soweit sie diemit der landwirtschaftlichen und industriellenProduktion verbundenen Umweltschäden vernachlässige.Wenn Umweltverschmutzung als Marktversagenaufgefasst wird, wird der Eindruck erweckt, als seidie Marktwirtschaft schuld an dieser Misere unddas Heil müsse in staatlicher Regulierung gesuchtwerden. Das Gegenteil ist richtig: Die Umweltschädenentstehen, weil es keinen Markt gibt, auf demdie Marktgegenseite die Rechnung für die Verschmutzungder Umwelt präsentieren könnte. Esmüsste deswegen so etwas wie einen „Treuhänderder Natur“ geben, der diese Rechte gegenüberVerschmutzern wahrnähme. Welche Maßnahmendann infrage kämen – Emissionszertifikate, steuerlicheLösungen oder auch staatliche Auflagen –,muss entsprechend der jeweiligen Situation geprüftwerden.Hierbei darf das ökonomische und soziale Umfeldnicht aus dem Blickfeld geraten. Ein überzogenerUmweltschutz, der die internationale Konkurrenzfähigkeitdes Standortes schmälert, unterminiertdas Fundament, das Wohlstand, soziale Leistungenund auch die Mittel für den Umweltschutzsichert und bereitstellt. Gerade im Sinne des Umweltschutzesmuss auf ökonomische Effizienz gesetztwerden. Wir rufen daher die Politik auf, denWettbewerb als Entdeckungsverfahren zu nutzen,um passende Antworten auf umweltpolitische He -rausforderungen zu finden.„Der Staat sollte sich auf seine spezifischen Aufgabenfür die Setzung einer konkreten Umweltordnungbesinnen, … um die in einer permanentenDynamik begriffenen Kräfte von Wirtschaft undVerkehr in die Einheit einer sinnvollen Gesamtlebensformeinzugliedern“ (Alfred Müller-Armack).Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)21


60 Jahre Soziale Marktwirtschaft10. Was heute Not tut: Die Entlassung desBürgers aus der sozialen UnmündigkeitAus Sorge vor dem Verlust des Arbeitsplatzes odervor der beruflichen Zukunft ist die Flucht in dieArme des fürsorglichen Leviathan „Staat“ verführerisch,aber illusionär, weil er umfassendenSchutz vor den Fährnissen des Lebens nur vorgaukelnkann. Er bedient sich einer bestimmten Technik,wenn er seine paternalistische Fürsorge anbietet:Er verschleiert die damit verbundenen Kostenund überlässt weitgehend anderen die Aufgabe,die finanziellen Mittel beizubringen. Regierungenmüssen verpflichtet werden, die Bürgerüber die wahren Kosten der Sozialsysteme aufzuklären.Würden alle Lohnbestandteile, auch dieLohnnebenkosten, ausgezahlt und würden sämtlicheSteuern und Abgaben von den Bürgern selbstbestritten, spürten sie die gesamte Last und würdenfür Alternativen offen sein und sogar die Politikin Richtung Reformen drängen.Ein Teil der Abgaben wird in Form von Sachleistungen– insbesondere in der medizinischen Versorgung– an die Versicherten zurückgegeben. Dereinzelne Bürger erfährt dann gar nicht mehr, wiedas System funktioniert und wie teuer es in Wirklichkeitist. Vor zweihundert Jahren war in der gewerblichenWirtschaft das Deputatsystem üblich:Ein Teil des Lohns wurde als Sachleistung ausbezahlt– unter anderem, damit am Zahltag nicht derganze Lohn „verjubelt“ werden konnte. Dieses Systemwurde abgeschafft, weil es nicht in eine Gesellschaftmündiger Bürger passte. Dass aber heutedie Staatsbürger prozentual über weit wenigerfrei verfügen können als seinerzeit, gilt dagegenoffensichtlich nicht als anstößig, weil es jetzt derStaat macht. Aber Unmündigkeit bleibt Unmündigkeit,gleichgültig, wer dafür verantwortlich ist.Wir fordern die Politik auf, die Kosten der Sozialleistungssystemefür die Bürger transparent zu machenund ihnen nicht den Weg in die soziale Mündigkeitzu verbauen.Die Findigkeit der Menschen, die Leistungen kollektivfinanzierter Sozialsysteme auszuschöpfenund sie damit zum Einsturz zu bringen, wird beistärkerer Eigenverantwortung in eine Richtung gelenkt,in der die Nachhaltigkeit ins Zentrum rückt.Jetzt wirkt sich individuelle Kreativität zum Nutzenaller aus.„Es ist ungleich sinnvoller, alle einer Volkswirtschaftzur Verfügung stehenden Energien auf die Mehrungdes Ertrages der Volkswirtschaft zu richten,als sich in Kämpfen um die Distribution des Ertrageszu zermürben und sich dadurch von dem alleinfruchtbaren Weg der Steigerung des Sozialproduktesabdrängen zu lassen“ (<strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong>). 1 1 Die Autoren des Jenaer Aufrufs sind: Michael Borchard (Konrad-Adenauer-<strong>Stiftung</strong>), Uwe Cantner und Andreas Freytag (WirtschaftswissenschaftlicheFakultät der Universität Jena), NilsGoldschmidt und Michael Wohlgemuth (Walter Eucken Institut),Gerd Habermann (Die Familienunternehmer – ASU), Joachim Starbatty(Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft), Lars Vogel(<strong>Ludwig</strong>-<strong>Erhard</strong>-<strong>Stiftung</strong>), Martin Wilde (Bund Katholischer Unternehmer)und Joachim Zweynert (Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut/Wilhelm-Röpke-Institut).22 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Regulierung des Bankensektors:Freiwilliger Verhaltenskodexversus staatliche RegulierungDie teils dramatischen Verluste vieler Banken lassen Zweifel daran aufkommen, dass dieBankenaufsicht in ihrer bisherigen Form die Stabilität des Bankensektors gewährleisten kann.Diskutiert wird, ob in Zukunft mehr auf freiwillige Selbstkontrolle der Banken vertraut oderder Staat stärker in die Pflicht genommen werden soll.Selbstverpflichtung hat VorrangProf. Dr. Manfred WeberGeschäftsführender Vorstand des Bundesverbandes deutscher Banken „Freiwilliger Verhaltenskodex versus staatliche Regulierung“ – diese Themenstellunghat es in sich, denn sie ist mehrdeutig. Nähert man sich ihr zunächstauf der theoretischen Ebene und versteht man das „versus“ im Sinne eines„Entweder-oder“, wäre aus normativer Sicht eine Grundsatzentscheidungzu treffen: Soll das Verhalten von Wirtschaftssubjekten durch Kodizes reguliertwerden, die die Marktteilnehmer selbst entwickelt haben und freiwillig einhalten?Oder soll es stattdessen geregelt werden durch Gesetze, die der Staat erlassenhat und deren Einhaltung er überwacht?Ginge es um eine solche strenge Alternative, spräche viel dafür, der staatlichenRegulierung den Vorzug zu geben, schon allein aus Gründen der Vorsicht.Denn einmal angenommen, der Staat würde sich aus wichtigen Bereichen desWirtschaftslebens komplett heraushalten und auf jegliche Regelvorgaben verzichten:Das „Recht des Stärkeren“ würde schnell die Oberhand gewinnen. MitWohlstand und Wachstum, mit Freiheit und Wettbewerb, mit Fairness und verlässlichenRahmenbedingungen – kurz: mit den Grundzügen der SozialenMarktwirtschaft – wäre das nicht vereinbar. Der Markt kann seine positiven Wirkungennur dort entfalten, wo ein verbindlicher Ordnungsrahmen für alle Akteurebesteht und dem Handeln des Einzelnen sinnvolle Grenzen gesetzt werden.Ohne allgemein verbindliches Rahmenwerk, dessen Einhaltung der Staatkontrolliert und Zuwiderhandlungen gegebenenfalls sanktioniert, kann einGemeinwesen nicht funktionieren.Dass staatliche Regulierung sinnvoll und notwendig ist, steht somit außer Frage– für die Kreditwirtschaft gilt das allemal (siehe Kasten). Das „versus“ derThemenstellung ist deshalb eher als ein „im Verhältnis zu“ zu lesen: Wie sindfreiwillige Selbstregulierung und staatliche Regulierung in der Finanzwirtschaftsinnvoll auszutarieren? Sind hier die Gewichte richtig gesetzt, auch mitBlick auf künftige Herausforderungen? Wo gilt es eventuell gegenzusteuern?Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)23


Ordnungspolitische PositionenZu viel oder zu wenig Staat?Gerade die jüngsten Verwerfungen an den internationalen Finanzmärkten,ausgelöst durch die Hypotheken-Krise in den USA – die sogenannte Subprime-Krise –, haben wieder einmal die Frage aufgeworfen: Haben wir zu viel Marktund zu wenig Staat, zu viel Freiheit und zu wenige Regeln, sodass verantwortungslosemHandeln Tür und Tor geöffnet sind? Oder wird, genau umgekehrt,mit dem vorschnellen Ruf nach staatlicher Regulierung die Kraft des Wettbewerbsaufs Spiel gesetzt – und ist am Ende gerade dies verantwortungslos?Erweitert man den Blick auf die vergangenen Jahrzehnte, fällt auf, dass die Regulierungsdichtein der Finanzwirtschaft extrem zugenommen hat – ein „empirisches“Indiz dafür, dass eher Deregulierung und mehr Selbstregulierungangezeigt sein könnten. Tatsächlich hat Selbstregulierung vielfach gewichtigeVorteile: Freiwillige Verhaltenskodizes sorgen für große Nähe der Vorschriften zumMarkt und für hohe Akzeptanz. Kommt Selbstregulierung zum Tragen, werdendie Experten, die aus der Praxis mit den Anforderungen des Marktes vertrautsind, nicht bloß konsultiert, sondern sie sind unmittelbar „Produzenten“ derfreiwilligen Normen. Auch deshalb finden die im Wege der Selbstregulierung– eben selbst – gesetzten Normen Akzeptanz bei den Marktakteuren. Der Wirksamkeitvon Regeln kann das nur förderlich sein. Selbstregulierung bietet größere Flexibilität. Von der Wirtschaft selbst erlasseneund akzeptierte Regeln können vergleichsweise schnell etabliert werden– die Mühlen der Verwaltung und erst recht der Gesetzgebung mahlen,wenn auch teils aus guten Gründen, erheblich langsamer. Auch ist es einfacher,Normen bei Bedarf einmal zu ändern, zu ergänzen oder anzupassen. Selbstregulierung entlastet den Staat, der vielfach mit mehr Aufgaben betrautist, als er tatsächlich wirksam und effizient erfüllen kann.Selbstregulierung wirktSelbstregulierung ist kein Selbstzweck. Ihre Vorteile sind in der Praxis der Finanzmärkteumfangreich belegt. Erstes Beispiel: die Offenlegung von Unternehmensratingsim Rahmen von Basel II. Aufgrund der Neufassung der Eigenkapitalvorschriftenfür Banken durch Basel II hängt die Eigenkapitalunterlegungvon Krediten nunmehr stärker von der Bonität eines Kunden ab. Dashat Auswirkungen auf die – risikoorientierte – Höhe der Kreditkonditionen.Die Folge: Unternehmen und Banken müssen intensiver über das Rating kommunizieren.2006 hat die Kreditwirtschaft daher eine Selbstverpflichtungserklärungabgegeben. Sie sieht vor, dass jeder Firmenkunde ab einer Mindestkredithöhe,die nach Kundensegment variiert, gegen eine angemessene Vergütungeine Auskunft über sein Bonitätsrating erhalten kann. Diese Selbstverpflichtungführt zu einem adäquaten Interessenausgleich: Unternehmen könnenihr Rating und dessen Zustandekommen nachvollziehen, und den Kreditinstitutenbleiben im sensiblen Bereich der Risikoeinstufung von Kunden gesetzlicheVorgaben erspart.Zweites Beispiel: das „Girokonto für jedermann“. Mitte der 1990er Jahre eingeführt,soll es einerseits sicherstellen, dass jeder Bürger über ein Konto verfügenund so am bargeldlosen Zahlungsverkehr teilnehmen kann. Andererseitsist den berechtigten Anforderungen der Banken Rechnung zu tragen: Sie24 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Regulierung des BankensektorsStaatliche Regulierung in der KreditwirtschaftBanken werden vom Staat so stark reguliert wie kaum eine andere Branche. Dasdient zum einen dem Anleger- und Verbraucherschutz. Noch gewichtiger ist jedoch,dass der Kreditwirtschaft aufgrund ihrer Schlüsselrolle für die Gesamtwirtschaftbesondere Bedeutung zukommt. Banken – das ist eine ihrer Kernfunktionen– nehmen kurzfristige Einlagen wie Spargelder oder Giroeinlagenherein, um aus diesen Geldern langfristige Kredite an Unternehmen und Privatpersonenzu vergeben. Würden alle Einleger einer Bank im selben Moment ihreGelder zurückfordern – käme es also zu einem sogenannten „Bank Run“ –, müsstedie Bank Kredite kündigen, mit gravierenden negativen Folgen für die kreditfinanziertenInvestitionen der Realwirtschaft.Die Gefahr eines „Bank Run“ kann aufkommen, wenn der Eindruck entsteht, dassein Kreditinstitut Kreditausfälle, Wertberichtigungen oder Verluste in einem nichttragfähigen Maße verzeichnet. Mangels hinreichender Information kann der einzelneEinleger aber nicht beurteilen, ob dieser Eindruck zutrifft und tatsächlichgrundlegende Schwierigkeiten vorliegen. Im Extremfall kann eine solche Verunsicherungder Einleger einer einzelnen Bank auf andere Institute übergreifen, unddann droht ein gesamtwirtschaftlicher Schaden.Um derlei Risiken zu begrenzen, sind Banken einem umfassenden Regelwerkunterworfen, zu dem etwa Eigenkapitalunterlegungspflichten, Organisationsvorschriftenoder die Eignungskontrolle für Bankvorstände gehören. Für den Fall,dass dennoch eine Bank insolvent wird, hat die Kreditwirtschaft selbst Einlagenbzw.Institutssicherungssysteme geschaffen, die jedem Einleger faktisch dieRückzahlung seiner Gelder garantieren.Diese Kombination aus Risikovorsorge und Einlagensicherung schafft Vertrauenund hat sich in der Praxis bewährt – klarer Beleg dafür ist das deutsche Banken -system, das sich, ungeachtet der Schwierigkeiten einzelner Häuser, trotz derjüngsten Turbulenzen an den internationalen Finanzmärkten insgesamt als langfristigstabil erwiesen hat.müssen frei bleiben in der Gestaltung ihrer Produkte und haben Anspruch aufein Leistungsentgelt; zudem muss der ihnen entstehende Aufwand verhältnismäßigbleiben.1995 verabschiedeten die Spitzenverbände der Kreditwirtschaft die seitdem unverändertgeltende Empfehlung zum „Girokonto für jedermann“. Darin ist geregelt,dass jeder Verbraucher auf Wunsch ein Girokonto eingerichtet bekommt,das zumindest die Entgegennahme von Gutschriften, Barein- und -auszahlungensowie Überweisungen ermöglicht. Die Bereitschaft zur Kontoführungsoll unabhängig von Art und Höhe der Einkünfte oder von Eintragungenbei der SCHUFA sein; Überziehungen braucht das Kreditinstitut allerdingsnicht zu dulden. Außerdem greift die Empfehlung unter anderem dann nicht,wenn der Kunde bereits ein Girokonto hat oder die Kontoführung für das Kreditinstitutunzumutbar ist. Über die Umsetzung der Empfehlung hat dieBundesregierung in mehreren Berichten informiert. Und auch wenn das „Girokontofür jedermann“ immer wieder ein beliebter Gegenstand der verbrau-Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)25


Ordnungspolitische Positionencherpolitischen Debatte ist: Nach allem, was an Erfahrungen und belastbaremDatenmaterial vorliegt, hat sich die Empfehlung in der Praxis bewährt – das„Girokonto für jedermann“ ist ein Erfolg.Streit außergerichtlich lösen – den Staat entlastenDrittes Beispiel: die außergerichtliche Streitschlichtung durch den Ombudsmannder privaten Banken – ein Beispiel im Übrigen dafür, dass Selbstregulierungnicht auf die Regelsetzung begrenzt, sondern auch zur Regeldurchsetzunggeeignet ist. Wenn ein Kunde meint, durch das Verhalten seiner Bank zuUnrecht einen Nachteil erlitten zu haben, kann er den streitigen Fall dem neut -ralen, unabhängigen Ombudsmann der privaten Banken vorlegen. Der Ombudsmannholt bei zulässigen Beschwerden eine Stellungnahme der Bank ein.Schafft die Bank von sich aus keine Abhilfe, trifft er eine Entscheidung. DieserSchlichtungsspruch – und dies ist eine verbraucherfreundliche Besonderheitdes Systems – ist bei einem Streitwert bis 5 000 Euro für die Bank bindend –nicht aber für den Kunden: Er kann auch nach einem Schlichtungsspruch seinAnliegen vor Gericht weiterverfolgen.Das gesamte Verfahren hilft, Streit zwischen Banken und ihren Kunden – ohneRisiko für den Bankkunden – schneller und kostengünstiger beizulegen als imWege eines Gerichtsverfahrens. Die Zahlen sprechen für sich: Seit Gründungdes Systems 1992 hat der Ombudsmann der privaten Banken rund 8 500 Entscheidungenzugunsten der Kunden getroffen. Auch bei grenzüberschreitendenStreitfällen, in denen der Weg über die Gerichte besonders aufwendig undzeitraubend wäre, ist der Ombudsmann der privaten Banken – der dem europäischen„Consumer Complaints Network for Financial Services“ (FIN-Net) angeschlossenist – häufig die bessere Wahl: So kann ein Verbraucher, der sichüber eine ausländische Bank beschweren möchte, dies unkompliziert beimOmbudsmann seines eigenen Staates tun.Transparenz fördern – Vertrauen stärkenViertes Beispiel: der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK), den einedurch die Bundesregierung eingesetzte Kommission 2002 vorgelegt hat.Um das Vertrauen in die Unternehmensführung von Aktiengesellschaften zustärken, behandelt der Kodex vor allem die internationalen Kritikpunkte ander deutschen Unternehmensverfassung – darunter eine vermeintlich mangelhafteAusrichtung auf Aktionärsinteressen, die duale Unternehmensverfassungmit Vorstand und Aufsichtsrat oder die Frage der Unabhängigkeit deutscherAufsichtsräte.Der DCGK definiert Normen und Werte für verantwortungsvolles unternehmerischesHandeln und soll zugleich den Investoren und Aktionären einen Katalogzur Bewertung guter Unternehmensführung an die Hand geben. Auchwenn der Kodex von Empfehlungen und Anregungen geprägt ist, zeigt ernachhaltig Wirkung: Nach dem Aktiengesetz müssen börsennotierte Gesellschaftenjährlich erklären, inwieweit sie den Empfehlungen des Kodex entsprechenund wo – und warum – sie davon abweichen. Gerade die Pflicht, einesolche Entsprechenserklärung abzugeben, dient der Transparenz unternehmerischenHandelns, der Marktdisziplin und der Offenheit zwischen Unternehmenund Aktionären. Auch öffentlichen Unternehmen stünde ein entsprechenderRahmen für verantwortliches Handeln gut zu Gesicht – tatsächlichaber steht ein „Public Corporate Governance Kodex“ noch immer aus.26 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Ordnungspolitische Positionenzu setzen, denn sie können dabei im Erfolgsfall mehr gewinnen als im Verlustfallverlieren.Banken haben allein aufgrund ihrer Geschäftstätigkeit einen hohen Verschuldungsgrad,sodass ein Schutzbedürfnis der Sparer in besonderem Maße gegebenist. Dies allein rechtfertigt jedoch noch keine Regulierung, denn grundsätzlichhat jeder Sparer die Möglichkeit, sich selbst zu schützen. So könntenSparer – ähnlich wie die Banken in ihrer Rolle als Kreditgeber – Informationenüber die Bonität der Bank, der sie ihre Einlagen anvertrauen, einholen. Siekönnten weiterhin – wie in Kreditbeziehungen üblich – besondere Vertragsklauseln,sogenannte Covenants, vereinbaren, die die Möglichkeiten der Geschäftsführungzu Maßnahmen, die die Gläubiger schädigen, begrenzen.Eine Situation, in der die Sparer ihre Rolle als Kreditgeber in der Weise wahrnehmenwie Banken als Kreditgeber agieren, ist allerdings nur schwer vorstellbar:Vielen Bankkunden dürfte das Wissen um ökonomische Zusammenhängefehlen, das notwendig wäre, um die Bonität von Banken beurteilen zu könnenund komplexe Vertragsklauseln auszuhandeln. Da der Betrag, den ein einzelnerSparer anlegt, häufig relativ klein ist, hätte er zum einen nicht die Verhandlungsmacht,um mit der Bank Covenants zu vereinbaren. Zum anderen würde essich nicht lohnen, Zeit, Mühen und Kosten für die Informationsbeschaffung undVertragsverhandlungen aufzuwenden. Zudem kann die Überwachung einerBank an Trittbrettfahrer-Effekten scheitern, wenn jeder Einleger darauf spekuliert,von den Überwachungsaktivitäten anderer Einleger profitieren zu können,ohne sich dabei an den Kosten solcher Maßnahmen beteiligen zu müssen. Versuchtjeder Einleger, eine Trittbrettfahrer-Position einzunehmen, kommtschließlich keine Überwachung zustande. Andererseits wäre es aber auch nichtsinnvoll, wenn jeder Sparer die Überwachung der Bank selbst in die Handnimmt, denn dies bedeutet eine unnötige Vervielfachung von Kosten.Sinnvoll ist stattdessen, die Überwachung der Banken an eine zentrale Instanzzu delegieren. Hierdurch lassen sich Spezialisierungsvorteile nutzen und Kosteneinsparen. Leitlinie für die Tätigkeit einer solchen Instanz sollte sein, dieVorkehrungen, die Gläubiger zu ihrem Schutz normalerweise treffen, stellvertretendfür diese vorzunehmen. 1 Regulierungsvorschriften sollten somit einSubstitut für individuelle vertragliche Vereinbarungen sein, und sie sollten dasselbebezwecken wie Kreditvertragsklauseln: Der Bank als Kreditnehmer sollendie Möglichkeiten und Anreize genommen werden, Maßnahmen durchzuführen,die vor allem darauf abzielen, die Sparer als Gläubiger zu schädigen. Beieiner Regulierung in Stellvertretung für die Einleger geht es also nicht darum,eine Bankinsolvenz um jeden Preis zu verhindern. Vielmehr besteht das Zieldarin, Finanzierungsbeziehungen effizient zu gestalten.Detaillierte Vorschriften oder prinzipiengesteuerte Regulierung?Bei der Frage, wie die Regulierung ausgestaltet werden soll, lassen sich zweiprinzipielle Vorgehensweisen unterscheiden: Die Regulierung kann entwederauf detaillierten Vorschriften, die die Banken einzuhalten haben, beruhenoder aber auf konkret ausgearbeitete Regeln verzichten und stattdessen aufgrundlegenden Prinzipien basieren. In der Vergangenheit ist vorrangig der ersteWeg beschritten worden. Die Vorschriften über die Mindestausstattung anEigenkapital wurden im Zeitablauf immer umfangreicher und detaillierter.Dies war zum großen Teil ein Reflex auf die dynamische Entwicklung an den1 Vgl. Mathias Dewatripont/Jean Tirole, The Prudential Regulation of Banks, Cambridge Mass. 1993.30 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Regulierung des BankensektorsFinanzmärkten mit immer neuen und immer komplexeren Produkten, derenRisiken oftmals nur durch komplizierte Regeln erfasst werden konnten. Einebis ins kleinste Detail festgelegte Regulierung ermöglicht es, Regelüberschreitungenan Sanktionen zu koppeln. Dies schafft zum einen Rechtssicherheit,zum anderen kann sich hierdurch der Regulator von vornherein glaubwürdigan eine Sanktionsandrohung binden. Nachteil ist, dass Regeln, die für alle Bankengelten, niemals dem Einzelfall vollkommen gerecht werden. Darüber hi -naus hat die Bankenkrise deutlich gezeigt, dass jedes noch so komplexe RegelwerkLücken hat, die ausgenutzt werden können. Bislang ist im Zusammenhangmit den Beinahe-Zusammenbrüchen von Banken kein einziger Verstoßgegen aufsichtsrechtliche Regeln bekannt geworden, obwohl offensichtlich ist,dass einige Banken Risiken angehäuft haben, die sie nicht mehr beherrschenkonnten. So unmittelbar Sanktionen bei Regelverstößen greifen, so sehr ist dieBankenaufsicht zur Untätigkeit verdammt, solange die Regeln formal eingehaltenwerden.Eine stärker auf grundlegenden Prinzipien als auf detaillierten Regeln basierendeBankenaufsicht hat dagegen den Vorteil, dass flexible, auf den jeweiligenEinzelfall angepasste Maßnahmen ergriffen werden können. Die Banken -aufsicht erhält damit statt klarer Vorgaben erhebliche diskretionäre Spielräume.Fraglich ist, wie sichergestellt werden kann, dass diese Spielräume optimalgenutzt werden. Eine auf Prinzipien basierende Regulierung stellt hohe Anforderungenan die Mitarbeiter der Bankenaufsicht, denn sie müssen nichtmehr überprüfen, ob klar definierte Regeln eingehalten worden sind. Sie müssensich ein zuverlässiges Urteil darüber bilden können, ob die Risikosituationeiner Bank unbedenklich ist.Eine auf Prinzipien basierende Bankenaufsicht stellt auch hohe Anforderungenan die Integrität der Aufsichtsinstanz. Man stelle sich vor, die BaFin hättevor einem Jahr, als von der Bankenkrise noch keine Rede war, von der SachsenLBeine deutliche Reduktion ihres Engagements in Verbriefungspositionenverlangt. Hätten das Management und möglicherweise auch die Eigentümer,die an diesem Engagement bis dahin gut verdient haben, der BaFin nicht großenWiderstand entgegengesetzt? Hätte man nicht auf das erstklassige Ratingder meisten Verbriefungspositionen hingewiesen? Hätte man der BaFin nichtWettbewerbsverzerrung vorgeworfen, wenn die Wettbewerber am Markt ihreEngagements hätten stehen lassen können? In einer solchen Situation unpopuläreEntscheidungen durchzustehen, verlangt vor allem fachliche Kompetenzund Unabhängigkeit.Staatliche oder private Bankenaufsicht?Damit ist die Frage aufgeworfen, durch wen die Bankenregulierung ausgeübtwerden soll. Muss dies eine staatliche Instanz sein, oder kommt hierfür auch eineInstitution infrage, die von den Banken selbst getragen wird? Ein gelungenesBeispiel für eine privatwirtschaftliche Lösung von Aufgaben im Rahmender Bankenregulierung ist die Einlagensicherung. Die Einlagensicherungssystemeder verschiedenen Bankengruppen werden von staatlich unabhängigenInstanzen organisiert. Bei den privaten Banken ist dies neben der Entschädigungseinrichtungdeutscher Banken, die für die gesetzlich vorgeschriebeneMindestentschädigung einsteht, der Einlagensicherungsfonds. Die Mitgliedschaftim Einlagensicherungsfonds, der die Einlagen der Sparer faktisch vollständigabsichert, ist freiwillig. Voraussetzung für eine Mitgliedschaft ist nebender Zahlung von Beiträgen, dass eine Bank sich freiwillig Prüfungen und eventuelldaraus folgenden Auflagen unterwirft. Weigert sich eine Bank, droht ihrOrientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)31


Ordnungspolitische Positionender Ausschluss, wie dies dem im Jahr 2006 insolvent gewordenen BankhausReithinger widerfahren ist.Kann die Organisation der Einlagensicherung als Modellfall auf andere Regulierungsbereicheübertragen werden? Ist es zweckmäßig, die Regulierung durcheine staatliche Aufsichtsbehörde zumindest in Teilbereichen durch eine freiwilligeSelbstverpflichtung der Banken, das heißt durch einen freiwilligen Verhaltenskodexzu ersetzen? Für diese Möglichkeit spricht, dass die Kreditinstituteimmer versuchen werden, bankenaufsichtsrechtliche Vorschriften, die als einengendempfunden werden, zu umgehen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass dieLiquiditätszusagen der IKB an ihre Investmentvehikel – Zweckgesellschaften,die Forderungen ankaufen und sich durch die Ausgabe von Wertpapieren refinanzieren– überwiegend Laufzeiten von weniger als einem Jahr haben. Durchdiese Konstruktion brauchten die Liquiditätszusagen überhaupt nicht mit Eigenmittelnunterlegt werden.Mit Verbriefungstransaktionen wurde häufig das Ziel verfolgt, die Eigenmittelunterlegungvon Kreditrisiken zu umgehen. Da die Höhe der Eigenmittelunterlegungbis zur Einführung von Basel II hauptsächlich vom Kreditvolumenabhing, konnte regulatorisches Eigenkapital eingespart werden, indem dasKreditvolumen, nicht aber die damit verbundenen Ausfallrisiken ausplatziertwurden. Durch Basel II wurden diese Lücken geschlossen. Damit ist aber nichtgarantiert, dass in Zukunft nicht andere Umgehungsmöglichkeiten gefundenwerden. Jeglicher Versuch, durch immer komplexere Regulierungsvorschriftenein „wasserdichtes“ Regelwerk schaffen zu wollen, ist von vornherein zumScheitern verurteilt. Im Gegenteil: Hierdurch wird der trügerische Eindruckerweckt, durch hinreichend detaillierte Vorschriften Sicherheit schaffen zukönnen. Insofern ist die Forderung, komplexe Detailvorschriften durch eineprinzipienbasierte Regulierung zu ersetzen, berechtigt.Ob ein freiwilliger Verhaltenskodex mehr Sicherheit schafft, ist allerdings zweifelhaft.Die Erfahrungen mit dem Corporate Governance Kodex sind eher ernüchternd.Zahlreiche Unternehmen ignorieren zentrale Forderungen desKodex, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, da es sich um eine freiwilligeVereinbarung handelt. Ebenso wäre zu befürchten, dass auch einige Banken einenfreiwilligen Verhaltenskodex ignorieren, wenn dies folgenlos bleibt. Auchdas Argument, dass die Banken selbst an einer verantwortungsvollen Risikopolitikinteressiert seien, da sie in erster Linie von Verlusten betroffen sind, vermagnicht zu überzeugen. Da die Eigenkapitalquote der Banken gering ist, erleidenauch die Gläubiger Verluste, und die Erfahrung lehrt, dass häufig derStaat mit erheblichen Mitteln einspringen muss. Hinzu kommt, dass die Bankmanager,die letztlich die Unternehmenspolitik bestimmen, persönlich kaumvon den Verlusten betroffen sind.Insofern ist nicht zu erwarten, dass die Insolvenz ein Sanktionsmechanismusist, der Bankmanager von einer zu risikoreichen Geschäftsstrategie abhält. Danur staatliche Instanzen hinreichendes Sanktionspotenzial haben, wird manauf eine staatliche Mitwirkung an der Bankenaufsicht nicht verzichten können.In Betracht kommt, die staatliche Bankenaufsicht durch einen freiwilligen Verhaltenskodexder Banken zu ergänzen. Ein solcher Kodex sollte die Grundprinzipieneiner verantwortungsvollen Risikopolitik sowie die Mindestanforderungenan die Transparenz enthalten. Eine verbindliche Erklärung der Banken,diesen Kodex einzuhalten, könnte dabei helfen, verloren gegangenes Vertrauenwieder zurückzugewinnen. Hierdurch könnte ein solcher Verhaltenskodexeinen nützlichen Beitrag zur Stabilität des Bankensystems leisten. Diestaatliche Bankenaufsicht wird er nicht ersetzen können. 32 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Markt- oder Politikversagenim internationalen Finanzsystem?Prof. Dr. Uwe JensVorsitzender des Instituts für beratende Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, BochumÖkonomen sind sich einig, dass in einer sich selbst überlassenen Marktwirtschaft die Marktteilnehmer nach Macht strebenund zu verantwortungslosem Handeln neigen. Erst die Aufstellung einer Wettbewerbsordnung macht das marktwirtschaftlicheSystem gesellschaftlich akzeptabel. Die Missachtung dieser Ordnung, zu der auch Haftungsregeln gehören, hatzur Krise auf den internationalen Finanzmärkten beigetragen.Was viele zwischenmenschliche Beziehungenprägt, machen Vertreter aus Politik und Wirtschaftbeispielhaft vor. Wenn es um die Übernahme vonVerantwortung geht: Schuld haben immer die anderen!Schuld an der Subprime-Krise – der USamerikanischenHypothekenkrise, die sich mittlerweilezu einer internationalen Finanzkrise ausgeweitethat – ist der Markt, konstatiert BundesfinanzministerPeer Steinbrück. Bei den Marktteilnehmernhätte „die Gier das Hirn ausgeschaltet“, unddie Bestrafung durch den Markt funktionierenicht. Er fügt hinzu: „Der Markt hat uns die Suppeeingebrockt, jetzt muss die Politik sie auslöffeln.“In der Tat ist in einigen öffentlichen Landesbanken(WestLB, SachsenLB, BayernLB und LBBW)besonders hoher Abschreibungsbedarf durch dieFinanzkrise angefallen, aber gerade diese Bankensind mit der Politik eng verbunden. In erster Liniewaren es Politiker, die etwa die privatrechtlich organisierteIKB Deutsche Industriebank vor einemKonkurs gerettet haben. Ohne politische Interventionhätte diese Bank nach marktwirtschaftlichenRegeln Konkurs anmelden müssen.Der US-Ökonom Alan Meltzer vertritt die These,dass die Hauptverantwortung für das Desaster amUS-amerikanischen Hypothekenmarkt bei der FederalReserve – dem Zentralbank-System der VereinigtenStaaten – unter Alan Greenspan liegt, derdie Finanzmärkte nach dem Platzen der New-Economy-BlaseAnfang dieses Jahrzehnts mit „billigemGeld“ überschwemmt hat. 1 Der Frankfurter ÖkonomStefan Gerlach ist der Meinung, dass die Geldpolitikim Allgemeinen nicht machtlos gegenüber„tierischen Instinkten“ von Anlegern ist. 2 Die Frage1 Vgl. Alan Meltzer, Interview in: Handelsblatt vom 4. April 2008; vgl.auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichenEntwicklung, Jahresgutachten 2007/08, Seiten 89 ff.drängt sich also geradezu auf, ob es sich bei der Krisedes internationalen Finanzsystems um ein Versagender Märkte oder aber der Politik handelt.Marktversagen bei öffentlichen GüternDie neoklassische Theorie geht davon aus, dasssich die Nachfrager und Anbieter auf den Märkteneigennützig und zweckrational verhalten. Die Allokation,also der Einsatz der knappen Ressourcenin der Produktion, und die Verteilung der produziertenGüter erfolgen demnach auf funktionsfähigenMärkten optimal. Das führt automatischzum gesamtwirtschaftlichen Optimum. Die Märkteversagen jedoch bei ihrer Allokationsaufgabe,wenn die individuelle Rationalität nicht automatischzur gesamtwirtschaftlichen Rationalität führt.Die Ursachen hierfür können beim einzelnenMarktteilnehmer, in unzureichenden Eigentumsrechtenoder in den Spielregeln des Marktgeschehensliegen.Bei einem öffentlichen Gut kann niemand vomKonsum des Gutes ausgeschlossen werden; außerdemrivalisieren die Wirtschaftssubjekte nicht umden Konsum. Ein Beispiel hierfür ist die „gesundeLuft“: Jedem steht sie zur Verfügung, und keinerist von der Nutzung abzuhalten. Deshalb wird dieseswertvolle Gut vom Einzelnen zu gering geschätzt.Jeder glaubt zudem, die wenigen Auspuffgaseseines Autos spielten keine Rolle und seinkleiner Beitrag zur Luftverschmutzung sei nichtentscheidend. Das ist die Position der sogenanntenTrittbrettfahrer: Sie wollen gesunde Luft, abersind nicht bereit, dazu beizutragen, und schon garnicht, dafür zu bezahlen. Ein Markt mit Angebot2 Vgl. Stefan Gerlach, Die EZB macht ihre Sache gut, in: FrankfurterAllgemeine Zeitung vom 12. April 2008.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)33


Probleme der Wirtschaftsordnungund Nachfrage kommt hier nicht zustande, weildie Politik keine eindeutigen Eigentumsrechteund damit keine klaren Verantwortungsbereichegeschaffen hat.Nur bei privaten Gütern, bei denen es Rivalität imKonsum gibt und Einzelne vom Konsum durch diePreisgestaltung ausgeschlossen werden können,werden auf dem funktionsfähigen Markt optimaleErgebnisse erzielt. Es kommt folglich auf die Artder Güter und Dienstleistungen an, die gehandeltoder verteilt werden, ob der Markt ein optimalesAllokationsinstrument ist. Geld und Finanzdienstleistungen,die auf den Finanzmärkten „gehandelt“werden, sind zweifellos „besondere Waren“,die knapp gehalten werden müssen, um nicht ihreWertschätzung bei den „Konsumenten“ zu verlieren.In den ersten Jahren dieses Jahrzehnts, unmittelbarnach dem Platzen der New-Economy-Blase, war das Geld in den USA (und vorher in Japan)allerdings so „billig“ gemacht worden – derRealzins ist negativ –, dass es nahezu den Charaktereines öffentlichen Gutes angenommen hatte.Es kam deshalb zu Marktversagen, das allerdingsdurch Politikversagen – Politik des billigen Geldesder Federal Reserve – verursacht wurde.Marktversagen aufgrundunzureichender InformationenInformationsasymmetrien liegen vor, wenn die vertragsrelevantenInformationen zwischen denMarktteilnehmern ungleich verteilt sind. Manspricht vom „moral-hazard“-Problem, wenn eineMarktseite nach Vertragsabschluss Fakten zulastender Marktgegenseite verändern kann, ohne dassdies für die andere Marktseite erkennbar ist. Imgewissen Sinne war dies bei der Vergabe und Aufnahmevon Hypothekendarlehen für Immobiliender Fall. Die Banken hatten die Hypothekenzinsenschneller als von den Hypothekennehmern erwartetaufgrund der vereinbarten Flexibilität heraufgesetzt.Die Bauherren oder Immobilienkäuferhatten ihre wahre Einkommenssituation gegen -über den Banken nie wirklich offen legen müssen.So kam es zur „adverse selection“: Durch die Unkenntnisauf beiden Seiten über die wahren Gegebenheitenwurden „gute“ Hypothekendarlehendurch die ständige Zunahme von Darlehen mit„schlechter“ Qualität (subprime) verdrängt. Insofernhat die Subprime-Hypothekenkrise etwas mitasymmetrischer Informationsverteilung zu tun,und man kann auch aus diesem Grund von Marktversagensprechen.Diese Art von Marktversagen kann durch sogenanntesScreening ausgeglichen werden. 3 Das istnicht im erforderlichen Ausmaß geschehen. BeimScreening holt sich die benachteiligte Marktseite,hier die Hypothekengeber, ausreichende Informationenüber die Hypothekennehmer ein, um dieGefahr von „moral hazard“ zu umgehen. Die ungeprüftenund schlechten Risiken auf dem Sub -prime-Hypothekenmarkt sind aber vielmehr zuundurchsichtigen Finanzinnovationen gebündeltund an die renditeversessenen Banken und Finanzmarktakteurein der ganzen Welt weiterverkauftworden. Hier liegt ein Teil des Skandals: USamerikanischeBanken haben die Kreditnehmernicht ausreichend geprüft und die Kredite nichthinreichend mit Eigenkapital unterlegt. Die wenigen„marktbeherrschenden“ Rating-Agenturenhaben außerdem die Papiere nicht ausreichendgeprüft und ihnen fälschlicherweise gute Bonitätenzugesprochen.Auf Märkten mit asymmetrischer Informationkann auch durch Signalling die Schwäche beseitigtwerden. Darunter versteht man, dass die informierteSeite der benachteiligten Marktgegenseitefreiwillig vertragsrelevante Informationen zur Verfügungstellt. Auf den vorliegenden Fall bezogenhieße es, dass die Hypothekennehmer den Bankenbei Vertragsabschluss hätten signalisierenmüssen, dass sie im Falle steigender Hypothekenzinsennicht in der Lage sind, ihre Verpflichtungenzur Zahlung von Zins und Tilgung zu erfüllen– eine vermutlich zweifelhafte Annahme gegen -über den ebenfalls eigennützig handelnden Hypothekennehmern.Die asymmetrische Informationsverteilung ist sicherlichdurch die problematische Bündelungund Verbriefung der „schlechten“ Hypothekendarlehenzusätzlich bis zum Exzess weiter getriebenworden. Diese Praxis wird im Bankensektorgern beschönigend als die Einführung von Finanzinnovationenbezeichnet. In Wirklichkeit stecktdahinter der Versuch, Risiken zu verschleiern, diePapiere handelbar zu machen und die Kreditschöpfungsfähigkeitdes gesamten Bankensektorszu steigern. Die Kreditschöpfungsmöglichkeithängt aber bisher weitgehend von der Überschussliquiditätder Kreditinstitute und vom Mindestreservesatzder Zentralbanken ab. Durch dieVerbriefung und Handelbarkeit der Subprime-Hypothekendarlehenwurde die Überschussliquidität3 Vgl. Josef E. Stiglitz/A. M. Weiss, Credit Rationing in Markets withImperfect Information, in: American Economic Review 1981, Seiten393 ff., vor allem Seite 395.34 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Internationale Finanzmarktkriseim Bankensektor zusätzlich gesteigert. Zunächstwurde die Unterlegungspflicht mit Eigenkapitalgeschickt verschleiert, und außerdem wurde diesowieso extrem niedrige Verpflichtung zur Mindestreservehaltung(bis zwei Prozent) umgangen.Einige Regierungen von Ländern mit einem starkenFinanzsektor – vor allem die Vereinigten Staatenund Großbritannien – haben auf diesem Feldeschon seit längerer Zeit eine Geldpolitik verfolgt,die weitgehend den Interessen der Kreditwirtschaftentsprach.Dass es nicht zur optimalen Allokation der Produktionsfaktorenkommt, ist für monopolistischeund oligopolistische Märkte bekannt. In diesenFällen, in denen es keinen funktionsfähigen Wettbewerbgibt, liegt der Preis für das angebotene Gutdeutlich höher als die Grenzkosten der Anbieter.Je höher der Konzentrationsgrad auf dem Marktist, umso mehr erhöhen sich die Gewinne der Anbietereinerseits und die „Einkommensverluste“der Verbraucher andererseits. Auch hier ist derStaat durch seine Wettbewerbspolitik gefordert,das mögliche Marktversagen aufgrund der politischherbeigeführten Marktbedingungen so geringwie möglich zu halten. Zwar gibt es auf jedemMarkt Konzentrationstendenzen und einen Trendzur Monopolisierung, aber auf dem Bankenmarkt,sowohl in Deutschland als auch in den VereinigtenStaaten, gibt es zumindest eine ausreichende Vielzahlvon Anbietern und Nachfragern. Dass hierdie Preisbildung, in diesem Fall die Bildung derZinsen insbesondere für gewährte Kredite, einemfunktionsfähigen Wettbewerb unterliegt, kann bezweifeltwerden.Politikversagen aufgrundfragwürdiger staatlicher EingriffeAls Gegenstück des Marktversagens ist in den Wirtschaftswissenschaftender Begriff des Politik- oderStaatsversagens eingeführt worden. Hier geht mandavon aus, dass sich der Staat längst nicht mehram Gemeinwohl orientiert. Vielmehr verfolgendie an der Macht befindlichen Entscheidungsträgerebenso wie Privatpersonen und Unternehmeneigennützige Ziele, die allerdings in der Öffentlichkeitals am Gemeinwohl orientiert dargestelltwerden.Der Staat kann zur Erfüllung seiner Aufgabennicht die gleichen Anreize setzen wie privateUnternehmer. Der „Manager“ eines staatlichenUnternehmens handelt nicht gewinnorientiert.Sein Einkommen ist durch politische Entscheidungenfestgelegt, und er hat dementsprechendnicht den gleichen Anreiz zur Risikominimierungund Kostensenkung wie ein privater Unternehmer.Er weiß, dass er nicht in Konkurs gehen kann,weil ihn der Staat – besser: die Allgemeinheit – immerauffängt. Dementsprechend ist sein Verhaltenbei risikoreichen Geschäften. Mehr als das privateist das staatliche Unternehmen von politischenInteressen beeinflusst, und er wird mehr oder wenigerauf wahltaktische, kurzfristige Überlegungender Politik Rücksicht nehmen müssen. Man wirdbehaupten können, dass die öffentlich-rechtlichenLandesbanken die internationale Finanzkrise wesentlichschlechter gemeistert haben als die vergleichbarenPrivatbanken. Man kann deshalb beiden Landesbanken von Politikversagen sprechen.Im engeren Sinne werden unter Politik- oderStaatsversagen die zahlreichen staatlichen Eingriffein den Markt verstanden, die zu suboptimalenErgebnissen des Marktgeschehens führen. Wennpolitische Interventionen den Marktmechanismusstärken, ist dagegen nichts einzuwenden. Dass dieseEingriffe des Staates erforderlich sind, wenn eszum Marktversagen kommt, ist nicht umstritten.Bei den meisten staatlichen Interventionen ist dasjedoch nicht der Fall. Die Politiker glauben in letzterZeit, immer stärker in den Wirtschaftsprozesseingreifen zu müssen. Eingriffe aufgrund politischerVorstellungen, wie für eine zukunftsorientierteEnergie-, Umwelt-, Industrie- und auch Geldpolitiksind aber höchst problematisch. Diese Eingriffeführen meistens zu Ineffizienzen in der Produktionund Verteilung von Gütern und damitletztendlich zur schlechteren Bedürfnisbefriedigungder Verbraucher.Zu den problematischen Eingriffen müssen sicherlichdie kurzfristigen und insgesamt erheblichenZinssenkungen der US-amerikanischen FederalReserve gerechnet werden. Mit dieser Politikwurde den Privatbanken „billiges Geld“ zur Verfügunggestellt, das nicht mehr rentabel angelegtwerden konnte. Es wurde nur noch innerhalb desFinanzsystems nach Verwendungsmöglichkeitenfür diese „billige“ Liquidität gesucht. 4 Insofernführte diese Politik zwingend zu Situationen, indenen Ineffizienzen vorprogrammiert waren.4 Vgl. Gunnar Heinsohn, Die Verführung zur globalen Zockerei, in:Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. April 2008, Seite 15.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)35


Probleme der WirtschaftsordnungVerstöße gegen diePrinzipien der MarktwirtschaftWie wären staatliche Interventionen, die langfristigmehr schaden als nützen, zu vermeiden oderwenigstens zu verringern? Generell gilt, dass einebessere Orientierung der Politiker an den Grundsätzender marktwirtschaftlichen Ordnung dieseSchäden vermindern könnte. Am prägnantestensind die Grundsätze bei Walter Eucken nachzulesen,5 und die Politiker müssten sie kennen und alsRichtschnur ihres wirtschaftspolitischen Handelnsansehen. Im vorliegenden Fall sind besonders folgendePrinzipien missachtet worden: Wirtschaftspolitische Maßnahmen sind immerdarauf zu richten, funktionsfähigen Wettbewerbauf allen Märkten zu etablieren. Wer das Wettbewerbsprinzipin der Wirtschaft infrage stellt, willden „Primat der Politik“ für alle Bereiche und einedirigistische Wirtschaftsordnung errichten. Privateigentum an den Produktionsmitteln gehörtzwingend zur Wettbewerbsordnung. Aber nurim Rahmen einer funktionierenden Wettbewerbsordnunggilt, dass Privateigentum nicht nur demEigentümer, sondern auch den Verbrauchern Nutzenbringen wird. Unternehmen in Staatshand –wie die Landesbanken – sind Fremdkörper derWettbewerbsordnung, die nur akzeptiert werdenkönnen, wenn sie sich ohne Privilegien in denWettbewerb einreihen. „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schadentragen.“ 6 Gegen diese Haftungsregel ist auf verschiedeneWeise verstoßen worden. Zum einen werdendie verantwortlichen Manager nicht im Ausmaß ihrerMitverantwortung für Verluste ihrer Banken zurRechenschaft gezogen; zum anderen scheint geradeim Bankenbereich selbst für die kleinste Bank dasPrinzip „too big to fail“ zu gelten. Deshalb wurde diestaatliche Rettung der IKB in Deutschland oder vonBear Stearns in den USA aus dem Bankensektor nieinfrage gestellt. In dieser Beziehung herrscht Solidaritätunter den konkurrierenden Kreditinstituten:Jedes weiß, dass es selbst einmal in eine Schieflagegeraten könnte, und dann möchte es auch nichtvom Staat im Stich gelassen werden.Die Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublikhat nie vollständig den von Eucken formuliertenPrinzipien entsprochen. Während aber nach dem5 Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Hamburg 1959,Seiten 160 ff.6 Walter Eucken, a. a. O., Seite 172.Krieg beim Aufbau der Sozialen Marktwirtschaftdiese Kriterien im Fokus jeder wirtschaftspolitischenAuseinandersetzung standen, sind sie heutekaum allen aktiven Wirtschaftspolitikern bekannt.Sie orientieren sich nicht mehr an Prinzipien, sondernhaben vor allem die nächste Wahl im Blick.Bei der Ausrichtung der Politik am eigenen Vorteilwerden „Tür und Tor“ für die Vorstellungen undWünsche von Lobbyisten geöffnet. Der Einfluss einerInteressengruppe auf die Politik ist umso intensiver,je mehr sie sich von der Politik verspricht.So haben auch Banken und Sparkassen, das KreditundVersicherungswesen insgesamt, eine kräftigeund weit verzweigte politische Lobby in Berlin etab -liert. In allen marktwirtschaftlich orientierten Parteiengibt es Politiker, die direkt oder indirekt mitBanken, Sparkassen und Versicherungen verbundensind. In Frankfurt am Main sitzen Kont rolleure,wie die Bundesbank und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen,sowie Kontrollierte gewissermaßenunmittelbar nebeneinander und führen aufallen Ebenen Gespräche miteinander. Diese Möglichkeitender Einflussnahme zeigen Wirkungen inder Politik zugunsten von Banken und Versicherungen,wahrscheinlich in den Vereinigten Staatennoch mehr als in Deutschland und Europa. 7Eher Politik- als MarktversagenDie Finanzmärkte waren und sind keine „Monster“und auch keine Plätze, auf denen vor allem „Heuschrecken“agieren. Vorstellbar sind eine Fülle vonMaßnahmen, um die eingetretenen Verkrustungenauf den Märkten wieder abzubauen. Hier sollennur wenige Anregungen vorgetragen werden: Im Falle der US-amerikanischen Finanzkrisehat es die Federal Reserve versäumt, frühzeitig diedubiosen Praktiken bei der Vergabe von riskantenHypotheken zu unterbinden. Derartige Marktexzessehätten durch eine effektivere Finanzaufsichtschnell beendet werden müssen. Finanzinnovationen wären in Zukunft unbedingtentsprechend ihren Risiken mit Eigenkapitalder Banken zu unterlegen, wie es bei anderen Kreditgewährungengeregelt ist. Deshalb müsste gegebenenfallsdas Basel-II-Abkommen ergänzt werden. Im Zuge neuer Regelungen müssten neueTransparenzgebote über sogenannte strukturierte7 Vgl. Helmut Schlesinger, Kritik an der Geldpolitik, in: FrankfurterAllgemeine Zeitung vom 16. April 2008, Seite 12.36 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Internationale Finanzmarktkrise/BuchbesprechungProdukte zwingend zur Veröffentlichung führen,um die erheblichen asymmetrischen Informationenabzubauen. Die vielfach aus Bankkreisengeforderte Abkehr von der Fair-Value-Bewertungwäre ein schwerer Fehler. Zur Bekämpfung der Finanzmarktkrisenin Zukunft ist mehr Transparenzerforderlich und nicht wieder die alte Form derBilanzverschleierung. 8 Die Politik der US-Notenbank scheint sehr engmit den Interessen der privaten Banken verbundenzu sein. Sie hätte zur Erreichung ihrer vorgegebenenZiele wesentlich schneller die Politik des„billigen Geldes“ unterbinden müssen. Durch ihrePolitik war letztlich der Nährboden aufbereitetworden für die exzessive Kreditvergabe, die Ausgangspunktder Finanzkrise war. Dass die Politik immer wieder bereit ist zuintervenieren, lässt sich ferner an den vor demKonkurs stehenden Banken IKB und Bear Stearnsablesen. Auf einem Wettbewerbsmarkt ohne staatlichenSchutz wären diese Banken in Konkurs gegangen.Eine Pleite der IKB hätte nach Ansichtdes Präsidenten der Frankfurt School of FinanceUdo Steffens nicht zu großen Verwerfungen imdeutschen Bankensystem geführt. 9 Aber auch hierhat es die Politik für ratsam erachtet, sie zu retten.Bei der US-amerikanischen Finanzkrise und denbisherigen Maßnahmen zur Überwindung der Krisehandelt es sich viel eher um Politik- als umMarktversagen. Die Politik muss sich bei der Gestaltungvon Märkten wieder mehr um die Einhaltungund Wiederherstellung der grundlegendenPrinzipien der Marktwirtschaft bemühen. Die verantwortlichenManager in den Vorstandsetagenmüssen genau wissen, dass sie für unverantwortlichesFehlverhalten haften müssen, durchaus auchmit Teilen ihres eigenen Vermögens. 8 Vgl. Stephan Paul, Ökonomische Mottenkiste, in: WirtschaftswocheNr. 17 vom 21. April 2008, Seite 60.9 Vgl. Udo Steffens, Man hätte die IKB nicht retten dürfen, in: SüddeutscheZeitung vom 15. April 2008, Seite 24.Zu einem Buch von Nils Goldschmidt und Michael WohlgemuthSind wir nicht alle ein bisschen Freiburg?Nils Goldschmidt und Michael Wohlgemuth haben ihrer Einschätzung nach einen Referenzband zur FreiburgerTradition der Ordnungsökonomik vorgelegt, der klassische und neuere Texte zusammenführt. Auf knapp 800Seiten finden sich 26 Kurzportraits von Persönlichkeiten, die von den Herausgebern in der Freiburger Traditionverortet werden. Es folgt jeweils ein Überblick über das Werk der Portraitierten, und eine kommentierendeEinleitung führt den Leser schließlich zu einem Originaltext. Abgerundet wird der aufschlussreiche Band durchbibliographische Nachweise sowie ein Personen- und Sachregister. Besonders auffallend: Viele der Originaltextesind – im Vergleich zu zahlreichen aktuellen wissenschaftlichen Aufsätzen – sehr gut lesbar und verständlich,sodass auch Laien und Einsteiger von der Lektüre profitieren.Die von den Herausgebern betonte „Freiburger Tradition“ wird großzügig interpretiert. Sie ergibt sich aus dentypischen Vertretern – zum Beispiel Eucken, Böhm, von Dietze –, wird über „verwandte Denkansätze“ fortgeführt– hier werden neben anderen Hans Gestrich, Kardinal Joseph Höffner und <strong>Ludwig</strong> <strong>Erhard</strong> genannt – und mündetschließlich in einer „Freiburger Lehrstuhltradition“, die von Friedrich A. von Hayek über Erich Hoppmann und ManfredE. Streit bis hin zu Viktor J. Vanberg führt.Dass die „Freiburger Tradition“ nicht unproblematisch ist, lässt sich unter anderem im Beitrag von Walter Oswalterkennen, der Person und Werk Walter Euckens beschreibt: Oswalt grenzt Eucken deutlich von anderen Freiburgernab, und Oswalt weist zudem auf Unterschiede hin, die bereits Alexander Rüstow zwischen Ordoliberalenund „paläoliberalen“ Denkern wie von Hayek ausgemacht hat. Erstaunlich ist auch, dass <strong>Erhard</strong>s Zugehörigkeit zurFreiburger Tradition mit einem Auszug aus „Wohlstand für alle“ anstatt mit einem originären Text belegt wird –zumal im hinführenden Text auf den „publizistisch tätigen Wirtschaftsminister“ hingewiesen wird.Nils Goldschmidt/Michael Wohlgemuth (Hrsg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungspolitik,Mohr Siebeck, Tübingen 2008.Andreas SchirmerOrientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)37


Probleme der WirtschaftsordnungManagerhaftung – Ein vernachlässigtes Grundprinzipder Sozialen MarktwirtschaftProf. Wolfgang SchulhoffPräsident des Nordrhein-Westfälischen Handwerkstages (NWHT) sowie der Handwerkskammer DüsseldorfDie Vermögenswerte eines Eigentümer-Unternehmers gehen im Falle seines Scheiterns verloren. Angestellte Vorständewerden dagegen selbst für Milliardenverluste des Unternehmens nicht einmal symbolisch in Anspruch genommen. DieseDiskrepanz gefährdet die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft bei den Bürgern.Lange Zeit waren sie die Lieblinge der Medien:Spitzenmanager wie Ron Sommer, Jürgen Schremppoder Ulrich Schumacher hatten bis in weite Kreiseder Bevölkerung hinein den Status von Stars. Inzwischenhat sich der Wind gedreht. Die Lenkerder deutschen Großkonzerne stehen in der Kritik.Kontrovers diskutiert die Öffentlichkeit die Höheihrer Gehälter, ihren Patriotismus und die ethischmoralischenMaßstäbe ihres unternehmerischenHandelns. Aber auch das Vertrauen in ihre Qualitätenals Unternehmer ist gesunken. Fehlentscheidungen,Misswirtschaft, Unternehmenszusammenbrüchesowie Korruptionsfälle und Skandale– wie bei VW und Siemens – haben deutlicheKratzer am Macher-Bild hinterlassen.Vor diesem Hintergrund scheint die aktuelle Finanzkrisein einem längerfristigen Trend zu liegen.Und doch lohnt es, sich die Mechanismendieser Krise genauer anzuschauen. Exemplarischdeckt sie die Strukturschwächen unserer Wirtschaftsordnungauf. Die Finanzbranche wird vonangestellten, nicht haftenden Managern dominiert.Bei einigen von ihnen gingen Geldgier, steigendeRenditeerwartungen und eine immer größereRisikobereitschaft eine unheilvolle Verbindungein. Das Spiel mit dem Feuer fiel umso leichter,weil die Frage der Haftung immer nur die anderenbetraf – die Aktionäre, die Kreditgeber oderdie Allgemeinheit.einem „goldenen Handschlag“ zum Abschiedrechnen. Den Millionen Euro, die die Bankvorständepersönlich verdienten, stehen MilliardenEuro gegenüber, die sie als Unternehmenslenkervernichtet haben. Für das Missmanagement müssenneben den Aktionären die Arbeitnehmer unddie Steuerzahler bezahlen.Die Folgen für die Wahrnehmung des Unternehmersin der Öffentlichkeit sind verheerend. Nichtnur die schwarzen Schafe, sondern alle werdendiskreditiert – egal, ob sie in den Vorstandsetagender DAX-Konzerne sitzen oder als voll haftende Eigentümer-Unternehmereinen mittelständischenBetrieb führen. Hierdurch gerät aus dem Blick,dass die große Mehrheit der Firmenlenker und Betriebsinhaberihrer unternehmerischen Verantwortunggerecht werden. Die meisten machen einenguten Job und schaffen in Deutschland Arbeitsplätzeund Wohlstand.Das wird gerade in diesen Tagen allzu leicht vergessen.Unternehmertum gerät zunehmend in Gefahr,pauschal mit Habgier und Ausbeutertum inVerbindung gebracht zu werden. Die Vorstellungvon „Nieten in Nadelstreifen“ verbreitet und verfestigtsich. In der Konsequenz droht das Band zwischenArbeitgebern und Arbeitnehmern zu reißen,mit unabsehbaren Folgen für den sozialenFrieden und die politische Stabilität im Land.Unternehmertum am PrangerVerwundert muss der Bürger mit ansehen, dassgravierende Fehlentscheidungen des angestelltenTop-Managements, zum Beispiel bei den BankenIKB und WestLB, keinerlei persönliche Konsequenzennach sich ziehen. Anstatt finanziellerSanktionen dürfen die Verantwortlichen eher mitHaftung als zentrale OrdnungsfrageWer diese Beobachtungen nicht teilt und die Konsequenzennicht sieht, könnte entgegnen, dass Irrenmenschlich ist. Er könnte auf die trotz allemhohe Leistungsfähigkeit der hiesigen marktwirtschaftlichenOrdnung verweisen. Betriebswirtschaftlichnüchtern könnte er argumentieren,38 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Managerhaftungdass hohe Abfindungszahlungen eine vergleichsweisebillige und schnelle Methode sind, unfähigeVorstandsmitglieder loszuwerden und eine Neustrukturierungzu ermöglichen. Darüber hinauskönnte er darauf verweisen, dass Kurseinbrücheund Millionengehälter für Manager ein Problemder Aktionäre sind, die auf ersteres mit Diversifizierungihrer Portfolios reagieren können undletzteres zu akzeptieren haben, da Gehälter das Ergebnisvon Mehrheitsentscheidungen sind. Erkönnte schließlich davor warnen, dass hektischerAktivismus seitens der Politik wahrscheinlich größereWohlstandsverluste verursachen würde als dieKapitalvernichter in den Vorstandsetagen.Diese Gegenargumente sind nicht falsch. Sie verkennenjedoch den Kern des Problems und übersehendie Gefahren, die daraus erwachsen. DieAuswüchse, die sich derzeit zu häufen scheinen,sind keine „unschönen“, hinzunehmenden Unfälleeiner ansonsten funktionierenden Wirtschaftsordnung.Im Gegenteil: Kapitalvernichtung, verursachtdurch Top-Manager, resultiert aus der Vernachlässigungeines konstituierenden Prinzips derSozialen Marktwirtschaft: die persönliche Haftungder Entscheidungsträger, konkret der Unternehmenslenkerin den großen Publikumsaktiengesellschaften.Persönliche Haftung ist von grundlegender Bedeutungfür eine funktionierende Wettbewerbsordnung.Das bleibende Verdienst von WalterEucken ist, dies verdeutlicht zu haben: „Die Haftungträgt dazu bei, die Wettbewerbsordnung zukonstituieren und systemfremde Marktformennicht entstehen zu lassen. Und zugleich ist Haftungnotwendig, um den Wettbewerb der Leistunginnerhalb der Wettbewerbsordnung funktionsfähigzu machen. (…) Die Wettbewerbsordnungkann ohne persönliche Verantwortung der Einzelnenebenso wenig funktionsfähig werden, wiebeim Fehlen ausreichender Marktformen oderGeldordnungen.“ 1 Sein Gebot – „Wer den Nutzenhat, muss auch den Schaden tragen“ 2 – ist ständigerAuftrag an die politisch Verantwortlichen.Unterschiedliche Haftungsregeln1 Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1990,Seiten 280 f.2 Ebenda, Seite 279.In Personengesellschaften fallen die Funktionendes Entscheidungsträgers und des Haftenden inder Person des Eigentümers zusammen. Eigentümer-Unternehmer,die für über 90 Prozent derUnternehmen in Deutschland stehen, tragen dasvolle Risiko ihres unternehmerischen Handelnsund haften für ihre Entscheidungen mit ihremPrivatvermögen. Die Konsequenz ist in der Regeleine vorsichtige, verantwortungsbewusste und effizienzorientierteGeschäftsführung. Die Einheitvon Entscheider und Haftendem trifft auch aufgut 80 Prozent der kleinen Kapitalgesellschaftenzu, die die Form der Gesellschaft mit beschränkterHaftung (GmbH) gewählt haben. Dies kommtauch im Verhalten der Kreditinstitute zum Ausdruck,die gegenüber den mittelständischenGmbHs durch abverlangte Bürgschaften die finanzielleVerantwortung des Geschäftsführers in allerRegel sicherstellen. Die Wahl der Rechtsform alsGmbH ist vor allem steuerrechtlich begründet.In Aktiengesellschaften besteht dagegen keineEinheit zwischen Eigentümer und Entscheider.Auch die Entscheidungsbefugnis korreliert nichtmit der persönlichen Haftung des Entscheiders.Für die Haftungsbeschränkung des Vorstands gibtes Gründe. Sie resultieren aus dem Wesen einerAktiengesellschaft. Manager sind Treuhänder fürdie Eigentümer des Unternehmens, die Aktionäre.Sie agieren nicht völlig frei, sondern sind andie Beschlüsse der Hauptversammlung und desAufsichtsrats gebunden. Die Haftungseinschränkungenfür angestellte Manager sind nicht derNormalfall, sondern ein von der Rechtsordnunggewährtes Privileg, dessen Fortgeltung demnachimmer wieder neu geprüft und gerechtfertigt werdenmuss. Diese Zusammenhänge scheinen zunehmendaus dem Blick zu geraten.Persönliche Haftung für alleÖkonomisch lässt sich das Privileg der Haftungsbeschränkungfür Manager begründen. Das entbindetallerdings nicht von der Frage, wie dieserVorteil ordnungspolitisch zu gestalten ist. Haftungsbeschränkungdarf nicht mit Haftungsbefreiunggleichgesetzt werden. Dieser Ausnahmetatbestandist daher so eng wie möglich zu begrenzen.Dass dies heute nur unzureichend geschieht,ist ein Konstruktionsfehler unserer Wirtschaftsordnung,dessen Folgen auf der Hand liegen: Diemangelnde Haftung der Manager begünstigt einenineffizienten Einsatz von Kapital und lädt zuriskanten Geschäften ein.Die jüngere Wirtschaftsgeschichte bietet hierzuviele Beispiele. Diametral verschiedene Management-Modenhaben sich in der Unternehmenspo-Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)39


Probleme der Wirtschaftsordnunglitik vieler großer Kapitalgesellschaften in kurzerZeit und ohne erkennbare Logik abgewechselt. Alleswurde ausprobiert: Diversifizierung, Konzent -ration und weltweite Fusionen wechselten sich ab.Die Erfolge dieser Strategien waren meist begrenztund führten zum Teil zu schweren einzel- und gesamtwirtschaftlichenSchäden. Hierfür trägt diefehlende Haftung eine klare Mitverantwortung.Verschärfend hinzu kommen Bonussysteme beider Entlohnung von Managern, wie zum BeispielAktienoptionsprogramme oder Prämienzahlungen,die sich an kurzzeitigen Gewinnen orientieren.Beides zusammen fördert unter Managern einenTrend zu kurzfristiger Gewinnmaximierungund erhöht zugleich die Neigung, riskante Geschäftezu tätigen. Vernebelt wird dabei der Blickfür nachhaltige Gewinnoptimierung.Hinzu kommt, dass unzureichende Haftung Konzentrationsprozessefördert. Unter dem Schutz derHaftungsbeschränkung fällt es leichter, Unternehmenaus reinem Machtkalkül heraus zu kaufen;Kostenüberlegungen treten zurück. Auch dies hatbereits Eucken herausgearbeitet. Marktvermachtungdroht wiederum, die Effizienz und Dynamikder Volkswirtschaft zu beeinträchtigen. MangelndeHaftung kann somit dazu beitragen, die Zustimmungzur Sozialen Marktwirtschaft selbst zuunterminieren.Die persönliche Haftung der Entscheidungsträgerist deshalb unabhängig von Größe und Rechtsformder Unternehmen unerlässlich. Es gibt zu ihrkeine Alternative. Die Zielvorgabe, vor allem auchan die Politik, heißt daher konkret: Die persönlicheHaftung der Vorstandsmitglieder großer Pub -likumsaktiengesellschaften ist so weit wie möglichderjenigen des Eigentümer-Unternehmers anzunähern.Verschärfte Managerhaftungverlangt tief greifende ÄnderungenIm Hinblick auf diese Forderung sind die geltendengesetzlichen Regelungen unzureichend. Die§§ 93 und 116 des Aktiengesetzes sehen zwar eineHaftung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedernvor, wenn sie nicht die Sorgfalt eines ordentlichenund gewissenhaften Geschäftsleiters angewandthaben. Bisher greifen diese Paragraphenaber viel zu selten. Obwohl die Beweislast bei denBeschuldigten liegt, scheitern Schadenersatzansprüchein den allermeisten Fällen daran, dass einkonkreter Vermögensschaden der Gesellschaft sowieeine Ursachenbeziehung zwischen dem Sorgfaltspflichtverstoßund dem Schaden kaum nachgewiesenwerden können.Auch Versuche einer Disziplinierung der Managerdurch freiwillige Übereinkünfte und Verhaltens -empfehlungen, wie zum Beispiel das im Jahr 2002verabschiedete Regelwerk zur guten Unternehmensführung(Deutscher Corporate GovernanceKodex), bleiben wirkungslos. Sie sind kein Ersatzfür eine rechtlich kodifizierte Haftung. Die erforderlicheKorrektur verlangt tiefere Einschnitte.Unumgänglich ist eine Neuregelung im Aktienrechtselbst: Die §§ 93 und 116 des Aktiengesetzessind dahingehend zu ergänzen, dass VorstandsundAufsichtsratsmitglieder mit einem bestimmtenBetrag haften, wenn sie – zum Beispiel im Falleiner Insolvenz – die Einhaltung ihrer Sorgfaltspflichtennicht nachweisen können. Dieser Betragsollte in der Höhe mindestens dem Gehalt desletzten Kalenderjahres (Vorstand) bzw. der Vergütungder letzten drei Kalenderjahre (Aufsichtsrat)entsprechen. Auf den Nachweis eines konkretenVermögensschadens sowie einer Ursachenbeziehungzwischen dem Sorgfaltspflichtverstoß unddem Schaden wird dabei verzichtet.Diese Verschärfung des bestehenden Aktiengesetzesgreift auf das Konzept des „normativen Mindestschadens“zurück, für den gehaftet wird, wennein Entlastungsbeweis nicht erbracht wird. DerHaftung für einen weitergehenden Schaden derGesellschaft steht diese Bestimmung nicht im Weg,zumal die Höhe des normativen Mindestschadensmeist hinter dem zu erwartenden Gesamtschadenzurückbleibt. Normative Haftungsfolgeregeln sindbereits Gegenstand des deutschen Haftungsrechts.Bei der Verletzung gewerblicher Schutzrechte wiePatenten, Warenzeichen oder Urheberrechtenwerden beispielsweise die Herausgabe des Gewinnsdes Rechtsverletzers und die Zubilligung einer angemessenenLizenzgebühr als Haftungsfolge zugelassen,weil der Nachweis eines beim Rechtsinhaberentgangenen Gewinns oft nicht möglich ist. 3Haftung ohne SchlupflochDamit die verschärfte Haftung ihre sanktionierendeWirkung entfalten kann, darf sie weder im Anstellungsvertragausgeschlossen noch durch denAbschluss einer Manager-Haftpflichtversicherung– deren Prämien vom Unternehmen bezahlt werden– neutralisiert werden. Deshalb sind spürbareSelbstbehalte vorzuschreiben. Ausnahmen sind le-3 Für den Hinweis danke ich Herrn Prof. Dr. Winfried Tilmann.40 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Managerhaftungdiglich zulässig, wenn es um die Sanierung angeschlagenerUnternehmen geht. Mitglieder einesSanierungsvorstands oder -aufsichtsrats werden inder Regel aber sowieso den Nachweis sorgfaltsgemäßenHandelns erbringen können.In dem Maße, in dem Spitzenführungskräfte persönlichhaften müssen, steigt ihr Risiko. Dass siekonsequenterweise höhere Vergütungen einfordernwerden, ist akzeptabel. Schließlich gilt es, geeignetePersonen für Vorstände und Aufsichtsrätezu finden. Für die Aktionäre, aber auch für die Beschäftigtenlegitimieren sich die höheren Gehälterdurch die zu erwartende Verhaltensänderung desFührungspersonals. Aufgrund der verschärftenHaftung werden Manager ihr Handeln stärker aufnachhaltige Gewinnoptimierung ausrichten. Hierzukönnte auch beitragen, wenn die Wartezeit fürdie Ausübung von als Lohnbestandteil erhaltenenAktienoptionsrechten von bisher zwei (§ 193 Aktiengesetz)auf fünf Jahre verlängert würde.Aufgrund der vorgeschlagenen Haftungsverschärfungwerden Manager schon aus Eigeninteresse vorsichtigeragieren. Sie werden sich selbst, aber auchandere stärker kontrollieren. Sie werden vermehrtexternen ökonomischen und juristischen Sachverstandheranziehen und ihre Entscheidungen sorgfältigerdokumentieren. Kaum zu erwarten ist dagegen,dass sich Manager durch diese Regelung vomGestalter zum bloßen Verwalter ihrer Unternehmenwandeln werden. Dem widerspricht unter anderem,dass Vermögensschäden durch „Nichtstun“ebenfalls den Haftungsfall auslösen können.Aufsichtsräte stärkenund professionalisierenÜber die Managerhaftung hinaus muss durch entsprechendeÄnderungen des Aktiengesetzes demEindruck der „horizontalen Kumpanei“ zwischenVorstand und Aufsichtsrat entgegengewirkt werden.Die derzeitigen Gehaltspakete für Vorstandsmitgliedermit Abfindungen, Pensionszusagenund Aktienoptionen spiegeln teilweise Kontrollversagender Aufsichtsgremien wider. Erforderlichist daher eine Stärkung und Professionalisierungder Aufsichtsräte. Nur so können sie ihre Kontroll -aufgaben gegenüber den Vorständen wirksam ausüben.Daraus ergeben sich im Einzelnen folgendeForderungen: Einen direkten Wechsel des Vorstandsvorsitzendenauf die Position des Aufsichtsratsvorsitzendenbei Publikumsaktiengesellschaften darf eskünftig nicht mehr geben. 4 Bevor ein derartigerWechsel erfolgen darf, müssen wenigstens zweiJahre verstrichen sein. Die Zahl der Aufsichtsratsmandate pro Personist von gegenwärtig maximal zehn gemäß § 100Absatz 2 Aktiengesetz auf höchstens drei Mandatein DAX-Unternehmen zu beschränken. Die Beschlussfassung über die Vorstandsvergütungdarf nicht länger durch das Präsidium, sondernmuss durch das Plenum des Aufsichtsrats erfolgen.Soziale Marktwirtschaft stärken,nicht demontierenIm Zusammenhang mit den in die Diskussion geratenen,angeblich zu hohen Managergehälternhat sich Ende April 2008 auch die SPD mit demBericht einer zu diesem Thema eingesetzten Arbeitsgruppezu Wort gemeldet. Das vorliegendePapier enthält unter anderem die prinzipiell richtigenVorschläge, dass erstens der gesamte Aufsichtsratund nicht nur ein Ausschuss über die Vergütungendes Vorstands entscheiden muss unddass zweitens die Ausübungsfrist für Aktienoptionenvon zwei auf drei Jahre zu verlängern ist.Die weiteren Vorschläge sind dagegen grundlegendabzulehnen. Das gilt sowohl für die Überlegung,Managerbezüge steuerlich nicht mehr vollständigals Betriebsausgaben anzuerkennen, alsauch für die Forderung, dass sich Aufsichtsräte beider Festlegung von Vorstandsbezügen unter anderemam Branchendurchschnitt orientieren sollten.Diese elementaren Eingriffe in die Wirtschaftsordnungsind strikt abzulehnen. Der Staat hat sich ausder Preisbildung herauszuhalten. Er hat darüberhinaus nicht über moralisch gute oder schlechteKosten zu entscheiden. Statt die Soziale Marktwirtschaftweiter zu demontieren, gilt es, ihre konstituierendenPrinzipien zu stärken. Dazu zählt nebender Gewährleistung der Vertragsfreiheit vor allemdie Verschärfung der Managerhaftung. 4 Aus einer von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz(DSW) im Jahr 2006 im Rahmen einer Aufsichtsratsstudie ermitteltenRangfolge geht hervor, dass neun der ersten zehn Mandatsträgerdirekt vom Posten des Vorstandschefs in den Vorsitz desAufsichtsrats derselben Gesellschaft gewechselt sind; vgl. Pressekonferenzder DSW am 18. August 2006 in Berlin: DSW-Aufsichtsratsstudie.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)41


Probleme der WirtschaftsordnungGeneration Praktikum –Wie ist Missbrauch zu verhindern?Prof. Dr. Christian ScholzLehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre an der Universität des SaarlandesDie Besetzung und Vergütung von Praktikantenstellen ist bisher ohne besondere staatliche Regulierung ausgekommen. ImMärz 2008 hat Bundesarbeitsminister Olaf Scholz angeregt, Unternehmen konkretere Vorschriften zu machen, um die Ausbeutungvon Praktikanten zu verhindern. Ist das gerechtfertigt?Praktika sind grundsätzlich sinnvoll: zum einen fürdie Praktikanten, da sie dadurch Berufserfahrungsammeln und testen können, ob ihnen der Berufund das Unternehmen liegen. Zum anderen istfür Unternehmen von Vorteil, wenn der Praktikantneues Wissen in das Unternehmen bringt:Studierende können innovative Impulse setzenund zum Beispiel an der Gestaltung der Home -page mitwirken oder zu einer neuen Marketing -strategie beitragen. Daraus ziehen die Praktikantenauch persönlichen Nutzen, weil sie in Projektarbeiteingebunden werden und Motivation sowieErfolg erleben können. Gleichzeitig behalten siedas Unternehmen in guter Erinnerung, was wiederumdas Image der Firma als Arbeitgeber verbessert.Von Praktika können also Unternehmen undPraktikanten profitieren.Praktikum zwischen Mythos und RealitätZurzeit wird viel über die Gefahr des Missbrauchsvon Praktika durch Unternehmen diskutiert undin Zeitungen darüber berichtet. 1 Hinzu kommenöffentlichkeitswirksame Initiativen wie die „InitiativeFairwork“ oder Netzwerke wie das „NetzwerkGeneration P“, in dem sich entsprechende Initiativenzusammengeschlossen haben. Studien zumThema signalisieren ein Problem, aber nicht indramatischem Umfang: 2 Nach einer Umfrage derHIS Hochschulinformations-System GmbH hatrund jeder achte Absolvent eines Fachhochschulstudiumsund rund jeder siebte Absolvent einesUniversitätsstudiums ein oder mehrere Praktikaabsolviert, allerdings würden diese Zahlen den Begriff„Generation Praktikum“ nicht rechtfertigen. 3Ebenso variiert die Qualität der Praktika. Rund dieHälfte der befragten Absolventen hatte währendihres Praktikums keinen Arbeitsplan, indem festgelegtwar, wann sie welche Tätigkeiten oder Abteilungenkennenlernen sollten. Praktika lassensich in drei Gruppen einteilen: Zur ersten Gruppe gehören Praktika, die währenddes Studiums absolviert werden. Hierzu zählendurch die Prüfungsordnung vorgeschriebenePflichtpraktika, die es bei Ärzten („Famulatur“)ebenso gibt wie bei allen Studiengängen an Fachhochschulen;in anderen Ausbildungsprogrammengibt es die Hospitanz, zum Beispiel in derLehrerausbildung. Daneben gibt es freiwilligePraktika zur generellen Qualifikationsabrundung,die in der Regel während der Semesterferien undoft im Ausland stattfinden. Für diese Gruppe vonPraktika gibt es keinen Regelungsbedarf, da vor allembei Pflichtpraktika die Steuerungsmechanismender Ausbildungsträger greifen und die Praktikaweitgehend der Qualifizierung, zumindest der„Horizonterweiterung“ dienen. Die zweite Gruppe umfasst Praktika, die von Arbeitslosenabsolviert werden. Dazu zählen vor allemdie von der Arbeitsagentur geforderten Trainingsmaßnahmen,bei denen Arbeitssuchende fürmehrere Monate auf Kosten der Arbeitsagenturein Praktikum absolvieren. Dies soll der spezifischenQualifizierung dienen und kann beim vorgesehenenneuen Arbeitgeber stattfinden. Bei dieserGruppe gibt es extremes Missbrauchspotenzial:Für Unternehmen ist die Versuchung groß, Mitarbeiterfür knapp sechs Monate als Praktikanteneinzustellen, dann den vielleicht abgeschlossenenAnschlussvertrag als „richtigen“ Arbeitsvertrag aufzulösenund die gekündigten Arbeitnehmer durch1 Vgl. Mathias Stolz, Generation Praktikum, www.zeit.de (31. März2005); Steffen Kraft, Mehr Mut, mehr Wut, www.sueddeutsche.de(5. Mai 2006); Stefan Rippler, Schuften ohne einen Cent,www.focus.de (1. Februar 2008); Christian Scholz, Kaffee von ges -tern, in: Neon, Februar 2008.2 Vgl. Kolja Briedis/Karl-Heinz Minks, Generation Praktikum – Mythosoder Massenphänomen? HIS-Studie, April 2007; DieterGrühn/Heidemarie Hecht, Generation Praktikum? DGB Studie, Feb -ruar 2007. 3 Vgl. Kolja Briedis/Karl-Heinz Minks, a. a. O.42 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Generation Praktikumneue Praktikanten zu ersetzen. Trotzdem ist auchhier kein Regelungsbedarf festzustellen, vielmehrmuss die Arbeitsagentur nach den bestehendenRegeln den Sinn und die Durchführung der vonihr bezahlten Praktika überprüfen. Die dritte Gruppe von Praktika wird direkt nachder Ausbildung absolviert, in der Regel nach einemHochschulstudium. Hierfür gibt es viele Möglichkeiten:Die Bandbreite reicht vom touristisch angehauchtenAuslandsaufenthalt über ein „Reinschnuppernbeim Wunschunternehmen“ bis hinzur de facto Vollzeitkraft, bei der die Praktikantenreguläre Dauerstellen im Unternehmen besetzen –allerdings zeitlich befristet. Für diese Praktika gibtes unterschiedliche Bezeichnungen: befristeterVertrag, Trainee-Position oder Volontariat.Mit „Generation Praktikum“ ist meist die dritteGruppe von Praktika gemeint. Hier besteht dieGefahr, dass Absolventen, statt vollwertige Arbeitsverträgeabzuschließen, ein Praktikum nach demanderen absolvieren – nicht aus freien Stücken,sondern weil sie keine andere Chance sehen. Währendbei den beiden anderen Gruppen von Praktikazusätzlicher Regelungsbedarf auszuschließenist, ist er hier zumindest diskutierbar.Problem DauerpraktikantenIm Kern geht es bei der Diskussion um Dauerpraktikantenstellen:Vollzeitstellen, die immer wiedermit Praktikanten besetzt werden. Die Unternehmenstellen einen Hochschulabsolventennach dem anderen als gering oder gar nicht bezahltenPraktikanten ein, um Kosten zu sparenund die Flexibilität zu erhöhen. Hier gibt es Spielarten,die durchaus als grenzwertig einzustufensind. So locken manche Unternehmen teilweisemit regulären Stellen. Erst im oder nach dem Bewerbungsgesprächbieten sie dem hoffnungsfrohenMitarbeiter „übergangsweise“ ein Praktikuman. Danach werden die Praktikanten entlassen.Im Extremfall setzt eine Wirtschaftsprüfungsgesellschafteinen Praktikanten beim Mandanten einund berechnet den vollen Tagessatz, den sie für einenausgebildeten Prüfer ansetzen kann. Auf dereinen Seite könnte man diese Vorgehensweise inBezug auf den Mandanten diskutieren. Dies istaber allenfalls eine Frage des berufsständischenEthos. Auf der anderen Seite – und hier wird es bedenklich– werden den Praktikanten falsche Tatsachenvorgespielt, indem ihnen eine Übernahmein Aussicht gestellt wird, die nicht existiert. Die Logikder Dauerpraktikantenstellen ist gerade, dasssie nicht dauerhaft besetzt werden. Unbestreitbarsind derartige Praktika problematisch.Für Hochschulabsolventen ist ein Praktikum nachdem Studium oft ein Karrierekiller. Wer es beimersten Mal nicht geschafft hat, einen Personalchefvon seinen Qualitäten zu überzeugen, der wird esbeim zweiten Mal noch weniger schaffen. Zu naheliegt die Vermutung, dass der Absolvent lediglicheinen Praktikumsplatz bekommen hat, weil er entwedernicht zielgerichtet gesucht hat oder aber,weil er keine Lust hat, ernsthaft zu arbeiten. Hierhilft auch wenig, wenn das Praktikum als normalerZeitvertrag deklariert wird. Spätestens das zweitePraktikum nach Ende des Studiums bedeutet denAbschied von der ursprünglich geplanten Karriereund Abstieg in eine andere Qualifikationsgruppe.Mit jedem Praktikum nach der Ausbildung signalisiertman, dass man keinen richtigen Job gefundenhat. Dass diese Situation bei den Betroffenenzu Unsicherheit und psychischen Belastungenführt, liegt auf der Hand.Dauerpraktikantenstellen sind zumindest für einigePraktikanten ein schwer zumutbarer Zustand.Aus dem Grund ist nachzuvollziehen, wenn Praktikantenüber entsprechende Gesetze vor „ausbeuterischenUnternehmen“ geschützt werden sollen.Damit stellt sich die Frage nach dem wirkungsvollstenSchutzmechanismus. Grundsätzlich kommenzwei alternative Steuerungsmechanismen infrage: 4Auf der einen Seite steht die staatliche Regulierung,bei der der Staat zentral steuert und alle Parameterfestlegt. Auf der anderen Seite steht dasMarktprinzip, bei dem die Marktpartner im offenenSpiel der Kräfte über Angebot und Nachfragenach einer Lösung suchen.Staatliche Zuteilung von Praktika?Folgt man der Idee des Arbeitsministeriums, sollteder Staat steuernd in das Problem „GenerationPraktikum“ eingreifen. Dies bedeutet zunächst, dassder Arbeitsminister einige im Berufsbildungsgesetzbestehende Regeln klarer fassen und in das BürgerlicheGesetzbuch übernehmen möchte. Dabei hater zwei Steuerungselemente im Blick: Zum einenmöchte er eine angemessene Vergütung für Prakti-4 Vgl. Oliver E. Williamson, Markets and Hierarchies: Analysis andAntitrust Implications, New York 1975; derselbe, Markt oder Organisation– Strukturelle Alternativen und ihre Entwicklungen, in: ChristianScholz/Joachim Gutmann (Hrsg.), Webbasierte Personalwertschöpfung.Theorie – Konzeption – Praxis, Wiesbaden 2003, Seiten55–67.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)43


Probleme der Wirtschaftsordnungkanten anregen, wobei er zum jetzigen Zeitpunktauf die Forderung eines Mindestlohns verzichtet;zum anderen möchte er gesetzlich regeln, dass dieVereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Praktikantschriftlich festgehalten werden müssen.Um sicherzustellen, dass nur sinnvolle Praktikamit angemessener Entlohnung angeboten werden,wäre dann auf jeden Fall ein Mindestlohnfestzusetzen. Er muss in der Nähe des aktuellenTariflohns liegen, damit Unternehmen keinePraktikanten aufgrund ihres geringen Lohns einstellen.Ferner wäre zu regeln, welche Aufgabenvon Praktikanten zu erfüllen sind: Auf diese Weisekönnte man verhindern, dass Praktikanten nied -rig wertige Tätigkeiten ausüben. Ob derartige verpflichtende„Tarifverträge“ für Praktikanten vonGewerkschaften auszuhandeln oder von der Regierungfestzulegen sind, spielt letztlich keine großeRolle: Viel wichtiger ist die Fixierung von Arbeitsinhaltenund Kontrollmechanismen. DieKontrolle wäre von neu zu schaffenden zentralenStellen durchzuführen. Man könnte zudem übereine Veränderung des Betriebsverfassungsgesetzesebenso nachdenken wie über die aktuellen Vorschlägedes Arbeitsministers, bereits bestehendeRegeln aus dem Berufsbildungsgesetz in das BürgerlicheGesetzbuch zu übernehmen.Am Ende könnte allerdings eine Situation entstehen,in der Unternehmen kein Interesse mehr haben,Praktikanten einzustellen. Falls dies die Politikals unerwünscht ansieht, müssten wiederumRegelungen über Pflichtkontingente für Praktikanteneingeführt werden, die etwa Ausgleichs -zahlungen für den Fall vorsehen, dass Unternehmennicht genug Praktikanten beschäftigen. Derumgekehrte Fall von zu vielen Praktikanten ließesich durch eine prozentuale Obergrenze regeln.An dieser Stelle kann man das Gedankenexperimentabbrechen und als gescheitert ansehen: Beginntman erst einmal mit einer wirksamen Teilregelung,hat Etatismus eine sukzessive Erweiterungdes Regelungsrahmens zur Folge, bei dem am Endealles zentral festgelegt wird – bis hin zur Zuordnungvon Praktikanten auf Praktikumsplätze.Der Markt für Praktika funktioniertBeim Marktprinzip regeln sich Angebot und Nachfrageüber den Preis. Modelltheoretisch wichtig istzunächst, dass es unterschiedliche Preise für die„Ware Praktikum“ gibt: Einige Praktikanten werdengar nicht bezahlt, andere gut. Dies könnte aufIntransparenz der Märkte hindeuten, aber auchdarauf, dass hier unterschiedliche Güter gehandeltwerden. Dann würden auf unterschiedlichenMärkten unterschiedliche Formen von Praktikaangeboten und nachgefragt. Dieses Modell dersegmentierten Märkte stellt fast genau das dar, wasgegenwärtig beobachtet und kritisiert wird.Am einen Ende des Spektrums finden sich Praktika,die etwa in Medienunternehmen angebotenwerden und die weitgehend unbezahlte Volontariatedarstellen. Hier gibt es eine Vielzahl von Inte -ressierten, die „irgendetwas mit Medien machen“wollen und die sich um diese Stellen reißen. DieAnzahl der Stellen ist jedoch stark begrenzt. DerMarktpreis hat sich bei Null eingependelt. Dies erklärt,warum gerade viele Journalisten diese Praktikafür schwer zumutbar halten. Für diese eine Seitedes Spektrums funktioniert die Marktlösung gut.Würde man regelnd eingreifen und einen Mindestlohnin der Höhe eines „normalen Gehalts“festlegen, würden diese Praktika wegfallen, und eswäre niemandem gedient.Am anderen Ende des Spektrums liegen Praktika,die den Namen nicht verdienen, für die sich aberein Marktpreis größer als Null etabliert hat. Diessind zum einen niedrig entlohnte Hilfsarbeiteraufgaben.Zum anderen gibt es Branchen, in denenPraktikanten ihr Fachwissen erfolgreich – dasheißt teuer – an das Unternehmen verkaufen(zum Beispiel in der IT-Branche). Diese Praktikantenbekommen einen Lohn, der in der Nähe dessenliegt, was reguläre Arbeitnehmer verdienen.Die Marktmechanismen funktionieren hier ebenfalls.Zudem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dassUnternehmen aus diesen StellenbesetzungenDauerverträge machen. Auch hier kann die Marktlösungbeibehalten werden.Beide Extremfälle sind zumindest theoretisch klarund zeigen keinen Regelungsbedarf. Kritisch sinddagegen alle Fälle, die zwischen den beiden Extrempolenliegen. Hier arbeiten Praktikanten aufPositionen, bei denen sie eine angemessene Entlohnungbekommen, oftmals aber mit unzutreffendenVersprechungen angelockt und teilweiseausgebeutet werden. Wie kann man dafür sorgen,dass die Praktikanten besser über die Unternehmeninformiert sind?Eine erste Antwort liefert George Akerlof in seinemAufsatz „The Market for ‚Lemons‘: Quality, Uncertaintyand the Market Mechanism“. 5 Darin be-5 George A. Akerlof, The Market for „Lemons“: Quality, Uncertaintyand the Market Mechanism, in: Quarterly Journal of Economics 84,1970, Seiten 488–500.44 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Generation Praktikumzeichnet er einen mit Fehlern behafteten Gebrauchtwagenals „Zitrone“. Beim Autokauf weißman als Kunde (zumindest als Nicht-Kfz-Experte)– wie bei sogenannten Erfahrungsgütern üblich –nicht, ob es sich um eine „Zitrone“ handelt. DerVerkäufer weiß es schon eher. Es herrscht somit eineasymmetrische Information zwischen Käuferund Verkäufer. Im schlimmsten Fall wird man alsKäufer „über den Tisch gezogen“.Zurück zum Praktikum mit unzutreffenden Versprechungenund damit verbundener Ausbeutung:Der Praktikant kennt die verdeckten Eigenschaftendes Praktikums nicht. Es gibt also eineasymmetrische Information zwischen dem Praktikantenund dem Unternehmen.Lösungsvorschlag: Mehr TransparenzInstitutionen stellen den potenziellen PraktikantenInformationen in Form von Arbeitgeber-Rankings,Zertifikaten, Erfahrungen von Vorgängernoder Praktikantenbörsen bereit. So haben interessierteStudierende die Möglichkeit, Informationenüber den potenziellen Praktikumsplatz und Arbeitgeberzu sammeln. Im Ergebnis entwickelt sicheine aufmerksame und informierte Generationvon Studierenden, die unterscheiden kann, welchePraktika der Karriere förderlich sind. Längstgibt es Foren, die helfen, faire Praktika mittels einerCheckliste zu finden, in denen Nutzer sichgegenseitig Tipps zum richtigen Verstehen einerStellenanzeige geben und die die Möglichkeit bieten,das absolvierte Praktikum zu bewerten oderFragen beantwortet zu bekommen. 6 Zudem erhältdie Berichterstattung in den Medien die Diskussionam Leben und weist auf Missstände hin. DerMarkt für Praktika wird also immer transparenter.Inzwischen ist zu beobachten, dass die Null-Euro-Praktika verschwinden und wieder entlohnte Praktikaangeboten werden. Laut der HIS-Studie bewertetenrund zwei Drittel der Befragten ihr Praktikumzumindest als hilfreich für die berufliche Zukunft,obwohl es meistens nicht dazu verhalf, eine Stelle zufinden. Die Unternehmen haben auch gemerkt,dass sich Dauerpraktikantenstellen langfristig negativauf ihr Image als Arbeitgeber auswirken. 7 Diesich zurzeit entspannende Lage auf dem Arbeitsmarktwird hoffentlich dazu beitragen, dass dasPhänomen „Dauerpraktikanten“ weiter rückläufigist und Hochschulabsolventen leichter eine angemesseneBeschäftigung finden können.6 Zum Beispiel www.generation-praktikum.de7 Vgl. Kolja Briedis/Karl-Heinz Minks, a. a. O.Eine Übernachfrage nach Praktikums plätzen würde– da die Zahl der Plätze schwer zu vergrößernist – zu rigideren Auswahlmechanismen führen,im Extremfall sogar dazu, dass der Praktikant fürden Praktikumsplatz ein Entgelt zahlt. Auch wenndiese extreme Konsequenz sicherlich wieder einenAufschrei der Öffentlichkeit hervorrufen wird, istsie in Ausnahmefällen denkbar. Sie wird aber nurüber Marktmechanismen zu regeln sein.Fazit: Kein regulativer Handlungsbedarf!Gibt man den Marktmechanismen eine Chance,ist das zu erwartende Szenario offenkundig: Praktika während der Ausbildung wird esweiterhin geben, wobei sich gute Studenten undgute Unternehmen immer schon im Sinne einerMarktsteuerung getroffen haben und sich auchweiterhin treffen werden. Praktika während der Arbeitslosigkeit, dienicht der Qualifizierung dienen, sind bereits jetztgesetzwidrig. Hier sind die entsprechenden Stellenaufgerufen, sich um die Einhaltung der Gesetzezu kümmern. Praktika nach der Ausbildung, die der Zusatzqualifikationdienen, wird es weiterhin geben –und zwar durchaus teilweise ohne Bezahlung, vielleichtmanchmal sogar gegen Entgelt. Alle anderen Formen der Praktika nach demStudium sind bilateral auszuhandeln. Absolventensollten sich die Gefahr einer verbauten Karrieredurch die Besetzung einer Dauerpraktikantenstellegut bezahlen lassen. Unternehmen müssen sichim Klaren sein, dass sie ihr Image als Arbeitgebermöglicherweise beschädigen.Damit ist die Analyse des Problems bei einemrecht unspektakulären Endergebnis angekommen:Es besteht kein Grund, von den gegenwärtigpraktizierten Marktmechanismen abzurücken.Trotzdem ist die Auseinandersetzung mit demThema nutzbringend: Sie zeigt, dass der vorschnelleRuf nach staatlicher Regulierung leichtzu kontraproduktiven Reaktionen führt, die niemandemnutzen. Deshalb bleibt zu hoffen, dasssich die Politik aus diesem Feld heraushält. 8 8 Der vorliegende Text ist eine gekürzte Fassung von: GenerationPraktikum als Zitrone in Markt- und Planwirtschaft, Diskussionsbeitragdes Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Organisation,Personal- und Informationsmanagement an der Universitätdes Saarlandes, Saarbrücken 2008.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)45


Internationale Wirtschaftspolitik60 Jahre multilaterale Handelskooperation: Eine BilanzDr. K. Michael FingerCounsellor bei der Welthandelsorganisation (WTO)In sechs Jahrzehnten multilateraler Zusammenarbeit in Handelsfragen wurde einiges erreicht – auch wenn es zwischenzeitlichDurststrecken oder gar Rückschläge gab. Doch vielleicht helfen gerade die Lehren aus diesen Erfahrungen beider Lösung aktueller Fragen und Probleme.Am 1. Januar 1948 trat das Allgemeine Zoll- undHandelsabkommen (General Agreement on Tariffsand Trade, GATT) in Kraft. Damit wurde derGrundstein zu einem globalen, multilateralenHandelssystem im Güterbereich gelegt. EineGruppe von 23 Ländern unterzeichnete das Abkommen,das zunächst auf drei Jahre begrenztwar. Heute umfasst die Welthandelsorganisation(World Trade Organization, WTO) – Nachfolgerindes GATT – mehr als 150 Mitgliedstaaten, die 95Prozent des gesamten Welthandels auf sich vereinen.Durch die WTO hat sich das multilateraleHandelssystem nicht nur geographisch ausgedehnt.Es erweiterte mit neuen Aufgabenbereichen(Dienstleistungen, geistiges Eigentum) auchseine Zuständigkeit. Zur Einhaltung ihres Regelwerkshat die WTO einen effektiven Streitschlichtungsmechanismusentwickelt. 1Grundsteinlegungunter schwierigen UmständenDer Aufbau des multilateralen Handelssystems istuntrennbar verbunden mit der Neuordnung derinternationalen Beziehungen nach dem ZweitenWeltkrieg. Der Zusammenbruch der Weltwirtschaftund der Verfall der Wirtschaftsbeziehungendurch die Verfolgung isolationistischer Wirtschaftspolitikhatte zum Ausbruch des ZweitenWeltkriegs beigetragen. Die Erfahrung, dass mangelndeKooperation zwischen den Staaten und derAlleingang der größten Wirtschaftsmacht USA dieWirtschaftskrise der 1930er Jahre verstärkt hatten,drängte nach einem Neubeginn in den internationalenBeziehungen.1 Einen detaillierten Bericht über die Entwicklung des multilateralenHandelssystems hat die Forschungsabteilung der WTO mit demWorld Trade Report 2007 vorgelegt. Der Bericht kann im Internet unterhttp://www.wto.org/english/res_e/reser_e/wtr_arc_e.htmkostenlos herunterge<strong>laden</strong> werden.Mit der Gründung der Bretton-Woods-Institute –Internationaler Währungsfonds (IWF) und Weltbank– im Jahr 1944 sowie der Vereinten Nationenim Jahr 1945 entstanden erste Teilstücke einerneuen internationalen Ordnung. Sie sollten ergänztwerden durch eine internationale Handels -organisation (International Trade Organization,ITO), deren Regeln nicht nur für den internationalenHandel, sondern auch für die Bereiche Beschäftigung,Wettbewerb, Rohstoffabkommen undAuslandsinvestitionen gelten sollten. Die ITO, die1948 in Havanna von 53 Ländern vereinbart wurde,konnte jedoch wegen des Widerstands im US-Kongress nicht in Kraft treten. Glücklicherweisewar der Handelsteil des ITO-Vertragswerks – dasGATT – am 1. Januar 1948 bereits in Kraft gesetztworden.Viele der damaligen Streitpunkte ähneln den heutigen,obwohl sich die wirtschaftliche und politischeLage drastisch verändert hat. Damals wie heutestehen die Sonderbehandlung der Landwirtschaft,Ausnahmen für Präferenzen in regionalenAbkommen und Freiräume für die nationale Entwicklungspolitikim Zentrum der Diskussion. Damalskamen jedoch die staatlichen Eingriffe in dieProduktion und Verteilung der Güter hinzu, sowieÜberreste der Kriegswirtschaft, die den Außenhandelin Form von Devisenbewirtschaftung, staatlichemHandelsmonopol für strategische Güter,Bewilligungsscheinen und Mengenbeschränkungenlenkten.Die Aufgabe des GATT bestand vor allem darin,Vertrauen und Stabilität in den Wiederaufbau derinternationalen Handelsbeziehungen zu bringen.Hierzu war neben dem Abbau von Handelsbarrierenein rechtliches Rahmenwerk notwendig. Damitsollten Handelsrunden organisiert, Zollsenkungenrechtlich abgesichert und Streitfragennach Regeln gelöst werden. Zu den rechtlichenEckpfeilern des GATT gehören die Prinzipien der46 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


WelthandelsordnungNichtdiskriminierung, der Reziprozität und derTransparenz: Nichtdiskriminierung bedeutet, dass bei derEinfuhr eines Produkts der Zollsatz nicht nachdem Ursprungsland differenziert werden darf. Mitanderen Worten: Jede GATT-Vertragspartei hatdas Recht auf Gleichbehandlung bei der Einfuhrvon Gütern in ein Vertragsland. Die Regel wirdhäufig als Meistbegünstigungsklausel bezeichnet.Das Gebot der Nichtdiskriminierung gilt auch aufdem Binnenmarkt; ausländische Güter habennach Entrichtung der Einfuhrabgaben Anspruchauf die gleiche Behandlung wie einheimische Güterund dürfen nicht mit Sonderabgaben oder anderenSteuersätzen benachteiligt werden (Inländerprinzip). Das Prinzip der Reziprozität verlangt dasgegenseitige Einräumen von Zollzugeständnissen,damit die wirtschaftlichen Vorteile eines verbessertenMarktzugangs allen Parteien zugute kommen. Die Transparenzforderung zeigt sich in derVerpflichtung, Schutzmaßnahmen bei der Einfuhrvon Waren nur in Form von Zöllen und nichtmittels Quoten oder sonstigen nicht-tarifärenMaßnahmen zu gewähren.Wenige Liberalisierungserfolgein den ersten ZollrundenÄhnlich der Jahresringe eines Baums lässt sich derEntwicklungsprozess des GATT an den acht bisherigenHandelsrunden ablesen: So wie die jeweiligeWitterung unregelmäßig starke Jahresringe hinterlässt,werden die Bedeutung der Handelsrundenund der jeweils erzielte Fortschritt in der Liberalisierungsowie die Stärkung des Regelwerks von derpolitischen Großwetterlage gefördert oder beeinträchtigt.Das im Oktober 1947 in Genf abgeschlosseneGATT brachte neue Perspektiven in den Aufbauder internationalen Handelsbeziehungen undhalf, den weit verbreiteten Handelspessimismuszurückzudrängen. Wichtig war die schnelle Umsetzungder Zollsenkungen, insbesondere in denUSA, die ein Glaubwürdigkeitsproblem in SachenHandelspolitik hatten. So verfolgten die USA langeZeit eine Hochzollpolitik; erst Mitte der 1930erJahre verließen sie diesen Pfad. Skepsis gegenüberden Erfolgsaussichten des GATT und der avisiertenHandelsrunden war im Hinblick auf die Erfahrungenfrüherer Fehlschläge angebracht: Sogab es in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegenzwar mehrere Handelskonferenzen, die allerdingserfolglos blieben.Eine Aussage über den Umfang der Zollsenkungenin den ersten Handelsrunden ist schwierig. ImFall der USA kann davon ausgegangen werden,dass die Zölle 1948 etwa um ein Viertel reduziertwurden. Nicht nur bei der Zollsenkung, sondernauch bei der Zollbindung übernahmen die USAeine Führungsrolle. Mehr als 90 Prozent der US-Einfuhren aus den Vertragsparteien unterlagennach der ersten GATT-Runde gebundenen Zollsätzen.Die Zollsenkungen und -bindungen der ers tenHandelsrunde wurden auf Basis von 123 bilateralenVerhandlungen erzielt. Die Verhandlungsergebnissebrachten für alle TeilnehmernationenVorteile im gegenseitigen Marktzugang. Die Zollzugeständnissebilden einen festen Bestandteil desGATT. Das ursprüngliche Abkommen enthält daherdie Zoll-Listen aller Vertragsparteien, die auf1 265 Seiten aufführen, welcher Höchstzollsatz füreine bestimmte Ware bei der Einfuhr nicht überschrittenwerden darf.Die zweite Handelsrunde in Annecy (1949) konzentriertesich auf die Beitrittsverhandlungen mitelf Ländern und führte zum Beitritt von neun weiterenLändern im Jahr 1950. Da das GATT mit seinenersten Zollsenkungen auf drei Jahre befristetwar, begann man 1950 in Torquay in der drittenRunde über die Verlängerung des Abkommens zuverhandeln. Die Ergebnisse der Torquay-Rundeumfassten neben der Bestätigung des Abkommensund der bisherigen Zollzugeständnisse weitereZollbindungen und den Beitritt von sechs neuenLändern, darunter auch den der BundesrepublikDeutschland. Neben weiteren Zollreduktionenbestand die vierte Handelsrunde in Genf (1955–1956) aus den Beitrittsverhandlungen mit Japan.Nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft(EWG) 1958 befürchteten dieAmerikaner eine Abschottung der europäischenAgrarmärkte, die den eigenen Interessen widerspräche.In der Dillon-Runde (1961–62) solltendaher die Probleme im Bereich der Landwirtschaftverhandelt werden. Die EWG konnte jedochihre Interessen durchsetzen und hielt am Ausbauihrer Landwirtschaftspolitik fest, die eine begrenzteAbkoppelung von den Weltmärkten durch Subventionder europäischen Produktion verfolgte.Der weltweite Prozess der Entkolonialisierung entließEnde der 1950er und Anfang der 1960er Jahreeine große Anzahl von Entwicklungsländern inOrientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)47


Internationale Wirtschaftspolitikdie Unabhängigkeit. Dies verstärkte den Druck,die Entwicklungsländer ins Welthandelssystem zuintegrieren – zumal sich deren Anteil am Welthandelnach dem Zweiten Weltkrieg stetig verringerthatte. Als Gegenmittel wurde gefordert, die GATT-Vertragsbedingungen für die Entwicklungsländerzu lockern. Daneben wurde ihnen eine Sonderbehandlungbei der Ausfuhr von tropischen Produktenversprochen. Durch den Abschluss des Baumwollabkommens(1961), das bilaterale Verhandlungenzu Ausfuhrbegrenzungen von Baumwolltextiliengenehmigte, wurde eine weitere Ausnahmeregelungvom Verbot mengenmäßiger Beschränkungengeschaffen. Diese Entscheidungentsprach den Zwängen der internationalen politischenLage, stellte aber eine Schwächung hinsichtlichder Verlässlichkeit des Regelwerks dar.Die vereinbarten neuen Zollreduktionen im Industriegüterbereichblieben in der Dillon-Rundebegrenzt.Konsolidierungsphase des GATTDie geringen Fortschritte der Dillon-Runde undder Ausbau der EWG führten vonseiten sowohlder Entwicklungsländer als auch der USA schnellzur Forderung einer neuen Handelsrunde. Dazukam, dass in den zwei Jahren nach Abschluss derDillon-Runde 22 Entwicklungsländer dem GATTbeigetreten waren, wovon die Mehrzahl gerade dieUnabhängigkeit erreicht hatte. Zudem erhielt derdamalige US-Präsident John F. Kennedy 1962 vomKongress ein umfangreiches Verhandlungsmandat,das ihm erlaubte, die Zölle um bis zu 50 Prozentzu senken. Der Beschluss zu einer neuenHandelsrunde fiel auf der Ministerkonferenz1963. Die Verhandlungen begannen im Folgejahrund dauerten drei Jahre. Die neue Runde – alsKennedy-Runde bezeichnet – sollte neben der Liberalisierungdes Industriegüterhandels die Entwicklungsländerthematik,die Liberalisierung desAgrarhandels und erstmalig nicht-tarifäre Handelshemmnissebehandeln.Die spezielle Behandlung von Entwicklungsländernim GATT wurde erschwert durch die Entwicklungspolitikder EWG, die im Yaunde-Abkommen(1963) 18 frankophonen Ländern AfrikasZollpräferenzen und finanzielle Unterstützung zusagte.Im Rahmen der Kennedy-Runde versuchtendie anderen Entwicklungsländer, diese Diskriminierungbeim Zugang auf die Märkte der EWG zubeseitigen und zugleich von den anderen Industrieländerneine Vorzugsbehandlung zu erhalten.Dies gelang nur sehr begrenzt. Ebenfalls begrenztblieben die Fortschritte im Agrarbereich, da dieEWG nur geringe Zugeständnisse hinsichtlich ihrerSchutzpolitik einräumte.Bei den nicht-tarifären Handelshemmnissen gelangdie Einigung zum Internationalen Anti-DumpingKodex. Er spielte eine Vorreiterrolle für spätereVerhandlungen in anderen Bereichen, wieden Zollwertbestimmungen oder den Subventionen.Der größte Erfolg der Kennedy-Runde wurdejedoch im Industriegüterhandel erzielt: Die durchschnittlichenZollsenkungen von 38 Prozent warenein gewaltiger Fortschritt gegenüber den vier vo -rangegangenen Handelsrunden. Teilweise kannman das gute Ergebnis auf eine neue Verhandlungsmethodezurückführen, nach der erstmalsnicht über ausgewählte Produkte verhandelt wurde,sondern bei der alle Zollpositionen im Industriegüterbereichzur Disposition standen und linearum einen einheitlichen Satz reduziert werdensollten.Die Zollsenkung ging allerdings größtenteils vonden Industrieländern aus. Die Entwicklungsländersenkten ihre Zölle nur geringfügig und bei wenigenProdukten. Zudem wollten sie nur einen kleinenAnteil der Zollpositionen rechtlich binden: Sowaren nach Schätzungen des WTO-Sekretariatszum Abschluss der Kennedy-Runde weniger alszehn Prozent der Zölle Argentiniens und Brasiliensgebunden, während die wichtigsten Industrieländerbereits eine Zollbindung von mehr als90 Prozent aufwiesen. Diese fehlende Reziprozitätbei den Zollzugeständnissen wurde in der Kennedy-Rundeals Teil der Sonderbehandlung von Entwicklungsländernerstmalig offiziell anerkannt.Auf der einen Seite konnten die Entwicklungsländerso ihre Handelspolitik relativ frei von Verpflichtungengegenüber dem GATT verfolgen; andererseitswurden ihnen mangels eigener Offertenweniger Zollkonzessionen in für sie wichtigen Bereichenangeboten.Stockende VerhandlungenDer Vorschlag des GATT-Generaldirektors, beimAbschluss der Kennedy-Runde gleich Vorverhandlungenüber die Themen einer neuen Handelsrundezu beginnen, wurde nicht aufgegriffen. Erstvier Jahre später, Anfang der 1970er Jahre, breitetesich in den USA Unzufriedenheit über das Welthandelssystemaus: Das steigende US-amerikanischeHandelsdefizit wurde auf die unzureichendeÖffnung ausländischer Märkte bei gleichzeitig geringeneigenen Handelsbarrieren zurückgeführt;48 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Welthandelsordnungdie USA waren in den Augen vieler Amerikaner inden vergangenen Verhandlungen zu großzügig gewesen.Zudem drohte die Erweiterung der EuropäischenGemeinschaft auf neun Mitgliedsländer,die USA auch auf dem britischen Markt zu benachteiligen.Deshalb wurde 1973 auf einer Ministerkonferenzin Tokio der Start für die siebte Handelsrundebeschlossen. Dabei wurde der Bedeutungder Entwicklungsländer demonstrativ Rechnunggetragen, indem erstmals auch Entwicklungsländer,die keine GATT-Vertragsparteien waren,zu den Verhandlungen einge<strong>laden</strong> wurden.Dadurch verdoppelte sich die Anzahl der Verhandlungsteilnehmerim Vergleich zur Kennedy-Runde auf 99 Länder.Die Rezession der Weltwirtschaft in den Jahren1974/75 und die durch die erste Ölkrise entstandenenZahlungsbilanz-Ungleichgewichte vielerLänder brachten die Verhandlungen allerdingsfast zum Stillstand. Weitere Liberalisierungsschritteerschienen in Krisenzeiten wenig Erfolg versprechend,weswegen man sich auf Maßnahmenkonzentrierte, die den Handel fairer gestalten sollten.Diese Anstrengungen führten zum Abschlussvon sechs Sonderabkommen in so verschiedenenBereichen wie der Zollwertbestimmung, der Gewährungvon Einfuhrlizenzen, der öffentlichenAuftragsvergabe, bei Subventionen, der Entwicklungvon Produktstandards und nicht zuletzt beider Anwendung von Anti-Dumping-Maßnahmen.Der Fortschritt bei der Liberalisierung des Zugangszu Industrieländermärkten bei Industriegüternblieb mit einer durchschnittlichen Zollsenkungvon einem Drittel leicht hinter dem in derKennedy-Runde erzielten Ergebnis zurück. Ein bemerkenswerterAspekt war, dass die Zölle nicht wiezuvor linear um einen bestimmten Prozentsatz gesenktwurden, sondern die hohen Zölle – mithilfeder sogenannten Schweizer Formel – prozentualstärker als die niedrigen gekappt wurden. ImLandwirtschaftsbereich brachte die Tokio-Rundewenige Liberalisierungsfortschritte. Die Abkommenfür Rindfleisch und Molkereiprodukte bestärktenganz im Gegenteil die Sonderbehandlungdes Agrarsektors.Auch aus Sicht der Entwicklungsländer waren dieResultate der Tokio-Runde wenig erfolgreich: Fürdie aufstrebenden Volkswirtschaften Ostasiens wardie Beibehaltung der Mengenbeschränkungen imTextilbereich, im Stahlsektor und bei elektronischenKonsumgütern enttäuschend, auch wenn esfür andere Industriegüter einen verbessertenMarktzugang gab. Die Agrarexporteure unter denEntwicklungsländern erzielten außer bei tropischenProdukten keinen nennenswerten Fortschritt.Mit der sogenannten „Enabling Clause“wurde den GATT-Vertragsparteien grundsätzlicherlaubt, Entwicklungsländern Vorzugszölle zu gewährenund somit vom Nichtdiskriminierungsverbotbei Handelsvergünstigungen abzuweichen. Damitwurde der besondere Status der Entwicklungsländerim GATT rechtlich weiter abgesichert, dochgleichzeitig setzte eine Differenzierung innerhalbder Gruppe der Entwicklungsländer ein.Anfang der 1980er Jahre geriet die Weltwirtschaftwieder in Turbulenzen, was den Beginn einer neuenVerhandlungsrunde erschwerte. Die USA undviele andere Länder kämpften mit Stagflation, einerKombination von hoher Inflation und schwachemWirtschaftswachstum (Stagnation). Als dieUSA begannen, mit einer radikalen Hochzinspolitikihre Inflation zu bekämpfen, löste dies eineSchuldenkrise in einer Reihe von Entwicklungsländernaus. Das verschärfte den Nord-Süd-Konfliktzwischen Industrie- und Entwicklungsländernund führte weltweit zu protektionistischen Tendenzen,deutlich sichtbar an der Zunahme vonSelbstbeschränkungsabkommen und Anti-Dumping-Maßnahmen.Das multilaterale Handelssystemwar bedroht durch die fortschreitende Nichtbeachtungder Prinzipien des GATT.Vom Abkommen zur OrganisationNach mehreren gescheiterten Versuchen, eineneue Handelsrunde zu starten, gelang es denOECD-Handelsministern im April 1985, sichgrundsätzlich auf die Aufnahme von Verhandlungenzu einigen und die Entwicklungsländer mit insBoot zu holen. Der offizielle Anstoß zu den Verhandlungender Uruguay-Runde erfolgte auf derMinisterkonferenz in Punta del Este im Jahr 1986.Die Deklaration von Punta del Este fixierte dieVerhandlungsmandate für eine ungewöhnlichbreite Agenda. Die Agenda umfasste die vertrautenSachbereiche Zölle, nicht-tarifäre Handelshemmnisse,tropische Produkte, den Textil- undLandwirtschaftssektor sowie das GATT-Regelwerk,in das beispielsweise die sechs Sonderabkommender Tokio-Runde eingehen sollten. Neu waren dieBereiche Streitschlichtung, der Schutz geistigenEigentums, handelsbezogene Investitionsmaßnahmenund die Einbindung von Dienstleistungen inden Zuständigkeitsbereich des GATT. Insgesamtwurden 15 Verhandlungsgruppen eingerichtet,die Anfang 1987 ihre Arbeit aufnahmen. NachOrientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)49


Internationale Wirtschaftspolitikzwei Jahren waren die Fortschritte in den einzelnenGruppen sehr unterschiedlich. Das hoffnungsvollals Halbzeit-Konferenz geplante Treffenin Montreal im Jahr 1988 konnte nur in sechsGruppen Fortschritte feststellen. In den restlichenGruppen waren die Verhandlungen dagegen festgefahren.Im Lauf der Verhandlungen zeigte sich, dass ohneFortschritte im Landwirtschaftsbereich die USAund andere Agrarexporteure keinem Abschlusszustimmen würden. Zugleich signalisierten dieEntwicklungsländer, dass sie ohne die Abschaffungdes Multifaserabkommens, das den Handelmit Textilien und Bekleidung reguliert, keineKompromisse in anderen Sektoren eingehenkönnten. An den Gegensätzen im Landwirtschaftsbereichscheiterte auch die Ministerkonferenz inBrüssel zwei Jahre später. Wiederum war das Vertrauenins multilaterale Handelssystem erschüttert,und Zweifel wuchsen, ob die Verhandlungenje abgeschlossen würden.Neue Hoffnungen keimten erst auf, als die EuropäischeUnion (EU) begann, ihre Landwirtschafts -politik intern auf den Prüfstand zu stellen und derUS-Präsident eine Verlängerung seines im Sommer1988 ausgelaufenen Verhandlungsmandats erhielt.Ein Abkommen rückte in greifbare Nähe.Zudem zeichnete sich ab, dass es einerseits einenwesentlich verbesserten, einheitlichen Mechanismuszur Streitschlichtung beinhalten würdeund es andererseits die Gründung einer neuenOrganisation vorsah, die das GATT und sein Sekretariatersetzen sollte.Gerade die letzten Differenzen zwischen den Verhandlungspositionenwaren nicht leicht zu überbrücken.Obwohl der Anteil der Landwirtschaft sowohlam Sozialprodukt und bei der Beschäftigungin den Industrieländern als auch im internationalenHandel bereits stark geschwunden war, bliebendie entsprechenden Interessengruppen einflussreichgenug, um ein Abkommen platzen zu lassen,das wesentliche Fortschritte in den viel bedeutenderenSektoren Industrie und Dienstleistungenversprach. Für einen erfolgreichen Abschluss derVerhandlungen war ein Kompromiss im Bereichder Landwirtschaft zwischen den USA und der EGvonnöten. Die beiden Parteien waren die wichtigs -ten Stützen des Welthandelssystems und vereinigtenetwa die Hälfte des Welthandels auf sich. Dakeiner der beiden schuld am Scheitern der Verhandlungensein wollte, fanden sie in bilateralenVerhandlungen eine Lösung.Kaum war der Stolperstein Landwirtschaft ausdem Weg geräumt, befürchteten die anderen Länder,dass ihre Interessen im Schlussspurt der Verhandlungennicht ausreichend berücksichtigt würden– und präsentierten neue Forderungen. Erstdurch den Appell einer Gruppe von 37 Ländernan die Triade von USA, EG und Japan, ihrer Verantwortunggerecht zu werden sowie den Verhandlungenhöchste Priorität einzuräumen undzum Abschluss zu führen, setzte im März 1993 einteilweise fieberhafter Endspurt ein. Ein Hindernisnach dem anderen wurde weggeräumt, und am15. Dezember 1994 konnte der erfolgreiche Abschlussder Uruguay-Runde verkündet werden.Die WTO und ihr WirkungsbereichErgebnis der Verhandlungen war ein Vertragswerk,bestehend aus der WTO-Charta und vier Anhängen.In der Charta wird die WTO einerseits alsOrganisation ins Leben gerufen, und andererseitswerden ihre Struktur und ihre Aufgaben definiert.Teil 1 beinhaltet drei Abkommen: das GATT fürden Güterhandel, das GATS (General Agreementon Trade in Services) für den Dienstleistungssektorund das TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspectsof Intellectual Property Rights) zum Schutzdes geistigen Eigentums. Teil 2 behandelt denneuen Streitschlichtungsmechanismus, währendTeil 3 den Mechanismus zur Überwachung derHandelspolitik regelt. Die drei Teile gelten als Einheitund müssen von allen WTO-Mitgliedern(multilateral) anerkannt werden. Ein vierter Teilumfasst vier weitere Abkommen zu unterschiedlichenBereichen, die nur für die Unterzeichner(plurilateral) verpflichtend sind.Für den Güterbereich können folgende Ergebnissefestgehalten werden: Der Landwirtschaftsbereichwird voll ins GATT integriert; jegliche sektorielleSonderbehandlung wird abgeschafft. In diesemRahmen wurde ein Programm für die zukünftigeLiberalisierung des Landwirtschaftssektors indrei Bereichen festgelegt: bei Marktzugang, einheimischenStützungsmaßnahmen und Ausfuhrsubventionen.Daneben wurde das Multifaserabkommenabgeschafft; die seit 1961 bestehendenMengenbeschränkungen beim Zuwachs der Einfuhrvon Textilien in die USA und in die EG wurdenin einem Zeitraum von zehn Jahren(1995–2005) vollständig abgebaut.Die vereinbarten Zollsenkungen bei Industriegüternbetrugen für die acht wichtigsten Industrieländer38 Prozent und entsprachen damit dem Er-50 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Welthandelsordnunggebnis der Kennedy-Runde. Die Zollsenkungen erfolgtenüber einen Zeitraum von fünf Jahren undsenkten das Durchschnittsniveau der gebundenenZölle der Industrieländer auf 3,8 Prozent. Auchbei den Zollbindungen waren große Fortschrittezu verzeichnen: Die Industrieländer erreichten eineBindung von 99 Prozent, und die Entwicklungsländererhöhten ihren Bindungsgrad von 21auf 73 Prozent bei Agrar- und Industriegütern.Unter den neuen Abkommen ragt die Zuständigkeitfür den Handel mit Dienstleistungen heraus.Mit Ausnahme staatlicher Dienstleistungen unddes Lufttransports werden im Prinzip alle Sektorendes Dienstleistungshandels erfasst. JedesWTO-Mitglied hat eine Übersicht vorzulegen, inder es detailliert seine Verpflichtungen bei Marktzugangund Inländerbehandlungen sowie eventuelleBeschränkungen auflistet. Das Dienstleistungsabkommenhat somit weniger zu Liberalisierungals zu Transparenz der rechtlichen Marktzutrittsbedingungengeführt. Neben der Transparenzgelten im Dienstleistungssektor die Grundprinzipiender Nichtdiskriminierung und der Disziplinierungstaatlicher Monopole.Die Stärkung und Vereinheitlichung des Verfahrenszur Streitschlichtung ist ein weiterer wichtigerBestandteil des Uruguay-Abkommens. Das neueVerfahren wird häufig als das Kronjuwel des WTO-Vertragswerks bezeichnet. Daneben mag die institutionelleÜberwachung der Handelspolitik derMitglieder auf den ersten Blick nicht so bedeutenderscheinen, doch leistet sie einen wichtigen Beitragzur Transparenz in der Handelspolitik. Sie erlaubtnach einer Bestandsaufnahme der nationalenHandelspolitik durch einen Regierungs- undSekretariatsbericht die Diskussion der aktuellen Situationohne Androhung von Rechtsklagen oderSanktionen.Das Uruguay-Abkommen wurde zu Beginn desJahres 1995 in Kraft gesetzt, nachdem es von denParlamenten der 117 Mitglieder ratifiziert wordenwar. Da die Verhandlungen noch nicht in allen Bereichenabgeschlossen waren, wurde weiter verhandelt.So gelang in den drei darauffolgendenJahren der Abschluss weiterer Abkommen. Aufder Ministerkonferenz von Singapur im Dezember1996 unterzeichneten 23 Länder das Informations-und Technologie-Abkommen (InformationTechnology Agreement), das die Zölle für etwa300 Produkte dieser Gütergruppe abschaffte. ImBereich der Dienstleistungen wurden Abkommenzu Telekommunikations- und Finanzdiensten getroffen,die detaillierte Verpflichtungen zu Transparenz,Nichtdiskriminierung und teilweise auchzu Liberalisierung in diesen Sektoren beinhalten.Der Abschluss der Uruguay-Runde fiel in eineZeit, die von einer weltweiten Tendenz zu mehrMarkt und weniger staatlichen Interventionen getragenwurde. Viele Entwicklungsländer reduziertenihre Zölle freiwillig und wurden dabei vomIWF und der Weltbank unterstützt. Dem BeispielChinas folgend versuchten auch andere Entwicklungsländer,vorher eher verteufelte Auslandsinvestitionenanzuziehen. Der Fall der Berliner Mauer,der Zerfall der Sowjetunion und Chinas Bewerbungum die WTO-Mitgliedschaft ließen auf einefriedlichere globale Zusammenarbeit hoffen. DerUmschwung der öffentlichen Meinung ließ jedochnicht lange auf sich warten: Die Finanzkrise Endeder 1990er Jahre in Asien erschütterte das Vertrauenin die globalen Finanzmärkte. Das Platzender Internetblase zu Beginn des neuen Jahrtausendsund die Terroranschläge vom 11. September2001 führten zu Börsenkrisen und gaben den GlobalisierungsgegnernAuftrieb.Dennoch gelang es nach mehreren Rückschlägenauf einer Ministerkonferenz in Doha im Oktober2001, China als WTO-Mitglied zu begrüßen unddie neunte Handelsrunde zu starten. Nach fast siebenJahren Verhandlungen und spektakulären Ministerkonferenzen,zum Beispiel in Seattle undCancun, versuchen die mittlerweile 152 WTO-Mitglieder,die Doha-Runde in diesem Jahr abzuschließen.Intensive Beratungen auf verschiedenenEbenen und eine Konferenz im Juni 2008 sollenden Weg für eine grundsätzliche Einigung ebnen.Zurzeit sind die Fortschritte in den einzelnenArbeitsgruppen sehr unterschiedlich, und ein füralle Teilnehmer wünschenswertes Gesamtpaket erscheintin weiter Ferne. Letztlich muss die Schluss -akte von allen Mitgliedern angenommen werden.Während in den Bereichen Landwirtschaft undMarktzugang bei Industriegütern konkrete Vorschlägevorliegen, sind die Umrisse einer Einigungbei anderen Themenkomplexen, wie Dienstleistungenund geistigem Eigentum, noch unscharf.Weniger Stolpersteine auf dem Weg zum Abschlussder Doha-Runde sind in den übrigen Verhandlungsbereichen– Handel und Umwelt,Sonderstatus der Entwicklungsländer sowie Handelserleichterung– zu erwarten.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)51


Internationale WirtschaftspolitikAktuelle Herausforderungenund ZukunftsperspektivenDer Versuch zum Abschluss der Doha-Runde fälltin eine Zeit, in der sich die Weltwirtschaft erneutin einer kritischen Lage befindet. Neben der konjunkturellenAbschwächung in den USA und derglobalen Finanzkrise sorgen Turbulenzen auf denRohstoffmärkten für Verunsicherung. Hinzu kommenlängerfristige strukturelle Verschiebungen,insbesondere die Erosion der weltwirtschaftlichenVorrangstellung des Nordatlantikraums zugunsteneiner größeren Bedeutung Asiens, besonders Chinasund Indiens. Dies bringt Veränderungen inder Weltwirtschaft mit sich, die das WTO-Handelssystemvor neue Herausforderungen stellen werden.Drängten bisher die USA und Europa auffreien Handel, werden in Zukunft möglicherweisedie aufstrebenden Wirtschaften von der Defensivezur Offensive übergehen. Diese Volkswirtschaftensind in den letzten zehn Jahren deutlich schnellergewachsen als die Industrieländer. Viele von ihnenhaben große Devisenreserven, die sie vermehrt inausländische Firmen und Bodenschätze investieren.Sie dürften daher an globalen Regeln zur Sicherungausländischer Direktinvestitionen verstärktInteresse zeigen. Daneben werden die aufstrebendenWirtschaften zunehmend die Entwicklungeigener Marken und Produkte betreiben, womitihr Interesse am Schutz geistigen Eigentumsebenfalls zunehmen dürfte.Eine Gefahr für das Handelssystem könnte auchdurch einen abrupten Anpassungsprozess bei denglobalen Zahlungsbilanz-Ungleichgewichten entstehen.So entspricht das Handelsdefizit der USAfast sieben Prozent des weltweiten Güterhandels,und es ist zu hoffen, dass ein Rückgang dieses Defizitsüberwiegend durch Ausfuhrsteigerungenund nicht durch geringere Einfuhren erfolgt. Zueiner weiteren Gefahr könnten sich die steigendenRohstoff- und Energiepreise herausbilden.Neben dem externen Druck auf das Handelssystemgibt es aber auch inneren Reformbedarf.Nach dem absehbaren Beitritt Russlands zur WTOwird die Organisation mehr als 152 Mitglieder umfassen– alle ausgestattet mit einer Stimme und damitmit der Macht, Entscheidungen im Konsensverfahrenzu verhindern. Neben der großen Anzahlvon Ländern dürfte aber auch die größereHeterogenität innerhalb der WTO zu Problemenbei der Konsensbildung führen. Die Diskussionüber den Mechanismus der internen Entscheidungsfindungerscheint deshalb unausweichlich.Ein weiterer Diskussionspunkt betrifft die Grenzendes WTO-Mandats: Sollen die bislang abgelehntenThemen „Handel und Arbeit/Migration“, „Handelund Investitionen“ sowie „internationaler Wettbewerb“im Rahmen der WTO oder in anderenGremien bzw. Organisationen behandelt werden?Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen der WTO,dem IWF, der Weltbank sowie anderen Institutionenbei der Entwicklung und Integration der amwenigsten entwickelten Länder aus?Diese Fragen zeigen, dass die Weltgemeinschaftheute vor neuen Herausforderungen in der internationalenZusammenarbeit steht. Die gewaltigeExpansion des Welthandels – maßgeblich unterstütztdurch die Liberalisierungserfolge im Rahmenvon GATT und WTO – hat zu einer historisch einmaligenIntegration der Weltwirtschaft beigetragenund die Notwendigkeit der internationalen Kooperationverstärkt. Die Geschichte des multilateralenHandelssystems hat gezeigt, dass dies auch zwischenNationen mit unterschiedlichem Entwicklungsni -veau und verschiedenen Interessen möglich ist –wenn der Wille vorhanden ist, die Zukunft der Welthandelsordnunggemeinsam zu gestalten. 52 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Die Ernährungskrise verlangt eine differenzierte AnalyseProf. em. Dr. Franz NuschelerInstitut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-EssenDie steigenden Nahrungsmittelpreise werden oft einseitig auf die verstärkte Produktion von Bio-Kraftstoffen zurückgeführt.Doch diese Argumentation greift zu kurz. Auch die Nachfrage nach Fleisch, Fehler in der Agrarpolitik und derMissbrauch von Hilfsprogrammen tragen dazu bei, dass sich viele Hundert Millionen Menschen nicht ausreichend ernährenkönnen.In der jüngsten Vergangenheit haben die Medienüber Hungerrevolten in verschiedenen Ländernvon Haiti über Kamerun bis zu den Philippinenberichtet. Die im medialen Jargon sogenannte Ernährungskriseverdrängte die Turbulenzen aufden Finanzmärkten teilweise aus den Schlagzeilen.Der Präsident der Weltbank Robert Zoellick, derChef des Internationalen Währungsfonds (IWF)Dominique Strauss-Kahn oder der britische PremierministerGordon Brown schätzten die Folgen derPreisschocks bei den Grundnahrungsmitteln Reis,Mais und Weizen für die soziale und politische Stabilitätvieler Länder bedeutsamer ein als die vonder Finanzkrise ausgelösten Schockwellen. DasWelternährungsprogramm der Vereinten Nationen(World Food Programme, WFP) erwartet weitereHungerrevolten, wenn es nicht gelingen sollte,in den rebellischen Städten Lebensmittel zu reduziertenPreisen bereitzustellen.Immer mehr hungernde MenschenStrauss-Kahn, der sich in der Regel dramatisierenderRhetorik und politischer Wertungen enthält,malte ein Horrorszenario von Hungerrevolten sowiekollabierenden Staatswesen und Demokratien.Die Interamerikanische Entwicklungsbank (Inter-American Development Bank, IDB) erkannte inder von steigenden Nahrungsmittelpreisen verursachtenInflation die größte Gefahr für eine ansonstenstabile wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika,dessen hohes Wirtschaftswachstumvor allem auf Zuwächsen beim Export von Agrarprodukten– im Besonderen auf einem Soja-Boom– beruht. Die afrikanischen Wirtschafts- und Finanzministerentdeckten bei einer Konferenz derAfrikanischen Union in Addis Abeba Anfang Aprileine ernste Gefahr für Wachstum, Frieden und Sicherheitin Afrika – und meinten nicht drohendeBürgerkriege, sondern die explosionsartig gestiegenenPreise für importierte Grundnahrungsmittel,vor allem für das Hauptnahrungsmittel Reis.In ganz Asien, wo Reis für 2,5 Milliarden Menschendie Ernährungsgrundlage bildet, hat die gefüllteReisschüssel eine hohe Symbolkraft für dieLeistungsfähigkeit sowie Legitimation von Wirtschaftsordnungenund politischen Systemen.Innerhalb weniger Monate hatten sich die Preisefür Reis, Weizen- und Maismehl sowie für Palmölund Zucker teilweise mehr als verdoppelt. DiePreise von Brot oder Tortilla zogen nach.Die Teuerungsraten trafen vor allem die armenBevölkerungsgruppen, die bis zu 80 Prozent ihresEinkommens für Lebensmittel zum Überlebenaufbringen müssen. Dieser Anteil liegt in den westlichenWohlstandsgesellschaften im Durchschnittder Haushalte unter 20 Prozent. Hier wird einstruktureller Zusammenhang zwischen Armut undHunger deutlich, den die Weltbank schon 1986 imBericht „Poverty and Hunger“ aufgezeigt hatte.Schon vor der Preisexplosion hungerten nach Angabender Vereinten Nationen 800 Millionen Menschenaufgrund ihrer geringen Kaufkraft und verhungertenMillionen neben vollen Getreide- oderReisspeichern. Heute hungern nach Einschätzungder Weltbank rund 100 Millionen Menschenmehr, weil sie sich die teuren Lebensmittel nichtleisten können. In vielen Ländern und Städtensammelten sie sich zu Massenprotesten, welche dieWeltöffentlichkeit erst auf den „stillen Tsunami“einer von Preisschocks ausgelösten Versorgungskriseaufmerksam machten.Aber nicht so sehr die Anteilnahme für Not leidendeMenschen, sondern die Befürchtung politischerEruptionen drängte die Staatengemeinschaft,die Weltbank und den IWF zum Aktio-Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)53


Internationale Wirtschaftspolitiknismus. Eine kontinental übergreifende Kettenreaktionder Proteste könnte nicht nur die marktwirtschaftlicheGestaltung der Globalisierung, sondernauch das internationale Institutionensystemunter Legitimationszwang setzen. Aus Afrika gibtes bereits Stimmen, welche die aktuelle Krise auchder FAO (Food and Agriculture Organization ofthe United Nations) anlasten und deshalb ihre Abschaffungoder Verzahnung mit dem IFAD (InternationalFund for Agrarian Development) fordern.Diese 1977 gegründete Organisation derVereinten Nationen bemühte sich im Besonderen– allerdings mangels ausreichender finanziellerMittel nicht sonderlich erfolgreich – um die Erhöhungder Nahrungsmittelproduktion in den vonHungersnot betroffenen Ländern.Die dramatische Rhetorik der Repräsentanten desinternationalen Institutionensystems hat also einedefensive Funktion. Die ordnungspolitische Gretchenfragelautet, ob die Politik mithilfe ihrer internationalenInstitutionen und Regelwerke wie derWelthandelsorganisation (WTO) das internationaleMarktgeschehen auch zum Wohle der schwächs -ten Gruppen in der Weltgesellschaft gestaltenkann. Der völkerrechtlich verbindliche „Sozial -pakt“ kodifizierte ein Recht auf Nahrung undmenschenwürdige Lebensbedingungen, aber dasvon ihm institutionalisierte Beschwerderechtschafft keine Nahrung herbei.Hungersnöte haben viele UrsachenPlötzlich tauchte in den Medien wieder ein Gespenstauf, das durch die großen Produktivitätsfortschrittein der Landwirtschaft und die Überproduktionvon Nahrungsmitteln in den OECD-Ländern vertrieben zu sein schien: die über zweiJahrhunderte alten Warnungen des Pastors ThomasR. Malthus vor massenhafter Verelendung undHungerkriegen im Gefolge des nicht von der Nahrungsmittelproduktionaufgefangenen Bevölkerungswachstums.Die Verwirklichung eines derHauptziele der von den Vereinten Nationen beschlossenenMillennium-Entwicklungsziele – dieHalbierung der Zahl der Hungernden bis zumJahr 2015 – schien in weite Ferne gerückt zu sein,weil bei Halbzeit ihre Zahl sogar angewachsen ist.Zoellick warnte: „Wir glauben, dass die Lebensmittelkriseweltweit sieben verlorene Jahre für dieArmutsbekämpfung bedeutet.“ Ein großes undverheißungsvolles Projekt der Staatengemeinschaftdroht zu scheitern. Auch das seit 1994 operierendeSpecial Programme for Food Security derFAO konnte nicht gegensteuern.Hunger ist jedoch keine Folge der Unfähigkeit derglobalen Landwirtschaft, die Weltbevölkerung mitNahrungsmitteln zu versorgen, sondern ein komplexesFolgeproblem verschiedener Faktoren: die weltweit sehr ungleich verteilte Kaufkraft; veränderte Nachfragestrukturen, die das Angebotvon Nahrungsmitteln verknappen; agrarpolitische Fehlentwicklungen, die Nahrungskulturenzunehmend durch den profitablerenAnbau von Futtermitteln und neuerdings vonpflanzlichen Rohstoffen für die Erzeugung vonBiokraftstoffen ersetzen; entwicklungspolitische Fehlplanungen undFehlentscheidungen bi- und multilateraler Entwicklungsorganisationen,allen voran der Weltbank,welche die rund 400 Millionen Kleinbauernund die ländliche Entwicklung vernachlässigten.Kurzfristige Gründe für steigende PreiseIn der aufgeregten medialen Diskussion über dieUrsachen des „stillen Tsunami“ in Gestalt vonPreisexplosionen bei Nahrungsmitteln wurdenhäufig kurzfristige Gründe mit langfristig wirksamenStrukturveränderungen in Produktion (Angebot)und Konsum (Nachfrage) von Agrargüternvermischt. Kurzfristig haben folgende Faktorendas Angebot wichtiger Grundnahrungsmittel(Reis, Mais, Weizen) verknappt: Ernteausfälle im Gefolge von Wetterextremen,im Besonderen einer Dürreperiode in Australiensowie großflächigen Überschwemmungen in Afrika.Klimaforscher führen diese Wetterextreme miterheblichen Auswirkungen auf die Agrarproduktionauf Vorboten des Klimawandels zurück. Siewerden nach Erkenntnissen der Klimafolgenforschungvor allem die ökologisch verwundbarenTrockenzonen in Afrika und Südasien treffen. Ausfuhrbeschränkungen von großen Reisproduzentenwie China, Indien, Thailand und Vietnam,welche die Knappheit bei Reis – des Hauptnahrungsmittelsfür fast die Hälfte der Weltbevölkerung– verschärften und vor allem arme Importländerschlagartig mit steigenden Preisen konfrontierten.Die Nachfrage der aufblühenden USamerikanischenBioethanol-Industrie nach demRohstoff Mais führte bereits zu einem erheblichenRückgang der Maisexporte.54 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Ernährungskrise Sinkende Lagerbestände bei Reis, Mais undWeizen, die auf den Warenterminbörsen die Spekulationanheizten. Die Lagerbestände bei Reisfielen nach Auskunft des International Rice Re -search Institute in Manila auf das geringste Volumenseit 25 Jahren. Allerdings dienen die Spekulantenmanchmal als allzu willkommene „böse Buben“in einem undurchsichtigen Spiel von Angebotund Nachfrage. Spekulation ist ein Systemelementdes internationalen Agrar- und Rohstoffhandels,das künftige Marktentwicklungen antizipiert,sie aber auch falsch einschätzen kann. Was die Medien als „Hungerrevolten“ darstellten,war auch genährt von Protesten gegen ebensostark steigende Energiepreise, die das tägliche Lebensowie zugleich die Produktion und den Transportvon Nahrungsmitteln verteuerten. Im September2007 hatten in Myanmar Tausende vonMönchen in der sogenannten „Safran-Revolution“zuerst gegen hohe Benzin- und Reispreise unddann gegen das Militärregime protestiert.Wetterbedingte Ernteausfälle, Exportbeschränkungender wichtigsten Produktionsländer vonReis und Mais oder das Treiben von Spekulantenkönnen kurzfristige Preisentwicklungen auf denWeltagrarmärkten erklären. Offen bleibt aber, warumsich nach Jahrzehnten der Überschussproduktionund Niedrigpreise eine längerfristige Angebotsverknappungmit Preisen auf einem wesentlichhöheren Niveau abzeichnet. Der Hauptgrundfür die aktuelle und wahrscheinlich längerfristigeVerteuerung vieler Nahrungsmittel ist die globalsteigende Nachfrage, zu der verschiedene Entwicklungenin der Produktion und im Konsumvon Agrargütern beitragen.Vermeintliche undtatsächliche PreistreiberIn der Diskussion über die „Ernährungskrise“ wirdhäufig der staatlich geförderte Anbau von Energiepflanzen(Soja, Mais, Weizen, Zuckerrohr,Raps) zur Erzeugung von Biokraftstoffen für dieVerknappung von Nahrungsmitteln verantwortlichgemacht. Kritiker überziehen die Verwendungvon Nahrungsmitteln für die Produktion vonBiosprit mit moralisierenden Schmähungen: Weilimmer mehr Agrarprodukte im Tank der Autosvon Reichen statt auf den Tellern der Armen landen,werde der Hunger willentlich hingenommen.Es muss schon nachdenklich stimmen, dass die Getreidemenge,die für die Tankfüllung eines Mittelklassewagensnotwendig ist, einen Vegetarier einganzes Jahr lang ernähren könnte, dass aus einemhalben Pfund Mais nur 85 Kubikzentimeter Biospritgewonnen werden können. Energiepflanzenkonkurrieren um Anbauflächen, die bisher demAnbau von Nahrungsmitteln oder Futtermittelnvorbehalten waren. Lester Brown, Präsident desEarth Policy Institute, prophezeite deshalb einewachsende Konkurrenz zwischen Mensch und Maschineum Ackerflächen, Wasser und Getreide.Was spricht dennoch gegen eine pauschale Verteufelungvon Biosprit, die sich mit durchaus plau -siblen energie- und umweltpolitischen Zielprojektionenauseinandersetzen muss, zumal der Klimawandelnach allen wissenschaftlichen Szenarienauch die weltweite Nahrungsmittelproduktion beeinträchtigenwird? Nach Einschätzung der FAOwurde der aktuelle Preisanstieg bei Reis, Mais undWeizen nicht wesentlich vom Biosprit-Boom beeinflusst.Derzeit wird erst auf fünf Prozent der weltweitverfügbaren Agrarflächen dieses neue „GrüneGold“ angepflanzt. In der EU werden bisher nurzwei Prozent der Getreideernte für die Produktionvon Biokraftstoffen verwendet. Es gibt einen wichtigerenGrund, der zu einem nüchternen Abwägendes Pro und Contra anregt. Der Journalist Fritz Vorholzprognostizierte ein vom pflanzlichen Erdölersatzangetriebenes „Eldorado im Armenhaus“. 1 Deraus Pflanzen gewonnene Ölersatz könnte nicht nurdie teuren Ölimporte verringern, welche die Handels-und Zahlungsbilanz vieler armer Länderschwer belasten und ihren entwicklungspolitischenHandlungsspielraum verengen. Vielmehr könnteer auch Kleinbauern neue Einkommensquellen erschließenund ihnen zusätzlich einen Ausweg ausder Energiearmut eröffnen.Aber dieses Eldorado könnte auch teuer erkauftwerden, vor allem durch weitere Gefährdung derErnährungssicherheit und durch den Zwang, nochmehr und möglicherweise noch teurere Nahrungsmittelzu importieren. Es entsteht die Gefahr einerweiteren Verknappung und Verteuerung der Nahrungsmittel,wenn sowohl die USA als auch dieSchwellenländer, wie bereits geplant, den Anteilder Biokraftstoffe am Energieverbrauch deutlichsteigern und den Anbau von Energiepflanzen mitSubventionen fördern sollten.Agrarökonomen, die darüber nachdenken, wie einewachsende Weltbevölkerung ernährt werden1 Fritz Vorholz, Eldorado im Armenhaus, in: Die Zeit vom 28. Dezember2006.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)55


Internationale Wirtschaftspolitikkann, beurteilen weitgehend einvernehmlich dieUmwandlung von Nahrungskulturen in Biosprit-Produktionsstätten kritisch. Dennoch verkennensie nicht, dass das „Eldorado im Armenhaus“ auchden „Armenhäusern“ sowie den ArmutsgruppenVorteile verschaffen könnte.Nahrungsmittel für Menschenoder Futtermittel für Schlachtvieh?Eine weitere Ursache für die Preisschübe liegt inveränderten Konsumgewohnheiten bei den erheblichgrößer gewordenen Mittelschichten inden Schwellenländern, die sich mit höheremFleischverzehr westlichen Konsummustern annäherten.Höherer Fleischkonsum bedeutet einenhöheren Bedarf an Futtermitteln, der vor allemdann, wenn er höhere Renditen verspricht, mitdem Anbau von Nahrungsmitteln konkurriert.Was schon der ehemalige EG-Präsident Sicco Mansholtauf die polemische Formel „Mensch oderSchwein“ gebracht und damals heftige Kontroversenüber die „Veredelung“ und Verschwendungvon pflanzlichen Nährwerten in Tiermägen ausgelösthatte, umschrieb nun Joachim von Braun, Leiterdes International Food Policy Research Institute,so: „Nicht die Nachfrage nach Brot oder nach Reisin der Schüssel ist explodiert, sondern die nachGetreide für Huhn, Schwein und Kuh.“ 2Die Versorgungsengpässe und Preisschübe verursachtealso nicht die immer wieder im Stile vonMalthus horrifizierte Bevölkerungsexplosion, sonderndie Tatsache, dass bereits ungefähr 40 Prozentdes weltweit geernteten Getreides, 60 bis 70 Prozentder Ölsaaten und die Hälfte der Fischfänge als Futtermittelverwertet werden. Bei dieser „Veredelung“gehen solche Mengen von Nährwerten verloren,die weit mehr Menschen ernähren könnten, alsheute auf der Welt Hunger leiden. Es grenzt schonan Heuchelei, wenn sich westliche Wohlstandsbürgerüber den wachsenden Fleischkonsum in anderenWeltregionen mokieren, ohne die durch denImport von Futtermitteln aus der Dritten Welt ermöglichteMassentierhaltung in der OECD-Weltoder gar das eigene Konsumverhalten zu überdenken.Die Globalisierung führt eben auch zu einerstärkeren Verbreitung westlicher Konsummusterund fördert die „McDonaldisierung“.2 Vgl. Interview in Die Zeit vom 17. April 2008.Die zu Beginn der 1980er Jahre vom EvangelischenHilfswerk „Brot für die Welt“ gestartete Kampagne„Hunger durch Überfluss“, die solche Zusammenhängethematisierte, löste damals heftige Kritik vonAgrarökonomen aus. Sie argumentierten mit demhandelspolitischen Theorem der komparativenKostenvorteile in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaftund verteidigten damit die entwicklungspolitischeFörderung von exportfähigen Agrarproduktenzum Nachteil der eigenen Ernährungssicherung.Sie konnten in der Tat darauf verweisen,dass die durch Agrarexporte erzielten Devisen denImport von damals reichlich verfügbaren und billigenNahrungsmitteln ermöglicht haben. Sie konntenauch nachweisen, dass kein zwangsläufigerWiderspruch zwischen Nahrungs- und Futtermittelnbestehen muss. Die Niedrigpreise für Nahrungsmittelmachten den Anbau von Futtermittelnattraktiver. Inzwischen explodierten aber die Preisefür die importierten Nahrungsmittel, und das Bevölkerungswachstumwird für eine weiter steigendeNachfrage sorgen. Wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnissegerieten ins Wanken, und die Ernährungssicherungerhielt notgedrungen wieder entwicklungspolitischePriorität.Politologen und Soziologen sehen in der Ausweitungvon Monokulturen im Besitz von Großgrundbesitzernoder multinationalen Unternehmen eineordnungspolitisch bedenkliche Konzentrationvon ökonomischer und politischer Macht. Die Renaissancedes Zuckerrohrs zur Herstellung vonEthanol stärkte die politische Macht der altenLand-Oligarchie, die in Lateinamerika eine Blockademachtgegen notwendige Agrarreformen bildet.Ökologen sorgen sich um den Verlust von Biodiversitätauf den Monokulturen, den auch dienach der Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklungvon 1992 beschlossene Biodiversitätskonvention(Übereinkommen über die biologische Vielfalt)nicht aufhalten konnte. Der Soja-Boom in Lateinamerika,der die Viehställe Nordamerikas undEuropas mit nährstoffreichem Futtermittel versorgt,hinterlässt große ökologische Schäden, vonPestiziden verseuchte Flüsse und der Artenvielfaltberaubte Landschaften. Durch seine industrielleProduktionsweise schafft er aber nur wenige Arbeitsplätze.Nutznießer sind das nationale und internationaleAgrobusiness – also alle Wirtschaftsbereiche imZusammenhang mit Landwirtschaft –, internationaleHandelsketten und Transportunternehmen,die Produzenten von Dünge- und Pflanzenschutzmittelnsowie der Staat aufgrund vorteilhafterHandels- und Zahlungsbilanzen. Gleichzeitig füllensich aber die städtischen Slums mit arbeitslosgewordenen Landarbeitern und Landlosen, dieihre Hoffnungen auf Agrarreformen begraben56 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Ernährungskrisemussten. Die Reformen hätten ihnen Chancenverschaffen können, sich selbst zu ernähren undNahrungsmittel für lokale Märkte anzubauen. DerSoja-Boom stimuliert das Wirtschaftswachstum,wird aber mit schweren sozialen und ökologischenProblemen erkauft, welche die soziale und politischeStabilität demokratischer Systeme gefährden.Forderungen nach einer Wende inder globalen LandwirtschaftspolitikMalthus irrte, weil ihn die Produktivität steigerndeAgrarrevolution widerlegte. Er könnte erneutwiderlegt werden, wenn die grundlegende Umorientierungder globalen Landwirtschaft und desinternationalen Agrarhandels umgesetzt würde,die der im April 2008 vorgelegte „Weltagrarbericht“,genauer das International Assessment ofAgricultural Science and Technology for Development(IAASTD), forderte. Der Bericht wurde unterder Federführung von Weltbank und FAO unterMitwirkung von 400 Wissenschaftlern aus allenWeltregionen erarbeitet und von 60 Staaten unterzeichnet.Er verbindet also wissenschaftlichenSachverstand mit agrar- und handelspolitischenReformbestrebungen.Im Bericht stellen die Weltbank und die FAOselbst infrage, was sie Jahrzehnte lang verkündetund in Förderprogramme umgesetzt hatten. Erfordert nun, was Verteidiger des „Rechts auf Nahrung“,wie der UN-Beauftragte für die Verwirklichungdieses Rechts, der Schweizer Soziologe JeanZiegler, schon lange gefordert hatten: die Abkehrvon verbreiteten Formen der modernen Massenproduktion,die auf dem massiven Einsatz von Pestizidenund Düngemitteln auf großflächigenMonokulturen beruht und mit hohem Kapitaleinsatzden profitablen Anbau von Futtermitteln undnun auch von Rohstoffen für Biokraftstoffe bevorzugt.Er fordert stattdessen die gezielte Förderungder rund 400 Millionen Kleinbauern, die auf kleinenParzellen Nahrungsmittel für ihr lokales Umfeldproduzieren, sowie eine stärkere Ausrichtungder internationalen Agrarforschung an den Bedürfnissenund Produktionsbedingungen derKleinbauern.Eine Ende der 1980er Jahre von der Weltbank inAuftrag gegebene und vom britischen ÖkonomenRobert Cassen durchgeführte Evaluierung der internationalenEntwicklungszusammenarbeit hatte zutagegefördert, dass sich die Agrarforschung aufQualitäts- und Produktivitätsfortschritte bei Exportproduktenkonzentrierte und nur geringe Teileder internationalen Agrarhilfe die Kleinbauernerreichten. 3 In den Kleinbauern hatte Frantz Fanonschon in den 1960er Jahren die „Verdammtendieser Erde“ erkannt. 4 Sie blieben die „Verdammten“nationaler und internationaler Fehlentwicklungen,weil sich auch die nationalen Eliten undBürokratien unter dem Druck von der Weltbankund dem IWF mehr um die Steigerung der Devisenerwirtschaftenden Exportproduktion als umdie Ernährungssicherung der eigenen Bevölkerungenkümmerten. Ihnen ging es mehr darum,auf einem möglichst hohen Rang auf der „Hungerliste“des Welternährungsprogramms platziertzu werden, der Nahrungsmittelhilfe versprach undEigenanstrengungen zur Ernährungssicherungunterlief.Der „Weltagrarbericht“ übt nicht nur massive Kritikan den Förderprioritäten der internationalenEntwicklungspolitik. Vielmehr attackiert er auchdie Praktiken des internationalen Agrarhandelsund den allen Prinzipien des Freihandels widersprechendenagrarpolitischen Protektionismusder OECD-Länder. Die von der WTO erzwungeneÖffnung der lokalen Märkte habe durch diegleichzeitige Subventionierung von Agrarexportenmillionenfach lokale Produzenten ruiniertund damit die Grundlage für eine nachhaltige lokaleWirtschaft zerstört. Armut und Hunger –auch bei der ländlichen Bevölkerung –, Umweltzerstörungund Landflucht seien die Ergebnissedieser Handelspolitik und der entwicklungspolitischenVernachlässigung der ländlichen Entwicklunggewesen.Die Agrarexportsubventionen der EU standen beijeder Verhandlungsrunde der WTO unter massiverordnungs- und entwicklungspolitischer Kritik,weil sie Millionen lokaler Produzenten vonFleisch- und Milchprodukten aus dem Marktdrängten. Die Agrarsubventionen der OECD-Länder,welche die Weltbank auf jährlich rund 350Milliarden US-Dollar schätzte, verzerren das internationaleMarktgeschehen und schwächen die Exportchancender Entwicklungsländer.Diese Erkenntnisse waren nicht neu, aber scheinbarlernen auch die entwicklungspolitischen Entscheidungsträgeraus Krisen. Allerdings sind Zweifelangebracht, ob wissenschaftliche Erkenntnisseund darauf aufbauende politische Reformabsichtendie von Nachfragestrukturen und Investitions-3 Vgl. Robert Cassen, Entwicklungszusammenarbeit, Bern/Stuttgart1990.4 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Neuauflage, Frankfurtam Main 2001.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)57


Internationale Wirtschaftspolitikinteressen des internationalen Kapitals geschaffeneSituation, die die Ernährungskrise heraufbeschwor,verändern können. Die Weltwirtschaftfunktioniert nach den Regeln von Angebot undNachfrage und nicht nach der normativen Vorgabedes „Rechts auf Nahrung“, das ein elementaresMenschenrecht bildet. Dies verdeutlichte der Berichtder Enquete-Kommission des DeutschenBundestages zur „Globalisierung der Weltwirtschaft“,der die Stärkung von sozialen, ökologischenund menschenrechtlichen Regeln forderte.Das Hungerproblem könnte gelöst werdenDie Weltbank, der IWF, die FAO und das WFP forderteneine schnelle Aufstockung der Mittel fürdie internationale Nahrungsmittelhilfe, um denMillionen Menschen rasch helfen zu können, diesich die verteuerten Lebensmittel nicht mehr leistenkönnen und deshalb hungern – und möglicherweisemit Massenprotesten Regierungen inBedrängnis bringen. Solche Operationen könneneine momentane Notlage abmildern, aber dieStrukturprobleme nicht nachhaltig lösen, die derderzeitigen Krise zugrunde liegen.Das Ernährungsproblem kann gelöst werden, obwohldie landwirtschaftlichen Anbauflächen nurbegrenzt ausgeweitet werden können und der Klimawandeldie Agrarproduktion besonders dort,wo schon heute die Ernährung durch Wassermangel,Desertifikation und wiederkehrende Wetterextremegefährdet ist, erheblich beeinträchtigenkönnte. Agrarexperten wie Joachim von Braun oderEntwicklungsexperten wie Jeffrey Sachs, die beideauf marktwirtschaftliche Heilungskräfte setzenund deshalb den Agrarprotektionismus derOECD-Länder scharf kritisieren, sehen bei allenwidrigen Umständen und im Einklang mit Modellberechnungender FAO dennoch Chancen,auch eine wachsende Weltbevölkerung ausreichendzu ernähren. Dieser Optimismus setzt allerdingseine Vielzahl von politischen Richtungsentscheidungenund entwicklungspolitischen Maßnahmenvoraus: Das verfügbare und eher knapper werdendeLand darf nicht noch mehr für die Produktionvon Biosprit und für eine Ausweitung des Futtermittelanbauszweckentfremdet werden. Die natürlichen Ressourcen (Boden, Wasser,Energie, Nährstoffe) müssen unter Einsatz derinternationalen Agrarforschung effizienter genutztwerden. Eine auch vom „Weltagrarbericht“ gefordertenachhaltige Bewirtschaftung der Nutzflächenmuss dem weiteren Verlust von Ackerland durchErosion und Desertifikation vorbeugen. Bewässerungssysteme müssen das knappe Wasserbesser nutzen, weil nur bewässerte Flächen fürden Reisanbau geeignet sind und Dürreperiodenüberstehen können; außerdem muss ein effizientesWassermanagement den befürchteten internenund internationalen Konflikten um Wasservorbeugen. Eine bessere Vorratshaltung würde den hohenErnteverlusten vorbeugen, weil mit der Getreidemenge,die auf die Weise verloren geht, ein Großteilder Hungernden ernährt werden könnte. Auch Kleinbauern müssen Zugang zu besseremSaatgut und Düngemitteln erhalten, um ihnen Anreizezur Mehrproduktion zu verschaffen, ohnesich bei Zwischenhändlern verschulden zu müssen.Aber es geht nicht nur um bessere Produktionsbedingungen,sondern auch um Zugänge zu denlandwirtschaftlichen Kernressourcen Land undWasser, also um Landreformen dort, wo der Landbesitzungleich verteilt ist. Man mag aus ordnungspolitischenGründen sozialistische Landreformenablehnen, aber der Erfolg der chinesischen Reformpolitikist nicht zu übersehen. Das riesigeLand war nach epidemischen Hungerkrisen in derLage, seine wachsende Bevölkerung zu ernähren,weil es durch die Zuteilung von Land in privateNutzung – nicht in Eigentum – Eigennutz zuließund die Energien der Millionen von Kleinbauernfreisetzte. Dagegen liegen in Lateinamerika aufLatifundien große Flächen brach, die eine Heerscharvon Landlosen oder Minifundistas, die aufihren kleinen Parzellen sich kaum selbst ernährenkönnen, produktiv bewirtschaften könnten. Hierverliert das Privateigentum seine Schutzwürdigkeit,weil es nicht dem Gemeinwohl dient.Kritikwürdige NahrungsmittelhilfeBei allen Reformüberlegungen geht es auch umdie Stärkung von Eigenverantwortung und Besitz:Sie bedeuten nicht nur das Recht auf eigene Entwicklungsoptionen,sondern fordern auch diePflicht zu Eigenleistungen ein. Viele afrikanischeLänder veräußern diese Eigenverantwortung, weilsie sich auf Nahrungsmittelhilfe von außen verlassenund nur wenig in die Entwicklung ihrer Landwirtschafteninvestieren. Die gestiegenen Agrar-58 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Ernährungskrisepreise könnten den positiven Lerneffekt haben,dass die Regierungen – auch zur eigenen Machtsicherung– umsteuern und die Bauern selbst wiedermehr investieren und produzieren. VerschiedeneRegierungen haben unter dem Druck vonMassenprotesten bereits neues Land für den Reisanbauausgewiesen und Förderprogramme zurSteigerung der Nahrungsmittelproduktion aufgelegt.Krisen können auch die Korrektur von Fehlentwicklungenvorantreiben.Die internationale Entwicklungspolitik könnteund sollte diese Korrektur unterstützen. Sie solltevor allem die Vergabebedingungen der Nahrungsmittelhilfeüberdenken. Die Hilfe kann kontraproduktiveWirkungen erzielen, wenn sie dasagrarpolitische Versagen von Regierungen in denarmen Ländern honoriert und diese dazu verleitet,sich mehr um den Nachweis der Bedürftigkeitals um die Überwindung des Mangels zu bemühen.Kritikwürdig sind vor allem die sogenanntenbulk supplies, also ständige Massenlieferungen,die mit einem Anteil von rund zwei Dritteln dengrößten Posten bilden und den Mangelländern regelmäßigkostenlos oder zu günstigen Bedingungenzur Verfügung gestellt werden. Auch sie könnendie eigenen Bauern entmutigen, wenn sie mitden geschenkten oder unter Preis verkauftenHilfsgütern nicht konkurrieren können. Es gibtviele Belege, dass die Hilfsprogramme auch bei gutenErnten weiterliefen, weil Bürokraten, UN-Personalund Transportunternehmen an ihrer Fortsetzunginteressiert waren. Nur etwa zehn Prozentder Nahrungsmittelhilfe werden für die Katastrophen-und Flüchtlingshilfe eingesetzt. Aber siemuss in der Öffentlichkeit für die Verteidigungder WFP-Programme herhalten.HandlungsempfehlungenSachs hat sich mit seiner Forderung nach massivenKapitalspritzen, die das Entrinnen aus der Armutsfalleund die Verwirklichung der Millennium-Entwicklungszieleermöglichen sollten, einen internationalenNamen gemacht. Er schlug nun die Einrichtungeines aus nationalen und internationalenQuellen gespeisten Fonds vor, der Saatgut, Düngerund die Verbesserung der afrikanischen Bewässerungssystemefinanzieren soll. 5 Während er denjährlichen Finanzbedarf auf acht bis zehn MilliardenUS-Dollar schätzt, geht von Braun von 20 bis30 Milliarden US-Dollar für die Finanzierung dervon ihm vorgeschlagenen Doppelstrategie aus: ers -tens Nahrungsmittelhilfe für die ärmsten Gruppen,die sich nicht durch eigene Produktion oderdurch eigenes Einkommen selbst ernähren können;zweitens Investitionen in die Landwirtschaftund Agrarforschung, mit dem Ziel einer deutlichenProduktivitätssteigerung, auch in den kleinbäuerlichenBetrieben, die über erhebliche Produktivitätsreservenverfügen. Das dafür nötigeGeld könnte in den bi- und multilateralen Entwicklungshaushaltenmobilisiert werden, wenn dieErnährungssicherung tatsächlich entwicklungspolitischePriorität bekommen sollte.Beide Experten fordern von der Staatengemeinschaftund von den Entwicklungsländern mehrGeld für die Ernährungssicherung; beide fordernden sofortigen Verzicht auf Subventionen für denAnbau von Energiepflanzen; und beide plädierenauch für den Einsatz der Gentechnik, um zum BeispielPflanzen gegen Dürren oder versalzte Bödenresistenter zu machen. Während viele Kritiker dieGentechnik für ein Teufelswerk halten und vonihr auch keine Lösung des Hungerproblems erwarten,spricht vieles für einen pragmatischenUmgang mit einer Agrartechnologie, die ein Zukunftsproblemder Menschheit zumindest entschärfenkönnte. Der größte Teil der Mais- und Sojaproduktionin den USA und in Lateinamerikaberuht bereits auf genmanipulierten Pflanzen.Die Staatengemeinschaft ist gefordert, nicht nurkurzfristige Hilfe in Notlagen zu leisten, sondernzu Strukturveränderungen der globalen Landwirtschaftbeizutragen und die Ernährungssicherungder Weltbevölkerung nicht durch die Verschwendungverknappender Nutzflächen für den Anbauvon Futtermitteln und Energiepflanzen zu gefährden.Es gibt ein Menschenrecht auf Nahrung, dasnicht dem Marktmechanismus von Angebot undNachfrage nachgeordnet werden darf.Die „unsichtbare Hand“ des Marktes kann die globaleHerausforderung, eine wachsende Weltbevölkerungzu ernähren und den aus Ernährungskrisenerwachsenden politischen Turbulenzen vorzubeugen,nicht bewältigen. Dies hatte schon Malthusin seinem 1798 veröffentlichen „Essay“ erkannt:Die Friedenssicherung setzt die Ernährungssicherungvoraus. Diesen Zusammenhanghaben nun auch die Repräsentanten der internationalenStaatengemeinschaft aufgrund der aktuellenProblemlage begriffen. 5 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 2. Mai 2008.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)59


LänderberichteArgentiniens Regierung setzt denerreichten Wohlstand aufs SpielProf. Dr. Federico FodersInstitut für Weltwirtschaft an der Universität KielArgentinien scheint die schwere Wirtschaftskrise der Jahre 2001 und 2002 überwunden zu haben. Doch in Wahrheit betreibtdie Regierung eine riskante Wirtschaftspolitik entgegen den Marktkräften.Die Wirtschaftsnachrichten aus Lateinamerikasind beeindruckend. Die Region erfährt erstmalsseit den 1970er Jahren einen Aufschwung, welcherder gestiegenen Nachfrage nach Rohstoffen undrohstoffnahen Produkten in Asien und anderenaufstrebenden Regionen geschuldet ist. Mehrerelateinamerikanische Länder verzeichnen seit Mitte2002 unerwartet hohe Devisen- und Steuereinnahmensowie kräftige Beschäftigungsimpulse. ImGefolge struktureller Veränderungen in der Weltwirtschaft,vor allem der Einbeziehung neuerStandorte in die globalen Wertschöpfungskettensowie der damit verbundenen Neuordnung derHandels- und Kapitalströme, eröffnen sich denLändern Lateinamerikas zu Beginn des 21. Jahrhundertsneue Chancen, um ihren Wohlstand zumehren und den lang erhofften Aufschluss zu denIndustrieländern zu wagen.Lateinamerikafreundliche weltwirtschaftliche Rahmenbedingungenwerden in der Region jedochsehr unterschiedlich wahrgenommen. Währendsich die führende Position Brasiliens ebenso wiedie Position Mexikos, der zweiten regionalen Wirtschaftsmacht,durch die jüngste Entwicklung weitergefestigt haben, scheinen Länder wie Argentiniendie Zeichen der Zeit wohl etwas anders zudeuten. Argentinien wird zurzeit dafür gefeiert,dass es trotz der schweren Krise in den Jahren2001 und 2002 – damals hat es den Schuldendienstauf Auslandsschulden in Höhe von 145Milliarden US-Dollar eingestellt – seit nunmehrfünf Jahren mit einer Wachstumsrate des realenBruttoinlandsprodukts von durchschnittlich achtProzent expandiert. Das ist eine Dynamik, die eherfür Asien als für Lateinamerika und eher für gesundeals für fußkranke Länder typisch ist.Angesichts der buchstäblich phönixartigen Wiederauferstehungdes Landes aus der Krisenasche lässtdie argentinische Regierung kaum eine Gelegenheitaus, um auf ihre ökonomische Kompetenzhinzuweisen. Dabei deuten einige Punkte daraufhin, dass die Wirtschaftsleistung der vergangenenJahre mehrere Väter gehabt hat und dass die Aufrechterhaltungder hohen Wachstumsraten im laufendenund im kommenden Jahr inzwischen fraglichgeworden ist. Zur zweifelhaften Nachhaltigkeitdes Aufschwungs gesellt sich ein grundlegenderParadigmenwechsel, der in der argentinischenWirtschaftspolitik kurz vor der Insolvenz des Landesstattgefunden hat: Sie hat sich von den ordnungspolitischenPrinzipien einer Marktwirtschaftweitgehend entfernt. Die sogenannten heterodoxenMaßnahmen, die den binnenwirtschaftlichenRahmen für die aktuelle Erholung bilden, nährendie Befürchtung, dass die Regierung den bescheidenenWohlstand des Landes aufs Spiel setzt undder Volkswirtschaft einmal mehr eine harte Landungzumutet.Von der Krise in den Aufschwung:Totgesagte leben längerWie kam es zu der größten staatlichen Insolvenzder Wirtschaftsgeschichte? Argentinien zählt zuden Ländern, die in den 1980er Jahren schmerzhafteErfahrungen mit der Hyperinflation gesammelthaben und in den 1990er Jahren auf der Suchenach einer stabilen Währungsordnung waren.Als realistische Optionen standen damals die Einführungdes US-Dollars als nationale Währung,allerdings ohne den offiziellen Beitritt zu einerWährungsunion mit den USA, sowie die Anbindungdes Pesos an den US-Dollar unter der Bedingungeiner freien Konvertibilität des Pesos (CurrencyBoard) zur Diskussion. Die zweite Optionwurde verwirklicht. Außerdem wurden die Handelshemmnisseweitgehend abgeschafft, der Kapitalverkehrfreigegeben, einige Märkte dereguliertund mehrere Staatsunternehmen privatisiert. ImErgebnis wurde eine Politik betrieben, die demLand schnell Wachstum und die ersehnte monetä-60 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Argentinienre Stabilität brachte – die Inflation wurde aus demWirtschaftsleben verbannt.Viele Argentinier lernten zum ersten Mal die Vorteileder makroökonomischen Stabilität kennen.Aus diesem währungspolitischen Paradies wurdensie jedoch spätestens 2001 vertrieben. Die argentinischeVariante des Currency Board wies einenverhängnisvollen Schönheitsfehler auf: Währendder Geldpolitik eine Zwangsjacke verordnet wurde,blieb die Fiskalpolitik unberührt. Die niedrigeInflation der 1990er Jahre bestand nur vordergründig,weil die Geldpolitik als Instrument zur Finanzierungder Staatsverschuldung nicht mehrherangezogen werden konnte. Stattdessen nutztenStaat und Wirtschaft den guten Ruf des argentinischenWirtschaftsmodells auf den internationalenKapitalmärkten, um ihren Finanzierungsbedarf zudecken. Die Finanzkrisen in Asien und in Russlandbrachten 1998 die üppigen Kapitalzuflüsse schließlichzum Erliegen und entzogen dem argentinischenModell seine Geschäftsgrundlage: Ohneweitere Zuflüsse konnte das Land den Schuldendienstnicht leisten. Der Regierung blieb nichts anderesübrig, als auf die inländischen privaten Ersparnissezurückzugreifen.Der Bekanntgabe der Zahlungsunfähigkeit im Dezember2001 folgte im Januar 2002 die Freigabedes seit 1991 an den US-Dollar gebundenen argentinischenPesos, der erheblich abgewertet wurde(von 1:1 auf 1:4). Unmittelbar danach stieg dieInflationsrate kräftig an. Die Dekade der Preisstabilitätwar damit endgültig vorbei. Der aus argentinischerSicht plötzlich teure Dollar dämpfte dieImportnachfrage sowie den Drang des Staates undprivater Unternehmen, sich im Ausland zu verschulden.Andererseits gab der aus Sicht des Auslandsnach der Abwertung verbilligte Peso denAusfuhren starken Auftrieb. Gepaart mit der beginnendenRohstoffhausse nahmen insbesonderedie landwirtschaftlichen Exporte kräftig zu. DieRegierung Eduardo Duhalde, die mit einem hohenHaushaltsdefizit zu kämpfen hatte, sah die Chance,die Neuverschuldung mithilfe einer Ausfuhrsteuervon 20 Prozent auf einzelne landwirtschaftlicheProdukte zu begrenzen und so die Voraussetzungenfür einen primären Haushaltsüberschusszu schaffen. Der Exportboom und der Devisenzuflusstrugen dazu bei, die Staatsfinanzen auf einesolidere Basis zu stellen sowie Überschüsse in derHandels- und Leistungsbilanz zu erzielen. Auf denersten Blick wurde mit diesen Maßnahmen die Sanierungder argentinischen Volkswirtschaft eingeleitet.Manipulierte WahrheitenNéstor Kirchner, der 2003 Präsident wurde und denWirtschaftsminister sowie die Wirtschaftspolitikseines Vorgängers übernahm, erhöhte die Exportsteuernweiter und scheute sich nicht, etwa beiRindfleisch, ein sechsmonatiges Ausfuhrverbot zuverhängen, in der Hoffnung, eine ausreichendeVersorgung des argentinischen Marktes zu gewährleisten.Kirchner führte Preiskontrollen ein,um die Kaufkraft der Bevölkerung künstlich aufrechtzuerhalten.Die Preise für Energie und fürden öffentlichen Personenverkehr wurden sogareingefroren, und die Preise vieler Konsumgüterwerden seitdem in direkten Verhandlungen zwischendem Staat und den Produzenten festgelegt.Die Regierung verzichtet dabei auf administrativeKontrollen, übt aber enormen öffentlichen Druckauf die Produzenten aus. In der amtlichen Statistikschlug sich dieser Konflikt in zum Teil erheblichenAbweichungen der Großhandels- von den Einzelhandelspreisennieder. Als die „weichen“ Kontrollen2006 zunehmend ihren Dienst versagten undder Index der Lebenshaltungskosten im Begriffwar, in den zweistelligen Bereich einzutreten, ersetztedie Regierung das einschlägige Personal desstatistischen Bundesamtes durch eigene Vertrauensleute,die fortan nur genehme Inflationsraten,die unter zehn Prozent blieben, veröffentlichten.Die Argentinier sollen nach dem Willen der Regierungdie Preissteigerungen nicht spüren, undder bei jeder Abwertung automatisch eintretendeReallohnverlust sollte zumindest vorläufig vermiedenwerden.Im Dezember 2007 übernahm Cristina Fernández deKirchner das Amt des Präsidenten und setzte diePolitik ihres Vorgängers und Ehemanns fort. AlsEnde 2007 die Exportsteuern auf Soja und anderelandwirtschaftliche Produkte auf 36 Prozent erhöhtund zudem direkt an die Weltmarktpreise gekoppeltwurden, brach der offene Protest der organisiertenLandwirte in Form von Streiks undStraßenblockaden aus. Bedrängt von den Preiskontrollenfür Lebensmittel im Inland einerseitsund den hohen Steuern auf die landwirtschaftlichenExporte andererseits wuchs die Bereitschaftder Produzenten, radikalere Maßnahmen zu ergreifen:Sie stellten ihre Produktion teilweise einund entzogen so der Regierung einen Teil derSteuereinnahmen. Die Regierung Fernández deKirchner versuchte ihrerseits die Front der Agrarproduzentenzu spalten, indem sie den kleinenund mittleren Betrieben Subventionen anbot, damitsie die Produktion wieder aufnehmen und denheimischen Markt zu den kontrollierten PreisenOrientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)61


Länderberichtebeliefern. Für den anhaltenden Konflikt mit denLandwirten ist eine politische Lösung nicht inSicht.Die Preispolitik der Regierung Fernández de Kirchnerzielt darauf ab, die Kaufkraft der überwiegendurbanen erwerbstätigen Bevölkerung, die zurKlientel der peronistischen Partei zählt, zu stützen.Dieses Ziel wird geldpolitisch dadurch befördert,dass die Nominalzinsen niedrig gehalten werden.Wird der offizielle Lebenshaltungskostenindex zugrundegelegt, sind diese Zinssätze gerade nochreal positiv; wird der von nichtregierungstreuenQuellen geschätzte Index verwendet, fallen siedeutlich real negativ aus. Im Allgemeinen fördernniedrige Zinsen die Konsumneigung. Darüberhinaus wird der Schuldendienst des Staates durchdie Niedrigzinspolitik in Grenzen gehalten. Dieprivaten Sparer werden jedoch bestraft; sie investierenheute wieder vornehmlich in Immobilien,was dem Land einen Bauboom beschert, sowie inFremdwährung, was längst zur Bildung einesSchwarzmarktes für Devisen geführt hat, wie zuZeiten der Hyperinflation. Auch die Kapitalfluchtist nicht mehr zu übersehen.Die Wechselkurspolitik, die offiziell als ManagedFloating bezeichnet wird, hält den Preis des US-Dollars bei einem Wert zwischen 3,10 und 3,15 Pesosstabil. Dies wird über Interventionen auf demDevisenmarkt erreicht, wo die Zentralbank regelmäßigDevisen aufkauft. Um die Peso-Geldmengenicht aufblähen zu lassen, verkauft die Zentralbankgleichzeitig Anleihen und versucht, auf dieWeise das Geldmengenwachstum zu sterilisieren.Der aus argentinischer Sicht teure Dollar wirktsich dämpfend auf die Importe aus und schützt sodie ineffiziente argentinische Industrie (Importsubstitution).Um positive Anreize für die Exportwirtschaftzu vermeiden, werden Exportsteuerneingesetzt. Nicht der Weltmarkt, sondern derBinnenmarkt soll prioritär mit Agrargütern versorgtwerden. Noch darf sich die Regierung überdie hohen Devisenreserven, die das Land im Gefolgedes Rohstoffbooms sowie der Devisenmarktinterventionenangesammelt hat und die denWechselkurs vor Spekulanten schützen, freuen.Die Fiskalpolitik ist seit 2003 expansiv angelegt, dieTransfereinkommen sind dramatisch gestiegen. Inder zweiten Jahreshälfte 2007 gab es im Vorfeldder Wahlen einen weiteren Anstieg der Staatsausgaben,unter anderem für sozialpolitische Zwecke,der im Zuge des Konflikts mit den Landwirten imJahr 2008 erstmals zu einem primären Haushaltsdefizitführen könnte. Die Exportsteuern tragenmit nur zehn bis zwölf Prozent zu den Steuereinnahmenbei. Die wichtigsten Posten stellen dieEinnahmen aus der Mehrwert- und der Einkommensteuerdar, die vom herrschenden Konsumboomgespeist werden. An den gestiegenen Steuereinnahmenzeigt sich auch die Wirkung zweistelligerLohnerhöhungen im öffentlichen Dienstund im informellen Sektor, die, gemeinsam mitden Preiskontrollen und den niedrigen Zinsen,den Konsum anheizen. Jedoch zeugen die höherenSteuereinnahmen auch von einer verbessertenSteuereintreibung durch die Finanzbehörden.Um ihren darüber hinaus gehenden Finanzierungsbedarfzu decken, begibt die Regierung indexierteAnleihen auf dem heimischen und demvenezolanischen Kapitalmarkt.Die Wirtschaftspolitik des EhepaarsKirchner: Ist nach der Krise vor der Krise?Die argentinische Wirtschaftspolitik stellt eine ungewöhnlicheMischung aus orthodoxen undheterodoxen Maßnahmen dar, die dem Land nachder schweren Krise von 2001/02 einen bescheidenenWohlstand gebracht haben. Wenngleich dieVolkswirtschaft Anzeichen einer gelungenen Sanierungaufweist, können hohe Wachstumsraten,die gestiegene Beschäftigung sowie der Überschussim primären Haushalt und in der Leistungsbilanznicht verbergen, dass der Aufschwungnach fünf Jahren dem Ende zugeht. Gleichwohlhat die Wirtschaftspolitik eine Reihe von negativenAnreizen geschaffen, die im Widerspruch zurExpansion stehen und früher oder später ihre verheerendeWirkung nicht verfehlen dürften.Am schwersten scheint die Landwirtschaftspolitikzu wiegen. Kaum ein Land weist stärkere komparativeVorteile in der Agrarproduktion auf als Argentinien.Diese außergewöhnliche Produktivitäthat bereits mehrfach in der argentinischen Geschichteüberlebt, ungeachtet der häufig zu beklagendenInkompetenz der Wirtschaftspolitik. Dassaber ausgerechnet dann, wenn das internationaleUmfeld der argentinischen Landwirtschaft undder rohstoffverarbeitenden Industrie unbegrenzteEntwicklungsmöglichkeiten bietet, wirtschaftspolitischeMaßnahmen ergriffen werden, welche dieRentabilität des Sektors absichtlich beeinträchtigenund deshalb die Wirtschaftlichkeit von Investitionenin diesem Bereich infrage stellen, wirdfrüher oder später mit erheblichen Wohlstandsabschlägenbezahlt werden müssen. Abzusehen sindeine niedrigere Produktion, die Schließung landwirtschaftlicherBetriebe und möglicherweise62 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Argentinienstrukturelle Verschiebungen in der Landnutzung,die im Extremfall mit der Umwidmung von Agrarflächeneinhergehen könnten. Schon die heute zuverzeichnenden kleineren Produktionsausfällewerden die Preiskontrollen sprengen und dergegenwärtigen Politik den Boden entziehen.Auch die Subventionierung der nicht wettbewerbsfähigenargentinischen importsubstituierendenIndustrie wird kaum als Zukunftsprojektdurchgehen können. Die Produktivität in diesemBereich kann nur durch mehr und keinesfallsdurch weniger Wettbewerb erhöht werden. DasLand verfügt bereits über eine fast fünfzigjährigeErfahrung mit der Importsubstitution. Wie oftmuss sie scheitern, bis dem Vorbild Brasiliens undMexikos gefolgt wird und die Voraussetzungen fürden Aufbau einer international wettbewerbsfähigenIndustrie geschaffen werden?Die seit 2002 eingefrorenen Energiepreise sindkein Anreiz für Investitionen im Energiebereich.Daher überrascht es nicht, dass Stromausfälle inArgentinien an der Tagesordnung sind. Industriebetriebemüssen sich mit eigenen Generatorenbehelfen, um die Produktion aufrechterhaltenzu können. Die Regierung verordnet Produktionsunterbrechungenund versucht, den Stromverbrauchder Bevölkerung über eine jährlicheUmstellung der Sommer- und Winterzeit zu reduzieren.Der inzwischen stark verzerrte offizielle Preisindexhat seine Orientierungsfunktion für Unternehmenund Bürger endgültig verloren. Am deutlichs -ten zeigt sich die Entbehrlichkeit des Index in denvon den Gewerkschaften geforderten und weitgehenddurchgesetzten Lohnerhöhungen, die sichdurchweg an den Preissteigerungsraten anlehnen,die nichtregierungstreue Berater veröffentlichen,nämlich etwa 20 bis 24 Prozent, während die offizielleRate mit acht Prozent angegeben wird. Angesichtsder indexierten Anleihen, die der argentinischeStaat begeben hat, fragen sich die Gläubigerzunehmend auch, ob sie je die versprocheneVerzinsung erhalten werden. Eine erneute Zahlungsunfähigkeitist nicht ausgeschlossen.In dem Maße, in dem der verzerrte Preisindex indie Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung eingeht,ist mit weiteren Verzerrungen zu rechnen, nichtzuletzt bei der Berechnung der realen Wachstumsraten,aber auch bei der Messung der Armut. Wiedie Zentralbank einen verzerrten Preisindex duldenkann, ist ebenfalls unverständlich. Sie äußertsich in ihren Berichten gar nicht zu dem Thema,obgleich sie wiederholt auf die von ihr angeblichgarantierte Preisstabilität eingeht.Ausländische Investitionen in Argentinien bleibenzaghaft, während sie in den Nachbarländern Brasilienund Chile neue Rekorde erreichen. Auchder Zugang Argentiniens zu den internationalenKapitalmärkten ist – wenn überhaupt – nur unterInkaufnahme hoher Risikozuschläge möglich.Das Fazit der Analyse ist erschütternd. Argentinienist keine sanierte Volkswirtschaft, die sich auf einemnachhaltigen Wachstumspfad bewegt. Viel -mehr ist ein Gedanke von Nobelpreisträger JosephStiglitz treffend, nach dem der Populismus dort seineBerechtigung verliert, wo die ökonomischenGesetze außer Kraft gesetzt werden. Dieser Punktscheint in Argentinien erreicht zu sein. Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)63


LänderberichteSlowenien – Eine Erfolgsgeschichte?Mag. Hermine VidovićWiener Institut für Internationale WirtschaftsvergleicheIm Jahr 1991 erklärte Slowenien seine Unabhängigkeit vom ehemaligen Jugoslawien. Die anfänglichen politischen und ökonomischenKrisen überwand das Land schnell. Am 1. Mai 2004 folgte gemeinsam mit neun weiteren Ländern der Beitrittin die Europäische Union (EU). Am 1. Januar 2007 führte Slowenien als erstes der neuen EU-Mitglieder den Euro ein.Als Slowenien 1991 seine Unabhängigkeit erklärte,wurde vielfach die Frage gestellt, ob das kleineLand mit gerade einmal zwei Millionen Einwohnernwirtschaftlich überlebensfähig sei. Schonbald haben sich die Befürchtungen als unbegründeterwiesen. Heute ist Slowenien das wirtschaftlicherfolgreichste Land unter den Mittel- und OsteuropäischenLändern (MOEL), die 2004 beziehungsweise2007 der Europäischen Union (EU)beigetreten sind. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt(BIP) pro Kopf hat das Land ein Wirtschaftsniveauerreicht, das jenes von Griechenland undPortugal übersteigt. Die Arbeitslosigkeit liegt mitrund fünf Prozent unterhalb des EU-Durchschnitts,und das Budgetdefizit beträgt weniger alsein Prozent des BIP. Anfang 2007 trat Slowenienals erstes der neuen EU-Mitgliedstaaten der Eurozonebei; in der ersten Jahreshälfte 2008 übernahmes als erstes Land der Erweiterungsrundeden EU-Vorsitz.Gelungener Start in die UnabhängigkeitDie Ausgangslage in Slowenien unterschied sichvon der in den anderen Transformationsländern:Das Wirtschaftsniveau war wesentlich höher, unddie wirtschaftlichen Beziehungen zu Westeuropawaren gut entwickelt. Noch als Teil des ehemaligenJugoslawien kam Slowenien in den Genuss einesHandels- und Kooperationsabkommens mitder Europäischen Gemeinschaft (EG), das 1980 inKraft trat. Die Teilrepublik wickelte im Jahr 1990mit einem Bevölkerungsanteil von acht Prozent ander jugoslawischen Gesamtbevölkerung rund 30Prozent der jugoslawischen Gesamtexporte ab.Für ausländische Investoren war es früh möglich,im ehemaligen Jugoslawien zu investieren. DieTeilrepublik Slowenien, die sich vor allem in derverarbeitenden Industrie spezialisierte und eineWesteuropa ähnliche Industriestruktur aufwies,hatte eine prosperierende Wirtschaft, die eng mitden anderen Teilrepubliken verflochten war. Nachdem Zerfall Jugoslawiens zerbrach ein Großteildieser Handelsbeziehungen, und eine Reihe vonGroßunternehmen, die vorrangig den jugoslawischenMarkt belieferten, ging bankrott. Der Zerfallder Sowjetunion, einer der wichtigsten Außenhandelspartner,brachte ebenfalls gravierende Veränderungen.Auch der wirtschaftspolitische Ansatz, um dieTransformation von einer sozialistischen Selbstverwaltungswirtschaftzu einer Marktwirtschaft zubewältigen, war besonders. Während sich vieleMOEL für eine Schocktherapie entschieden, istSlowenien ein Verfechter des Gradualismus. Dieswurde vor allem bei der Privatisierung der staatlichenBetriebe deutlich. Das Privatisierungskonzeptwar vor allem auf eine Beteiligung der Mitarbeiterund des Managements ausgerichtet undschloss die Beteiligung von Ausländern nahezuaus. Die Privatisierung von Banken und Infra -strukturunternehmen dauert bis heute an. Nachdemvor einigen Jahren der Versuch, die zweitgrößteBank Sloweniens – Nova Kreditna BankaMaribor (NKBM) – mittels ausländischer Beteiligungzu privatisieren, gescheitert war, wurde imJahr 2007 ein Anteil von 49 Prozent über die Börseverkauft. Slowenien weist als einziges neuesEU-Mitgliedsland einen hohen Staatsanteil auf:Der Staat hält mittels direkter oder indirekter Beteiligungenrund 40 Prozent an den slowenischenFirmen.Seit Beginn der Systemtransformation unterlagdie slowenische Wirtschaft einem Strukturwandel.Während zu Beginn der 1990er Jahre die Wirtschaftvon der Industrie dominiert wurde, machtheute der Dienstleistungssektor rund zwei Drittelder Bruttowertschöpfung aus. Zurückgedrängtwurde auch die Landwirtschaft, deren Anteil aufrund zwei Prozent geschrumpft ist. Aufseiten derBeschäftigung spielt der Agrarsektor hingegen mitrund neun Prozent nach wie vor eine wichtige Rolle(vor allem als Nebenerwerb). Der Dienstleis-64 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


SlowenienWirtschaftliche Entwicklung in Slowenien2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007Reales Wachstum des BIP (in Prozent) 4,1 3,1 3,7 2,8 4,4 4,1 5,7 6,1BIP pro Kopf (in Euro, Kaufkraftparitäten) 14 960 15 560 16 560 17 010 18 430 19 460 20 660 22 420Änderung der Verbraucherpreise (in Prozent) 8,9 8,4 7,5 5,6 3,6 2,5 2,5 3,6Arbeitslosenquote (in Prozent) 7,0 6,4 6,4 6,7 6,3 6,6 6,0 4,9Beschäftigte (in Tausend) 901 916 910 897 943 949 961 985Durchschnittlicher Bruttomonatslohn (in Euro) 800 895 982 1 057 1 117 1 157 1 213 1 285Haushaltsdefizit (in Prozent des BIP) -3,8 -4,0 -2,5 -2,7 -2,3 -1,5 -1,2 -0,1Ausländische Investitionen in Slowenien (in Millionen Euro) 149,1 412,4 1 721,7 270,5 665,2 472,6 511,7 1 072,5Slowenische Investitionen im Ausland (in Millionen Euro) 71,7 161,2 165,8 421,3 441,0 515,6 718,5 1 153,8Exporte (in Millionen Euro) 9 574 10 454 11 082 11 417 12 933 14 599 17 028 19 777Veränderung in Prozent 18,2 9,2 6,0 3,0 13,3 12,9 16,6 16,1Importe (in Millionen Euro) 10 801 11 139 11 347 11 960 13 942 15 625 18 179 21 441Veränderung in Prozent 16,6 3,1 1,9 5,4 16,6 12,1 16,3 17,9Leistungsbilanzsaldo (in Prozent des BIP) -2,7 0,2 1,0 -0,8 -2,7 -2,0 -2,8 -4,9Quelle: Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw-Datenbank)tungssektor, insbesondere in den sogenannten höherwertigenSegmenten (Banken- und Finanzdienstleistungen,Steuerberatung etc.), liegt miteinem Beschäftigungsanteil von rund 55 Prozentweit unter dem westeuropäischen Niveau von 73Prozent.Investitionsstandort mit HemmschuhDer Zufluss ausländischer Direktinvestitionen istin Slowenien verglichen mit den anderen neuenEU-Mitgliedstaaten gering. Die Gründe sind vielfältig:Erstens schloss das gewählte Privatisierungsmodelldie Beteiligung von Ausländern nahezuaus; zweitens hat der langsame Umstrukturierungsprozessin den privatisierten Betrieben nichtgerade zur Suche nach strategischen ausländischenPartnern ermutigt; und drittens sind die slowenischenBehörden sehr zögerlich bei der Privatisierungvon Finanzdienstleistungen und Infra -strukturunternehmen. 1Die ausländischen Investitionen in Slowenien betrugenzuletzt durchschnittlich 500 Millionen Euroim Jahr. Das Jahr 2002, in dem Investitionenvon mehr als einer Milliarde Euro getätigt wurden,ist eine Ausnahme. Damals übernahm der SchweizerPharmakonzern Novartis den slowenischenMarktführer Lek, und die belgische KBC Gruppe1 Vgl. Marko Simonetti et al., Privatization, Restructuring, and CorporateGovernance of the Enterprise Sector, in: Mojmir Mrak/MatijaRojec/Carlos Silva-Jáuregui (Hrsg.), Slovenia, From Yugoslavia to theEuropean Union, The World Bank, Washington D.C. 2004, Seite 236.erwarb 34 Prozent der größten slowenischen BankNova Ljubljanska Banka. Die KBC erklärte ihr Engagementallerdings vor Kurzem für beendet, davon slowenischer Seite signalisiert wurde, keineMehrheitsbeteiligung der KBC an der Nova Ljub -ljanska Banka zuzulassen. Insgesamt ist nur rundein Drittel des slowenischen Bankensektors in ausländischerHand, während in den anderen neuenMitgliedstaaten der EU der Bankensektor mehrheitlichvon ausländischen Banken kontrolliertwird; im benachbarten Kroatien sind es sogarmehr als 90 Prozent. Die lang angekündigte Privatisierungder slowenischen Telekom-Gesellschaft,die Anfang 2008 über die Bühne gehen sollte, wurdeabgelehnt mit der Begründung, die Angeboteseien zu unattraktiv.Bis Ende 2006 betrug der Bestand ausländischerDirektinvestitionen 6,8 Milliarden Euro. Unternehmenmit ausländischer Beteiligung spielen vorallem in der Exportwirtschaft eine wichtige Rolle:Obwohl nur fünf Prozent aller Unternehmen indiese Kategorie fallen, wickeln sie mehr als einDrittel der Gesamtexporte ab. Dabei sind sie häufigim Hochtechnologiebereich tätig. SlowenischeUnternehmen investierten bis Ende 2006 rund 3,5Milliarden Euro im Ausland. Sie konzentrieren ihreAktivitäten auf den ehemaligen jugoslawischenMarkt, sei es im Lebensmittelhandel, bei Zuliefererbetriebenfür die Automobilindustrie oder imBankensektor. Hauptzielländer sind Kroatien undSerbien, auf die fast die Hälfte aller slowenischenAuslandsinvestitionen entfallen.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)65


LänderberichteDer Euro und die InflationIn Slowenien fiel früh die Entscheidung, den Euroso schnell wie möglich als offizielles Zahlungsmitteleinzuführen. Bereits zwei Monate nach demEU-Beitritt nahm Slowenien am Wechselkursmechanismus(WKM) II teil. Er legt eine Schwankungsbreitevon maximal plus/minus 15 Prozentder eigenen Währung gegenüber dem Euro fest –die zweijährige Teilnahme am WKM II ist einesvon vier Konvergenzkriterien zur Euro-Einführung.Das Budget- und das Zinskriterium waren zudiesem Zeitpunkt schon erfüllt: Das Budgetdefizitund die Staatsverschuldung lagen gemessen alsAnteil am BIP weit unter der Drei-Prozent- bzw. 60-Prozent-Grenze, und die langfristigen Zinssätze lagenebenfalls unter dem Referenzwert. WichtigsteAufgaben in den beiden Jahren bis zur Euro-Einführungwaren somit die Erreichung des Inflationskriteriumssowie die weitere Stabilisierungdes Wechselkurses. Um diese Ziele zu erreichen,vereinbarten die Regierung und die Nationalbankdie Verfolgung einer konsequenten Geld-, FiskalundLohnpolitik. So wurde mit den Sozialpartnernein Reallohnwachstum von mindestens einemProzentpunkt unter dem Produktivitätswachstumerreicht, sowohl im öffentlichen alsauch im privaten Sektor.Nachdem die Europäische Zentralbank und dieEuropäische Kommission in ihren jeweiligen KonvergenzberichtenSloweniens Beitritt zur Eurozoneim Juli 2006 positiv beurteilt hatten, war die Euro-Einführungzum Jahresbeginn 2007 nur nocheine Formsache. Um „versteckten“ Teuerungenvorzubeugen, wurde die Preisentwicklung vom StatistischenAmt im Vorfeld und in den Monaten danachbeobachtet: Demnach gab es unmittelbar vorder Euro-Einführung im Dezember 2006 in einigenWaren- und Dienstleistungsgruppen (zumBeispiel in Cafés und Restaurants, bei Möbeln,Kosmetikartikeln, Textilien, persönlichen Dienstleistungen)ungewöhnlich hohe Preissteigerungen,während schon im Januar der Preisauftriebwieder nachließ.Zuletzt betrug die Inflationsrate knapp sieben Prozent.Die Gründe liegen vor allem in den gestiegenenWeltmarktpreisen für Energie und Nahrungsmittel.Laut slowenischen Analysten hat Energieim slowenischen Warenkorb ein wesentlich stärkeresGewicht als in anderen Ländern. Hinzu kommtdie hohe Konzentration im Lebensmittelhandel –drei Unternehmen kontrollieren 90 Prozent dergesamten Branche –, die keinen Wettbewerb zulässt.Als erste Maßnahme wurde die Preisüberwachungsbehördeangehalten, Preisabsprachen zukontrollieren. Obwohl die Gewerkschaften vehementeine Abgeltung der Inflation fordern, 2 wurdeder Preisanstieg (bisher) nicht durch Lohnerhöhungenangekurbelt.Arbeitsmarkt in guter VerfassungDie slowenische Wirtschaft erholte sich nach derRezession zu Beginn der 1990er Jahre rasch. Slowenienhatte bereits ab 1993 wieder kontinuierlicheZuwächse des BIP zu verzeichnen. Dennochstagnierte die Beschäftigung, was auf große Produktivitätsgewinneschließen lässt. Erst ab 1999ging es mit der Beschäftigung wieder aufwärts.Die Arbeitslosigkeit war wesentlich niedriger alsin den meisten anderen Transformationsländern.Ausschlaggebend dafür war in erster Linie das gewähltePrivatisierungsmodell, das Kündigungenwährend der Transformation zu vermeiden suchte.Um soziale Spannungen abzuschwächen, wurdenverlustbringende Unternehmen, vor allem inder Textil- und Lederindustrie, staatlich subventioniert.Insgesamt zeigte die Beschäftigungsstruktur Anfang2000 eine deutliche Veränderung: Währendder Transformationsphase nahmen die Anteileder über 50-Jährigen an der Gesamtbeschäftigungdeutlich ab. Viele ältere Arbeitnehmer machtenvon Frühpensionierungsprogrammen Gebrauch,wie es in nahezu allen MOEL üblich ist. Der Versuch,durch Erhöhung des Pensionsalters die Dauerder Erwerbstätigkeit älterer Arbeitnehmer zuverlängern, hatte wenig Erfolg. Slowenien gehörtzu den europäischen Ländern mit der geringstenErwerbsbeteiligung bei über 50-Jährigen. Hingegengehört es, was die Gesamtbeschäftigung anlangt,neben Estland und Lettland zu den neuenEU-Mitgliedsländern, die die höchsten Beschäftigungsquoten(Anteil der Beschäftigten an der arbeitsfähigenBevölkerung im Alter zwischen 15und 64 Jahren) verzeichnen.Außenhandel mit Dynamik –und mit DefizitSeit dem EU-Beitritt konnte Slowenien deutlicheZuwächse im Außenhandel erzielen. Der slowenischeAußenhandel konzentriert sich auf die EU,2 Anfang April 2008 wurde in der Hauptstadt Ljubljana eine großeDemonstration für höhere Löhne abgehalten, an der auch Demons -tranten aus anderen europäischen Ländern beteiligt waren.66 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Slowenienauf die rund 70 Prozent der Exporte und nahezu80 Prozent der Importe entfallen. Wichtigste Handelspartnersind traditionell Deutschland und Italien.Aufseiten der Ausfuhren sind die Nachfolge -staaten des ehemaligen Jugoslawien mit einem Anteilvon rund 16 Prozent an den Gesamtexportennoch immer wichtige Handelspartner. Importseitighat dieser Raum mit einem Anteil von siebenProzent allerdings Bedeutung verloren. Diese Entwicklungführte zu steigenden Handelsüberschüssenmit diesen Ländern, die nicht ausreichen, umdas wachsende Defizit gegenüber den EU-Ländernauszugleichen.Ein Großteil des Handels mit den Ländern desehemaligen Jugoslawien entfällt auf Kroatien. Slowenienprofitiert noch immer von der gutenMarktkenntnis in der Region. Studien belegen,dass slowenische Firmen, deren Umorientierungauf die EU aufgrund geringer Wettbewerbsfähigkeitwenig erfolgreich verlief, verstärkt auf denehemals jugoslawischen Markt auswichen. Dazugehören vor allem Unternehmen, die auf landwirtschaftlicheProdukte und Nahrungsmittel,aber auch auf Papier und Holz spezialisiert sind. 3Die Auflösung der Freihandelsbeziehungen mitden Westbalkan-Ländern, 4 die im Zuge des EU-Beitritts nötig geworden war, hat die Vorteile fürslowenische Unternehmen allerdings beeinträchtigt,was vor allem bei Nahrungsmittelproduzentenzu Produktions- und Beschäftigungseinbrüchengeführt hat. Zu den wichtigsten Exportgüternzählen Automobile und Zulieferungen fürdie Autoindustrie, pharmazeutische Produkte,Stahlwaren sowie Elektrogeräte.Die Struktur des Handels zeigt Unterschiede zuden anderen EU-Mitgliedstaaten: Obwohl der Anteilder arbeitsintensiven Güter (Bekleidung, Textilien,Schuhwerk, Möbel, Glas etc.) an den Gesamtexportenkontinuierlich zurückgeht, ist er immernoch viel höher (2007 knapp unter 20 Prozent)als zum Beispiel in Tschechien und Ungarn(rund zehn Prozent); von den alten EU-Mitgliedsländernexportieren nur Portugal und Italien einenhöheren Anteil arbeitsintensiver Produkte.Der Anteil von Hightech-Produkten (chemischeund pharmazeutische Produkte, Ausstattung fürComputer, Telekom sowie medizinische und wissenschaftlicheZwecke usw.) am Gesamthandel3 Vgl. Jože P. Damijan, Reentering the Markets of the Former Yugo -slavia, in: Mojmir Mrak/Matija Rojec/Carlos Silva-Jáuregui (Hrsg.),a. a. O., Seite 340.4 Westbalkan-Länder sind die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien:Kroatien, Serbien, Mazedonien, Montenegro und Kosovosowie Albanien.macht dagegen nur rund ein Viertel aus; derDurchschnitt in den zehn Beitrittsländern von2004 (EU-10) beträgt 30 Prozent, in Ungarn liegtder Anteil sogar bei 50 Prozent. 5Stabile politische VerhältnisseEin weiterer Unterschied zu anderen Transformationsländernwar die politische Stabilität, die Slowenienüber Jahre geprägt hat. Bis zu den Wahlen2004 bestimmte die Liberaldemokratische Partei(LDS) in den jeweiligen Koalitionsregierungen –mit kurzen Unterbrechungen – den politischenKurs. Die letzten Parlamentswahlen brachten einepolitische Wende, als Janez Janša, ehemaliger politischerAktivist vor der Unabhängigkeit und spätererVerteidigungsminister, mit seiner sozialdemokratischenPartei als klarer Wahlsieger hervorging.Die im Anschluss an die Wahlen gemeinsam mitder Christlichen Volkspartei (NSi), der SlowenischenVolkspartei und der Pensionistenpartei (De-Sus) gebildete Koalitionsregierung verfügt im Parlamentmit 49 von 90 Sitzen über eine regierungsfähigeMehrheit.Zu Beginn der Legislaturperiode wurden großeReformvorhaben angekündigt, wie die Einführungeiner Einheitssteuer, die zügige Privatisierungvon im Staatsbesitz befindlichen Infrastrukturbetrieben,Banken und Versicherungen sowieKürzungen bei Sozialleistungen. Ein Großteil dieserVorhaben wurde von der slowenischen Öffentlichkeitjedoch abgelehnt. Nachdem ein Gutachtender Einheitssteuer mehr Nachteile als Vorteilebescheinigte, wurde die Idee fallen gelassen, undstattdessen wurden die Steuergruppen von fünfauf drei reduziert.Die Unzufriedenheit der slowenischen Bevölkerungmit der derzeitigen politischen Führungspiegelte sich vor allem bei der Neuwahl des Staatspräsidentenwider, als der Kandidat der Regierungspartei,der frühere Premierminister und jetzigeAbgeordnete im Europaparlament Lojze Peterlechancenlos blieb und Danilo Türk (dem linkenSpektrum zugeordnet) die Wahl klar für sich entscheidenkonnte. Für politische Turbulenzen sorgtezu Beginn des Jahres 2007 auch die Wahl desNationalbankgouverneurs. Während sich der damaligeStaatspräsident und ehemalige Minister-5 Vgl. Peter Havlik/Mario Holzner et al., Weathering the GlobalStorm, yet Rising Costs and Labour Shortages May Dampen DomesticGrowth, wiiw Current Analyses and Forecasts 1, EconomicProspects of Central, East and Southeast Europe, Februar 2008,Seite 15.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)67


Länderberichtepräsident aus Reihen der LDS Janez Drnovšek für eineWiederwahl des amtierenden GouverneursMitja Gaspari einsetzte, lehnte das Parlament eineneuerliche Bestellung ab. In der Folge wurdenweitere Vorschläge des Präsidenten zurückgewiesen,bis schließlich Marko Kranjec als Kompromisskandidatnach monatelangem Ringen sein Amtantreten konnte.Die ehemals regierende liberaldemokratische Parteiist in Splitterparteien zerfallen, manche ihrerführenden Mitglieder, unter anderem der ehemaligePremierminister Anton Rop, sind inzwischender sozialdemokratischen Partei beigetreten. ImHerbst 2008 finden die nächsten Parlamentswahlenstatt. Ersten Umfragen zufolge hat die sozialdemokratischePartei gute Chancen, die Wahl zugewinnen.Aktuelle Entwicklung und AussichtenIm vergangenen Jahr erzielte Slowenien ein Rekord-Wirtschaftswachstumvon sechs Prozent – dashöchste seit der Erlangung seiner Unabhängigkeitim Jahr 1991. Ausschlaggebend dafür war in ersterLinie die Inlandsnachfrage, insbesondere ein Zuwachsder Investitionen um fast 20 Prozent, die unteranderem über Kredite an private Haushalteund Unternehmen finanziert wurden. Der Außenbeitragwar trotz hohen Exportwachstums negativ.Die Bauwirtschaft profitierte vom Aufschwung besondersund vermeldete einen Zuwachs von rundeinem Viertel gegenüber dem Vorjahr, aber auchdie Industrieproduktion verzeichnete einen rasantenAnstieg.Das starke Wirtschaftswachstum wirkte sich positivauf die Beschäftigung aus. Neben der Bauwirtschaftund dem Dienstleistungssektor konnte dieverarbeitende Industrie wieder neue Arbeitsplätzeschaffen – nur in der Leder-, Textil- und Nahrungsmittelindustrienahm die Zahl der Mitarbeiterweiter ab. Der hohe Grad der Kapazitätsauslastunggeht mit wachsendem Arbeitskräftemangeleinher. Die Zahl der ausländischen Arbeitskräftewuchs 2007 das dritte Jahr in Folge. Rund die Hälftealler neuen Arbeitserlaubnisse wurde für dieBauwirtschaft ausgestellt. 6Nach dem Rekordjahr 2007 wird das Wirtschaftswachstum2008 moderater ausfallen. Dies ist vor allemauf die gedämpften Erwartungen im Zuge derinternationalen Finanzkrise zurückzuführen. Zusätzlichdürfte eine geringere Inlandsnachfrage –in erster Linie ein Rückgang der Investitionen –diese Entwicklung verstärken. Erste Ergebnisse zeigeneine Verlangsamung des Wachstums sowohl inder Industrie als auch in der Bauwirtschaft.Der Staatshaushalt wird auch in den kommendenJahren im Rahmen der Maastrichtkriterien bleiben.Der Internationale Währungsfonds (IWF)und die Europäische Kommission führen allerdingsimmer wieder an, dass aufgrund der stark alterndenBevölkerung große Belastungen auf denStaatshaushalt zukommen werden. WichtigstesZiel wird sein, die Inflation in den Griff zu bekommenund mithilfe der Sozialpartner einen Kompromisszu finden, der nur mäßige Lohnsteigerungenzulässt. Eine Beschleunigung bei den angekündigtenPrivatisierungen ist angesichts derbevorstehenden Wahlen nicht zu erwarten. 6 Vgl. Institute of Macroeconomic Analysis and Development of theRepublic of Slovenia (IMAD), Spring Forecast of Economic Trends,2008, Seite 12.68 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


Die aktuelle ordnungspolitische Diskussion in PolenProf. Dr. Piotr PyszHochschule für Finanzen und Management in BiałystokIm Jahr 1990 leitete der sogenannte „Balcerowicz-Plan“ die Transformation der polnischen Zentralverwaltungswirtschaftin eine Marktwirtschaft ein. Zentrale Elemente waren eine restriktive Geld- und Finanzpolitik, die fast vollständige Freigabeder Preise sowie die Privatisierung der Staatsunternehmen. Der Namensgeber und maßgebliche Autor des Programmswar der damalige Finanzminister Leszek Balcerowicz. Seitdem sind fast zwei Dekaden vergangen. Die polnische Wirtschaftist kräftig gewachsen, und die Inflationsrate bewegt sich auf moderatem Niveau. Doch die Arbeitslosigkeit gehörtzu den höchsten in der Europäischen Union und erreichte zwischenzeitlich fast 20 Prozent. Zudem wird die Kluft zwischenArmen und Reichen immer größer. Die gesellschaftlichen Probleme in Polen bieten Zündstoff in der Diskussion über denrichtigen ordnungspolitischen Kurs.Trotz der günstigen konjunkturellen Entwicklungin Polen wird dort eine intensive ordnungspolitischeDiskussion geführt. Das ist insofern bemerkenswert,als ordnungspolitische Debatten üblicherweisein Zeiten von Rezessionen entfacht werden.Ursache für die belebte Diskussion sind dieVersuche der Volkswirte und Sozialwissenschaftler,die seit fast zwei Jahrzehnten andauernde Transformationspolitikzu bewerten. Immer wieder stellensich dabei die Grundsatzfragen: Hat Polen diesich aus dem politischen und wirtschaftlichen Umbruchder Jahre 1989/90 ergebenden Chancengenutzt? Wie sind die Aussichten für das Land?Die Kritik an Polens WirtschaftspolitikBei den Versuchen, diese Fragen zu beantworten,wird zunächst betont, dass Polen als Pionierlandder Systemtransformation den anderen postsozialistischenLändern Mittel- und Osteuropas denWeg in Richtung Marktwirtschaft geebnet hat. Indiesem Kontext wird auf den am 1. Januar 1990eingeleiteten „Balcerowicz-Plan“ als das Standardprogrammfür die Transformation der Zentralverwaltungswirtschaftenin eine Marktwirtschaft deswestlichen Typs verwiesen.Nimmt man das letzte Vortransformationsjahr1989 als Vergleichsbasis, erreichte das kumulierteWachstum Polens bis zum Jahr 2006 rund 58 Prozent.Damit war das Land Spitzenreiter unter deneuropäischen Transformationsländern. Hinter Polenplatzierten sich Estland (45 Prozent), Albanien(44 Prozent) und Slowenien (39 Prozent). Mit derhohen Wachstumsrate der Jahre 2006 und 2007von 6,1 Prozent bzw. 6,5 Prozent stieg das realeEinkommen der Bevölkerung; die Inflationsrateist 2007 auf das durchschnittliche Niveau der Euroländergesunken. Als Land mit der höchsten Arbeitslosenquotein der Europäischen Union (EU)wurde Polen von der Slowakei abgelöst. Zu dengroßen Erfolgen der Transformationspolitik gehörtüberdies der EU-Beitritt des Landes im Mai2004. Die Hilfsmittel aus den EU-Fonds trugen inden darauf folgenden Jahren zu einem Bauboomund zu einer Verbesserung der vorher vernachlässigtenInfrastruktur sowie zu Fortschritten beimUmweltschutz bei.Zur Belebung der ordnungspolitischen Diskussiontrugen allerdings nicht die Erfolgsmeldungen bei,sondern die von Fachleuten vorgetragene Kritikan der Transformationspolitik und ihren Ergebnissen.Einer der prominentesten Kritiker des„Balcerowicz-Plans“ und der polnischen Wirtschaftspolitik,die heute noch den Grundzügendes Plans folgt, ist Grzegorz Kołodko. Er formuliertedie provokante These, dass ohne die zahlreichenprozesspolitischen Fehlleistungen der WachstumserfolgPolens hätte höher ausfallen und im Vergleichzum Referenzjahr 1989=100 statt 160 sogar260 Prozent erreichen können. 1 Diese Behauptungist allerdings wenig überzeugend. Ernst zunehmender ist die Kritik von Tadeusz Kowalik, einemWirtschaftstheoretiker und ehemaligen Mitarbeitervon Oskar Lange. Er kritisiert die sozialenKonsequenzen der schocktherapeutischen Trans-1 Vgl. Grzegorz Kołodko, Sukces na dwie trzecie. Polska transformacjaustrojowa i lekcje na przyszłość, in: Ekonomista, 2007, Nr. 6,Seite 829.Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)69


Länderberichteformationspolitik mit Blick auf die Ordnungspolitik.Er macht vor allem die verfehlte Ordnungspolitikfür die Missstände im sozialen Bereich verantwortlich.Das Resultat der ordnungspolitischen Reformensei eine der ungerechtesten WirtschaftsundGesellschaftsordnungen Europas der zweitenHälfte des 20. Jahrhunderts.Die Ungerechtigkeit ist seiner Meinung nach eineFolge der Übernahme der Hayekschen und FriedmanschenVersion des Liberalismus als ideologischeGrundlage für die Konzeption der Transformation.Dazu gesellten sich die Politik Ronald Reagansund Margret Thatchers als neoliberale Leitbilder derTransformationspolitik. Der profilierte Kritikerdes „Balcerowicz-Plans“ verwies auf die um 1990zur Verfügung stehende Option, die marktwirtschaftlicheTransformation auf eine andere konzeptionelleGrundlage als die neoliberale zu stellen:den demokratischen Liberalismus angelsächsischerPrägung, der unter anderem der Idee der„Eigentümerdemokratie“ von John Rawls folgt, dieauf einen hohen Gleichheitsgrad bei der Verteilungdes privaten Eigentums an Produktionsmittelnunter den Bürgern setzt. Im Zusammenhangmit dem Postulat der sozialen Gerechtigkeit beruftsich Kowalik auch auf Joseph Stiglitz: „Die Antwortendes Sozialismus auf die Fragen der Menschheit(…) erwiesen sich als falsch. Sie fußten auf fehlerhaftenbzw. nicht vollständigen Theorien, die derVergangenheit angehören. Aber sie orientiertensich auf Ideale und Werte, von denen viele weiterbeständigen Charakter besitzen. Denn sie widerspiegelnden ewigen Traum von einer menschlicherenund egalitären Gesellschaft.“ 2Vertrauensverluste und Korruption2 Tadeusz Kowalik, Polska transformacja a nurty liberalne, in: Ekonomista,2007, Nr. 6, Seite 790.Die Kritik an den sozialen Missständen, die mitden seit 1990 erfolgten radikalen ordnungspolitischenUmwandlungen einhergingen, greift mehrereTatbestände auf: Die Erwerbsquote in Polenliege nur knapp über 50 Prozent und sei eine derniedrigsten in Europa. Als exorbitant hoch erweisesich die Arbeitslosenquote, die sich in denJahren von 2002 bis 2004 auf mehr als 19 Prozenteinpendelte. Die in den letzten Jahren mit der Beschleunigungdes Wirtschaftswachstums einhergehendeEntspannung auf dem Arbeitsmarkt wirdvorwiegend auf die Auswanderung von rund zweiMillionen junger Polen nach England, Irland undin andere EU-Länder zurückgeführt. Im Mittelpunktder Kritik stehen die sich im Verlauf derTransformation vertiefenden Einkommens- undVermögensunterschiede. Die Zahl der in Polenunter dem Existenzminimum lebenden Personenist in der Dekade zwischen 1995 und 2005 um fastdas Dreifache gestiegen. Die Kinderarmut steigt;gleichzeitig bildet sich eine von der Mehrheit derBevölkerung abgehobene finanzielle Oberschichtheraus. Aus dem inzwischen in der Wirtschaft Polensdominierenden Privatsektor wurden die Vertreterder Arbeitnehmerinteressen, vor allem dieGewerkschaften, fast vollständig verdrängt. Diesmacht die von John Kenneth Galbraith als für einegerechte kapitalistische Gesellschaft unentbehrlichbezeichnete Kräftebalance zwischen den Arbeitgebernund Arbeitnehmern zunichte.Die Systemtransformation wirkt sich auch auf daszwischenmenschliche Vertrauen aus. Das Marktgeschehenund die Höhe der damit verbundenenTransaktionskosten werden vom zwischenmenschlichenVertrauen wesentlich beeinflusst, das in derFachliteratur oft mit dem Begriff des Sozialkapitalsbezeichnet wird. Der Soziologe Piotr Sztompka äußertsich dazu: „Das Problem ist, dass dieses Kapitalinfolge der transformationspolitischen Prozessestark erodierte. Dies bezieht sich vor allem aufdas – aus meiner Sicht – besonders relevante Kapitaldes zwischenmenschlichen Vertrauens als Aspektdes gesellschaftlichen Kapitals.“ 3 Als Erosionsursachenennt er eine Sequenz von vier Traumata,denen die Bevölkerung Polens im Transformationsprozessausgesetzt sei. Folgen davon sindsowohl der Rückzug der Bürger in das Privatlebenals auch die sich ausbreitende Korruption.Die Korruption als Folge des allgemeinen Vertrauensmangelsdroht in letzter Konsequenz, den Zusammenhaltder Gesellschaft zu zerstören. Auf dieseGefahr weisen auch einige Nationalökonomenhin, die sich des Begriffs der Makrokorruption bedienen.Gewarnt wird vor den fatalen Folgen derKorrumpierung von ganzen Gesellschaftsgruppendurch die um Wählerstimmen buhlenden undschnell wechselnden instabilen Regierungen: DiePrivilegierung einiger Gesellschaftsgruppen bedeutetnichts anderes als die Benachteiligung andererGruppen, vor allem der Steuerzahler. Sowerden Verteilungskämpfe und soziale Konfliktegeschürt.3 Piotr Sztompka, Kommentar zu den Referaten im Plenum des VIII.Kongresses der Polnischen Ökonomen, Warschau, 29–30. November2007, unveröffentlichtes Manuskript.70 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


PolenDer angesehene Vertreter der liberalen Strömungin der polnischen Nationalökonomie Wacław Wil -czyński bewertet den „Balcerowicz-Plan“ wegen desMuts seines Verfassers sowie seiner liberalen Konsequenzund Radikalität positiv. Seiner Meinungnach schuf der seit 1990 durchgeführte Plan neue– die Aktivitäten und die Effizienz der Wirtschaftssubjektebegünstigende – Rahmenbedingungendes Wirtschaftens. Die bisherigen Wachstums- undStabilitätserfolge der polnischen Transformationschreibt er entscheidend diesem Faktor zu.Zugleich verweist Wilczyński – ähnlich wie andereliberal gesinnte Nationalökonomen – auf Inkonsequenzenund Schwächen der Ordnungspolitiknach der „Sturm-und-Drang-Periode“ der erstenTransformationsjahre. Von dieser Kritik wird keineder vielen aufeinanderfolgenden Regierungenunterschiedlicher politischer Richtungen ausgenommen.Die Folge der zahlreichen ordnungspolitischenFehlleistungen und Versäumnisse sei,dass sich die polnische Volkswirtschaft spontan inRichtung verhängnisvollem „Dritten Weg“ undWohlfahrtsstaat entwickle. Daher könne die unvollkommeneund in ihrer Wirkung eingeschränkteMarktwirtschaft ihr Wachstums- und Innovationspotenzialnicht voll ausschöpfen. Die liberalenNationalökonomen setzen sich für eine konsequenteOrdnungspolitik ein, die sich auf die Umsetzungder liberalen Grundprinzipien richtet. Polenbrauche eine klare und harte Wirtschaftsordnung,die die Produzenten des Wohlstands undnicht nur seine Konsumenten fördert.Ordnungspolitik braucht breite FundierungDie Mehrheit der Teilnehmer an der ordnungspolitischenDiskussion nimmt eine mittlere Positionzwischen den weit auseinanderliegenden Standpunktender sozialorientierten Kritiker des transformationspolitischenAnsatzes einerseits und seinenliberalen Befürwortern andererseits ein. Derrenommierte Nationalökonom und langjährigePräsident der Polnischen Ökonomischen GesellschaftZdzisław Sadowski schätzt die Transformationdank der erfolgreichen Implementierung einerfunktionierenden Marktwirtschaft und gleichzeitigerEtablierung politischer Demokratie als Erfolgein. Zugleich verweist er auf die damit einhergehendeungünstige soziale Lage des Landes. DieLösung der bestehenden Probleme der Volkswirtschaftsieht er in der wissenschaftlichen Diskussionund der wirtschaftspolitischen Umsetzung der inder Verfassung verbindlich verankerten Idee derSozialen Marktwirtschaft. Darüber hinaus sollesich der Staat neben seinen ordnungspolitischenAktivitäten an der Erstellung einer langfristigenund in sich konsistenten Entwicklungskonzeptiondes Landes beteiligen, die die wirtschaftlichen, sozialen,demographischen und ökologischen ProblemePolens aufgreifen.In zahlreichen Publikationen vertraten Sadowskiund andere Nationalökonomen des „mittlerenWeges“ die Meinung, dass die weitere EntwicklungPolens nicht allein dem Laissez-faire-Prinzip überlassenwerden dürfe. Die Märkte bräuchten eineKorrektur durch die staatliche Ordnungspolitiksowie eine langfristig angelegte Entwicklungsstrategie.Interessant ist in diesem Kontext die Argumentationvon Jerzy Hausner: Ohne den Ordoliberalismusund die Soziale Marktwirtschaft beim Namenzu nennen, spricht er sich dafür aus, dasmarktwirtschaftliche Geschehen in feste und füralle Wirtschaftssubjekte allgemein verbindlicheSpielregeln zu fassen. In den Vordergrund stellt erdie Gestaltung der institutionellen Ordnung derWirtschaft.Das von den wichtigsten Protagonisten der ordnungspolitischenDiskussion wiederholte Postulatder Umsetzung des verfassungsmäßigen Leitbildsder Sozialen Marktwirtschaft gewinnt noch mehrBedeutung, wenn in Betracht gezogen wird, dassdie Transformation in ihrem bisherigen Verlauf einenasymmetrischen Charakter hatte. Das Hauptinteresseder politisch Verantwortlichen galt derProzesspolitik, vor allem dem Wirtschaftswachstumund der makroökonomischen Stabilisierung. Dielangfristig angelegte und auf die Synthese ökonomischer,sozialer und ökologischer Ziele des Wirtschaftensausgerichtete Ordnungspolitik ist unterdem Druck des wirtschaftlichen Alltags vernachlässigtworden. Eine wirksame und langfristig orientierteOrdnungspolitik erfordert eine umfangreichereund fundiertere wissenschaftliche Grundlageals die typische Prozesspolitik. Die neoklassischeökonomische Theorie bildet dafür eine notwendige,aber keineswegs hinreichende Vo raussetzung.Ebenso muss die anthropologisch-soziologische Basisder Marktwirtschaft in die ordnungspolitischenÜberlegungen einbezogen werden.Synthese der Ideen von <strong>Erhard</strong> und EuckenIn der ökonomischen Theorie wird vorausgesetzt,dass freie Menschen im Wirtschaftsprozess von ihremHandlungsspielraum verantwortungsvoll Gebrauchmachen. Die Wirklichkeit des Wirtschaftslebensweicht jedoch von dieser optimistischenOrientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)71


LänderberichtePrämisse ab, unter anderem wegen des nicht genügendvorhandenen Verantwortungsbewusstseinsund zwischenmenschlichen Vertrauenskapitals.Deshalb kann und muss der verantwortungsvolleGebrauch der Freiheit von den Wirtschaftssubjektengelernt und geübt werden. Die Ordnungspolitikkann solche in der marktwirtschaftlichen Ordnungunentbehrlichen Lernprozesse fördern.In den letzten Jahren verbreitet sich auch unterden weltweit führenden Nationalökonomen dasBewusstsein, dass der marktwirtschaftliche Ablaufin der Ära der Internationalisierung und Globalisierungeinen angemessenen und marktkonformkonzipierten Ordnungsrahmen braucht. Der NobelpreisträgerPaul A. Samuelson äußerte sich dazu:„Der Markt hat kein Herz, der Markt hat kein Gehirn.Er tut was er tut.“ 4 Daraus zieht er die Schlussfolgerung:„Der Kapitalismus benötigt Spielregeln.Er braucht ein verlässliches Rechtssystem.“Sogar der prominenteste Vertreter des Monetarismusund der Angebotsökonomie Milton Friedmanäußerte in den letzten Jahren seines LebensSorge wegen der sich in den Vereinigten Staatenvon Amerika immer weiter vertiefenden Einkommens-und Vermögensunterschiede. Die Hauptursachedieses Missstands sah er im miserablenöffentlichen Schulsystem. Seiner Meinung nach4 Interview mit Paul A. Samuelson, Der Markt hat kein Herz, SpiegelSpecial, Die Neue Welt, 2005, Nr. 7, Seite 151.müsse der Staat kostenlose Bildungsgutscheinean alle Schüler verteilen, mit denen die Leistungender im Wettbewerb stehenden Bildungsanstaltenbezahlt werden. Friedman meinte: „DasZiel ist es doch, möglichst wenig Arme undSchwache zu haben. Hier liegt die Stärke dieses[liberalen] Ideals.“ 5Bei der Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaftin Polen – das Gebot ist in Artikel 20 derpolnischen Verfassung festgeschrieben – muss derOrdnungspolitik die Schlüsselbedeutung zukommen.Als konzeptuelle Grundlage für eine auf dieseZielsetzung orientierte Ordnungspolitik ist eineSynthese der <strong>Erhard</strong>schen Konzeption der SozialenMarktwirtschaft mit der WettbewerbsordnungWalter Euckens zu empfehlen. Dafür sprechenfolgende Argumente: Erstens schaffen diePrinzipien der Wettbewerbsordnung den bestenordnungspolitischen Rahmen für alle Marktteilnehmer.Zweitens richtet sich die Konzeption derSozialen Marktwirtschaft vor allem auf die Stärkungund Stabilisierung der oft vernachlässigtenanthropologisch-soziologischen Basis der Marktwirtschaft.Mit der Wettbewerbsordnung erhältdie Marktwirtschaft den zu ihr passenden Rahmen,in dem alle Bürger freiheitlich und verantwortungsvollfür sich und zum Wohle der Gesellschaftwirtschaften können. 5 Interview mit Milton Friedman, Es ist unmoralisch, Geld von denReichen zu nehmen, um es den Armen zu geben, Süddeutsche ZeitungMagazin, 23. Juni 2006, Seite 22.<strong>Ludwig</strong>-<strong>Erhard</strong>-Preis für WirtschaftspublizistikPreisträger 2008Eine unabhängige Jury unter dem Vorsitz von Dr. Hans D. Barbier hat entschieden, wer für seine publizistischeTätigkeit mit dem <strong>Ludwig</strong>-<strong>Erhard</strong>-Preis für Wirtschaftspublizistik 2008 ausgezeichnet wird. Die Hauptpreiseerhalten: Thomas Schmid, Chefredakteur der Tageszeitung „Die Welt“, und Roland Tichy, Chefredakteur des Wochenmagazins „Wirtschaftswoche“.Die <strong>Ludwig</strong>-<strong>Erhard</strong>-Förderpreise erhalten: Bastian Obermayer, Redakteur beim „Süddeutsche Zeitung Magazin“, und Roman Pletter, Redakteur beim Wirtschaftsmagazin „brand eins“.Die Hauptpreise sind mit je 10 000 Euro, die Förderpreise mit je 5 000 Euro dotiert. Die Preise werden am18. September 2008 im <strong>Ludwig</strong>-<strong>Erhard</strong>-Haus in Berlin übergeben. Dr. Peter Gillies wird die Laudationes halten.72 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 116 (2/2008)


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