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Berner Zeitschrift für Geschichte

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<strong>Berner</strong> <strong>Zeitschrift</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>Geschichte</strong><br />

72. Jahrgang<br />

Ländliche Gesellschaft und materielle<br />

Kultur bei Albert Anker (1831 – 1910)<br />

in Kooperation mit dem Kunstmuseum Bern<br />

und der Stiftung Albert Anker-Haus Ins<br />

N° 02 /10


<strong>Berner</strong> <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Geschichte</strong> (BEZG)<br />

Die <strong>Berner</strong> <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Geschichte</strong> ist das Organ des Historischen Vereins des Kantons Bern.<br />

Sie veröffentlicht in allgemein verständlicher Form Forschungsbeiträge zur bernischen <strong>Geschichte</strong>.<br />

Die Redaktion ist <strong>für</strong> die Themen- und Manuskriptauswahl zuständig. Für den Inhalt der einzelnen<br />

Beiträge sind die Autorinnen und Autoren verantwortlich.<br />

Die <strong>Berner</strong> <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Geschichte</strong> erscheint mit finanzieller Unterstützung der<br />

Erziehungsdirektion des Kantons Bern (Amt <strong>für</strong> Kultur).<br />

Impressum<br />

Herausgeber<br />

Bernisches Historisches Museum, Burgerbibliothek Bern, Historischer Verein des Kantons Bern,<br />

Staatsarchiv des Kantons Bern, Stadtarchiv Bern, Universitätsbibliothek Bern<br />

Redaktion<br />

Dr. des. Gerrendina Gerber-Visser (gerrendina.gerber-visser@hist.unibe.ch)<br />

Dr. Martin Stuber (martin.stuber@hist.unibe.ch)<br />

Historisches Institut der Universität Bern, Zähringerstrasse 25, 3012 Bern, Tel. 031 631 83 82<br />

www.bezg.ch<br />

Rechnungsführung, Adressänderungen und Bestellung von Einzelheften<br />

Universitätsbibliothek Bern, Sekretariat, Münstergasse 61, 3000 Bern 8, Tel. 031 631 92 05,<br />

bezg@ub.unibe.ch<br />

Preise<br />

Jahresabonnement (4 Nummern) Fr. 60.– / Einzelheft Fr. 20.– / Themenheft Fr. 30.–.<br />

Für die Mitglieder des Historischen Vereins ist der Abonnementspreis im Jahresbeitrag von<br />

Fr. 80.– inbegriffen. Anmeldung als Mitglied: www.hvbe.ch<br />

Nachdruck<br />

Der Nachdruck von Aufsätzen oder von grösseren Partien daraus ist nur mit Bewilligung<br />

der Redaktion gestattet.<br />

Druck, Beilagen und Inserateverwaltung<br />

Rub Graf-Lehmann AG Bern, Murtenstrasse 40, 3001 Bern, Tel. 031 380 14 90<br />

Buchbinderische Arbeiten<br />

Buchbinderei Schlatter AG, Liebefeld<br />

Gestaltung<br />

pol Konzeption und Gestaltung, Bern<br />

72. Jahrgang, Heft Nr. 2, 2010<br />

Kooperationspartner dieser Nummer: Kunstmuseum Bern, Stiftung Albert Anker-Haus Ins<br />

Diese Nummer erscheint mit finanzieller Unterstützung der Gemeinde Ins und des Museums Oskar<br />

Reinhart am Stadtgarten, Winterthur. Besonderer Dank gebührt der Stiftung <strong>für</strong> Kunst, Kultur und<br />

<strong>Geschichte</strong> Winterthur, welche zum Anlass ihres 30-jährigen Stiftungsjubiläums dieses Themenheft<br />

mit einem namhaften Beitrag unterstützt.


Inhalt<br />

6 Einleitung<br />

Martin Stuber, Gerrendina Gerber-Visser, Isabelle Messerli<br />

11 Das Haus Albert Ankers in Ins<br />

Isabelle Messerli<br />

25 Essen und Trinken bei Albert Anker<br />

François de Capitani<br />

39 Wie es war und nie gewesen ist<br />

Ankers Schule von innen und aussen<br />

Katharina Kellerhals<br />

51 Lesen und Vorlesen bei Albert Anker<br />

Gerrendina Gerber-Visser<br />

65 Muestopf und Kaffeekanne<br />

Ein Beitrag zur materiellen Kultur bei Albert Anker<br />

Andreas Heege<br />

79 Städtische Mode, ländliche Tradition<br />

Textilien bei Albert Anker<br />

Isabelle Messerli<br />

93 «Wenn es sich ums Menschenherz handelt,<br />

kann ja leider oft von Bschüttifass die Rede sein»<br />

Wie Albert Anker Gotthelf las und wie er ihn illustrierte<br />

Christian von Zimmermann<br />

109 Das Ländliche in der Stadt<br />

Albert Anker und die Kinderkrippe am Gerberngraben<br />

Malinee Müller


119 Albert Anker als Vater und Grossvater<br />

Erinnerungen aus der Familie<br />

Matthias Brefin<br />

129 «In Ins geht alles wie gewohnt»<br />

Das Seeland und seine Bewohner im Spiegel<br />

der Korrespondenz Albert Ankers<br />

Annelies Hüssy<br />

143 Warum der Schnellzug nach Paris in<br />

Ins angehalten hat<br />

Erinnerung an eine kleine Inser <strong>Geschichte</strong><br />

Beat Gugger<br />

151 Fundstück<br />

«En français, en patois du pays et en latin» –<br />

die Pflanzenlisten des Georges-Louis Liomin (1764)<br />

Luc Lienhard<br />

157 Historischer Verein des Kantons Bern<br />

Vorträge des Wintersemesters 2009/2010<br />

167 Buchbesprechungen


Autoren/Autorinnen<br />

Pfr. Matthias Brefin,<br />

Ururenkel Albert Ankers, Albert Anker-Haus Ins,<br />

mbrefin@bluewin.ch<br />

Dr. François de Capitani,<br />

Schweizerisches Landesmuseum Zürich /Prangins,<br />

Francois.deCapitani@slm.admin.ch<br />

Dr.des. Gerrendina Gerber-Visser,<br />

Historisches Institut der Universität Bern,<br />

gerrendina.gerber-visser@hist.unibe.ch<br />

Beat Gugger,<br />

Ausstellungsmacher, Burgdorf,<br />

stiller_knall@hotmail.com<br />

Dr. Andreas Heege,<br />

Archäologischer Dienst des Kantons Bern,<br />

andreas.heege@erz.be.ch<br />

Lic.phil. Annelies Hüssy,<br />

Burgerbibliothek Bern,<br />

annelies.huessy@burgerbib.ch<br />

Dr. Katharina Kellerhals,<br />

Institut <strong>für</strong> Erziehungswissenschaften der Universität Bern,<br />

katharina.kellerhals@gmail.com<br />

Lic.phil. Luc Lienhard,<br />

Botaniker, Biel,<br />

luc.lienhard@bluewin.ch<br />

Lic.phil. Isabelle Messerli,<br />

Kunsthistorikerin, Bern,<br />

messerli@kunstinventar.ch<br />

Lic.theol. Malinee Müller,<br />

Theologische Fakultät der Universität Bern,<br />

malineemueller@students.unibe.ch<br />

Dr. Martin Stuber,<br />

Historisches Institut der Universität Bern,<br />

martin.stuber@hist.unibe.ch<br />

Prof.Dr. Christian von Zimmermann,<br />

Institut <strong>für</strong> Germanistik der Universität Bern,<br />

vonzimmermann@germ.unibe.ch<br />

Umschlagbild<br />

Albert Anker, Die Konfirmandinnen von Müntschemier, 1901,<br />

Öl auf Leinwand, 86 x131 cm, Kat. Nr. 584 [Ausschnitt].<br />

Foto Isabelle Messerli – Gemeinde Ins.


Ländliche Gesellschaft und materielle<br />

Kultur bei Albert Anker (1831–1910)<br />

Hrsg. von M. Stuber, G. Gerber-Visser, I. Messerli;<br />

in Kooperation mit dem Kunstmuseum Bern und<br />

der Stiftung Albert Anker-Haus Ins


Einleitung<br />

Martin Stuber, Gerrendina Gerber-Visser, Isabelle Messerli<br />

Albert Anker gehört ohne Zweifel zu den populärsten Schweizer Malern, ja er<br />

gilt geradezu als «nationale Ikone». 1 Reproduktionen seiner Bilder prägten ganze<br />

Generationen von Wohnzimmern, Ausstellungen mit seinen Bildern ziehen bis<br />

heute ein breites Publikum an. In Ankers Werk dominieren die Genredarstellungen<br />

mit ländlichen Alltagsszenen seiner Inser Heimat, 2 die von allem Anfang<br />

an die Grundlage seines Erfolgs bildeten und die lange als direktes Abbild der<br />

Wirklichkeit verstanden wurden. Als Bundespräsident Ernst Brenner 1901 zum<br />

70. Geburtstag Ankers gratulierte, dankte er dem Maler <strong>für</strong> die «lebenswahren<br />

Darstellungen», mit denen er ähnlich einem Jeremias Gotthelf die «kernhaften<br />

Gestalten unseres Landvolks» plastisch gemacht habe. 3 Und noch in den 1970er-<br />

Jahren wurde Anker mit den Worten gerühmt: «Seine besten Bilder geben bernisches<br />

Volkstum wieder.» 4<br />

Die jüngere Ankerforschung hat diese «naive» Sicht in mehrfacher Hinsicht<br />

differenziert. Zum einen wird der internationale Entstehungszusammenhang<br />

von Ankers Genrebildern, die ihre Käuferschaft zu einem guten Teil in Paris fanden,<br />

genauer rekonstruiert. Um sich in der Kunstmetropole von der Masse abzuheben,<br />

gab es nicht wenige Künstler wie Anker, die ganz bewusst den regionalen<br />

Charakter ihrer Motive betonten und sich dabei «durch die Konzentration<br />

auf die Darstellung des Landlebens ihrer Heimat die romantische Nostalgie nach<br />

einer idyllischen Vergangenheit zunutze machten». 5 Zum anderen arbeitete man<br />

Ankers «selektiven Realismus» heraus. 6 Er vermittelt vom Landleben bloss ein<br />

ausschnitthaftes Bild, vieles, was damals bestimmend war <strong>für</strong> die ländliche Gesellschaft,<br />

taucht im «idyllischen Bilderkosmos Ankers» schlicht nicht auf. 7<br />

Und trotzdem, auch die neuere Forschung spricht Ankers Genrebildern nicht<br />

grundsätzlich den dokumentarischen Charakter ab. Je weiter sich unsere Welt<br />

von den Lebensformen des 19. Jahrhunderts entferne, desto wichtiger würden<br />

Ankers «Darstellungen aus dem bäuerlichen Leben <strong>für</strong> kulturgeschichtliche, soziologische<br />

und ethnologische Untersuchungen». 8 Dies schon nur, weil die Alternativen<br />

weitgehend fehlen – <strong>für</strong> Ankers Zeit stehen erst wenige Fotografien<br />

ländlicher Szenen zur Verfügung, und diese sind meist kaum weniger inszeniert<br />

und neigen zu ähnlicher Idealisierung; 9 bezeichnenderweise ziehen die neueren<br />

Standardwerke der bernischen <strong>Geschichte</strong> <strong>für</strong> diesen Zeitraum an zentraler<br />

Stelle Anker-Bilder heran. 10 Vor allem aber zeigen Ankers präzise Schilderungen<br />

von Tätigkeiten nicht selten die Qualität von Reportagebildern; seine<br />

Strickenden, Spinnenden und Stickenden sind derart genau beobachtet, «dass<br />

jemand, der diese Tätigkeiten nicht beherrscht, sie von Ankers Figuren erlernen<br />

könnte». 11 Auch legte Anker sehr viel Wert auf die exakte Wiedergabe der mate-<br />

6 BEZG N° 02/10


iellen Welt; er verfügte über eine Maltechnik, die, wie die Kunst der alten Hol-<br />

länder, das Stoffliche der Dinge, etwa eines Kachelofens, eines Krugs, eines Kit-<br />

tels, in virtuoser Sicherheit wiedergibt. Einzelheiten sind oft «mit eigentlicher<br />

Bravour gemalt, man spürt in ihnen des Malers Freude an gemeisterten Aufgaben».<br />

12 Zahlreiche Requisiten, die sich bis heute in seinem Inser Atelier erhalten<br />

haben, begleiteten Anker über Jahrzehnte. Auf unzähligen Bildern finden sich<br />

beispielsweise eine bestimmte Stabelle, aus deren Rückenlehne ein Herzgriff sowie<br />

zwei seitlich liegende und leicht unterschiedlich gewellte Grifflöcher herausgeschnitten<br />

sind; auf anderen immer wieder der Kleintisch mit geohrter und<br />

profilierter Schubzarge zwischen kannelierten Vierkantbeinen; wiederum auf<br />

anderen mehrmals eine bemerkenswerte Teekanne aus schwarzem Steinzeug<br />

mit glänzender Transparentglasur. 13 Aufgrund dieser glücklichen Überlieferungslage,<br />

dass sowohl das gemalte Bild als auch das zur Vorlage dienende Objekt<br />

heute einsehbar sind, lässt sich Ankers Detailtreue anschaulich nachweisen.<br />

Vor diesem Hintergrund will das vorliegende Themenheft Albert Anker <strong>für</strong><br />

einen ganz bestimmten Zeitraum – 1850 bis 1910 – als Zeugen der materiellen<br />

Kultur und der ländlichen Gesellschaft befragen. Bis zu einem gewissen Grad<br />

erfolgt damit eine Umkehrung der Perspektive «vom Kunstwerk als Erkenntnisziel<br />

zum Kunstwerk als Quelle <strong>für</strong> Fragen ausserhalb der Kunstgeschichte». 14<br />

Angesichts der Reichhaltigkeit von Ankers Bilderwelt ist dies nur im Zusammenspiel<br />

verschiedener Fachdisziplinen möglich. Im Themenheft vertreten sind<br />

namentlich Archäologie, Erziehungswissenschaft, <strong>Geschichte</strong>, Kunstgeschichte,<br />

Literaturwissenschaft und Theologie.<br />

Auf einer ersten Ebene geht es dabei um das, was die Historische Bildkunde<br />

als den «Nachweis von Realien» bezeichnet: die auf einem Bild dargestellten<br />

Ge genstände werden identifiziert, in ihrem Verwendungszusammenhang analysiert<br />

und in einen präzisen zeitlichen und sozialen Kontext gesetzt. 15 Daraus<br />

ergibt sich bei Anker als roter Faden eine soziale Komplementarität: Der ländlichen<br />

Kultur steht die bürgerliche Welt seiner Käufer und Auftraggeber gegenüber,<br />

die zugleich Ankers eigenen bürgerlichen Lebensformen nahekam. Ihren<br />

bürgerlichen Lebensstil pflegten Anker und seine Familie eben gerade nicht nur<br />

in Paris und Neuchâtel, sondern – als Vertreter des ländlichen Bürgertums –,<br />

durchaus auch in Ins. 16 Diese gesellschaftlichen Unterschiede sind bei Ankers<br />

Darstellungen der unterschiedlichen Kleidungen (Beitrag von Isabelle Messerli)<br />

ebenso zu finden wie bei denjenigen der Nahrungsmittel und Getränke (François<br />

de Capitani) und der Töpfe, Tassen und Kannen (Andreas Heege).<br />

Eine historische Bildanalyse muss aber über eine blosse Realienkunde, so<br />

Stuber, Gerber-Visser, Messerli: Einführung 7


wertvoll diese als Ergänzung zu anderen Quellentypen ist, hinausgehen. Die<br />

Gefahr des realkundlichen Ansatzes liegt in der unzulässigen Reduzierung des<br />

Sinn- und Bedeutungsangebots eines Bildes, in der Verwechslung von historischer<br />

Realität und deren Gestaltung in einem ästhetischen Medium. Auf einer<br />

zweiten Ebene sind deshalb zwingend die symbolischen und allegorischen Darstellungsweisen<br />

in ihren Auswirkungen auf die Gegenständlichkeit des Bildes<br />

zu prüfen. 17 Auch Anker zielte mit seinen «realen Allegorien» ja nicht selten auf<br />

Zustände eines sozialen Zusammenhangs, die in der Wirklichkeit nur selten<br />

vorkamen, jedoch von ihm selber oder auch allgemein als erstrebenswert erachtet<br />

wurden. 18 Zuvorderst zu nennen sind hier die klassischen bürgerlichen<br />

Werte Familie, Bildung, Arbeitsamkeit und Reinlichkeit, 19 von denen Ankers<br />

Darstellungen der ländlichen Gesellschaft stark geprägt sind. So gehört das Lesen,<br />

das im 19. Jahrhundert eine zentrale Funktion als «Mittel bürgerlicher<br />

Kommunikation und Ausweis von Bildung» einnahm, 20 zu Ankers bevorzugten<br />

Motiven (Gerrendina Gerber-Visser). Gerade Ankers zeitungslesende Männer<br />

stehen aber nicht nur <strong>für</strong> bürgerliche Werte i.e. Sinn, sondern auch <strong>für</strong> die<br />

Emanzipation der Landbevölkerung zum gut informierten und damit politisch<br />

mündigen Staatsbürger. Angesprochen sind damit demokratische Errungenschaften<br />

des jungen Bundesstaates wie die Ziviltrauung, die allgemeine Schulpflicht,<br />

indirekt sogar der Bahnbau («Der Geometer»), denen Anker seine aufwändigsten<br />

Bilder widmete. 21 Anker lässt sich nicht auf das oft kolportierte<br />

Bild der idealisierten ländlichen Schweiz reduzieren, die ausserhalb der Zeit<br />

steht, vielmehr manifestieren sich in seinen Darstellungen zahlreiche Entwicklungen<br />

des dynamischen 19. Jahrhunderts: das allmähliche Eindringen der<br />

städtischen Mode in den traditionellen ländlichen Kleidungsstil (Isabelle Messerli),<br />

die veränderte Rolle der Grosseltern (Christian von Zimmermann), das<br />

Aufkommen eines vormaligen Nischenprodukts wie Bier (François de Capitani),<br />

die Kinderkrippen als städtische Antworten auf die ländliche Zuwanderung<br />

(Malinee Müller) und schliesslich und vor allem das Schulobligatorium,<br />

das im Kanton Bern erst als Reaktion auf die im schweizweiten Vergleich miserabel<br />

ausgefallenen Rekrutenprüfungen von 1875 durchgesetzt werden<br />

konnte; gerade Ankers Schuldbilder sind ja komplexe Mischungen aus realistischen<br />

Darstellungen der Gegenwart und schulpolitischen Zielen <strong>für</strong> die Zukunft<br />

(Katharina Kellerhals). Dies mindert aber deren Quellenwert <strong>für</strong> eine historische<br />

Forschung nicht, die sich zunehmend auch mit der Phantasieproduktion<br />

einer Gesellschaft befasst, mit dem Ringen um Bedeutung und der Bildung<br />

von Bewusstsein: «All dies ist ebenso bedeutsam <strong>für</strong> den historischen<br />

8 BEZG N° 02/10


Prozess einzustufen wie die Quellen, die die angeblich ‹harten facts› liefern.» 22<br />

Auch wenn bei einer historischen Bildanalyse die «Kunst im Sektionssaal<br />

der Geschichtswissenschaft unters Skalpell kommt», 23 darf nie der Künstler<br />

selber aus dem Blick geraten. Auf dieser dritten Ebene geht es um den «prinzi-<br />

piell fiktionalen Charakter des Kunstwerks», jenes «Mehrs über die blosse<br />

Dokumen tation hinaus», ohne das die Unterscheidung von Kunst und Doku-<br />

ment sinnlos wäre. 24 Folgerichtig finden sich im vorliegenden Themenheft auch<br />

vier Beiträge, die von Albert Ankers persönlichen Überlieferungen ausgehen<br />

(Matthias Brefin, Beat Gugger, Annelies Hüssy, Isabelle Messerli). Erst zusam-<br />

men mit diesen biographi schen Zugängen lässt sich Ankers Zeugenschaft <strong>für</strong><br />

die materielle Kultur und die ländliche Gesellschaft in der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahr hunderts einschätzen.<br />

Anmerkungen<br />

1 Ten-Doesschate Chu, Petra: Eine nationale Ikone im internationalen Kontext. In: Frehner,<br />

Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann, Marc (Hrsg.): Albert Anker und Paris.<br />

Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2003, 61–73,<br />

hier 53/54; ähnlich: Meister, Robert: Albert Anker – der «Schweizer Maler». In: Marchal,<br />

Guy P.; Mattioli, Aram (Hrsg.): Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität.<br />

Zürich 1992, 301–311, hier 301.<br />

2 Siehe Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker 1831–1910. Werkkatalog der<br />

Gemälde und Ölstudien. Catalogue raisonné des oeuvres à l’huile (Hrsg. Kunstmuseum Bern).<br />

Basel 1995.<br />

3 Zit. nach: Kuthy, Sandor; Lüthy, Hans A.: Albert Anker. Zwei Autoren über einen Maler.<br />

Ausstellungskatalog Kunsthaus Zürich. Zürich 1980, 7.<br />

4 Wahlen, Hermann: Dichter und Maler des Bauernstandes. Bern 1973 («Albert Anker», 23–36), 32.<br />

5 Ten-Doesschate Chu (wie Anm. 1), 53/54.<br />

6 Vogel, Matthias: Idealistischer Naturalismus oder naturalistische Idylle. Die Schweizer Genremalerei<br />

des 19. Jahrhunderts im internationalen Kontext. In: Klemm, Christian (Hrsg.): Von Anker<br />

bis Zünd. Die Kunst im jungen Bundesstaat 1848–1900. Zürich 1998, 51–63, hier 60.<br />

7 Schürpf, Markus: Albert Anker und die Fotografie. In: Frehner / Bhattacharya-Stettler / Fehlmann<br />

(wie Anm. 1), 176–212, hier 186/187.<br />

8 Tavel, Hans Christoph von: Geleitwort. In: Kuthy / Lüthy (wie Anm. 3), 9.<br />

9 Schürpf (wie Anm. 7), 187.<br />

10 Junker, Beat: <strong>Geschichte</strong> des Kantons Bern seit 1798. Bd. 2: Die Entstehung des demokratischen<br />

Volksstaates, 1831–1880. Bern 1990: Als Umschlagbild dient «Die Gemeindeversammlung»<br />

(Kuthy/ Bhattacharya-Stettler, wie Anm. 2, Kat. Nr. 26). – Pfister, Christian; Egli, Hans-Rudolf<br />

(Hrsg.): Historisch-Statistischer Atlas des Kantons Bern 1750–1995. Bern 1998, 36, 60, Umschlagbild:<br />

Als Illustrationen <strong>für</strong> die historischen Veränderungen im Gemeindeleben, in den demographischen<br />

Strukturen und in der Agrarwirtschaft dienen «Der Gemeindeschreiber», «Hohes<br />

Alter I» und «Kartoffelernte bei Ins» (Kuthy / Bhattacharya-Stettler, wie Anm. 2, Kat. Nr. 210, 335,<br />

482). – Siehe zudem die zahlreichen Anker-Bilder in Schmidt, Heiner (Hrsg.): Worber <strong>Geschichte</strong>.<br />

Bern 2005, 186, 203, 263, 266, 335, 357, 451, 459, 460, 580, 605.<br />

Stuber, Gerber-Visser, Messerli: Einführung 9


11 Frehner, Matthias: Die gute Wirklichkeit. Albert Anker zwischen Ideal und Realismus. In: Frehner /<br />

Bhattacharya-Stettler / Fehlmannn (wie Anm. 1), 11–36, hier 28; siehe dazu: Messerli, Isabelle:<br />

Königin Bertha und die Spinnerinnen von Albert Anker. In: Kunst und Architektur in der Schweiz,<br />

2006, Heft 4, 58–61.<br />

12 Zbinden, Hans: Albert Anker in neuer Sicht. Bern 1961, 21.<br />

13 Messerli, Isabelle: Albert Anker: sein Atelier – seine Requisiten – seine Modelle.<br />

In: Bhattacharya-Stettler, Therese (Hrsg.): Albert Anker. Catalogue, Exposition Fondation Pierre<br />

Gianadda, Martigny 2003–2004. Lausanne 2003, 65−73, hier 69/70.<br />

14 Roeck, Bernd: Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder. In: <strong>Geschichte</strong> und Gesellschaft 29<br />

(2003), 294–315, 305.<br />

15 Talkenberger, Heike: Von der Illustration zur Interpretation: Das Bild als historische Quelle.<br />

In: <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> Historische Forschung (1994, 3), 289 –313, hier 291.<br />

16 Messerli, Isabelle: Kinderwelten unter Stroh- und Ziegeldächern. In: Frehner, Matthias;<br />

Bhattacharya-Stettler, Therese; Messerli, Isabelle (Hrsg.): Albert Anker – Schöne Welt.<br />

Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2010 (im Druck).<br />

17 Talkenberger (wie Anm. 15), 291.<br />

18 Frehner (wie Anm. 11), 25.<br />

19 Siehe z.B.: Tanner, Albert: Arbeitsame Patrioten – Wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit<br />

in der Schweiz 1830–1914. Zürich 1995; Martin-Fugier, Anne: Riten der Bürgerlichkeit.<br />

In: Perrot, Michelle (Hrsg.): <strong>Geschichte</strong> des privaten Lebens. Bd. 4: Von der Revolution zum<br />

Grossen Krieg. (a.d. Franz.). Augsburg 1999, 201–266; Schulz, Andreas: Lebenswelt und Kultur<br />

des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. München 2005 (Enzyklopädie Deutscher<br />

<strong>Geschichte</strong>, Bd. 75), 19 –22, 69–76.<br />

20 Martin-Fugier (wie Anm. 19), 19.<br />

21 Frehner (wie Anm. 11), 25.<br />

22 Talkenberger (wie Anm. 15), 313.<br />

23 Roeck (wie Anm. 14), hier 299.<br />

24 Hardtwig, Wolfgang: Literaturbericht. Der Historiker und die Bilder. Überlegungen zu Francis<br />

Haskell. In: <strong>Geschichte</strong> und Gesellschaft 24 (1998), 305–322, hier 316.<br />

10 BEZG N° 02/10


Das Haus Albert Ankers in Ins<br />

Isabelle Messerli<br />

Im Dorf Ins, im <strong>Berner</strong> Seeland, steht an der Müntschemiergasse, leicht von der<br />

Strasse zurückversetzt und erhöht, ein stattliches Bauernhaus mit breit ausladenden,<br />

tief hinuntergezogenem Ziegeldach, auf dessen Türsturz das Baujahr<br />

1803 vermerkt ist. Hier wurde am 1. April 1831 Albert Anker als zweites Kind<br />

des Tierarztes Samuel Anker (1790 –1860) und der Marianne Elisabeth Gatschet<br />

(1802–1847) geboren. In diesem Haus verbrachte der Maler den grössten Teil<br />

seines Lebens, und hier starb er vor 100 Jahren, am 16. Juli 1910, im Alter von<br />

79 Jahren. 1 Wie jeden Morgen stand er gegen fünf Uhr morgens auf, öffnete sein<br />

Fenster im warmen Stübli und wurde beim Anziehen seiner Kleider von einem<br />

Schlaganfall getroffen. 2<br />

Anker war schon zu Lebzeiten ein geschätzter Maler. Er hat in seinem über<br />

50-jährigen reichen Schaffen den Schweizer Realismus der 2. Hälfte des 19.<br />

Jahrhunderts geprägt. Seine realistische Malweise wurde von einem breiten Publikum<br />

geliebt und verstanden. Nicht die Grossstadt Paris, wo er 35 Winterhalbjahre<br />

verbrachte, prägte seine Motivwelt, sondern die ländliche Umgebung des<br />

protestantischen <strong>Berner</strong> Seelandes. 3 Das Haus und das Dorf Ins sind untrennbar<br />

mit Albert Anker und seinem Lebenswerk verbunden. Treffend formuliert<br />

Moser: «Das Ankerhaus ist ein intaktes, kaum verändertes Bauernhaus der Zeit<br />

um 1800 mit einigen zusätzlichen Räumen. Zu diesem exemplarischen Zeugniswert<br />

<strong>für</strong> Bau- und Ausstattungsgepflogenheiten einer im Dorf einflussreichen<br />

Familie tritt der Denkmalcharakter <strong>für</strong> Albert Anker.» 4<br />

Das Bauernhaus mit seinem kulturhistorisch bedeutenden und kaum veränderten<br />

Atelier blieb dank umsichtiger Vererbung über Generationen im Besitze<br />

der Familie. Vieles ist seit dem Tod Ankers im Haus belassen worden und<br />

zeigt den Respekt und die Wertschätzung, die dem Erbe entgegengebracht wurden.<br />

Die Nachfahren Ankers wirkten konservatorisch, und schliesslich stellten<br />

Matthias und Rosette Brefin-Wyss mit der Errichtung einer Stiftung sicher, dass<br />

ein grosses Kulturgut <strong>für</strong> die Nachwelt erhalten bleibt. 5<br />

Das Haus und seine Bewohner<br />

Das heutige Albert Anker-Haus wurde im Jahre 1803 von Albert Ankers Grossvater,<br />

Rudolf Anker (1750 –1817), am Rande des Dorfes Ins auf einer zusammengekauften<br />

Riemenparzelle errichtet. 6 Rudolf war Tierarzt und besserte sein Einkommen<br />

durch Landwirtschaft und Rebbau sowie mit Pferde- und Viehhandel auf.<br />

Nach dessen Tod übernahm 1817 sein Sohn Samuel, der ebenfalls Tierarzt war,<br />

das Gut. 7 Dieser heiratete zehn Jahre später Marianne Gatschet, die Tochter des<br />

Inser Arztes und Amtsstatthalters Abraham Gatschet. 1836 übersiedelte Samuel<br />

Messerli: Haus 11


Anker-Atelier in Ins, Blick gegen Südosten. Foto Badri Redha,<br />

Archäologischer Dienst des Kantons Bern.<br />

12 BEZG N° 02/10


Messerli: Haus 13


Anker, der Vater des Malers, mit seiner Familie nach Neuenburg, wohin er als<br />

Kantonstierarzt berufen wurde. In dieser Zeit verpachtete er den Hof an Verwandte.<br />

Seine drei Kinder, Rudolf (1828), Albrecht (1831) und Louise (1837),<br />

wuchsen zweisprachig auf – aus Albrecht wurde im französischen Sprachgebrauch<br />

Albert. 1847, im Alter von 16 Jahren, verloren die Kinder ihre Mutter<br />

und kurz darauf den Bruder Rudolf. Einen weiteren Schicksalsschlag erlitt Familie<br />

Anker, als fünf Jahre später Louise starb. 1852 zog Vater Anker wieder<br />

nach Ins, wo er seine frühere Tierarztpraxis wieder aufnahm – der Raum «Pharmacie»<br />

erinnert heute noch an die Apotheke des Vaters und des Grossvaters.<br />

Nebenbei bewirtschaftete Samuel Anker das Familienanwesen bis zu seinem<br />

Tod im Jahre 1860. Um den Haushalt ihres verwitweten Bruders, auch über dessen<br />

Tod hinaus, kümmerte sich fortan die unverheiratet gebliebene Tante Anna<br />

Maria (1798 –1873). 8 Obwohl er der einzige Überlebende der drei Geschwister<br />

und Alleinerbe des Elternhauses war, trat Albert nicht in die Fussstapfen seines<br />

Vaters. Albert begann 1851 mit einem Theologiestudium an der Universität Bern,<br />

zweifelte aber immer mehr an seiner Berufung und verkündete seinem Vater<br />

an Weihnachten 1853, dass er nicht zum Theologen tauge. 9 Im Herbst 1854 zog<br />

Albert im Einverständnis des Vaters nach Paris und wurde Maler.<br />

Im Elternhaus in Ins richtete Anker, als er sich dort während der Krankheit<br />

seines Vaters vom Sommer 1859 bis Ende 1860 aufhielt, im Heubühnenbereich<br />

über dem Wohntrakt ein Atelier ein. Als 1860 der Vater starb, kam das Anwesen<br />

in Alberts Besitz.<br />

Mit seiner Berufswahl war ein erster entscheidender Schritt im Leben des<br />

Malers getan. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Gründung einer Familie.<br />

Seiner Tante Anna-Maria kündete Anker die Heirat mit Anna Ruefli, der Tochter<br />

eines Metzgermeisters aus Biel und Freundin seiner verstorbenen Schwester<br />

Louise, folgendermassen an: «Dies ist die Anzeige, mit der ich den Leuten<br />

melde, dass ich heirathen will. Nun, jammert ja nicht, und bekümmert Euch<br />

nicht, was aus Euch werden soll. Ihr wisset ja, dass Anna Rüfly keine unverschämte<br />

Person ist; es soll im Hause nicht anders sein, als wenn unsere Luise<br />

selig noch da wäre. Und wenn es die Noth erforderte, so wollen wir Sorg haben<br />

zu Euch, wie Ihr es so vielfach um uns allen verdient habt.» 10 Die Tante und<br />

gleichzeitig Patin des Künstlers blieb bis zu ihrem Tod (1873) im Haus wohnen.<br />

Die Raumbenennung «Chambre à la tante» erinnert noch heute an sie.<br />

In den kommenden Jahren gelangte Albert Anker zu immer grösserer Anerkennung<br />

als Künstler und konnte sich mit seiner Malerei den Lebensunterhalt<br />

sichern. Er konnte es sich leisten, mit seiner wachsenden Familie die Winter-<br />

14 BEZG N° 02/10


monate in der Künstlermetropole Paris, den Sommer aber jeweils im heimi-<br />

schen Ins zu verbringen. Aus dem Versicherungsvertrag mit der Schweizeri-<br />

schen Mobiliar-Versicherungs-Gesellschaft von 1869 geht hervor, dass Anker<br />

nicht mehr auf einen Zweitverdienst mit der Bewirtschaftung des väterlichen<br />

Hofes angewiesen war. So wurden unter der Rubrik «Vieh» nur noch «Schweine<br />

(und Schweinefleisch)» angegeben; die Rubriken «Früchte in Scheune und Spei-<br />

cher» sowie «im Keller» blieben leer. Hingegen wurden <strong>für</strong> die beachtliche<br />

Summe von 2000 Franken «gemachte und in Arbeit befindende Tableaux & Gemälde»<br />

als Ware, mit denen Handel getrieben wird, versichert. 11<br />

Albert und Anna Anker wurden sechs Kinder geschenkt, wovon zwei, Rudolf<br />

(1867–1869) und Emil (1870 –1871), noch im Kindesalter starben. Die älteste<br />

Tochter Louise (1865 –1954) verliess nach ihrer Heirat mit Maximilian Oser 1884<br />

das elterliche Haus. Zwei Jahre nach Ankers endgültiger Rückkehr nach Ins verheiratete<br />

sich seine zweitälteste Tochter Marie (1872 –1950) mit dem Musikprofessor<br />

Albert Quinche. Der einzige Sohn Maurice (1874 –1931) zog frühzeitig<br />

von zu Hause los und suchte sein Glück im fernen Amerika. So leerte sich das<br />

Haus nach und nach. Die jüngste Tochter Cécile (1877–1956) blieb bis 1901 zu<br />

Hause. In einer Zeichnung von 1882 hielt Anker noch das idyllische Familienleben<br />

im Inser Salon fest. Seine Frau und drei der Kinder sitzen auf Louis-seize-<br />

Stühlen und -Sofa um einen runden Tisch, der hell von einer Petrollampe beleuchtet<br />

wird, 12 und die älteste Tochter spielt auf dem Klavier. Ankers Darstellungen<br />

seiner Familie legen Zeugnis ab von einem aufgeklärten bildungsbürgerlichen<br />

Milieu, wie es zur Zeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Idealvorstellungen<br />

entsprach.<br />

Im Jahr 1890 kehrte Anker, müde geworden, mit seiner Frau nach Ins zurück.<br />

Einem Freund schrieb er: «Meine Frau ist gegenwärtig in Neuenburg. Das<br />

Wagon mit unserer Zügleten ist von Paris angekommen, sie miethet ein Appartement<br />

in Neuenburg, theils um unsere Möbel zu placieren, theils um ein pied<br />

à terre zu haben, wenn wir nach Neuenburg gehen. Also sehen Sie, dass unser<br />

Leben sich dennoch compliziert, obschon wir nicht mehr in Paris wohnen, erst<br />

im Grab, im kühlen Grab findet man die Ruhe.» 13 Für die das städtische Leben<br />

gewohnte Anna Anker war der definitive Rückzug aus Paris ein wesentlicher Lebenseinschnitt.<br />

Schon nach ihrer Collègezeit in Neuenburg war sie als Kindermädchen<br />

nach Dänemark gereist und anschliessend als Gouvernante nach Russland<br />

gegangen. Am 6. Dezember 1864 heiratete sie Albert in der Kirche in Erlach.<br />

Der Anker-Kenner Robert Meister schreibt, Anna habe sich zuweilen sehr einsam<br />

gefühlt und ihren Mann gebeten, seine Auslandaufenthalte abzukürzen. 14<br />

Messerli: Haus 15


Albert Anker, Familienlektüre in Ins, schwarze Kreide<br />

und Kohle auf Papier, 1882. – Privatbesitz.<br />

Albert Anker, La chambre à la tante, November 1886,<br />

Aquarell en Grisaille. – Privatbesitz.<br />

16 BEZG N° 02/10


Die letzten zwei Jahrzehnte vor seinem Tod verbrachte der Maler mit seiner<br />

Frau in Ins und Neuenburg.<br />

Das Anker-Haus heute<br />

Seit der Erbauung des Hauses wurden nur wenige Veränderungen vorgenommen.<br />

Heute präsentiert sich das Anwesen folgendermassen:<br />

Unter dem Wohnhaus liegt der Keller mit seinem grossen Tonnengewölbe,<br />

in dem früher die Fässer mit dem selber gekelterten Wein gelagert wurden. Über<br />

dem Kellergeschoss befindet sich der zweistöckige Wohntrakt, darüber, im Dachgeschoss,<br />

das Atelier. Im Parterre, drei Fensterachsen breit, liegt auf der Südseite<br />

der Salon – der hellste Raum neben dem Atelier – mit einem Sitzofen aus<br />

dem Jahre 1884. Durch eine Verbindungstür gelangt man in die «Pharmacie»,<br />

das einstige Ordinationszimmer von Vater und Grossvater Anker. Sie ist über<br />

eine Fensterachse breit und wird durch den Salonofen erwärmt. Albert bezeichnete<br />

«dies gemütliche und warme Stübli» als den «confortablesten Ecken des<br />

Hau ses zum Schlafen», 15 und hier starb er. Ebenfalls auf der Südseite, über zwei<br />

Fensterachsen breit, liegt das «Chambre à la tante» mit einem Sitzofen von 1860,<br />

den Albert seinem Vater Samuel und seinem Grossvater Rudolf widmen liess.<br />

Dieser Raum wie auch das nördlich angrenzende, über zwei Fensterachsen<br />

breite Gästezimmer mit eingebautem Sandsteinofen waren wohl vor 1859 Teil<br />

der Stallungen und wurden später durch Ankers Vater zu zwei Zimmern umgebaut.<br />

16 Dazwischen lagen ursprünglich Speise- und Räucherkammer. Vis-à-vis,<br />

auf der Westseite des Korridors, der die Längsmittelachse bildet, liegt die lang gezogene<br />

Küche mit zwei Fenstern gegen Westen, durch die wenig Licht eindringt.<br />

Eine Fotografie aus der Zeit der Familie Anker zeigt ein Dienstmädchen in<br />

der Küche am Steintrog. Daneben steht noch ein Teil des gemauerten Herdes<br />

unter dem Rauchabzug. Später wurde der alte Herd durch ein gusseisernes Modell<br />

ersetzt. Angrenzend an die Küche, auf der Rückseite des Hauses, liegen das<br />

«Chambre des parents» und der «Salle à manger», die durch eine Schrankwand<br />

mit Mitteltür voneinander abgegrenzt sind. Rechts an den Wohnteil fügt sich<br />

der Ökonomietrakt. Dieser besteht aus dem Tenn mit grosser Heu- und Strohbühne.<br />

Daran schliessen sich Stallungen und Wagenremise an sowie der Ofenund<br />

Waschhaustrakt, den die Familie Brefin 1975 zu Wohnzwecken umbaute.<br />

Im Tenn sowie im Vorraum, die den Stallungen nördlich vorgelagert sind, steht<br />

noch einiges Mobiliar, das einstmals im und ums Haus Verwendung fand. Tennbühnen<br />

sowie Garten werden heute <strong>für</strong> kulturelle Veranstaltungen benutzt. Auf<br />

der Nordseite des Hauses liegt ein recht grosser, durch das tief hinuntergezo-<br />

Messerli: Haus 17


gene Dach geschützter Sitzplatz, an den ein Wiese angrenzt, welche Dora, die<br />

Enkeltochter des Malers, als «schönsten Spielplatz <strong>für</strong> Kinder» 17 bezeichnet<br />

hatte.<br />

Eine steile Holztreppe führt vom Korridor hinauf in den dunklen, niedrigen<br />

Bereich des «Gadens» mit Vorplatz und zu den beiden Schlafzimmern von Mau-<br />

rice und Cécile. Auf dem Vorplatz zu den «Gaden Wäsche und Haushaltgeräte»<br />

sowie in der Wäschekammer hat sich allerlei Mobiliar aus verschiedenen Epochen<br />

angesammelt.<br />

Das Atelier – die Werkstätte des Künstlers<br />

Das Atelier mit seiner vorwiegend aus der Schweiz und aus Frankreich stammenden<br />

stilpluralistischen Ausstattung ist in seiner Einheit einzigartig und ist<br />

exemplarisch <strong>für</strong> den Malbetrieb eines Genremalers mit akademischer Ausbildung<br />

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.<br />

Die meisten Gemälde Ankers entstanden in diesem Atelier, das er um 1890<br />

ostwärts erweiterte. Diese Vergrösserung war die Konsequenz seines Entschlusses,<br />

sich endgültig in Ins niederzulassen und Atelier sowie Wohnung in Paris<br />

aufzugeben. 18 Die rund 70m2 grosse Werkstatt des Künstlers liegt im Dachgeschoss.<br />

Im Zug der Raumerweiterung machte Anker sein Atelier heizbar. 19 In<br />

den mit hellgrau gestrichenem Riementäfer ausgeschlagenen Raum strömt<br />

durch zwei nördliche Einbaudachfenster helles, ruhiges, gleichmässiges Mallicht,<br />

das dem Künstler von morgens bis abends erlaubte, bei kaum sich verändernder<br />

Lichtintensität zu arbeiten. 20 In diesem Licht standen viele Inser Modell.<br />

Eines der anmutigsten Beispiele ist das Gemälde «Mädchen, die Haare<br />

flechtend», das 1887 entstand. 21 Die Requisiten, wie Tisch, Wäscheschale, Schrank<br />

und Spiegel, befinden sich heute noch im Haus. 22<br />

Im Winter musste Anker zeitweilig, trotz den beiden Öfen, seine «Boutique»<br />

verlassen. Er zog sich in die warmen unteren Stuben zur Lektüre zurück. 23 Die<br />

über 1000 Bücher fassende Bibliothek an der Südwand zeugt von der umfassenden<br />

humanistischen Bildung des Malers. 24<br />

Im Atelier blieb seit dem Tod Ankers vieles unverändert, dies bezeugen Fotografien<br />

aus den Jahren 1899, 1900 und 1907. 25 Hier führte der Maler an seinem<br />

Schreibschrank Tagebuch sowie sein «Livre de vente» (Verkaufsbüchlein) und<br />

schrieb unzählige Briefe an Verwandte und Freunde. Die Atelierwände sind<br />

reich bestückt mit akademischen Gipsabgüssen, Fotografien und Daguerreotypien<br />

von Freunden, mit Postkarten, Lithografien, Reproduktionen von Werken<br />

alter Meister, mit Nippes und Andenken. Ein Teil der Ateliersüdwand wird von<br />

18 BEZG N° 02/10


Albert Anker, mit altem Mann als Modell im Inser Atelier.<br />

– Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Albert Anker mit Mädchen als Modell im Inser Atelier,<br />

1907, 8,7x14 cm, Foto Morgenthaler-Lutz, Bern.<br />

– Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Messerli: Haus 19


Albert Anker, Mädchen die Haare flechtend, 1887, Öl auf Leinwand,<br />

70,5x54 cm, Kat. Nr. 378. – Stiftung <strong>für</strong> Kunst, Kultur und <strong>Geschichte</strong>,<br />

Winterthur.<br />

20 BEZG N° 02/10


einer grossen Louis-quatorze-Tapisserie geschmückt. Der Raum ist angefüllt<br />

mit Tischen und Stühlen <strong>für</strong> Gross und Klein, mit Schränken und einem Ruhebett,<br />

mit Farbschrank, einem Malutensilienpult mit Schubladenstock, Ablagetisch,<br />

Staffeleien sowie dem mächtigen Podest <strong>für</strong> Modelle. Die Raumeinrichtung<br />

ist typisch <strong>für</strong> ein Atelier der Gründerzeit. 26 Anker arbeitete vorwiegend in<br />

seinem Atelier und variierte mit Gegenständen seine Werke. Ab und zu zog er<br />

jedoch mit der Feldstaffelei hinaus, um Landschafts- und Innenraumstudien zu<br />

malen.<br />

Die Atelierausstattung sowie die zu Ankers Zeiten entstandenen Atelierfotos<br />

geben Aufschluss über Ankers Malbetrieb: Die wohl schönste Atelieraufnahme<br />

machte Gottlieb Wenger 1907, drei Jahre vor Ankers Tod. Sie zeigt den im Mallicht<br />

arbeitenden Künstler auf einem seiner niedrigen Stühle sitzend; neben ihm<br />

steht das Malutensilientischchen.<br />

Seit seinem Schlaganfall (1901) war Anker rechtsseitig gelähmt und musste<br />

sich von der Ölmalerei abwenden, da er den Pinsel <strong>für</strong> seine feine Maltechnik<br />

nicht mehr sicher genug führen konnte. Mit unermüdlicher Schaffenskraft schuf<br />

er in der Folgezeit gegen 600 Aquarelle. 27 Um eine angenehme Arbeitsposition<br />

einzunehmen, setzte sich Anker auf einen niederen Stuhl und malte, den Bildträger<br />

auf den Knien, mit aufgelegter Hand.<br />

Auf dem Atelierfoto von 1907 steht auf einem in den Bildraum gerückten<br />

Beistelltisch im hellen Nordlicht eine der Kaffeekannen, die auf zahlreichen seiner<br />

Früh- bis Spätwerke zu finden und daher vertraut und berühmt geworden<br />

sind. 28 Wiederkehrend ist auch der Barocklehnstuhl mit seinen Holzverletzungen,<br />

auf dem Anker viele seiner Modelle platzierte. Eine Gegenüberstellung von<br />

realem und abgebildetem Objekt zeugt – stellvertretend <strong>für</strong> andere oft gemalte<br />

und sich heute noch im Atelier befindende Gegenstände – davon, mit welch<br />

scharfer Beobachtungsgabe der Künstler einen Gegenstand wahrnahm und mit<br />

welch akribischer Detailtreue er ihn wiedergab. Es ist offensichtlich, dass viele<br />

Gegenstände Albert Anker zeitlebens begleiteten, dass der Künstler am Vertrauten<br />

hing und an diesem seine Sehgewohnheiten immer wieder schulte und be-<br />

stätigte. 29<br />

Über eine Aussentreppe an der Westseite erschloss der Künstler den Zugang<br />

ins Atelier. Nach Ankers Schlaganfall liess seine Frau Anna <strong>für</strong> ihren Mann bei<br />

der Treppe als Stützhilfe ein Seil anbringen. Es hängt heute noch dort und «bezeugt<br />

dem Besucher symbolisch den Beistand, den Albert Anker durch seine<br />

Frau erfahren hat». 30<br />

Messerli: Haus 21


Anker-Atelier in Ins, Raumansicht Nordwest, 1907, Foto Gottlieb Wenger,<br />

Oberdiessbach. – Fotoarchiv Kunstmuseum Bern.<br />

22 BEZG N° 02/10


Anmerkungen<br />

1 Eine Zusammenstellung der biographischen Angaben zu Albert Anker und dessen Familie findet<br />

sich in: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Messerli, Isabelle (Hrsg.): Albert Anker<br />

– Schöne Welt. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2010; siehe auch: Kuthy, Sandor;<br />

Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker 1831–1910. Werkkatalog der Gemälde und Ölstudien.<br />

Catalogue raisonné des oeuvres à l’huile (Hrsg. Kunstmuseum Bern). Basel 1995, 21f.<br />

2 In der Regel stand Anker um 5 Uhr auf, stieg alsbald zum Arbeiten ins Atelier hinauf und «on se<br />

couche avec les poules». Brief vom 26. Mai 1865 von Albert Anker an François Ehrmann. In:<br />

Quinche-Anker, Marie: Le peintre Albert Anker 1831–1910 d’après sa correspondance. Berne<br />

1924, 89.<br />

3 Siehe dazu Ten-Doesschate Chu, Petra: Eine nationale Ikone im internationalen Kontext. In: Frehner,<br />

Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann, Marc (Hrsg.): Albert Anker und Paris.<br />

Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2003, 61–73.<br />

4 Zitat aus: Moser, Andreas: Die Kunstdenkmäler des Kantons Bern, Landband II. Der Amtsbezirk<br />

Erlach. Der Amtsbezirk Nidau 1. Teil, hrsg. von der Gesellschaft <strong>für</strong> Schweizerische Kunstgeschichte<br />

GSK Bern. Basel 1998, 288.<br />

5 «Die Stiftung bezweckt, Albert Ankers Arbeits- und Wohnstätte im gegenwärtigen Zustand sowie<br />

noch vorhandene künstlerische Werke und persönliche Gegenstände in der Liegenschaft Müntschemiergasse<br />

7 in Ins als Kulturgut zu erhalten.» Stiftungsurkunde, Privatbesitz Familie Brefin,<br />

13. Juni 1994.<br />

6 Andreas Moser geht ausführlich auf das Dorf Ins und insbesondere auf den Bau des Albert Anker-Hauses<br />

ein. Siehe dazu: Moser (wie Anm. 4), 257f.<br />

7 Über die Vorfahren Albert Ankers und deren über hundertjährige tierärztliche Tradition, die mit<br />

dem Tode Matthias’ (1788–1863), Bruder des Vaters des Malers, ein Ende fand, siehe: R. Fankhauser,<br />

B. Hörning: Die Tierarztfamilie Anker von Ins. Aus dem Institut <strong>für</strong> vergleichende Neurologie<br />

der Universität Bern. In: Schweizer Archiv <strong>für</strong> Tierheilkunde, Heft 12, Bd. 127. Zürich 1985,<br />

747f.<br />

8 Die Nachricht über den Tod des Vaters teilte Albert am 25. Mai 1860 seiner Tante Anna Maria Anker<br />

mit. Siehe dazu: Meister, Robert: Albert Anker und seine Welt. Briefe, Dokumente, Bilder.<br />

Bern 2000 (4., erw. Aufl.), 46.<br />

9 Brief vom 25. Dezember 1853 aus Jena von Albert Anker an seinen Vater. In: Quinche (wie Anm.<br />

2), 22f.<br />

10 Brief vom 6. Oktober 1864 von Albert Anker, Biel, an Jungfer Anna Maria Anker, Ins. In: Quinche<br />

(wie Anm. 2), 87f.<br />

11 Schweizerische Mobiliar-Versicherungs-Gesellschaft, Voranschlag des versicherten Mobiliars und<br />

Versicherungsschein <strong>für</strong> Herrn Albert Anker, Kunstmaler wohnend in Ins, 6. September 1869.<br />

Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

12 Elektrisches Licht kam gemäss Matthias Brefin erst um 1910 ins Haus. Siehe dazu: Gugerli, David<br />

(Hrsg.): Allmächtige Zauberin unserer Zeit: zur <strong>Geschichte</strong> der elektrischen Energie in der<br />

Schweiz. Zürich 1994.<br />

13 Brief an Rudolf Durheim, 5. Juni 1890. Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

14 Siehe dazu: Meister, Robert: Aus dem Leben von Anna Anker-Rüefli (1835–1917). In: Bieler Tagblatt,<br />

Beilage, April 1989, 5.<br />

15 Brief vom 29. Oktober 1905 von Albert Anker an Julia Hürner. In: Meister (wie Anm. 8), 180.<br />

16 In einem Carnet vermerkte Albert Anker: «Unsere hinteren Stuben wurden erst von Vater fertig<br />

gebracht. Früher waren sie nicht bewohnt; man hatte da Holz und Grümpel aller Art.<br />

Anno 1827 wurden sie neu gemacht». Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Messerli: Haus 23


17 Brefin-Oser, Dora: Albert Anker als Grossvater. In: Leben und Glauben. Evangelisches Wochenblatt,<br />

Jg. 10, Heft 10, 3. August. Laupen bei Bern 1935, 27.<br />

18 Zur Ateliererweiterung siehe Moser (wie Anm. 4), 287.<br />

19 Moser (wie Anm. 4), 287.<br />

20 Die sich noch im Atelier befindenden Malutensilien wurden inventarisiert. Siehe dazu: Dettwiler,<br />

Isabelle: Inventaire de l‘atelier d‘Albert Anker. Mémoire, Schule <strong>für</strong> Gestaltung Bern, Fachklasse<br />

<strong>für</strong> Konservierung und Restaurierung HFG. Bern 1994 (unveröffentl. Manuskript).<br />

21 Siehe Abb. S. 20 in diesem Themenheft.<br />

22 Die Stiftung erstellte nach deren Gründung zahlreiche Inventare. Dabei wurden die sich heute<br />

noch im Anker-Haus befindenden realen Objekte jenen auf Ankers Werken gegenübergestellt:<br />

Messerli, Isabelle: Inventar Glas, Stiftung Albert Anker-Haus, 2002 (unveröffentl. Manuskript).<br />

Dies.: Inventar Keramik, Stiftung Albert Anker-Haus, 2001 (unveröffentl. Manuskript); Dies.:<br />

Inventar Spielsachen, Stiftung Albert Anker-Haus, 2007 (unveröffentl. Manuskript); Dies. Inventar<br />

Textil, Stiftung Albert Anker-Haus, 2009 (unveröffentlt. Manuskript). Siehe dazu eine frühe<br />

Analyse: Messerli, Isabelle: Albert Anker: sein Atelier – seine Requisiten – seine Modelle. In:<br />

Bhattacharya-Stettler, Therese (Hrsg.): Albert Anker. Catalogue, Exposition Fondation Pierre<br />

Gianadda, Martigny 2003–2004. Lausanne 2003, 65−73.<br />

23 Brief vom Januar 1903 von Albert Anker, Ins, an Ludwig Hürner. In: Meister (wie Anm. 8),163f.<br />

24 Siehe dazu den Beitrag von Gerrendina Gerber-Visser in diesem Themenheft.<br />

25 Siehe dazu: Kuthy/ Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), 32–33.<br />

26 Siehe dazu: Köhler, Bettina; Rucki, Isabelle: Atelierhäuser im 19. Jahrhundert. In: <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong><br />

Kunst und Architektur, 2002/2003, 11f.<br />

27 Zur Anzahl der Aquarelle siehe: Lüthy, Hans A.: Albert Anker. Aquarelle und Zeichnungen. Zürich<br />

1989, 57.<br />

28 Im Volksmund wird die Kaffeekanne oft als «Ankerkanne» bezeichnet.<br />

29 Siehe dazu z.B. Messerli (wie Anm. 22).<br />

30 Zitat aus: Meister (wie Anm. 8), 5. Siehe auch Brief vom 13. Oktober 1907 von Albert Anker an<br />

Alexandre Auguste Hirsch. In: Quinche (wie Anm. 2), 198.<br />

24 BEZG N° 02/10


Essen und Trinken bei Albert Anker<br />

François de Capitani<br />

Alle kennen die «Armensuppe» von Albert Anker. Idylle? Sozialkritik? Diese Ver-<br />

mutungen stossen meist ins Leere und häufig wird aus den Illustrationsarbeiten<br />

<strong>für</strong> die Gotthelf-Ausgabe auf den Maler geschlossen. Anker aber auf einen<br />

«gemalten Gotthelf» zu reduzieren greift zu kurz. 1 Wir möchten daher zuerst<br />

skizzieren, was wir von Albert Anker über seine kulinarischen Vorstellungen<br />

wissen, und dann versuchen, die Ess- und Trinkszenen in sein Werk einzuordnen.<br />

1. Vorlieben und Abneigungen<br />

Die Quellen, in denen sich Anker zu Fragen des Essens und Trinkens geäussert<br />

hat, sind unspektakulär. Anker liebte zwar gutes und währschaftes Essen, verlor<br />

aber nicht allzu viele Worte darüber. Die Briefe seiner frühen Pariser Zeit<br />

geben uns einige wenige Hinweise zu den gastronomischen Präferenzen des<br />

Malers. Offenbar konnte er ausgiebig mit seiner Wirtin über die Kochkunst reden:<br />

«Quand je rentre, le soir, elle demande des nouvelles de mon appétit, m’annonce<br />

le menu du dîner, nous partons sur le chapitre cuisine et passons en revue<br />

tous les plats du monde.» 2 1862 äussert er sich etwas ausführlicher über<br />

sei ne Vorlieben: «Mon goût se porterait sur le vin acide, les choses épicées, mais<br />

je suis sage, trop heureux qu’on me laisse manger en paix un raisonnable mor-<br />

ceau d’autre chose.» 3 Und: «La pension me convient assez. Pas de gros rôtis à<br />

l’instar des Anglais, roastbeef, beefsteaks saignants, nourriture d’anthropo-<br />

phages, mais un bon pot au feu, des légumes, du vin, du pain.» 4<br />

Auch aus späteren Briefen wissen wir, dass ihm eine gutbürgerliche einhei-<br />

mische Kost behagte. 1877 schreibt er, warum ihm ein Mann so sympathisch sei:<br />

«dass er nämlich nie etwas ass oder Kleider anzog, die nicht im Kanton Bern<br />

produziert worden wären; der war nicht von der neuen Schule, nun kann keiner<br />

mehr Landwein trinken, das muss Beaujolais, Waltliner etc. sein; mit dem<br />

Bier ist es noch lächerlicher, während in Burgdorf und Bern man perfektes Bier<br />

macht, muss es von München, Augsburg, Erlangen etc. kommen, es ist kommun,<br />

wenn ein Präsident oder Rathsherr inländisches Gewächs söffe.» 5 Speisekarten<br />

anlässlich eines Taufessens oder einer Hochzeit zeigen uns, dass er durchaus<br />

mit den opulenten Speisefolgen der französisch dominierten Gastronomie vertraut<br />

war. 6<br />

Komplexer scheint das Verhältnis Ankers zum Wein und zum Schnaps gewesen<br />

zu sein. Als Besitzer von Rebbergen war ihm der Wein vertraut, und Emanuel<br />

Friedli überliefert eine ganze Reihe von kraftvollen Urteilen des Malers<br />

Capitani: Essen 25


über den Wein: «Mi sött dää frässe! Oder: mi sött z’Mitternacht uufstoo, oder:<br />

Mi sött d’s Gält etlehnne, <strong>für</strong> vo däm (ausgezeichneten Jahrgang) z’suffe.» 7<br />

Friedli hat diese Sprüche erst nach dem Tode des Malers festhalten können, sie<br />

waren aber offenbar legendär.<br />

Es scheint, dass sich Anker in den 1890er-Jahren intensiv mit der Frage der<br />

Abstinenz auseinandergesetzt hat. Er verfolgte die Anliegen des Blauen Kreuzes,<br />

das in Bern von Arnold Bovet propagiert wurde. 1896 schreibt er: «Hier, il<br />

y eut une assemblée de tempérants à Muntschemir. M. Bovet y était, et comme<br />

il n’y a pas d’hôtellerie dans la localité, j’ai eu le plaisir de lui donner l’hospitalité<br />

après avoir entendu son sermon.» 8 In diesen Jahren konnte er sich offenbar<br />

gut vorstellen, abstinent zu leben, doch als Gutsbesitzer, Grossrat und angesehener<br />

Bürger war das wohl nicht möglich: «Wie gerne würde ich versprechen,<br />

keinen Wein, Schnaps oder Bier mehr zu trinken, wenn ich diese Kellerei aufgeben<br />

könnte. Aber das ist <strong>für</strong> einen hiesigen Hausbesitzer ausgeschlossen.» 9<br />

Briefe aus seinem letzten Lebensjahr zeigen aber ganz klar, dass er diese Gedanken<br />

wieder verworfen hat. Er schwärmt von einer Kiste Bordeaux und bedauert,<br />

dass sein Magen den Wein nicht mehr gut verträgt: «So bin ich denn<br />

faktisch in der Temperenz, während ich in der Theorie himmelweit davon entfernt<br />

bin. Die Temperenz scheint mir eine Aberration zu sein, es ist als verachte<br />

man eine der schönsten Gaben der Natur. Da sollte man dem Schöpfer eher danken<br />

<strong>für</strong> seine Freundlichkeit.» 10<br />

Ähnlich ambivalent sind auch die Aussagen Ankers über den Schnaps. Er<br />

kannte die «Schnapspest» aus eigener Anschauung und hat sich als Illustrator<br />

Gotthelfs intensiv damit beschäftigt. Ganz klar unterschied Anker den massvollen<br />

Gebrauch vom Missbrauch. Als er einem Kunden das Bild eines Schnapstrinkers<br />

zugesandt hatte, wurde er von Gewissensbissen geplagt: «Es sind mir Gewissensbisse<br />

gekommen, nachdem ich Ihnen die Sendung gemacht hatte, ich<br />

dachte: Herr Rieser [der Kunde] ist vielleicht in der Temperenz und hat vielleicht<br />

ein Grausen vor dem Schnaps, denn offenbar hat der Mann Schnaps auf<br />

dem Tisch. Hier muss ich etwas sagen zu Gunsten dieses Getränks: im allgemeinen<br />

trinken die Greise im Winter, hier in Ins, keinen Wein mehr, weil er ihnen<br />

schwer macht und Husten gibt, da nehmen sie ein Gläschen, das ihnen, wie sie<br />

sagen, leicht macht; unser Wein aber, neben seinen sonstigen schönen Eigenschaften,<br />

ist herb und sauer, wenn er nicht jährig ist. Sie wissen wohl, was der<br />

alte Arzt Lory in Münsingen sagte: diejenigen Männer, die am Morgen früh und<br />

am Abend spät ein Gläschen Kartoffelschnaps trinken, sind nicht umzubringen.<br />

Der Missbrauch brachte aber Misskredit.»<br />

26 BEZG N° 02/10


Flaschen mit selbstgemalten Etiketten von Albert Anker: «Urechs Trauben<br />

von Herrenschwanden distillé», «Absinthe», «Träber». – Stiftung Albert<br />

Anker-Haus Ins.<br />

Capitani: Essen 27


2. Genreszenen<br />

Bilder, die Menschen beim Essen und Trinken zeigen, stehen nicht im Mittel-<br />

punkt des Werkes Albert Ankers. Immerhin: ein Bauer beim Znüni, Kinder beim<br />

Frühstück oder Weinproben zeigen einige wenige Menschen bei einer Mahlzeit.<br />

Zwei Motive aber haben das besondere Interesse des Malers gefunden: die Ar-<br />

mensuppe und der Schnapstrinker. Zweimal hat Anker die Armensuppe gemalt:<br />

1859 und, fast 35 Jahre später, 1893. Offenbar war die Armensuppe zuerst der<br />

privaten wohltätigen Initiative einer Inser Einwohnerin zu verdanken gewesen,<br />

später übernahm die Gemeinde die Organisation. 11 Im Winter kamen so die<br />

Schulkinder und arme Einwohner des Dorfes zu einer warmen Mahlzeit. Das<br />

Bild von 1859 zeigt vielleicht die Armensuppe der Inser Philanthropin, jenes<br />

von 1893 ist zweifellos von jener durch die Gemeinde organisierte inspiriert,<br />

wie Anker im gleichen Jahr in einem Brief festhält: « Il [le tableau] représente<br />

une de ces soupes scolaires ou soupes des pauvres, comme nous en avons eu<br />

cet hiver et comme nous en ferons encore l’hiver prochain, car le résultat financier<br />

a été satisfaisant.» 12<br />

1869 malt er einen Trinker («pauvre homme»), der Legende nach ein durch<br />

den Alkohol ruinierter Mann aus guter Familie. 13 Die Bedrohung der Volksgesundheit,<br />

vor allem durch den Kartoffelschnaps, war eines der zentralen sozialpolitischen<br />

Themen des 19. Jahrhunderts, denn der Alkoholkonsum stieg während<br />

des ganzen Jahrhunderts unaufhaltsam. Erst nach 1885, als dem Bund das<br />

Monopol auf gebrannten Wassern aus Getreide und Kartoffeln übertragen<br />

wurde, sank der Schnapskonsum. Allerdings: noch bis um 1900 stieg der Alkoholkonsum;<br />

Wein, Kunstwein14 und Bier ersetzten teilweise den staatlich verteuerten<br />

Kartoffelschnaps. Das Thema des Säufers und der Säuferin wird in den<br />

Illustrationen zu Gotthelfs Werken wieder aufgenommen und erhält eine neue<br />

Aktualität im Jahr 1907, als eine Initiative das Verbot des Absinths fordert. 1905<br />

hatte ein Waadtländer Weinbauarbeiter im Vollrausch Frau und Kinder getötet.<br />

Da er nicht nur Wein und Schnaps, sondern auch Absinthe getrunken hatte,<br />

war klar, wo die Schuld lag. Das übel beleumdete Getränk der Bohème, der Intellektuellen<br />

und der Künstler war die Ursache der schrecklichen Tat und musste<br />

verboten werden. Eine unheilige Allianz von Alkoholgegnern, Weinproduzenten,<br />

Brauern und Herstellern von Obstbränden setzte in einer Volksabstimmung<br />

1908 das Verbot durch. Anker nutzte das Interesse an der ganzen Frage. Er<br />

schreibt 1908: «Es ist so viel von Absinthe die Rede, dass ich auch davon ein<br />

Aquarell machen will; ein alter Säufer betrachtet das Glas und sagt: Ce n’est par-<br />

28 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Die Armensuppe II, 1893, Öl auf Leinwand, 85 x137 cm.<br />

Kat. Nr. 481 [Ausschnitt]. – Staat Bern, Kunstmuseum Bern.<br />

Capitani: Essen 29


Albert Anker, Der Trinker, 1869, Öl auf Leinwand, 69 x52 cm. Kat. Nr. 130.<br />

– Kunstmuseum Bern.<br />

30 BEZG N° 02/10


leu pas la peine de faire tant de tapage pour une verte.» 15 Ankers Bild ist am-<br />

bivalent; der Absinthetrinker zeigt zwar alle Attribute des Lasters – Schnaps und<br />

Zigarre –, doch nicht die verzweifelte Resignation des «pauvre homme» von<br />

1869. Anker paraphrasiert das geflügelte Wort «tant de bruit pour une omelette»<br />

– ein bisschen Ironie schwingt mit.<br />

Das Bild war ein grosser Erfolg, und Bestellungen <strong>für</strong> neue Fassungen tra-<br />

fen ein, die Anker gerne erfüllte, wie ein Brief an Edouard Jacky zeigt: «Vous<br />

dites que vous voudriez en avoir une, de ces aquarelles; je ne demande pas<br />

mieux que d’accepter avec plaisir les commandes qu’on veut bien me faire […]» 16<br />

3. Die Stillleben<br />

Innerhalb des Werkes Albert Ankers nehmen die Stillleben einen besonderen<br />

Platz ein. Dass er Stillleben malte, lag im Trend der Zeit. Seit den 1860er-Jahren<br />

galt das Stillleben nicht mehr unbestritten als harmlose und in der Hierarchie<br />

der Darstellungen tief stehende Gattung der Malerei, eine Beschäftigung<br />

malender Frauen, die nicht ernst genommen werden mussten. Nun wurde diese<br />

Hierarchie lautstark in Frage gestellt; die Hochschätzung des Stilllebens war<br />

zwar Provokation, aber auch folgerichtiger Anspruch eines neuen Kunstbewusst-<br />

seins. 17<br />

Stillleben, besonders Blumenstücke, waren auch in der Schweiz ein etwas<br />

belächelter Genre von Malerinnen. Ankers Malerkollege und Freund Auguste<br />

Bachelin schrieb 1885 anlässlich der Landesausstellung in Zürich zu den ausgestellten<br />

Aquarellen: «Sur 51 exposants, nous y rencontrons 24 dames: nous le<br />

devinerions sans peine à la profusion de fleurs et de fruits qui en égaient les parois.<br />

Toute la flore des serres y a passé, on a mis à contribution les jardins et les<br />

près, les marais et la montagne, des eucalyptus et des mimosas aux orchis et<br />

aux perce-neige, sans oublier la rose éternellement belle.» 18 Anker wollte wohl<br />

nicht in diese Kategorie gezählt werden und suchte sich ein «männliches» Themenfeld.<br />

Bilder von Blumen oder Früchten blieben die seltene Ausnahme.<br />

Von Anker sind über 30 Stillleben überliefert und – hier stehen Kunsthistoriker<br />

und Historiker etwas perplex da – sie zeigen fast ausschliesslich gedeckte<br />

Tische, und zwar nicht Hauptmahlzeiten, sondern das Frühstück oder Zwischenmahlzeiten,<br />

Momente der Entspannung und Erholung, bei Kaffee, Tee, Bier oder<br />

Wein. Meist ist der Tisch nur <strong>für</strong> eine Person gedeckt, seltener <strong>für</strong> zwei. Es sind<br />

Bühnenbilder, bei denen der Betrachter selbst entscheiden kann, wer auftreten<br />

wird oder wer den Platz gerade verlassen hat. Ländliche und gutbürgerliche<br />

Capitani: Essen 31


Idyllen wechseln sich ab, einige verführen ins Wirtshaus, denn dort wird vor-<br />

zugsweise Bier, Absinthe oder Sauser – seit den 1870er-Jahren auch in Bern ein<br />

herbstliches Modegetränk – ausgeschenkt. Ein Sujet führt uns in die hohe Pariser<br />

Gastronomie: die Languste. In Bern waren solche Krustentiere zwar bekannt,<br />

aber selten. Immerhin: auf dem Titelblatt des biederen <strong>Berner</strong> Kochbuchs<br />

in der Auflage von 1907 prangt unübersehbar ein riesiges Krustentier als Symbol<br />

gastronomischer Raffinesse (es versteht sich von selbst, dass in diesem Kochbuch<br />

solche Tiere nicht vorkommen). 19 Dass der ernährungswissenschaftliche<br />

Diskurs seiner Zeit an Anker nicht ganz spurlos vorbeigegangen ist, zeigen zwei<br />

Bilder aus dem Jahre 1896: hier geht es nicht mehr um Arm und Reich, Stadt<br />

und Land, sondern um Mässigkeit und Unmässigkeit, wobei die Mässigkeit<br />

durchaus ein Glas gespritzten Rotweins zuliess. Anker war kein Eiferer und es<br />

ist das einzige Mal, dass im Titel eines Stilllebens eine moralische Wertung anklingt.<br />

Stillleben malte Anker seit 1866, doch in den 1890er-Jahren begegnen wir<br />

einer Häufung dieser Darstellungen – offenbar bestand eine rege Nachfrage.<br />

Die Stillleben Ankers geben Rätsel auf. Er hat nicht – wie z. B. Edouard Manet<br />

und andere Maler seiner Zeit – das Stillleben theoretisch erörtert und verteidigt,<br />

noch lassen sie sich als symbolträchtige Gleichnisse interpretieren. Etwas<br />

verzweifelt schreibt Arthur E. Imhof, der nach der Beschreibung von<br />

barocken Stillleben mit ihrer streng codierten Bildersprache sich Albert Anker<br />

zuwendet: «Was mich beim Betrachten von Ankers Gemälde ‹Bier und Rettich›<br />

so fesselt und seit Jahren nicht mehr loslässt, ist weniger, was ich dort sehe, als<br />

vielmehr, was ich nicht sehe. Weshalb ist das Bild so leblos? Warum ist es zu einem<br />

‹Stillleben›, zu ‹nature morte›, zu ‹toter Natur› erstarrt?» 20 Vor Ankers Stillleben<br />

muss die klassische Ikonographie kapitulieren. Die Zitrone auf dem Langusten-Stillleben<br />

ist kein Gleichnis der Fragwürdigkeit weltlicher Schönheit,<br />

sondern eine kulinarische Zutat.<br />

Einig sind sich die Kunsthistoriker, dass es sich um Zeugnisse einer hohen<br />

malerischen Virtuosität handelt. 21 Gut möglich, dass Anker in seinen ersten Stillleben<br />

unter Beweis stellen wollte, dass er in der neu aufgebrochenen Debatte<br />

um die Stellung dieser Gattung mithalten konnte. 22 Doch später scheint es doch<br />

auch die Nachfrage nach solchen Motiven gewesen zu sein, die ihn stimulierte.<br />

Hans A. Lüthy schreibt das wachsende Interesse an Stillleben in Paris dem Umstand<br />

zu, dass diese «Gleichnisse eines neuen Lebensgefühls, das von den Salonbesuchern<br />

verstanden wurde», seien. 23 Worin bestand dieses neue Lebensgefühl?<br />

Ein aufstrebendes Bürgertum suchte zwar die Konventionen seines<br />

32 BEZG N° 02/10


Standes zu wahren, kannte aber auch Freiräume, die gerade in der Kunst, der<br />

Literatur und der Musik genutzt werden konnten. Gerade die «bourgeoisie des<br />

talents», Ärzte, Juristen, Wissenschaftler und hohe Beamte fühlten sich nicht<br />

sklavisch an die Konventionen des Kunstgeschmacks – sei es im Stil oder in der<br />

Wahl der Motive – gebunden. Hier scheint Albert Anker seinen Markt gefunden<br />

zu haben. Die Häufung der Stillleben in den 1890er-Jahren würde gut in diesen<br />

gesellschaftlichen Trend passen, der sich auch in der Zusammensetzung der<br />

Mitglieder der bernischen Künstlergesellschaft widerspiegelt. 24<br />

Die Konventionen schrieben vor, welche Bildgattungen in den verschiedenen<br />

Räumen hängen sollten, Porträts im Salon, patriotisches oder historisches<br />

im Herrenzimmer und im Esszimmer schliesslich Bilder, «die eine Atmosphäre<br />

heiteren Genusses vermittelten». 25 Dazu gehörten neben Genrebildern eben auch<br />

Stillleben. Diesem Anspruch konnten die Stillleben Albert Ankers ausgezeichnet<br />

gerecht werden.<br />

Brot, Kartoffeln, Madeleines<br />

Wenden wir uns zum Schluss diesem «heiteren Genuss» zu. Was assoziierte ein<br />

Betrachter um 1900 mit den dargestellten kleinen Mahlzeiten? Schon nur weil<br />

Anker keine Hauptmahlzeiten gemalt hat, verbieten sich allgemeine Rückschlüsse<br />

auf damalige Lebensgewohnheiten. Doch vieles, das uns heute selbstverständlich<br />

erscheint, wurde vor hundert Jahren anders wahrgenommen.<br />

Am häufigsten dargestellt ist Brot, das in bäuerlichen Kreisen selbst gebacken<br />

wurde, allerdings nicht jeden Tag, sondern nur alle paar Wochen. Das Heizen<br />

des Ofenhauses benötigte viel Holz und lohnte sich nur, wenn man die Hitze<br />

optimal ausnutzte. Nur in den Städten und grösseren Marktflecken gab es Bäckereien,<br />

die täglich Brot buken und zum Verkauf feilboten. Brot findet sich sowohl<br />

in den ländlichen Szenen, wie auch als Beilage zu Wein, Absinthe oder<br />

Bier. Als ausgebildeter Theologe spielt Anker die symbolträchtige Darstellung<br />

von Wein und Brot herunter, Kastanien, Schinken oder Nüsse kommen hinzu.<br />

Ein einziges Bild26 zeigt Brot und Wein, allerdings handelt es sich dabei nicht<br />

um den üblichen grossen Brotlaib, sondern eher um ein Art Tessiner Brot oder<br />

Zopf, einem Gebäck ähnlich. Das zweite Grundnahrungsmittel, das Anker zeigt,<br />

ist die Kartoffel. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bildete sie – neben dem<br />

Brot – die Basis der Ernährung der ländlichen – und der ärmeren städtischen –<br />

Bevölkerung. 27 Bei Albert Anker stehen sie als Zeichen der bäuerlichen Lebenswelt;<br />

wer sich von den Bauern unterscheiden wollte, verzichtete wenn möglich<br />

auf Kartoffeln. 28<br />

Capitani: Essen 33


Albert Anker, Stillleben: Kaffee, Milch und Kartoffeln, 1897, Öl auf Leinwand,<br />

51x42 cm, Kat. Nr. 538. – Privatbesitz.<br />

Albert Anker, Stillleben: Tee und Gebäck, Öl auf Leinwand, 33,5 x52 cm.<br />

Kat. Nr. 444 [Ausschnitt]. – Privatbesitz.<br />

34 BEZG N° 02/10


Das Brot fehlt auf den Tischen, die eine reiche Kaffee- oder Teetafel zeigen.<br />

Hier ersetzt edles Gebäck das Brot. Besonders häufig dargestellt sind Schmelzbrötchen,<br />

die berühmten «Madeleines», die im Frankreich des «fin de siècle»<br />

Kultstatus erhalten hatten. Albert Anker hat zwar Marcel Proust, in dessen Werk<br />

die Madeleines eine Schlüsselrolle spielen, nicht lesen können – «Du côté de<br />

chez Swann» erschien erst 1913 – doch wusste er sicherlich um das Prestige,<br />

das mit diesem Backwerk verbunden wurde.<br />

Kaffee, Tee, Zucker<br />

Kaffee gehört seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu den unverzichtbaren<br />

Getränken aller Bevölkerungsschichten. Doch Kaffee war nicht Kaffee. Das übliche<br />

Frühstücksgetränk war Milchkaffee, mit wenig Kaffee und viel Milch. Dabei<br />

handelt es sich zu einem grossen Teil um Kaffeeersatz, aus Zichorien und<br />

anderen Wurzeln hergestellt – diese Surrogate waren bis siebenmal billiger als<br />

der Bohnenkaffee. 29 Noch bis zum Zweiten Weltkrieg wird vermutet, dass die<br />

Hälfte des Kaffeepulvers, das man verwendete, aus Ersatzstoffen bestand, heute<br />

sind die Surrogate praktisch vom Markt verschwunden. 30 Reiner Bohnenkaffee,<br />

mit genügend Kaffeepulver angemacht, war ein Privileg der Reichen. Haushaltungslehrbücher<br />

geben uns an, welche Menge <strong>für</strong> einen einfachen Milchkaffee<br />

benötigt wurde und welche <strong>für</strong> einen exklusiven schwarzen Kaffee. Für einen<br />

schwarzen Kaffee rechnete man bis zu fünfmal mehr Kaffeepulver als <strong>für</strong> einen<br />

einfachen Milchkaffee. 31 Ankers Betrachter um 1900 wussten um diesen Unterschied.<br />

Tee war in der Schweiz des 19. Jahrhunderts nie ein allgemein verbreitetes<br />

Getränk – im Gegensatz zu den nordischen Ländern. Es blieb ein aristokratisches<br />

und grossbürgerliches Getränk, das am Nachmittag – anlässlich der Teevisiten<br />

– getrunken wurde. Am Preis konnte es nicht liegen, Kaffee war nicht<br />

billiger, doch der Tee hat sich als Alltagsgetränk lange nicht einbürgern wollen.<br />

Die Teeszenen Ankers zeigen uns denn auch die grossbürgerliche Behaglichkeit,<br />

32 mit Tee, Gebäck und, analog zu den Darstellungen eines reichen Kaffees,<br />

Cognac – die prestigeträchtige Spirituose, der Gegenpol zum Kartoffelschnaps<br />

der Armen. Dabei konnte es sich durchaus um ein einheimisches Produkt handeln,<br />

der Name Cognac war noch nicht geschützt und wurde allgemein <strong>für</strong> den<br />

Weinbrand verwendet.<br />

Zur reich gedeckten Tafel gehört auch der weisse Zucker, der auf dem Tisch<br />

der Armen fehlt. Zucker war zwar um 1900 kein exklusives Produkt mehr, aber<br />

immerhin ein Kostenfaktor. Es scheint, dass der Zucker auf dem Land eher als<br />

Capitani: Essen 35


Luxus wahrgenommen wurde als in der Stadt. Um 1912 schätzt man den Zucker-<br />

konsum einer städtischen Arbeiterfamilie bereits auf über ein Kilogramm pro<br />

Woche. 33 Noch handelte es sich überwiegend um Rohrzucker aus Übersee, doch<br />

langsam gewann die einheimische Produktion von Rübenzucker an Bedeutung.<br />

Die 1898 gegründete Zuckerfabrik Aarberg hatte bis nach dem Ersten Weltkrieg<br />

Mühe, genügend Bauern im Seeland <strong>für</strong> den Anbau von Zuckerrüben zu gewin-<br />

nen.<br />

Wein und Bier<br />

Wein war in Weinbaugebieten ein gängiges Tafelgetränk und Ins kannte damals<br />

noch den Weinbau. Auch Albert Anker besass Reben. Aber der Schweizer Weinbau<br />

machte im ausgehenden 19. Jahrhundert seine grösste Krise durch. Rebkrankheiten,<br />

aber auch der massive Import von fremden Weinen und die bis<br />

1912 erlaubte Herstellung von Kunstwein liessen die Rebflächen kontinuierlich<br />

sinken. 34 Wein wurde nun zum Getränk <strong>für</strong> spezielle Gelegenheiten. Ankers verstaubte<br />

alte Flaschen lassen uns erahnen, dass es sich hier um Kostbarkeiten<br />

handelte. Parallel zur Krise im Weinbau setzte sich ein anderes Getränk im Alltag<br />

durch: das Bier. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts war es ein Nischenprodukt,<br />

im Sommer kaum haltbar und deshalb in den Monaten mit dem grössten<br />

Bedarf an Durstlöschern nicht immer verfügbar. Bierbrauen wurde im<br />

letzten Drittel des Jahrhunderts von einem Kleingewerbe zu einer Grossindustrie.<br />

Die neue Kältetechnik erlaubte die Produktion zu allen Jahreszeiten und<br />

ein effizientes Vertriebssystem garantierte die landesweite Versorgung. 35 Bier<br />

wurde – wie auch der Sauser, dem Anker einige Stillleben gewidmet hat – fast<br />

ausschliesslich in den Gaststätten ausgeschenkt; Flaschenbier war die Ausnahme.<br />

Es handelt sich also bei diesen Bildern mit grosser Sicherheit um Wirtshausidyllen.<br />

Noch immer verstehen wir heute den «heiteren Genuss», den uns Albert Anker<br />

vor Augen führt, doch hat sich der Horizont unserer Assoziationen verschoben.<br />

Der Kaffee wurde zum Espresso und das Bier ist nicht mehr das Getränk<br />

einer neuen Zeit.<br />

36 BEZG N° 02/10


Anmerkungen<br />

1 Siehe dazu auch den Beitrag von Christian von Zimmermann in diesem Themenheft.<br />

2 Quinche-Anker, Marie: Le peintre Albert Anker 1831–1910 d’après sa correspondance. Berne<br />

1924, 59.<br />

3 Quinche (wie Anm. 2), 74.<br />

4 Quinche (wie Anm. 2), 84.<br />

5 Zbinden, Hans: Albert Anker in neuer Sicht. Bern 1961, 45.<br />

6 Meister, Robert: Albert Anker und seine Welt. Bern 2000, 73; Kaltenbach, Marianne: Seeländer<br />

Küche. Bern 2004, 57.<br />

7 Friedli, Emanuel: Twann. Bärndütsch als Spiegel bernischen Volkstums, Bd. 5. Bern 1922, 464.<br />

8 Quinche (wie Anm. 2), 167.<br />

9 Meister (wie Anm. 6), 147.<br />

10 Zbinden (wie Anm. 5), 81.<br />

11 Meister (wie Anm. 6), 130.<br />

12 Zbinden (wie Anm. 5), 52.<br />

13 Meister (wie Anm. 6), 60.<br />

14 Als Kunstweine wurden Weine bezeichnet, die aus importierten Trockenbeeren oder aus Trester<br />

mit Zugabe von Zucker, Wasser, Aromastoffen und Färbemitteln hergestellt wurden. Erst 1912<br />

wurde ihre Herstellung in der Schweiz verboten.<br />

15 Meister (wie Anm. 6), 183.<br />

16 Zbinden (wie Anm. 5), 78.<br />

17 Zur kunsthistorischen Einordnung: Bhattacharya-Stettler, Therese: «I wish I was a tea kettle».<br />

Zur Stilllebenmalerei von Albert Anker. In: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese;<br />

Fehlmann, Marc (Hrsg.): Albert Anker und Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Kunstmuseum<br />

Bern 2003, 137–175.<br />

18 Bachelin, Auguste: Rapport sur le groupe 37. Art contemporain. Beaux arts. Zurich 1884, 43.<br />

19 Rytz, L[isette]: <strong>Berner</strong> Kochbuch. Bern 1907 (17. Auflage).<br />

20 Imhof, Arthur E.: Im Bildersaal der <strong>Geschichte</strong> oder Ein Historiker schaut Bilder an.<br />

München 1991, 184.<br />

21 Bhattacharya-Stettler (wie Anm.17), 140; Sandor Kuthy, zit. bei Imhof (wie Anm. 20), 185.<br />

22 Therese Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 17), 140 spricht von den Stillleben als dem Prüfstein<br />

(pierre de touche) des malerischen Könnens und dass es keine Auftragsarbeiten waren.<br />

23 Lüthy, Hans A.: Albert Anker. Aquarelle und Zeichnungen. Zürich 1989, 21.<br />

24 Tanner, Albert: Arbeitsame Patrioten, wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit<br />

in der Schweiz, 1830–1914. Zürich 1995, 279–281.<br />

25 Benker, Gertrud: Bürgerliches Wohnen, München 1984, 63.<br />

26 Kuthy, Sandor, Therese Bhattacharya-Stettler: Albert Anker. Werkkatalog der Gemälde<br />

und Ölstudien. Basel 1995, 526.<br />

27 Heinzmann, Johann Georg: Beschreibung der Stadt und Republik Bern. Bd. 2. Bern 1796, 121.<br />

Riedhauser, Hans: Essen und Trinken bei Jeremias Gotthelf. Bern 1985, 115ff.<br />

28 Riedhauser (wie Anm. 27), 119.<br />

Capitani: Essen 37


29 Als Beispiel 1891 in Bern: Weibel, O.: Konsumgenossenschaft Bern 1890–1915. Denkschrift zur<br />

Feier des 25-jährigen Bestehens. Bern 1916, 164: Kaffee kostete Fr. 2.60 bis 2.70, Zichorie<br />

nur 40 Rp. das Kilo.<br />

30 Rossfeld, Roman: Zur <strong>Geschichte</strong> der schweizerischen Zichorien- und Kaffeesurrogat-Industrie im<br />

19. und 20. Jahrhundert. In: Rossfeld, Roman (Hrsg.): Genuss und Nüchternheit. <strong>Geschichte</strong> des<br />

Kaffees in der Schweiz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Baden 2002, 248.<br />

31 Z.B. Müller, Susanna: Das fleissige Hausmütterchen. Zürich 1884, 349; Corodi-Stahl, Emma:<br />

Gritli in der Küche. Zürich 1905 (2. Aufl.), 127.<br />

32 Ebert-Schifferer, Sybille: Die <strong>Geschichte</strong> des Stilllebens. München 1998, 199. Die Autorin umschreibt<br />

ein Stillleben Ankers mit folgenden Worten: «das die Wärme bürgerlicher Behaglichkeit<br />

nach einem guten Essen ausstrahlt».<br />

33 Riedhauser (wie Anm. 27), 172; Die Lebenshaltung schweizerischer Arbeiter und Angestellter<br />

vor dem Krieg. Ergebnisse der Haushaltsstatistik des Schweizerischen Arbeitersekretariats.<br />

Olten 1922, 190.<br />

34 Schlegel, Walter: Der Weinbau in der Schweiz. Wiesbaden 1973.<br />

35 Schibler, Peter: Aus der <strong>Geschichte</strong> des Braugewerbes im Kanton Bern. Bern 1983.<br />

38 BEZG N° 02/10


Wie es war und nie gewesen ist<br />

Ankers Schule von innen und aussen<br />

Katharina Kellerhals<br />

Bilder haben die Vorstellungen von Schulwirklichkeit im 19. Jahrhundert we-<br />

sentlich geprägt, allen voran die «Dorfschule von 1848» Albert Ankers. Diese<br />

Darstellung ist 1895/96 als Auftragsarbeit zur Illustration von Jeremias Gott-<br />

helfs Leiden und Freuden eines Schulmeisters – ursprünglich erschienen 1838/39<br />

– entstanden. 1 Als Vorlage – der Bildaufbau legt dies nahe – hat Anker offensicht-<br />

lich seine «Dorfschule im Schwarzwald» verwendet, mit welcher er 1858 an die<br />

Öffentlichkeit getreten war. Dieser Auftrag <strong>für</strong> die Bebilderung der Gotthelf-Aus-<br />

gabe, obwohl widerwillig ausgeführt, hat den Maler wiederholt zu Studienreisen<br />

ins Emmental geführt.<br />

Die «Dorfschule von 1848» zeigt, wie komplex Bildinterpretation sein kann.<br />

Mit Hilfe zeitgenössischer schriftlicher Quellen zur Schulgeschichte des Kantons<br />

Bern kann eine genauere Interpretationsleistung versucht werden. So wie<br />

sich realistische und idealisierende Elemente in einem «Mischverhältnis über<br />

Ankers Leinwände» legen, werden auch in schriftlichen Zeugnissen Tatbestände<br />

überlagert von Ideologisierungen und Anachronismen. 2 Ziel ist es, sich mit einzelnen<br />

Fragmenten unterschiedlicher Quellen einer vergangenen Realität weiter<br />

anzunähern. Ich werde mich im Folgenden mit einer Innen- und einer Aussensicht<br />

Ankers zur <strong>Berner</strong> Schule des 19. Jahrhunderts auseinandersetzen und<br />

diese mit schriftlichen Quellen über die Volksschule des 19. Jahrhunderts konfrontieren;<br />

anschliessend werde ich diese Ergebnisse mit Kontextdaten aus Ankers<br />

Korrespondenz ergänzen. 3<br />

Zur «Dorfschule von 1848» gibt es kaum interpretativen Kommentar. In einem<br />

überfüllten Schulzimmer kommuniziert ein Lehrer intensiv mit den Buben,<br />

während die Mädchen nur mitbeschult werden und eine untergeordnete<br />

Rolle spielen. Trotz Überfüllung herrscht eine gewisse Ordnung im Schulzimmer:<br />

Der mit Stock ausgerüstete Lehrer steht frontal vor den Schultischen und<br />

versucht die Aufmerksamkeit der widerspenstigen, am Unterricht wenig interessierten<br />

Buben zu gewinnen, während die Mädchen sich selbstständig und interessiert<br />

dem dargebotenen Stoff widmen. Die Mädchen bilden optisch den<br />

Rahmen der Schulszene, ein Korb mit Strickzeug steht unübersehbar in der<br />

vorderen Bildmitte.<br />

Was zeigt die «Dorfschule von 1848» wirklich? Zeigt sie die Realität zu Gotthelfs<br />

Zeit bis 1838 (Illustrationsauftrag) oder die Realität zur Zeit der Bundesgründung<br />

(Titel des Bildes)? Zeigt sie die Realität aus der Zeit des Vorgängerbildes<br />

um 1858? Oder diejenige der eigentlichen Entstehungszeit des Bildes um<br />

Kellerhals: Schule 39


1895/96? Ausserdem: Wird hier dargestellt, wie es war, wie es gesehen wurde<br />

oder wie es hätte sein sollen?<br />

Schiefertafeln, hergestellt in den Schieferwerken von Frutigen, – wurden seit<br />

den 1830er-Jahren in <strong>Berner</strong> Schulstuben eingesetzt. An der Wand hängt mit<br />

grosser Wahrscheinlichkeit die Schulordnung, welche auf regierungsrätliche<br />

Anweisung ab1862 «in jedem Schulzimmer anzuschlagen» war. 4<br />

Die Buben sind an mehrplätzigen Schultischen zusammengepfercht, was<br />

sich auf die Aufrechterhaltung der Disziplin sichtlich störend auswirkt, während<br />

die Mädchen ohne Schreibtisch auskommen müssen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

waren Schultische mit geneigter Schreibplatte und lehnenlosen, mehrplätzigen<br />

Bänken in Gebrauch. Man unterschied zwischen Lese- und Schreibschülern;<br />

Sitzbänke <strong>für</strong> Leseschüler standen in der Regel seitlich des Schulzimmers.<br />

Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht – in Bern ab 1835 – wurde<br />

über schulhygienische Massnahmen diskutiert und in der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts begannen sich Pädagogen und Mediziner mit gesundheitsschädigenden<br />

Auswirkungen der Sitzgelegenheiten in Schulstuben zu befassen. 5<br />

In der Folge wurden im Kanton Bern <strong>Berner</strong> Schultische propagiert, denen ursprünglich<br />

ein nordamerikanisches Modell, welches an der Weltausstellung von<br />

Wien 1873 vorgestellt worden war, zu Grunde lag. Die <strong>Berner</strong> Schultische wurden<br />

in Signau hergestellt. 6 Neu war die fixe Verbindung von Schultisch und<br />

Bank. Auf dem ersten Schulbild Ankers von 1858, «Dorfschule im Schwarzwald»,<br />

erkennen wir ein Schulbankmodell dieser Art. Ankers Darstellung der<br />

Schulbänke in der «Dorfschule von 1848» verweist dagegen auf die erste Hälfte<br />

des 19. Jahrhunderts, Gotthelfs Zeit; solche Bänke dürften aber in ärmeren Gemeinden<br />

noch lange in Gebrauch gewesen sein.<br />

Die abgebildeten Küferuntensilien thematisieren den Nebenverdienst des<br />

Lehrers, eher zwar eine regionale Tätigkeit eines Weinbaugebietes wie des Seelandes<br />

als ein Emmentaler Handwerk. Ankers Hinweis galt aber primär der<br />

schlechten Bezahlung der Lehrkräfte. 7 Mit dem Primarschulgesetz von 1870,<br />

als die Löhne <strong>für</strong> das Lehrpersonal erheblich erhöht wurden, war die «Betreibung<br />

eines der Schule nachtheiligen Nebenberufs […] dem Lehrer untersagt»,<br />

wurde aber in ärmeren Gemeinden weiter toleriert. 8<br />

Theoretisch lässt sich die Geschlechterfrage – Knaben und Mädchen werden<br />

unterschiedlich beschult – am eindeutigsten kommentieren: Mit dem ersten<br />

Primarschulgesetz 1835 wurde die liberal-revolutionäre Idee einer gleichen<br />

Ausbildung <strong>für</strong> Knaben und Mädchen explizit verordnet. Im ganzen Kanton<br />

musste geschlechtergemischt unterrichtet werden. Trotz hartnäckigem Wider-<br />

40 BEZG N° 02/10


Albert Anker, «Dorfschule von 1848», 1895/96, Öl auf Leinwand, 104x175,5 cm,<br />

Kat. Nr. 503. – Depositum Öffentliche Kunstsammlung Basel.<br />

Reproduktion mit der freundlichen Genehmigung der Novartis AG, Basel<br />

Kellerhals: Schule 41


stand seitens der Bevölkerung gelangte Handarbeiten – bisher vormals als sozial-<br />

pädagogische Massnahme genutzt und als Handwerk von beiden Geschlechtern<br />

praktiziert – 1864 als «weibliches Fach» in den Fächerkanon. Mit dem Handar-<br />

beitsunterricht wurde erstmals ein geschlechterdifferenzierendes schulisches<br />

Programm verordnet, bürgerliche Tugenden wie «Reinlichkeit, Ordnung, Fleiss<br />

und Sparsamkeit» konnten ihre disziplinierende Wirkung entfalten. 9<br />

Zusammenfassend lässt sich <strong>für</strong> die «Dorfschule von 1848» feststellen, dass<br />

es weder eine Einheit von Zeit noch von Ort gibt. Anker hat mit «volkskundlicher<br />

Genauigkeit» 10 die Bildinhalte, die mehrheitlich auf die zweite Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts datiert werden können, grosszügig zu einem nicht einheitlichen<br />

Ganzen zusammengestellt und verzichtet auf eine chronologische, dokumentarische<br />

Exaktheit.<br />

Eine Aussenansicht der Volksschule im Kanton Bern zeigt Anker mit dem<br />

Bild «Turnstunde in Ins» (1879), erstmals 1880 ausgestellt. Die Ansichten über<br />

den künstlerischen Wert dieser Darstellung sind geteilt. 11 Der Unterricht findet<br />

auf einem erhöhten Turnplatz vor dem kubischen Schulhaus in Ins statt, das<br />

die Gemeinde 1868 bauen liess. Schulhäuser dieser Art – mit Walmdach, Dachreiter<br />

und spätklassizistischem Dekor – waren im Seeland und Jura verbreitet. 12<br />

Vor der lichten Fläche des Schulhauses, auf ebenso leuchtendem Turnplatz,<br />

kommandiert ein Lehrer – in Anzug und Hut – vor einer zwanzigköpfigen Bubenklasse.<br />

Die Schar ist – wie in Johann Niggelers Turnschule13 empfohlen – in<br />

«Frontstellung» in zwei «Reihenkörpern» aufgereiht. Während die hintere Reihe<br />

– «Fussspitzen ein wenig auswärtsgedreht» – Pause hat, übt die vordere Reihe<br />

«das Taktgehen»; wohl auf das Kommando «Marsch!» gehen die Buben mit<br />

«dem rechten Fuss» zuerst die angekündigte Schrittzahl vor und zurück. Ungefähr<br />

ebenso viele Dorfmädchen unterschiedlichen Alters rahmen beobachtend<br />

das Geschehen. Zwischen Turnplatz und Schulhaus sind Turngeräte wie Kletterstangen<br />

(Reihenklettergerüst von Turnvater Spiess weiterentwickelt), Reck<br />

(Holzsäulen und eiserne Querstange erfunden von Turnvater Jahn) und Schwebebalken<br />

(übernommen aus der schwedischen Gymnastik) verankert. 14 Zwei<br />

Bauern – vom Grasen zurückkehrend – kommentieren von der vorderen Bildmitte<br />

die Szene. Diskutiert wird möglicherweise der erbärmliche Gesundheitszustand<br />

der <strong>Berner</strong> Jugend, welche die 1875 erstmals auf Bundesebene durchgeführten<br />

Rekrutenprüfungen15 sichtbar gemacht hatten. Auch in Anbetracht<br />

der unsicheren europäischen Lage, verursacht durch den Deutsch-Französischen<br />

Krieg, fand das Fach Turnen dank unermüdlichem Einsatz von Turninspektor<br />

und Seminarlehrer Niggeler offenbar auch im Seeland Verbreitung. Der<br />

42 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Dorfschule im Schwarzwald, 1858, Öl auf Leinwand, 105 x171 cm,<br />

Kat. Nr. 30. – Gottfried-Keller-Stiftung, Kunstmuseum Bern.<br />

Albert Anker, Turnstunde in Ins, 1879, Öl auf Leinwand, 96 x147,5 cm,<br />

Kat. Nr. 260. – Privatbesitz.<br />

Kellerhals: Schule 43


44 BEZG N° 02/10


Kellerhals: Schule 45


Boden, auf dem das Turnen – als Disziplin der Vermittlung zwischen «Geist und<br />

Körper» – als «fruchtbarer Baum heranwachsen» sollte, war <strong>für</strong> Niggeler die<br />

Schule. Er empfahl Frei- und Ordnungsübungen im obengenannten Sinne <strong>für</strong><br />

beide Geschlechter. Es galt, den Turnplatz als eine «Stätte, wo neben strengem<br />

Gehorsam und fester Ordnung gleichwohl ein munteres Bewegen stattfinden<br />

kann, angenehm und lieb» zu machen. 16 Geräteturnen war erst <strong>für</strong> die Sekundarschule<br />

vorgesehen. Nachdem Ins in den Jahren 1894/95 über eine erweiterte<br />

Oberschule verfügte, wurde ab 1896 eine Sekundarschule eingerichtet. Die vorhandenen<br />

Gerätschaften könnten somit als eine fortschrittliche Umsetzung der<br />

erziehungsdirektorialen Vorgaben der Schulgemeinde Ins interpretiert werden,<br />

denn bis Ende des 19. Jahrhunderts verfügten viele, vor allem ländliche Gemeinden<br />

weder über Turnplatz noch Turnhalle.<br />

Das Fach Turnen konnte über militärische Behörden legitimiert, befördert<br />

und subventioniert werden. Obwohl Turnen <strong>für</strong> beide Geschlechter seit Beginn<br />

des 19. Jahrhunderts unter gesundheitlichen Gesichtspunkten unumstritten war,<br />

im ersten Primarschulgesetz <strong>für</strong> beide Geschlechter vorgeschlagen worden war<br />

und an vielen Schulen auch <strong>für</strong> Mädchen zusammen mit oder neben den Knaben<br />

durchgeführt wurde, beschloss der Grosse Rat 1870, Turnen vorerst aus finanziellen<br />

Überlegungen nur <strong>für</strong> die Knaben einzuführen, denn man war sich<br />

im Klaren, dass neben der kürzlich erfolgten, umstrittenen Einführung des Faches<br />

Handarbeiten in der Bevölkerung wenig Verständnis <strong>für</strong> ein weiteres neues<br />

Fach <strong>für</strong> die Mädchen übrig bleiben würde. Da Turnen nun nur <strong>für</strong> Knaben und<br />

Handarbeiten nur <strong>für</strong> Mädchen angeboten wurde, ergab sich eine finanziell und<br />

raumtechnisch günstige Kombination, was von vielen Gemeinden eifrig benutzt<br />

wurde: Während die Buben turnten, waren die Mädchen in der Regel – anders<br />

als Anker dies in der Turnstunde darstellt – im Schulzimmer mit weiblichen<br />

Handarbeiten beschäftigt. Da die Mädchen wöchentlich mit 3 bis 6 Stunden<br />

Hand arbeiten beschäftigt waren, wurden sie von andern Fächern entlastet; sie<br />

absolvierten in der Folge aber trotz Zusatzunterricht in weiblichen Arbeiten und<br />

weniger Unterricht in Rechnen und Sprache erfolgreich und leistungsbereit den<br />

obligatorischen Primarschulunterricht. 17<br />

Während Anker in der «Dorfschule von 1848» auf eine dokumentarische Genauigkeit<br />

verzichtet, zeigt er in der «Turnstunde» den Zeitpunkt, wo Turnen –<br />

1870 als obligatorisches Schulfach <strong>für</strong> Knaben im Schulgesetz verankert – also<br />

tatsächlich eine zunehmend militärische Ausrichtung erhalten hat. Thematisierte<br />

Anker mit den präparierten Baumstämmen, die vor der Stützmauer aus<br />

Seeländerkalk lagern, einen weiteren Fortschritt seiner Zeit? Möglicherweise<br />

46 BEZG N° 02/10


hat er Telegrafenstangen dargestellt, welche zur Konstruktion der Telegrafenlei-<br />

tung – wie sie auch durch Ins führte – bereit gelegt wurden?<br />

Albert Anker war – als er die beiden Schulbilder malte – als Mitglied der<br />

Schulkommission und zeitweise deren Sekretär (1893 – 1899) sowie als Kirchge-<br />

meinderat in Ins und Mitglied des Grossen Rates des Kantons Bern (1870 – 1874)<br />

bestens vertraut mit schulischen Belangen. Als Familienvater einer sechsköpfigen<br />

Familie war er aber auch auf Auftraggeber angewiesen und malte das, was<br />

die damalige Bildungselite als ihre Errungenschaften dargestellt haben wollte:<br />

So sitzen in der «Dorfschule von 1848» saubere, wohl gekleidete Kinder18 – wie<br />

sie vermutlich selbst am Examenstag nicht anzutreffen waren – in den Schulbänken<br />

und zeugen von den Verdiensten der Regierung um das öffentliche Schulwesen.<br />

19 In unzähligen Bildern mit strickenden Mädchen und jungen Frauen<br />

dokumentierte Anker – auch seine Frau engagierte sich als Präsidentin des Frauencomités<br />

im schulischen Bereich – auch auf vielseitigen Wunsch seiner Auftraggeber,<br />

welcher Stellenwert dieser weiblichen Tätigkeit in der zweiten Hälfte<br />

des 19. Jahrhunderts eingeräumt wurde. Als Vertreter des Bürgertums hiess Anker<br />

die Entwicklung zur arbeitsteiligen Gesellschaft mit Beförderung eines weiblichen<br />

Arbeitsbereiches gut und formulierte auch brieflich prägnant, dass man<br />

«besonders die Mädchen mit diesen vermaledeiten Schulen» verderbe; er ärger te<br />

sich auch über das rigorose Absenzensystem, welches den Mädchen nicht mehr<br />

erlaube, ihm Modell zu sitzen, weil sie in der Schule nicht fehlen durften. 20 Aber<br />

aus einem Schulkommissionsprotokoll ist uns auch seine Betroffenheit darü-<br />

ber überliefert, dass der körperlichen Bildung der Inser Mädchen wenig Beach-<br />

tung geschenkt wurde: Er hielt explizit fest, dass am Turnfest 1896 die benachbarten<br />

Erlacher Mädchen «gymnastische Uebungen mit Reigen und mit Stab»<br />

aufgeführt hätten, und beschrieb, wie die Inser Mädchen bedauerten, dass sie<br />

sich «am Fest nicht beteiligen konnten». 21 Ob der Maler den militärischen Drill,<br />

dem die zur gleichen Grösse zurechtgestutzte Bubenschar unterworfen wird,<br />

gutgeheissen hat, kann allerdings nicht schlüssig beantwortet werden.<br />

Die Bildquellen Ankers sind schillernde Beispiele da<strong>für</strong>, wie sich ein aktiver<br />

Zeitzeuge mit der sich formierenden Volksschule, der Modernisierung, die in<br />

alle Lebensbereiche eindrang, auseinandergesetzt, aus dieser jahrzehntelangen<br />

Entwicklung ihm wichtig scheinende Aspekte wertend ausgewählt und im einzelnen<br />

Bild verdichtet hat.<br />

Kellerhals: Schule 47


Albert Anker, Das Schulexamen, 1862, Öl auf Leinwand, 103 x175 cm,<br />

Kat. Nr. 61 [Ausschnitt]. – Staat Bern, Kunstmuseum Bern.<br />

48 BEZG N° 02/10


Anmerkungen<br />

1 Auftraggeber <strong>für</strong> die Illustration zu ausgewählten Werken von Gotthelf, einer «Gotthelf-<br />

Prachtausgabe», war der Neuenburger Verleger Frédéric Zahn in La Chaux-de-Fonds. Siehe<br />

dazu ausführlich den Beitrag von Christian von Zimmermann in diesem Themenheft.<br />

Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius) arbeitete ab 1832 am ersten <strong>Berner</strong> Primarschulgesetz mit,<br />

war Mitglied der Schulkommission von Lützelflüh und bis 1845 Schulkommissär.<br />

2 Müller, Dominik: Keller und Hodler, Gleyre und Meyer, Böcklin und … – Begegnungen und<br />

Konstellationen zwischen Literatur und bildender Kunst in der Schweiz des späten neunzehnten<br />

Jahrhunderts. In: Klemm, Christian (Hrsg.): Von Anker bis Zünd. Die Kunst im<br />

jungen Bundesstaat 1848–1900. Zürich 1998, 73–95, 108.<br />

3 Kellerhals, Katharina: Der gute Schüler war auch früher ein Mädchen. Schulgesetzgebung,<br />

Fächerkanon und Geschlecht in der Volksschule des Kantons Bern 1835–1897. Bern 2010<br />

(im Druck).<br />

4 Schulordnung <strong>für</strong> die öffentlichen Primarschulen, Bern 1862.<br />

5 Siehe dazu allgemein: Suter, Marcel: Haltung und Bewegung. In: Mesmer, Beatrix (Hrsg.):<br />

Die Verwissenschaftlichung des Alltags. Anweisungen zum richtigen Umgang mit dem Körper<br />

in der schweizerischen Populärpresse 1850 –1900. Zürich 1997, 177 –197.<br />

6 Lüthi, Emanuel: Jubiläumsbericht der Schweiz. permanenten Schulausstellung in Bern<br />

1878–1903. Bern 1903.<br />

7 1895 besuchten in Ins 268 Kinder die Primarschule, die von 6 Lehrkräften unterrichtet<br />

wurden; die Lehrerinnen verdienten jährlich 1020, die Lehrer 1550 Franken und erhielten<br />

zusätzlich eine Entschädigung von 300 Franken <strong>für</strong> Wohnung, Holz und Pflanzland. Huber,<br />

Albert: Schweizerische Schulstatistik 1894/95. Zürich 1895, Bd. 2.<br />

8 Gesetz über die öffentlichen Primarschulen des Kantons Bern. Bern 1870, 15.<br />

9 Kellerhals (wie Anm. 3).<br />

10 Vogel, Matthias: Idealistischer Naturalismus oder naturalistische Idylle. Die Schweizer Genremalerei<br />

des neunzehnten Jahrhunderts im internationalen Kontext. In: Klemm (wie Anm. 2),<br />

25–61, 56.<br />

11 Hans Lüthy attestiert dem Maler <strong>für</strong> diese Darstellung eine «gekonnt» geführte Bildregie (Lüthy,<br />

Hans A.: Albert Anker. Welt im Dorf, Dorf in der Welt. In: Kuthy, Sandor; Lüthy, Hans A. [Hrsg.]:<br />

Albert Anker: zwei Autoren über einen Maler. Ausstellungskatalog Kunsthaus Zürich. Zürich 1980,<br />

11–43, 23); <strong>für</strong> Hans Zbinden handelt sich um eine «hilflose» Komposition (Zbinden, Hans:<br />

Albert Anker in neuer Sicht. Bern 1961, 19).<br />

12 Schneeberger, Elisabeth: Schulhäuser <strong>für</strong> Stadt und Land. Der Volksschulbau im Kanton Bern<br />

am Ende des 19. Jahrhunderts. Bern 2005.<br />

13 Niggeler, Johann: Turnschule <strong>für</strong> Knaben und Mädchen. Erster Theil. Das Turnen <strong>für</strong> die<br />

Elementarklassen. Zürich 1861.<br />

14 Schmalenbach, Werner: Das Turn- und Sportgerät: Funktion und Form – einst und jetzt.<br />

Ausstellung im Gewerbemuseum Basel: 16. Juni bis15. Juli 1945. Basel 1945.<br />

15 Der Kanton Bern erreichte nur den 21. Rang. Die Resultate der Kantone wurden in der Folge<br />

alljährlich und medienwirksam diskutiert. Kellerhals, Katharina; Crotti, Claudia: «Mögen sich<br />

die Rekrutenprüfungen als kräftiger Hebel <strong>für</strong> Fortschritt im Schulwesen erweisen!» PISA im<br />

19. Jahrhundert: Die schweizerischen Rekrutenprüfungen – Absichten und Auswirkungen.<br />

In: Schweizerische <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> Bildungswissenschaft 1, 2007, 47 –78.<br />

16 Niggeler (wie Anm. 12), 3.<br />

17 Kellerhals (wie Anm. 3).<br />

Kellerhals: Schule 49


18 «Die Farben der Kindskleider sind vielfach erdfarben, die Mädchen haben <strong>für</strong> die Schule ein<br />

enormes Fürtuch auf dem man die Tintenflecken nicht sehen soll. Ein trauriges Zeug!»<br />

Schneider, Thomas Franz (Hrsg.): Albert Anker (1831–1910) an Alfred Bohny-Collin (1852 –1922):<br />

Die Briefe des alternden Malers an seinen Basler Sammler (1891 –1908). Basel 2003, 33.<br />

19 Die <strong>Berner</strong> Regierung kaufte1862 das Bild «Das Schulexamen» und 1893 «Die Armensuppe».<br />

20 Anker in Schneider (wie Anm. 18), 36.<br />

21 Anker in Wellauer, Wilhelm: Aus den Schulprotokollen von Maler Albert Anker. In: «Kleiner Bund».<br />

Bern 1944. Nr. 48/1944, 8.<br />

50 BEZG N° 02/10


Lesen und Vorlesen bei Albert Anker<br />

Gerrendina Gerber-Visser<br />

«Lesen» ist ein häufiges Thema auf den Bildern Albert Ankers. Der Maler hat<br />

verschiedene Arten der Lektüre dargestellt: Männer lesen die Zeitung, junge<br />

Frauen lesen Bücher, Mädchen lesen Briefe, Kinder lesen in ihren Schulbüchern,<br />

ältere Menschen lesen in der Bibel oder – eine besondere Lesesituation – Kinder<br />

lesen vor. Diese wiederholte Darstellung lesender Menschen lässt vermuten, dass<br />

die Menschen in Ankers Umgebung lasen bzw. dass der Maler die Lektüre als<br />

wesentliche Beschäftigung seiner Mitmenschen wahrnahm.<br />

In diesem Zusammenhang interessiert vorab das persönliche Verhältnis des<br />

Malers zu Büchern und Zeitungen. In einem ersten Abschnitt wird deshalb eine<br />

Annäherung an Albert Anker als Leser versucht. Anschliessend sollen die auf<br />

seinen Bildern am häufigsten dargestellten Lesesituationen kommentiert und<br />

historisch situiert werden. Weshalb lesen viele Männer auf den Ankerbildern<br />

die Zeitung – und welche Zeitung lesen sie? Weshalb werden mehrere junge<br />

Frauen mit einem Buch in der Hand dargestellt – und was könnten das <strong>für</strong> Bücher<br />

sein?<br />

Anker als Leser<br />

Wer Ankers Atelier in Ins besucht, kann dort auch die noch vorhandene grosse<br />

Bibliothek des Malers sehen. Nachfahren des Malers haben ein erstes Verzeichnis<br />

der vorhandenen Werke erstellt, das <strong>für</strong> diese Studie beigezogen werden<br />

konnte. 1<br />

Anlässlich des 150. Geburtstages Albert Ankers fand in der Schweizerischen<br />

Nationalbibliothek – damals noch Landesbibliothek genannt – eine Ausstellung<br />

zu «Albert Anker und das Buch» statt. 2 Die Ausstellung beschäftigte sich einerseits<br />

mit seinen Illustrationen zu Gotthelfs Schriften, 3 andererseits zeigte sie in<br />

vier Vitrinen Bücher aus Ankers Bibliothek. Für die Präsentation ausgewählt<br />

wurden damals Werke zu Kunst, Archäologie, Philosophie, Kulturgeschichte<br />

und literarische Werke. Die französischsprachigen Bücher überwiegen, was allerdings<br />

nicht weiter erstaunt, da Anker zweisprachig aufgewachsen war und<br />

jeweils den Winter in Paris verbrachte. 4 Der Maler las als ausgebildeter Theologe<br />

aber auch Lateinisch, Altgriechisch und Hebräisch. So hat es ihm denn<br />

auch grosse Freude bereitet, als ihm 1900 sein Freund Ludwig Hürner einen zu<br />

seinen Ehren lateinisch verfassten Brief zustellte. Anker hat den Brief ins Deutsche<br />

übersetzt, damit ihn auch weitere Freunde lesen konnten. 5 Damit ist nicht<br />

nur dokumentiert, dass der Maler die alten Sprachen noch im hohen Alter<br />

konnte (er las kurz vor seinem Tod in einer hebräischen Bibel), es ist zugleich<br />

ein Hinweis auf eine weitere häufige Beschäftigung Ankers mit dem geschrie-<br />

Gerber-Visser: Lesen 51


Ausschnitt von Ankers Bibliothek. Foto Badri Redha, Archäologischer Dienst<br />

des Kantons Bern.– Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Ankers Lesebrille mit einem Buch aus seiner Biblothek: «Darvin, Charles,<br />

L’Origine des Espèces, Paris, 1873». – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

52 BEZG N° 02/10


enen Wort: Er führte bis zu seinem Tode, sogar als die Folgen eines Schlaganfalls<br />

ihn stark beeinträchtigten, eine umfangreiche Korrespondenz. 6<br />

Die Bücherauswahl aus Ankers Bibliothek, die in der erwähnten Publikation<br />

bibliographiert wurde, enthält neben älteren Werken, wie Lavaters Geheimes<br />

Tagebuch (1772) 7 oder Sternes Voyage sentimental en France (1768), zeitgenössische<br />

literarische Werke des 19. Jahrhunderts, so beispielsweise Romane von<br />

Balzac und Zola. 8 Obwohl Anker zeitgenössische Literatur las, bevorzugte er im<br />

Alter klassische, philosophische und theologische Texte. Auch nach seinem<br />

Schlaganfall im Jahr 1901 las er weiterhin viel. 9 Die Beschäftigung mit philosophischen<br />

und religiösen Texten war ihm ein grundlegendes Bedürfnis. 10 So<br />

schrieb er 1903 an seinen Freund: «Ich habe mich in neuere Lektüre verstiegen,<br />

aber wenn ich etwas von den Griechen wiedersehe, so kommt es mir vor, dies<br />

sei der wahre Jakob.» 11<br />

Albert Ankers grosses historisches Interesse ist in der Bibliothek im Ankerhaus<br />

dokumentiert, indem die Bücherregale zahlreiche Geschichtswerke und<br />

Biografien bekannter Persönlichkeiten aus allen Epochen enthalten. Eine Stichprobe<br />

von 106 ausgezählten Titeln (jeder 10. Titel auf der unveröffentlichten<br />

Liste) ergab 28 % der Werke, die dieser Kategorie zuzurechnen sind. 12 Mit 24 %<br />

etwa gleich stark vertreten ist die Belletristik, gefolgt von 11 % theologischen Büchern.<br />

Eine ähnliche Verteilung ergab eine zweite partielle Auszählung, nämlich<br />

die vier ersten Seiten der alphabetischen Liste (156 Werke, Buchstaben a und b):<br />

32 % <strong>Geschichte</strong> und Biografien, 29 % Belletristik und 11 % theologische Bücher).<br />

Zudem ist die antike Literatur in Ankers Bibliothek gut vertreten (9 % bzw. 6 %),<br />

es finden sich zahlreiche Reisebeschreibungen (8 % bzw. 6 %), kunstgeschichtliche<br />

und naturwissenschaftliche Werke sowie einzelne in keine dieser Kategorien<br />

einzuordnende Bücher, wie Ratgeberliteratur oder Wörterbücher. 13<br />

Anker war jedoch nicht nur Bücherleser, sondern auch Zeitungsleser. Ein<br />

Familienfoto von 1901 zeigt Anker, wie er sich vor seinem Haus im Kreis der<br />

Familie der Zeitungslektüre widmet. 14 In einem Brief aus dem Jahre 1903 gab<br />

er zwar zu bedenken, dass Zeitungen nicht zur einzigen Lektüre werden sollten,<br />

auch wenn das der «Geschmack unserer Zeit» sei, 15 doch Anker interessierte<br />

sich zeitlebens <strong>für</strong> das Geschehen in der Welt und war sensibel <strong>für</strong> Fragen der<br />

sozialen Gerechtigkeit. 16 Obwohl Mitglied der Schulkommission in Ins und während<br />

dreieinhalb Jahren Grossrat (von 1870 bis 1874), wo er sich vor allem durch<br />

sein Engagement zugunsten der Gründung des Kunstmuseums Bern hervorgetan<br />

hat, 17 fühlte sich Anker nicht als Politiker. So schrieb er nach seiner Wahl<br />

in den Grossen Rat an Durheim: «Um von Etwas Heiterem zu sprechen, muss<br />

Gerber-Visser: Lesen 53


Ankers letzte vor seinem Tod gelesene Buchseite: «Im Alter wirst du zu Grabe<br />

kommen, wie die reifen Garben eingefahren werden». Genesis, Hiob, 5.26, hier<br />

als Übersetzung des hebräischen Originals. Foto Badri Redha, Archäologischer<br />

Dienst des Kantons Bern. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

54 BEZG N° 02/10


ich Ihnen melden, dass ich zum Grossrath ernannt worden bin; […] Und nun<br />

muss ich an die Nov. Sitzung; es ist bei Gott lächerlich, denn ich gehöre nicht<br />

hieher und sollte eher zu Hause schaffen.» 18 Anker war regelmässiger Leser der<br />

Neuenburger Suisse libérale und der <strong>Berner</strong> Volkszeitung. 19 Die <strong>Berner</strong> Volkszeitung<br />

hatte in den 1860er-Jahren eine radikale, später, um 1880, eine christlichkonservative<br />

Ausrichtung. 20<br />

Zeitung lesende Männer<br />

Wenn wir uns nun den Lesesituationen auf den Bildern Ankers zuwenden, so<br />

fällt auf, dass gerade das Zeitungslesen wiederholt dargestellt wird. Es sind Männer,<br />

Bauern aus Ins und Umgebung, die in der Zeitung vertieft oder mit einer<br />

Zeitung in der Hand gemalt wurden. Die meisten Leser sind ältere Männer und<br />

tragen dementsprechend Lesebrillen. Auf der Mehrzahl der Bilder ist keine zusätzliche<br />

Lichtquelle erkennbar, sodass angenommen werden darf, dass tagsüber<br />

gelesen wurde. 21 Auf einem Bild, «Die Bauern und die Zeitung» von 1867,<br />

steht die Uhr auf drei Uhr, es ist also mitten am Nachmittag. 22 War es Sonntag?<br />

Und las der Zeitungsleser auf diesem Bild den beiden andern Anwesenden gewisse<br />

Abschnitte vor? Die Forschung ist sich über die Häufigkeit solcher Vorlese-Akte<br />

nicht einig, 23 doch ist die Annahme, dass wenn nur eine Zeitung zur<br />

Verfügung stand, auch mal vorgelesen wurde, durchaus plausibel. Auf einigen<br />

Bildern lässt sich erkennen, um welche Zeitung es sich handelt. So sehen wir<br />

beispielsweise auf dem Ölbild «Der Zeitung lesende alte Feissli», das 1900 entstanden<br />

ist, dass der alte Mann den Seeländer Boten liesst. 24 Auch auf einem bereits<br />

1878 entstandenen Bild ist dieselbe Zeitung erkennbar. 25 Der Seeländer Bote<br />

wurde 1850 im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen zwischen Radikalen<br />

und Liberalkonservativen gegründet, als liberalkonservatives Blatt und<br />

als Gegenstück zum radikalen Seeländer Anzeiger. 26 Seit den 1830er-Jahren lasen<br />

immer mehr Leute Zeitungen. 27 Es kam in dieser Zeit zu zahlreichen Zeitungsgründungen.<br />

Gab es 1829 in der ganzen Schweiz erst 38 <strong>Zeitschrift</strong>en und<br />

politische Zeitungen, so waren es 1860 bereits 298 Zeitungen und <strong>Zeitschrift</strong>en.<br />

28 Auch der Seeländer Bote fand rasch eine breite Leserschaft. Messerli zitiert<br />

den Müllergesellen Peter Binz, der 1866 in der Nähe von St. Imier in einem<br />

Müllerhaushalt angestellt war, in dem <strong>für</strong> die Angestellten neben den Basler<br />

Nachrichten auch der Seeländer Bote abonniert war. 29 Die politische Ausrichtung<br />

der auf den Bildern dargestellten Zeitung deckte sich weitgehend mit jener der<br />

von Albert Anker selbst gelesenen <strong>Berner</strong> Volkszeitung. Wenn Anker also wiederholt<br />

die Lektüre des Seeländer Boten malte, dokumentierte er damit nicht nur<br />

Gerber-Visser: Lesen 55


Albert Anker liest Zeitung. Postkarte Gruss aus Ins – Kunstmaler Anker,<br />

um 1900 [Ausschnitt]. – Sammlung André Weibel, Ansichtskartenarchiv<br />

Lausen.<br />

56 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Zeitungsleser, 1878, Öl auf Leinwand, 61 x48 cm, Kat. Nr. 251<br />

[Ausschnitt]. – Musée d’art et d’histoire, Neuchâtel (Donation Alfred Borel,<br />

Bâle).<br />

Gerber-Visser: Lesen 57


ein Stück Alltagsgeschichte, sondern bis zu einem gewissen Grad seine eigene<br />

politische Ausrichtung.<br />

Bücher lesende junge Frauen<br />

Das Gleiche gilt <strong>für</strong> die zweite häufig anzutreffende Lesesituation. Auf etlichen<br />

Bildern sehen wir jüngere, ein Buch lesende Frauen. Meistens ist nicht zu erkennen,<br />

um was <strong>für</strong> Bücher es sich handelt. Eines dieser Bilder heisst «Eine Gotthelf<br />

Leserin». 30<br />

Es gab im 19. Jahrhundert eine ganze Reihe von Ratgebern <strong>für</strong> die Mädchenerziehung,<br />

die sich mit den Lesepraktiken junger Frauen befassten. Diese Ratgeber<br />

waren zwar eher an eine bürgerliche Mittel- und Oberschicht gerichtet<br />

als an eine bäuerliche Bevölkerung, 31 in ihrer Tendenz betrafen diese Empfehlungen<br />

aber auch die (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Regel durchaus<br />

lesekundigen) Mädchen und Frauen auf dem Land. 32<br />

Bürgerliche Eltern betrachteten die Lektüre ihrer Töchter oft eher skeptisch.<br />

Deshalb sollte sie zeitlich begrenzt sein und inhaltlich nicht nur unterhalten,<br />

sondern der Gemütsbildung dienen. Sie durfte nicht im Widerspruch zur (späteren)<br />

Aufgabe der Frauen als Hausfrauen und Mütter stehen. Kein Wunder also,<br />

dass es auf den Ankerbildern keine Zeitung lesenden jungen Frauen gibt: Politische<br />

Bildung gehörte nicht zum Erziehungsziel <strong>für</strong> junge Frauen. Hingegen war<br />

gerade die Lektüre von Gotthelf-Romanen <strong>für</strong> Bauerntöchter durchaus passend.<br />

Der Sekundarlehrer Laurentius Bühler zählte 1867 denn auch die Gotthelf-Romane<br />

zu jenen Büchern, die in keiner Volksbibliothek fehlen sollten. 33 Damit ist<br />

zugleich die Frage angesprochen, wie junge Frauen auf dem Land zu ihrem Lesestoff<br />

kamen. Es gab bereits 1866 im Kanton Bern 173 Jugend- und Volksbibliotheken.<br />

34 Offenbar wurden die Volksbibliotheken rege benutzt. Manche<br />

Bibliothekare klagten über eine regelrechte «Lesewuth und verdorbenen Geschmack,<br />

besonders bei der weiblichen Jugend». 35 Andererseits dienten gerade<br />

die Volksbibliotheken der Bereitstellung von «sinnvollem» Lesestoff. Neben den<br />

erwähnten Werken Gotthelfs gehörten laut Bühler auch Werke zur Schweizergeschichte,<br />

Biographien, Volkskalender, Gedichte, Novellen und natürlich Romane<br />

wie Pestalozzis Lienhard und Gertrud (1781) dazu. 36<br />

Die Bücher lesenden jungen Frauen auf Ankers Bilder sind unter diesen Aspekten<br />

betrachtet sicher – wie die Zeitung lesenden Männer – realistische Szenen<br />

aus dem alltäglichen, oder zumindest sonntäglichen, Landleben. Zugleich<br />

vermitteln sie aber auch zeitgenössische Wertvorstellungen bezüglich der Erziehung<br />

der Frauen.<br />

58 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Rosa und Bertha Gugger, 1883, Öl auf Leinwand, 65,5 x 54,5 cm.<br />

Kat. Nr. 303 [Ausschnitt] – Sammlung Christoph Blocher.<br />

Gerber-Visser: Lesen 59


Vorlesen<br />

Auf vielen Bildern finden sich Szenen, in denen wahrscheinlich erzählt wird,<br />

wo beispielsweise Grosseltern ihren Enkeln <strong>Geschichte</strong>n erzählen. 37 Etwas sel-<br />

tener wird vorgelesen. Das Bild der Bauern mit der Zeitung wurde bereits er-<br />

wähnt. Auf dem Werk «Die Andacht des Grossvaters» aus dem Jahr 1893 liest<br />

ein Knabe einem alten Mann vor. 38 Ob der Grossvater selber nicht mehr lesen<br />

kann, bleibt offen; eine altersbedingte Leseschwäche als Hintergrund <strong>für</strong> diese<br />

Szene ist eine naheliegende Vermutung. Was hier interessiert, ist insbesondere<br />

das laute Vorlesen des Jungen. Die allermeisten Leute im Kanton Bern konnten<br />

im 19. Jahrhundert zwar lesen, 39 das laute Vorlesen mit der richtigen Betonung<br />

und einem sinngemässen Innehalten bei Satzzeichen war aber ein Lernziel, das<br />

längst nicht bei der Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler erreicht wurde. So<br />

schrieb der bernische kantonale Schulinspektor, Jakob Egger, 1860 in seinem<br />

Bericht, es müsse insbesondere auf ein «verständiges und ausdruckvolles Lesen<br />

hingearbeitet werden», was offensichtlich nicht der Normalfall war. 40 Der besondere<br />

Vorlese-Akt, den Anker hier dargestellt hat, dürfte in früheren Jahrzehnten<br />

noch häufiger gewesen sein, in einer Zeit nämlich, als die Lesekompetenz<br />

der Kinder jene der Erwachsenen merklich überstieg, was zwischen 1750 und<br />

1830 noch oft der Fall war. 41 Messerli weist zudem darauf hin, dass das Vorlesen<br />

auch oft Kindern als «Arbeit» übertragen wurde, wenn ein Bedürfnis nach<br />

Lektüre bestand. Indem die Kinder vorlasen, konnten die Eltern sich ihren Aufgaben,<br />

z. B. in der textilen Heimarbeit, widmen. 42<br />

Leider können wir dem vorlesenden Knaben auf dem Bild nicht zuhören,<br />

doch auch eine genauere Betrachtung der beiden Personen ist durchaus aufschlussreich.<br />

Der Enkel wirkt konzentriert, aber das Lesen scheint ihn nicht besonders<br />

anzustrengen. Er folgt dem Verlauf der Sätze nicht mit dem Finger, sondern<br />

hält das Buch – auf Grund des Titels des Bildes wohl die Bibel – mit beiden<br />

Händen. Auch runzelt er nicht etwa die Stirn, was bei grosser Anstrengung zu<br />

erwarten wäre. Der Grossvater hört andächtig zu. Man darf davon ausgehen,<br />

dass der Junge so gut laut las, dass der ältere Mann tatsächlich dem Vorgelesenen<br />

folgen konnte.<br />

So gesehen dokumentiert diese Szene nebenbei die Fortschritte der Volksschule<br />

im 19. Jahrhundert, indem sie darstellt, wie ein Grundschüler fähig ist,<br />

«verständig» zu lesen. 43<br />

60 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Die Andacht des Grossvaters, 1893, 63 x 92 cm. Kat. Nr.483.<br />

– Kunstmuseum Bern.<br />

Gerber-Visser: Lesen 61


Ankers Bilder verweisen auf die Verbreitung und den Konsum von Drucker-<br />

zeugnissen im ländlichen Kanton Bern gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Auf<br />

die verbreitete Lektüre der Bibel und anderer religiöser Schriften wurde in diesem<br />

Beitrag nicht eingegangen, doch auch sie hat der Maler auf mehreren Bildern<br />

dargestellt. 44 Die Leseszenen profaner Literatur sind plausibel, wenn sie<br />

auch nichts darüber aussagen, wie oft ein Bauer tatsächlich dazu kam, eine Zeitung<br />

zu lesen, oder wie lange ein Mädchen oder eine junge Frau sich in Tat und<br />

Wahrheit mit ihrer Lektüre beschäftigen durfte. Sie suggerieren ein positives<br />

Verhältnis zur Lektüre, das sicher über den Einzelfall hinaus bestehen konnte.<br />

Zwar war die individuelle Lektüre auch zeitlichen Beschränkungen und Restriktionen<br />

unterworfen, was anhand der Mädchenlektüre angedeutet wurde. Die<br />

<strong>Berner</strong> Landbevölkerung, die auf diesen Szenen dargestellt wird, suchte und<br />

fand zu jener Zeit aber durchaus breiten Zugang zu Zeitungen und über die<br />

Volksbibliotheken zur Belletristik und anderen Literaturgattungen. Die Lese-<br />

Motive, die Anker gemalt hat, sind entsprechend durchaus auch Abbilder einer<br />

historischen Realität.<br />

Anmerkungen<br />

1 Die bislang unveröffentlichte Liste ist im Besitz der Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Sie wurde erstellt von Ankers Grosstöchtern Dora Brefin-Oser und Elisabeth Oser und<br />

ergänzt von Matthias Brefin, dem ich an dieser Stelle da<strong>für</strong> danken möchte, dass ich diese Liste<br />

einsehen konnte. Erwähnt wird sie auch bei Meister, Robert: Albert Anker und seine Welt. Briefe<br />

– Dokumente – Bilder. Bern 1981, 120. Zu Ankers Bibliothek siehe auch: Aeberhardt, Werner:<br />

Die Bibliothek Albert Ankers. In: Die Illustrierte der «Neuen <strong>Berner</strong> Zeitung» 10 (10.3.1957), 22.<br />

2 Dazu: Albert Anker und das Buch. Ausstellung in der Schweizerischen Landesbibliothek. April<br />

und Mai 1981. Texte Robert Wyler. Bern 1981.<br />

3 Siehe dazu den Beitrag von Christian von Zimmermann in diesem Themenheft.<br />

4 Siehe dazu den Beitrag von Beat Gugger in diesem Themenheft.<br />

5 Siehe dazu Meister (wie Anm. 1), 147–150.<br />

6 Die Korrespondenz Ankers wird in der Burgerbibliothek Bern aufbewahrt. Siehe auch den Beitrag<br />

von Annelies Hüssy in diesem Themenheft.<br />

7 Anker hatte eine grosse Vorliebe <strong>für</strong> das Werk J.C. Lavaters. Siehe dazu Meister (wie Anm. 1),<br />

bes. 91 und 121.<br />

8 Wyler (wie Anm. 2).<br />

9 Anker an Hürner, Brief vom 3. Mai 1902, zitiert nach Meister (wie Anm. 1), 160.<br />

10 Anker an Hürner, Brief vom 8. Oktober 1902, zitiert nach Meister (wie Anm. 1), 163f.<br />

11 Anker an Hürner, Brief vom Januar 1903, zitiert nach Meister (wie Anm. 1), 166.<br />

12 Die Zuordnung war nicht in allen Fällen ganz sicher, weil die bibliographischen Angaben zur Zeit<br />

noch unvollständig sind. Die 106 (Stichprobe, jedes 10. Buch) bzw. 156 (Buchstaben a und b)<br />

ausgezählten Titel wurden in die Kategorien <strong>Geschichte</strong> und Biographien, Theologie, Belletristik,<br />

62 BEZG N° 02/10


antike Literatur, Kunstgeschichte, Ratgeberliteratur, Wörterbücher, Naturwissenschaft und<br />

Diverse eingeteilt. Nicht berücksichtigt wurden <strong>Zeitschrift</strong>en und Periodika. Die ganze Liste ist<br />

22 Druckseiten lang.<br />

13 Unveröffentlichte Liste (wie Anm. 1).<br />

14 Abgebildet bei Meister (wie Anm. 1), 155.<br />

15 «Über deinen Tadel gegenüber unserem Freund habe ich noch nachgedacht: Er liest kein Buch<br />

mehr, begnügt sich mit der Zeitungslektüre. Du lieber Gott: das ist nun der Geschmack unserer<br />

Zeit. Die Zeitung ersetzt alle andere Lektüre!!!» Anker an Frau Ehrmann, Brief vom 7. September<br />

1903, zitiert nach Meister (wie Anm. 1), 169.<br />

16 Meister (wie Anm. 1), 119f.<br />

17 Dazu: Kehrli, Jakob Otto: Der Maler Albert Anker als Grossrat des Kantons Bern.<br />

Zum 40. Todestage des Künstlers am 16. Juli. In: Der kleine Bund, Literatur- und Kunstbeilage<br />

des «Bund». 1950, Nr. 324, 14. Juli, 6–7.<br />

18 Anker an Durheim, Brief vom 15. Oktober 1870, zitiert nach Zbinden, Hans: Albert Anker in<br />

neuer Sicht. Bern 1961, 32.<br />

19 Meister (wie Anm. 1), 90.<br />

20 Bollinger, Ernst: <strong>Berner</strong> Volkszeitung. In: e-HLS, www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D43173.php.<br />

21 Sicher tagsüber liest auch der Bauer auf dem Ölbild «Zeitung lesender Bauer am Fenster», von<br />

dem mehrere Fassungen existieren. Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker<br />

(1831–1910). Werkkatalog der Gemälde und Ölstudien. Catalogue raisonné des oeuvres à l’huile<br />

(Hrsg. Kunstmuseum Bern). Basel 1995, 164 Nr. 285. Eine Kerze als Lichtquelle findet sich<br />

hingegen auf dem Ölbild «Bauer, im Bett lesend», ebenda Nr. 283.<br />

22 Kuthy/ Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 95 Nr. 105.<br />

23 Siehe Messerli, Alfred: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung zur Durchsetzung<br />

der Literalität in der Schweiz. Tübingen 2002, bes. 441–443.<br />

24 Kuthy/ Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21 ), 244 Nr. 570.<br />

25 «Zeitungslesender Bauer», 1878, Öl, 61 x 48 cm. Musée d’art et d’histoire, Neuchâtel.<br />

26 Nast, Matthias: Eineinhalb Jahrhunderte Informationsvermittlung. 150 Jahre W. Gassmann AG,<br />

In: Bieler Jahrbuch 2000, 132–140, hier, 133f.<br />

27 Messerli (wie Anm. 23), 99.<br />

28 Zahlen aus: Bilder aus der Heimat und Fremde. Ein Monatsblatt zur Unterhaltung und Belehrung.<br />

Gratisbeilage zur Bülach-Regensberger Wochen-Zeitung (1860), zitiert nach Messerli<br />

(wie Anm. 23), 401, Anm. 286. Siehe exemplarisch die enorme Leserzunahme bei den<br />

Bernischen Blättern <strong>für</strong> die Landwirtschaft: Flückiger, Daniel: Zeitungen und Schulen <strong>für</strong> den fortschrittlichen<br />

Landwirt – Albert von Fellenberg-Ziegler. In: Stuber, Martin; Moser, Peter; Gerber-<br />

Visser, Gerrendina; Pfister, Christian (Hrsg.): Kartoffeln, Klee und kluge Köpfe. Die Oekonomische<br />

und Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Bern OGG (1759–2009). Bern 2009, 171–174.<br />

29 Messerli (wie Anm. 23), 403.<br />

30 «Die Gotthelfleserin»,1884. Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 165 Nr. 320.<br />

Ein weiteres Bild aus dem Jahr 1898 trägt den gleichen Titel. Ebenda, 236 Nr. 547. Zu Gotthelfs<br />

Werken hatte Anker selbst ein besonderes Verhältnis. In seiner Bibliothek finden sich zahlreiche<br />

Gotthelf-Romane und Erzählungen. Die Illustrationen der von Otto Sutermeister herausgegebenen<br />

Gotthelf-Ausgabe sind in den 1890er-Jahren entstanden. Siehe dazu Wyler (wie Anm. 2) und<br />

den Beitrag von Christian von Zimmermann in diesem Themenheft.<br />

31 Siehe dazu Barth, Susanne: «Buch und Leben [müssen] immer neben einander Seyn – das Eine<br />

Gerber-Visser: Lesen 63


erläuternd und bestätigend das Andere.» Zur Lesererziehung in Mädchenratgebern des<br />

19. Jahrhunderts. In: Grenz, Dagmar; Wilkending, Gisela (Hrsg.): <strong>Geschichte</strong> der Mädchenlektüre.<br />

Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frauen. München 1997, 51–71.<br />

32 Lesende Mädchen bürgerlicher Herkunft sind auf den beiden Bildern «Lesendes Mädchen 1883»<br />

Kuthy/ Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 161, Nr. 306, und «Lesendes Mädchen 1883»,<br />

ebenda, Nr. 307.<br />

33 Bühler, L.: Referat über Volksliteratur und Presse. Vorgetragen vor versammelter kantonaler<br />

gemeinnütziger Gesellschaft des Kantons Bern den 14. November 1867. Bern 1867, 15.<br />

34 Ebenda, 10.<br />

35 Ebenda, 11.<br />

36 Bühler (wie Anm. 33), 15.<br />

37 «Der Grossvater erzählt eine <strong>Geschichte</strong>». Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21),<br />

163 Nr. 315.<br />

38 Kuthy/ Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 215 Nr. 483.<br />

39 Siehe dazu Messerli (wie Anm. 23), 328–341; Grunder, Hans-Ulrich: Artikel Alphabetisierung.<br />

In: e-HLS, hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10394.php.<br />

40 Egger, zitiert nach Messerli (wie Anm. 23), 326.<br />

41 Messerli (wie Anm. 23), 454.<br />

42 Ebenda, 453.<br />

Das Bild «Sonntag Nachmittag» ist bereits 1862 entstanden. Auch auf dieser Darstellung hat<br />

man den Eindruck, das Mädchen lese deutlich vor. Sowohl der alte Mann auf dem Ofen als auch<br />

das jüngere Mädchen scheinen andächtig zuzuhören. Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21),<br />

81 Nr. 63.<br />

43 So existieren beispielsweise verschiedene Fassungen eines Bildes betitelt als «Der Bibelleser».<br />

Kuthy/ Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 122 Nr. 185; ebenda, 139 Nr. 238; ebenda, 178<br />

Nr. 359.<br />

64 BEZG N° 02/10


Muestopf und Kaffeekanne<br />

Ein Beitrag zur materiellen Kultur bei Albert Anker<br />

Andreas Heege<br />

Die Werke Albert Ankers haben dank eines umfangreichen Werkverzeichnisses<br />

und mehrerer grosser Ausstellungen in den letzten Jahren eine hohe Aufmerksamkeit<br />

erfahren. 1 Sein Leben und die seinen Bildern zu Grunde liegenden<br />

künstlerischen und, sehr zurückhaltend, theologischen oder politischen Motive<br />

sind in verschiedensten Veröffentlichungen untersucht worden. 2 Hierbei taucht<br />

immer wieder die Frage auf, ob Anker als «Spätromantiker» oder als ein dem<br />

«Realismus» verpflichteter Maler gesehen werden muss. Will man sich dieser<br />

Frage nähern, so ist u.a. eine Analyse der von Anker gemalten Gegenstände, der<br />

materiellen Kultur auf seinen Bildern, unerlässlich. Im Folgenden soll daher die<br />

in seinen Bildern dargestellte Keramik aus dem Blickwinkel eines Neuzeit-Archäologen<br />

einer Betrachtung unterzogen werden.<br />

Legt man das Werkverzeichnis der Ölgemälde und -studien zu Grunde, so<br />

findet sich zwischen 1857 und 1902 Keramik auf immerhin 103 von 795 verzeichneten<br />

Werken. Berücksichtigt man die bislang unvollständig veröffentlichten<br />

Aquarelle und Studien, 3 so kommen zehn weitere Bilder hinzu. Keramik<br />

spielt also auf Ankers Bildern eine wichtige Rolle.<br />

Wir finden Keramik u.a. als Staffage, als Teil der Szene, eher unbedeutend<br />

im Hintergrund, z.B. auf der ersten «Gemeindeversammlung» (1857), 4 der<br />

«Strickschule» (1860) 5 bzw. dem «Wucherer» von 1883. 6 Oder sie ist, wie auf<br />

seinem ersten und allen folgenden 35 Stillleben bzw. Stillleben-Bildpaaren zwischen<br />

1866 und 1902 dominant zur Charakterisierung der zwei Welten eingesetzt,<br />

zwischen denen sich Ankers Leben und Werk abspielten: Auf der einen<br />

Seite befand sich die bäuerliche Welt in Ins, auf der anderen Seite die bürgerliche<br />

Welt seiner Käufer und Auftraggeber, die zugleich seiner eigenen Lebenswelt<br />

nahegekommen sein dürfte; nicht nur in Paris und in Neuchâtel, sondern<br />

auch in Ins pflegten Anker und seine Familie ja in vielerlei Hinsicht bürgerliche<br />

Lebensformen. 7<br />

In Genrebildern wie «Einsamkeit» (1865) und «Die ersten Schritte» (1886) 8<br />

erscheinen die Schüsseln, Henkeltöpfe und Tassen arrangiert wie in einem Stillleben.<br />

In anderen dagegen sind die zeittypischen Schüsseln «Heimberger Art» 9<br />

Teil einer Tätigkeit, z.B. Bohnen rüsten oder Kartoffeln schälen. 10 Mindestens<br />

ebenso häufig finden wir Tassen bzw. Untertassen, Töpfe, Caquelons und Schüsseln<br />

mit Horizontalhenkeln in Verbindung mit Szenen der Nahrungsaufnahme<br />

oder des Konsums von Getränken. Besonders einfühlsam führen uns dies das<br />

«Kaffee trinkende Mädchen» (1870), 11 der verwundete «Bourbaki-Soldat»<br />

(1871) 12 oder die «Kinderkrippe» (1890) 13 vor Augen. 14 Oft sehen wir einzeln aus<br />

kalottenförmigen Steingut-Tellern essende Kinder15 oder alte Bäuerinnen bzw.<br />

Heege: Muestopf 65


Bauern bei Suppe, Kartoffeln, Käse und Kaffee, die aus Irdenware-Geschirr und<br />

Steingut-Ohrentassen essen und trinken. 16 Jedoch begegnet man fast nie einer<br />

vollständigen Familie am Tisch. 17 In Gefässen aus importiertem Steinzeug oder<br />

glasierter Irdenware werden auch Lebensmittel wie «Mues» oder «Suurchabis»<br />

nach Hause getragen 18 oder Früchte gesammelt (Erdbeeren). 19 Aber natürlich<br />

kann man Geschirr auch zweckentfremden, wie die Tasse in der Hand des «Sei-<br />

fenbläsers» von 1873 zeigt. 20 Die Kinder des Bürgertums sowie die auf dem<br />

Lande spielen mit Miniaturformen des Erwachsenengeschirrs. 21<br />

Suppe und Kaffee werden in Schüsseln und Kannen am Feuer oder auf dem<br />

Kachelofen warm gehalten. 22 Kaffee steht auch am Bett der Wöchnerin. 23 Auf<br />

dem Kachelofen befindet sich oft das Essigfässchen aus graublauem Steinzeug,<br />

mit dem sich der benötigte Essig <strong>für</strong> die Lebensmittelkonservierung aus Apfel-<br />

most oder Weinresten selbst herstellen liess. 24 Gehenkelte Töpfe mit Ausguss<br />

stehen oft am Herd, 25 jedoch finden sich Szenen, in denen gekocht wird, nur<br />

ausnahmsweise. 26 Für die Aufbewahrung von flachen Schüsseln («Röschti-<br />

platte»), Tassen und Untertassen («härdigi Tassli mit Gaffeeplättli») oder sogar<br />

Mineralwasserflaschen aus Steinzeug in sekundärer Verwendung 27 dienen Teile<br />

der sehr einfachen Küchenschränke. 28 Aber auch in der Stube 29 oder der Kom-<br />

bination von Stube und Werkstatt, z.B. beim «Korbflechter» (1896) 30 oder beim<br />

«Schuster Feissli» von 1870, 31 finden sich über oder neben der Tür oder an der<br />

Stubenwand oft flache Regale, auf denen Untertassen mit auf den Kopf gestellten<br />

Tassen stehen. Dies gilt auch <strong>für</strong> die Darstellung des «Geltstags» (1891), auf<br />

dem auch zahlreiche zu versteigernde Röstiplatten, Schüsseln und ein Mostkrug<br />

aus Steinzeug erscheinen. 32 Die Menge an Kaffeegeschirr und das Vorkommen<br />

zahlreicher Röstiplatten entspricht den seeländischen Essgewohnheiten<br />

dieser Zeit. Gemeinsames Essen der ganzen Familie aus einer Schüssel galt als<br />

«unappetitlich». Küchen- wie Stubeninterieurs bleiben, wie die seltenen Szenen<br />

mit Waschschüsseln, 33 durchgängig dem einfachen, bäuerlich-ländlichen<br />

Milieu verbunden.<br />

Eine ganz ausserordentliche Geschirrzusammenstellung bieten die Bilder<br />

des «Quacksalbers» (1879 bzw. 1881). 34 Auf dem Tisch finden sich neben diversen<br />

Glasflaschen und einem Mörser ein ungewöhnlicher Topf, eine dickbauchige<br />

Flasche aus Steinzeug, ein Unterteller mit Münzen und eine Dose mit Stülpdeckelrand,<br />

auf der eine Tasse steht. In das Regal neben und über der Tür sind diverse<br />

Gefässe, u.a. Sirup-Röhrenkannen, d.h. typische Apothekenkeramik, aber<br />

auch gehenkelte Töpfe und Tassen sowie ein Pferde- bzw. Menschenschädel gestopft.<br />

Diese und eine damals mindestens hundert Jahre alte Glasflasche auf<br />

66 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Rotkäppchen, 1883, Öl auf Leinwand, 85,5 x 62 cm, Kat. Nr. 308<br />

[Ausschnitt]. – Privatbesitz.<br />

Albert Anker, Der Quacksalber II, 1881, Öl auf Leinwand, 72 x 87,5 cm, Kat. Nr.<br />

279. – Sammlung Christoph Blocher.<br />

Heege: Muestopf 67


dem Tisch stehen, wie der Bildtitel andeutet, vermutlich stellvertretend <strong>für</strong> die<br />

«Rückständigkeit» und die «Unwissenschaftlichkeit» der dörflichen «Apotheke».<br />

Auch auf Porträtgemälden oder porträtähnlichen Szenen dient Keramik der<br />

gesellschaftlichen Unterscheidung bzw. Charakterisierung. Das bürgerliche Interieur<br />

wird auf dem Knabenbildnis von Fritz Lüthy aus dem Jahr 1900 nicht<br />

nur durch das Spielzeug (Zinnsoldat, Spielzeugpferd), sondern vor allem auch<br />

durch die ungewöhnliche Kanne (Steingut oder Feinsteinzeug) auf dem Buffet<br />

im Hintergrund verdeutlicht. 35 Hinter dem erkennbar gut situierten, Stumpen<br />

rauchenden Kolonialwarenhändler Franz-Anton Zetter aus Solothurn steht sicher<br />

nicht von ungefähr ein chinesischer Ingwertopf aus Porzellan im Regal seines<br />

Geschäftes. 36 Und es ist bestimmt kein Zufall, dass im Bild «Lesendes Mädchen»<br />

(1883) auf dem kostbaren Glastisch ein polychromer, sechseckiger<br />

Blumentopf mit Zimmerpflanze steht37 und auch im Salon von Frau Munzinger-Hirt<br />

ein bunter Blumenübertopf vorhanden ist. 38 Dagegen finden sich im<br />

ländlichen Kontext auf den Fensterbrettern drinnen und draussen nur die seit<br />

dem 19. Jahrhundert typischen, auf unglasierten Untersetzern stehenden, konischen<br />

Blumentöpfe («Meiehäfeli») mit Geranien. 39<br />

Albert Anker war ein Ateliermaler. So wie er sich <strong>für</strong> die Gestaltung seiner<br />

Bilder Kinder und Alte aus Ins und Umgebung auswählte, die ihm Modell sassen,<br />

40 so wählte er auch bei der Darstellung der materiellen Kultur Objekte aus<br />

seinem eigenen Umfeld oder sogar aus seinem eigenen Haushalt. Zahlreiche<br />

Gegenstände aus Metall, Glas, Keramik oder Holz wurden auf diesem Wege zu<br />

lieb gewordene Requisiten, die noch heute in seinem Atelier stehen. Dabei handelt<br />

es sich nicht nur um Objekte, die auf seinen einfach-bäuerlichen Genreszenen<br />

zu sehen sind, sondern auch um solche, die auf seinen bürgerlichen und<br />

bäuerlichen Stillleben abgebildet sind. Aufgrund der im Ankerhaus in Ins überlieferten<br />

Gegenstände, Museumssammlungen und archäologischen Funde41 lässt<br />

sich erkennen, dass Anker «moderne» Stücke aus seinem Lebensumfeld wählte<br />

und diese in den folgenden Jahrzehnten immer wieder, manchmal nur gering<br />

variiert, mit grossem Realismus abbildete. So erscheinen einfarbig-rote oder<br />

spritzdekorierte und aufwändig bemalte Henkeltöpfe mit Ausguss bereits in seiner<br />

ersten Version der «Armensuppe» (1859) 42 , aber auch noch in einem Aquarell<br />

von 1907. 43 Dazwischen bevorzugte er seit 1865 (oft zusammen mit ein- und<br />

derselben blechernen Kaffeekanne abgebildet) ein einzelnes rotes, innen weisses<br />

Exemplar mit blauem Pfauenaugendekor, vermutlich aus Heimberger Produktion.<br />

44 Dieses malte er noch mindestens elfmal. 45 Zu einem ungewöhnlich<br />

grossen Suppentopf verwendete er dasselbe Dekor 1890 und 1893. 46 Bereits auf<br />

68 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Das erste Lächeln, 1885, Öl auf Leinwand, 62,5 x 46 cm,<br />

Kat. Nr. 330 [Ausschnitt]. – Musée d’art et d’histoire, Neuchâtel.<br />

Heege: Muestopf 69


Originale Steinzeugflasche aus dem Atelier des Künstlers. Abgebildet auf<br />

dem Bild «Der Quacksalber II». Foto Badri Redha, Archäologischer Dienst des<br />

Kantons Bern. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Steinzeugfässchen aus Oberdiessbach. Foto Badri Redha, Archäologischer<br />

Dienst des Kantons Bern. – Baumann / Zuber Haus Oberdiessbach<br />

70 BEZG N° 02/10


dem Bild von 1865 erscheint daneben ein Henkeltopf mit zeittypischem Längs-<br />

streifendekor, wie er auch auf einem vermutlich nach 1901 entstandenen Aqua-<br />

rell vorkommt. 47<br />

Noch wesentlich häufiger finden sich innen und aussen weiss engobierte und<br />

bunt bemalte Tassen und Untertassen, die seit den 1830er-/1840er-Jahren, vor<br />

allem aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vollständig dem Stilgeschmack<br />

einfacher Bevölkerungsschichten entsprachen. Ab 1860 sind sie oft<br />

nur Staffage im Wandregal, 48 in den Stillleben und zahlreichen Genreszenen gewinnen<br />

sie jedoch eine enorme Authentizität und Lebensdauer. 49 Warum Anker<br />

nur diese weissen Tassen und ganz selten auch einmal gelbe Exemplare malte,<br />

während andere, gleichzeitig produzierte Tassendekore in rot und beige unberücksichtigt<br />

blieben, entzieht sich unserer Kenntnis.<br />

Die dargestellten Essigfässchen aus kobaltblau bemaltem Steinzeug finden<br />

wie der Muestopf heute keine exakte Entsprechung im Ankerschen Haushalt<br />

mehr. Doch lässt sich aufgrund von Exemplaren aus Sammlungen ihre sehr realistische<br />

Darstellung sichern. Essigfässchen sind ein Produkt des 19. Jahrhunderts<br />

aus den Steinzeugtöpfereien im Elsass (Betschdorf) und im Schwarzwald<br />

(z.B. Oppenau). 50<br />

Fast fotorealistische Darstellungen finden sich auch <strong>für</strong> Geschirr aus industriell<br />

gefertigtem und aufwändig verziertem weissem oder rotem Steingut und<br />

Porzellan der bürgerlichen Stillleben, wie u.a. eine im Ankerhaus erhaltene Kaffeekanne<br />

mit Filter aus schwarzem Steingut belegt. 51 Die Kanne ist im Werk<br />

Septfontaines der Firma Villeroy&Boch gefertigt worden und erscheint dort in<br />

einem Verkaufskatalog des Jahres 1888. 52 Die Gefässform selbst, die sich in bunt<br />

bemaltem Steingut auch auf anderen Bildern Albert Ankers findet, 53 ist jedoch<br />

älter. Sie lässt sich bereits in einem Katalog der Steingutmanufaktur Schramberg<br />

D aus den 1830er-/1840er-Jahren unter der Bezeichnung «Caffee-Maschine»<br />

nachweisen. 54<br />

Den Käufern der Ankerschen Bilder aus dem gehobeneren Bürgertum der<br />

Region erschlossen sich die Inhalte der Bilder aus eigener Anschauung. Das<br />

Bild, das sie von sich selbst hatten, dasjenige des «kultivierten» Stadtbürgers,<br />

symbolisierten aufwändig gedeckte Teetische mit Likör oder Südwein, Gebäck<br />

und «Schmelzbrötli» (Madeleines), Silber- und Porzellangeschirr, Zuckerschalen<br />

aus damals hochmodernem Pressglas oder metallisch eloxierter Industrieware,<br />

«exotischen» Milchkännchen und Kaffee-Maschinen zur Filtrierung echten<br />

Bohnenkaffees. Diesem stand das Bild von den anderen, den einfacheren,<br />

ländlichen Menschen gegenüber, von denen man sich abgrenzen, deren Leben<br />

Heege: Muestopf 71


Albert Anker, Stillleben Kaffee, Öl auf Leinwand, 45 x59 cm, Kat. Nr. 248<br />

[Ausschnitt]. – Stiftung <strong>für</strong> Kunst, Kultur und <strong>Geschichte</strong>, Winterthur.<br />

72 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Frühstück: Reich, 1866, Öl auf Leinwand, 41 x53 cm, Kat. Nr. 103<br />

[Ausschnitt]. – Privatbesitz.<br />

Heege: Muestopf 73


und Arbeiten man aber auch romantisierend als bodenständig und «währschaft»<br />

betrachten konnte: Auf dem Holztisch die Blechkanne, der Milchtopf, eine einfache,<br />

aber bunte Tasse, Brot und vielleicht ein Salzfässchen sowie die Grundnahrungsmittel<br />

der ärmeren Bevölkerungsschichten der zweiten Hälfte des 19.<br />

Jahrhunderts: Kaffee, Kartoffeln und Käse. Dabei befand sich in der Kaffeekan ne<br />

oft wohl nur ein Kaffeeaufguss aus wenig Bohnenkaffee, verschnitten mit den<br />

verschiedensten Surrogaten, wie geröstete Gerste oder Cichorienwurzel (sog.<br />

«Päckli-Kaffee»). 55 Dabei entsprach dieses Bild der materiellen Haushaltsaus-<br />

stattung und Ernährungsgewohnheiten damals sicher nicht nur der bäuerlichen<br />

Bevölkerung des Seelandes, sondern auch der der städtischen Unterschichten,<br />

Handwerker und Tagelöhner, wie archäologische Bodenfunde, etwa aus Bern<br />

und Unterseen, zunehmend deutlich machen. 56<br />

Albert Anker erweist sich im Zusammenhang mit der Darstellung der materiellen<br />

Kultur also als eindeutiger Realist. In der Wahl seiner Themen hingegen<br />

– und das heisst vor allem in der Nichtberücksichtigung einer zunehmend industrialisierten,<br />

verstädterten Welt mit all ihren sozialen Problemen – erweist<br />

er sich als Romantiker, der mit seinen idealisierten, bodenständig-bäuerlichen<br />

Bildern den Wünschen seiner bürgerlichen Käuferschaft entsprach.<br />

74 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Frühstück: Arm, 1866, Öl auf Leinwand, 41 x 53 cm, Kat. Nr. 104<br />

[Ausschnitt]. – Privatbesitz.<br />

Drei Gegenstände aus dem Atelier des Malers, die wiederkehrend in seinen<br />

Werken vorkommen. Foto Badri Redha, Archäologischer Dienst des Kantons<br />

Bern. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Heege: Muestopf 75


Anmerkungen<br />

1 Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker 1831–1910. Werkkatalog der<br />

Gemälde und Ölstudien. Basel 1995 (Bei Verweisen auf Bilder aus dem Gesamtverzeichnis im<br />

Folgenden immer: K/B, Katalog-Nr). Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann,<br />

Marc: Albert Anker und Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Bern 2003; Bhattacharya-Stettler,<br />

Therese (Hrsg.): Albert Anker. Catalogue, Exposition Fondation Pierre Gianadda, Martigny<br />

2003–2004. Lausanne 2003.<br />

2 Aus den zahlreichen Veröffentlichungen seien herausgegriffen: Rytz, Albrecht: Der <strong>Berner</strong> Maler<br />

Albert Anker. Ein Lebensbild. Bern 1911; Friedli, Emanuel: Ins. Bärndütsch als Spiegel bernischen<br />

Volkstums, Bd. 4. Bern 1914 (mit berndeutschen Begriffen <strong>für</strong> Geschirr und Mobiliar); Kuthy,<br />

Sandor; Lüthy, Hans A.: Albert Anker. Zwei Autoren über einen Maler. Zürich 1980. Meister,<br />

Robert: Albert Anker und seine Welt: Briefe, Dokumente, Bilder. Gümligen 2000 (4., erw. Aufl.).<br />

3 Lüthy, Hans A.: Albert Anker. Aquarelle und Zeichnungen. Zürich 1989.<br />

4 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 26.<br />

5 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 40.<br />

6 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 300.<br />

7 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 103/104; Messerli, Isabelle: Kinderwelten unter Stroh- und<br />

Ziegeldächern. In: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Messerli, Isabelle (Hrsg.):<br />

Albert Anker – Schöne Welt. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2010 (im Druck).<br />

8 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 97, 237, 239, 356.<br />

9 Die Verwendung schwarzer, roter und weisser Grundengoben in Verbindung mit farbigen<br />

Malhorndekoren charakterisiert die Produktion der Töpfereiregion Heimberg/Steffisburg/Thun, ist<br />

zugleich aber ein zeittypisches Phänomen und wurde auch in anderen Töpferorten der Deutschschweiz<br />

gefertigt. Es wird daher der oben stehende Begriff verwendet. Zum Heimberger<br />

Geschirr vgl. Boschetti-Maradi, Adriano: Gefässkeramik und Hafnerei in der Frühen Neuzeit im<br />

Kanton Bern. Bern 2006 (Schriften des Bernischen Historischen Museums 8).<br />

10 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 206, 363, 510, 590; siehe dazu und zum Folgenden den Beitrag<br />

von François de Capitani in diesem Themenheft.<br />

11 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 142. Farbabb.: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 31.<br />

12 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 149 und 150.<br />

13 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 452. Farbabb.: ebenda, 120.<br />

14 Z. B. Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 149, 150, 236, 394, 483, 587.<br />

15 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 135–137, 156, 505, 512, 548. Farbabb.: Bhattacharya-Stettler<br />

(wie Anm. 1), Kat. 30.<br />

16 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 237, 239. Aquarelle von 1907 und 1908 vgl. Lüthy (wie Anm.<br />

3), 62 und Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 99.<br />

17 Eine Ausnahme ist die <strong>für</strong> Anker ungewöhnliche, 1888 datierte Kohlezeichnung mit einem bürgerlichen<br />

Familieninterieur: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 94.<br />

18 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 308 auch 34, 481.<br />

19 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 323; Lüthy (wie Anm. 3), 48.<br />

20 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 186. Farbabb.: Kuthy /Lüthy (wie Anm. 2), 75.<br />

21 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 263, 270. Farbabb.: Frehner/Bhattacharya-Stettler /Fehlmann<br />

Kat. 12, (wie Anm.1).<br />

22 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 469.<br />

76 BEZG N° 02/10


23 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 108. Farbabb.: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 38.<br />

24 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 330; auch 40, 319, 321, 394. Vgl. auch ein enstprechendes<br />

Aquarell von 1885: Kuthy /Lüthy (wie Anm. 2), 111.<br />

25 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 97, 335, 393, 546, 676. Farbabb.: Kuthy /Lüthy (wie Anm. 2),<br />

105. Auch: Lüthy (wie Anm. 3), 46.<br />

26 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 357.<br />

27 Vgl. Heege, Andreas: Steinzeug in der Schweiz (14.–20. Jh.). Ein Überblick über die Funde im<br />

Kanton Bern und den Stand der Forschung zu deutschem, französischem und englischem<br />

Steinzeug in der Schweiz. Bern 2009, 57–76.<br />

28 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 356, 362, 363. Aquarellstudie: Lüthy (wie Anm. 3), 125.<br />

29 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 40, 63, 506. Aquarell: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1),<br />

Kat. 75.<br />

30 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 520.<br />

31 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 140.<br />

32 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 461. Farbabb.: Kuthy /Lüthy (wie Anm. 2), 124.<br />

33 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 79, 378. Farbabb.: Kuthy /Lüthy (wie Anm. 2), 115.<br />

34 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 261 und 279. Farbabb.: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1),<br />

Kat. 54.<br />

35 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 581.<br />

36 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 499. Farbabb.: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 58.<br />

37 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 306. Farbabb.: Kuthy /Lüthy (wie Anm. 2), 100.<br />

38 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 526.<br />

39 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 94, 123, 315, 545. Farbabb.: Kuthy /Lüthy (wie Anm. 2), 62.<br />

Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 47.<br />

40 Vgl. hierzu: Friedli (wie Anm. 2), 384–386. Probst, Fritz: Albert Anker. Sein Dorf und seine<br />

Modelle. Basel 1954. Messerli, Isabelle: Albert Anker: sein Atelier – seine Requisiten – seine<br />

Modelle, in: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), 65–73.<br />

41 Zur bernischen Irdenware-Produktion ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, vgl. Roth-Rubi, Kathrin<br />

und Ernst; Schnyder, Rudolf; Egger, Heinz und Kristina: Chacheli us em Bode ... Der Kellerfund<br />

im Haus 315 in Nidfluh, Därstetten – ein Händlerdepot. Wimmis 2000. Boschetti-Maradi<br />

(wie Anm. 4). Boschetti-Maradi, Adriano: Geschirr <strong>für</strong> Stadt und Land. <strong>Berner</strong> Töpferei seit dem<br />

16. Jahrhundert. Bern 2007 (Glanzlichter aus dem Bernischen Historischen Museum, 19). Heege,<br />

Andreas: Bern, Engehaldenstrasse 4. Funde aus einer Latrinen- oder Abfallgrube des späten<br />

19. Jahrhunderts. In: Archäologie Bern 2008. Jahrbuch des Archäologischen Dienstes des<br />

Kantons Bern, 2008, 197–215, mit älterer Literatur.<br />

42 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 34.<br />

43 Farbabb.: Lüthy (wie Anm. 3), 62.<br />

44 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 97.<br />

45 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 538.<br />

46 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 452 und 481. Farbabb.: Kuthy /Lüthy (wie Anm. 2), 120 und<br />

129.<br />

47 Lüthy (wie Anm. 3), 48.<br />

Heege: Muestopf 77


48 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 40.<br />

49 Vgl. Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 104–1866, 142–1870 mit ebenda, 186 –1873;<br />

Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 483–1893 mit 537–1897.<br />

50 Vgl. Heege (wie Anm. 16), 53–54 und Abb. 2.<br />

51 «Terre de fer», Dekor ohne Bezeichnung, gegossenen, eisernen Teekannen aus Japan nachempfunden.<br />

Der Produktionsbeginn dieser Ware und dieses Gefässtyps in Septfontaines ist<br />

unbekannt, wird jedoch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angenommen. Freundlicher<br />

Hinweis Ulrich Linnemann, Hettenhain D; die Kanne ist abgebildet in: Messerli, Isabelle:<br />

Albert Anker: sein Atelier – seine Requisiten – seine Modelle. In: Bhattacharya-Stettler, Therese<br />

(Hrsg.): Albert Anker. Catalogue, Exposition Fondation Pierre Gianadda, Martigny 2003–2004.<br />

Lausanne 2003, 65−73, hier 69, dort auch weitere von Anker gemalte Objekte aus seinem<br />

Nachlass.<br />

52 Freundlicher Hinweis Ester Schneider, Keramikmuseum Mettlach.<br />

53 Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 1), 296. Vgl. auch Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 94.<br />

54 Unveröffentlicht, Kopie des Katalogs im Besitz des Verfassers.<br />

55 Zum Kaffee und der Ernährung der schweizerischen Werktätigen im 19. Jahrhundert,<br />

siehe: Rossfeld, Roman: Genuss und Nüchternheit. <strong>Geschichte</strong> des Kaffees in der Schweiz<br />

vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Baden 2002; siehe dazu den Beitrag von François<br />

de Capitani in diesem Themenheft.<br />

56 Verschiedene unveröffentlichte Fundkomplexe im Archiv des Archäologischen Dienstes des<br />

Kantons Bern.<br />

78 BEZG N° 02/10


Städtische Mode, ländliche Tradition<br />

Textilien bei Albert Anker<br />

Isabelle Messerli<br />

Anker arbeitete als Realist so nah wie möglich nach der Natur, das heisst nach<br />

dem lebenden Modell und dem realen Gegenstand, die er beim Malen oder Skiz-<br />

zieren vor sich sah. Er unterbrach zeitweilig eine angefangene Arbeit im Atelier,<br />

wenn eines seiner Modelle zur Schule musste oder wenn ein Alter beim Friseur<br />

war, weil dessen Haare nachgewachsen waren und er sie nicht unter einer Zipfelmütze<br />

verstecken wollte. Unglücklich war Anker, als er nach 25 Jahren zu<br />

wiederholtem Mal im Auftrag einen Gemeindeschreiber malen sollte und ihm<br />

da<strong>für</strong> der Inser Sattler mit seiner festen Adlernase und dem verschmitzten<br />

Fuchsgesicht nicht mehr als Modell zur Verfügung stand. 1 In seinem Heimatdorf<br />

Ins fand Anker die meisten Modelle, die er als Spielende, Strickende, Spinnende,<br />

Rauchende, Schreibende und Lesende darstellte. Sie treten – einzeln<br />

oder in Gruppen – in verschiedenen Rollen in seinen Genrekompositionen und<br />

Historiengemälden auf. Anker zeigt seine Modelle mehrheitlich in Innenräumen.<br />

Diese bereitete er in Skizzen und Ölstudien vor und bestückte sie in der<br />

endgültigen Fassung mit seinen bis ins Detail ausgearbeiteten Figuren und Gegenständen.<br />

Die ganze Familie Gugger aus Ins, im Dorf die Guggerchüfers genannt,<br />

waren aufgrund ihrer bodenständigen Art willkommene Ateliermodelle.<br />

Julie Gugger verkörperte die Pfahlbauerin, ihr Mann übernahm die Rolle eines<br />

Bourbakisoldaten oder nahm Stellung als Krieger in der «Kappeler Milchsuppe»<br />

ein. Sein Sohn stand in den «Länderkindern» Modell, die beiden Töchter Rosa<br />

und Bertha malte er wiederkehrend einzeln oder gemeinsam beim Lernen und<br />

Stricken. 2<br />

Farbe und Faden<br />

Welche Beziehung hatte Anker zur Mode und zu den Textilien? Betrachtet man<br />

Ankers gemalte Stofflichkeit, so kommt einem nahe, wie sehr sie bis ins Detail<br />

erfühlt und in ihrer Farbe erspäht ist. Als hätte der Meister den Pinsel mit Nadel<br />

und Faden ausgetauscht, als wäre er der Schneider selbst, malt er. Zum Arrangieren<br />

seiner Kompositionen brauchte er ein breites kulturelles und fachliches<br />

Wissen über die Themen seiner Bilder, die sich über eine lange Zeitspanne<br />

erstreckte: von der Pfahlbauerzeit, dem Neolithikum, über das klassische Altertum<br />

und das Mittelalter bis in Ankers Gegenwart. Beispiele von Ankers Suche<br />

nach geeigneten Kostümen finden sich in Briefen. So schrieb der Maler 1888<br />

an den Inspektor der <strong>Berner</strong> Kunstsammlung: «Ich bin so frei und wende mich<br />

an Sie zur Aushülfe. Ich möchte nämlich etwas sehen und erfahren über die<br />

Messerli: Textilien 79


Costume von der Zeit ungefähr des Burgunderkrieges. In Paris hätte ich selbst<br />

Material und auch Bibliotheken zur Disposition, während hier nichts ist. Ich<br />

nehme mir vor, eines Morgens bei Ihnen zu erscheinen um durchzuzeichnen,<br />

was Sie etwa besitzen. […] So nehme ich mir denn vor, Leute zu malen, wie sie<br />

vor der Reformation waren. Ich kann dabei gehen bis Holbein, allein etwas Archaisches<br />

wäre mir lieber.» 3 Anker suchte das historische Material in Kostümschriften,<br />

in Drucken alter Meister, in gemalten Werken, die er im Louvre und<br />

in anderen Museen fand, bei Fachpersonen oder Malern, die sich auch einen<br />

Fundus an Textilien – wie Anker selbst – angelegt hatten. Kostüme tauschte Anker<br />

beispielsweise mit seinem Schweizer Malerfreund August Bachelin, der sich<br />

auf Militaria spezialisiert hatte. Anker trieb <strong>für</strong> seinen Freud Soldatenkleider<br />

der Artillerie und Infanterie auf, und er lieh sich bei Bachelin ein schwarzes<br />

Kleid aus der Zeit des Louis XV <strong>für</strong> die Darstellung des kranken Lavaters. 4 Der<br />

Maler kannte auch unterschiedliche Techniken der Textilherstellung. Eindrücklich<br />

stellt er dies im Werk «Königin Bertha und die Spinnerinnen» unter Beweis.<br />

In diesem reifen Gemälde beschreibt Anker den richtigen Bewegungsablauf<br />

beim Spinnen, das Einüben dieser seit Urzeit überlieferten Technik und die Vielfalt<br />

des stofflich wahrnehmbaren Endproduktes. 5<br />

Kleider machen Leute<br />

Im 19. Jahrhundert war es das Bürgertum, das die Mode in Europa prägte, und<br />

ab der Mitte des Jahrhunderts begann man sich dabei zunehmend an Paris zu<br />

orientieren. 6 Wie zu allen Zeiten gab es wirtschaftlich-soziale Unterschiede, die<br />

bei Anker in seinen bäurischen und bürgerlichen Genres zum Ausdruck kommen.<br />

Anker lebte zwischen der Stadt und seinem Dorf in zwei gegensätzlichen<br />

Welten, und diese kommen in ihrer ganzen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen<br />

Spannbreite in den von ihm gemalten Textilien zum Ausdruck.<br />

In der Stadt trugen die Männer ab 1850 fast nur noch Schwarz und Weiss,<br />

was die politische und wirtschaftliche Macht symbolisierte. 7 Gestärkte weisse<br />

Hemdblusen und Krägen kamen in Mode. In dieser strengen, dunklen Robe<br />

lässt sich der gut betuchte Charles Alfred Hahn um 1869 von Anker porträtieren.<br />

8 Zwischen 1845 und 1869 trugen die städtischen Damen Krinolinen, Unterröcke<br />

mit einem Stahlreifengestell, das die Röcke überproportionierte. In einem<br />

solch übergrossen Rock lässt sich die zwanzigjährige Französin Marie<br />

Marguerite Ormond-Renet von Anker 1867 malen. Die Dame in tiefschwarzem<br />

Kleid vor rot aufgehelltem Hintergrund repräsentiert bürgerliche Tugenden einer<br />

Mittelstandfrau. Die modebewussten Frauen inszenierten sich durch ihre<br />

80 BEZG N° 02/10


Bildnis Caroline-Rose-Marguerite de Pury-de Muralt, 1859, Öl auf Leinwand,<br />

50,8x38 cm, Kat. Nr. 39 [Ausschnitt]. – Privatbesitz.<br />

Bildnis Marie Anker, 1881. Öl auf Leinwand, 81 x65 cm, Kat. Nr. 287.<br />

– Kunstmuseum Bern<br />

Schultasche Marie Anker, um 1880, Kalbsleder mit blauweiss gestreiftem<br />

Innenfutter, 23x30x5 cm, Inschrift: «Marie Anker / Rue de la grande<br />

Chaumière / Departement Seine Paris». – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Messerli: Textilien 81


Kleidung. Mitte des 19. Jahrhunderts waren auch grosse, verschwenderisch ge-<br />

arbeitete Spitzenschals sehr beliebt, die jetzt von der Maschinenindustrie zu er-<br />

schwinglichen Preisen hergestellt wurden. Anker malt 1859 die aus gehobenem<br />

Bürgertum stammende Caroline-Rose-Marguerite de Pury-de Muralt auf ihrer<br />

Terrasse in schulterfreier weisser Robe mit umgebundenem weitem, reich verziertem<br />

Spitzenschal. Diese Selbstdarstellungen waren Porträtaufträge von Persönlichkeiten,<br />

die es sich leisten konnten, einen Maler zu engagieren. 9<br />

Auf Ankers Darstellungen sind die Mitglieder seiner eigenen Familie in Gewänder<br />

des gehobenen Bürgertums gehüllt; nie hätte er seine Kinder in bäuerlichen<br />

Kleidern oder in einer Tracht abgebildet. Die Familien Ankers und seiner<br />

Frau gehörten seit Generationen zum konservativ-liberalen Bildungsbürgertum.<br />

Familienfotografien oder gemalte Werke zeugen von dieser Wirklichkeit. Anna<br />

und ihre Kinder tragen Pariser Mode, die massgebend war <strong>für</strong> die Damenmode<br />

in ganz Europa. In einem Halbfigurenporträt, das in feinsten, differenzierten<br />

Farbtönen von Weiss zu Gelb gehalten ist, malt Anker seine neunjährige Tochter<br />

Louise als selbstbewusste, grossstädtisch gekleidete junge Dame. Über einer<br />

weissen Bluse mit Spitzenkragen trägt sie eine weiche, samtgefütterte Jacke,<br />

deren weite Ärmel, der Kragen und die Knöpfe auch in schwarzem Samt gefasst<br />

sind. In der Hand hält sie einen zur Robe passenden Hut. Die Kleidung spiegelt<br />

hier ein soziales Verhalten, das besonders die Gründerjahre prägte: die Einführung<br />

einer Tochter aus gutbürgerlichem Hause in die Rolle, die sie in der herrschenden<br />

Ordnung jener Gesellschaft später einnehmen sollte. 10 Louise heiratete<br />

1884 den Papierfabrikanten Maximilian Oser in Basel.<br />

Auch seine zweite Tochter Marie hält Anker in Pariser Eleganz fest, in<br />

schwarzem Mantel, mit schleifengeschmücktem Hut und blauen Handschuhen.<br />

Er zeigt sie als Schulmädchen mit einer über die Schulter gehängten ledernen<br />

Schultasche. Diese Mappe ist noch im Original erhalten; öffnet man ihren Klappdeckel,<br />

so findet man in fein säuberlicher Handschrift die Besitzerin vermerkt:<br />

«Marie Anker / Rue de la grande Chaumière / Departement Seine Paris». 11 Marie<br />

heiratete 1892 den Musikprofessor Albert Quinche von Neuenburg.<br />

In Ankers Zeit waren die Mütter <strong>für</strong> die moralische und kulturelle Erziehung<br />

der Kinder zuständig. Ankers Frau Anna äusserte in einem Brief an ihren Mann<br />

ihre Besorgnis, dass die Inser Dorfkinder einen üblen Einfluss auf ihre Kinder<br />

ausübten. 12 Albert beruhigte sie und meinte, er kenne die Inser von Jugend auf,<br />

und die Pariser Kinder seinen nicht besser als jene. Der Maler selbst fühlte sich<br />

der ländlichen Bevölkerung sehr zugetan und mit ihr verbunden. Unter ihnen<br />

bewegte er sich im Habitus der Bescheidenheit. Wenn er im Sommer in Ins<br />

82 BEZG N° 02/10


Bildnis Louise Anker, 1874, Öl auf Leinwand, 80,5 x65 cm, Kat. Nr. 199.<br />

– Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten, Winterthur.<br />

Messerli: Textilien 83


Anna Ruefli, Foto um 1860 [Ausschnitt].<br />

– Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Magasin des Demoiselles, Journal mensuel, Laffitte Paris, 25. Oktober 1869,<br />

handkolorierte Grafik, 26x16,5 cm. – Privatbesitz.<br />

84 BEZG N° 02/10


hinausging, legte er seine schwarze, zylinderförmige Hausmütze ab und setzte<br />

gerne einen leichten Strohhut mit breiter Krempe auf, wie ihn die einheimi-<br />

schen Feldarbeiter trugen. 13 Einer dieser sogenannten Kreissägen hängt heute<br />

noch im Atelier über seiner Staffelei; sie wurde aus der «Chapellerie der Gebrü-<br />

der Schwab» in Ins gekauft. 14<br />

Geerbte Alltagshose: Kleidung auf dem Land<br />

Auf dem Lande folgte die Kleidung der Kinder und Erwachsenen auch noch im<br />

19. Jahrhundert den ganz eigenen Gesetzen der Agrarwirtschaft. Kinderkleider<br />

wurden meist aus abgelegten Kleidungsstücken der Eltern – ohne Rücksicht auf<br />

die Mode der Zeit – geschneidert und dann von den jüngeren Geschwistern aus-<br />

getragen. Wurde der Stoff fadenscheinig, flickte man sie oder setzte sie neu zu-<br />

sammen. Ausserdem konnten sich, je nach Stand, nicht alle Bauernfamilien<br />

Schuhe <strong>für</strong> ihre Kinder leisten. 15 In der Schweiz waren auf dem Land primär<br />

Leinen- und Wollstoffe in den Farben Weiss, Schwarz, Braun, Blau und Rot üb-<br />

lich. 16 Diese Farben herrschen in ausgewogener Tonalität in Ankers bäurischen<br />

Genredarstellungen vor. So trugen die Knaben oft Kleider aus braunen bis ocker-<br />

farbenen festen Stoffen, im Stil ähnlich geschnitten wie die Kleidung ihrer Väter.<br />

Diese getragenen Landkleidungen finden wir sowohl auf Ankers Bildern als<br />

auch auf Fotografien von Charles Famin, der als einer der ersten Fotografen das<br />

Leben auf dem Lande thematisierte. 17 Die Schulmädchen trugen Schürzen, «Fürtuch»<br />

(Vortuch) genannt, aus Leinen oder gestreifter Baumwolle. Ankers «Erdbeerimareili»<br />

von 1884, vom zehnjährigen Inser Mädchen Rosa Zesiger verkörpert,<br />

trägt eine zeitgemässe Landtracht: einen braunen Rock über einem<br />

weissen Leinenhemd, darüber liegt eine blauweiss gestreifte Schürze. 18<br />

Anker variierte seine Bildmotive mit Textilrequisiten, die er gesammelt hatte<br />

und in seinem Inser Atelier in zwei Kleiderschränken hinter einem Paravent<br />

aufbewahrte. Hier sind heute noch zahlreiche Textilien zu finden, welche auf<br />

Ankers Bildern zu entdecken sind. 19 Zur Hauptsache sind dies Accessoires:<br />

braune und schwarze Zipfelmützen <strong>für</strong> Bauern, schwarze Spitzhauben und<br />

Schals <strong>für</strong> Landfrauen, gestrickte Kleinkinderhauben in unterschiedlichen Mustern<br />

und Grössen, historische Hüte aus der Zeit Napoleons, z.B. ein Dreispitz,<br />

und Strohhüte <strong>für</strong> Kinder- und Erwachsene. Da hängen auch an selbst gefertigten<br />

Kleiderbügeln Mieder aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in blauen,<br />

schwarzen und braunen Farbtönen, daneben weisse Leinenhemden und dunkle<br />

Trachtenröcke. Zeitgemässe Kleider <strong>für</strong> Landkinder und Männertrachten fehlen<br />

hingegen; der Maler übernahm den Stil der Kleider seiner Modelle und<br />

Messerli: Textilien 85


Albert Anker mit Strohhut. Foto Ad. Burkhard, Biel, 1.6.1905 [Ausschnitt].<br />

– Privatbesitz.<br />

Strohhut mit hoher Kopfform und breiter Krempe. Schwarzes breites Zierband<br />

mit Schlaufe, Stempelinschrift: «CHAPELLERIE GEBR. SCHWAB INS-ANET».<br />

– Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

86 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Erdbeerimareili, 1884, Öl auf Leinwand, 82 x60 cm, Kat. Nr. 323.<br />

– Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne.<br />

Messerli: Textilien 87


Albert Anker, Junge Frau am Spinnrad, 1884, Öl auf Leinwand, 70,5 x53,5 cm.<br />

Kat. Nr. 321. – Privatbesitz.<br />

88 BEZG N° 02/10


passte sie farblich seinen Vorstellungen an. Stets brauchte er die fühlbare Nähe<br />

zu den Stoffen, damit er sie – gemäss seiner realistischen Anschauung – materialgerecht<br />

wiedergeben konnte. Es erstaunt deshalb nicht, dass nebst den vereinzelten<br />

ganzen Kleidungsstücken eine grosse Anzahl von unterschiedlichen<br />

Stoffstücken im Inser Haus aufbewahrt ist. In einem Brief spricht der Maler<br />

über Textilfarben und seine Bildvariationen: «Hiermit zeige ich Ihnen den richtigen<br />

Empfang der 100 Fr. an, als Bezahlung des Mädchens mit roserothem<br />

Rock, und danke Ihnen verbindlich da<strong>für</strong>. Dieser Rock hat mir so gut gefallen,<br />

dass ich ihn seither bei zwei anderen, ganz anderen Sujets angebracht habe. Die<br />

Farben der Kinderkleider sind vielfach erdfarben, die Mädchen haben <strong>für</strong> die<br />

Schule ein enormes Fürtuch, auf dem man die Tintenflecke nicht sehen soll.» 20<br />

Tradition und Moderne<br />

Die Schweiz als junger Bundesstaat entwickelte sich in der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts in einem noch nie da gewesenen Tempo, und die Folgen der<br />

Industrialisierung wurden von vielen Malern unterschiedlich wahrgenommen<br />

und dokumentiert. Begrenzt auf ihr regionales Umfeld malten Ankers Zeitgenossen,<br />

wie Raphael Ritz, Benjamin Vautier, Ernest Bièler, Max Buri oder in<br />

den Anfängen auch Ferdinand Hodler, die Leute und ihre Sitten in ihren Eigenheiten<br />

und Traditionen. 21<br />

Die Tracht, das Gewand des Bauernstandes, war Ausdruck <strong>für</strong> eine dörflichbäuerliche<br />

Lebensgemeinschaft, die in ihrer Lebensweise durch die Verstädterung<br />

und Modernisierung bedroht wurde. Das Bewahren der Traditionen war<br />

auch eine Reaktion auf die Folgen der Industrialisierung, die durch billige Fabrikgüter<br />

die Handarbeit verdrängte. 22 Das sanfte, beruhigende Surren der<br />

Spinnräder verstummte allmählich. Die Allerweltsmode drang auch aufs Land,<br />

die jungen Generationen fingen an, sich modisch zu kleiden. Das Ende des 19.<br />

Jahrhunderts brachte den Niedergang der Tracht. 23 In Ankers letztem, durch<br />

seinen Schlaganfall nicht vollendeten Gemälde von 1901 kommen die Konfirmandinnen<br />

von Müntschemier unterschiedlich gekleidet daher: während die einen<br />

noch die traditionelle Landtracht tragen, haben sich andere ihrer Mieder,<br />

Göller und Schürzen entledigt und sich der zeitgemässen Mode zugewandt. Damit<br />

bringt Anker im hohen Alter von 70 Jahren zum ersten Mal überhaupt die<br />

gegensätzlichen Kleidungsstile der Tradition und der Mode auf ein und demselben<br />

Bild zur Darstellung. Er legt damit Zeugnis ab <strong>für</strong> das zunehmende Eindringen<br />

der städtischen Modeströmungen auf das Land. 24<br />

Anker aquarellierte in seinem Inser Atelier bis kurz vor seinem Tod Szenen<br />

Messerli: Textilien 89


Albert Anker, Die Konfirmandinnen von Müntschemier, 1901, Öl auf Leinwand,<br />

86x131 cm, Kat. Nr. 584. Foto Isabelle Messerli. – Gemeinde Ins.<br />

90 BEZG N° 02/10


des Spinnens. Sie zeugen von seiner Auseinandersetzung mit der Vergänglich-<br />

keit und mit dem Dahinschwinden des handwerklichen Könnens. In seinem To-<br />

desjahr 1910 schrieb der Maler mit leisem Humor: «[…] die armen Spinnerin-<br />

nen, sie werden jetzt selten, die jungen Mädchen werden bald nicht mehr wissen,<br />

was ein Rad ist, sie werden es <strong>für</strong> ein verfehltes Velo ansehen.» 25<br />

Anmerkungen<br />

1 Brief von Albert Anker an Herrn Bohni, 22. März 1903. In: Meister, Robert: Albert Anker<br />

und seine Welt. Briefe, Dokumente, Bilder. Bern 2000 (4., erw. Aufl.), 77.<br />

2 Probst, Fritz: Albert Anker, sein Dorf und seine Modelle. Basel 1954, 22.<br />

3 Brief von Anker an Chr. Bühler, Inspektor der <strong>Berner</strong> Kunstsammlungen, 8.9.1888.<br />

In: Meister (wie Anm. 1), 100.<br />

4 Meister (wie Anm. 1), 86.<br />

5 Messerli, Isabelle: Im Blickpunkt. Königin Bertha und die Spinnerinnen von Albert Anker.<br />

In: Kunst und Architektur in der Schweiz, 2006, Heft 4, 58ff.<br />

6 Weber-Kellermann, Ingeborg: Der Kinder neue Kleider. Zweihundert Jahre deutsche<br />

Kindermoden. Frankfurt a.M. 1985.<br />

7 Kleider machen Leute. Kunst, Kostüme und Mode von 1700 bis 1940. Seedamm Kulturzentrum,<br />

Ausstellungskatalog. Pfäffikon 2000, 111f.<br />

8 Abbildung in: Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker 1831–1910. Werkkatalog<br />

der Gemälde und Ölstudien. Catalogue raisonné des oeuvres à l’huile (Hrsg. Kunstmuseum<br />

Bern). Basel 1995, Kat. Nr. 131.<br />

9 Vgl. dazu auch: Fehlmann, Marc: «La pierre de touche des créations parfaites». Albert Ankers<br />

Porträtkunst im Spiegel der französischen Malerei. In: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler,<br />

Therese; Fehlmann, Marc (Hrsg.): Albert Anker und Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit.<br />

Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2003, 113–136.<br />

10 Vgl. dazu: Weber-Kellermann (wie Anm. 6), 61ff.<br />

11 Messerli, Isabelle: Inventar Textil, Stiftung Albert Anker-Haus, 2009 (unveröffentl. Manuskript),<br />

Nr. 23.<br />

12 Siehe zum Leben Anna Ankers: Meister, Robert: Aus dem Leben von Anna Anker-Rüfly<br />

(1835–1917). In: Bieler Tagblatt, Beilage, April 1989, 5.<br />

13 Anker zeigt in einer seltenen Ölskizze die Inser Bauern im Grossen Moos bei der Kartoffelernte.<br />

Die Frauen tragen Kopftücher, die Männer Strohhüte: «Kartoffelernte bei Ins»,<br />

Kuthy/ Bhattacharya (wie Anm. 8), 215, Kat. Nr. 482.<br />

14 Messerli (wie Anm. 11), Inv. Nr. 93.<br />

15 Littmann, Brigit: Kleider machen Kinder. 200 Jahre Kinderkleidung und Kindermode in der<br />

Schweiz. In: Hugger, Paul (Hrsg.): Kind sein in der Schweiz. Eine Kulturgeschichte der frühen<br />

Jahre. Basel 1998, 371ff.<br />

16 Karbacher, Ursula: Die Tracht im Kopf. Zur <strong>Geschichte</strong> der Tracht als Idee. In: Kleider machen<br />

Leute (wie Anm. 7), 55ff.<br />

17 Vgl. dazu Abbildungen in: Frehner / Bhattacharya-Stettler / Fehlmann (wie Anm. 9), 200ff.<br />

18 Vgl. dazu: Karbacher (wie Anm. 16), 58.<br />

Messerli: Textilien 91


19 Es wurden 102 Textilien und Lots in den Jahren 2008 und 2009 inventarisiert und fotografiert.<br />

Messerli (wie Anm. 11).<br />

20 Brief Ankers an Herr Bohni, 5. September 1905. Meister (wie Anm. 1), 176.<br />

21 Zu den Genredarstellungen im 19. Jahrhundert siehe: Klemm, Christian (Hrsg.):<br />

Von Anker bis Zünd. Die Kunst im jungen Bundesstaat 1848–1900. Zürich 1998.<br />

22 Siehe dazu: Schürch, Lotti; Witzig, Louise: Trachten der Schweiz. Basel 1984, 15.<br />

23 Siehe dazu: Bernische Vereinigung <strong>für</strong> Tracht und Heimat (Hrsg.): Die <strong>Berner</strong> Trachten.<br />

Vieux costumes du canton de Berne. Thun 1973, 59.<br />

24 Siehe zur Entwicklung der Konfirmationskleidung im 20. Jahrhundert: Minder, Aline:<br />

Vom Spitzenkragen zur Jeansjacke – Konfirmationskleidung in Rüeggisberg 1931–1994.<br />

In: <strong>Berner</strong> <strong>Zeitschrift</strong> <strong>für</strong> <strong>Geschichte</strong>, 71 (2009), Heft 2, 1– 47.<br />

25 Briefzitat aus: Zbinden, Hans: Anker in neuer Sicht. Bern 1961, 81.<br />

92 BEZG N° 02/10


«Wenn es sich ums Menschenherz<br />

handelt, kann ja leider oft von Bschüttifass<br />

die Rede sein»<br />

Wie Albert Anker Gotthelf las und wie er ihn illustrierte<br />

Christian von Zimmermann<br />

Albert Ankers Illustrationen <strong>für</strong> die grossformatige, von Otto Sutermeister herausgegebene<br />

Gesamtausgabe der Werke von Jeremias Gotthelf1 sind Auftragsarbeiten,<br />

die Anker offensichtlich zunächst ungern und schliesslich wohl wegen<br />

der Einkünfte übernommen hat. Der Verleger Friedrich Zahn (1857–1919), dessen<br />

Verlag in La Chaux-de-Fonds ansässig war, strebte offensichtlich eine populäre,<br />

ebenso billige wie repräsentativ erscheinende Volksausgabe der Werke<br />

von Gotthelf an, die als Nationale illustrierte Prachtausgabe (AWIP) bezeichnet<br />

wurde und in neun Bänden eine Werkauswahl enthält. Auf Fragen der Textphilologie<br />

wurde dabei kaum oder gar nicht geachtet. In einem Überblick über ältere<br />

Gotthelf-Editionen stellt Alfred Reber fest: «Die Texte sind […] gekürzt:<br />

Längere Betrachtungen werden weggelassen oder z.T. massiv gekürzt.» 2 Sosehr<br />

die Ausgabe dank der Illustrationen das Bild Gotthelfs in der Schweiz seinerzeit<br />

geprägt hat, so kann von einer Lektüre der Texte in dieser Fassung nur abgeraten<br />

werden. Als Popularausgabe kam nur ein gezähmter Gotthelf in Frage, 3<br />

und an dieser Bezähmung hatten die Illustratoren einen nicht geringen Anteil.<br />

Interessant ist in diesem Zusammenhang aber tatsächlich die auch von Alfred<br />

Reber aufgezeigte Wertschätzung <strong>für</strong> Werke Gotthelfs, die über drei Jahrzehnte<br />

in Auswahlausgaben regelmässig übergangen wurden: Bauern-Spiegel, Geltstag,<br />

Die Käserei in der Vehfreude.<br />

Es ging im Verlag von Friedrich Zahn nicht um einen originalen Gotthelf.<br />

Vielmehr sollte die auf offenbar nicht zu wertvollem Papier gedruckte, aber mit<br />

Goldschnitt versehene und repräsentativ im Geschmack des späten 19. Jahrhunderts<br />

eingebundene Ausgabe durch den Namen des Autors und die Namen<br />

der Illustratoren ein nationales Denkmal werden4 und beim Lesepublikum erfolgreich<br />

sein. Neben Anker waren als Illustratoren Hans Bachmann, Charles-<br />

Louis Eugène Burnand, Karl Gehri, Léo Paul Robert (mit seiner bekannten Darstellung<br />

des «grünen Jägers» in der Schwarzen Spinne), Benjamin Vautier und<br />

Walter Vigier an der Edition beteiligt. Dass Anker diese Arbeit nicht am Herzen<br />

lag, er sie vielmehr als eine lästige Nebenarbeit ansah, bezeugen Briefe, in denen<br />

er sich etwa erleichtert äussert, er habe «die unglücklichen Zeichnungen<br />

von Jeremias beendet und abgeliefert» (an de Meuron, 9. August 1892). 5 An Bundesrat<br />

Carl Schenk schrieb er ähnlich, die Arbeit sei ihm schwergefallen, ihm<br />

fehle die Begabung zum Illustrator (30. August 1892). Dabei freilich verbeugt<br />

Zimmermann: Gotthelf 93


sich Anker vor Jeremias Gotthelf und <strong>für</strong>chtet die Blamage, mit seinen Illustra-<br />

tionen dessen Erzählkunst nicht zu genügen. 6 In ähnlicher Weise lauten weitere<br />

Briefstellen. Dennoch liess sich Anker erneut zu Gotthelf-Illustrationen drängen.<br />

In einer kürzlich erschienenen Studie mit dem nicht untreffenden Titel Albert<br />

Ankers Babylonische Gefangenschaft hat sich Marc Fehlmann ausführlich<br />

den Anker-Arbeiten zur Gotthelf-Ausgabe bei Zahn gewidmet; 7 meine eigenen<br />

Ausführungen können dies nur um einige Bemerkungen ergänzen, denn babylonisch<br />

erscheint an der Beziehung zwischen Anker und Gotthelf nicht zuletzt,<br />

dass beide einfach nicht die gleiche Sprache sprachen.<br />

Eine Auftragsarbeit. Gewiss. Aber immerhin ist bemerkenswert, dass sich<br />

Anker gerade um solche Werke bemühte, die lange nicht in der Gunst der Verleger<br />

und Leser standen, wie eben besonders Die Käserei in der Vehfreude. Dabei<br />

könnte <strong>für</strong> die Wahl durchaus ein eigenes Interesse Ankers an einem kantigen<br />

Gotthelf leitend gewesen sein und nicht nur die straff organisierende Hand<br />

des Verlegers Zahn. Am Beispiel der recht derben Alkoholwarnschrift Wie fünf<br />

Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen konnte Robert Meister bereits<br />

aufzeigen, dass sich Anker der Problematik der Sprache Gotthelfs8 durchaus bewusst<br />

war. Anker schätzte die Erzählung ausserordentlich, da sich in ihr die<br />

derbe, drastische Darstellung des Alkoholismus der Mädchen mit einem ernsten<br />

sittlichen Anliegen verband, das <strong>für</strong> ihn auch die Drastik legitimierte. In einem<br />

kleinen Briefwechsel mit der Pfarrerstochter Julia Hürner aus Wimmis<br />

wollte Anker aber dennoch auch eine Stimme der jüngeren Generation hören<br />

und vielleicht auch gerade die Stimme einer jungen Frau im Alter der Branntweinmädchen.<br />

In einem Brief bat er sie um ein Urteil über die Erzählung. «Ich<br />

glaube, die heutige Welt habe ein richtigeres ästhetisches Fühlen als vor 30 Jahren,<br />

wo man über etliche derbe Brocken erschrak und nicht würdigen konnte<br />

die Macht, die Erfindung, den Ernst, die Originalität eines solchen Werkes.»<br />

(Herbst 1892) 9 Die Briefpartnerin ist so freundlich, dem «verehrte[n] Herr[n]»<br />

seine Ansicht über die Erzählung zu bestätigen, möchte dies aber nicht als repräsentativ<br />

<strong>für</strong> ihre Generation verstanden wissen. 10 Wichtig ist zu sehen, dass<br />

Anker in seiner Anfrage die Antwort der Korrespondentin schon vorwegnimmt.<br />

Da<strong>für</strong>, dass umgekehrt sich Anker bemüht habe, «möglichst adäquat dem Verständnis<br />

junger Menschen entsprechend Illustrationsvorlagen zu entwerfen», 11<br />

findet sich dagegen in den Briefen kein Anhaltspunkt (und auch an den Illustrationen<br />

lässt sich eine solche Tendenz, die ja als ein Abweichen von bisherigen<br />

künstlerischen Prinzipien erkennbar sein müsste, nicht nachvollziehen). Eher<br />

lässt sich Anker sein eigenes Urteil bestätigen. Einige Monate später wendet<br />

94 BEZG N° 02/10


sich Anker nochmals an Julia Hürner, um ihr das Urteil eines Arztes mitzuteilen,<br />

den er ebenfalls um seine Meinung gebeten hatte: «Ich habe das Buch vom<br />

Branntwein einem Arzt gegeben, und er hat ein Urteil gefällt, das ich ihnen mitteilen<br />

muss. Er sagte, als er ohngefähr in der Mitte war: ‹jetzt wäre bald genug<br />

im Bschüttifass umgerührt!› Dies ist auch ein Standpunkt, aber, wie mir scheint,<br />

ein philisterhafter von Leuten, die bald sagen: fi quelle horreur! Wenn es sich<br />

ums Menschenherz handelt, kann ja leider oft von Bschüttifass die Rede sein,<br />

aber der Stoff kann dennoch interessant und poetisch sein, wenn die Idee des<br />

Gewissens oder eines verlorenen Paradieses da ist. Das sind ästhetische Fragen,<br />

die sich discutieren liessen.» 12<br />

Über diese ästhetischen Fragen wäre freilich in mancherlei Hinsicht zu diskutieren,<br />

denn an der Briefstelle ist vor allem eines irritierend: Offenbar gesteht<br />

Anker der Sprache und dem narrativen Text mehr «Bschüttifass»-Rhetorik zu,<br />

als er je in eigenen darstellenden Werken gebraucht hätte. Selbst die Illustrationen<br />

zur Erzählung über die Branntweinmädchen wirken eher harmonisierend,<br />

und die einzige deutliche Abweichung hiervon – der grausige Leichenfund «Es<br />

war Stüdeli, sein kudrig Kind am Herzen» (AWIP, Wie fünf Mädchen zu 41) –<br />

oder allenfalls die Szene «Der Vater wusste sich gar nicht zu fassen vor Zorn»<br />

(AWIP, Wie fünf Mädchen 43) – zeigen, dass Anker die drastisch-dramatischen<br />

Szenen nicht zu bewältigen wusste. Sein Feld waren eher die stillen idyllischen<br />

Szenen, Stillleben, Charakterstudien und folkloristisch-ländliche Typendarstellungen.<br />

Hier aber besteht auch ein grundlegendes Problem der Illustrierung von<br />

Gotthelfs Texten. Heute noch beeindruckend ist ja nicht zuletzt die sozialpsychologische<br />

Ebene der Darstellung von Figurenkonstellationen, die Darstellung<br />

der inneren psychischen Struktur der Figuren in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung.<br />

Dagegen arbeitet Gotthelf weniger mit der Physiognomie der Figuren<br />

oder mit ihrem äusseren Erscheinungsbild, wenn er nicht explizit etwa einen<br />

Modegecken zeichnen möchte. Für einen Künstler, dessen Stärken aber gerade<br />

in der Physiognomie und in der folkloristischen Heimatdarstellung liegen, muss<br />

dies Probleme bereiten, denn er steht vor der Aufgabe, die sozialpsychische Dynamik<br />

eben im Äusseren anschaulich zu machen.<br />

Der Unterschied zeigt sich bereits bei der Behandlung der Kleidung. Für<br />

Gotthelf trägt ein Bauer, was ein Bauer eben trägt. Er muss seinen Lesern nicht<br />

– wie dies Heimatromanautoren wie Meinrad Lienert im 20. Jahrhundert dann<br />

machen werden – bäuerliche Tracht beschreibend vergegenwärtigen. Anker dagegen<br />

bemüht sich um eine historische Korrektheit der Tracht. Dabei ist er offenbar<br />

so präzis, dass der «Jodlerclub Bärgbrünneli Liesberg» in der Beschrei-<br />

Zimmermann: Gotthelf 95


Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Wie fünf Mädchen im Branntwein<br />

jämmerlich umkommen. Untertitel: «Es war Stüdeli, sein kudrig Kind am<br />

Herzen». Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896–1904, 41.<br />

96 BEZG N° 02/10


ung der eigenen Trachten, zu der eine «Gotthelftracht» gehört, betont, dass<br />

diese nach den Gotthelf-Illustrationen von Anker erstellt worden sei. 13 Die Ge-<br />

nauigkeit in der historischen Kostümierung hat aber eine wichtige Wirkung:<br />

Sie behandelt das Dargestellte aus volkskundlicher – oder schon folkloristischer<br />

– Distanz; 14 eine solche Sichtweise ist Gotthelf dagegen fremd, ja, sie erschiene<br />

ihm gewiss als unangemessen, denn sein Anliegen war es ja gerade auch in der<br />

sprachlichen Derbheit aus der Mitte derjenigen heraus zu schreiben, die er als<br />

Adressaten seiner Werke anvisierte, und er tat dies, obwohl ihm die <strong>für</strong> einen<br />

Pfarrer und Volksschriftsteller ungewöhnliche Distanzlosigkeit immer wieder<br />

vorgeworfen wurde. Die Derbheit ist Teil dessen, was Gotthelf im Blick auf seinen<br />

auf ein konkretes Publikum zielenden Stil als «Lebenssprache» bezeichnet.<br />

15 Für das späte 19. Jahrhundert war Gotthelf aber längst zu einem Heimatgut<br />

geworden, zu einem Teil bernischer oder schweizerischer Identität und<br />

Tradition.<br />

Der Verleger immerhin schien mit der Arbeit Ankers überwiegend zufrieden<br />

zu sein, 16 und manche späteren Kritiker wie Rudolf von Tavel stellen gar Jeremias<br />

Gotthelf und Albert Anker in Rang und Bedeutung einträchtig nebeneinander.<br />

17 Gerade die Gotthelf-Illustrationen wären von einer solchen Wertschätzung<br />

eher auszunehmen. Der Anteil derjenigen Illustrationen, die ohne weiteres<br />

als Auftragsillustrationen zu erkennen sind, ist nicht unbeträchtlich, wenngleich<br />

einzelne Stücke diese Ebene durchaus übersteigen. Der bedeutende Druck, den<br />

der Verleger auf Anker ausgeübt haben muss, macht verständlich, dass nicht<br />

jede Zeichnung ihren eigenen Charakter hat. Mitunter greift Anker zur Selbstkopie<br />

und zur seriellen Darstellung. Die Selbstkopie ist besonders dort auffällig,<br />

wo aus Bildern, die in einem ganz anderen Kontext entstanden sind, nun<br />

scheinbar passende Illustrationen zu Gotthelfs Texten werden. Fast zwanzig<br />

Jahre vor dem Illustrationsauftrag beschäftigte sich Anker in seinem Ölgemälde<br />

Der Zinstag wohl mit der Abgabenpflicht der Bauern bei der Juragewässerkorrektion,<br />

mit der 1868 begonnen worden war. 18 Ein Seeländer Bauer leistet hier<br />

Münze um Münze auf den Tisch zählend einen Beitrag. Die Situation ist vielschichtig<br />

gestaltet. Der zahlende Bauer ist mit ernstem Gesicht im Profil in den<br />

Vordergrund gerückt. Ein strenger Amtmann verfolgt die Zahlung und nimmt<br />

das Ergebnis zu Protokoll. Auf der rechten Seite wird durch drei Figuren unterschiedlichen<br />

Geschlechts, die wohlwollend auf den Bauern blicken, vielleicht<br />

die soziale Gemeinschaft angedeutet. Anker bringt – folgt man dieser Deutung<br />

– auf diese Weise den Bauern, der seinen hart erwirtschafteten Gewinn abgibt,<br />

und die Gemeinschaft, die von dem Projekt profitieren wird, – also Individual-<br />

Zimmermann: Gotthelf 97


Albert Anker, Der Zinstag, Öl auf Leinwand, 1871, 80,5x117 cm, Kat. Nr. 151.<br />

– Privatbesitz.<br />

98 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Die Käserei in der Vehfreude, mit<br />

Untertitel: «Sie wissen nicht, wie es dem Bauer ist auf einem mageren Höfli,<br />

wo er Zinse haben muss». Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896–1904, 11.<br />

Zimmermann: Gotthelf 99


interesse und Gemeinwohl – in ein Bild. Diese letztlich harmonisierende Dar-<br />

stellung wird nun zur Illustration <strong>für</strong> die Rede eines alten Grossbauern, der Mit-<br />

leid mit dem armen Bäuerlein zeigt, das nun <strong>für</strong> ein Schulhaus einen Taler<br />

geben soll (AWIP, Käserei zu 11). Das Mitleid ist freilich geheuchelt, denn ei-<br />

gentlich hat der Grossbauer nur Angst, dass ihm sein eigener Gewinn entgeht,<br />

da der Bauer auch ihm zu Abgaben verpflichtet ist. Ankers Bild zeigt nun nicht<br />

eine parallele Situation, die in einem motivischen Paradigma austauschbar erscheinen<br />

könnte, vielmehr konterkariert das ältere Bild nun die Szene bei Gotthelf19<br />

und ist ja auch gar nicht <strong>für</strong> diesen Zusammenhang entstanden. Dies gilt,<br />

wie schon Marc Fehlmann betont, <strong>für</strong> sämtliche Gemälde als Vorlagen, da Anker<br />

hier im Gegensatz zu den eigens <strong>für</strong> die Illustrierung angefertigten Zeichnungen<br />

eben auf bereits erarbeitete Bilder aus anderen Werkkontexten zurück-<br />

griff. 20<br />

Serialität betrifft insbesondere die Gestaltung von Nebenfiguren. Eine solche<br />

Serie könnte unter dem Leitmotiv «Alter Mann mit Pfeife» gefasst werden.<br />

Die entsprechenden Illustrationen finden sich im Band Die Käserei in der Vehfreude.<br />

Sorgfältig ausgeführt ist das Motiv in der Illustration «Ein alter Mann<br />

mit grauen Haaren und viel Erfahrung» (AWIP, Käserei zu 126). Marc Fehlmann<br />

hat darauf hingewiesen, dass dieses Bild im Kontext von Albert Ankers «zu jeweils<br />

Fr. 100.– verkauften Aquarellen mit Typendarstellungen der ländlichen Bevölkerung»<br />

zu sehen ist. Typisierung der Darstellung und Serialität der Produktion<br />

sind hier also in einem breiteren Kontext zu sehen. Im Buch selbst zeigt<br />

sich die serielle Wiederholung dieses Motivs (AWIP, Käserei zu 181/182). Stereotyp<br />

gezeichnet sind auch die beiden Porträts alter Männer «Dem Alten that die<br />

Zärtlichkeit gar wohl …» (AWIP, Wie fünf Mädchen zu 49) und «Da sagte einmal<br />

der Bauer: ‹Bub, es dünkt mich, du solltest was verdienen›» (AWIP, Der Besenbinder<br />

zu 371). Das eindrucksvoll-füllige Gesicht des Brautwerbers Michel (AWIP,<br />

Michels Brautschau) entspricht ebenfalls einem Bauernschädel, den Anker der<br />

Käserei in der Vehfreude beifügte (AWIP, Käserei 11, «Ein Ausgeschosse ner»).<br />

Gerade wenn man diese Illustrationen mit den szenisch sehr beredten Wirts-<br />

haus- und Gemeindeversammlungsszenen vergleicht, die Anker auch anfertigte,<br />

oder mit einzelnen sehr gelungenen Porträts wie dem «Mani im Galgenmösli»<br />

(AWIP, Käserei zu 56), fällt umso mehr die stereotype Zeichnung der Alten auf,<br />

die auch gegenüber den lebendiger agierenden Jungen vor allem bedächtig und<br />

passiv, ja, in vielen Porträts geradezu apathisch wirken. Was <strong>für</strong> einem Bild des<br />

Alters folgt nun aber diese stereotype Darstellung? Sind das noch die Alten von<br />

Jeremias Gotthelf, 21 die als Sittenlehrer die guten Traditionen an die Generation<br />

100 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Pfeife rauchender Bauer I, Illustration in: Jeremias Gotthelf,<br />

Die Käserei in der Vehfreude. Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896 –1904, 181.<br />

Albert Anker, Pfeife rauchender Bauer II, Illustration in: Jeremias Gotthelf,<br />

Die Käserei in der Vehfreude. Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896–1904, 182.<br />

Zimmermann: Gotthelf 101


Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Wie fünf Mädchen im Branntwein<br />

jämmerlich umkommen. Untertitel: «Dem Alten that die Zärtlichkeit gar<br />

wohl […]». Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896–1904, 49.<br />

Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Der Besenbinder von Rychiswyl.<br />

Untertitel: «Da sagt einmal der Bauer: Bub, es dünkt mich, du solltest was<br />

verdienen».Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896 –1904, 377.<br />

Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Die Käserei in der Vehfreude.<br />

Untertitel: «Ein Ausgeschossener». Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds<br />

1896–1904, 183.<br />

Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Dursli der Branntweinsäufer.<br />

Untertitel: «Schnepf». Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896–1904, 287.<br />

102 BEZG N° 02/10


der Enkel weitertragen helfen? Oder ist der sittenstarke alte Herr, der – wie in<br />

Der Sonntag des Grossvaters – zwar in beschaulicher Umgebung, aber doch mit<br />

Nachdruck die Angelegenheiten des ganzen Hauses noch vom Sterbebett aus<br />

regelt, einem betulichen Alter gewichen, das eigentlich schon abgedankt hat?<br />

Sicher mag hier eine subjektive Wertung einfliessen, aber in der Illustration<br />

«Ein alter Mann mit grauen Haaren und viel Erfahrung», die den schmauchenden<br />

Alten in der Mussestunde zeigt, wird man schwerlich den Mann erkennen,<br />

der im Text an der Gemeindeversammlung das mahnende Wort führt, der als<br />

reifer Mann geachtet eine ausserordentlich lange Rede hält und am Ende tatkräftig<br />

an seine Arbeit zurückgeht.<br />

Stereotypisierungen prägen selbstverständlich auch Gotthelfs Texte. Bestimmte<br />

Figuren erscheinen zwischen den Texten nahezu austauschbar. Dies<br />

gilt wiederum besonders <strong>für</strong> die Grossmütter und Grossväter, <strong>für</strong> die gesetzten<br />

noch tatkräftigen Alten, welche vor dem Hintergrund von Lebenserfahrung und<br />

Lebensarbeit den Jungen ins Gewissen reden. Die Grossmutter Käthi, 22 Jacobs<br />

Grossmutter23 oder die Grossmutter, die den Kindern die Legende von dem guten<br />

Margrithli24 erzählt, haben kaum eigene Konturen. Es handelt sich um Figuren,<br />

die weitgehend in ihrer Funktion <strong>für</strong> die Didaktik der Narration aufgehen.<br />

Es handelt sich also eher um einen Stereotypenwandel zwischen Gotthelfs<br />

Text und Ankers Illustrationen als um die Verdeckung einer komplexer angelegten<br />

Figurengestaltung im narrativen Text durch vereinfachende Illustrierung.<br />

Der Stereotypenwandel, der sich hier in der Auffassung des Alters vollzieht,<br />

könnte gedeutet werden als Wandel von einem aktiven zu einem passiven Alter.<br />

Während bei Gotthelf in einer idealisierenden (da sozialhistorisch gesehen immer<br />

noch seltenen) Struktur des ganzen Hauses mit Drei-Generationen-Familie<br />

den Alten feste Rollen besonders als Pädagogen zukommen, sind die Alten<br />

auf den Illustrationen ruhige Müssiggänger geworden, die das aktive Arbeitsleben<br />

hinter sich gelassen haben und nun bei einer Pfeife mit mehr oder weniger<br />

ergebenem Blick die verbleibende Zeit verdösen. Der Kontrast zu Gotthelfs Text<br />

könnte kaum grösser sein, sind es doch gerade die positiven Alten – wie etwa<br />

ein Handwerksehepaar im Roman Jacobs Wanderungen –, die bis zum Tod aktiv<br />

und arbeitsam bleiben. Oder wie eben «Ein Alter Mann mit grauen Haaren<br />

und viel Erfahrung» im Roman Die Käserei in der Vehfreude, der seine lange<br />

Rede mit den Worten beschliesst: «[…] Es ist Zeit zum Füttern. Ich sollte heim.»<br />

(AWIP, Käserei 128.) 25<br />

Die Illustration ersetzt die images des Textes durch solche, welche eher der<br />

Mentalität des späten 19. Jahrhunderts entsprechen. Ob es sich dabei um eine<br />

Zimmermann: Gotthelf 103


ewusste Korrektur des Textes handeln könnte oder – was wahrscheinlicher ist<br />

– um eine unbewusste Aktualisierung in eigentlich unterstützender Illustrati-<br />

onsabsicht, lässt sich aus der Betrachtung dieser Darstellungen allein nicht ent-<br />

nehmen. Möglicherweise bereitete Anker der Text-Bild-Bezug generell Prob-<br />

leme, die er nicht zu lösen vermochte; auch der Hinweis von Marc Fehlmann,<br />

dass Zahn mit Ankers Vorlagen etwas eigenwillig umgegangen sein könnte, ist<br />

bedenkenswert. 26 Interessant ist jedenfalls, dass in einem Ölgemälde «Der Grossvater<br />

erzählt eine <strong>Geschichte</strong>» (1884) die pädagogische Funktion des Grossvaters<br />

im Rahmen des ganzen Hauses noch eher gefasst ist. Mit einem allerdings<br />

bedeutenden Unterschied zu Gotthelf: Bei Gotthelf erzählen die alten Männer<br />

und Grossväter ihre <strong>Geschichte</strong>n nicht nur den Enkeln, sondern der ganzen Familie<br />

(wie etwa in der Schwarzen Spinne), während hier die Trennung zwischen<br />

der arbeitenden Familie – angedeutet durch die arbeitende junge Frau (Mutter<br />

oder Magd) im Hintergrund – vollzogen ist. Bei Gotthelf sind es die Grossmütter,<br />

die den Kindern erzählen. Ja, blickt man auf die Grossvater- und Grossmutterrollen<br />

im 19. Jahrhundert, so ist der Grossvater in der Jahrhundertmitte weit<br />

eher noch der sittliche Erzieher, der allenfalls die Knaben in vaterländischer<br />

<strong>Geschichte</strong> unterrichtet. So stellt es etwa Hans Christian Andersen in seinem<br />

Märchen Holger Danske (1845) dar. 27 Die Märchenstunde, die auch <strong>für</strong> die kleinen<br />

Mädchen eingerichtet wäre, wie sie Anker in sein Bild rückt, wäre die Stunde<br />

der Grossmutter gewesen. Das ändert sich freilich im Lauf des 19. Jahrhunderts,<br />

und die bei Gotthelf noch fehlenden empfindsamen Grossväter, die den Kindern<br />

erzählen, den Säugling wiegen und Strümpfe stricken, sind am Ende des Jahrhunderts<br />

in Bilddarstellungen nicht ungewöhnlich. Erhard Chvojka sieht dies<br />

in seiner <strong>Geschichte</strong> der Grosselternrollen im Zusammenhang mit einer Entwertung<br />

des Grossvaters, der seine männlichen Attribute (zugunsten des Vaters)<br />

verliere, seine patriarchale Bedeutung einbüsse und zum kindlichen, mitunter<br />

schon zum kindischen Greis werden könne. 28 Bei Gotthelf stehen dagegen noch<br />

die Respektperson des erfahrenen Alten, der Religions- und Sittenlehrer als Ideal<br />

des alten Mannes im Vordergrund; dies hat ihn freilich nicht gehindert, die mitunter<br />

deprimierende soziale Situation der Alten zu sehen und etwa zum Gegenstand<br />

in Predigten zu machen.<br />

Auch bei anderen Themen zeigt sich, dass es in Ankers Werk durchaus Vorbilder<br />

<strong>für</strong> eine bessere Illustrierung hätte geben können. Das harmlose Jüngelchen,<br />

welches Anker als Dursli präsentiert, mag zwar den verführten Jungen repräsentieren,<br />

ein eindrucksvolles Bild des Trinkers, dessen innere und äussere<br />

Verhältnisse vollkommen zerrüttet sind, sucht man allerdings als Illustration<br />

104 BEZG N° 02/10


umsonst (AWIP, Dursli), obwohl Anker schon 1868 eine in der Tat eindrucks-<br />

volle Darstellung Der Trinker als Ölgemälde angefertigt hatte. Nur sehr selten<br />

zeigt sich also Anker auf der Höhe seiner eigenen – obschon durch die Darstel-<br />

lungsweise harmonisierenden – genauen sozialrealistischen Porträts. Eindrucks-<br />

voll in diesem Sinn ist die Darstellung «Und so lebt Elisabeth heute noch in je-<br />

nem Schachen, kann nicht leben, kann nicht sterben», aber auch hier zeigt sich,<br />

dass Gotthelfs belehrend-ermahnende (paränetische) Rhetorik und Ankers sozialrealistische<br />

Szene zwei ganz konträren ästhetischen, politischen, habituellen<br />

Hintergründen entspringen.<br />

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Anker, obwohl er selbst die<br />

Drastik der Texte und ihre Paränese positiv bewertete, in seinen Illustrationen<br />

dennoch einen Beitrag zur Harmonisierung Gotthelfs leistete. Er verzichtete<br />

glättend darauf, die eigene sozialrealistische Beobachtungs- und Darstellungsgabe<br />

hier wirksam werden zu lassen. Neben dieser ästhetischen Differenz zwischen<br />

Illustration und Text ist freilich auch ein bedeutender historischer Abstand<br />

erkennbar, der sich sowohl im mentalitätsgeschichtlich begründeten<br />

Wandel sozialer images (das Alter) wie auch in der volkskundlich-folkloristischen<br />

Auffassung bäuerlicher Tracht zeigt. Ob Gotthelf auch politisch geglättet<br />

werden sollte? Immerhin könnte sich der Eindruck einer Korrektur aufdrängen,<br />

wenn der radikale Bauernagitator Schnepf – <strong>für</strong> Gotthelf eine wahre Hassgestalt<br />

– in Ankers Illustration zur Erzählung Dursli der Branntweinsäufer, eher<br />

als ein smarter Jüngling erscheint (AWIP, Dursli zu 290, zwischen 292f.). Wäre<br />

aber Schnepf nicht ein Repräsentant derjenigen Generation, welche zu den Vätern<br />

jenes Staatswesens wurde, welches Gotthelf nun mit einer Prachtausgabe<br />

zum nationalen Monument machen wollte? Als ein überzeugter Regenerationsliberaler<br />

versuchte Gotthelf, in literarischen Gestalten wie Schnepf allerdings<br />

gerade den radikalen Bemühungen um eine neue Staatsform zu wehren.<br />

Anmerkungen<br />

1 Gotthelf, Jeremias: Ausgewählte Werke. Illustrierte Prachtausgabe. Nach dem Originaltexte neu<br />

herausgegeben von Prof. Otto Sutermeister. Mit zweihundert Illustrationen von A. Anker, H.<br />

Bachmann, W. Vigier. 4 Bde. La Chaux-de-Fonds [1894–1900]. – Gotthelf, Jeremias: Ausgewählte<br />

Werke. Illustrierte Prachtausgabe. II. Teil. Nach dem Originaltexte neu herausgegeben von<br />

Prof. Otto Sutermeister. Mit dreihundert Illustrationen von A. Anker, H. Bachmann, K. Gehri,<br />

P. Robert, E. Burnand, B. Vautier. 5 Bde. La Chaux-de-Fonds 1896–1904. – Nachweise aus dieser<br />

Ausgabe werden im laufenden Text nach dem Muster «AWIP, ‹Titelstichwort› Seitenzahl» wiedergegeben,<br />

z.B.: AWIP, Käserei 56.<br />

2 Reber, Alfred: Gotthelf-Ausgaben seit 1854. In: Mahlmann-Bauer, Barbara; von Zimmermann,<br />

Christian (Hrsg.): Jeremias Gotthelf – Wege zu einer neuen Ausgabe. Tübingen 2006 (Beihefte<br />

zu editio 24), 17–26, hier 18.<br />

Zimmermann: Gotthelf 105


3 «Wenn […] nicht alles abgedruckt, wenn Einzelnes weggelassen wurde, ohne dass dadurch<br />

der Zusammenhang oder der Sinn und Charakter des Übrigen die geringste Beeinträchtigung<br />

erfuhr, so glaubte der Herausgeber sich einmal dazu ebenso berechtigt, wie dazu, dass er<br />

überhaupt dem Publikum eine Auswahl aus Jeremias Gotthelfs Werken bot; dann aber glaubte<br />

er sich dazu auch schlechterdings verpflichtet; denn unser Gotthelf will kein blosses Material<br />

sein <strong>für</strong> Quellenforscher und <strong>für</strong> Philologen, sondern eine Nationallektüre und eine Familienlektüre,<br />

lesbar, geniessbar <strong>für</strong> alles Volk; er soll den spätesten Zeiten noch der lebende und wirkende<br />

Gotthelf sein, der er seiner Zeit hat sein wollen – hat sein wollen, aber in dem ganzen Umfange<br />

und mit solch weitem und tiefem Eindringen in Geist und Gemüt seines Volkes, wie er es<br />

wollte, deswegen es nicht wurde, weil er auch schlechtes geschrieben, was schon den Zeitgenossen<br />

teils anstössig, teils unverständlich war und vollends <strong>für</strong> unsere Gegenwart ermüdend,<br />

uninteressant, ungeniessbar wäre.» (Sutermeister, Otto: Zur Orientierung. In: AWIP, Geld und<br />

Geist 5f.) Der Herausgeber gibt also im Nachhinein den Kritikern recht, gegen die Gotthelf sich<br />

nun unter der Hand eines Editors wie Sutermeister nicht mehr zur Wehr setzen kann.<br />

4 Der Verlag Zahn verstand sich in diesem Sinn als ein Verlag <strong>für</strong> repräsentative nationale<br />

Projekte. Es erschienen immer wieder Werke in deutscher und französischer Parallelausgabe,<br />

welche einem klaren pädagogischen und nationalen Anliegen folgten, so etwa ebenfalls reich<br />

illustrierte und ähnlich aufgemachte Publikationen mit Biographien vorbildlicher Schweizer, vgl.<br />

von Zimmermann, Christian: «Schweizer eigener Kraft!» – «Die Schweizer Frau»: Komplementäre<br />

Kollektivbiographik und Geschlechterkonzeptionen im freisinnigen Staat. In: Ders.;<br />

von Zimmermann, Nina (Hrsg.): Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Porträts.<br />

Tübingen 2005 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 63), 145–171.<br />

5 Meister, Robert (Hrsg.): Albert Anker und seine Welt. Briefe – Dokumente – Bilder. 4., erw.<br />

Auflage. Bern 2000, 106 (dt. Übersetzung des frz. Briefes von Meister). – Vgl. zur Zahn-Edition<br />

auch: Müller, Dominik: Illustration als Interpretation: Gotthelfs «Schwarze Spinne» als<br />

Bildvorlage. In: Pape, Walter; Thomke, Hellmut; Tschopp, Silvia Serena (Hrsg.): Erzählkunst<br />

und Volkserziehung. Das literarische Werk des Jeremias Gotthelf. Mit einer Gotthelf-Bibliographie.<br />

Tübingen 1999, 321–344, hier 323–325.<br />

6 Ebenda.<br />

7 Fehlmann, Marc: Albert Ankers Babylonische Gefangenschaft. Seine Gotthelf-Illustrationen<br />

<strong>für</strong> den Neuenburger Verleger Frédéric Zahn. In: Gasser, Peter; Loop, Jan (Hrsg.): Gotthelf.<br />

Interdisziplinäre Zugänge zu seinem Werk. Frankfurt/M. 2009, 77–120.<br />

8 Schon zeitgenössisch wurde Gotthelf als «Kühdr..litterat[ ]» beschimpft und in einer Karikatur<br />

des «Neuen Guckkastens» (14.12.1850) mit der Mistgabel in der Hand gezeigt. Vgl. hierzu:<br />

Humbel, Stefan: «mit dem Volke im Koth». Zu einer Ästhetik des Misthaufens. In: Ders.; von<br />

Zimmermann, Christian (Hrsg.): Jeremias Gotthelf. München 2008 (Text+Kritik 178/179), 13–24;<br />

Donien, Jürgen: «Grosser Volksschriftsteller» und «Kühdr..litterat». Jeremias Gotthelf in der<br />

zeitgenössischen Kritik. In: Ebenda, 111–120.<br />

9 Albert Anker, Brief an Julia Hürner im Herbst 1892. In: Meister (wie Anm. 5), 108f.<br />

10 Julia Hürner, Briefe an Albert Anker vom 28. November und 17. Dezember 1892. In: Ebenda, 109f.<br />

11 Fehlmann (wie Anm. 7), 93.<br />

12 Albert Anker, Brief an Julia Hürner vom 28. April 1893. In: Meister (wie Anm. 5), 110.<br />

13 «Gotthelftracht: Sie ist neben der schwarzen Tracht die beliebteste <strong>Berner</strong> Tracht, obwohl sie<br />

erst in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Als Vorlage dienten Gemälde von<br />

Albert Anker, welche der Künstler im Emmental als Illustrationen zu Gotthelfs Büchern angefertigt<br />

hat. Daher hat diese schlichte, aber dennoch feierliche Tracht ihren Namen. Im Gegensatz<br />

zur Festtagstracht gibt sich die Gotthelftracht bescheiden: Der einzige Schmuck ist eine Brosche<br />

aus Holz oder oxydiertem Silber. Das ‹Fürtuch› besteht aus Baumwolle statt aus Damast und als<br />

Kopfbedeckung ersetzt ein Strohhut die Haube. Ihre Beliebtheit verdankt diese Tracht auch der<br />

Tatsache, dass sie sowohl bei der Anschaffung als auch bei der Pflege weniger anspruchsvoll<br />

106 BEZG N° 02/10


ist und zu fast jedem Anlass passt.» (http://www.jkbaergbruenneli-liesberg.ch/trachten.htm,<br />

gesehen am 15.01.2010.)<br />

14 Gerade dieser volkskundlich-folkloristische Zugang wurde aber immer stärker erwartet, wie etwa<br />

die Kritik an René Beehs Versuche einer anderen Illustrierung durch Otto von Greyerz zeigt.<br />

Vgl.: Müller (wie Anm. 5), 326f.<br />

15 Vgl. von Zimmermann, Christian: Wie man (k)ein Volksbuch schreibt. Beobachtungen zu<br />

Gotthelfs «Dursli der Branntweinsäufer». In: Humbel / von Zimmermann (wie Anm. 8), 43–55,<br />

hier 48. Grundlegend zu Gotthelfs Auffassung vom Amt des Volksschriftstellers vgl. auch:<br />

Mahlmann–Bauer, Barbara: Gotthelf als «Volksschriftsteller». In: Mahlmann-Bauer, Barbara; von<br />

Zimmermann, Christian; Zwahlen, Sara Margarita (Hrsg.): Jeremias Gotthelf, der Querdenker<br />

und Zeitkritiker. Bern 2006 (kulturhistorische Vorlesungen 2004/2005), 21–73.<br />

16 Allerdings entzog Zahn ihm die Illustrierung der Erzählung «Der Notar in der Falle», obwohl die<br />

Zeichnungen schon vorlagen. Vgl. Fehlmann (wie Anm. 7), 94. Anker selbst verglich den Verleger<br />

mit der Gestalt des Mordiofuhrmanns aus Gotthelfs bekannter Tierschindererzählung im<br />

«Neuen <strong>Berner</strong>-Kalender <strong>für</strong> das Jahr 1840» (ebenda, 95).<br />

17 Vgl. Müller (wie Anm. 5), 324.<br />

18 Bhattacharya-Stettler, Therese (Hrsg.): Anker. Martigny 2004, Nr. 53, 148f.<br />

19 Vernachlässigt man die Chronologie von Text und Bild, so liest sich Gotthelfs Text als<br />

entlarvender Kommentar zu Ankers Harmonisierungstendenz.<br />

20 Fehlmann (wie Anm. 7), 100. Vgl. die Auflistung bei Fehlmann, der freilich nicht auf die<br />

unterschiedlichen Sinnhorizonte von Text und Bild eingeht.<br />

21 Zu den Grossvaterfiguren bei Gotthelf vgl.: von Zimmermann, Christian: Jeremias Gotthelfs<br />

Der Sonntag des Grossvaters. Grossvaterrollen in literarischen Texten und im literarischen<br />

Leben um 1850. In: Wirkendes Wort 56 (2006), 387–401.<br />

22 Gotthelf, Jeremias: Käthi die Grossmutter, oder Der wahre Weg durch jede Not. Eine Erzählung<br />

<strong>für</strong> das Volk. 2 Bde. Berlin 1847.<br />

23 Gotthelf, Jeremias: Jacobs, des Handwerksgesellen, Wanderungen durch die Schweiz. 2 Teilbde.<br />

Zwickau 1846/47.<br />

24 Gotthelf, Jeremias: Das gelbe Vögelein und das arme Margrithli. In: Neuer <strong>Berner</strong>-Kalender <strong>für</strong><br />

das Jahr 1840. Ein nützliches Hausbuch zur Unterhaltung und Belehrung. Bern [1839], 55 –60.<br />

25 Der Gedanke vom tätigen Alter erscheint im literarischen Werk wie in den Predigten immer<br />

wieder. Bereits 1819 hat der junge Albert Bitzius – als er noch nicht als Jeremias Gotthelf wirkte<br />

– den alten König David als Beispiel <strong>für</strong> die Tatkraft und Gesundheit desjenigen vorgestellt, der<br />

ein sittliches Leben geführt habe: «Aber wen der Geist aus den Banden der Knechtschaft sich<br />

losgewunden den Körper sich unterjocht, und herrschend den Menschen durchs Leben geführt,<br />

da strahlt er auf der ganzen Bahn im herrlichen Jugendglanze, nimmer schwindet seine Kraft<br />

selbst den hinfallenden Körper vermag er zu erheben.» Bitzius, Albert: Dritte Klosterpredigt,<br />

Utzenstorf den 1819/28. Januar 1821. Ms. Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 20.1/1,<br />

S. 3f. – Die Predigt betont dabei das patriarchalische Prinzip des guten Hausvaters, der bis zuletzt<br />

sein Haus bestellt. In diesem Sinne sind die guten Alten im Werk vielfach gestaltet.<br />

26 Vgl. Fehlmann (wie Anm. 7), passim.<br />

27 Deutsch: Andersen, Hans Christian: Der Däne Holger. In: Ders., Märchen. […] Übers. von<br />

Heinrich Denhardt. Hg. von Leif Ludwig Abertsen. Stuttgart 1986 (RUB 690), 403 –409.<br />

28 Vgl. Chvojka, Erhard: <strong>Geschichte</strong> der Grosselternrollen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert.<br />

Wien, Köln, Weimar 2003 (Kulturstudien. Beiträge zur Kulturgeschichte 33), 230–238.<br />

Zimmermann: Gotthelf 107


Das Ländliche in der Stadt<br />

Albert Anker und die Kinderkripppe am<br />

Gerberngraben<br />

Malinee Müller<br />

Albert Anker wird oft als Maler einer «intakten» ländlichen Gesellschaft bezeich-<br />

net, insbesondere wegen seiner Genrekompositionen mit Szenen aus dem Land-<br />

leben. Bereits 1857 kündigte er in einem Brief an Otto von Greyerz an, dass er<br />

Kompositionen des ländlichen Lebens malen wolle, die er als «kleine Dorfgeschichten»<br />

bezeichnete. Christoph von Tavel zählt dreissig Gemälde auf, die den<br />

kleinen Dorfgeschichten zuzuordnen sind. 1 Drei dieser dreissig Dorfgeschichten<br />

stellen allerdings Szenen aus der städtischen Gesellschaft dar.<br />

Kinderkrippe in der Stadt Bern<br />

Es handelt sich dabei um die Bilder mit den Titeln «Die Kinderkrippe I» («La<br />

crèche I», 1890), 2 «Die Kinderkrippe II» («La crèche II», 1894) 3 und «Kleinkinderschule<br />

auf der Kirchenfeldbrücke» («La crèche en promenade», 1900). 4 Diese<br />

Bilder stellen die Kinder in der Krippe am Gerberngraben in der Stadt Bern<br />

dar. 5<br />

Die beiden ersten Krippenbilder zeigen die Kinder beim Essen («Die Kinderkrippe<br />

I») und beim Spielen («Die Kinderkrippe II») im Innenraum der<br />

Krippe, das dritte Bild die Krippenkinder beim Spaziergang auf der 1883 eingeweihten<br />

Kirchenfeldbrücke. Auf allen drei Bildern werden die Kinder von einer<br />

Diakonisse betreut. Die beiden Bilder, welche den Innenraum der Krippe zeigen,<br />

lassen gar nicht erkennen, dass es sich um die Darstellung von städtischen<br />

Szenen handelt. Zu sehr gleichen die Darstellungen der Krippe den Darstellungen<br />

von ländlichen Schulen durch Albert Anker. Aber auch das Bild, das die Kinder<br />

auf der Kirchenfeldbrücke darstellt, macht den Eindruck, als könnte es sich<br />

auch um eine ländliche Szene handeln. Albert Anker hat einen Bildausschnitt<br />

gewählt, der nur sehr wenig von der Stadt zeigt. Der Hintergrund wird nicht<br />

vom teilweise abgebildeten Münster geprägt, sondern von den Bäumen auf der<br />

Münsterplattform und den grünen Hügeln am rechten Aareufer. Einzig das moderne<br />

gusseiserne Brückengeländer mutet städtisch an.<br />

Und doch handelt es sich bei den Krippenbildern um die Darstellung einer<br />

Institution, die von der städtischen Gesellschaft hervorgebracht wurde und bis<br />

weit in das 20. Jahrhundert hinein nur in Städten und Industrieregionen zu finden<br />

war. Die agrarisch geprägte ländliche Gesellschaft brauchte keine Kinderkrippen<br />

oder anderen Institutionen zur ausserschulischen Kinderbetreuung.<br />

Die Trennung zwischen Wohnen und Arbeitsplatz war noch nicht weit fortgeschritten;<br />

dies ermöglichte auch armen Kleinbauern und Heimarbeitern die<br />

Müller: Kinderkrippe 109


Albert Anker, Die Kinderkrippe I, 1890, Öl auf Leinwand, 79,5 x142 cm,<br />

Kat. Nr. 452 – Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten, Winterthur.<br />

110 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Kleinkinderschule auf der Kirchenfeldbrücke, 1900,<br />

Öl auf Leinwand, 76 x 127 cm, Kat. Nr. 565. – Gottfried-Keller-Stiftung,<br />

Kunstmuseum Bern.<br />

Müller: Kinderkrippe 111


Kinderbetreuung. 6 Erst durch die Landflucht wurden die familiären Netze aus-<br />

einander gerissen – die Grossmütter kamen nicht mit in die Stadt. Und die Mäd-<br />

chen, welche alt genug <strong>für</strong> die Kinderbetreuung gewesen wären, wurden, wenn<br />

möglich, zur Lohnarbeit geschickt. Ausserdem waren die Familien durch die<br />

harte Arbeit und die langen Arbeitszeiten stark belastet und oft zerrüttet. 7<br />

Die kleinen Kinder liefen Gefahr zu verwahrlosen. Aus dieser Erkenntnis he-<br />

raus wurde 1844 die erste Kinderkrippe als soziale Institution in Paris gegrün-<br />

det. 8 Die Krippe im <strong>Berner</strong> Gerberngraben wurde 1876 durch das <strong>Berner</strong> Diako-<br />

nissenhaus eröffnet und fortan von den Diakonissen geführt, was auch auf den<br />

Darstellungen Ankers ersichtlich ist. 9 Gemäss dem Reglement der Krippe wurden<br />

Kinder im Alter von vierzehn Tagen bis zu vier Jahren betreut. 10 Die Krippe<br />

als Sozialwerk war <strong>für</strong> Kinder gedacht, deren Mütter aus existenziellen Gründen<br />

nicht in der Lage waren, die Kinderbetreuung selbst zu übernehmen, und auch<br />

keine andere Möglichkeit zur Kinderbetreuung wahrnehmen konnten. 11<br />

Dieser kurze sozialgeschichtliche Exkurs zeigt auf, dass es sich bei den Krippenbildern<br />

um Bilder von Kindern in der städtischen Gesellschaft im ausgehenden<br />

19. Jahrhundert handelt. Trotzdem atmen insbesondere die beiden ersten<br />

Bilder eine ländliche Stimmung. Die Entstehungsgeschichte des ersten Krippenbildes<br />

gibt Anhaltspunkte, wie Albert Anker die ländliche Atmosphäre in die<br />

Darstellung dieser städtischen Szenen gebracht haben könnte.<br />

Ende der 1880er-Jahre gab Albert Anker das Atelier und die Wohnung in Paris<br />

auf und verlegte den Wohnsitz der Familie nach Ins. Im gleichen Zeitraum<br />

begann seine intensive kulturpolitische Tätigkeit – unter anderem durch die<br />

Wahl in die Eidgenössische Kunstkommission und in den Stiftungsrat der Gottfried-Keller-Stiftung.<br />

Diese Tätigkeit und Besuche bei seinen Freunden Eugène<br />

Michaud12 und Horace Edouard Davinet13 führten ihn immer wieder in die Bundesstadt.<br />

Es ist anzunehmen, dass er bei einem seiner Besuche die Krippe oder<br />

vermutlich vielmehr vor der Krippe spielende Kinder entdeckte. Daraufhin<br />

stellte er Skizzen von der Krippe her. Wie er seinem Freund Ehrmann berichtet,<br />

stellte er auch am Sonntag Studien an, wenn sich keine Kinder in der Krippe<br />

aufhielten. 14 Eine dieser Skizzen, deren Wert er auf mindestens hundert Franken<br />

schätzte, spendete Anker 1894 der Krippe. 15 In einem Schreiben an Davinet<br />

drückte er die Sorge aus, dass das Geld nicht in die richtigen Hände geraten<br />

könnte, da die Diakonisse ihn schriftlich anfragt hatte, ob das Geld <strong>für</strong> sie<br />

oder <strong>für</strong> die Kinder bestimmt sei. Anker meinte weiter, wenn er eine der Damen<br />

des Komitees kennen würde, so würde er diese anfragen, ob das Geld angekommen<br />

sei und <strong>für</strong> die armen Kinder verwendet würde. 16<br />

112 BEZG N° 02/10


Die Stadt wird zum Dorf<br />

Erhaltene Studien, 17 die den leeren Innenraum der Krippe zeigen, zeugen von<br />

dieser Arbeit. Albert Anker vernichtete einen grossen Teil seiner Skizzen, da er<br />

das Papier weiter verwendete. Es ist ein Glücksfall, dass etliche Skizzen und<br />

Studien des ersten Krippenbildes erhalten geblieben sind. So ist eine Kohleskizze<br />

in den Dimensionen des Bildes, datiert 1889, grösstenteils – Anker brauchte wohl<br />

schnell Skizzenpapier und riss Teile weg – erhalten. Es fällt sofort auf, dass die<br />

auf der Skizze dargestellten Kinder jünger sind als die Kinder auf dem endgültigen<br />

Werk. Das Alter der skizzierten Kinder entspricht dem Alter der älteren<br />

Krippenkinder. Die Kinder, welche auf den endgültigen Krippenbildern dargestellt<br />

sind, sind deutlich älter als vier Jahre. Wenn es sich nicht um Kinder aus<br />

der Krippe handelt, welche Kinder stellte Anker dann dar?<br />

Im Gerberngraben befand sich auch eine «Gaumschule» – so wurden in Bern<br />

die Kleinkinderschulen, Schulen <strong>für</strong> vier- bis sechsjährige Kinder, bezeichnet –,<br />

die von der burgerlichen Privatarmenanstalt betrieben wurde. 18 Es wäre naheliegend<br />

anzunehmen, dass Anker Kinder dieser «Gaumschule» porträtierte; damit<br />

wäre auch die Diskrepanz zwischen dem französischen Bildtitel «La crèche<br />

en promenade» und der deutschen Übersetzung «Kleinkinderschule auf der Kirchenfeldbrücke»<br />

zu erklären.<br />

Dennoch scheint es sich bei den dargestellten Kindern nicht um Kinder aus<br />

Bern zu handeln. Das definitive Bild ist nicht in der Krippe entstanden, sondern<br />

wurde im Atelier auf Grund des reichen Skizzen- und Studienmaterials in langwieriger<br />

Arbeit erstellt; als Modelle im Atelier dienten Anker Kinder aus Ins. 19<br />

Wie Matthias Brefin berichtet, soll es sich beim rothaarigen Mädchen ganz vorn<br />

auf der Bank um Elisabeth Oser (1888–1982) – die Enkelin von Albert Anker –<br />

handeln. Matthias Brefin beruft sich dabei auf die Dargestellte selbst, die später<br />

als Kunstmalerin tätig war und von den Grosskindern möglicherweise den<br />

besten Zugang zu Albert Anker hatte.<br />

Der <strong>Berner</strong> Mundartforscher Emanuel Friedli gibt einen wichtigen Hinweis<br />

zur Entstehung der Bilder von Albert Anker. In seinem Werk über die verschiedenen<br />

Dialekte im Kanton Bern erzählt er im Band über Ins, der vier Jahre nach<br />

dem Tod des Malers erschien, im Seeländerdialekt aus dem Leben Albert Ankers.<br />

20 Dabei lässt er immer wieder die Bevölkerung von Ins in ihrem Dialekt zu<br />

Worte kommen. Friedli berichtet, dass Anker seine Modelle hauptsächlich in<br />

Ins und Umgebung suchte. Er erzählt, dass die Bewohner von Ins gerne in den<br />

Bändern mit den Reproduktionen der Ankerbilder blätterten. Sie versuchten zu<br />

erkennen, wer wo abgebildet war. Auf den ersten Blick sehe man, das sei dieser<br />

Müller: Kinderkrippe 113


Albert Anker, Entwurf zur Kinderkrippe I, Dezember 1889, Kohle auf Papier,<br />

ca. 80x140 cm [Ausschnitt]. – Privatbesitz.<br />

114 BEZG N° 02/10


oder jener. Ein Mädchen aus Ins wird als die Person erkannt, die in der Tracht<br />

einer Diakonisse Modell gestanden hat: «d’s Riggi Eliis isch als di lieplich<br />

‹Schwester› in der ‹Krippe› uuf- (oder aab-) g’figuurt» (Elsbeth Riggi ist als lieb-<br />

liche «Schwester» der «Krippe» dargestellt). 21 Die Dargestellte war also in Ins<br />

bekannt, obwohl aus dem Briefwechsel von Anker mit seinen Freunden Michaud<br />

und Davinet hervorgeht, dass er die Diakonisse in der Krippe nicht näher<br />

kannte. 22 Es kann damit angenommen werden, dass sowohl <strong>für</strong> die Diakonisse<br />

als auch <strong>für</strong> die Kinder in der Krippe Bewohnerinnen und Bewohner aus Ins<br />

und Umgebung Modell gesessen haben. Damit hat Anker gewissermassen die<br />

Kinder aus dem Seeland in die Stadt Bern gestellt und folglich in seinem Seeländer<br />

Atelier Kinder der ländlichen Gesellschaft in einer städtischen Szene dargestellt.<br />

Es ist davon auszugehen, dass auch <strong>für</strong> die beiden anderen Bilder, «Die<br />

Kinderkrippe II» und «Kirchenfeldbrücke», Modelle aus Ins und Umgebung<br />

porträtiert wurden.<br />

Auf dem zweiten Krippenbild findet sich ein interessantes Detail, das auf die<br />

städtische Gesellschaft hinweist. Die Kinder spielen mit Holzklötzchen, wie sie<br />

von Friedrich Fröbel <strong>für</strong> den Kindergarten entwickelt wurden. 23 Dieses Spielzeug<br />

dürfte wohl im Seeland nicht alltäglich gewesen sein, auch Kindergärten<br />

gab es vornehmlich in der Stadt. Die <strong>Berner</strong> «Gaumschulen» wurden nach den<br />

Prinzipien des Fröbelschen Kindergartens geführt. 24 Vermutlich hat Anker nicht<br />

zwischen der Kinderkrippe und der Kleinkinderschule unterschieden und das<br />

Spielzeug der Kleinkinderschule in das Bild der Krippe übernommen.<br />

Das Vorgehen Albert Ankers, das die Stadt zum Dorf werden lässt, wirft auch<br />

einen Blick auf seinen Realismus. Anker hat sich zwar um die exakte räumliche<br />

Wiedergabe der Krippe bemüht, fühlte sich aber bei der personellen Besetzung<br />

frei. Die Kinder auf den Bildern sind älter als in Wirklichkeit, und es wurden<br />

keine Krippenkinder aus der Stadt Bern porträtiert, sondern Kinder aus der<br />

Umgebung von Ins. Auch waren die Zustände in der Krippe nicht so idyllisch,<br />

wie sie auf den Bildern erscheinen. Anker selbst schreibt in einer Postkarte an<br />

Davinet von den kleinen Unglücklichen («petits malheureux») in der Krippe. 25<br />

In einem Brief an Michaud erwähnt er, dass bei der Ernährung der Kinder selbst<br />

am nicht gerade wohlriechenden Fett gespart wurde. Wenn überhaupt, stellt<br />

Anker missliche Umstände nur am Rande dar. So findet sich auf dem ersten<br />

Krippenbild ein ausgegrenztes, schmutziges Kind, das im Hintergrund auf einem<br />

Schemel oder Nachttopf sitzt. Und auf dem zweiten Krippenbild ist ein<br />

krankes Kind zu sehen, das gepflegt wird.<br />

Auch wenn die Krippenbilder nicht die ländliche Gesellschaft darstellen, so<br />

Müller: Kinderkrippe 115


Albert Anker, Die Kinderkrippe II, 1894, Öl auf Leinwand, 61 x112 cm,<br />

Kat. Nr. 496 [Ausschnitt]. – Privatbesitz.<br />

116 BEZG N° 02/10


weisen sie doch auf ein zentrales soziales Problem der ländlichen Gesellschaft<br />

im ausgehenden 19. Jahrhundert hin. Die Landflucht war eine Folge der Krise<br />

der Agrarwirtschaft, die wesentlich durch den Einbezug der Schweiz in die weltweiten<br />

Agrarmärkte seit den frühen 1880er-Jahren verursacht wurde. 26 Eine<br />

Konsequenz der Landflucht war die Konzentration der sozialen Problemen in<br />

der Stadt. Die Betreuung von Kindern aus sozial schwachen Familien durch die<br />

Diakonissen in der Krippe war eine der zahlreichen Anstrengungen von privaten<br />

Institutionen, sich der sozialen Probleme anzunehmen. 27 Sozialhistorisch<br />

betrachtet, verweisen die Krippenbilder Albert Ankers also zum einen auf die<br />

Schattenseiten der ländlichen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts,<br />

auf Armut und Landflucht. Zum anderen stehen sie aber auch <strong>für</strong> eine gewisse<br />

Offenheit Ankers gegenüber der Moderne und deren Antworten auf die Herausforderungen<br />

der neuen Zeit.<br />

Anmerkungen<br />

1 Tavel, Hans Christoph von: «informell» Albert Anker – Das Werk aus heutiger Sicht.<br />

Bern 1985, 38.<br />

2 Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker. Werkkatalog der Gemälde und<br />

Ölstudien. Catalogue raisonné des oeuvres à l’huile (Hrsg. Kunstmuseum Bern). Basel 1995,<br />

205 (Kat. Nr. 452).<br />

3 Kuthy/ Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 2), 219f. (Kat. Nr. 496).<br />

4 Kuthy/ Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 2) 241f. (Kat. Nr. 565.) In seinem «livre des ventes»<br />

verwendete Albert Anker durchwegs französische Bezeichnungen <strong>für</strong> seine Bilder, die deutsche<br />

Übersetzung weist hier eine inhaltliche Differenz zum französischen Titel auf (s.u.).<br />

5 Die folgende Darstellung stützt sich auf: Müller, Malinee: Albert Ankers Kinderkrippen –<br />

Bilder vor dem Hintergrund der theologischen und gesellschaftlichen Strömungen seiner Zeit.<br />

Lizenziatsarbeit Theologische Fakultät. Bern 2006. Der Gerberngraben war ein natürlicher<br />

Geländeeinschnitt, der <strong>für</strong> die mittelalterliche Befestigungsanlage verwendet wurde. Später<br />

wurden in diesem Graben die Häuser der Gerber angelegt, daraus erfolgte die Namensgebung.<br />

Zwischen 1935 und 1937 wurde der Graben vollständig aufgeschüttet, um den Casinoplatz<br />

verkehrsgerecht zu gestalten. Die ehemalige Krippenliegenschaft liegt deshalb unter der<br />

heutigen Kochergasse im Casinoparking.<br />

6 Fritsche, Bruno; Lemmenmeier, Max: Die revolutionäre Umgestaltung von Wirtschaft, Gesellschaft<br />

und Staat 1780–1870. In: <strong>Geschichte</strong> des Kantons Zürich, Bd. 3. Zürich 1994, 20–157,<br />

hier 59.<br />

7 Tögel, Bettina: Die Stadtverwaltung Berns: der Wandel ihrer Organisation und Aufgaben von<br />

1832 bis zum Beginn der 1920er Jahre. Zürich, 2004, 212f.; siehe zur Einwanderung in die Stadt<br />

Bern umfassend: Lüthi, Christian: «In der Hoffnung eines Schlaraffenlebens …»<br />

Sozialgeschichte der Zuwanderung in die Stadt Bern während der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts. Lizenziatsarbeit Historisches Institut. Bern 1994.<br />

8 Tögel (wie Anm. 7), 213.<br />

9 Dändliker, Johann Friedrich: Ebenezer, oder: Fünfzig Jahre des Diakonissenhauses Bern.<br />

Bern 1950, 65.<br />

Müller: Kinderkrippe 117


10 Muhlig, Nathalie: A la recherche du temps passé. Diplomarbeit. Ecole d’études sociales<br />

et pédagogiques Lausanne,1980, 38.<br />

11 Tögel (wie Anm. 7), 212f.; Bähler, Anna; Lüthi, Christian: Unterschiedliche Lebensweisen auf<br />

engstem Raum. Aspekte des gesellschaftlichen Wandels. In: Barth, Robert; Erne, Emil; Lüthi,<br />

Christian (Hrsg.): Bern – die <strong>Geschichte</strong> der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Stadtentwicklung,<br />

Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur. Bern 2003, 231–294.<br />

12 Eugène Michaud (1839–1917), Professor <strong>für</strong> christkatholische Theologie.<br />

13 Horace Edouard Davinet (1831–1922), Architekt und Direktor des Kunstmuseums.<br />

14 Anker in einem Brief an Ehrmann, datiert: début juin 1890. Depositum Burgerbibliothek Bern.<br />

15 Brief Anker an Michaud, 25.2.1894, und Postkarte Anker an Davinet, 22.3.1894. Depositum<br />

Burgerbibliothek Bern.<br />

16 Postkarte Anker an Davinet, 22.3.1894. Depositum Burgerbibliothek Bern.<br />

17 Kuthy/ Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 2), 204f. (Kat. Nr. 446–451).<br />

18 Tögel (wie Anm. 7), 213.<br />

19 Dies entspricht allgemein der Arbeitsweise Ankers. Messerli, Isabelle: Albert Anker: sein Atelier<br />

– seine Requisiten – seine Modelle. In: Bhattacharya-Stettler, Therese (Hrsg.): Albert Anker.<br />

Catalogue, Exposition Fondation Pierre Gianadda, Martigny 2003–2004. Lausanne 2003, 65−73.<br />

20 Friedli, Emanuel: Ins. Berndütsch als Spiegel bernischen Volkstums, Bd. 4. Bern 1914 (Nachdruck<br />

1980), 357–466.<br />

21 Friedli (wie Anm. 20), 384 [Übersetzung durch die Verfasserin].<br />

22 Brief Anker an Michaud, 25.2.1894, und Postkarte Anker an Davinet, 22.3.1894. Depositum<br />

Burgerbibliothek Bern.<br />

23 Siehe zur Bedeutung der Kinderspielsachen bei Anker: Messerli, Isabelle: Kinderwelten unter<br />

Stroh- und Ziegeldächern. In: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Messerli,<br />

Isabelle (Hrsg.): Albert Anker – Schöne Welt. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2010<br />

(im Druck).<br />

24 Tögel (wie Anm. 7), 214.<br />

25 Postkarte Anker an Davinet, 22.3.1894. Depositum Burgerbibliothek Bern.<br />

26 Pfister, Christian: <strong>Geschichte</strong> des Kantons Bern seit 1798. Band 4: Im Strom der Modernisierung.<br />

Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt 1700–1914. Bern 1995, 126–159.<br />

27 Einen zeitgenössischen Überblick über die sozialen Institutionen vermitteltet: Demme, Kurt:<br />

Die humanitären und gemeinnützigen Bestrebungen und Anstalten im Kanton Bern. Bern 1904.<br />

118 BEZG N° 02/10


Albert Anker als Vater und Grossvater<br />

Erinnerungen aus der Familie<br />

Matthias Brefin<br />

Wenn wir Albert Ankers Oeuvre vor Augen haben, fällt auf, dass auf der Mehr-<br />

zahl der Bilder Kinder Modell gestanden haben. Dies mag verschiedene Gründe<br />

haben: Sicher hatten die Kinder am ehesten Zeit, im Atelier des Malers ein paar<br />

Stunden zu sitzen, seinen Erzählungen zu lauschen und auch frisch von der Le-<br />

ber weg zu plaudern, wie die köstlichen Einträge belegen, die Anker säuberlich<br />

in einem eigens gebundenen Büchlein gesammelt hat. «Rächt wüescht isch halt<br />

o schön – mängisch», bemerkte beispielsweise ein Modell, oder ein anderes:<br />

«Dir müesset o no lang gäggele, bis so ne Tafele fertig isch.» 1 Darüber hinaus<br />

muss Anker aber auch ein besonderes Interesse an Kindern gehabt haben – an<br />

seinen eigenen, dann an den Grosskindern und überhaupt an den Kindern im<br />

Dorf und von seinen vielen Freunden, denen er oft Pate stand – auch über 30<br />

Kindern im Dorf war er «Götti» und unterstützte so häufig arme Familien. Ein<br />

Aufsatz, den er unter einem Pseudonym in der Suisse Libérale 1898 veröffentlichte<br />

unter dem Titel «Le premier développement de l’enfant» zeugt von seiner<br />

genauen Beobachtungsgabe und seiner <strong>für</strong> damalige Zeit fortschrittlichen Pä-<br />

dagogik. 2<br />

Was wissen wir von Albert Anker als Vater und Grossvater? Glücklicherweise<br />

sind in der Familie der Nachfahren viele <strong>Geschichte</strong>n, Bonmots und Anekdoten<br />

überliefert, die uns sein Verhältnis zu den Kindern und Grosskindern lebendig<br />

illustrieren. Ein besonderes Bijou sind drei Hefte mit Zeichnungen, welche<br />

Anker speziell <strong>für</strong> seine Töchter hergestellt hat. Er erzählte ihnen selbst erfundene<br />

<strong>Geschichte</strong>n und zeichnete gleichzeitig dazu die Bilder. Fasziniert berichten<br />

später seine Kinder wie auch seine Grosskinder von seiner besonderen Begabung,<br />

sich trotz seines enormen Wissens gleich auf die Stufe der Kinder<br />

einzustellen und ihre Seele zu erreichen.<br />

Ein glücklicher Zufall erlaubt, aus einem kürzlich im Familiennachlass wiedergefundenen<br />

Heft zu zitieren. Elisabeth Oser, eine Enkelin Ankers aus Basel<br />

und die einzige der Nachfahren, welche noch den Beruf als Malerin wählte und<br />

ausübte, berichtet darin etwa 20-jährig über ihre Erinnerungen an die Grosseltern<br />

in Ins. Madame Elisabeth de Meuron, eine Verwandte von Ankers Schulfreund<br />

Albert de Meuron aus der Neuenburger Zeit, hatte sie darum gebeten,<br />

in einem Kreis interessierter Damen eine «Causerie» zu halten.<br />

«Anet [Ins, d. Verf.], das Dorf zwischen Bern und Neuchâtel gelegen, wo unsere<br />

Grosseltern wohnten, schien <strong>für</strong> uns das Paradies auf Erden zu sein. Selbst<br />

als Kinder ahnten wir, wie sehr Grossvater seine Malerei liebte. Ohne die Gewissenhaftigkeit<br />

der Grossmutter hätte er gewiss noch die Zeit der Mahlzeiten<br />

vergessen. Er hatte eine besondere Vorliebe <strong>für</strong> die Schokoladencreme, und als<br />

Brefin: Erinnerungen 119


eines schönen Tages dieses Dessert auf dem Menuplan erschien, stürzten wir<br />

die Treppe zum Atelier empor und riefen: ‹Grossvater es gibt Schokoladencreme!›<br />

– worauf er sofort seine Pinsel ablegte und uns nach unten folgte, lachend und<br />

diese Delikatesse besingend.<br />

Im Sommer nahmen wir die Mahlzeiten unter dem grossen Dach hinter dem<br />

Haus ein. Wenn die Suppe sehr heiss war, bemerkte der Grossvater, indem er<br />

eine Augenbraue hochzog und scheinbar ängstlich die Antwort der Grossmutter<br />

erwartete – die er aber schon im voraus kannte –‚ ‹wenn jetzt Mama nicht<br />

hier wäre, würden wir mit unseren Suppentellern einen Rundgang durch den<br />

Garten machen, das würde die Suppe abkühlen›. Grossmutter aber lachte nur<br />

und schüttelte den Kopf, denn sie liebte solche Zeremonien nicht besonders.<br />

Wenn wir <strong>für</strong> die Sommer Ferien über La Neuveville und von dort mit dem<br />

Schiff über Erlach nach Ins kamen, empfing uns dort meistens die Grossmutter<br />

mit dem Break des Bären (das Hotel in Ins), selten nur der Grossvater, welcher<br />

seine Malerei nur unterbrach, wenn wir mit lautem Getöse ins Atelier<br />

stürmten, um ihm unsere Ankunft anzuzeigen. Dann drehte er sich um, blickte<br />

über seine Brille und lachte. Er war weitsichtig, also hatte er die Gewohnheit,<br />

alles, was weit weg war, über die Brillenränder hinweg zu betrachten, während<br />

er zum Malen durch sie hindurch blickte. Und schon bald waren wir in eine interessante<br />

Konversation verwickelt. Er fragte uns – ohne jede Pedanterie übrigens<br />

–, was uns in der Schule am meisten gefiel und welche Lekture wir bevorzugten,<br />

was uns eine aussergewöhnliche Mischung schien. Meine Schwester<br />

[Dora Brefin-Oser, d. Verf.] war eine eifrige Leserin und las ihm oft vor, während<br />

er malte. So verschlang sie mit enormem Eifer die ganze Odyssee. Damals<br />

ging sie noch in die Primarschule, aber Grossvater wusste genau, dass auch ein<br />

Kind den Abenteuern des Odysseus mit klopfendem Herzen folgen kann.<br />

Der Keuchhusten war <strong>für</strong> uns eine besonders gesegnete Zeit, denn diese<br />

Krankheit brachte uns als vom Arzt verschriebene Luftveränderung einen Aufenthalt<br />

in Ins ein. Es war Winter und es hatte stark geschneit, also verbrachten<br />

wir grosse Teile des Tages beim Schlitteln. [Der Schlitten mit der Inschrift von<br />

Dora steht immer noch im Ankerhaus, d. Verf.] Aber die Kehrseite der Medaille<br />

waren die Aufgaben, die uns die Lehrerin vorschrieb, denn sie wünschte, dass<br />

wir auf dem Niveau der anderen Schüler blieben. Das Rechnen, das ging noch,<br />

aber der Anblick all dieser Seiten mit Buchstaben zum Nachschreiben – da überkam<br />

Grossvater ein grosses Mitleid. Ich erinnere mich, wie er unsere Hefte<br />

nahm, worin unsere Lehrerin an jedem Zeilenanfang einen schönen Buchstaben<br />

gemalt hatte. Für mich waren die Grossbuchstaben an der Reihe – das ganze<br />

120 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Elisabeth Oser als junges Mädchen, Aquarell auf Papier,<br />

ca. 20x30 cm. – Privatbesitz.<br />

Brefin: Erinnerungen 121


Alphabet kam dran. Jede von uns musste einen Buchstaben neben den der Leh-<br />

rerin schreiben. ‹Damit ich sehe, wie ihr schreibt›, sagte der Grossvater. Der erste,<br />

den ich schrieb, war natürlich schlecht geraten und ganz verwackelt. Grossvater<br />

versuchte, ihn genau zu kopieren, fand aber, dass seine Buchstaben zu wenig<br />

zittrig seien, worauf er uns bat, auf beiden Seiten am Tisch zu rütteln, meine<br />

Schwester und ich. Das Resultat war prächtig und verursachte grosses Gelächter<br />

auf allen Seiten. Aber die Lehrerin in Basel sah das mit anderen Augen und<br />

rief erschreckt aus, als sie in unseren Heften blätterte: ‹Das ist ja schrecklich,<br />

Du machst in den Zeilen überhaupt keine Fortschritte von einer Seite zur andern!›<br />

und entschlossen setzte sie ans Ende jeder Seite eine 3 oder gar eine 3–4.<br />

[1 war damals die beste Note, d. Verf.] Ich dachte dabei nur: Wie kann die Lehrerin<br />

dem Grosspapa solch schlechte Noten geben.» 3<br />

Im Inser Atelier befinden sich immer noch Stabpuppen, welche Albert Anker<br />

aus alten Malstäben und Stoffresten von Kleidern seiner Modelle und Familie<br />

gebastelt hatte. Gelegentlich erscheinen sie auch auf Bildern. Um seine<br />

Modelle zu beruhigen und aufmerksam werden zu lassen, spielte er damit oft<br />

<strong>Geschichte</strong>n hinter einem Paravent versteckt. Ein besonderes Detail, welches<br />

uns auch Elisabeth Oser berichtet: Das rote Kleid des bösen Mannes war aus<br />

dem Hosenstoff eines Bourbakisoldaten geschneidert, der im Haus gepflegt und<br />

da verstorben war. Die Familie hatte den traurigen Durchzug dieser geschlagenen<br />

Armee betroffen miterlebt.<br />

Im Kontakt mit den Kindern kam auch Ankers grosses pädagogisches Interesse<br />

zum Zug. Dass er über Jahre in der Schulpflege sass und gerne die Klassen<br />

besuchte – nicht zuletzt, weil er dort nach Modellen Ausschau halten konnte –,<br />

ist in vielen Dokumenten belegt. Er verfolgte jeden Entwicklungsschritt seiner<br />

Kinder und Grosskinder und hielt sie in treffenden Zeichnungen, gelegentlich<br />

auch in Ölbildern fest. Im Ankerhaus ist eine Rarität erhalten geblieben aus dem<br />

Jahr 1866. Es ist eine fotografische Aufnahme nach einer alten Technik, eine<br />

Pannotypie. Die Aufnahme wurde damals auf Tuch (lat. Pannum = Tuch) aufgezogen,<br />

um so den Effekt eines auf Leinwand gemalten Bildes zu erhalten, und<br />

war so auch nicht mehr zerbrechlich wie die damals üblichen Daguerreotypien.<br />

Darauf sehen wir Albert Anker mit seiner ältesten Tochter Louise auf dem<br />

Schoss, wie er ihr eine <strong>Geschichte</strong> erzählt und diese dabei gleichzeitig illustriert.<br />

Spielsachen wählte er so, dass das Spielen immer auch ein Lernen war.<br />

Kinder sollten sich spielend Fähigkeiten aneignen und Wissen vermehren. Noch<br />

sind im Haus über 100 solcher Spielsachen erhalten und wurden liebevoll gepflegt<br />

und benutzt. 4<br />

122 BEZG N° 02/10


Albert Anker und Louise, Pannotypie, um 1866, 55x78 mm (Lichtmass).<br />

Foto Badri Redha, Archäologischer Dienst des Kantons Bern.<br />

– Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Brefin: Erinnerungen 123


Besonders getroffen haben Albert Anker die Todesfälle von Kindern in sei-<br />

ner Familie. Als er noch das Gymnasium in Bern besuchte, starben seine Mut-<br />

ter Marianne und sein Bruder Rudolf, kurz darauf auch seine besonders geliebte<br />

Schwester Louise. Als ob er sich selber Mut zusprechen wollte in dieser schwie-<br />

rigen Zeit, schrieb er in grossen gotischen Buchstaben auf seinen Massstab:<br />

«Siehe, die Erde ist nicht verdammt.» Der Satz stammt aus dem in der Familie<br />

oft benutzten Katechismus des Neuenburger Pfarrers Osterwald in einem Kom-<br />

mentar zum Hiobbuch, welches Anker Zeit seines Lebens besonders gerne und<br />

in der Ursprache Hebräisch las. 5 Als dann sein erster Sohn Ruedeli erst dreijäh-<br />

rig starb und er in einem rasch gemalten Bild vom toten Büblein Abschied nahm<br />

und die bewegenden Worte hineinkratzte: «Du liebe, liebe Ruedeli», konnte er<br />

in seinem Schmerz mehrere Wochen nicht mehr malen.<br />

Auch sein zweiter Sohn Emil durfte nicht lange leben und starb einjährig<br />

1871 in Paris kurz nach dem Krieg, wahrscheinlich an Cholera. Auch ihn hat<br />

der Vater in einer berührenden Zeichnung auf dem Totenbett festgehalten.<br />

Die drei Töchter heirateten und der Kontakt blieb rege erhalten durch Briefe<br />

und Besuche. Am Gedeihen der Grosskinder wiederum nahm der alternde Maler<br />

rege Anteil und schrieb auch ihnen köstliche Briefe. Der einzige gross gewordene<br />

Sohn Maurice suchte schon früh die Freiheit und das Abenteuer, lernte<br />

Schiffszimmermann am Technikum in Winterthur und erlebte als Matrose über<br />

Jahre viele Abenteuer auf See und in fernen Ländern, wie Briefe und Karten aus<br />

exotisch klingenden fernen Ländern beweisen. Lange verlief sich seine Spur im<br />

Ungewissen, in der Familie wusste man nur, dass er schliesslich nach Amerika<br />

ausgewandert sei, dort geheiratet hatte und zwei Töchter hatte. Vor ein paar<br />

Jahren gelang es mir, seinen Grosssohn in Texas ausfindig zu machen, bei welchem<br />

sich noch etliche Dokumente des fast verschollenen Sohnes fanden. So<br />

liess sich dessen bewegtes Leben rekonstruieren und der Zusammenhalt mit der<br />

Familie wieder herstellen, was sicher im Sinne des «Stammvaters» Albert wäre.<br />

Dazu gehört auch eine von Anker selbst gemalte Strassenkarte <strong>für</strong> den Weg von<br />

Ins nach Oberburg, wo Maurice in einem Internat untergebracht wurde, während<br />

die Familie im Winter in Paris weilte. Vor lauter Heimweh sei der 12-jährige<br />

Bub anhand der Karte zu Fuss wieder daheim aufgetaucht!<br />

Im Alter sinnierte Anker oft über das Sterben und den Tod nach. In seinen<br />

Carnets, den berühmten Tagebüchern, notierte er mehrere Male in leuchtender<br />

Farbe «EUTHANASIA». Als ehemaliger Theologiestudent las er Griechisch, Hebräisch<br />

und Latein fliessend. Euthanasia bedeutete damals nicht wie heute Sterbehilfe,<br />

sondern die Lehre vom guten Tod – also die wörtliche Deutung, auf<br />

124 BEZG N° 02/10


Albert Anker, Ruedi Anker auf dem Totenbett, 1869, Öl auf Leinwand,<br />

34 x 64 cm, Kat. Nr. 138. – Sammlung Christoph Blocher.<br />

Brefin: Erinnerungen 125


Lateinisch bekannter als Ars Moriendi. Dies bezeugt, wie sehr sich Albert Anker<br />

Zeit seines Lebens mit den philosophischen und religiösen Fragen über Leben<br />

und Tod beschäftigt hat. Im oben zitierten Bericht von Elisabeth Oser lesen<br />

wir weiter:<br />

«Eines Tages, als ich noch klein war, fragte ich ihn unvermittelt: ‹Grandpapa,<br />

bist Du der Grösste unter den Malern?› Er lachte und antwortete: ‹Oh<br />

nein, liebes Kind.› Darauf ich: ‹Wer dann ist der Grösste?› ‹Das ist schwierig zu<br />

sagen›, antwortete er, ‹man könnte vielleicht sagen Velasquez›, ‹und danach<br />

kommst Du?› ‹Oh›, sagte er, ‹neben Velasquesz bin ich wie eine Laus neben einem<br />

Elephanten!› Ich aber dachte, da müsse etwas falsch sein, denn Grandpapa<br />

hatte nichts von einer Laus.<br />

Als Grand-papa alt wurde, sprach er oft über den Tod und sagte, er hoffe,<br />

den alten Rafael in den Champs Elisés zu treffen um bei ihm ein paar Malstunden<br />

zu nehmen. Wir aber fielen ihm ins Wort: ‹Oh nein, Grosspapa, Du darfst<br />

nicht sterben, Du musst noch lange bei uns bleiben!› ‹Oh›, sagte er eines Abends,<br />

‹Du ahnst nicht, wie sehr ich mich freuen würde und lachen, wenn ich morgen<br />

im Himmel erwachen dürfte. Ich bin jetzt alt und lebenssatt wie die Patriarchen<br />

in der Bibel.›»<br />

So geschah es dann auch am Morgen des 16. Juli 1910. Er war 79 Jahre alt<br />

geworden, hatte nach seinem ersten Schlaganfall noch 9 Jahre intensiv weitergearbeitet<br />

und vor allem mehrere hundert Aquarelle gemalt bis zum letzten Tag.<br />

Als er sich erheben wollte, traf ihn ein zweiter Schlaganfall und er starb. In einem<br />

Staatsbegräbnis wurde er in Ins beerdigt, wo noch heute sein Grab mit einem<br />

Zitat aus dem Buch Hiob zu besichtigen ist.<br />

126 BEZG N° 02/10


Bleistiftzeichnung aus Albert Anker, Illustriertes <strong>Geschichte</strong>nbüchlein <strong>für</strong><br />

Louise Anker, 1867, 17,4 x7 cm. – Privatbesitz.<br />

Albert Anker, Der Weg von Ins nach Oberburg, gemalt <strong>für</strong> seinen Sohn<br />

Moritz, 1884, Wegkarte, Aquarell und Tusche auf Papier über Leinwand.<br />

– Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Geschenk der Enkelkinder an Albert Anker. Papeterie «A notre Grand Père»,<br />

1. Januar 1903, Pappe, Papier, Aquarellfarbe, bemalt, geklebt, beschriftet.<br />

– Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Brefin: Erinnerungen 127


Anmerkungen<br />

1 Zitate von Modellen, aus Albert Ankers Carnets. Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

2 Anker, Albert: «Le premier développement de l’enfant». In: La Suisse Libérale, Neuchâtel,<br />

Nr. 102, 5.5.1898.<br />

3 Oser, Elisabeth: «Causerie» (Plauderei), um 1910. Handgeschriebenes Heft der Enkelin Ankers,<br />

übersetzt aus dem Französischen von Matthias Brefin, Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

4 Die Spielsachen im Anker-Haus sind inventarisiert: Messerli, Isabelle: Inventar II.S.<br />

Spielsachen, Stiftung Albert Anker-Haus Ins, 2007 (unveröffentlicht).<br />

5 Siehe dazu den Beitrag von Gerrendina Gerber-Visser in diesem Themenheft.<br />

128 BEZG N° 02/10


«In Ins geht alles wie gewohnt»<br />

Das Seeland und seine Bewohner im Spiegel<br />

der Korrespondenz Albert Ankers<br />

Annelies Hüssy<br />

«In Ins geht alles wie gewohnt und Neues ist daselbst nichts das Sie interessieren<br />

könnte, dass Ihr Mathilde Probst sich mit Herrenschwand verheiratet hat, weil<br />

es nöthig war. Hier ist das Geld rar, so dass wenn Sie hier wären, man Ihnen<br />

überal nachlauffen würde. Mich persönlich hat letzten Hornung das Unglük getroffen,<br />

dass ich meine liebe Frau durch den Tod verloren habe, was mich thief<br />

kränken wird so lange mir noch zu leben vergönt sein wird.» 1<br />

Gesellschaftsnachrichten, Politisches, Alltagssorgen, Familiensachen und –<br />

na türlich – die Kunst umreissen den Kosmos der Briefthemen in Albert Ankers<br />

Korrespondenzen. Eine stattliche Anzahl an Briefen ist überliefert. Zur Haupt-<br />

sache sind es Familienbriefe, angefangen bei kindlichen, nach Vorlage verfass-<br />

ten Neujahrswünschen Albert Ankers an die Eltern, verweilend bei den Berich-<br />

ten um Sorgen und Nöte des Vaters und später der rührend um die mutterlose<br />

Familie besorgten Tante Anna-Maria während der Ausbildung der Kinder. Es sind<br />

Briefe der sich gegenseitig Trost zusprechenden Anteilnahme bei zahlreichen<br />

Todes fällen im Hause Anker, rührende Schreiben des Vaters und Grossvaters Al-<br />

bert Anker an seine Kinder und Enkelinnen, im weiteren Umkreise gefolgt von<br />

unbeschwerter Korrespondenz mit den Jugendfreunden und Schulkameraden,<br />

von in trockenem Ton abgefassten, quasi amtlichen Schreiben des beauf tragten<br />

Amtsrichters Stauffer aus dem Nachbardorf Gampelen, die Administration im<br />

Inser Heim der Familie Anker beschlagend, die auch dann besorgt sein wollte,<br />

wenn die Familie des Künstlers ihre Wintermonate in Paris verbrachte, Briefe<br />

von Bewunderern des Malers aus Politik und Gesellschaft; aus dem dörflichen<br />

Lebenskreis stammt dagegen nur Weniges. Und wiewohl die meisten der im Nachlass<br />

erhaltenen Briefe dem familiären und freundschaftlichen Umfeld angehören,<br />

reflektieren sie dennoch Leiden und Freuden des ländlichen Alltags in der<br />

von tiefgreifenden Umbrüchen geprägten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.<br />

Albert Anker in der Burgerbibliothek<br />

Seit rund sechs Jahren verwahrt die Burgerbibliothek Bern Teile des handschriftlichen<br />

Nachlasses von Albert Anker als Dauerdepositum der Stiftung Albert Anker-Haus Ins.<br />

Nebst ausgewählten Korrespondenzen sind es bislang vor allem Fotos, welche den<br />

Hauptteil des an der Münstergasse 63 liegenden Nachlasses ausmachen. Die Forschung<br />

hat sich bereits sehr früh <strong>für</strong> die Briefwechsel des Künstlers interessiert, vornehmlich<br />

Hüssy: Korrespondenz 129


jedoch unter dem Gesichtspunkt des kunstgeschichtlich-biographischen Zugangs zum<br />

Maler Albert Anker. Zu erwähnen sind etwa die Edition von Briefen Ankers durch seine<br />

Tochter Marie Quinche-Anker (Le peintre Albert Anker 1831–1910 d’après sa correspon-<br />

dance, Berne 1924) oder die schmale Arbeit von Hans Zbinden in der Reihe der <strong>Berner</strong><br />

Heimatbücher (Albert Anker in neuer Sicht, Bern 1952). Eine modernere und kommen-<br />

tierte Auswahl an Briefen hat schliesslich Robert Meister herausgegeben (Albert Anker<br />

und seine Welt. Briefe, Dokumente, Bilder, Bern 2000, 4., erw. Aufl.; auch in Französisch<br />

erschienen: La vie d’Albert Anker au fil de sa correspondance, Biel 2000).<br />

Familie<br />

«Jetzt sind die Leiden des guten Vaters verschwunden. Ach ihr meine Lieben<br />

sollen wir nicht den allmächtigen Gott und Schöpfer danken dass er ihm aus<br />

seinen Leiden erlöchsete [sic!] wie es scheind war er erst recht in die Leiden ge-<br />

kommen, ich habe die zwei Nechte wo ich wusste dass er durchlag keine Ruhe<br />

gehabt dass ich immer daran denken muss. Gott sei mit uns allen.<br />

Ich muss enden es sind immer Leute bei mir um den selig verstorbenen Bruder<br />

dass Leid zu bezeugen. Alle Nachbaren und Verwante bezeugen Euch dass<br />

Leid von ganzem Herzen es wurden noch ville Trenen <strong>für</strong> ihn vergossen. Ich<br />

danke Bruder und Sophie herzlich <strong>für</strong> ihre Mühe die sie diese Zeit gehabt haben.<br />

Ich schike Euch eine Hammen ihr könt sie […] bruchen.» 2<br />

Am 25. Mai 1860 stirbt der Tierarzt Samuel Anker an einer Krebserkrankung,<br />

die ihn schon längere Zeit beschwert hat. Die beiden letzten Jahre vor seinem<br />

Tod sind geprägt vom gesundheitlichen Auf und Ab des zunehmenden Leidens.<br />

Albert und vor allem die Anna-Maria, des Vaters Schwester, betreuen den<br />

Kranken, der seine letzten Tage in Bern bei seinem Bruder verbringt und dort<br />

stirbt. Die Anteilnahme der Gemeinde ist gross gewesen, wie es die Tante in ihren<br />

wenigen Worten ausdrückt. Samuel Anker, Veterinär und von 1831 bis1852<br />

Kantonstierarzt in Neuenburg, ist 1852 ins elterliche Haus nach Ins zurückgekehrt<br />

und hat sich fortan in seiner Gemeinde engagiert, mitunter erteilt er medizinische<br />

Hilfe gleichermassen an Mensch und Tier. Er ist ein konservativer<br />

Mann mit starken Prinzipien und zugleich durchaus derbem Humor, der es seinem<br />

Sohn nicht immer leicht macht. 3 Der Familie des Tierarztes Samuel Anker<br />

werden die Jahre von 1848 bis 1853 zu einer schweren Zeit der Prüfung. Nach<br />

dem frühen Hinschied der Gattin muss der Vater auch den Tod seiner Tochter<br />

und eines Sohnes beklagen. Oft klingen in diesen Tagen bittere Töne unverhohlen<br />

in den Briefen des Vaters an: «[…] früher war der Kinderseegen hoch ge-<br />

130 BEZG N° 02/10


Brief von Anna-Maria an Albert Anker, undatiert.<br />

– Depositum Burgerbibliothek Bern.<br />

Hüssy: Korrespondenz 131


Lory, Gabriel. – Pfarrhaus Ins, Aquarell.<br />

– Burgerbibliothek Bern.<br />

132 BEZG N° 02/10


schätzt indem die Eltern an ihnen eine Stütze fanden <strong>für</strong> ihres Alter, und heute,<br />

was das Alter nicht vermag die Eltern früh ins Grab zu drücken, das vermögen<br />

die Kinder. Ich habe schon oft gedacht, wenn ich von Kindern abhängig werden<br />

sollte, so wollte ich weit lieber abhängig von Kindern sein die weder<br />

schrei ben noch lesen könnten die nur vom hören sagen an eine Vergeltung glau-<br />

ben, daher auch ein Gewissen haben als von Kindern <strong>für</strong> die man grosse Opfer<br />

gebracht hat; denn man wird glauben müssen, dass die höhere Erziehung Kinder<br />

ehnder von ihren Pflichten gegen die Eltern abzieht als sie dazu führt [...]<br />

So viel <strong>für</strong> heute von deinem dich grüssenden und ich möchte sagen lebensmüden<br />

Vater.» 4<br />

Die Schwester des Vaters, Tante Anna-Maria Anker, nimmt sich des verwaisten<br />

Haushalts an und kümmert sich fortan bis zu ihrem Ableben am 31. Mai<br />

1873 um die Familie. Liebevolle Briefe legen Zeugnis ab von der Herzensgüte<br />

dieser einfachen Frau, der die Hand, welche die Feder zu führen hat, nicht immer<br />

gehorcht und der das Formulieren in den Briefen Anstrengung bedeutet.<br />

Sie findet über den Familienkreis hinaus im ganzen Dorf offenbar Achtung und<br />

Zuneigung. 5<br />

Umso mehr muss der begabte Sohn darum kämpfen, seiner wahren Berufung<br />

folgen zu dürfen. Die Theologie, das Wunschfach des Vaters, wird der Sohn<br />

zwar verwerfen, Religiosität bleibt in der Familie Anker aber stets ein wichtiger<br />

Halt. Dies drückt sich unaufdringlich in zahlreichen Briefen aus, die Tante Anna-<br />

Maria vermittelt es in ihrer direkten und einfachen Sprache, Vater und Sohn in<br />

tief reichenden theologischen Erörterungen. Eine Stütze ist der Inser Pfarrer<br />

Lüthardt, väterlicher Freund und Ratgeber, dem Pfarrhaus ist die Familie Anker<br />

ihrerseits sehr verbunden. Man verkehrt miteinander und nimmt Anteil an Freud<br />

und Leid. Man freut sich über ein Tafelklavier, das ins Pfarrhaus geliefert der<br />

Tochter grosses Vergnügen bietet und den musikbegeisterten Vikar – er «ist sehr<br />

musikalisch u. besizt eine ausgezeichnete Bassstimme» 6 – noch enger an die<br />

Pfarrersfamilie bindet, man leidet mit, wenn der Pfarrer erkrankt und sich nicht<br />

erholen kann. Eine Weinlieferung oder ein Bund Rhabarber könnten helfen und<br />

werden auf Wunsch sogleich hinübergeschickt. 7 Und stets fort schliessen sich<br />

den Grüssen der Familie auch die Grüsse der Nachbarn und Freunde an.<br />

Ländliche Eingezogenheit und Weltoffenheit begegnen sich im Hause Anker<br />

in Ins. Albert Anker vermerkt besonders träfe, ans Anekdotische grenzende<br />

Bemerkungen und Erzählungen seiner aus dem Dorf und den weiteren Gegenden<br />

des Seelandes stammenden Modelle – «Wenn i mi Schätz wär, so wett i nid<br />

es Meitschi hürate wien ig eis bi» oder «Er isch Grossrat gsi und Kircherat gsi<br />

Hüssy: Korrespondenz 133


und Gmeinrat und Verfassigsrat und isch doch nüt gsy» 8 – in seinen Carnets. In<br />

Gegensatz zum Unverfälschten des Volkes tritt der weltläufige und intellektu-<br />

elle Ansatz im Hause Anker selbst. Albert Anker schreibt launige Briefe an seine<br />

Töchter und später an eine der Enkelinnen aus Paris und schildert in anschau-<br />

lichen Worten, mitunter durch eine Federzeichnung illustriert, das bunte Le-<br />

ben in der Weltstadt Paris, erzählt von den Verkaufsständen auf den Boulevards:<br />

«Hier soir j’ai passé sur les grands boulevards, où on vend toutes sortes de choses<br />

pour nouvel an, il y a surtout des poupées, des bonbons, des petits fusils et<br />

des soldats. Les marchands sont dans des petites maisons qui sont la moitié<br />

grandes comme notre poulailler, ces petites maisons se touchent, et il y a une<br />

file plus longue que depuis notres maisons au Sallenstein [...]» und von der Mode<br />

der feinen Damen, die sich im Jardin du Luxembourg ergehen: «Les dames ont<br />

des drôles de mode de chapeaux, on ne sait pas comme elles peuvent les faire<br />

tenir sur leurs tresses […].» 9<br />

Alltag<br />

Der Tierarzt Samuel Anker, der durch seine Tätigkeit nahe am bäuerlichen Alltag<br />

lebt und wirkt, kennt die Nöte der Seeländer Bauern. So registriert er beispielsweise<br />

den Lauf des Jahres genau anhand der Witterungserscheinungen und<br />

vermerkt dies regelmässig in seinen Briefen an den zu Studienzwecken auswärts<br />

weilenden Sohn: «Die 2 ½ jährige oder bald 3 Jahre alte schöne Witterung scheint<br />

hier endern zu wollen, und an die schöne trokene Witterung Sturm und Wasser<br />

zu kommen. Vor 2 Jahren liess ich durch Drainierer eine Akan [Abwasser leitung,<br />

d.V.] aus dem Keller machen, nun zeigt die erste Witterung dass die Arbeit und<br />

Kosten vergeben waren indem wir wie zuvor Wasser im Keller haben.» 10 Wir<br />

schreiben das Jahr 1858, als Vater Samuel Anker von diesen die Inser seit je be-<br />

lastenden Sorgen mit den wiederkehrenden Überflutungen durch die Aare be-<br />

richtet. Und zwei Jahre später schildert Amtsrichter Stauffer in seinem Schrei-<br />

ben an Albert Anker: «Wie Jungfer Anker Ihnen geschrieben hat, ist diesen<br />

Winter stets wieder Wasser in ihren Keller gekommen, so dass man viel hat pum-<br />

pen müssen; Jungfer Anker ist zwar darüber nur zu ängstlich, alein es wäre doch<br />

gut, wenn dieser Sache radikal abgeholffen würde, und zu diesem Ende habe ich<br />

mehrere Kenner darüber befragt […]» 11 und fügt gleich an: «In Bargen ist ein<br />

Maurer der behauptet, er könnte […] so verhüten, dass kein Wasser mehr dar-<br />

ein kähme, – da<strong>für</strong> müsste aber alles ausgeräumet werden, und der Boden müsste<br />

gut ausgeebnet werden u.s.w. diese würde alles einige hundert Franken kosten,<br />

bestimtes hat er aber nicht angegeben.» 12 Wir erfahren nicht, ob die Drai nage<br />

134 BEZG N° 02/10


Brief von Albert Anker an seine Tochter Marie, undatiert.<br />

– Depositum Burgerbibliothek Bern.<br />

Hüssy: Korrespondenz 135


im Keller des Ankerhauses in der vorgeschlagenen Weise durchgeführt wird.<br />

Mitte des Jahrhunderts erreicht die Zahl der Armen im ganzen Kanton ei-<br />

nen Höchststand von gegen 30 000 Personen. 13 Dieses schlägt sich auch im Ber-<br />

ner Seeland nieder, indessen weist das Dorf Ins im kantonalen Vergleich einen<br />

unterdurchschnittlichen Armenanteil auf. 14 Harte Winter und feucht-kalte Som-<br />

mer bergen existenzielle Gefahren <strong>für</strong> viele der kleinen Bauern. «Wir haben hier<br />

einen schönen aber in Hinsicht der Kälte einen strengen Winter; anhaltende<br />

Trökene und an vielen Orten starken Wassermangel der so weit geht, dass man<br />

trotz der wohlfeilen Frucht, das Brod aus Mangel an Mähl wird sparren müssen,<br />

dan viele Mühlen stehen still, und andere leisten nur wenig.» 15<br />

Feuer und Wasser sind die grossen lebensbedrohlichen Gefahren <strong>für</strong> die Dörfer<br />

des Seelandes. Die Häuser, meist aus Holz und mit Stroh gedeckt, werden<br />

leicht ein Raub der Flammen, entfacht durch Blitzschlag genauso wie durch<br />

böswillige Brandstiftung. Die Folgen <strong>für</strong> die Betroffenen sind jedes Mal verheerend,<br />

nachbarschaftliche Hilfe wird spontan geleistet: «Vorgestern war ich in<br />

Landeron und weil ich dort war brach in Gals Feuer aus um ½ 5 Uhr Abends,<br />

begab mich dahin um allerley Anordnungen zu treffen und bliebe da bis die Gefahr<br />

um 8 Uhr vorüber war; die ganze Reihen Häuser auf der Seiten gegen das<br />

Moos vom untersten Haus an bis in die Gegend der Schule, wurde in einer halbstund<br />

zernichtet, 19 Häuser wurden durch das Feuer zerstört, etwelche 30 Famil<br />

lien sind ohne Obdach. Das Geschrey der Weiber und Kinder machten einen<br />

furchtbaren Eindruck. Die Armuth ist und wird da gross, und die Finanzen er-<br />

schöpft; moralische und finanziele Vernicht […] zum Trost ist da wenig vorhan-<br />

den, denn es sind Abberufer, und daraus kann man schwer schliessen was sie<br />

sind. Die Vieh waar wurde gerettet im übrigen aber wenig denn das Feuer gieng<br />

zu schnell von einem Hause zum andern, wäre dazwischen nur ein einziges Zie-<br />

gelhaus gewesen, ich glaube man hätte das Feuer auf seinem Wege bemei stern<br />

können.» 16<br />

Das Ankersche Hauswesen gründet auf Sparsamkeit und Fleiss. Tante Anna-<br />

Maria wacht sorgend über allem: «Ich heüsele das ich nicht aus der Sparnis Kas se<br />

nehmen muss diesen Winter, diesen Monat brucht man Geld man muss <strong>für</strong> das<br />

Holtz dass 8 bis 10 franken geben, immer mus man etwas zahlen es wird wohl<br />

bald aufhören dass Bätlen. Bruder gab mir ein 5 franken Stük weil er hörte was<br />

man bezahlen muss. Bey Heren Staufer durfte ich mich nicht melden wen ich<br />

ihn den fahl kommen sollte dass ich Geld haben müste er sagt sonst immer wen<br />

er zu mir komt wie ihm kein Geld ein gehe und doch viel zahlen soll er sagte sie<br />

könne warden er müsse auch warden.» 17<br />

136 BEZG N° 02/10


Porträt Anna-Maria Anker, Silberstiftzeichnung, 1852. – Privatbesitz.<br />

Hüssy: Korrespondenz 137


Ins im 19. Jahrhundert. – Burgerbibliothek Bern.<br />

138 BEZG N° 02/10


Seit Beginn des Jahrhunderts entstehen im gesamten Kantonsgebiet Spar-<br />

kassen, deren Ziel und Zweck es ist, das Sparen insbesondere im Milieu der klei-<br />

nen Leute zu fördern. 18 Diese Sparkassen verbreiten sich insbesondere in der<br />

Landschaft, sie wirtschaften auf gemeinnütziger, nicht primär gewinnorientier-<br />

ter Basis und werden zumeist ehrenamtlich verwaltet. In erster Linie dienen sie<br />

den lokalen Märkten, aktivieren den Geldfluss und stellen die Mittel in der Form<br />

von Gülten <strong>für</strong> den Bodenmarkt zur Verfügung, geben Anleihen an die Gemein-<br />

wesen aus, wie dies in einem Schreibkalender aus dem Hause Anker auch <strong>für</strong><br />

das Dorf Ins vermerkt ist. 19<br />

Kleine und grosse Sorgen und Nöte werden brieflich berichtet, und wenn<br />

die Pendulen die Zeit nicht korrekt anzeigen, so kann es schon geschehen, dass<br />

die Köchin Rösi das Mittagessen viel zu früh auftragen muss: «[…] le diner fut<br />

prêt à 10 ½ heures, et réellement nous avons diné à 10 ½ heures; c’était bon tout<br />

de même, car à notre estomac nous avions au moins midi […]», fügt der Papa<br />

Albert der Beschreibung humorvoll hinzu. 20<br />

Politik<br />

«Das Politisieren sage ich dir nicht ab, aber sey dabey bescheiden, lasse dich nicht<br />

in Händel, aber den ergriffenen Grundsätzen bleibe treu, und sollten sie mit den<br />

Waffen vertheidigt werden müssen, sollten die jetzt in den Schwung gekommenen<br />

Grundsätze siegen, und das Reich des Satans sollte sich je länger je mehr<br />

ausdehnen, was indessen wegen den schlechten Grundsätzen nie in die Länge<br />

dauren kann, so wäre der Tod <strong>für</strong> eine bessere Vaterlandssache ein heili ger, den<br />

ich gerne, wenn es nicht anders sein kann, selbst mit meinen Kindern theilen<br />

würde […] Dass die jetzigen Grundsätze nicht recht, nicht gut sind, das beweisen<br />

schon die Freyschärler von 1848 denn sie haben genugsam damals gezeigt<br />

dass ihre Sache selbst des schlechtesten Mannes nicht werth seien, drum haben<br />

sie sich so aus dem Staub gemacht, andere zu hunderten weis, von Gabeln und<br />

Bäsen […], mit Stutzer Bley und Pulver auf dem Bukel fangen lassen.» 21 Im<br />

konser vativen Milieu des Hauses Anker werden die politischen Entwicklungen<br />

im Kanton Bern wie in der Eidgenossenschaft rege verfolgt und kommentiert.<br />

Lokale gleichermassen wie Ereignisse der grossen Politik finden ihren Niederschlag<br />

im Kosmos des <strong>Berner</strong> Seelandes. Es ist der Vater, der den Verfassungskämpfen<br />

der Mitte seines Jahrhunderts nichts Gutes abzugewinnen vermag und<br />

der sich zusehends in eine unversöhnliche Haltung gegenüber den Forderungen<br />

der Radikalen in der Revision der 1846er-Verfassung versteift.<br />

Die Wahlen von 1845 bringen einen deutlichen Sieg der Radikalen, worauf<br />

Hüssy: Korrespondenz 139


die Revision der Verfassung beschlossen und ins Werk gesetzt wird. Der dazu<br />

berufene Verfassungsrat besteht grösstenteils aus Radikalen (90 von 139 Mandaten<br />

gingen an die Radikalen), was sich in der 1846er-Verfassung denn auch<br />

direkt niederschlägt. 22 Für den konservativen Seeländer Samuel Anker ist diese<br />

Entwicklung ein Stachel im Fleisch der recht denkenden <strong>Berner</strong>, er selber rechnet<br />

sich ausdrücklich dazu und tut sich schwer mit den Neuerungen des «Freischarenregiments».<br />

Und erst recht das Jahr 1848; es beginnt bereits stürmisch:<br />

Die Unruhen in Paris, welche in die Februarrevolution, zum Sturz des «Bürgerkönigs»<br />

Louis Philippe und zur Ausrufung der zweiten Republik führen, werden<br />

mit leidenschaftlichem Interesse verfolgt und die von Vater Anker mit Vehemenz<br />

kritisierte Haltung des schweizerischen Bundesrates erhält im Brief an<br />

seinen Sohn Albert vom 31. Januar 1848 beredten Ausdruck: «Sie haben wieder<br />

ernsthafte und dabey sehr traurige <strong>Geschichte</strong>n in Paris erlebt durch die infamen<br />

politischen Märchen, worüber jeder rechtliche Mensch sich empört; Gott<br />

sei Dank, dass die Vorsehung ihren teuflischen Plan zu nicht machte. Wie lange<br />

wird die bessere Klasse dieses noch dulden? Werden nicht ernste Maasregeln<br />

weit u. breit ergriffen werden, um diesen Mördern endlich ihr Handwerk zu legen?<br />

Es freute mich sehr in der Zeitung zu lesen, dass der franz. Gesandte bey<br />

der Eidgenossenschaft eine ernste Ueberwachung von solchem Gesindel beim<br />

Bundesrath fordert. Es ist recht, denn diese Behörde liebäugelt als Behörde nur<br />

zu sehr mit solchen elenden Republikanern. Es wäre zu wünschen dass ihnen<br />

von einer solchen Macht besser aufgepasst würde […]» 23<br />

Die endgültige Ablösung von alten Herrschaftsstrukturen, vorab die Aufhebung<br />

der Feudallasten war ein Anliegen der Seeländer, unterstützt von Ulrich<br />

Ochsenbein und Jakob Stämpfli, und ausgefochten auf dem politischen Schlachtfeld<br />

der leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den alten liberalkonservativen<br />

und den sich abspaltenden sozial-reformerischen, radikalen Kräften<br />

wird überlagert von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen,<br />

die den Agrarkanton Bern auf das Schärfste herausfordern. Technische (Juragewässerkorrektion),<br />

agrarreformerische und verkehrsmässige Neuerungen (Eisenbahn-<br />

und Strassenbau) führen zu sozialen Umschichtungen, welche nun<br />

zunehmend aufs bäuerliche Umland übergreifen. Erst gegen Ende des Jahrhunderts<br />

findet auch der Kanton Bern den Anschluss an die gesamtschweizerische<br />

Modernisierung. 24<br />

Was in einem grösseren Ganzen sich ereignet, findet seine Spiegelung im<br />

dörflichen Kosmos zu Ins, zum Ausdruck gebracht in den Korrespondenzen der<br />

Familie Anker. Wirtschaftliche – denken wir an das Sparkasseguthaben der Tante<br />

140 BEZG N° 02/10


Anna-Maria – und gesellschaftliche Dynamik gleichermassen wie politisches<br />

Ringen um den liberalen Volksstaat tönen in den Briefen an, mitunter nur in<br />

Anspielung, oft aber auch in der direkten Sprache etwa von Vater Samuel Anker.<br />

«In Ins geht alles wie gewohnt», ein typisches Seeländer Bauerndorf, bereits<br />

zu seinen Lebzeiten berühmt geworden durch den Maler Albert Anker, hat es<br />

dennoch vermocht, den bodenständigen Charakter zu bewahren. Land und<br />

Leute, von ganz eigenem Schlag, trockenem Humor gemischt mit einer fast naiv<br />

anmutenden Volksfrömmigkeit, werden nicht allein in den Bildern des Malers<br />

in all den vielschichtigen Ausprägungen ihrer kleinen Welt wunderbar lebensnah<br />

dargestellt, sie finden auch ihren unmittelbaren, weil absichtslosen Aus-<br />

druck in der alltäglichen Korrespondenz des Hauses Anker.<br />

Anmerkungen<br />

1 Brief von Amtsrichter Stauffer an Albert Anker vom 26. April 1861. Burgerbibliothek Bern:<br />

N Albert Anker A 8/63.<br />

2 Brief von Anna-Maria Anker an Albert Anker, undatiert [evtl. 1860]. Burgerbibliothek Bern:<br />

N Albert Anker A 8/20.<br />

3 Briefe von Samuel Anker an Albert Anker. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/21 a – f.<br />

4 Brief von Samuel Anker an seinen Sohn Albert vom 6. Oktober 1850. Burgerbibliothek Bern:<br />

N Albert Anker A 8/21 c.<br />

5 Friedli, Emanuel: Bärndütsch als Spiegel bernischen Volkstums. Band 4: Ins, Bern 1914, 363 f.<br />

6 Brief von Pfarrer Lüthardt an Albert Anker, undatiert. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker<br />

A 8/28.<br />

7 Briefe von Pfarrer Lüthardt an Samuel und Albert Anker: v.a. Brief vom 10. September 1826 an<br />

Samuel Anker. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/24.<br />

8 Zitate von Modellen, aus Albert Ankers Carnets. Stiftung Albert Anker-Haus Ins: ohne Signatur.<br />

9 Brief von Albert Anker an seine Tochter Marie, undatiert. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker<br />

A 8/29; siehe dazu den Beitrag von Beat Gugger in diesem Themenheft.<br />

10 Brief von Samuel Anker an seinen Sohn Albert vom 29. Dezember 1858. Burgerbibliothek Bern:<br />

N Albert Anker A 8/21 e.<br />

11 Brief von Amtsrichter Stauffer an Albert Anker vom 18. Februar 1867. Burgerbibliothek Bern:<br />

N Albert Anker A 8/84.<br />

12 Brief von Amtsrichter Stauffer an Albert Anker vom 18. Februar 1867. Burgerbibliothek Bern:<br />

N Albert Anker A 8/84.<br />

13 Junker, Beat: Vom Alten zum Neuen Bern. In: Illustrierte <strong>Berner</strong> Enzyklopädie, Bd. 2 <strong>Geschichte</strong>.<br />

Bern 1981, 180.<br />

14 Pfister, Christian; Egli, Hans-Rudolf (Hrsg.): Historisch-Statistischer Atlas des Kantons Bern<br />

1750–1995. Bern 1998, 102/103.<br />

15 Brief von Samuel Anker an seinen Sohn Albert vom 31. Januar 1848. Burgerbibliothek Bern:<br />

N Albert Anker A 8/21 f. Siehe Pfister, Christian: Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen<br />

und Naturkatastrophen. Bern, Stuttgart, Wien 1999, 292, wo der Januar 1848 unter den kalt-<br />

Hüssy: Korrespondenz 141


trockenen Anomalien aufgeführt wird.<br />

16 Brief von Samuel Anker an seinen Sohn Albert vom 24. März 1852. Burgerbibliothek Bern:<br />

N Albert Anker A 8/21 d.<br />

17 Brief von Anna-Maria Anker an Albert Anker vom 28. Januar 1862. Burgerbibliothek Bern:<br />

N Albert Anker A 8/51. Zur Entstehung der Sparkassen vgl. Pfister, Christian: <strong>Geschichte</strong> des<br />

Kantons Bern seit 1798. Band 4: Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und<br />

Umwelt 1700–1914. Bern 1995, 286: «In der zweiten Jahrhunderthälfte trugen die <strong>Berner</strong> erheblich<br />

mehr Spargelder zur Bank als die Angehörigen der meisten anderen Kantone. Anzunehmen<br />

ist auf Grund dieses Befundes, dass steigende landwirtschaftliche Einkommen eine Spartätigkeit<br />

möglich machten, die wegen der numerischen Bedeutung des Agrarsektors ins Gewicht fiel.»<br />

18 Pfister (wie Anm. 17), 286: «Die ‹Banken des kleinen Mannes› popularisierten das Zinsdenken<br />

und förderten die Spartätigkeit, was längerfristig der Kreditversorgung der Wirtschaft zugute<br />

kam.»<br />

19 Schreibkalender von 1806 von Rudolf Anker mit Anekdotensammlung von Albert Anker. Stiftung<br />

Albert Anker-Haus Ins: ohne Signatur: «Das Dorf [Ins, d.V.] macht bei der Hypothekarkasse ein<br />

Anleihen von 155000 Franken, die aber schon bis 130000 Franken abbezahlt sind. Das verkaufte<br />

Moos, 400 Jucharten zu 90 Franken (36000) und 100 à 200 Franken (20000) soll als Abschlagszahlung<br />

dienen.»<br />

20 Brief von Albert Anker an seine Tochter Louise, undatiert. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker<br />

A 8/29.<br />

21 Brief von Samuel an Anker an seinen Sohn Albert vom 10. April 1850. Burgerbibliothek Bern:<br />

N Albert Anker A 8/21 b.<br />

22 Junker, Beat: <strong>Geschichte</strong> des Kantons Bern seit 1798. Bd. II: Die Entstehung des demokratischen<br />

Volksstaates 1831–1880. Bern 1990, 117–190.<br />

23 Brief von Samuel Anker an seinen Sohn Albert vom 31. Januar 1848. Burgerbibliothek Bern:<br />

N Albert Anker A 8/21 f.<br />

24 Pfister (wie Anm. 17), 344: «Mit mehrjähriger Verspätung griff der gesamtschweizerische Modernisierungsschub<br />

1890 auf den Kanton über und leitete eine lange Periode der Prosperität ein,<br />

die als eigentliche Gründerzeit der bernischen Industrie bezeichnet werden kann.»<br />

142 BEZG N° 02/10


Warum der Schnellzug nach Paris<br />

in Ins angehalten hat<br />

Erinnerung an eine kleine Inser <strong>Geschichte</strong><br />

Beat Gugger<br />

Die Ferien und freien Tage haben meine Schwestern und ich oft bei unseren<br />

Grosseltern in Ins verbracht. 1 Mein Vater 2 ist hier als Bauernbub aufgewachsen;<br />

Ins ist der Heimatort unserer Familie. Wir Kinder aus der Stadt genossen die<br />

Tage auf dem Bauernhof bei den Tieren und beim Arbeiten draussen auf dem<br />

Feld; vor allem auch weil bei der Arbeit <strong>Geschichte</strong>n erzählt wurden. Die der<br />

Grossmutter waren schöne Erzählungen, bei denen von Onkel Mathys3 – oft von<br />

einem trockenen Lachen begleitet – waren wir meist nicht ganz sicher, ob sie<br />

stimmten oder er sie nur <strong>für</strong> uns Kinder erfunden hatte.<br />

Eine <strong>Geschichte</strong> ist mir aber bis heute in Erinnerung geblieben: Wenn wir<br />

auf dem Feld im Moos arbeiteten, sah man gegen das Dorf zu die Eisenbahnlinie<br />

der Bern-Neuenburg-Bahn. Kurz nach drei Uhr nachmittags hielt am Bahnhof<br />

Ins der direkte Schnellzug von Bern nach Paris. 4 Das war der Moment <strong>für</strong>s<br />

«Zimis». 5 Dann holte der Onkel ganz stolz aus und erzählte die <strong>Geschichte</strong>, dass<br />

es dem Maler Albert Anker zu verdanken sei, dass der Zug von Bern nach Paris<br />

in Ins anhalte. Der berühmte Maler habe sich bei der Direktion der Bahn beschwert<br />

und gebeten, dass der Schnellzug in Ins anhalte, da er zeitweise in Paris<br />

gelebt habe, hier bequem einsteigen wolle. Anker sei ja damals schon, so Onkel<br />

Mathys, ein berühmter und geachteter Mann gewesen, so dass die Direktion der<br />

Eisenbahn auf ihn gehört habe.<br />

In Ins und in unserer Familie, Bauern soweit der Stammbaum zurückreicht,<br />

war Paris schon immer der Inbegriff der grossen Weltstadt. Bewundert wurde<br />

Fritz Grädel, der in den 1930er-Jahren mit seinem Velo von Ins nach Paris an die<br />

Weltausstellung gefahren sei. Mein Onkel erzählt stolz, wie er auf seiner ersten<br />

Reise nach Paris in den 1990er-Jahren bei der Rückfahrt bemerkte, wie im «Gare<br />

de Lyon» an der Anzeigetafel unter den Haltestellen des Zugs nach Bern auch<br />

«Anet», der französische Name von Ins, aufgeführt war.<br />

Albert Anker wird 1831 als Sohn des Tierarztes Samuel Anker in Ins, unweit<br />

der Sprachgrenze, geboren und wächst auf dem Dorf in einer bürgerlichen Familie<br />

auf. 6 Einige Jahre lebt die Familie in Neuchâtel, Albert erhält eine zweisprachi ge<br />

Erziehung und hat zeitlebens eine grosse Vorliebe <strong>für</strong>s Französische. Nach dem<br />

abgebrochenen Theologiestudium kann er sich – mit Einwilligung des Vaters –<br />

seiner wahren Leidenschaft, der Kunst, zuwenden. 1854 bricht er auf nach Paris,<br />

mietet sich ein Zimmer und beginnt die Ausbildung zum Maler. 1855 immatri-<br />

kuliert er sich an der «Ecole Impériale et Spéciale des Beaux-Arts». Bis 1890<br />

pendelt er zwischen der Weltstadt und seinem Heimatdorf im <strong>Berner</strong> Seeland.<br />

Gugger: Schnellzug 143


Mit seiner Malerei findet Anker in Paris schnell Anerkennung. 7 1859 beginnt<br />

seine regelmässige Teilnahme am damals <strong>für</strong> die zeitgenössische Kunst wichtigen<br />

Pariser Salon. Der zweisprachige Anker integriert sich glänzend im Pariser<br />

Kunstbetrieb und wird von den meisten als französischer Künstler angesehen.<br />

Viele Pariser Künstler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leben und arbeiten<br />

nur in den Wintermonaten in der Kunstmetropole: Hier sind die einflussreichen<br />

Galerien, die wichtigen Ausstellungen, und nicht zuletzt treffen sich<br />

hier die kunstinteressierten Käufer. Die Sommermonate zieht man sich dagegen<br />

zum Arbeiten zurück aufs Land, die Franzosen in den Süden in die Provence,<br />

an die Côte d’Azur oder in den Norden in die Normandie. Albert Anker<br />

kehrt mit seiner Familie jedes Jahr <strong>für</strong> einige Monate in die Schweiz in sein Dorf<br />

zurück. Mit dem Tod des Vaters 1860 erbt Albert Anker das elterliche Haus in<br />

Ins mit viel Umschwung und richtet sich im Dachgeschoss ein Atelier ein. Hier<br />

in der bäuerlichen Welt des Seelandes findet er seine Modelle und Motive. Anker<br />

trifft mit seinen Bildern den Geschmack der Zeit und hat in Paris über lange<br />

Zeit Erfolg; selbst der französische Staat kauft Werke von Anker an.<br />

Wie muss man sich nun Ankers Reise zwischen Ins und Paris vorstellen? Bis<br />

1890 legt er den langen Weg jedes Jahr zusammen mit seiner Frau Anna und<br />

den vier Kindern, die im Winter in Paris die Schule besuchen, zweimal zurück.<br />

Reisen war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine aufwändige Angelegenheit.<br />

Seit der Mitte des Jahrhunderts werden zwar überall in Europa Eisenbahnlinien<br />

gebaut, von einem zusammenhängenden Netz ist man jedoch<br />

noch weit entfernt. Für die Familie Anker beginnt die Reise in Ins und führt zuerst<br />

mit der Reisepost Richtung Neuchâtel. Um 1870 dauert diese erste Etappe<br />

etwa eineinhalb Stunden. Weiter könnte die Reise mit dem Zug Richtung Pontarlier<br />

oder mit der Postkutsche über Delle gegangen sein. Einer der schnelleren<br />

Wege hätte ab Neuchâtel mit der Eisenbahn in 5½ Stunden nach Basel und<br />

mit Umsteigen in weiteren 13 Sunden nach Paris geführt. 8 Eine solche Reise<br />

war, neben den Strapazen, des Unterwegs-Seins und dem mehrmaligen Umsteigen,<br />

vor allem auch kostspielig. Nur Leute aus den oberen Einkommensklassen<br />

konnten sich solche Reisen überhaupt leisten. 9 Auch das ist ein Hinweis auf den<br />

finanziellen Erfolg, den Anker mit seinen Bildern in Paris, dem wichtigsten europäischen<br />

Kunstmarkt der damaligen Zeit, hatte.<br />

1890, die Kinder sind nun fast alle ausgeflogen, gibt Anker das Atelier in Paris<br />

auf: «Nun bin ich bald 60 Jahre alt, das genügt. Müdigkeit und immer drückendere<br />

Kosten tragen dazu bei. Wir werden in Ins einsam leben, und doch<br />

hoffe ich, dass sich unser Dasein erträglich gestalten lasse», schreibt er in einem<br />

144 BEZG N° 02/10


Streckenplan Bern –Ins–Neuenburg, aus: Albert Anker, Carnet Nr. 32,<br />

Federzeichnung und Aquarell, 1898. – Stiftung <strong>für</strong> Kunst, Kultur<br />

und <strong>Geschichte</strong>, Winterthur.<br />

Gugger: Schnellzug 145


Brief 1890. 10 In Neuchâtel richtet sich die Familie – wohl eine kleine Fluchmög-<br />

lichkeit in den französischen Sprachraum – ein «pied à terre» ein.<br />

Pläne <strong>für</strong> eine Eisenbahnlinie zwischen Bern und Neuchâtel gab es schon<br />

seit der Mitte des Jahrhunderts. In Neuchâtel träumten interessierte Kreise von<br />

einer direkten Verbindung von Paris über Neuchâtel und Bern durch den Gotthard<br />

nach Milano. Erste konkrete Projekte <strong>für</strong> eine «direkte Linie» waren nach<br />

Abschluss der ersten Juragewässerkorrektion (1868 bis 1891) und einer Festigung<br />

des bisher sumpfigen Untergrundes möglich. 11 1890 fand ein erstes Treffen<br />

von Vertretern der Kantone Bern und Neuchâtel statt; 1898 wird mit dem<br />

Bau der Strecke begonnen.<br />

Albert Ankers bildnerisches Werk kreist fast ausschliesslich um die bäuerliche<br />

Lebenswelt, wie er sie aus seiner vertrauten Umgebung in Ins kennt. Damit<br />

hat er im fernen Paris Erfolg. 12 Es gibt nur wenige Bilder, in denen er den Einbruch<br />

der Moderne in die Welt des traditionellen Bauerndorfes gegen Ende des<br />

19. Jahrhunderts zeigt: Eines ist das 1885 entstandene Gemälde «Der Geometer»,<br />

13 das wohl Bezug auf die in den 1880er-Jahren durchgeführte topografische<br />

Vermessung von Ins nimmt. In einem Mappenwerk von 1900 erscheint ein<br />

Druck dieses Bildes mit dem Titel «Die Eisenbahn kommt / Le nouveau chemin<br />

de fer». 14 Gegenüber seinem Malerkollegen Albert de Meuron äussert sich Anker<br />

1895 ablehnend zum neuen Verkehrsmittel: «[...] so sähe ich lieber keine<br />

Bahn und wäre ohne sie glücklich, – aus vielen Gründen...!» 15 Nicht zuletzt wohl<br />

auch, weil er zum Bau der Strecke eigenes Land abtreten musste. 16<br />

Am 1. Juli 1901 wird die Strecke zwischen Bern und Neuchâtel feierlich eröffnet.<br />

Ab 1902 fahren die ersten direkten Wagen zwischen Bern und Paris über<br />

Ins. Der Seeländer Ort wird jedoch erst 1903 mit der Eröffnung der Linie «Chemin<br />

de fer Fribourg – Morat – Anet» Eisenbahnknotenpunkt und damit Haltestelle<br />

<strong>für</strong> den direkten Schnellzug nach Paris. 17 Die Reise von Bern dauert, gemäss<br />

Kursbuch von 1905, 13 Stunden, von Ins aus 12 Stunden bis nach Paris. 18<br />

Im September 1901, kurz nach der Eröffnung der Eisenbahnlinie über Ins,<br />

erleidet der siebzigjährige Albert Anker einen Schlaganfall. 19 Zeitweise ist die<br />

rechte Hand gelähmt. Seine Schaffenskraft nimmt ab. In den nächsten Jahren<br />

entstehen vor allem kleinformatige Aquarelle. Dass Paris, die Stadt, die in Ankers<br />

Leben so eine wichtige Rolle gespielt hat, noch nicht ganz aus seinem Blick<br />

verschwunden ist, sehen wir an der Eintragung vom 22. September 1906 im –<br />

nur durch einen Zufall erhaltenen – Beschwerdebuch der Station Ins. 20 Ankers<br />

Schwiegersohn Albert Quinche schreibt: «Nous soussignés sommes surpris que<br />

la station d’Anet où s’arrêtent les trains directs de Berne – Paris ne débite pas de<br />

146 BEZG N° 02/10


Der Bahnhof «Ins-Anet» mit der neuen Lokomotive, kurz vor der Eröffnung<br />

im Frühling 1901. – Historisches Archiv, BLS.<br />

Albert Anker, Der Geometer, 1885, Öl auf Leinwand, 67,5 x 97 cm, Kat. Nr. 32.<br />

– Privatbesitz.<br />

Gugger: Schnellzug 147


illets pour Paris et n’accepte pas l’enregistrement des bagages pour cette ville.<br />

Nous avons l’honneur de demander à la Direction de bien vouloir obvier à cet<br />

inconvénient, le battement en gare de Neuchâtel n’etant pas assez long pour y<br />

procéder.» Der Eintrag ist mitunterzeichnet von «Albert Anker peintre à Anet».<br />

Ein Jahr später wiederholt Albert Quiche das Begehren. 21<br />

Möglich, dass dieser Eintrag von Albert Anker ins Beschwerdebuch Ausgangspunkt<br />

der <strong>Geschichte</strong> meines Onkels gewesen ist. Auch wenn die in unserer<br />

Familie überlieferte <strong>Geschichte</strong> dem «berühmten Maler Anker» einen etwas<br />

zu grossen Einfluss zuschreibt, zeugt die <strong>Geschichte</strong> doch von der Verehrung<br />

und der Wertschätzung, die man ihm bis heute in seinem Heimatdorf entgegenbringt:<br />

Der Künstler, der so berühmt und geachtet war, dass er sogar veranlassen<br />

konnte, dass wegen ihm der Zug nach Paris anhält!<br />

Ab 1983 verkehrt ab Lausanne der TGV nach Paris. Mit einer TEE-Komposition<br />

wird ab Bern der Anschluss in Frasne an den TGV gewährleistet. Seit 1987<br />

der TGV Bern mit Paris verbindet, entfallen die direkten Schnellzugverbindungen<br />

und der seit 1903 geführte Schlafwagenkurs. Mit dem TGV entfällt auch der<br />

Halt in Ins; zwar muss der französische Hochgeschwindigkeitszug wegen der<br />

eingleisigen Strecke nach Neuchâtel oft im Bahnhof Ins noch auf den Gegenzug<br />

warten – zusteigen können Reisende nicht mehr. Mit dem Doppelspurausbau<br />

wird der Halt in Ins ganz entfallen.<br />

Anmerkungen<br />

1 Die Grosseltern Elisabeth Gugger-Sandmeier (1905–1997) und Eduard Gugger (1890 –1977).<br />

Abgebildet in Stucki, Heini; Zschokke, Matthias: Ins. Es war einmal ein Dorf. Bern 2009, 40f.<br />

2 Eduard Gugger-Amstutz (*1929).<br />

3 Mathys Gugger-Dellay (*1934).<br />

4 Amtliches Kursbuch 1.VI. –27.IX.1975: Direkte Verbindung von Bern nach Paris:<br />

Bern ab 14.53 – Ins ab 15.17 – Neuchâtel ab 15.31 – Paris an 21.27.<br />

5 Kurze Arbeitspause und kleine Zwischenverpflegung in der Mitte des Nachmittags.<br />

6 Die Biographischen Angaben zu Anker nach: Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese:<br />

Albert Anker 1831–1910. Werkkatalog der Gemälde und Ölstudien. Catalogue raisonné des<br />

oeuvres à l’huile (Hrsg. Kunstmuseum Bern). Basel 1995. Albert Anker – Wege zum Werk /<br />

Le chemin de la création, Ausstellungskatalog / Catalogue d’exposition. Ins, Anet 2000.<br />

7 Siehe allgemein: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann, Marc (Hrsg.):<br />

Albert Anker und Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ausstellungskatalog Kunstmuseum<br />

Bern. Bern 2003.<br />

8 Angaben von Hans-Ulrich Schiedt (ViaStoria), e-Mail vom 18.1.09.<br />

9 Vergleiche Schiedt, Hans-Ulrich; Frey, Thomas: Monetäre Reisekosten in der Schweiz 1850 –1910.<br />

Wie viel Arbeitszeit kostet die Freizeitmobilität?, In: Gilomen, Hans-Jörg et al. (Hrsg.): Freizeit und<br />

Vergnügen vom 14. bis zum 20. Jahrhundert. Zürich 2005 (Schweizerische Gesellschaft <strong>für</strong> Wirt-<br />

148 BEZG N° 02/10


Beschwerdebrief Albert Quinche, September 1906, mitunterzeichnet von<br />

Albert Anker, Peintre à Anet.<br />

Gugger: Schnellzug 149


schafts- und Sozialgeschichte – Société Suisse d‘histoire économique et sociale, 20), 157–171.<br />

10 Brief von Albert Anker aus Paris vom 2. Mai 1890 an Marie Roulet-Anker. Siehe Meister, Robert:<br />

Albert Anker und seine Welt. Briefe, Dokumente, Bilder. Gümligen 1981, 103.<br />

11 Siehe dazu Nast, Matthias: überflutet – überlebt – überlistet: Die <strong>Geschichte</strong> der Juragewässerkorrektionen.<br />

Biel 2006.<br />

12 Siehe dazu ten-Doesschate Chu, Petra: Eine nationale Ikone im internationalen Kontext. In:<br />

Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann, Marc (Hrsg.): Albert Anker und<br />

Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2003,<br />

61–73.<br />

13 Kuthy/ Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 6), 168 (Kat. Nr. 327).<br />

14 Das Werk «Der Geometer» taucht in Ausstellungen und Publikationen immer wieder unter<br />

anderem Namen auf: Ausstellung in Paris 1885: «Salon de 1885. 103e exposition [...]. Société<br />

des Artistes Français pour l’exposition des Beaux-Arts de 1885. Nr 45» «L’ingénieur». – In der<br />

Publikation Album Albert Anker. 40 Tafeln [...]. La Chaux-de-Fonds, F. Zahnd, 1900: Tafel 35<br />

«Die Eisenbahn kommt / Le nouveau chemin de fer». – In der Ausstellung Bern 1911:<br />

«Dr. Albert Anker Ausstellung». Kunstmuseum Bern, 15. Januar bis 12. Februar 1911. Nr. 79<br />

«Eisenbahnbau». Angaben nach Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 6), 168 (Kat. Nr. 327).<br />

15 Albert Anker in einem Brief vom 26. Februar 1895 an Albert de Meuron. Vgl. Meister (wie<br />

Anm. 10), 103.<br />

16 Ankers an die Eisenbahn abgetretene Landstücke in einer Carnetskizze. Siehe: Feldmann,<br />

Hans-Uli: Eine Routenkarte von Albert Anker, Murten. In: Cartographica Helvetica, Heft 25,<br />

Januar 2002, 25–33, hier 28; Meister (wie Anm. 10), 134.<br />

17 Belloncle, Patrick et al.: Das grosse Buch der Lötschbergbahn. Die BLS und ihre mitbetriebenen<br />

Bahnen SEZ, GBS, BN. Kerzers 2005, 362; Belloncle, Patrick: SEZ, GBS, BN. Die mitbetriebenen<br />

Bahnen der B.L.S. Vevey 1989, 118.<br />

18 Offizielles Schweizerisches Kursbuch Postausgabe 15. November 1905, No 2, Strecke 122.<br />

19 Meister (wie Anm. 10), 154.<br />

20 Meister (wie Anm. 10), 134. – Das Beschwerdebuch von Ins enthält Eintragungen von 1904<br />

bis 1928, dann noch eine letzte Beschwerde von 1955. Es hat sich dank der Aufmerksamkeit des<br />

ehemaligen Stationsvorstandes von Ins erhalten und liegt heute im historischen Archiv BLS<br />

in Bern.<br />

21 Kobel, Fritz: Inser Bahnen. In: Eisser Cronik, Dorfverein Ins 1998, 12.<br />

150 BEZG N° 02/10


Fundstück<br />

«En français, en patois du pays et en latin» –<br />

die Pflanzenlisten des Georges-Louis Liomin (1764)<br />

Luc Lienhard<br />

Die Oekonomische Gesellschaft Bern (heute Oekonomische und Gemeinnützi ge Gesell-<br />

schaft des Kantons Bern OGG) feierte 2009 ihr 250-jähriges Bestehen. Das Archiv dieser<br />

Gesellschaft liegt in der Burgerbibliothek Bern und enthält neben Versammlungsprotokollen<br />

und Korrespondenz auch zahlreiche Manuskripte von ihren Mitgliedern<br />

oder anderen interessierten Personen aus ihrem Umfeld. Das ausgewählte Fundstück<br />

behandelt zwei dieser Manuskripte: Pflanzenlisten, datiert auf August 1764 und signiert<br />

mit «Liomin Pasteur».<br />

Verfasser ist der reformierte Pfarrer von Corgémont-Sombeval, Georges-Louis Liomin<br />

(1724–1784). Er studierte Theologie in Basel, amtierte zunächst als Vikar in Neuenburg<br />

und Lausanne, später als Feldprediger im Dienst Frankreichs. 1754 wurde er in<br />

Corgémont und Sombeval und ab 1767 in Péry zum Pfarrer, 1783 zum Dekan des Erguel<br />

gewählt. Dass sich ein Pfarrer intensiv mit Botanik beschäftigte, war in dieser Zeit nicht<br />

ungewöhnlich. So konnte etwa ein Albrecht von Haller auf die Mithilfe von zahlreichen<br />

Geistlichen zurückgreifen und auch der Autor der siebenbändigen Flora Helvetica von<br />

1828 war ein Pfarrer: Jean Gaudin (1766 –1833) aus Nyon.<br />

Liomin schickte seine Pflanzenlisten an die Oekonomische Gesellschaft als Beilage<br />

seines Briefs vom 13. Oktober 1764, aus dem ersichtlich wird, dass er damit eine Mitgliedschaft<br />

zu erreichen suchte. Der Erfolg blieb allerdings aus. Als Beilage zu einem<br />

weiteren Brief schickte er den ausführlichen Entwurf seiner Topographischen Beschreibung<br />

des zum Bistum Basel gehörenden Erguel, das ungefähr dem heutigen Amt Courtelary<br />

entspricht.<br />

Gemäss den Mémoires et observations, der französischsprachigen Ausgabe des Publikationsorgans<br />

der Gesellschaft, wurde bei der Versammlung am 20. Oktober 1765<br />

auch ein Brief von Liomin vorgelesen, dem ein «Catalogue de plantes qui croissent dans<br />

l’ Erguel» beilag. Die deutschsprachige Ausgabe der Abhandlungen und Beobachtungen<br />

erwähnte diesen Brief mit Beilage ebenfalls, übersetzte aber Erguel fälschlicherweise<br />

mit Münstertal, so dass Liomin fortan irrtümlich auch als Autor eines Verzeichnisses<br />

der Pflanzen der Gegend von Moutier galt. Leider ist der fertige Katalog der Pflanzen<br />

des Erguel verschollen, unser Fundstück stellt aber eine Vorstufe dazu dar. Die erste<br />

Liste trägt den Titel «Notice des arbres, arbrisseaux et arbustes, ou sous-arbrisseaux,<br />

soit plantes ligneuses, spontanées et fort cultivées dans des forets et de la campagne<br />

Fundstück 151


que des vergers et jardins de l’Erguel. Adapté à la méthode du livre intitulé species plan-<br />

tarum par M. Linnaeus. – En français, en patois du pays et en latin». Es handelt sich<br />

um eine Liste der französischen, lateinischen und regionalen Namen von etwa 150 verholzenden<br />

Pflanzenarten des Erguel. Auf der letzten der insgesamt 14 Seiten findet sich<br />

eine Bemerkung in anderer Schrift, wonach der Verfasser Dank verdiene, übertreffe<br />

doch sein Baumkatalog alles Bisherige. Diese mit «Haller» gezeichnete Bemerkung ist<br />

unschwer Albrecht von Haller zuzuordnen, der seit 1762 Mitglied und ab 1766 Präsident<br />

der Oekonomischen Gesellschaft und unbestrittener Experte bei botanischen Themen<br />

war.<br />

Liomins zweite Liste mit dem Titel «Choix des Plantes usuelles, tant spontanées que<br />

beaucoup cultivées en Suisse» ist wesentlich umfangreicher und enthält 417 nutzbare<br />

Arten in der ganzen Schweiz, in Tabellenform mit den Spalten: «François, Patoi, Latin,<br />

Allemand». Auch zu diesem Verzeichnis hat Haller eine Bemerkung geschrieben mit<br />

dem Vorschlag, die zweifelhaften deutschen Namen wegzulassen und die Namen nach<br />

Linné mit denjenigen von Tournefort zu ersetzen. Seine Bilanz: «Ce catalogue ne peut<br />

me servir que pour le patois.»<br />

Liomins Verzeichnisse reihen sich in die Serie von elf Pflanzenverzeichnissen ein,<br />

die im Zeitraum von 1762 bis 1782 im Umfeld Albrecht von Hallers und der Oekonomischen<br />

Gesellschaft entstanden und in denen insgesamt rund 650 verschiedene Arten<br />

und Sorten verzeichnet wurden. Insbesondere entsprechen sie den Absichten der <strong>Berner</strong><br />

Sozietät, die Verwendung der Pflanzen dank besserer Kenntnis der Namen zu optimieren<br />

und allgemein regionale Ressourcen besser zu nutzen. Dasselbe Ziel verfolgten<br />

die Topographischen Beschreibungen bestimmter Regionen des Kantons Bern, die<br />

im Umfeld der Oekonomischen Gesellschaft verfasst wurden.<br />

Liomin hatte aber mit seinen Beiträgen in mehreren Punkten Pech. Seine «Plantes<br />

ligneuses» verfasste er ohne Bezug auf Hallers nur ein Jahr vorher im Publikationsorgan<br />

der Oekonomischen Gesellschaft publizierten Verzeichniss der in Helvetien wildwachsenden<br />

Bäume und Stauden. Liomin unterliess es nicht nur, auf diese Liste zu verweisen,<br />

sondern verwendete darüber hinaus als Grundlage <strong>für</strong> die lateinischen Namen<br />

ausgerechnet ein Werk von Hallers Widersacher Carl von Linné. Liomins Liste lässt<br />

gute Sachkenntnis erahnen, enthält sie doch über 20 Arten mehr als Hallers Werk. Dennoch<br />

wurde keiner von Liomins Beiträgen durch die Gesellschaft gedruckt, und Liomin<br />

erhielt die erstrebte Mitgliedschaft in die Gesellschaft nicht. Auch mit den «Plantes<br />

usuelles» hatte Liomin kein Glück. Im gleichen Jahr, wie er seine Liste einreichte,<br />

wurde nämlich der Versuch einer Sammlung der landesüblichen Namen der Pflanzen in<br />

der Schweiz von Johann Heinrich Koch (1706–1787), Apotheker in Thun, Abraham Louis<br />

Decoppet (1706 –1785), Pfarrer und Wundarzt in Aigle, und Bernard-Jean-François<br />

152 BEZG N° 02/10


Fundstück 153


Ricou (1730–1798), Stadtarzt und Apotheker in Bex, in einer deutschen und französischen<br />

Version im Publikationsorgan der Oekonomischen Gesellschaft publiziert. Dieses<br />

Verzeichnis enthält lediglich 127 Arten, also nur etwa einen Drittel von Liomins<br />

Liste. Koch, Decoppet und Ricou waren jedoch etwas schneller, gaben zu jeder Art einen<br />

kurzen Kommentar und verwiesen auf die Pflanzennamen in Hallers Flora der<br />

Schweiz. Liomin hatte wohl nur den verbreiteten Species Plantarum von Linné mit den<br />

praktischen zweiteiligen Kurznamen zur Hand, die Namen, die Haller aus Traditionsgründen<br />

ablehnte. Liomin nahm sich auch die Mühe, einige blütenlose Pflanzen wie<br />

Farne, Moose und Flechten aufzulisten, wie auf der ersten Seite des Verzeichnisses gut<br />

zu sehen ist. Als Beispiel von Liomins Namen sei hier die Silberdistel erwähnt, eine typische<br />

Jura- und Alpenpflanze, abgebildet mit einem zeitgenössischen Kupferstich von<br />

1757 aus dem Herbarium Blackwellianum. Bei Liomin ist es Nr. 407 mit dem französischen<br />

Namen Carline oder Chardonerette, im Patois Scherdon benit, deutsch Eberwurtz<br />

und nach Linné Carlina acaulis, dem noch heute gültigen wissenschaftlichen Namen.<br />

Aus Sicht des Botanikers wäre die verschollene Pflanzenliste des Erguel das wertvollste<br />

Dokument. Lokalfloren mit genauen Fundortsangaben sind ein wichtiges Instrument<br />

zur Untersuchung der Veränderung der Vegetation und <strong>für</strong> das 18. Jahrhundert<br />

eine Rarität. Aber auch die beiden erhaltenen Listen Liomins sind botanikhistorisch ergiebig<br />

und zudem eine schöne sprachgeschichtliche Quelle. Dass neben dem Waadtländer<br />

Patois auch im Erguel und im angrenzenden Neuenburger Jura ein vom Französisch<br />

stark abweichender Dialekt gesprochen wurde, ist vielen wohl kaum bekannt, und<br />

die Quellenlage ist lückenhaft. Auch das Schweizerische Pflanzen Idiotikon von 1856 des<br />

<strong>Berner</strong>s Carl Jakob Durheim hat nur ein Verzeichnis der Patois-Namen des Kantons<br />

Waadt. Das Jura-Patois, die im «französischen Teil des Jura üblichen Benennungen»,<br />

hat er jedoch kaum berücksichtigt und in die Liste der «französischen Namen» integriert.<br />

Es wäre also gut möglich, dass Liomins Listen zur Erschliessung alter Schriftwerke<br />

aus dem Jura nicht nur in botanischer, sondern auch in land- und forstwirtschaftlicher,<br />

ethnologischer oder medizinischer Hinsicht einen «missing link» bilden könnten.<br />

154 BEZG N° 02/10


Fundstück 155


Quellen<br />

Blackwell, Elisabeth: Herbarium Blackwellianum. 6 Bde. Nürnberg 1757–1773.<br />

Decoppet, Abraham-Louis; Ricou, Bernard-Jean-François: Essai d’une collection des noms vulgaires<br />

ou patois des principales plantes de la Suisse, usités dans la partie françoise ou le pais de Vaud.<br />

In: Mémoires et observations recueillies par la Société oeconomique de Berne, 1764, 4 partie,<br />

127–147.<br />

Haller, Albrecht von: Verzeichniss der in Helvetien wildwachsenden Bäume und Stauden.<br />

In: Abhandlungen und Beobachtungen durch die oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt,<br />

1764, Heft 4, 53–70.<br />

Linnaeus, Carolus: Species Plantarum. Holmiae 1753.<br />

Liomin, [Georges Louis]: Notice des arbres, arbrisseaux et arbustes, ou sous-arbrisseaux, soit plantes<br />

ligneuses, spontanées et fort cultivées dans des forets et de la campagne que des vergers et jardins<br />

de l’Erguel adapté à la méthode du livre intitulé species plantarum par M. Linnaeus. – En français,<br />

en patois du pays et en latin. Burgerbibliothek Bern GA Oek. Ges. 73 (2).<br />

Liomin, [Georges Louis]: Choix de plantes usuelles, tant spontanées que beaucoup cultivées en<br />

Suisse. Burgerbibliothek Bern GA Oek. Ges. 73 (3).<br />

Fachliteratur<br />

Durheim, Carl Jakob: Schweizerisches Pflanzen-Idiotikon. Ein Wörterbuch von Pflanzenbenennungen<br />

in den verschiedenen Mundarten der deutschen, französischen und italienischen Schweiz, nebst<br />

deren lateinischen, französischen und deutschen Namen. Bern 1856.<br />

Gerber-Visser, Gerrendina: «Statistik» <strong>für</strong> eine private Gesellschaft. Die Oekonomische Gesellschaft<br />

in Bern und ihre Informationsbeschaffung. In: Brendecke, Arndt et al (Hrsg.): Information in der<br />

Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Münster 2008, 375–392.<br />

Lienhard, Luc: «La machine botanique». Zur Entstehung von Hallers Flora der Schweiz. In: Stuber,<br />

Martin; Hächler, Stefan; Lienhard, Luc (Hrsg.): Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel<br />

zur Zeit der Aufklärung. Basel 2005, 371–410.<br />

Stuber, Martin; Lienhard, Luc: Nützliche Pflanzen. Systematische Verzeichnisse von Wild- und Kulturpflanzen<br />

im Umfeld der Oekonomischen Gesellschaft Bern 1762 –1782. In: Holenstein, André et al.<br />

(Hrsg.): Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikationsformen.<br />

(Cardanus Jahrbuch <strong>für</strong> Wissenschaftsgeschichte Band 7.) Heidelberg 2007, 65 –106.<br />

Wyss, Regula: Pfarrer als Vermittler ökonomischen Wissens? Die Rolle der Pfarrer in der Oekonomischen<br />

Gesellschaft Bern im 18. Jahrhundert. Nordhausen 2007 (<strong>Berner</strong> Forschungen zur Regionalgeschichte,<br />

8).<br />

Info<br />

Die Abhandlungen und Beobachtungen resp. die Mémoires et observations der Oekonomischen<br />

Gesellschaft Bern sind online zugänglich unter www.digibern.ch.<br />

156 BEZG N° 02/10


Historischer Verein des Kantons Bern<br />

Vorträge des Wintersemesters 2009/2010<br />

(Die ersten vier Vorträge bilden einen Zyklus zum 250-Jahr-Jubiläum der<br />

Oekonomischen und Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Bern OGG)<br />

Christian Pfister<br />

Entwicklungshilfe <strong>für</strong> das Vaterland. Agrarmodernisierung und Wirtschaftswachstum<br />

im alten Bern zur Zeit der Ökonomischen Patrioten<br />

Meine Ausführungen verstehen sich als Überblick über vielfältige Forschungsergebnisse,<br />

die im Zusammenhang mit dem Haller-Jubiläum und der Feier zum 250-jährigen<br />

Bestehen der Oekonomischen und Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Bern<br />

OGG erarbeitet und publiziert worden sind. In der Zeit zwischen 1750 –1850 gelang es<br />

den europäisch-atlantischen Gesellschaften, die <strong>für</strong> die Vormoderne kennzeichnenden<br />

Grenzen <strong>für</strong> ein dauerhaftes, demographisch-ökonomisches Wachstum zu überwinden<br />

und eine Spirale der wirtschaftlichen, demographischen, sozialen, politischen und kulturellen<br />

Leistungssteigerung in Gang zu setzen – mit allen Vor- und Nachteilen, welche<br />

diese Entwicklung bis heute hervorgebracht hat.<br />

Der Vortrag vermittelt zunächst eine Vorstellung von den ökologischen Grundlagen<br />

agrarischer Zivilisationen und der darauf abgestimmten Handlungslogik, die von den<br />

Erfahrungen wirtschaftlichen Nullwachstums geprägt war. Am Beispiel der Oekonomischen<br />

Gesellschaft wird anschliessend aufgezeigt, wie europäische Reformeliten im späten<br />

18. Jahrhundert einen Kurswechsel propagierten, der durch eine Mehrung der schaffenden<br />

Hände und begrenzte Innovationen im Rahmen des Feudalsystems einem<br />

Abbröckeln der Einkünfte des Staates und seiner regierenden Familien entgegenzuwirken<br />

versprach. Inspiriert war diese Zielsetzung vom Denkmodell der französischen Physiokraten,<br />

die Volkswirtschaft erstmals als eigenständiges System von Wechselbeziehungen<br />

verstanden. Als vorrangiges Mittel zur Wirtschaftsförderung propagierten sie<br />

eine Steigerung des Bodenertrags als Schlüsselenergieträger und forderten zur Schaffung<br />

der nötigen Anreize eine Freigabe des Getreidehandels.<br />

Die führenden Köpfe der <strong>Berner</strong> Ökonomen entwarfen ein systematisches Aktionsprogramm,<br />

das beim Landbau als Führungssektor ansetzte und Handel und Gewerbe<br />

als nachgelagerte Sektoren verstand. Es verwies auf wissenschaftliche, institutionelle,<br />

demographische und pädagogische Handlungsfelder. Das Referat thematisiert anhand<br />

von Beispielen Strategien zur Wirtschaftsförderung wie die Sammlung von lokalen Wis-<br />

HVBE 157


sensbeständen, den internationalen Austausch von Innovationsimpulsen durch den Auf-<br />

bau eines Netzes von Korrespondenten sowie Bemühungen zur Erziehung der ländli-<br />

chen Bevölkerung. Abschliessend wird auf rechtlich-institutionelle, soziale und mentale<br />

Hindernisse hingewiesen, die einer Durchsetzung der Reformen unter den Gegebenhei-<br />

ten des Ancien Régime im Wege standen.<br />

Erst nach der 1831 erfolgten Wende zum liberalen Volksstaat ging die Saat der Öko-<br />

nomischen Patrioten auf, und zwar binnen kurzer Zeit in Form einer eigentlichen<br />

«Agrar revolution». Diese war <strong>für</strong> den Erfolg der einsetzenden Industrialisierung we-<br />

sentlich.<br />

Martin Stuber / Regula Wyss<br />

Körnwürmer, Maikäfer, Schaben. Schädlinge im Fokus der Oekonomischen<br />

Gesellschaft Bern<br />

In der Frühen Neuzeit weitete der bernische Staat seine Interventionen zunehmend auf<br />

die Volkswirtschaft seines ganzen Territoriums aus. Neben einer aktiven Förderung der<br />

Produktion ging es immer auch um die Abwendung von Schadensereignissen. Dazu gehörte<br />

die Bekämpfung der verschiedenen Kulturschädlinge wie «korngugen», «graswürmer»,<br />

«ingern» sowie «müs und ratten». Die 1759 gegründete Oekonomische Gesell schaft<br />

stellte diese Bemühungen auf eine neue Grundlage, indem sie die Ressourcen des ber-<br />

nischen Territoriums systematisch erfasste und konsequent zwischen Nützlingen und<br />

Schädlingen unterschied. Zur Eindämmung oder gar Ausrottung der Schädlinge setzte<br />

sie ein breites Arsenal an wissenschaftlich-technologischen und kommunikativen Mitteln<br />

ein. Wie die Akteure der Oekonomischen Gesellschaft dabei gleichzeitig als Fachexperten,<br />

als Verwaltungsleute und als Regierungsmitglieder agierten, soll anhand<br />

zweier Fallbeispiele präsentiert werden. Bei der Bekämpfung der Maikäfer lassen sich<br />

regional differenzierte Strategien beobachten, die auf guter kommunikativer Vernetzung<br />

basieren. Die Korndarre, eingesetzt im Kampf gegen Kornwürmer in obrigkeitlichen<br />

Getreidespeichern, dient dagegen als Beispiel <strong>für</strong> eine technologische Lösung.<br />

Peter Moser<br />

Bildung und Ausbildung im ländlichen Bern. Die Rolle der Oekonomischen und<br />

Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Bern OGG im 19./20. Jahrhundert<br />

Mit der in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgten Umwandlung der Oekonomischen<br />

Gesellschaft von der Reformsozietät zum landwirtschaftlichen Verein erfuhren die Bestrebungen<br />

zur Intensivierung und Systematisierung der Ausbildung im ländlichen Bern<br />

158 BEZG N° 02/10


einen ersten Aufschwung. Fortan spielte die OGG im Bereich der Bildung und Ausbil-<br />

dung der Bevölkerung auf dem Land eine führende Rolle. Das von der OGG zusammen<br />

mit den Behörden und landwirtschaftlichen Organisationen im Kanton Bern aufge-<br />

baute Bildungswesen übte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auch auf die<br />

Entwicklung in der übrigen Schweiz einen prägenden Einfluss aus.<br />

Im Vortrag werden zuerst die Vorstellungen und Anliegen wichtiger Akteure und<br />

Institutionen der agrarischen Wissensgesellschaft vorgestellt. Dazu gehören Persönlichkeiten<br />

wie beispielsweise Albert von Fellenberg-Ziegler, Carl Moser, Anna Schneider-<br />

Schnyder, Marie Müller-Bigler, Werner Daepp, Fritz Zurflüh und Hermann Bieri ebenso<br />

wie das landwirtschaftliche Publikationswesen, die landwirtschaftlichen Schulen, das<br />

bäuerliche Lehrjahr, die landwirtschaftliche Meisterprüfung, die bäuerlichen Hauswirtschaftsschulen<br />

und das vielfältige Kurswesen der ländlichen Erwachsenenbildung. Im<br />

zweiten Teil erfolgt eine Analyse der Vielfalt der vermittelten Inhalte. Zudem wird die<br />

ausgesprochen gute Quellenlage vorgestellt, ermöglicht diese doch eine Rekonstruktion<br />

der Rezeption des Unterrichts und der vermittelten Inhalte an den landwirtschaftlichen<br />

Schulen durch die Schüler und Schülerinnen.<br />

Die dargestellten Resultate basieren auf den neusten Forschungen zur OGG und<br />

zur agrarischen Wissensgesellschaft, die vom Archiv <strong>für</strong> Agrargeschichte momentan in<br />

Zusammenarbeit mit historischen Instituten an schweizerischen und europäischen<br />

Hochschulen durchgeführt werden.<br />

Katrin Keller / Peter Lehmann<br />

Gelehrte Schriften und gelehrsame Bauern. Die Oekonomische Gesellschaft und<br />

ihre Medien im Wandel<br />

Im Dezember 1758 inserierte der bernische Chorgerichtsschreiber Johann Rudolf Tschiffeli<br />

mit einem öffentlichen Aufruf im bernischen Avis-Blatt, dem damaligen städtischen<br />

Anzeiger. Er rief zu Geldspenden auf, um einen Wettbewerb zu einem <strong>für</strong> den Staat<br />

Bern wichtigen ökonomischen Thema finanzieren zu können. Überwältigt vom grossen<br />

Zuspruch in der Öffentlichkeit, beschlossen Tschiffeli und seine nächsten Mitstreiter<br />

aus dem bernischen Patriziat, nicht nur den vorgesehenen Wettbewerb – eine Preisfrage<br />

– zu veranstalten, sondern gleich eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, die sich<br />

allgemein mit landwirtschaftlichen Fragen und Problemen befassen sollte. In kurzer<br />

Zeit entwickelte sich diese Oekonomische Gesellschaft Bern (OeG) zu einer über die<br />

eidgenössischen Grenzen hinaus bekannten Institution. Diesen Ruf verdankte sie ihren<br />

Erfolg versprechenden Aktivitäten und einer grossen medialen Präsenz: nach dem Vorbild<br />

europäischer Akademien und gelehrter Gesellschaften schrieb sie Preisfragen aus,<br />

HVBE 159


die von einem internationalen Publikum wahrgenommen und beantwortet wurden. Da-<br />

neben veranstaltete sie praktische Prämien <strong>für</strong> die Landleute, gab eine zweisprachige<br />

ökonomische Vierteljahresschrift heraus, beförderte und veröffentlichte Topographische<br />

Landesbeschreibungen und unterhielt einen internationalen Briefwechsel.<br />

Die Erfolgsgeschichte der Anfangsjahre konnte in der folgenden Zeit nicht fortge-<br />

schrieben werden – trotz Gegenmassnahmen erreichten immer weniger Zuschriften die<br />

Gesellschaft und <strong>für</strong> Preisschriften und praktische Beiträge konnten kaum mehr Preise<br />

ausgeteilt werden.<br />

Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts trat die OeG kaum mehr in Verbindung<br />

mit landwirtschaftlichen Themen auf, sondern unterstützte mit Kunstausstellungen<br />

und botanischen Versuchen primär persönliche Interessen einzelner Mitglieder des Vor-<br />

standes, so etwa Sigmund Wagners. Er war eine der schillernden Figuren in der Ge-<br />

schichte der OeG. Zur Landwirtschaft hatte er offensichtlich keinerlei Bezug. Eher<br />

suchte er, und damit scheint er im Jahrzehnt nach dem Franzoseneinfall nicht alleine<br />

gewesen zu sein, in den Sitzungen der Gesellschaft die alte Zeit zu konservieren.<br />

Erst nach der Wiederbelebung 1823, nachdem die Gesellschaftsaktivitäten nach<br />

1814 zum Erliegen gekommen waren, wandte sich die OeG wieder landwirtschaftlichen<br />

Themen zu. Dieses wiedererwachte Interesse schlug sich auch in ihrer Mitgliederstruktur<br />

nieder. Dominierten bis 1814 die stadtbernischen und patrizischen Mitglieder, so<br />

war 1830 bereits der grössere Teil der Mitglieder Landberner, vor allem aus dem Emmental<br />

und dem Oberland. Auch bei den Medien der Gesellschaft war die Orientierung<br />

am bäuerlichen Leben feststellbar. Im 18. Jahrhundert bestimmten die (elitären) Preisfragen<br />

die Gesellschaftsaktivität, dagegen wurden ab den 1820er-Jahren verstärkt praktische<br />

Versuche wie Pflugproben durchgeführt oder Prämien <strong>für</strong> praktische Verbesserungen<br />

ausgerichtet. Die Preisfragen dagegen, die Geburtshelfer der Gesellschaft,<br />

sanken praktisch in die Bedeutungslosigkeit ab. Die Wandlung der Gesellschaft ging<br />

einher mit einer neuen Rolle der Bauern in derselben. Waren sie im 18. Jahrhundert<br />

pri mär das Objekt der Belehrung von Seiten der OeG gewesen, so wurden sie mit fortschreitender<br />

Dauer des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zur bestimmenden Schicht<br />

innerhalb der Gesellschaft, die mit ihren Bedürfnissen deren Aktivitäten und deren Antlitz<br />

entscheidend prägten.<br />

Michael Gerber<br />

«…und manchmal sagen sie auch ja…»<br />

«Wir leben in einer bewegten Zeit. Ein Tag folgt dem andern, und neues Leben sprosst<br />

aus den Ruinen. Auf moralischem, medizinischem, poetischem, patriotischem Gebiete,<br />

160 BEZG N° 02/10


im Handel, Wandel, Kunst und Wissenschaft, allüberall dieselbe Erscheinung, dieselbe<br />

Tendenz. Symptom reiht sich an Symptom.»*<br />

Auch die Denkmalpflege lebt in einer bewegten Zeit. Kein Monat ohne negative<br />

Schlagzeile und keine Session ohne Vorstoss gegen die Denkmalpflege als Institution.<br />

Symptom reiht sich an Symptom. Gerne wäre man Christian Morgenstern und nähme<br />

den Galgenhumor zu Hülfe.<br />

Aber da ist auch ein anderes Bild: Am Europäischen Tag des Denkmals, dessen Ziel<br />

es ist, bei einem breiten Publikum das Interesse an unseren Kulturgütern und deren<br />

Erhaltung zu wecken, besuchten im September 2009 allein in der Schweiz rund 50 000<br />

Personen an zwei Tagen verschiedenste Orte, Häuser und Objekte. Auf Grund des Angebots<br />

kann nicht nur der oft zitierte Voyeurismus die Ursache <strong>für</strong> den grossen Publikumsaufmarsch<br />

sein. Hier zeigt sich vielmehr ein ehrliches Interesse an unserem kulturellen<br />

Erbe. Kunstdenkmäler sind uns offenbar nicht gleichgültig.<br />

Das gleiche Bild ist auch statistisch belegt: In der letztjährigen Studie des Bundesamts<br />

<strong>für</strong> Statistik zum Kulturverhalten der Schweizerinnen und Schweizer taucht der<br />

Besuch von Denkmälern als kulturelle Tätigkeit ganz vorne auf, in einzelnen Tabellen<br />

noch vor dem Kinobesuch.<br />

Janusgesichtige Denkmalpflege also – unbestritten, wenn ihre Hinterlassenschaft<br />

in unverbindlicher und unpersönlicher Weise erkundet werden kann, bestritten, wenn<br />

sie sich aktiv <strong>für</strong> Baudenkmäler einsetzt. Das Referat versucht anhand von ausgesuchten<br />

Beispielen die dunklen Winkel in der Arbeit der kantonalen Denkmalpflege auszuleuchten,<br />

Zusammenhänge aufzuzeigen und Missverständnisse aufzulösen. Und es zeigt<br />

auf, dass sie…<br />

«…indem sie ihr Herze offenbart, mit all den Widersprüchen, Knäueln, Gräueln,<br />

Grund- und Kraftsuppen ihres Wesens, als Schwan zuletzt mit Rosenfingern über den<br />

Horizont ihres eigenen Chaos – und sei es auch nur als ein Wesensteil ihrer selbst und<br />

sei es auch nur mit der lächelndsten Träne im Wappen – emporzusteigen sich zu entbrechen<br />

den Mut, was sage ich, die Verruchtheit hat.»*<br />

* Aus: Christian Morgenstern, Alle Galgenlieder, Zürich 1981.<br />

Kaspar Staub<br />

Und die (Körper-)Grösse zählt doch … Der biologische Lebensstandard<br />

im Kanton Bern und der Schweiz 1800 – 1950<br />

Die Körperhöhe erlaubt überzeitlich und überräumlich vergleichbare Aussagen zum<br />

biologischen Lebensstandard einer Bevölkerung. Welche Endgrösse ein Mensch erreicht,<br />

hängt eng mit dem in den Wachstumsphasen erfahrenen biologischen Wohl-<br />

HVBE 161


stand zusammen. Nach Ausschaltung von genetischen Faktoren bringt die Körpergrösse<br />

die im Wachstumsverhalten gespeicherte, kumulierte Ernährungserfahrung des Indi-<br />

viduums zum Ausdruck. Für den Ernährungsstatus von Bedeutung sind als primäre<br />

Einflussfaktoren die Ernährung sowie auf Seiten der Ernährungsbedürfnisse das Krank-<br />

heitsumfeld und die Arbeitsbelastung. Im Unterschied zu herkömmlichen Wohlstands-<br />

indikatoren sind Körpergrössen vollständiger dokumentiert, in der Schweiz <strong>für</strong> die letz-<br />

ten zwei Jahrhunderte auf der Basis von systematischen Erhebungen.<br />

Einen <strong>für</strong> die Schweiz erstmaligen Beitrag zu diesem seit den späten 1970er-Jahren<br />

weltweit rasch aufstrebenden Forschungsgebiet der Historischen Anthropometrie wurde<br />

in den letzten drei Jahren geleistet durch das SNF-Projekt «Der Biologische Lebens-<br />

standard in der Schweiz 1800–1950» an der Abteilung Wirtschafts-, Sozial- und Um-<br />

weltgeschichte des Historischen Instituts der Universität Bern. Anhand eines vergleichs-<br />

weise grossen Samples an Körpergrössen von Frauen und Männern können nun <strong>für</strong><br />

ausgewählte Schweizer Gebiete langfristige Veränderungen im biologischen Lebens-<br />

standard seit dem frühen 19. Jahrhundert differenziert nach Geschlecht, sozialer Schicht<br />

und räumlicher Herkunft herausgearbeitet werden. Für den Kanton Bern bildeten Quel-<br />

len der Rekrutierung, Passregister sowie Schülervermessungen die hauptsächlichen Zu-<br />

gänge zu Körpergrössendaten.<br />

Als erster Zugang kann mit Hilfe der ab 1875 schweizweit standardisierten Körper-<br />

messungen der 19-jährigen männlichen Stellungspflichtigen die sogenannte säkulare<br />

Akzeleration in der Schweiz und im Kanton Bern nachgezeichnet werden, als ab den<br />

1890er-Jahren bis heute die jungen Männer stetig grösser wurden. Die Stadtbevölke-<br />

rung war dabei stets signifikant grösser als die Landbevölkerung, ebenso schauten die<br />

sozioökonomisch Bessergestellten nicht nur sinnbildlich, sondern auch körperlich auf<br />

die kleinen Leute herab. Über die zusätzlich gegebenen Angaben zu Gewicht (Body<br />

Mass Index), Oberarm- und Brustumfang werden auch kurzfristige Veränderungen des<br />

Biologischen Lebensstandards beobachtbar. Ebenso geben die auf Individualebene vorhandenen<br />

Noten der Pädagogischen Rekrutenprüfungen Einblick in den positiven Zusammenhang<br />

zwischen Körpergrösse und schulischer Leistung. Entscheidend <strong>für</strong> die<br />

Höhe, Proportion und Fülle des Körpers einerseits und die Schulbildung anderseits war<br />

der sozioökonomische Hintergrund, wie am Beispiel der Stadt Bern und dem Amtsbezirk<br />

Schwarzenburg gezeigt werden kann. Über die Passregister als zweitem Zugang<br />

können die Körpergrössen bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden,<br />

auch <strong>für</strong> Frauen. Letzteres ist in der internationalen Körpergrössen-Forschung innovativ,<br />

beruhen doch die meisten Studien auf Rekrutendaten und damit auf Angaben<br />

nur zu Männern. Die Schülervermessungen und Angaben aus den schulärztlichen Untersuchungen<br />

aus der Stadt Bern als dritter Zugang schliesslich geben Einblick in die<br />

162 BEZG N° 02/10


1920er-Jahre, eine entscheidende Phase der Wachstumsbeschleunigung. Es kann am<br />

Beispiel der Stadt Bern zudem gezeigt werden, dass Verbesserungen im Wohnstandard<br />

sowie die Ferienversorgung und Speisung von Schulkindern bisher unterschätzte Faktoren<br />

darstellen.<br />

Juri Jaquemet<br />

«Wenn durch des Jura’s Pforten der Feind in Massen dringt» –<br />

Die Landesbefestigung gegen Westen im Seeland, Murtenbiet und am<br />

angrenzenden Jurasüdfuss 1815 – 1918<br />

In den Jahren 1815 und 1831 be<strong>für</strong>chteten eidgenössische Offiziere einen Angriff aus<br />

Frankreich. Die Aare, weit im Landesinnern gelegen, hätte sodann als natürliches Hindernis<br />

gegen Westen gedient.<br />

Dem Aareübergang bei Aarberg kam dabei überregionale Bedeutung zu. Hier vereinigten<br />

sich die Strassen aus Murten, Neuenburg und Biel. Dies waren alles Strassen,<br />

über welche die möglichen Einfallsachsen bei einem potenziellen Angriff aus Frankreich<br />

führten. 1815 wurde unmittelbar westlich der Holzbrücke von Aarberg ein Brückenkopf<br />

in Form einer Schanze errichtet. 1831 wurde das Vorfeld der Aarberger Holzbrücke<br />

mit drei weiteren Schanzen erweitert. Die Schanzanlagen von Aarberg gehören<br />

zu den ersten Befestigungsanlagen, welche die Eidgenossenschaft finanzierte. Vorher<br />

wurden Befestigungsbauten durch die Kantone und Städte finanziert.<br />

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verloren der Raum Aarberg und die dortigen Feldbefestigungen<br />

an Bedeutung. Im Bereich der Waffentechnik machte die Artillerietechnik<br />

Fortschritte. Einfache Erdschanzen wie bei Aarberg boten gegen die neu entwickelten<br />

Geschosse nur noch bedingt Schutz. Auch die Erste Juragewässerkorrektion hatte<br />

Einfluss auf die Region Aarberg. Ein Stoss französischer Truppen von der Ajoie in Richtung<br />

Biel hätte seit dem Bau des Hagneckkanals hinter die Aare geführt. Der Aareübergang<br />

verlor so einen Teil seiner Bedeutung. Seit der Seespiegelsenkung in den 1870er-<br />

Jahren war zudem das Grosse Moos westlich von Aarberg, welches vorher eine Art<br />

Sperrfunktion innehatte, leichter passierbar geworden.<br />

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde durch die schweizerische Armeeführung<br />

der Bau der «Fortifikation Murten» befohlen. Auf der Linie Zihlkanal – Vuilly – Murten<br />

– Laupen entstanden zahlreiche Feldbefestigungsanlagen. Die Verteidigungslinie<br />

hatte die Aufgabe, Bern gegen Westen vor Angriffen über die Zihl und aus dem Kanton<br />

Waadt zu schützen. Die schweizerische Armeeführung be<strong>für</strong>chtete hauptsächlich einen<br />

französischen Umfassungsangriff durch die Schweiz in Richtung der unbefestigten<br />

deutschen Südgrenze. Nach Kriegsende liquidierte die Armee die Fortifikation Murten.<br />

HVBE 163


Werke auf Kulturland wurden zugedeckt und aufgelöst, Stellungen im Wald wurden ge-<br />

räumt und der Natur überlassen. In Waldgebieten sind viele Bunker, Unterstände und<br />

Stollen bis zum heutigen Tag erhalten geblieben.<br />

Der Vortrag hat diese Befestigungen zum Thema und geht hauptsächlich der Frage<br />

nach, wie der Untersuchungsraum gegen einen allfälligen Angriff aus Westen (Frankreich)<br />

in der Zeit 1815 –1918 befestigt wurde und welche Kosten dabei entstanden sind.<br />

Zuerst wird die Militärgeographie des Untersuchungsraumes – vor und nach der<br />

Ersten Juragewässerkorrektion – diskutiert. Danach werden die Befestigungen bei Aarberg<br />

näher erläutert. Im anschliessenden Teil zur «Fortifikation Murten» werden auch<br />

die Themengebiete Sprachgraben, Soldatenalltag und der Einfluss der «Fortifikation<br />

Murten» auf die Zivilbevölkerung diskutiert. Diese letzteren Themen, und auch die<br />

Frage nach den Baukosten, wurden bisher <strong>für</strong> den Untersuchungsraum noch nie ausführlich<br />

diskutiert.<br />

Kathrin Jost<br />

Konrad Justinger, Schreiber, Chronist, Finanzmann. Neues zum Verfasser<br />

der ersten amtlichen Chronik Berns<br />

Um Konrad Justinger, den ersten Chronisten der Stadt Bern, ranken sich viele Mythen,<br />

Vorstellungen und Hypothesen. Moritz von Stürler sprach ihm den Chronisten ganz ab<br />

und wollte lediglich einen Finanzmann in ihm sehen, Ferdinand Vetter machte aus Jus-<br />

tinger einen Schüler des berühmten Strassburger Chronisten Jakob Twinger von Königshofen,<br />

<strong>für</strong> Hans Strahm schliesslich prägte Konrad Justinger nicht nur die bernische<br />

und zürcherische Geschichtsschreibung, sondern auch die städtische Verwaltung<br />

Berns wie kaum ein anderer. Kathrin Jost hat die Quellen zu Justingers Leben und Werk<br />

– darunter auch einige Neuentdeckungen – der schon lange fälligen kritischen Prüfung<br />

unterzogen und legt nun neue, zum Teil unerwartete Erkenntnisse über Justingers Herkunft,<br />

Lehrzeit und Karriere vor. Ihr Referat zeichnet das Bild eines Schreibers mit<br />

praktischer Ausbildung, der wohl schon früh in die aufstrebende Aarestadt gelangte in<br />

der Hoffnung, hier Karriere zu machen, jedoch längerfristig keine zentrale Position in<br />

der städtischen Verwaltung besetzen konnte; eines Geschäftsmannes, der seine Finanzgeschäfte<br />

über die Grenzen Berns hinaus mit Erfolg führte; und eines <strong>Berner</strong> Burgers,<br />

der über prestigeträchtige Ämter und Arbeiten wie das Freiheitenbuch oder die erste<br />

Stadtchronik den gesellschaftlichen und politischen Aufstieg in der Aarestadt anstrebte,<br />

mangels familiärer Vernetzung aber letztendlich scheiterte und sich nach Zürich, in die<br />

Stadt seiner spät gefundenen Ehefrau, zurückzog.<br />

Der zweite Teil des Vortrags widmet sich Justingers amtlicher <strong>Berner</strong> Chronik, eines<br />

164 BEZG N° 02/10


der ersten Beispiele eidgenössischer städtischer Geschichtsschreibung und darüber hi-<br />

naus die erste Stadtchronik im süddeutschen Raum, <strong>für</strong> die ein offizieller Auftrag der<br />

Stadtregierung nachgewiesen ist. Mangels Vorgängerwerke entwarf Justinger ein eigenes,<br />

neues Konzept einer Stadtchronik, die in ihrem Fokus auf die Stadt weit über die<br />

Ansätze Jakob Twingers von Königshofen hinausging und in ihrer Struktur und inhaltlichen<br />

Ausführung wesentlich ausgefeilter war als die Zürcher Stadtchronistik. Exemplarisch<br />

wird aufgezeigt, wie Konrad Justinger seine Absicht, «alle der vorgenant ir stat<br />

Berne vergangen und grosse sachen, die nemlich treflich nútze und gte ze wissende und<br />

ze hoerende sint, zesamen bringen», umgesetzt, welche Ziele er dabei verfolgt und welche<br />

Wirkung er damit bis zum heutigen Tag erzielt hat.<br />

Jean-Daniel Gross<br />

Geächtet – geachtet: die Bauten des Historismus. Der Wandel in der Rezeption<br />

historistischer Architektur in den Jahren zwischen 1960–1980<br />

Selten ist die Hinterlassenschaft einer Epoche so rabiat und absichtsvoll beseitigt worden<br />

wie Architektur und Kunsthandwerk aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts<br />

in den Nachkriegsjahren des zwanzigsten. Die Gründe da<strong>für</strong> sind vielfältig.<br />

Erst das Zusammenspiel kunst- und kulturtheoretischer, gesellschafts- und sozialkritischer,<br />

implizit politischer wie natürlich ökonomischer Ursachen machte den respektlosen,<br />

ja verächtlichen Umgang mit dem Erbe des Historismus möglich. In der Folge<br />

ist in den 1960er- bis in die 1980er-Jahre eine unerhörte Abbruchwelle zu beobachten,<br />

die sich in der stark von historistischen Bauten geprägten Stadt Zürich besonders anschaulich<br />

nachvollziehen lässt. Die Stadt hat später die Stellung als wirtschaftlich-industrielle<br />

Metropole der Schweiz behaupten können. So steht nach der reichen Bauproduktion<br />

des Historismus die ungebremste Abbruchwelle der 1970er-Jahre exemplarisch<br />

<strong>für</strong> die Ächtung des baulichen Erbes einer ganzen Epoche.<br />

Im selben Zeitraum ist aber auch ein Wertewandel zu beobachten. Die Abbrüche<br />

werden zunehmend wahrgenommen und geraten immer mehr ins Schussfeld öffentlicher<br />

und fachlicher Kritik. Der Wandel kann an der Politik, an der Baugesetzgebung<br />

wie am erwachenden fachlichen Interesse festgemacht werden. So erscheint zuerst eine<br />

ganze Reihe architekturgeschichtlicher Dissertationen zum Thema, bis schliesslich ab<br />

1982 das Inventar der Neueren Schweizer Architektur (INSA, 1850 – 1920) publiziert<br />

wird. Die Wiederentdeckung des Historismus erklärt sich auch aus der Krise der einseitig<br />

utilitaristischen Nachkriegsarchitektur. Anhand von elf konkreten Erhaltungskämpfen<br />

um historistische Bauten, Gebäudegruppen oder Quartieren kann die Rehabilitation<br />

dieser lange geschmähten Baukunst am Zürcher Beispiel empirisch nachgewiesen<br />

HVBE 165


werden. Dabei muss der Rezeptionswandel historistischer Architektur im grösseren Zu-<br />

sammenhang einer allgemeinen Sensibilisierung <strong>für</strong> die Verletzlichkeit nicht nur der<br />

urbanen Umwelt betrachtet werden. Vom selben Geist waren auch der Natur- und Umweltschutz<br />

getragen, das Paradigma des unbegrenzten Fortschritts war gebrochen.<br />

Monica Bilfinger<br />

Vom Rathaus des Bundes zum Bundespalast<br />

Die Ehre von Berns Ernennung zum festen Regierungssitz der Schweiz brachte <strong>für</strong> die<br />

Aarestadt auch Pflichten mit sich: eine adäquate Unterbringung der neuen Regierung<br />

und deren Administration war gefordert. Es folgte ein von der neu organisierten Stadtgemeinde<br />

national lancierter Architektur-Wettbewerb, der kein befriedigendes Resultat<br />

brachte und zum Bau des «Rathauses des Bundes» durch einen bis dahin wenig bekannten<br />

<strong>Berner</strong> Architekten führte. Bezogen wurde dieses Rathaus in unfertigem Zustand.<br />

Es folgten längere Auseinandersetzungen um dessen Innenausstattung, die bis<br />

heute ihre Auswirkung auf das Kulturbudget des Bundes haben.<br />

Was aber haben der Bau des Kunstmuseums Bern, die erste Totalrevision der Bundesverfassung<br />

und die Abtretung dieses Rathauses an den jungen Bund mit dem bald<br />

darauf notwendigen Erweiterungsbau zu tun? Und warum kam der Erweiterungsbau,<br />

das «neue Bundesrathaus», östlich davon an die Stelle des ehemaligen Inselspitals zu<br />

stehen?<br />

Schliesslich entstand die Palastlösung, die ihren krönenden Abschluss im Neubau<br />

des Parlamentsgebäudes fand. Nicht nur im Äusseren kam es zu dieser überzeugenden<br />

Lösung, sondern auch das Innere ist ein <strong>für</strong> die Schweiz einmaliges Gesamtkunstwerk.<br />

Zum Schluss des Referates soll auf die Entwicklung im 20. Jahrhundert eingegangen<br />

werden. Anzusprechen sind dabei auch die jüngsten Bauereignisse wie die Neugestaltung<br />

des Bundesplatzes, die letzten Sanierungen und die Umbauten im Bundespalast.<br />

166 BEZG N° 02/10


Buchbesprechungen<br />

Bärner Müschterli, Anekdoten und Originale, vorgestellt von<br />

J. Harald Wäber. CD, hrsg. von der Burgerbibliothek Bern. Muri<br />

bei Bern: Cosmos Verlag 2009. ISBN 978-3-305-00128-6.<br />

In seinem schönen Stadtberndeutsch berichtet uns der Historiker und langjährige Direk-<br />

tor der Burgerbibliothek Anekdoten und Bonmots aus Bern zwischen Spätmittelalter<br />

und dem 20. Jahrhundert. Einige der Anekdoten sind zwar nicht unbedingt gesichert,<br />

aber typisch und sehr wohl möglich und werfen ein humorvolles und liebenswürdiges<br />

Licht auf allerhand Leute in und um Bern. Ganz besonders bemerkenswert aber ist die<br />

Vorstellung von zehn stadtbernischen Originalen. Wäber versteht es, mit sehr viel Einfühlungsvermögen,<br />

Personen verschiedenster Herkunft, von Dällebach Kari über Doktor<br />

Bäri und Hirschi-Buume bis Madame de Meuron, eine kurze, herzliche Würdigung<br />

zukommen zu lassen und uns diese Menschen mit ihren oft nicht einfachen Lebensumständen<br />

näherzubringen. Die heiteren, aber nie verletzenden <strong>Geschichte</strong>n sind immer<br />

auch ein Stück <strong>Berner</strong> <strong>Geschichte</strong>.<br />

Die CD ist zwar nur gesprochen, aber gleichwohl Musik ihn den Ohren jedes <strong>Berner</strong>s.<br />

Man hört sie sich mehr als einmal an.<br />

Quirinus Reichen<br />

Christen, Hans Rudolf: Emmentaler Geschlechter- und Wappenbuch.<br />

Ergänzungsband: Addenda und Corrigenda. Langwies: Elvisa<br />

2008. 143 S. ISBN 978-3-905530-03-2.<br />

1998 veröffentlichte Hans Rudolf Christen das Emmentaler Geschlechter- und Wappenbuch.<br />

1 In diesem Band verzeichnete er sämtliche Geschlechter, welche vor 1800 im<br />

Emmen tal heimatberechtigt waren, mit Namensdeutungen, Bürgerorten, Familienwap-<br />

pen, belegten Trägern des Familiennamens mit Lebensdaten sowie Literaturangaben.<br />

Chris ten hat damit einen reichen Fundus <strong>für</strong> die Familienforschung und die Ortsge-<br />

schichtsschreibung im Emmental zusammengestellt. Im Nachgang zur Veröffentlichung<br />

sammelte er weiter, sodass er zehn Jahre nach dem Erscheinen dieses Buches einen Er-<br />

gänzungsband veröffentlichen konnte. Es folgt im Aufbau der aus dem Hauptband be-<br />

kannten Struktur und ist ohne diesen, wie der Autor selber zu Recht betont, kaum zu<br />

gebrauchen.<br />

Im Ergänzungsband werden vor allem zahlreiche zusätzliche Personen aufgeführt,<br />

aber auch neue Wappenvarianten präsentiert und auf zusätzliche Literatur verwiesen.<br />

Ausserdem sind Korrekturen aufgeführt, welche auf den ersten Band verweisen. Die<br />

zusätzlichen Angaben zu Personen und Literatur sind eine hilfreiche Ergänzung zum<br />

Buchbesprechungen 167


Hauptband und sicher <strong>für</strong> alle interessant, welche diesen benutzen. Die Korrekturen<br />

dagegen sind in der Handhabung recht umständlich, muss doch bei der Arbeit mit dem<br />

Hauptband parallel der Ergänzungsband betrachtet werden. Daher wäre es wünschens-<br />

wert, wenn irgendwann eine ergänzte und korrigierte Neuauflage des Emmentaler Ge-<br />

schlechter- und Wappenbuches erscheinen könnte.<br />

1 Vgl. die Besprechung von Christian Lüthi in BZGH 61 (1999), Heft 4, S. 201.<br />

168 BEZG N° 02/10<br />

Peter Lehmann<br />

Erlach, Alexander: Die <strong>Geschichte</strong> der Homöopathie in der Schweiz<br />

1827–1971. Stuttgart: Karl F. Haug 2009 (Quellen und Studien zur<br />

Homöopathiegeschichte, Bd. 12, zugl. Diss. med. Univ. Zürich 2004).<br />

320 S. ISBN 978-3-8304-7306-0.<br />

Alternative und komplementäre Heilmethoden sind keine neuartigen Modeerscheinungen,<br />

sondern Konstanten, die die universitäre Medizin seit deren Vereinheitlichung als<br />

methodisch und inhaltlich klar definierte Schulmedizin um die Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

begleiten. Sie erfreuten sich wechselnder Beliebtheit und wurden im Zug des erneuten<br />

Aufschwungs ab den 1970er-Jahren und vor allem in den letzten 15 Jahren zunehmend<br />

auch Gegenstand der historischen Forschung. Dennoch sind unsere Kenntnisse<br />

über die <strong>Geschichte</strong> der Komplementärmedizin noch sehr lückenhaft, besonders in der<br />

Schweiz. Dies gilt auch <strong>für</strong> die Homöopathie als der mit Abstand am stärksten verbreiteten<br />

Alternativmethode.<br />

Alexander Erlach liefert nun die erste grössere Studie zur <strong>Geschichte</strong> der Homöopathie<br />

in der Schweiz. Den Schwerpunkt des Buches bilden zwei grössere Kapitel über die<br />

Anfänge der Homöopathie und den Schweizerischen Verein Homöopathischer Ärzte, an<br />

die sich kürzere Kapitel über die Entwicklung im Welschland, die homöopathischen Spitäler,<br />

die <strong>Zeitschrift</strong>en, die internationalen Beziehungen, die Hersteller homöopathischer<br />

Arzneimittel und die Laienhomöopathie anschliessen. Den Schluss bilden drei längere<br />

Biographien bedeutender Schweizer Homöopathen (Rudolf Flury, Antoine Nebel sen.<br />

und Pierre Schmidt).<br />

Wie der Autor selbst betont, schreibt er überwiegend eine <strong>Geschichte</strong> der ärztlichen<br />

Homöopathie. Er hat sich bemüht, die wichtigeren Figuren biographisch fassbar zu<br />

machen und in ihrer ärztlichen, wissenschaftlichen, publizistischen und vereinsrelevanten<br />

Tätigkeit zu zeigen. So treffen wir – um uns auf die wichtigsten drei <strong>Berner</strong> zu<br />

beschränken – auf Karl Krieger (1817–1874), einen aus Württemberg stammenden Gymnasiallehrer,<br />

der aus Begeisterung <strong>für</strong> die Homöopathie das Medizinstudium nachholte,


die alternative Methode mit Erfolg bei Arm und Reich anwandte und ihr so als Erster<br />

in Bern zum Ansehen verhalf. In Kriegers Fussstapfen trat Emil Schädler (1822–1890),<br />

der während langer Zeit den Schweizerischen Verein präsidierte und internationale Anerkennung<br />

genoss. Generationen später tätig war Rudolf Flury (1903–1977), der vor allem<br />

Bedeutung als einheitsstiftender Vereinspräsident und als Lehrer im gesamten deutschen<br />

Sprachraum erlangte.<br />

In Erlachs Buch erscheint die <strong>Geschichte</strong> der Homöopathie als eine «Ahnenreihe»<br />

(S. 161) homöopathischer Ärzte. Den Fokus auf die Ärzte begründet der Autor mit den<br />

spärlichen Quellen zur nichtärztlichen Homöopathie (S. 3) und blendet dabei aus, dass<br />

es etwa mit dem Schweizer Volksarzt – Wochenschrift <strong>für</strong> Homöopathie und Volksheilkunde<br />

(1868–1900) zwar eine weitverbreitete, von Laien herausgegebene <strong>Zeitschrift</strong>,<br />

aber kein von Ärzten redigiertes Fachjournal gab; weitere Quellen liessen sich leicht<br />

finden. Die Schwäche des Buchs liegt allerdings nicht im Fokus auf die Ärzte – dieser<br />

ist durchaus legitim –, sondern in der Einnahme einer ärztlich-homöopathischen Binnensicht.<br />

Der Kontext, in welchem die Homöopathen agieren, ist weitgehend ausgeblendet.<br />

Dabei wäre es gerade bei einer Aussenseitermethode naheliegend zu fragen,<br />

wie sich diese an den gegebenen Strukturen, sprich: Schulmedizin, Öffentlichkeit und<br />

Patientenwünschen reibt. Ein erster Ansatz könnte im Streit mit den Vertretern der<br />

«Staatsmedizin» (ein damals üblicher Begriff <strong>für</strong> die Schulmedizin) liegen, wie ihn etwa<br />

Schädler mit dem <strong>Berner</strong> Pathologieprofessor Philipp Munk in Presse und Pamphleten<br />

geführt hatte (worauf Erlach nicht weiter eingeht). Von da aus liessen sich allmählich<br />

in unterschiedlichen Perspektiven die verschiedenen Schichten und Bereiche der Homöopathiegeschichte<br />

beleuchten.<br />

Bei dieser aus anspruchsvoller Warte formulierten Kritik ist zu bedenken, dass es<br />

sich um eine überarbeitete medizinische Dissertation (Zürich 2004) und nicht um eine<br />

professionelle historische Arbeit handelt. Man muss daher hervorheben, dass der Autor<br />

mit grossem Aufwand umfangreiches Material gesammelt und eine weit überdurchschnittliche<br />

Arbeit geleistet hat. Das Buch ist ein lang ersehnter und der bisher wichtigste<br />

Beitrag zur <strong>Geschichte</strong> der Homöopathie in der Schweiz (und auch in Bern).<br />

Alexander Erlach hat sicher nicht – wie der etwas unpräzise Titel nahelegt – «Die <strong>Geschichte</strong><br />

der Homöopathie in der Schweiz» geschrieben, aber doch eine wertvolle Beschreibung<br />

von Persönlichkeiten, Ereignissen und Institutionen geliefert, die es seinen<br />

Nachfolgern erleichtern wird, eine solche <strong>Geschichte</strong> schreiben zu können.<br />

Hubert Steinke<br />

Buchbesprechungen 169


Gunten, Fritz von: Sagenhaftes Emmental. Huttwil: Schürch 2008.<br />

232 S. ISBN 978-3-9523343-1-7.<br />

Wer das Buch aufschlägt, begegnet unvermittelt einer Vielzahl sagenhafter Gestalten.<br />

Man liest von grünen Männchen, bösen Landvögten und geizigen Bauern, die ihre Misse-<br />

taten bis heute bitter sühnen müssen, Riesen, Zwergen und Elfen oder auch von sagen-<br />

haften Schätzen und verschwundenen reichen Dörfern. Ihnen allen gemeinsam ist, dass<br />

sie eng mit dem Emmental verbunden sind.<br />

Von Guten führt mit seinem Buch eine Tradition fort, welche schon Gotthelf begon-<br />

nen und insbesondere Herrmann Wahlen pflegte, nämlich den reichen Fundus an Er-<br />

zählungen aus der Gegend um den Napf zu sammeln und niederzuschreiben. Er hat da-<br />

bei gegen hundert Sagen zusammengetragen, genau lokalisiert und nach Gegend<br />

geordnet in Kapiteln zusammengestellt. Zu Beginn jedes Kapitels findet der Lesende eine<br />

Zusammenstellung der folgenden Sagen, dazu eine genaue Angabe mit Koordinaten, wo<br />

die <strong>Geschichte</strong>n spielen, sowie einen Wandervorschlag oder eine Station des öffentlichen<br />

Verkehrs in der Nähe des sagenumwobenen Ortes. Damit ist das Buch nicht nur eine<br />

Sammlung von Sagen, sondern ebenso ein sagenhafter Wanderführer <strong>für</strong> das Emmental.<br />

Bei seinen Recherchen wurden von Gunten nicht nur Erzählungen aus dem Em-<br />

mental zugetragen, sondern ebenso alte Bauernweisheiten und Wetterregeln. Im Be-<br />

streben, das ihm Weitergesagte zu konservieren, reihte er auch dieses alte Wissen in einem<br />

separaten Kapitel in sein Buch ein.<br />

Sagenhaftes Emmental ist ein heimatkundliches Sammelsurium, welches altes Wissen<br />

und überlieferte <strong>Geschichte</strong>n aus dem Emmental zwischen zwei Buchdeckeln vereint,<br />

und sich ebenso <strong>für</strong> Kurzlektüren wie als Nachschlagewerk eignet. Es ist von Gunten<br />

gelungen, traditionelles Wissen aus den Hügeln des Emmentals zu sammeln und<br />

leicht zugänglich darzustellen. Die kurz gehaltenen Sagen, die leicht verständliche Sprache<br />

und die ansprechende Bebilderung mit Landschaftsfotos und Holzskulpturen des<br />

Malanser Bildhauers und Malers Peter Leisinger sorgen <strong>für</strong> eine angenehme Lektüre.<br />

Peter Lehmann<br />

Haag-Streit AG, Köniz (Hrsg.): 1858 – 2008 — 150 Jahre Haag-Streit /<br />

150 Years of Haag-Streit. Textredaktion: Simon Wernly, Bildredaktion:<br />

Chris Haag. Bern: Stämpfli Publikationen AG 2008. 290 S.<br />

Aufs 150-Jahr-Jubiläum der Firma <strong>für</strong> Präzisionsinstrumente Haag-Streit in Köniz im<br />

Jahr 2008 hat sich eine ganze Schar ehemaliger Mitarbeiter daran gemacht, längst vergessen<br />

Geglaubtes aus der <strong>Geschichte</strong> der Firma ans Tageslicht zu holen, Dokumente zu<br />

170 BEZG N° 02/10


sichten und ihnen durch Kommentare wieder Leben einzuhauchen, mithilfe von Fach-<br />

leuten aus Archiven und Bibliotheken, Partnerunternehmen und befreundeten Privat-<br />

personen die <strong>Geschichte</strong> einer mechanischen Werkstätte nachzuzeichnen, die erst in<br />

der Innenstadt von Bern, heute am Südrand der Agglomeration von Bern diskret, aber<br />

umso erfolgreicher wirkt. Simon Wernly und Chris Haag ist es dabei gelungen, den lan-<br />

gen Weg der Firma Hermann & Studer (ab 1865 Hermann & Pfister), einer Firma <strong>für</strong><br />

«Construction optischer, physikalischer und meteorologischer Instrumente», die sich<br />

später Pfister & Streit, A. Streit und seit 1924 Haag-Streit «Mathemat. physikal. Werkstätte»<br />

nannte und schliesslich zu einer Werkstätte <strong>für</strong> Präzisionsmechanik wurde, spannend<br />

zu schildern und diese bernischen Beiträge zur Entwicklung der Technik ins rechte<br />

Licht zu rücken. Die durchgehend in Deutsch und Englisch gehaltene, 290 Seiten starke<br />

Schrift ist farbig und reich illustriert und <strong>für</strong> ein breites Publikum geschrieben.<br />

Abgesehen von der Initiative und dem Einfallsreichtum der beiden Firmengründer<br />

Friedrich Hermann und Hermann Studer selbst, waren es die Bedürfnisse der im Aufbau<br />

begriffenen Naturwissenschaften als akademische Disziplin und die Person des ersten<br />

Assistenten und späteren Professors an der philosophisch-naturwissenschaftlichen<br />

Fakultät der Universität Bern, Heinrich Wild (1833–1902), die der Firma nach ihrer<br />

Gründung Aufträge brachten: Zum Beispiel waren 1862 <strong>für</strong> das erste gesamtschweizerische<br />

Messnetz 88 meteorologische Messstationen anzufertigen, ein Auftrag, den die<br />

Schweizerische Naturforschende Gesellschaft auf Empfehlung von Heinrich Wild an<br />

die Firma Hermann & Studer vergab. Dazu kamen in diesen Jahren andere Messgeräte<br />

wie Präzisionswaagen, Gewichtssätze und andere Produkte <strong>für</strong> die Metrologie, die Massund<br />

Gewichtskunde, aber auch Geräte <strong>für</strong> die Geodäsie, die Wissenschaft von der Erdvermessung.<br />

1923 wurde der erste Polarkoordinatograph ausgeliefert und zu Beginn<br />

des Ersten Weltkrieges war A. Streit der Armee zu Diensten mit Kühlpumpen <strong>für</strong> Sturmgewehre,<br />

Seitenrichtskalen <strong>für</strong> schwere Geschütze und anderen Beobachtungsinstrumenten.<br />

Die Arbeiten <strong>für</strong> den Simplontunnel nach der Wende zum 20. Jahrhundert wurden<br />

mit Stativen und Visierlampen der Firma Pfister & Streit begleitet.<br />

1906 wurde ein anderes optisches Gerät, das Ophthalmometer, an der internationalen<br />

Ausstellung in Mailand mit der Goldmedaille ausgezeichnet, und zehn Jahre später<br />

kam ein Gerät auf den Markt, das heute ein Paradepferd der Firma Haag-Streit ist<br />

und <strong>für</strong> das man aus der ganzen Welt in Liebefeld anklopft: das Spaltlampen-Mikroskop,<br />

weiter entwickelt und immer wieder verbessert zusammen mit dem <strong>Berner</strong> Ophthal-<br />

mologen Professor Dr. Hans Goldmann (1899–1991), ab 1923 Assistent von Professor<br />

August Siegrist und von 1935 bis 1968 selbst Leiter der Universitäts-Augenklinik am In-<br />

sel-Spital. Mit ihm wurden in den folgenden Jahren noch so manche Weiterentwicklung<br />

und neue Geräte zum Fachgebiet der Augenheilkunde zustande gebracht, so das<br />

Buchbesprechungen 171


Adaptometer nach seinen Studien der Nachtsehfähigkeit, ein Perimeter nach neuen Er-<br />

kenntnissen zur Messung des Sehfeldes, das Applanations-Tonometer nach Goldmanns<br />

Forschungen zum Glaukom (grüner Star). Die spätere Beschränkung auf Geräte <strong>für</strong> die<br />

Ophthalmologie ist mit dieser engen Zusammenarbeit mit der <strong>Berner</strong> Augenklinik zu<br />

erklären. So soll sich Professor Goldmann mit seinen technischen Wünschen jeweils<br />

direkt an die Konstrukteure in Liebefeld und unter ihnen gerne an seinen Vertrauten<br />

Hans Papritz gewandt haben. 1908 stattete die Firma den Neubau der Klinik mit Geräten<br />

aus. Ein Akt, der 2009 aus Dankbarkeit <strong>für</strong> die lange Zusammenarbeit und anlässlich<br />

des Jubiläums in ähnlicher Weise wiederholt wurde, indem die Firma der Universität<br />

ein Laser-Labor schenkte (siehe dazu «unilink» vom Dezember 2009, S. 3).<br />

Walter Thut<br />

Holenstein, Anne-Marie; Renschler, Regula; Strahm, Rudolf:<br />

Entwicklung heisst Befreiung. Erinnerungen an die Pionierzeit der<br />

Erklärung von Bern (1968–1985). Zürich: Chronos 2008. 336 S.<br />

ISBN 978-3-0340-0917-1.<br />

Seit 1968 setzt sich die unabhängige, von Mitgliedern finanziell getragene entwicklungspolitische<br />

Organisation Erklärung von Bern (EvB) <strong>für</strong> eine Verbesserung der Nord-Süd-<br />

Beziehung, <strong>für</strong> gerechte Handelsbeziehungen und eine nachhaltige Entwicklung ein.<br />

Zum 40-jährigen Jubiläum liegt nun eine Überblicksdarstellung zur <strong>Geschichte</strong> der Organisation<br />

in den ersten 20 Jahren ihres Bestehens vor.<br />

Die EvB entstand aus dem Zusammenschluss von Unterzeichneten eines Manifests,<br />

das von reformierten Theologen aus Protest gegen die wachsenden Wohlstandsunterschiede<br />

zwischen den westlichen Industrieländern und der Dritten Welt erarbeitet und<br />

im März 1968 in Bern verabschiedet wurde. Innert weniger Monate unterschrieben über<br />

1000 Personen das Manifest, wobei sie sich verpflichteten, drei Prozent ihres Einkommens<br />

<strong>für</strong> die Entwicklungshilfe einzusetzen. Im Anschluss konstituierte sich die EvB<br />

als Verein und baute Sekretariate in Zürich und Lausanne auf.<br />

Die Autoren – alle während vieler Jahre in leitender Funktion in der EvB tätig –<br />

prägten das Gesicht der Organisation und legen nun mit diesem Werk einen Zeitzeugenbericht<br />

vor. Insofern ist die Publikation – wie der Untertitel «Erinnerungen an die<br />

Pionierzeit» schon andeutet – keine systematische historische Abhandlung, sondern der<br />

subjektive Blick der Akteure auf ihr solidarisches Engagement in einer der wichtigsten<br />

schweizerischen Entwicklungsorganisationen. Die Publikation ist allerdings mehr als<br />

nur eine Erinnerungsstudie. Die Autoren stützen sich bei ihrer Darstellung auf Dokumente<br />

und Quellen aus ihren Privatarchiven oder dem Schweizerischen Sozialarchiv<br />

172 BEZG N° 02/10


und leisten somit einen wertvollen Beitrag zur historischen Aufarbeitung. Eine Reihe<br />

von Abbildungen wie Flugblätter, Broschüren oder Fotos von Akteuren und Aktionen<br />

ergänzen die Ausführungen. Das Buch schliesst mit einer kurzen wissenschaftlichen<br />

Analyse des Historikers Konrad Kuhn sowie einem Beitrag zur heutigen Situation der<br />

EvB hinsichtlich ihrer Professionalisierung.<br />

Die jeweils in der ersten Person geschriebenen Berichte der drei Zeitzeugen weisen<br />

eine weitgehend chronologische Reihenfolge auf und verfolgen die <strong>Geschichte</strong> der EvB<br />

von ihren Anfängen bis in die Mitte der 1980er-Jahre. Die Anfangszeit der EvB fiel mit<br />

dem bewegten Jahrzehnt nach 1968 zusammen. Die von der Organisation behandelten<br />

Themen illustrieren den Zeitgeist dieser Jahre: Anprangerung der Ungleichheiten in<br />

den Nord-Süd-Beziehungen, die Verantwortung der «entwickelten» Länder <strong>für</strong> die Aufrechterhaltung<br />

der «Unterentwicklung» eines grossen Teils der Weltbevölkerung, Kritik<br />

am Ethnozentrismus und Rassismus, aber auch Kritik an der Konsumgesellschaft<br />

und der zunehmenden «produktivistisch» ausgerichteten Wirtschaftsentwicklung. Im<br />

Zentrum des Entwicklungskonzepts der EvB standen die Prinzipien der Eigenständigkeit<br />

und Selbstbestimmung. Im Gegensatz zu den meisten anderen soziopolitischen<br />

Gruppierungen der 68er-Bewegung, die eher informelle und nicht permanente Strukturen<br />

aufwiesen, durchlief die EvB im Laufe der 1970er-Jahre einen Prozess der Institutionalisierung<br />

und Professionalisierung. Ebenfalls distanzierte sie sich vom marxistischen<br />

Vokabular dieser Zeit und wandte weniger konfliktgeladene Aktionsstrategien<br />

an. Nichtsdestotrotz zeugten die Aufsehen erregenden Kampagnen der EvB von einer<br />

grossen Kreativität und hatten hohen Symbolwert. Konsumentenaktionen wie die Kaffee-Aktion<br />

Ujamaa (der Import und Verkauf von verarbeitetem Kaffee aus Tansania)<br />

oder die Aktion «Jute statt Plastic» (der Verkauf von Jutesäcken, die von Frauen aus<br />

Bangladesch hergestellt wurden) sollten die Schweizer Bevölkerung auf gerechten Handel<br />

und ökologische Anliegen aufmerksam machen und trugen zur Institutionalisierung<br />

des Fair-Trade-Handels bei.<br />

Des Weiteren beschreiben die Autoren die EvB als Teil eines vielfältigen, sowohl national<br />

als auch international agierenden Netzwerks, das sich zu dieser Zeit im Bereich<br />

der Entwicklungsarbeit bildete. Der Pragmatismus der EvB erlaubte es, mit diversen<br />

Akteuren wie Kirchen, Hilfswerken oder politischen Parteien zusammenzuarbeiten.<br />

Dies erklärt nicht nur die lange Lebensdauer der Organisation, sondern auch ihre grosse<br />

Wirkung in der schweizerischen Entwicklungspolitik.<br />

Geschickt wird die <strong>Geschichte</strong> der EvB mit dem Lebenslauf der Autoren verknüpft,<br />

die von ihrer Politisierung, ihrem politischen und solidarischen Engagement und der<br />

zugrunde liegenden Motivationen und Inspirationsquellen erzählen. Kritisch gehen sie<br />

auf die konkrete Arbeit in der EvB ein und blenden dabei Schwierigkeiten und Desillu-<br />

Buchbesprechungen 173


sionierungen bezüglich ihres Engagements nicht aus. Ein weiterer interessanter Aspekt<br />

dieses Werks ist der Einbezug einer Geschlechterperspektive. Die Rolle von Frauen in<br />

der Entwicklungsarbeit wurde bisher kaum zur Kenntnis genommen. Finden sich unter<br />

den Erstunterzeichnenden des Manifests nur vier Frauen, sind sie beim Aufbau der<br />

Organisation bereits stark vertreten und übernehmen vermehrt Verantwortung. Dabei<br />

mussten sie jedoch feststellen, dass sie als Frau in ihrer Handlungsfreiheit stark eingeschränkt<br />

waren. Erstaunt war Anne-Marie Holenstein, als sich herausstellte, dass sie<br />

<strong>für</strong> Eröffnung eines Bankkontos zugunsten der EvB die Unterschrift ihres Mannes benötigte.<br />

Konfrontiert sah sie sich auch mit der Schwierigkeit, ihr Engagement und die<br />

Kindererziehung aufeinander abzustimmen. Gleichwohl stellten Frauen als Konsumentinnen<br />

bei der Themensetzung in der Entwicklungspolitik einen wichtigen Faktor dar,<br />

wie die Aktion der «Bananenfrauen» aus Frauenfeld exemplarisch zeigt. Anfang der<br />

1970er-Jahre legten sie den Grundstein <strong>für</strong> den fairen Handel in der Schweiz, als sie<br />

von Lebensmittelläden einen Solidaritätsaufschlag von 15 Rappen auf Bananen zugunsten<br />

der Produzenten in den Entwicklungsländern forderten. Es ist auch vorwiegend auf<br />

die Initiative von Frauen zurückzuführen, dass Ernährungs- und Gesundheitsfragen<br />

oder die Erziehung zur Solidarität auf die Agenda gesetzt wurden.<br />

Dadurch dass die Publikation die <strong>Geschichte</strong> der EvB nachzeichnet, wirft sie einen<br />

kritischen Blick auf zwei Jahrzehnte Schweizer Entwicklungspolitik, deren Themenfelder<br />

von damals bis heute eine grosse Aktualität aufweisen. Gleichzeitig dokumentiert<br />

das Buch das soziale und politische Klima der Schweiz zwischen 1968 und 1985 aus<br />

der persönlichen Perspektive der Autoren. Die gelungene Verknüpfung einer Organisationsgeschichte<br />

mit einem biographischen Ansatz vermittelt so ein interessantes Stück<br />

Zeitgeschichte.<br />

Nuno Pereira, Renate Schär<br />

Krüger, Tobias: Die Entdeckung der Eiszeiten. Internationale Rezeption<br />

und Konsequenzen <strong>für</strong> das Verständnis der Klimageschichte<br />

(Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte, WSU, Bd. 1.) Basel:<br />

Schwabe 2008 (zugl. Diss. phil.-hist. Univ. Bern, 2006). 619 S.<br />

ISBN 978-3-7965-2439-4.<br />

Der Autor dieser unter der Leitung von Christian Pfister am Historischen Institut der<br />

Universität Bern entstandenen Dissertation fragt in international vergleichender<br />

Perspek tive nach, «wann und wie die Eiszeiten entdeckt wurden, und untersucht die<br />

Rezeption dieser neuen Erkenntnis». Er verfolgt dabei eine interdisziplinäre wissenschaftsgeschichtliche<br />

Ausrichtung mit dem Ziel, dem «Schattendasein der Entdeckung<br />

174 BEZG N° 02/10


der Eiszeiten als grosse wissenschaftliche Leistung des 19. Jahrhunderts ein Ende zu<br />

setzen». (S. 15)<br />

Krüger untersucht vier Fragenkomplexe: 1. behandelt er die eigentliche Entdeckungsgeschichte<br />

der grossräumigen Vergletscherungen; 2. befasst er sich mit den zeitgenössischen<br />

Theorien zu den Glazialzeiten und besonders mit den Argumenten der Gegner<br />

dieser Theorien; 3. untersucht er die Rezeptionsgeschichte der Eiszeittheorien und die<br />

wissenschaftlichen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten im 19. Jahrhundert<br />

und 4. will der Autor nach den Folgen der Entdeckung der Eiszeiten <strong>für</strong> die betroffenen<br />

wissenschaftlichen Disziplinen <strong>für</strong> das Verständnis des Klimas fragen.<br />

Im ersten Teil stellt Krüger chronologisch die Entdeckung und Diskussion verschiedener<br />

Landschaftselemente dar, die mit Gletschern und grossräumigen Vereisungen zu<br />

erklären versucht wurden. Ausgangspunkt waren die Findlinge in seit Menschengedenken<br />

eisfreien Gebieten, zum Beispiel im Alpenvorland, im Jura, in Süd- und Norddeutschland<br />

und selbst auf den britischen Inseln. Später wurden End-, Seiten- und Grundmoränen<br />

entdeckt und mit Gletschern erklärt. Geschrammte, zerkratzte und polierte Felsen<br />

wurden unter anderem am Jurasüdfuss als Nachweis früher Gletscher erkannt. In Nordeuropa<br />

wurden Oser (Wallberge, Esker) mit grossflächigen Vereisungen erklärt. Geschiebelehm<br />

und Gletschermühlen wurden als weitere Eiszeitrelikte interpretiert.<br />

Bereits 1773 stellte der österreichische Jesuitenpater Joseph Walcher eine Verbindung<br />

zwischen Schwankungen des Klimas und Gletschervorstössen fest. Bis sich im<br />

19. Jahrhundert die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen kälteren Klimaphasen,<br />

Gletschervorstössen und dem Transport von Findlingen sowie der Entstehung weiterer<br />

glazialer Landschaftselemente durchsetzte, wurden noch jahrzehntelang grosse Wasserfluten<br />

und Vulkane als Ursachen diskutiert. Durch die Verbindung der Feldbeobachtungen,<br />

vorwiegend in den Alpen und in Skandinavien, mit Theorien der Erdentstehung,<br />

regionalen bis globalen Klimaschwankungen mit grossräumigen Vereisungen<br />

und Gletscherrückzügen gelang es letztlich, die Eiszeitphänomene weit gehend widerspruchsfrei<br />

zu erklären. Louis Agassiz (1807–1873) spielte bei der Verbreitung der Erkenntnisse<br />

sicher eine zentrale Rolle, Krüger relativiert jedoch seine Bedeutung als<br />

Entdecker der Eiszeit, weil er offensichtlich Erkenntnisse anderer Forscher ohne Quellenangabe<br />

verbreitete.<br />

Im zweiten Teil wird die Rezeption der Eiszeittheorie in Frankreich, Grossbritannien,<br />

Schweden, Finnland, Russland und Deutschland dargestellt, mit ergänzenden<br />

Hinweisen zu Australien-Neuseeland und zu Nordamerika. Überall gehörten führende<br />

Geologen und weitere Naturwissenschaftler zu den vehementesten Gegnern der Gletscher-<br />

und Eiszeittheorien. Heute ist es schwer verständlich, dass die Vergletscherung<br />

des schweizerischen Mittellandes und weiter Teile Mittel- und Nordeuropas so lange<br />

Buchbesprechungen 175


angezweifelt werden konnte, da dies heute fast jedes Kind in der Volksschule vernimmt<br />

und begreift. Die Eiszeiten konnten erst in den 1870er-Jahren breit akzeptiert werden,<br />

als sie mit globaler Abnahme der Durchschnittstemperaturen als möglicher Ursache er-<br />

klärt werden konnten.<br />

Der Autor hat mit dieser sehr quellengenauen und quellenkritischen Untersuchung<br />

ein grundlegendes Werk zu einer besonders <strong>für</strong> die Schweiz und den Alpenraum wich-<br />

tigen Phase der Forschungsgeschichte vorgelegt. Er gewann mit der Untersuchung die-<br />

ser damals neuen Theorien und Erklärungsansätzen in den Naturwissenschaften des<br />

18. und 19. Jahrhunderts Erkenntnisse, die weit über die Eiszeitforschung hinausgehen.<br />

Er hat dabei auch etliche Irrtümer und Fehlinterpretationen aufgedeckt und richtig ge-<br />

stellt. Besonders aufschlussreich sind die zahlreichen Zitate in der Originalsprache und<br />

auch in Übersetzung.<br />

Da es schwierig ist, mit den umfangreichen Informationen auf den rund 600 Seiten<br />

die grossen Linien der Eiszeitforschung zu erkennen, wäre es sehr wertvoll und hilf-<br />

reich, wenn eine synoptische Darstellung der neuen Erkenntnisse und Theorien und<br />

ihre Gegenpositionen als Grafik vorgelegt worden wäre. (Der Versuch einer grafischen<br />

Darstellung auf Seite 531 ist ungenügend.) Auch hätten mit Karten einige Textabschnitte<br />

wesentlich gekürzt und die räumlichen Gegebenheiten anschaulicher dargestellt wer-<br />

den können. Die vier abgebildeten zeitgenössischen Kartenskizzen bestätigen diese Fest-<br />

stellung. Hilfreich wäre auch, wenn bei allen Literaturzitaten in den Fussnoten das Er-<br />

scheinungsjahr der Publikation genannt wäre. Der Leser müsste dann nicht im<br />

Literaturverzeichnis nachsehen, ob es sich um ein zeitgenössisches Zitat oder um ein<br />

forschungsgeschichtliches aus der jüngeren Zeit handelt. Die theoretischen Abschnitte<br />

zur Geschichtswissenschaft waren sicher <strong>für</strong> die Dissertation wichtig, hätten aber <strong>für</strong><br />

die vorliegende Ausgabe gekürzt oder sogar weggelassen werden können. (Für den<br />

Nicht-Historiker sind die Abschnitte zum Klimadeterminismus, zur Paradigmendiskussion<br />

oder zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen zu knappe Hinweise und zum<br />

Verständnis der Eiszeiten nicht nötig.) Leider fehlt eine Zusammenfassung.<br />

Der Band ist besonders deshalb spannend zu lesen, weil man immer wieder erstaunt<br />

ist, wie heute selbstverständliche Phänomene heftige Diskussionen und Kontroversen<br />

auslösten, die zeitlich gar nicht so lange zurückliegen. Der Band ist aber auch wertvoll<br />

als Nachschlagewerk zu einzelnen Forschern und Regionen, wozu die Orts-, Personenund<br />

Sachregister sehr dienlich sind. Das Buch schliesst eine grosse Lücke der Gletscherforschung.<br />

Hans-Rudolf Egli<br />

176 BEZG N° 02/10


Gebäudeversicherung Bern (Hrsg.): <strong>Berner</strong> Landwirtschaft. Bern:<br />

Stämpfli 2009 (Die schönsten Seiten des Kantons Bern, 16). 40 S.<br />

ISBN 978-3-7272-1197-3.<br />

Bern gilt als der Schweizer Agrarkanton schlechthin. Es liegt darum nahe, dass die Ge-<br />

bäudeversicherung Bern (GVB) in ihrer Reihe «Die schönsten Seiten des Kantons Bern»<br />

eine Ausgabe der Landwirtschaft widmet. Mit dieser Reihe will die GVB die Vielfalt der<br />

bernischen Bauten und Landschaften würdigen. Im vorliegenden Heft, das <strong>Geschichte</strong><br />

und Gegenwart abdecken soll, stammen die Fotos von Hans Rausser und der Text von<br />

Andreas Wasserfallen, der die Landwirtschaft aus seiner beruflichen Tätigkeit als Anwalt<br />

(Schwerpunkt Agrarrecht) und ehemaliger Agrarjournalist kennt.<br />

Der Schwerpunkt der Publikation liegt bei den Agrarreformen der 1990er-Jahre.<br />

Rausser und Wasserfallen gehen zuerst auf einzelne Regionen ein und schildern die<br />

Waldweiden im Jura, die Käseproduktion im Emmental und die Viehzucht im Simmental.<br />

Auf die knappen Ausführungen zur Agrarmodernisierung im 18. und 19. Jahrhundert<br />

folgt eine einzige Seite zur Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Im Rest des Heftes,<br />

der fast zwei Drittel der Publikation ausmacht, geht es um die letzten zwei Jahrzehnte,<br />

die von einem tief greifenden Wandel der Marktordnungen und einem stetig engeren<br />

Zugriff von staatlichen und privatwirtschaftlichen Bürokratien auf die einzelnen Betriebe<br />

geprägt waren.<br />

In diesem Teil bringt Wasserfallen seine Detailkenntnisse ein. Einerseits weist er<br />

darauf hin, wie flexibel und innovativ die <strong>Berner</strong> Bauernfamilien auf die neuen Marktverhältnisse<br />

reagierten und z.B. neue Angebote lancierten oder ihre Produkte direkt an<br />

die Konsumenten vermarkteten. Andererseits schildert Wasserfallen aber auch die<br />

Schwierigkeiten, die viele Lösungsversuche mit sich bringen. So kann zum Beispiel das<br />

Geldverdienen ausserhalb der Landwirtschaft das wirtschaftliche Überleben sichern,<br />

zehrt aber auch an den Kräften der Bauern. Die ohnehin schon hohe Arbeitsbelastung<br />

nimmt mit dem Nebenerwerb zusätzlich zu. Die Kenntnisse von Wasserfallen erweisen<br />

sich hier als Vorteil.<br />

Wasserfallen ist nicht nur ein distanzierter Erzähler, sondern auch ein Zeitzeuge.<br />

Als solcher steht er auf einem Standpunkt, der eng mit der erzählten <strong>Geschichte</strong> zusammenhängt.<br />

Das zeigt sich in seiner Gesamtinterpretation der Agrarpolitik im 20. und<br />

21. Jahrhundert. Hier übernimmt er das Geschichtsbild der Agronomen und Ökonomen,<br />

die die Agrarreformen der 1990er-Jahre konzipiert und umgesetzt haben. Nach<br />

der professionellen Selbstwahrnehmung dieser Gruppe rechtfertigt das Scheitern der<br />

«alten» Agrarpolitik ihr eigenes Handeln in der Gegenwart. Hier gäbe es auch ausge-<br />

Buchbesprechungen 177


wogenere Perspektiven, wie geschichtswissenschaftliche Beiträge zur Agrarpolitik im<br />

20. Jahrhundert zeigen. 1<br />

In Kontrast zum Text, in dem es vor allem um die Zeit nach 1990 geht, stehen die<br />

Bilder. Wie es dem Titel der Reihe entspricht, sind sie vor allem «schön», harmonisch<br />

und idyllisch. Ausnahmen gibt es wenige: Die Fotografie von weidenden Hühnern in<br />

Gals (S. 39) ist originell und die Aufnahmen der Heuernte bei Schlosswil (S. 18) und<br />

der Gemüseernte im Grossen Moos (S. 31) nehmen das Thema der Arbeit auf, das <strong>für</strong><br />

das Leben von Bäuerinnen und Bauern bis heute so dominant ist. Die übrigen Bilder<br />

zeigen fast ausschliesslich Landschaften und Gebäude, die im 18. und 19. Jahrhundert<br />

errichtet worden sind. Zu diesen Gebäuden ist aus dem Text aber wenig zu erfahren.<br />

Insgesamt bietet der schön gestaltete Band sicher visuellen Genuss. Die Bilder sind<br />

fotografisch von hoher Qualität und laden dazu ein, die gezeigten Landschaften selber<br />

zu erkunden. Die Aussagekraft der Bilder ist aber begrenzt. Anders als im Sprichwort<br />

sagen sie hier nicht mehr als tausend Worte, sondern weniger. Der Text dagegen ist informativ<br />

und stellt eine Momentaufnahme der <strong>Berner</strong> Landwirtschaft dar, die <strong>für</strong> die<br />

Leserinnen und Leser vieles enthalten dürfte, was sie bis jetzt nicht wussten.<br />

Daniel Flückiger<br />

1 Einen Forschungsüberblick gibt Moser, Peter: Kein Sonderfall. Entwicklung und Potenzial der<br />

Agrargeschichtsschreibung in der Schweiz im 20. Jahrhundert. In: Bruckmüller, Ernst et al. (Hrsg.):<br />

Agrargeschichte schreiben. Traditionen und Innovationen im internationalen Vergleich. Innsbruck 2004,<br />

132–153.<br />

Landwirtschaftliche Lehrmittelzentrale Zollikofen (Hrsg.):<br />

Friedrich Traugott Wahlen und die «Anbauschlacht» (1940 – 1945) /<br />

Friedrich Traugott Wahlen und die Entwicklung unserer<br />

Landwirtschaft / Friedrich Traugott Wahlen als Politiker, Christ<br />

und Mensch. [3 DVDs] Dokumentarfilm[e] des Vereins zur Wahrung<br />

der Erinnerung an Bundesrat Prof. Dr. F. T. Wahlen und den<br />

Anbauplan. Zollikofen 2006 – 2007.<br />

Die dreiteilige DVD-Reihe gibt einen filmischen Überblick über das Leben und Wirken<br />

von Friedrich Traugott Wahlen (1899–1985). Thema der ersten DVD ist die «Anbauschlacht».<br />

Diese wird hauptsächlich aus dem Blickwinkel von noch lebenden Zeitzeugen<br />

betrachtet. Weggefährten schildern ihre Erinnerungen an die bewegten<br />

Kriegs jahre. Zudem enthält der Film grundlegende Angaben zu Organisation und Auf-<br />

bau der «Anbauschlacht». Die zweite DVD stellt den Einfluss Wahlens auf die schwei-<br />

zerische Landwirtschaft und deren Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Land-<br />

178 BEZG N° 02/10


wirte aus mehreren Generationen kommen zu Wort. Dabei finden auch aktuelle<br />

Probleme und Sorgen der Befragten Beachtung. Schliesslich versucht der dritte Teil<br />

den Menschen Friedrich Traugott Wahlen zu ergründen. Dabei werden auch die privaten<br />

Seiten des Agronomen, ETH-Professors (1943–1949) und BGB-Bundesrates<br />

(1959–1965) beleuchtet.<br />

Die Filmreihe ist unterhaltsam erzählt und mit viel zeitgenössischem Bild- und Filmmaterial<br />

illustriert. Die Autoren setzen dabei hauptsächlich auf «Oral History» – Wahlens<br />

Leben und Wirken wird aus der Sicht von Bekannten, Freunden und Zeitgenossen erzählt.<br />

Die Reihe fokussiert sehr stark auf die schweizerische Landwirtschaft. Hier wird<br />

ausführlich Bezug auf das Wirken Wahlens genommen, entsprechend werden seine<br />

Leistungen auch gewürdigt.<br />

Möglicherweise werden die Beiträge der Person Wahlen nicht ganz gerecht. So wird<br />

beispielsweise wenig darauf eingegangen, dass Wahlen insgesamt 17 Jahre im Ausland<br />

tätig war. Er arbeitete u.a. 1949–1959, zuletzt als Vize-Generaldirektor, bei der FAO<br />

(UNO – Food and Agricultural Organization) und war zuvor auch in Holland, Deutschland,<br />

Kanada, England, USA und Italien tätig. Es stellt sich die Frage, ob Wahlens Erfahrungshorizont<br />

vom Leben im Ausland nicht ebenso geprägt wurde wie von seiner<br />

Kindheit im bäuerlich und christlich geprägten Emmental.<br />

Die Filme fokussieren stark auf das Themengebiet der schweizerischen Landwirtschaft.<br />

Die Wahl des «Auslandschweizers» Wahlen in den Bundesrat (1959) und sein<br />

darauf folgendes Wirken im Justiz- und Polizeidepartement (1959), im Volkswirtschafts-<br />

(1960–1961) und schliesslich im Politischen Departement (1961–1965) sowie das Jahr<br />

als Bundespräsident (1961) finden wenig Erwähnung. Sicherlich wären hier weitere<br />

Ausführungen interessant gewesen.<br />

Leider ist auch die Auswahl der Experten nicht immer sachdienlich. Interessant<br />

sind die Beiträge seiner Berufskollegen aus dem Agronomen- und ETH-Umfeld. Gänzlich<br />

fehlen leider Beiträge von namhaften und noch in der Forschung tätigen Historikern.<br />

In vielen Teilbereichen der Filme (z.B. Schweiz im Zweiten Weltkrieg, <strong>Geschichte</strong><br />

der Landwirtschaft, Nachhaltigkeitsdiskussion) wird kein aktueller geschichtswissenschaftlicher<br />

Forschungsstand wiedergegeben.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Filme den Menschen Wahlen hauptsächlich<br />

aus einer landwirtschaftlichen Perspektive heraus ergründen. Das Wirken des<br />

Menschen Wahlen wird gut gewürdigt – es ist jedoch schade, dass die Betrachtungsweisen<br />

nicht alle Aspekte seines Schaffens gleichermassen abdecken.<br />

Sarah Wahlen / Juri Jaquemet<br />

Buchbesprechungen 179


Leuzinger, Jürg: Das Zisterzienserinnenkloster Fraubrunnen.<br />

Von der Gründung bis zur Reformation 1246 – 1528. Bern [u. a.]:<br />

Peter Lang 2008 (Europäische Hochschulschriften, Reihe III,<br />

Bd. 1028). 312 S. ISBN 978-3-03911-142-8.<br />

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine Dissertation, die 2004 von der Phil.-<br />

hist. Fakultät der Universität Basel genehmigt wurde (Leitung: Werner Meyer und Clau-<br />

dius Sieber-Lehmann). Ihr Gegenstand ist das Zisterzienserinnenkloster Fraubrunnen,<br />

das 1246 von den Grafen Hartmann d. Ae. und Hartmann d. J. von Kyburg gegründet,<br />

1249 dem Zisterzienserorden inkorporiert und 1528 durch die Stadt Bern säkularisiert<br />

wurde. Die Quellen liegen im Staatsarchiv Bern (250 Urkunden), im Stadtarchiv Bern<br />

(150 Urkunden vor allem zum Rebbesitz) und in der Burgerbibliothek Bern (Jahrzeitbuch<br />

in der Fassung von 1507). Die Urkunden (inkl. das Urbar von 1380) sind bis 1390<br />

in den Fontes rerum Bernensium gedruckt, <strong>für</strong> die spätere Zeit stehen Regesten zur Verfügung.<br />

1 Die Schwäche der Arbeit liegt darin, dass ihr Verfasser es sich, abgesehen von<br />

einigen Blicken in das Jahrzeitbuch und die Urbare von 1380 und 1513 sowie das erste<br />

Udelbuch der Stadt Bern (1389 –1466), hartnäckig versagt, auf die Originalquellen zurückzugreifen.<br />

Sonst aber kommt der Autor zu Ergebnissen, die sich durchaus sehen<br />

lassen.<br />

Die erste Hälfte des Textes ist, nach einer Einleitung in Forschungsstand, Quellenlage<br />

und Fragestellung (1.) und einer allgemeinen Einführung in die <strong>Geschichte</strong> des<br />

Zisterzienserordens (2.), einer allgemeinen <strong>Geschichte</strong> des Klosters Fraubrunnen von<br />

1246 –1528 (3.) gewidmet. Es wäre auch eine Einführung in die Niederlassungen des<br />

Zisterzienserordens in der nachmaligen Schweiz möglich gewesen, doch wird diese vom<br />

Autor nicht geleistet. 2 Auch die allgemeine <strong>Geschichte</strong> des Klosters Fraubrunnen bleibt<br />

eher an der Oberfläche. Bei den Nonnen von Fraubrunnen scheint es sich um eher rebellische<br />

Nonnen gehandelt zu haben, die Ende der 1260er-Jahre aus dem Zisterzienserorden<br />

auszutreten versuchten. Als die Äbte der Zisterzienserklöster Hauterive und<br />

Kappel – Vaterabt war derjenige von Frienisberg – 1268/1269 zum Rechten sehen wollten,<br />

wurden sie von den Nonnen mit Schwert und Knüppel vertrieben.<br />

Nach dem Burgdorferkrieg 1383 ging die Klostervogtei von den Neukyburgern an<br />

die Stadt Bern über. Diese versuchte Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts<br />

zuerst mit Hilfe des Abts von Frienisberg und dann desjenigen von Lützel das Kloster<br />

zu reformieren (nachdem die Äbtissin Katharina Hoffmann 1481 ein Kind geboren<br />

hatte). Leuzinger sieht wahrscheinlich richtig, dass es sich dabei nicht um besonders<br />

schlimme Zustände, sondern um eine Veränderung der Vorstellungen und Ansprüche<br />

der Gesellschaft an das Klosterleben gehandelt hat. Trotzdem fällt auf, dass man im<br />

180 BEZG N° 02/10


Kloster Fraubrunnen der Reformation schon sehr früh recht offen gegenüberstand: zu-<br />

erst bei den sogenannten Tischgesprächen von Fraubrunnen (Sommer 1522), bei denen<br />

sich Be<strong>für</strong>worter und Gegner einer Neuerung in die Haare gerieten, und dann in<br />

der Tatsache, dass bereits Anfang 1524 mehrere Nonnen sich verheiratet hatten (und<br />

deshalb aus dem Kloster ausgewiesen werden sollten). Nachdem die Reformation in<br />

Bern und im bernischen Untertanengebiet 1528 offiziell eingeführt worden war, wurden<br />

zwölf Nonnen von Fraubrunnen mit je 300 Pfund (in drei Raten) abgefunden; bei<br />

zehn von ihnen gingen die Auszahlungen an ihre Ehemänner.<br />

Im zweiten Teil seines Buchs befasst Jürg Leuzinger sich eingehender mit Stiftungen<br />

und Stiftern des Klosters Fraubrunnen (4.), mit der Klosterfamilie (5.) und schliesslich<br />

mit der Besitz- und Wirtschaftsgeschichte (6.). Sowohl bei den Stiftern als auch bei<br />

den Nonnen kann der Autor nachweisen, dass der anfängliche Einfluss der Kyburger<br />

und Neukyburger sowie ihrer Ministerialen ca. Ende des 14. Jahrhunderts durch denjenigen<br />

der Oberschicht der Stadt Bern abgelöst wurde. Die hypothetische durchschnittliche<br />

Konventsgrösse (1246–1528) betrug 27 Nonnen, doch war der Konvent im 14. Jahrhundert<br />

deutlich grösser als im 15. Jahrhundert. Das Einzugsgebiet des Konvents erweist<br />

sich als insgesamt weniger gross als dasjenige der Stifter, und der Autor meint denn<br />

auch, dass die Nonnen, die aus der näheren Umgebung stammten, sich weniger von ihren<br />

familiären Bindungen gelöst und häufig Besuch empfangen hätten, was sich auf<br />

Kloster und Klausur desintegrierend ausgewirkt habe.<br />

In der Folge versucht Leuzinger die alte (und ursprünglich wohl reformierte) These,<br />

dass die Nonnen im Kloster «versorgt» worden seien, zu entkräften, und wählt zu diesem<br />

Zweck sechs Familien aus: die adeligen Familien der Grafen von Buchegg, der Herren<br />

von Grünenberg und der von Erlach und die bürgerlichen Familien der Buweli und<br />

Rista aus Bern sowie der Klüchli aus Solothurn. Die Grafen von Buchegg hätten ihre<br />

Nachkommen nicht erst in geistlichen Karrieren «versorgt», nachdem sie die Landgrafschaft<br />

Burgund 1314 an die Neukyburger verloren hatten, sondern bereits vorher, als<br />

sie auf der Höhe ihrer Macht standen. Bei den von Erlach sei Fraubrunnen das eigentlich<br />

Hauskloster gewesen, und auch bei den bürgerlichen Familien Rista und Klüchli<br />

seien mehrere Familienmitglieder, Frauen und auch Männer, gleichzeitig ins Kloster<br />

eingetreten. Die Konversen, Frauen und Männer, die sich insbesondere zu Beginn des<br />

14. Jahrhunderts nachweisen lassen, stammten vor allem aus der näheren Umgebung<br />

und aus den Städten Bern, Burgdorf und Solothurn.<br />

Dies lässt sich mit Ergebnissen der Wirtschaftsgeschichte in Einklang bringen, wonach<br />

das Kloster Fraubrunnen, obwohl in Altsiedelland gelegen, doch auch Grangien<br />

anzulegen vermochte, so in Büren zum Hof, Aefligen, Grafenried und Schalunen. Nichtsdestoweniger<br />

wurden Eigen- und Rentenwirtschaft bei dieser späten Gründung von al-<br />

Buchbesprechungen 181


lem Anfang an nebeneinander betrieben. Laut dem Urbar von 1380 gelang es dem Klos-<br />

ter relativ gut, seinen Besitz zu konzentrieren und am Bielersee (in Twann und<br />

Neuenstadt) auch beträchtlichen Weinbesitz anzulegen. Seit Anfang des 14. Jahrhunderts<br />

wurden in Fraubrunnen auch verzierte Backsteine hergestellt. Die Überschüsse<br />

aus der Agrarproduktion wurden auf die städtischen Märkte in Bern, Solothurn und<br />

Burgdorf gebracht, wo Fraubrunnen seit Ende des 13./ Anfang des 14. Jahrhunderts sogenannte<br />

Stadthöfe besass. Ein Anhang mit Karten und Tabellen beschliesst die insgesamt<br />

solide und instruktive Arbeit.<br />

Kathrin Utz Tremp<br />

1 Amiet, Joseph Ignaz: Die Regesten des Frauenklosters Fraubrunnen im Kanton Bern. In: Mohr,<br />

Theodor (Hrsg.): Die Regesten der Archive in der schweizerischen Eidgenossenschaft, Bd. 2. Chur<br />

1851 (siehe auch S. 245–296 Tab. 13: Übersicht der edierten Urkunden des Klosters Fraubrunnen).<br />

2 Als Grundlage hätte dienen können: Helvetia Sacra III/3: Die Zisterzienser und Zisterzienserinnen<br />

[...] in der Schweiz. Bern 1982.<br />

Lüscher, Liselotte: Eine Frau macht Politik. Marie Boehlen<br />

1911–1999. Zürich: Limmat Verlag 2009. 240 S.<br />

ISBN 978-3-85791-591-8.<br />

Marie Boehlen, als Sozialdemokratin, Juristin und Parlamentarierin eine der prägenden<br />

Figuren im Kampf um Stimmrecht und Gleichstellung der Frauen im Kanton Bern,<br />

kam 1911 als Tochter eines Nagelschmieds und Landwirts in Riggisberg zur Welt. Gegen<br />

den Widerstand ihrer Familie holte sie nach dem Besuch des Lehrerinnenseminars<br />

1931 die Matur nach und studierte an der Universität Bern Rechtswissenschaften. 1939<br />

erwarb sie das Fürsprecherpatent. Die <strong>Berner</strong> Erziehungswissenschaftlerin und SP-Politikerin<br />

Liselotte Lüscher hat sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Leben dieser<br />

aussergewöhnlichen Frau befasst und publizierte nun die vorliegende Biografie.<br />

Die Autorin fächert die Lebensgeschichte in fünf Kapitel auf, in denen sie die Grundthemen<br />

behandelt, die das Leben Marie Boehlens bestimmten. Sie beginnt mit dem<br />

Kampf um die Frauenrechte. Hier bettet sie das Engagement Marie Boehlens in eine<br />

detaillierte Zusammenfassung des Einsatzes der <strong>Berner</strong>innen <strong>für</strong> das Frauenstimmrecht<br />

ein. Die weiteren Kapitel stellen mehr die Person Marie Boehlen in den Vordergrund,<br />

ohne dass das gesellschaftliche und politische Umfeld vergessen geht. Sie befassen<br />

sich mit der lange unbefriedigenden beruflichen Karriere Marie Boehlens, ihren<br />

Aktivitäten als Mitglied der SP, ihrer Arbeit als städtische und kantonale Parlamentarierin<br />

sowie mit ihren Auslandreisen und ihrem internationalen Engagement.<br />

182 BEZG N° 02/10


Diesen fünf Kapiteln vorangestellt ist eine Beschreibung der Abschiedsfeier <strong>für</strong><br />

Marie Boehlen vom 7. Dezember 1999 in der Petruskirche, was eine behutsame Annähe-<br />

rung an die Persönlichkeit von Boehlen erlaubt. Hier erhalten die Lesenden einen ersten<br />

Überblick über den Lebenslauf. Einen weiteren, diesmal visuellen Einblick gibt ein<br />

in die Mitte des Buchs eingeschobenes dreissigseitiges Kapitel, das chronologisch angeordnete<br />

Fotografien mit kurzen Bildlegenden enthält. Das abschliessende Kapitel<br />

«Späte Würdigungen» rundet die Biografie ab und zeigt anhand einiger Zeitungsartikel<br />

und zweier Preise, die Marie Boehlen 1985 und 1995 erhielt, die Bedeutung dieser<br />

Frau.<br />

Die thematische Strukturierung des Buchs ermöglicht es, sich gezielt mit den einzelnen<br />

Aspekten zu beschäftigen. Doch sie bringt auch Wiederholungen mit sich, denn<br />

zentrale Ereignisse im Leben Marie Boehlen spielten in alle Lebensbereiche hinein. Innerhalb<br />

der einzelnen Kapitel kommt es gelegentlich ebenfalls zu Wiederholungen, die<br />

sich durch ein sorgfältigeres Lektorat wohl hätten vermeiden lassen. So hätte es beispielweise<br />

durchaus gereicht, lediglich einmal zu erwähnen, dass 1953 <strong>für</strong> die kantonale<br />

Initiative <strong>für</strong> das Frauenstimmrecht in den Gemeinden 33 655 Unterschriften eingereicht<br />

worden waren – die Zahl müsste nicht auf der nächsten Seite wiederholt<br />

werden. Ebenfalls den Lesefluss stören häufige, meist sehr kurz gehaltene Originalzitate<br />

aus der unveröffentlichten autobiografischen Lebensgeschichte, die Marie Boehlen<br />

in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre verfasst und mit dem Titel «Dreissig Jahre zu<br />

früh» versehen hatte.<br />

Die vorliegende Biografie gibt einen interessanten, vielseitigen und faktenreichen<br />

Einblick in das Leben Marie Boehlens. Sie zeigt eindrücklich, dass es diese Frau nicht<br />

leicht mit ihrem Umfeld, ihrem Leben und nicht zuletzt auch mit sich selbst hatte. Niederlagen<br />

in ihrer beruflichen und politischen Laufbahn empfand sie immer wieder als<br />

persönliche Kränkungen. Liselotte Lüscher lässt zudem durchblicken, dass Marie Boehlen<br />

auch <strong>für</strong> andere keine einfache Zeitgenossin war und mit ihrer kantigen Persönlichkeit<br />

und ihrem gelegentlich unflexiblen Verharren auf ihrem Standpunkt aneckte. Damit<br />

schrieb Liselotte Lüscher in verdankenswerter Weise eine Biografie, die sich der<br />

ganzen Persönlichkeit Marie Boehlens annimmt, sie kritisch porträtiert und eine kluge<br />

und kämpferische Frauenrechtlerin nicht einfach beweihräuchert.<br />

Anna Bähler<br />

Buchbesprechungen 183


Meier, Jürg A.: Vivat Hollandia. Zur <strong>Geschichte</strong> der Schweizer<br />

in holländischen Diensten 1740–1795. Griffwaffen und Uniformen.<br />

[Wettingen] 2008 (Schweizerische Gesellschaft <strong>für</strong> militärhistori-<br />

sche Studienreisen GMS, Heft 29). 150 S. ISBN 978-3-033-01673-6.<br />

Während die fremden Dienste in Frankreich durch eine reiche Literatur bereits aus-<br />

führlich erforscht sind, sind die holländischen Dienste vergleichsweise erst spärlich be-<br />

handelt worden. Insbesondere fehlten bisher Studien über die Bewaffnung und Unifor-<br />

mierung dieser Truppen und über die Einflüsse in diesen Bereichen auf die Schweiz.<br />

Die Kombination Waffen und Uniformen drängt sich insofern auf, weil im 18. Jahrhun-<br />

dert der Säbel ein Teil der Uniform war.<br />

Einleitend fasst der Autor die <strong>Geschichte</strong> der holländischen Dienste zwischen 1693<br />

und 1795 zusammen. Da die Generalstaaten das Recht der «Augmentation» und der<br />

«Reduktion» hatten, waren die Bestände grossen Schwankungen ausgesetzt, je nach<br />

Konjunktur und Bedrohungslage. Intensiver behandelt Meier die Zeit ab 1750, weil sich<br />

<strong>für</strong> diese Epoche nun auch viel Material in Archiven und Museen befindet. Insbeson-<br />

dere anhand der Säbel in mehreren Schweizer Museen und Privatsammlungen lässt<br />

sich die <strong>Geschichte</strong> der Bewaffnung der Schweizer Truppen in Holland nachzeichnen.<br />

Weil sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein bedeutender Anteil der Behördenmitglieder<br />

der reformierten Schweizer Orte auf eine Karriere in Holland berufen<br />

konnte, dürfte es nicht verwundern, wie sehr diese Erfahrungen Einfluss auf Bewaffnungsfragen<br />

in der Schweiz, zumal in Bern hatten. So wurden denn auch in Bern Säbel<br />

nach holländischem Muster beschafft. Das hatte zudem den Vorteil, dass zurückgekehrte<br />

Soldaten, die nun in die heimische Miliz eingezogen worden waren, ihren<br />

mitgebrachten Säbel weiter verwenden konnten, was nicht zuletzt eine erhebliche Kostenersparnis<br />

bedeutete. So war die bernische Infanterie bis zum Einmarsch der Franzosen<br />

1798 weitgehend mit Griffwaffen im holländischen Stil ausgerüstet.<br />

Meiers Arbeit ist ein überaus wertvoller Beitrag nicht nur zur allgemeinen <strong>Geschichte</strong><br />

der Waffen, sondern auch zur <strong>Geschichte</strong> Berns. Der Anhang des trotz hoher<br />

Spezialisierung flüssig geschriebenen Haupttextes enthält wertvolle, bisher unveröffentlichte<br />

Dokumente, und bei den Illustrationen kommen auch Bildquellen aus holländischen<br />

Archiven zum Zug, die bisher hier in der Schweiz kaum bekannt gewesen sind.<br />

Quirinus Reichen<br />

184 BEZG N° 02/10


Minta, Anna; Nicolai, Bernd; Thome, Markus (Hrsg.): Stadt Universität<br />

Bern. 175 Jahre Bauten und Kunstwerke, 7 Essays und 27 Katalogbeiträge.<br />

Bern, Stuttgart, Wien: Haupt Verlag 2009. 264 S.<br />

ISBN 978-3-258-07406.<br />

Die Universität Bern hat sich zu ihrem 175-jährigen Bestehen einen stattlichen Band<br />

über seine Gebäude und die darin oder dabei aufgestellten Kunstwerke geschenkt. Offensichtlich<br />

gab das 2005 erschienene Buch «Hochschulstadt Zürich. Bauten <strong>für</strong> die<br />

ETH 1855–2005» die Messlatte vor. Sowohl im Format und im Umfang als auch in der<br />

Qualität der Abbildungen hat das <strong>Berner</strong> Werk sein Zürcher Vorbild leicht übertroffen.<br />

Die reich und überaus sorgfältig bebilderte Schrift spannt ein sehr umfassendes Bild<br />

des Bauens <strong>für</strong> die <strong>Berner</strong> Universität auf und setzt den Betrachter allein schon durch<br />

die grosse Zahl und Vielfalt an Bauten und Objekten in Erstaunen.<br />

Der in 27 Nummern aufgeteilte Katalogteil behandelt nicht wie das ETH-Buch einzelne<br />

Gebäude, sondern orientiert sich vielmehr an den universitären Institutionen, deren<br />

<strong>Geschichte</strong> in engem Bezug zur Baugeschichte ihrer Gebäude und Gebäudegruppen<br />

mit all ihren Erweiterungen, Ergänzungen und Umnutzungen gesehen wird. Es<br />

sind so Darstellungen über mehr oder weniger umfangreiche Gebäudeensembles entstanden,<br />

die den puzzleartigen Charakter der <strong>Berner</strong> Stadtuniversität von ihren verschiedenen<br />

Standorten her beleuchten und insgesamt ein überaus detailreiches Bild<br />

zeichnen.<br />

Die ersten fünf der sieben Essays, geschrieben von den drei als Herausgeber genannten<br />

Personen, behandeln in chronologischer Abfolge die <strong>Geschichte</strong> der <strong>Berner</strong><br />

Universitätsbauten und verbinden die in sich geschlossenen Katalogtexte zu einer Gesamtsicht.<br />

Dabei wird immer wieder auf die Entwicklungsgeschichte der Universität<br />

selbst zurückgegriffen, um die einzelnen Institutsbauten im Gesamtkontext des Universitätswachstums<br />

zu verorten. So wird beispielsweise die in Bern zeitweilig heiss diskutierte<br />

Frage, ob sich die Universität in einem grossen Befreiungsschlag aus der Stadt<br />

herauslösen und auf grüner Wiese einen baulichen Neuanfang wagen oder doch vielmehr<br />

in vielen kleinen Einzelaktionen die Verwurzelung in der Stadt bewahren solle,<br />

facettenreich und mit viel bisher unveröffentlichtem Bildmaterial dargestellt. Interessant<br />

sind die zahlreich angestellten Vergleiche mit anderen Universitäten, die zum einen<br />

die gleich oder vielmehr parallel laufenden Entwicklungen als solche benennen,<br />

zum andern die spezifischen Eigenheiten des <strong>Berner</strong> Universitätsausbaus zu charakterisieren<br />

suchen. Leider folgen die einzelnen Architekturanalysen allzu oft dem klassischen<br />

Muster der Architekturgeschichtsschreibung, die ein einzelnes Gebäude mit einem<br />

scheinbar feststehenden Kanon der internationalen Architekturentwicklung<br />

Buchbesprechungen 185


konfrontiert, um festzustellen, dass einige <strong>Berner</strong> Bauten auf der Höhe ihrer Zeit stehen<br />

und also (doch) nicht provinziell sind. Weit interessanter wäre gewesen, die Einzelbauten<br />

auf ihre Aussage über die darin stattfindende Ausbildungs- und Forschungstätigkeit<br />

zu befragen.<br />

Ein sechster Essay, geschrieben von Rachel Mader und Selma Käppeli, widmet sich<br />

der Kunst an Bauten der Universität Bern. Hier werden weniger Interpretationen einzelner<br />

Kunstwerke als vielmehr exemplarische Einblicke in den Wandel der Bedeutung<br />

von Kunst am Bau geboten. An Hand ausgewählter Kunstwerke zeigen die beiden Autorinnen<br />

unterschiedliche Beziehungsmuster zwischen Auftraggeber, Künstler und Aussagegehalt<br />

der Kunstwerke auf und versuchen dabei, eine Entwicklungslinie zu beschreiben.<br />

Im letzten der sieben Essays erzählt Kilian Bühlmann, der Leiter der Abteilung Bau<br />

und Raum der Universität Bern, von eigenen Erfahrungen beim Planen und Realisieren<br />

universitärer Nutzräume. In seinem von der Lust an der spannenden Arbeit geprägten<br />

Text wird deutlich spürbar, dass die Stadtuniversität Bern noch längst nicht vollendet<br />

ist und wir also auch in Zukunft interessante Neubauten zu sehen bekommen<br />

werden.<br />

Dieter Schnell<br />

Riedweil, Johann: Ein Beitrag zum Täuferjahr. Spuren einer<br />

Täuferfamilie vom Gürbental ins Emmental; Mit Gotthelf Exempeln.<br />

Liebefeld: Hans Riedwyl 2007. 82 S. ISBN 978-3-033-01074-1.<br />

In seinem Beitrag zum Täuferjahr beschreibt Hans Riedwyl oder «Johann Riedweil»,<br />

unter welchem Namen er seine Broschüre schrieb, die <strong>Geschichte</strong> seiner Familie. Allerdings<br />

macht er das nicht im Stil einer traditionellen Familiengeschichte mit Anspruch<br />

auf möglichste Vollständigkeit – auf diese verzichtet er ganz bewusst –, sondern er versucht,<br />

Lebensbilder oder Episoden einzelner Personen aus seiner Familiengeschichte<br />

aufgrund alter Dokumente zu erzählen. Seine Ausführungen spickt der Autor mit Quellenauszügen<br />

unterschiedlicher Länge, und mittels Gotthelfzitaten versucht er, die Lebenswelt<br />

der beschriebenen Familienmitglieder greifbarer zu machen. Dabei unterlässt es<br />

der Autor nicht, auch nicht sehr schmeichelhafte Vorfahren zu beschreiben. So vernimmt<br />

der Leser etwa, dass ein David Riedwyl um 1765 im Zuchthaus in Bern (Schallenwerk<br />

genannt) einsass und seine Heimatgemeinde Kehrsatz deshalb seine Familie<br />

unterstützen musste. Daneben werden auch durchaus alltäglichere Vorgänge in der<br />

Riedwyl-Familie beschrieben wie Erbgänge, Gutskäufe oder Mündelangelegenheiten.<br />

Anhand des im Eggiwil niedergelassenen Familienzweiges wird zudem die Nähe der<br />

186 BEZG N° 02/10


Familie Riedwyl zum Täufertum aufgezeigt und ihre engen Verbindungen zum Heimat-<br />

ort Kehrsatz verdeutlicht.<br />

Riedwyls Schrift bietet nicht nur einen Einblick in die <strong>Geschichte</strong> seiner Familie,<br />

sondern vermittelt auch einen Eindruck von der Lebenswelt der einfachen Landbevölkerung<br />

im Bern der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts. Die bisweilen altertümlich<br />

angehauchte Sprache mit ihren eingestreuten Helvetismen ist derjenigen Gotthelfs<br />

nicht unähnlich. So entwickelt sich eine lockere Lektüre. Allerdings erschwert das Fehlen<br />

einer Art Stammbaum, in welchem die Verbindungen der beschriebenen Personen<br />

zueinander aufgezeigt sind, die Einordnung der einzelnen Akteure während des Lesens.<br />

Insgesamt bietet die Broschüre einen unkonventionellen Zugang zur bernischen Vergangenheit,<br />

und sie ist zudem eine lokalhistorische Fundgrube <strong>für</strong> die im Buch beschriebenen<br />

Gemeinden im Emmental und Gürbetal.<br />

Peter Lehmann<br />

Buchbesprechungen 187

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