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Gerald Schreiber Giftmorde in Nyingtri - Weißensee-Verlag GbR

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<strong>Gerald</strong> <strong>Schreiber</strong><strong>Giftmorde</strong> <strong>in</strong> Ny<strong>in</strong>gtriTratsch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er osttibetischen Pilgerstadt


Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation <strong>in</strong> derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten s<strong>in</strong>d im Internet über www.d-nb.de abruf bar.Bei dieser Veröffentlichung handelt es sich um e<strong>in</strong>e Magisterarbeit, die am30. Juni 2009 an der Humboldt-Universität zu Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gereicht wurde.Gedruckt auf holz- und säurefreiem Papier, 100 % chlorfrei gebleicht.©Weißensee <strong>Verlag</strong>, Berl<strong>in</strong> 2011www.weissensee-verlag.deAlle Rechte vorbehaltenSatz: aus der Garamond Premier ProTitelbild: © <strong>Gerald</strong> <strong>Schreiber</strong>Karten: © Marco F<strong>in</strong>sterbuschPr<strong>in</strong>ted <strong>in</strong> GermanyISSN 1610-6768ISBN 978-3-89998-195-7


Inhalt1. E<strong>in</strong>leitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91.1 Die Region Kongpo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .121.2 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .192. Rahmen, Bed<strong>in</strong>gungen und Methode der Forschung . . . . . . . . . . . . . . .233. Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .293.1 Interviews mit Laien <strong>in</strong> Ny<strong>in</strong>gtri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .293.1.1 Wer gibt Gift und warum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .313.1.2 Die Rezeptur des Gifts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .333.1.3 Giftarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .353.1.4 Das Opfer an den Giftgott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .363.1.5 Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .393.1.6 Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .413.1.7 Die Opfer der <strong>Giftmorde</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .423.1.8 Das Verhältnis der Justiz zu den Giftgebern . . . . . . . . . . . . . . . . . . .453.1.9 Beziehung der Informanten zu den Giftgebern . . . . . . . . . . . . . . .483.1.10 Erkennen der Giftgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .523.1.11 Lokale E<strong>in</strong>grenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .533.1.12 Auswertung der Interviews mit Laien <strong>in</strong> Ny<strong>in</strong>gtri . . . . . . . . . . . .533.2 Interviews mit Geistlichen <strong>in</strong> Ny<strong>in</strong>gtri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .613.2.1 Der Geistliche des Kuschu-Klosters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .623.2.2 Der Geistliche des Kyiri-Klosters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .633.2.3 Der Geistliche des Tagse-Klosters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .643.2.4 Auswertung der Interviews mit Geistlichen <strong>in</strong> Ny<strong>in</strong>gtri . . . . . .67


1. E<strong>in</strong>leitungDie E<strong>in</strong>wohner e<strong>in</strong>er wegen ihres heiligen Berges von vielen Pilgern aufgesuchtenRegion im Osten Tibets, Kongpo (Kong po, auch: rKong po), stehenim Ruf, Pilger über angebotene Nahrung zu vergiften. Ziel der Vergiftung ist,– so weiß jeder Tibeter, den ich danach befragte – dass die Energie, die für daswelt liche Wohlergehen des Menschen zuständig ist (Wangtang, dBang thang),vom Opfer auf den Täter transferiert wird.Falls diese Praxis tatsächlich ausgeübt würde, widerspräche sie diametral derbuddhistischen Lehre und auch der Bön-Religion (Bon), der „ursprünglichen“1Religion Tibets, <strong>in</strong> deren Lehren das Töten von Lebewesen e<strong>in</strong> schweres Vergehenist. Sie ist umso erstaunlicher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Region, <strong>in</strong> der Pilgern bis heutefreie Kost und Logis gewährt wird und <strong>in</strong> der Gastfreundschaft e<strong>in</strong>en elementarenWert darstellt.Ich wollte längere Zeit <strong>in</strong> Kongpo verbr<strong>in</strong>gen, um diese Gerüchte näher zu ergründen.S<strong>in</strong>d sie e<strong>in</strong>e Zuschreibung der Zentraltibeter, die dem vornehmlichvon Anhängern der Bön-Religion, den Bönpo (Bon po) besiedelten Gebiet langeschon skeptisch gegenüberstehen?2 Gibt es vielleicht <strong>in</strong> Kongpo selbst ähnlicheGerüchte zu den Zentraltibetern? Wie geht man <strong>in</strong> den entsprechendenDörfern mit dem schlechten Ruf um? Haben die E<strong>in</strong>heimischen dadurch E<strong>in</strong>nahme-E<strong>in</strong>bußenbeim Pilgertourismus? Oder erhöht das Gerücht die Attraktivitätder Region für Pilger, deren Reise, je gefahrvoller sie ist, auch umso verdienstvollerwird? Wie gehen die Pilger <strong>in</strong> der Region damit um? Wenn <strong>in</strong> denDörfern selbst an Vergiftungen geglaubt wird, was bedeutet dies dann für die1 Die Bönpo selbst bezeichnen ihre Religion als die „ursprüngliche“ Religion. Man kann jedochdavon ausgehen, dass sie sich im Laufe der Buddhisierung Tibets parallel zum Buddhismus ausverschiedenen lokalen Kulten heraus entwickelte.2 Während im 16. Jh. die Gelugpa-Kirche (dGe lugs pa) <strong>in</strong> Zentraltibet an Macht gewann, wurdendie Bönpo zunehmend nach Osten gedrängt. In vielen Gelug-Schriften werden die Bönpogeschmäht.9


Lage Ny<strong>in</strong>gtris, ca. 400 Kilometer östlich von Lhasa (© Marco F<strong>in</strong>sterbusch / NASA)Sozialstruktur? Wer kann vergiften? Um was für Gift handelt es sich? Wird eserst durch e<strong>in</strong> Ritual wirksam? Wer ist bevorzugtes Opfer?Gift zu geben war <strong>in</strong> Tibet e<strong>in</strong> gängiges Mittel, um sich politischer Gegner zuentledigen. Jedoch unterscheiden sich die angeblich <strong>in</strong> Kongpo begangenenVergiftungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Punkt maßgeblich von diesen Vergiftungen politischerGegner: Ziel der ersten war, e<strong>in</strong>e unliebsame Person auszuschalten und sichdadurch e<strong>in</strong>en direkten materiellen oder politischen Vorteil zu verschaffen;z. B. konnte man sich so des Konkurrenten um e<strong>in</strong> politisches oder religiösesAmt entledigen.3 In Kongpo jedoch hat der Täter ke<strong>in</strong>en direkten Nutzen vonder Vergiftung. Das Opfer stirbt erst nach Monaten, vielleicht sogar erst nache<strong>in</strong>em Jahr. Dann wird die Kraft Wangtang, die mit dem materiellen Erfolgund gesellschaftlichen Ansehen des Opfers assoziiert wird, vom Opfer auf den3 Vgl. Kapitel 4.2.10


Die Region um Ny<strong>in</strong>gtri mit der Garnisonsstadt Bayi, dem heiligen BergKongpo Bönri und dem Nyangtschu-Fluss, der <strong>in</strong> den Tsangpo-Fluss, denOberlauf des Brahmaputra, mündet (© Marco F<strong>in</strong>sterbusch)Täter transferiert. Die Frage nach dem S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er solchen Vergiftung berührtalso im weitesten S<strong>in</strong>ne den Bereich der Religion.In me<strong>in</strong>er Arbeit <strong>in</strong>teressiere ich mich für die Narrative, die im Zusammenhangmit den angeblichen <strong>Giftmorde</strong>n stehen. Nachdem ich im Folgenden dieForschungsregion kurz vorgestellt habe und auf den Stand der aktuellenForschung zu dem Thema der <strong>Giftmorde</strong> e<strong>in</strong>gegangen b<strong>in</strong>, werde ich me<strong>in</strong>eSammlung von Geschichten präsentieren. Es ist mir wichtig, den Schilderungender E<strong>in</strong>heimischen viel Raum zu geben. In e<strong>in</strong>em anschließenden Teil werdeich versuchen, die Narrative aus und über Kongpo mit anderen, im tibetischenKulturkreis existierenden Narrativen zu vergleichen und sie <strong>in</strong> die <strong>in</strong>der Ethnologie geführten Diskussionen über Hexerei und über Gerüchte und11


Tratsch e<strong>in</strong>zuordnen. Insofern versteht sich diese Magisterarbeit als e<strong>in</strong> Beitragzur Ethnologie des Tratsches.Leider hat sich die politische Situation <strong>in</strong> Tibet seit me<strong>in</strong>er Feldforschungstark verschlechtert. Die Angaben über me<strong>in</strong>e Informanten habe ich zu derenSchutz anonymisiert.Tibetische Begriffe werden im Folgenden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der deutschen Ausspracheangepassten Transkription wiedergegeben, kursiv und <strong>in</strong> Klammern die Transliterationnach Turrel Wylie beim ersten Auf tauchen e<strong>in</strong>es Begriffes. E<strong>in</strong>e Listeder Transkriptionen häufig gebrauchter Wörter mit zugehöriger Transliterationund Beschreibung bef<strong>in</strong>det sich im Anhang. Bei selbst übersetzten Zitatenhabe ich den orig<strong>in</strong>alen Wortlaut <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fußnote wiedergegeben.1.1 Die Region KongpoDie Region Kongpo liegt ca. 400 Kilometer östlich von Lhasa (Lha sa), derHauptstadt der Autonomen Region Tibet. Im Gegensatz zu Lhasa und demHochland liegt Kongpo mit 2.900 Metern deutlich unterhalb der Durchschnittshöhe des Plateaus und auch unterhalb der Baumgrenze. Die Bergeerreichen e<strong>in</strong>e Höhe von etwa 4.500 Metern und s<strong>in</strong>d mit dichten Wäldernbe wachsen. Die Häuser s<strong>in</strong>d aus Ste<strong>in</strong> gebaut und haben flach geneigte Sattel-,Walm- oder Fußwalmdächer aus Holz, die mit Ste<strong>in</strong>en beschwert s<strong>in</strong>d. Be<strong>in</strong>eueren Gebäuden s<strong>in</strong>d die Dächer aus rotem Blech. Die Vegetation wächstüppig – im Gegensatz zur kargen Hochebene. Deshalb verwundert es nicht,dass vor vielen Gebäuden große Mengen Brennholz aufgebeugt s<strong>in</strong>d. Wirtschaftsgebäudes<strong>in</strong>d oft ganz aus Holz errichtet.Die größte Stadt der Region ist Bayi, auf tibetisch Gyetschig (brGyad gcig), mitca. 60.000 E<strong>in</strong>wohnern, 2.990 Meter hoch gelegen. Sie ist, wie der Name vermutenlässt, e<strong>in</strong>e Garnisonsstadt. (Die Namen bedeuten übersetzt „1. August“,das Gründungsdatum der Volksbefreiungsarmee.) Bayi ist die Hauptstadt desRegierungsbezirks Ny<strong>in</strong>gtri (Ny<strong>in</strong>g khri sa khul ). Es ist e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> ch<strong>in</strong>esische12

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