Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und ...

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3819.Von dem Leben und dem Tode des Königs Sigismund.Man liest in der englischen Chronik, daß einst ein großerKönig herrschte, der hieß Sigismund. Dieser war überaus milde,rein an Sitten und frommen Sinnes. Eines Tages hörte er dieWorte des Evangeliums: „Ich aber sage euch: Nehmet keinÄrgernis." Und er ging zu seinem Beichtvater und sprach:„Vater, was ist das, was der Herr spricht: »Ich aber sage euch,nehmet kein Ärgernis« ?" Der Beichtvater aber erwidert: „Jesus,unser Herr, ermahnet seine Jünger zum Leiden und zur Geduld,damit sie nicht zur Stunde der Trübsal in Ungeduld fallen, under gab ihnen ein Beispiel in seiner Leidenszeit. Denn alle, diedie Freuden des Himmelreiches begehren, müssen auf Erdenleiden." Als der König diese Worte vernahm, sprach er: „Wennder Herr mit denen ist, die Trübsal erdulden, dann ist er nicht mitdenen, die in Freuden leben." Und der Priester erwiderte: „Soist es, Herr." Der König aber sprach bei sich selbst: „Gib mirTrübsal, Herr, auf daß du bei mir sein kannst, da ich dich inirdischer Fröhlichkeit nicht besitzen kann." Und alsbald legteer die Kegierung in die Hände seines jüngeren Bruders und tratin den Orden des heiligen Benedikt ein und führte ein Lebenmild gegen andere, streng gegen sich selbst, in Fasten und Betenund Bußübungen. Wenn man ihn ermahnte, er solle seinen Leibschonen, damit er Gott um so eifriger dienen könnte, sprach er:„Der Leib muß gezüchtigt werden; denn er hat gar viele Vergnügengenossen; das weichliche, kostbare Lager muß vertauschtwerden gegen die rauhe Büßergewandung; für die Freuden undGenüsse muß ich büßen in Weinen und Klagen, und was ich aufJagden einst im Dienste Christi versäumte, das muß ich jetzteinholen in frommen Lesungen und Predigten." Und indem eralles das tat, betete er immer noch: „Herr, vermehre meinePrüfungen." Es redete aber ein böser Mensch seinem Bruderein, daß Sigismund im Mönchsgewande ihm Nachstellungen bereite.Und der König begann seinen Bruder als Empörer gegenseine Herrschaft zu verfolgen. Dieser aber sagte: „Der Herrspricht: »Ihr werdet von euren Brüdern und Verwandten verratenwerden, und sie werden euch töten«, So muß ich freiwillig dulden,

39was der Herr verheißen hat; denn sonst kann ich nicht in seinReich kommen." Und es kam ein Mann und sprach zu ihm,wenn er sich nicht in der nächsten Nacht verbergen wolle, dannkönne er unmöglich seinem Bruder entgehen. Sigismund abersprach zu ihm: „Mein Herr Jesus Christus ist für mich gestorben;daher will ich gern für ihn den Tod erdulden. So möge meinBruder kommen und meine Seele dem Herrn übergeben; denn ichbin gewiß, daß ich an der Seite meines Herrn im Himmel herrschenwerde. Ihm aber möge seine Sünde verziehen werden." Mit diesenWorten begab er sich in Begleitung der Mönche in die Kirchezum Gebete. Und sein Bruder kam herbei und rief: „Wie langenoch soll ich, du Frevler, deine Hinterlist erdulden?" Und erriß sein Schwert aus der Scheide und stieß seinen Bruder nieder.Dieser aber betete: „Herr Jesus Christus, nimm meinen Geistauf und verzeihe meinem Bruder diese Sünde." Mit diesen Wortengab er seinen Geist auf und ging ins ewige Leben ein.20.Von einer Nonne, die sich die Augen ausbohrte.Man liest in den Chroniken der Engländer, daß einst inPoitou eine vornehme Jungfrau lebte, die sehr schön von Gestalt,noch schöner aber in ihrem Innern war, und die von Gott dieGnade empfangen hatte, in einem Kloster leben zu können. Einstsah sie ein Graf von Poitou und entbrannte alsbald in leidenschaftlicherLiebe zu ihr. Und er sandte ihr einen Brief mit derAufforderung, sie solle sich zu ihm begeben, sonst würde er ihrKloster zerstören und sie gewaltsam entführen. Die Jungfrauaber sprach vom heiligen Geiste erleuchtet: „Ich bin eine BrautChristi; an seiner Stelle kann ich niemand anderen wählen." Alsdas dem Grafen gemeldet wurde, eilte er zum Kloster, um es zuzerstören und die Nonne zu entführen. Das aber sah diese voraus,und sie ließ ihn ans Fenster rufen und fragte ihn, was es dennsei, das ihn am stärksten zu seiner Leidenschaft entflammt habe.Und er antwortete, das wären ihre herrlichen Augen. Da sprachdie Jungfrau: „Warte hier einen Augenblick auf mich." Undsie ging weg, riß sich die Augen aus und legte sie auf eineSchüssel. Damit trat sie zum Fenster und sprach: „Hier nimm,

3819.Von dem Leben <strong>und</strong> dem Tode <strong>des</strong> Königs Sigism<strong>und</strong>.Man liest <strong>in</strong> der englischen Chronik, daß e<strong>in</strong>st e<strong>in</strong> großerKönig herrschte, der hieß Sigism<strong>und</strong>. Dieser war überaus milde,re<strong>in</strong> an Sitten <strong>und</strong> frommen S<strong>in</strong>nes. E<strong>in</strong>es Tages hörte er dieWorte <strong>des</strong> Evangeliums: „Ich aber sage euch: Nehmet ke<strong>in</strong>Ärgernis." Und er g<strong>in</strong>g zu se<strong>in</strong>em Beichtvater <strong>und</strong> sprach:„Vater, was ist das, was der Herr spricht: »Ich aber sage euch,nehmet ke<strong>in</strong> Ärgernis« ?" Der Beichtvater aber erwidert: „Jesus,unser Herr, ermahnet se<strong>in</strong>e Jünger zum Leiden <strong>und</strong> zur Geduld,damit sie nicht zur St<strong>und</strong>e der Trübsal <strong>in</strong> Ungeduld fallen, <strong>und</strong>er gab ihnen e<strong>in</strong> Beispiel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Leidenszeit. Denn alle, diedie Freuden <strong>des</strong> Himmelreiches begehren, müssen auf Erdenleiden." Als der König diese Worte vernahm, sprach er: „Wennder Herr mit denen ist, die Trübsal erdulden, dann ist er nicht mitdenen, die <strong>in</strong> Freuden leben." Und der Priester erwiderte: „Soist es, Herr." Der König aber sprach bei sich selbst: „Gib mirTrübsal, Herr, auf daß du bei mir se<strong>in</strong> kannst, da ich dich <strong>in</strong>irdischer Fröhlichkeit nicht besitzen kann." Und alsbald legteer die Kegierung <strong>in</strong> die Hände se<strong>in</strong>es jüngeren Bruders <strong>und</strong> trat<strong>in</strong> den Orden <strong>des</strong> heiligen Benedikt e<strong>in</strong> <strong>und</strong> führte e<strong>in</strong> Lebenmild gegen andere, streng gegen sich selbst, <strong>in</strong> Fasten <strong>und</strong> Beten<strong>und</strong> Bußübungen. Wenn man ihn ermahnte, er solle se<strong>in</strong>en Leibschonen, damit er Gott um so eifriger dienen könnte, sprach er:„Der Leib muß gezüchtigt werden; denn er hat gar viele Vergnügengenossen; das weichliche, kostbare Lager muß vertauschtwerden gegen die rauhe Büßergewandung; für die Freuden <strong>und</strong>Genüsse muß ich büßen <strong>in</strong> We<strong>in</strong>en <strong>und</strong> Klagen, <strong>und</strong> was ich aufJagden e<strong>in</strong>st im Dienste Christi versäumte, das muß ich jetzte<strong>in</strong>holen <strong>in</strong> frommen Lesungen <strong>und</strong> Predigten." Und <strong>in</strong>dem eralles das tat, betete er immer noch: „Herr, vermehre me<strong>in</strong>ePrüfungen." Es redete aber e<strong>in</strong> böser Mensch se<strong>in</strong>em Brudere<strong>in</strong>, daß Sigism<strong>und</strong> im Mönchsgewande ihm Nachstellungen bereite.Und der König begann se<strong>in</strong>en Bruder als Empörer gegense<strong>in</strong>e Herrschaft zu verfolgen. Dieser aber sagte: „Der Herrspricht: »Ihr werdet von euren Brüdern <strong>und</strong> Verwandten verratenwerden, <strong>und</strong> sie werden euch töten«, So muß ich freiwillig dulden,

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