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Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und ...

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25de<strong>in</strong>em Gatten hatte. Und es kommt mir vor, als wäre es erstheute gewesen." Die Gräf<strong>in</strong> aber beruhigt ihn mit den Worten:„Habe ke<strong>in</strong>e Angst; Gott, der Herr, ist barmherzig, <strong>und</strong> die Zeitist noch lang. Wir wollen für unsere Töchter Gatten <strong>und</strong> Frauenfür unsere Söhne aussuchen, <strong>und</strong> dann können wir an unsere Bußedenken." So statteten sie Töchter <strong>und</strong> Söhne aus, mit der Bußeaber hielten sie es wie der Rabe, der immer Gras, cras ruft <strong>und</strong>alles auf morgen verschiebt, <strong>und</strong> so g<strong>in</strong>gen endlich die dreißigJahre zu Ende. Als aber diese Zeit um war, da schickte es sich,daß e<strong>in</strong> Bl<strong>in</strong>der von der Burg jenes Mordgrafen h<strong>in</strong>ab <strong>in</strong>s Talg<strong>in</strong>g.Auf se<strong>in</strong>em Wege nun begegnet er dem ermordeten Grafen, derzu ihm spricht: „Mann Gottes, woher kommst du?" Dieser erwidert:„Herr, ich komme von der Burg." Der Ermordete fragt weiter : „Woist<strong>in</strong> diesem Augenblick der Burgherr?" Und der Bl<strong>in</strong>de antwortet:„Herr, bevor ich die Burg verließ, g<strong>in</strong>g er <strong>in</strong>s Schlafgemach zuse<strong>in</strong>em Weibe." Darauf spricht der Ermordete: „Ich bitte dich,geh zu ihm <strong>und</strong> sage ihm, daß heute die dreißig Jahre um s<strong>in</strong>d,die ihm der Herr <strong>des</strong> Himmels als Frist zur Buße gewährte. Jetztaber rufe ich ihn vor das Gericht <strong>des</strong> göttlichen Richters; nochheute Nacht soll er von mir zur Verantwortung gezogen werden,denn ich b<strong>in</strong> der Graf, den er um se<strong>in</strong>es Weibes willen ermordethat." Da spricht der Bl<strong>in</strong>de: „Wenn ich ihm dies auch sage,so wird er mirs wohl nicht glauben." Der Graf erstrahlte <strong>in</strong>großer Klarheit vor dem Bl<strong>in</strong>den <strong>und</strong> sprach: „Sieh, ich berührede<strong>in</strong>e Augen mit me<strong>in</strong>em F<strong>in</strong>ger,<strong>und</strong> du sollst jetzt sehend werden,obgleich du, wie alle wissen, bl<strong>in</strong>d geboren bist." Und zur St<strong>und</strong>ewurde er sehend <strong>und</strong> erkannte, daß es der Graf war, wie er esschon vorher an se<strong>in</strong>er Stimme erkannt hatte, <strong>und</strong> er sprach zuihm: „0 Herr, ich weiß, daß ihr e<strong>in</strong> Heiliger Gottes seid." DerGraf aber fuhr fort: „Geh nun, so schnell als möglich, h<strong>in</strong>auf zurBurg <strong>und</strong> lade de<strong>in</strong>en Herrn vor das Gericht Gottes <strong>in</strong> me<strong>in</strong>emAuftrage, daß er mir noch heute Rede steht im Gerichte. Hastdu de<strong>in</strong>e Botschaft erfüllt, dann verlaß die Burg eiligst wieder<strong>und</strong> bleib <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Falle über die Nacht dort oben." Mit diesenWorten verschwand er. Der früher Bl<strong>in</strong>de begab sich eilends aufdie Burg <strong>und</strong> berichtete se<strong>in</strong>em Herrn alles, wie es ihm aufgetragenworden war. Als die Burgbewohner den Mann sehend erblickten,da ergriff sie alle Staunen, <strong>und</strong> aus Furcht vor der

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