Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und ...

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112wallfahrten. Da ergriff ihn die Eeue, und er kehrte in den Waldzurück, um einen Einsiedler aufzusuchen. Er klopfte an seineZelle, und der Einsiedler ließ ihn, wenn auch ungern, ein. DerRauher beichtete, aber er wollte weder fasten noch sonst eineandere Buße auf sich nehmen, als von nun an barfuß zu gehen.Endlich brachte ihn der Einsiedler mit Mühe dazu, daß er zurBuße bereit sein wolle, alles zu tun, was man von ihm im NamenGottes und der seligen Jungfrau Maria verlangen würde. Als erdiese Buße auf sich genommen hatte, führte ihn sein Weg anein Wasser. Da begegnet ihm ein Aussätziger, der ihn inständigbittet, er möchte ihn um Christi und seiner glorreichen Mutterwillen hinüberbringen. Der Räuber aber spricht: „Ich ertragekaum deinen Anblick, wie kann ich dich da über den Flußbringen?" Aber schließlich erfüllt er doch seine Bitte. Und derAussätzige bittet ihn von neuem, er möge ihn baden, und derRäuber antwortet ihm wie vorher, doch dann tut er es. Da bittetder Kranke zum dritten Male, er möge ihn küssen. Dagegensträubt sich der Räuber entschieden. Doch denkt er an die Buße,die ihm auferlegt ist, und gibt dem Kranken den Kuß. Und wieer ihn darauf anblickt, ist er ein herrlicher Jüngling geworden.Erstaunt fragt ihn der Räuber, wer er sei. Der Jüngling antwortet:„Ich bin Jesus, den du über das Wasser getragen, den du gebadetund geküßt hast." Damit verschwand er. Der Räuberjedoch suchte alsbald wieder den Einsiedler auf, dem er gebeichtethatte, und sobald er ihn fand, nahm er freiwillig die Buße aufsich, die er vorher zurückgewiesen hatte. Und als er sie beendethatte, weihte er sich dem Dienste des Herrn und rettete so seineSeele.102.Wie Maria den Mönchen die Speise vermetirte.Ein Priester kam zum heiligen Bernhard und wollte Mönchwerden. Doch klagte er, er könne die rauhen Stricke am Körpernicht ertragen, und vor allem könne er nicht die strenge Enthaltungin der Nahrung üben, wie es vergeschrieben war, sodaßihm die Mönche fest versprachen, sie wollten in dieser Hinsichtmit ihm Nachsicht haben. So wurde er Mönch und lebte rechtweichlich; denn sie nahmen auf ihn Rücksicht in der Küche und

113im Keller, wie man es mit keinem anderen tat. Als er nun einesTages bei Tisch sitzt, erblickt er die Himmelskönigin, die denBrüdern beim Essen dient und mit goldenem Löffel die Speisenmehrt, zunächst dem Abte, dann dem Prior, und so der Eeihenach allen Brüdern. Doch als sie zu ihm kommt, läßt sie ihnaus. So geschah es mehrere Tage hintereinander. Endlich fragter den Abt, warum ihm das geschehe. Und dieser antwortet:„Bruder, du hast besondere Vergünstigungen in Küche und Keller,wie du es verlangt hast; die anderen Brüder dagegen haben dieGunst des Himmels." Da spricht der Priester: „Herr, unendlichgrößer ist die Vergünstigung, die ihnen der Himmel gewährt, alsdie, die mir in der Küche gewährt wird. Gebt auch mir dieSpeise und den Trank, wie sie allen gemein sind." Etwas Lobenswertesist das gemeinschaftliche Leben. Doch soll darin nichtzu viel noch zu wenig geschehen. Daher wollte auch ein Heiliger,daß die Brüder Maß hielten in ihrer Kutte, damit nicht durchihr Beispiel gewonnen jemand das Ordenskleid nehme und esdann, wenn er es nicht ertragen könnte, wieder ablegte und einAbtrünniger würde.103.Wie ein Mildtätiger vom Untergange errettet ward.Einst lebte in Antiochia ein Mann, der so mildtätig war,daß er nie eine Mahlzeit ohne Arme einnehmen mochte. EinesTages ging er bis zum Abend durch die Stadt und konnte keinenArmen finden, der mit ihm das Mahl hätte teilen können. Sogeht er zum Stadttore hinaus. Da findet er einen Mann in glänzendweißem Gewände, der dort mit zwei anderen steht, die er auchnicht kennt. Und der Unbekannte spricht wie einst der Engel zuLot: „Ich will eintreten in das Haus unseres Knechtes." Der Mildtätigewendet sich an sie und spricht: „Ich sehe, ihr seid Fremde."Darauf erwidert ihm der Älteste: „Du vermagst diese Stadt nichtvor ihrem Untergange zu erretten." Mit diesen Worten schüttelter das Schweißtuch, das er in der Hand hält, und alsbald fälltdie halbe Stadt zusammen, und Männer, Weiber und Vieh werdenerschlagen. Der Mildtätige fällt erschreckt zu Boden. Der Greisaber erhebt die Hand von neuem, um auch den anderen Teil derStadt zusammenstürzen zu lassen, doch seine Gefährten halten ihnKlapper, Eizählungeu des Mittelalters 8

112wallfahrten. Da ergriff ihn die Eeue, <strong>und</strong> er kehrte <strong>in</strong> den Waldzurück, um e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>siedler aufzusuchen. Er klopfte an se<strong>in</strong>eZelle, <strong>und</strong> der E<strong>in</strong>siedler ließ ihn, wenn auch ungern, e<strong>in</strong>. DerRauher beichtete, aber er wollte weder fasten noch sonst e<strong>in</strong>eandere Buße auf sich nehmen, als von nun an barfuß zu gehen.Endlich brachte ihn der E<strong>in</strong>siedler mit Mühe dazu, daß er zurBuße bereit se<strong>in</strong> wolle, alles zu tun, was man von ihm im NamenGottes <strong>und</strong> der seligen Jungfrau Maria verlangen würde. Als erdiese Buße auf sich genommen hatte, führte ihn se<strong>in</strong> Weg ane<strong>in</strong> Wasser. Da begegnet ihm e<strong>in</strong> Aussätziger, der ihn <strong>in</strong>ständigbittet, er möchte ihn um Christi <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er glorreichen Mutterwillen h<strong>in</strong>überbr<strong>in</strong>gen. Der Räuber aber spricht: „Ich ertragekaum de<strong>in</strong>en Anblick, wie kann ich dich da über den Flußbr<strong>in</strong>gen?" Aber schließlich erfüllt er doch se<strong>in</strong>e Bitte. Und derAussätzige bittet ihn von neuem, er möge ihn baden, <strong>und</strong> derRäuber antwortet ihm wie vorher, doch dann tut er es. Da bittetder Kranke zum dritten Male, er möge ihn küssen. Dagegensträubt sich der Räuber entschieden. Doch denkt er an die Buße,die ihm auferlegt ist, <strong>und</strong> gibt dem Kranken den Kuß. Und wieer ihn darauf anblickt, ist er e<strong>in</strong> herrlicher Jüngl<strong>in</strong>g geworden.Erstaunt fragt ihn der Räuber, wer er sei. Der Jüngl<strong>in</strong>g antwortet:„Ich b<strong>in</strong> Jesus, den du über das Wasser getragen, den du gebadet<strong>und</strong> geküßt hast." Damit verschwand er. Der Räuberjedoch suchte alsbald wieder den E<strong>in</strong>siedler auf, dem er gebeichtethatte, <strong>und</strong> sobald er ihn fand, nahm er freiwillig die Buße aufsich, die er vorher zurückgewiesen hatte. Und als er sie beendethatte, weihte er sich dem Dienste <strong>des</strong> Herrn <strong>und</strong> rettete so se<strong>in</strong>eSeele.102.Wie Maria den Mönchen die Speise vermetirte.E<strong>in</strong> Priester kam zum heiligen Bernhard <strong>und</strong> wollte Mönchwerden. Doch klagte er, er könne die rauhen Stricke am Körpernicht ertragen, <strong>und</strong> vor allem könne er nicht die strenge Enthaltung<strong>in</strong> der Nahrung üben, wie es vergeschrieben war, sodaßihm die Mönche fest versprachen, sie wollten <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sichtmit ihm Nachsicht haben. So wurde er Mönch <strong>und</strong> lebte rechtweichlich; denn sie nahmen auf ihn Rücksicht <strong>in</strong> der Küche <strong>und</strong>

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