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Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und ...

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106Schluchzen kaum e<strong>in</strong> Wort hervorbr<strong>in</strong>gen kann. Er beichtet, wieer Frauen <strong>und</strong> Nonnen geschändet, Menschen getötet <strong>und</strong> vieleandere Verbrechen verübt hat, die er jetzt schuldbeladen bekennt.Der Priester hat noch nie e<strong>in</strong>en solchen Verbrecher gesehen, <strong>und</strong><strong>des</strong>halb ruft er ratlos aus: „De<strong>in</strong>e Schuld ist so groß, daß duke<strong>in</strong>e Verzeihung verdienst." Doch der Sterbende spricht: „Ichhabe von Brüdern gehört, daß der Sünder gerettet se<strong>in</strong> soll <strong>in</strong>dem Augenblick, <strong>in</strong> dem er reumütig aufseufzt zu Gott. So bitteich dich, gib mir e<strong>in</strong>e Buße." Der Priester erwidert: „Ich weißnicht, welche Buße ich dir auferlegen soll, denn de<strong>in</strong>e Sündens<strong>in</strong>d allzu groß." Da spricht der Sünder: „Da ich nicht würdigb<strong>in</strong>, von euch e<strong>in</strong>e Buße zu erhalten, will ich mir selbst als Bußezweitausend Jahre im Fegefeuer auferlegen, damit ich doch nochVerzeihung f<strong>in</strong>de." Der Priester weigerte sich, <strong>in</strong> diese Bußee<strong>in</strong>zuwilligen, <strong>und</strong> der Sterbende bat ihn, se<strong>in</strong>em Bruder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emBriefe Mitteilung zu machen von se<strong>in</strong>em Tode <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em Seelenzustande.Das versprach der Priester <strong>und</strong> tat es auch. Und derBischof war schmerzlich bewegt von dem unseligen Tode <strong>des</strong>Bruders, da er ihn <strong>in</strong>nig lieb hatte. Er gab aber den Befehl,daß man <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ganzen Diözese für ihn Gebete verrichte <strong>und</strong>täglich das Meßopfer für se<strong>in</strong>e Errettung darbr<strong>in</strong>ge. Nach Verlaufe<strong>in</strong>es Jahres nun, als der Bischof die Messe las, erschien ihmse<strong>in</strong> Bruder bleich, entkräftet <strong>und</strong> mager <strong>in</strong> schwarzem Kleide<strong>und</strong> offenbarte ihm se<strong>in</strong>en Zustand. „Ich leide große Pe<strong>in</strong>,"sprach er, „<strong>und</strong> aus dieser Pe<strong>in</strong> komme ich jetzt, um wieder <strong>in</strong>sie zurückzukehren. Ich komme, um dir Dank zu sagen; denndurch die Gebete, die du für mich zu Gott gesandt hast, s<strong>in</strong>dmir tausend Jahre Pe<strong>in</strong> nachgelassen worden. Und wenn du <strong>in</strong>dem gleichen Werke der Liebe auch im nächsten Jahre fortfährst,dann b<strong>in</strong> ich all me<strong>in</strong>er Pe<strong>in</strong> ledig." So schrieb der Bischofauch für das folgende Jahr gleiche Gebete <strong>und</strong> Werke der Nächstenliebevor. Und als das Jahr zu Ende war, erschien der Verstorbenedem Bischöfe mit frohem Angesichte <strong>und</strong> offenbarte ihm,daß er erlöst sei <strong>und</strong> <strong>in</strong> das ewige Leben e<strong>in</strong>gehe. Der Bischofaber sagte mit den Se<strong>in</strong>igen Gott Dank für die Erlösung se<strong>in</strong>esBruders.

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