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Erzählungen des Mittelalters in deutscher Übersetzung und ...

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91Der Vater <strong>und</strong> die Mutter starben, <strong>und</strong> mit der Zeit kamen sie<strong>in</strong> das Alter, daß der Jüngl<strong>in</strong>g die Regierung selbst übernehmenkonnte. Da begann er mit se<strong>in</strong>er Schwester sündhaften Verkehr;<strong>und</strong> als sie fühlte, daß sie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d bekommen sollte, wandte siesich um Rat an e<strong>in</strong>e Diener<strong>in</strong>. Diese bot ihr ihre Hilfe an.Nach der Niederkunft machten sie e<strong>in</strong>en Kahn zurecht, legtendas K<strong>in</strong>d h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>und</strong> gaben ihm Silber <strong>und</strong> Gold <strong>in</strong> Menge <strong>und</strong>kostbare Gewänder mit. Außerdem legten sie zwei Tafeln h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>,die die Worte enthielten: Me<strong>in</strong> Vater ist me<strong>in</strong> Onkel, me<strong>in</strong>eMutter me<strong>in</strong>e Tante. Dieses aber taten sie, damit man die vornehmeAbkunft <strong>des</strong> K<strong>in</strong><strong>des</strong> erkennen könne, wenn der Kahn ansLand trieb <strong>und</strong> gef<strong>und</strong>en würde; denn das Gold <strong>und</strong> die Kleiderbewiesen se<strong>in</strong>e vornehme Herkunft. Der Kahn wurde von Fischerngef<strong>und</strong>en. Der Abt, dem der Hafen gehörte, wo er ans Landtrieb, sah es <strong>und</strong> kam heran. Und als er den Knaben mit denkostbaren Gewändern erblickt <strong>und</strong> die Tafeln gelesen hatte, handelteer dem Inhalt der Tafeln entsprechend. Auf ihnen stand nämlich,man solle dem K<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>e königliche Erziehung zuteil werdenlassen <strong>und</strong> es e<strong>in</strong>em vornehmen Berufe zuführen. Der Abt tauftedas K<strong>in</strong>d <strong>und</strong> gab ihm den Namen Gregorius. Dann gab er ese<strong>in</strong>er Bäuer<strong>in</strong> <strong>in</strong> Pflege. Später besuchte der Knabe die Schule<strong>und</strong> machte gute Fortschritte. E<strong>in</strong>es Tages aber geriet er mitden Bauernjungen <strong>in</strong> Streit, <strong>und</strong> zwar hauptsächlich mit demSohne jenes Bauern, <strong>des</strong>sen Weib ihn aufgezogen hatte. Gregoriusaber war der Me<strong>in</strong>ung, daß dieser Bauernknabe se<strong>in</strong> Bruder sei;der jedoch warf ihm vor, er sei e<strong>in</strong> uneheliches K<strong>in</strong>d. DieserVorwurf stimmte ihn unendlich traurig, <strong>und</strong> er behielt ihn imGedächtnis, so daß ihn der Abt lange nicht beruhigen konnte.Endlich aber gelang es ihm. Doch als Gregorius größer gewordenwar, sprach er zu dem Abte: „Herr, wenn ich Griffel <strong>und</strong> Tafelergreife, dann kommt es mir immer vor, als ob mir e<strong>in</strong>e Lanze<strong>in</strong> der Hand besser anstehen möchte." Was braucht's vielerWorte! Gregorius drang <strong>in</strong> den Abt, ihm den wahren Sachverhaltzu offenbaren. Denn er hatte wohl bemerkt, daß der Bauernknabe,der ihn beschimpft hatte, ihm an Körper <strong>und</strong> Geist sehrunähnlich <strong>und</strong> hier<strong>in</strong> dem alten Bauern viel ähnlicher war. Sooffenbarte ihm schließlich der Abt se<strong>in</strong>e Herkunft <strong>und</strong> den Inhaltder Tafeln, die er aufbewahrt hatte, <strong>und</strong> ließ ihn im Ritterstande

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