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Der Pflichtcharakter des positiven Gesetzes 131Interesse der Rechtssicherheit auch nicht verantwortet werden. Anderseitsgibt es doch Fälle, wo das Gewissen des einzelnen einen schwerenVerstoß gegen die Gerechtigkeit feststellen kann.Der einzelne kann einen solchen Verstoß feststellen dort, wo übertriebeneHärten aus dem Gesetzesgehorsam entstehen würden. Aristoteles12sprach hier von der Epikie (Billigkeit). Da das Gesetz die allgemeineOrdnung im Auge hat, können durch die wörtliche Auslegungim einzelnen Fall ungerechte Auflagen entstehen, gegen welche das Gewissendie Gerechtigkeit für sich in Anspruch nimmt, in der Überzeugung,daß der Gesetzgeber an sich für jeden Fall gerecht handeln wollte.Das Billigkeitsrecht ist darüber hinaus im positiven Recht selbst inkorporiertzur Entscheidung von Gesetzeslücken, d. h. von zweifelhaftenFällen, deren Lösung nur durch Generalklauseln wie «Treu und Glauben» und « die guten Sitten » angedeutet werden kann. Allerdings wirdhierbei zunächst nicht auf die absolute Gerechtigkeitsforderung, sondernauf das Rechtsbewußtsein der Gesellschaftsglieder zurückgegriffen. Auchin einer Situation, in der keine Rechtslücken bestehen, wo aber der einzelneder Ansicht ist, daß der Gesetzgeber unmöglich einen individuellenFall mit vom Rechtsunterworfenen so schwer empfundener Schärfe lösenwürde, dürfte die erste Orientierung an der Billigkeit sich nicht unmittelbarauf absolute Gerechtigkeitsvorstellungen berufen, sondern müßtezunächst das Rechtsdenken der Rechtsgenossen zum Maßstab nehmen.Ferner gibt es aber konkrete Fälle, wo das Gesetz nicht nur eineüberfordernde Auflage bedeutet, sondern direkt gegen die Gerechtigkeitverstößt. Der Widerspruch zur Gerechtigkeit ist z. B. in einem Gesetzzur Vertilgung lebensunwerten Lebens oder einer bestimmten Rasse(Judenverfolgung) so evident, daß man von jedem Untergebenen dieEinsicht in die Ungerechtigkeit erwarten darf. Zwar wird man auch hierein gewisses Maß soziologischer Beeinflussung des Gewissens mit inRechnung ziehen müssen. Gerade was die Existenzberechtigung des«lebensunwerten » Lebens angeht, ist das Gewissensurteil in der Kulturgeschichteder Menschheit sehr verschieden gewesen 13 . Auch der Rassismushat seine «ehrlich» meinenden Verteidiger im Laufe der Geschichtegefunden. Trotzdem wird man zugeben müssen, daß ein Mensch, der,wenn auch nur kurze Zeit, in einem zivilisierten Staatswesen gelebt hat,das natürliche Gewissen nicht so weit ertöten konnte, daß ihm die Ver-1 2Nikomachische Ethik V, 14.1 3Vgl. den Art. « Euthanasie » mit den Literaturhinweisen von G. ERMECKEin : Staatslexikon der Görresgesellschaft, Bd. HI, Freiburg «1959, 149-153.10

132 Das positive Gesetznichtung einer anderen Rasse als sittlich verantwortbares Ziel erscheint.Der soziologisch eingestellte Rechtsphilosoph würde allerdings behaupten,daß nicht der Rückgriff auf absolute, sondern auf soziologisch bedingteNormen den Entscheid gebe über verantwortbaren und nicht zuverantwortenden Gesetzesgehorsam. Anderseits ist der zivilisierte Menschsich bewußt, daß seine kategorische Ablehnung des Rassismus nichteigentlich aus der soziologischen Erziehung, sondern aus dem Grundseines Gewissens stammt, das er dank der zivilisatorischen Umweltnicht zum Verstummen gebracht oder wieder entdeckt hat. Zu guterLetzt müssen wir doch eine natürliche Veranlagung unserer praktischenVernunft zum Angelpunkt des Strafverfahrens machen, so sehr wir dersoziologischen Einbettung des natürlichen Gewissens Rechnung tragen.Jeden Kontakt zwischen Gewissen und absoluter Gerechtigkeit abzuschneiden,bedeutete soviel wie die natürliche Basis zerstören, auf welcherdas Verhältnis von Mensch zu Mensch, vom Gesetzesunterworfenenzum Gesetz überhaupt erst verstehbar wird. Nur in der Annahme, daßdas natürliche Gewissen in seiner Grundlage für alle die gleiche Wertweltumfaßt, kann die Gesellschaft es sich erlauben, das Recht der Gewissensfreiheitzu proklamieren mit der Konsequenz, daß ein einzelner in irgendwelchenbesonderen Umständen aus Gewissenspflicht das natürliche Billigkeitsrechtgegen den Wortlaut des positiven Gesetzes in Anspruch nimmt.DasPönalgesetzDa das positive Gesetz im Gewissen verpflichtet, ist die ÜbertretungSünde. Diese Wahrheit wird allerdings heute durch die Gesellschaftsgliederkaum mehr zur Kenntnis genommen. Man betrachtet das positiveGesetz einzig als Institution zur Sanktion einer Ordnungswidrigkeit.Die Ordnungswidrigkeit wird mit einer Geldbuße geahndet. Der Charakterder Schuld tritt hier zurück, wenngleich die Vorsätzlichkeit nichtaußer Acht bleibt. Die Geldbuße kann bei einer Ordnungswidrigkeitaus Vorsatz größer sein als bei einer Ordnungswidrigkeit aus Fahrlässigkeit14 . Doch wird der Vorsatz selbst noch nicht notwendigerweise mitsittlicher Schuld verbunden. Es interessiert den Zollbeamten nicht, obder Schmuggler in seinem Gewissen belastet ist oder nicht. Es genügtihm, daß er vorsätzlich verzollbare Ware geheim über die Grenze transportierenwollte. Für diese Tat gibt der Beamte gemäß den Verwaltungsvorschriftendie Geldbuße auf. Vom Gesetz her gesehen haben wir es mit1 4Vgl. das deutsche Kartellgesetz vom 27.7.1959, § 38.

Der Pflichtcharakter <strong>de</strong>s positiven Gesetzes 131Interesse <strong>de</strong>r Rechtssicherheit auch nicht verantwortet wer<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rseitsgibt es doch Fälle, wo das Gewissen <strong>de</strong>s einzelnen einen schwerenVerstoß gegen die Gerechtigkeit feststellen kann.Der einzelne kann einen solchen Verstoß feststellen dort, wo übertriebeneHärten aus <strong>de</strong>m Gesetzesgehorsam entstehen wür<strong>de</strong>n. Aristoteles12sprach hier von <strong>de</strong>r Epikie (Billigkeit). Da das Gesetz die allgemeineOrdnung im Auge hat, können durch die wörtliche Auslegungim einzelnen Fall ungerechte Auflagen entstehen, gegen welche das Gewissendie Gerechtigkeit für sich in Anspruch nimmt, in <strong>de</strong>r Überzeugung,daß <strong>de</strong>r Gesetzgeber an sich für je<strong>de</strong>n Fall gerecht han<strong>de</strong>ln wollte.Das Billigkeitsrecht ist darüber hinaus im positiven Recht selbst inkorporiertzur Entscheidung von Gesetzeslücken, d. h. von zweifelhaftenFällen, <strong>de</strong>ren Lösung nur durch Generalklauseln wie «Treu und Glauben» und « die guten Sitten » ange<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n kann. Allerdings wirdhierbei zunächst nicht auf die absolute Gerechtigkeitsfor<strong>de</strong>rung, son<strong>de</strong>rnauf das Rechtsbewußtsein <strong>de</strong>r Gesellschaftsglie<strong>de</strong>r zurückgegriffen. Auchin einer Situation, in <strong>de</strong>r keine Rechtslücken bestehen, wo aber <strong>de</strong>r einzelne<strong>de</strong>r Ansicht ist, daß <strong>de</strong>r Gesetzgeber unmöglich einen individuellenFall mit vom Rechtsunterworfenen so schwer empfun<strong>de</strong>ner Schärfe lösenwür<strong>de</strong>, dürfte die erste Orientierung an <strong>de</strong>r Billigkeit sich nicht unmittelbarauf absolute Gerechtigkeitsvorstellungen berufen, son<strong>de</strong>rn müßtezunächst das Rechts<strong>de</strong>nken <strong>de</strong>r Rechtsgenossen zum Maßstab nehmen.Ferner gibt es aber konkrete Fälle, wo das Gesetz nicht nur eineüberfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Auflage be<strong>de</strong>utet, son<strong>de</strong>rn direkt gegen die Gerechtigkeitverstößt. Der Wi<strong>de</strong>rspruch zur Gerechtigkeit ist z. B. in einem Gesetzzur Vertilgung lebensunwerten Lebens o<strong>de</strong>r einer bestimmten Rasse(Ju<strong>de</strong>nverfolgung) so evi<strong>de</strong>nt, daß man von je<strong>de</strong>m Untergebenen dieEinsicht in die Ungerechtigkeit erwarten darf. Zwar wird man auch hierein gewisses Maß soziologischer Beeinflussung <strong>de</strong>s Gewissens mit inRechnung ziehen müssen. Gera<strong>de</strong> was die Existenzberechtigung <strong>de</strong>s«lebensunwerten » Lebens angeht, ist das Gewissensurteil in <strong>de</strong>r Kulturgeschichte<strong>de</strong>r Menschheit sehr verschie<strong>de</strong>n gewesen 13 . Auch <strong>de</strong>r Rassismushat seine «ehrlich» meinen<strong>de</strong>n Verteidiger im Laufe <strong>de</strong>r Geschichtegefun<strong>de</strong>n. Trotz<strong>de</strong>m wird man zugeben müssen, daß ein Mensch, <strong>de</strong>r,wenn auch nur kurze Zeit, in einem zivilisierten Staatswesen gelebt hat,das natürliche Gewissen nicht so weit ertöten konnte, daß ihm die Ver-1 2Nikomachische Ethik V, 14.1 3Vgl. <strong>de</strong>n Art. « Euthanasie » mit <strong>de</strong>n Literaturhinweisen von G. ERMECKEin : Staatslexikon <strong>de</strong>r Görresgesellschaft, Bd. HI, Freiburg «1959, 149-153.10

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