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Tiergestützte Therapie zwischen Profession, Professionalisierung ...

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<strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong><br />

<strong>zwischen</strong> <strong>Profession</strong>, <strong>Profession</strong>alisierung und <strong>Profession</strong>alität<br />

Von<br />

Rainer Wohlfarth<br />

Bitte zitieren: Wohlfarth R. (2012). <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Profession</strong>, <strong>Profession</strong>alisierung<br />

und <strong>Profession</strong>alität. Online: http://www.tiere-begleiten-<br />

leben.de/uploads/media/tgT_und_professionalitaet.pdf<br />

Wollen wir ein Qualitätssiegel für „Tierge-<br />

stützte <strong>Therapie</strong>“?<br />

Die neue Definition zur ‚<strong>Tiergestützte</strong>n Thera-<br />

pie‘ der European Society for Animal-Assisted<br />

Therapy (ESAAT) hat ein großes Echo ausge-<br />

löst und zu spannenden Diskussionen geführt,<br />

die teilweise in der Zeitschrift „tiergestützte“<br />

dokumentiert sind.<br />

Wie wichtig eine Diskussion von Begrifflichkei-<br />

ten im Feld tiergestützter Interventionen ist,<br />

zeigt die Vielfalt von Bezeichnungen, welche<br />

von LaJoe im Jahr 2003 im Rahmen einer Dis-<br />

sertation gefunden wurden: über 20 verschie-<br />

dene Begriffe für tiergestützte <strong>Therapie</strong> und<br />

12 verschiedene Bezeichnungen für den Ein-<br />

satz von Tieren als Helfer (Krueger & Serpell,<br />

2006). Dies macht deutlich, dass die bisher<br />

verwendeten Begriffe und Definitionen aus<br />

unserer Sicht wenig Klärendes zum Tätigkeits-<br />

feld, einem möglichen Aus- und Fortbildungs-<br />

bedarf von Mensch und Tier oder dem spezifi-<br />

schen Aufgabenbereich aussagen.<br />

Ich möchte hier auf einige Aspekte der Diskus-<br />

sion eingehen, welche in den Antworten auf<br />

unseren Artikel (Wohlfarth & Widder, 2011)<br />

von Erhard Olbrich und Petra-Kristin Peter-<br />

mann in der tiergestützten 2/2012 aufgewor-<br />

fen wurden und einige Thesen auf dem Weg<br />

zur mehr <strong>Profession</strong>alität aufstellen.<br />

Formale Anerkennung im Sozial- und Ge-<br />

sundheitswesen: Ja oder nein?<br />

Sicherlich kann eine Definition als „Reglemen-<br />

tierung“ oder „Vorschrift“ erlebt werden und<br />

man kann dafür werben lediglich „Anhalts-<br />

punkte“ zu bestimmen, welche durch „Empa-<br />

thie“, „Wertschätzung“ und „Selbstbestim-<br />

mung“ auf den Weg gebracht werden (Peter-<br />

mann, 2012). Dies ist eine mögliche und<br />

durchaus nachdenkenswerte Sichtweise. Es ist<br />

jedoch (leider) illusorisch anzunehmen, dass<br />

auf einem solchen Weg und mit „gut vorge-<br />

brachten Argumenten“ eine formale Anerken-<br />

nung im Sozial- oder Gesundheitswesen zu er-<br />

reichen sei. Im Sozial- und Gesundheitswesen,<br />

insbesondere in den Bereichen, welche durch<br />

die Sozialgesetzbücher beschrieben werden,<br />

werden klare Regeln und Vorgaben gemacht.<br />

Hier nur einige Beispiele zum Verständnis,<br />

welche rechtlichen und formalen Regelungen<br />

im Sozial- und Gesundheitswesen gelten.<br />

SGB V § 12 „Wirtschaftlichkeitsgebot“: „(1) Die<br />

Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig<br />

Seite 1


und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des<br />

Notwendigen nicht überschreiten.“.<br />

SGB V § 135 „Bewertung von Untersuchungs-<br />

und Behandlungsmethoden“: „Neue Untersuchungs-<br />

und Behandlungsmethoden dürfen in<br />

der vertragsärztlichen (…) Versorgung zu Lasten<br />

der Krankenkassen nur erbracht werden,<br />

wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (…)<br />

Empfehlungen abgegeben hat über die Anerkennung<br />

des diagnostischen und therapeutischen<br />

Nutzens der neuen Methode sowie deren<br />

medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit<br />

(…) nach dem jeweiligen Stand<br />

der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der<br />

jeweiligen <strong>Therapie</strong>richtung, die notwendige<br />

Qualifikation der Ärzte, die apparativen Anforderungen<br />

sowie Anforderungen an Maßnahmen<br />

der Qualitätssicherung, um eine sachgerechte<br />

Anwendung der neuen Methode zu sichern,<br />

und die erforderlichen Aufzeichnungen<br />

über die ärztliche Behandlung.“<br />

Definition von Qualität in der gesundheitlichen<br />

Versorgung nach der amerikanischen<br />

Joint Commission on the Accreditation of<br />

Health Care Organisations (1990): „Qualität ist<br />

der unter Anwendung des derzeitigen Wissens<br />

vom medizinischen Versorgungssystem erreichte<br />

Grad der Wahrscheinlichkeit, für den<br />

Patienten erwünschte <strong>Therapie</strong>resultate zu erzeugen<br />

und unerwünschte Behandlungsergebnisse<br />

zu vermeiden.“ (Joint Commission on the<br />

Accreditation of Healthcare Organisations<br />

1990).<br />

Aus diesen Beispielen lassen sich folgende As-<br />

pekte ableiten, die gegeben sein müssen,<br />

wenn an eine formale Anerkennung der tier-<br />

gestützten <strong>Therapie</strong> durch Kostenträger ge-<br />

dacht wird:<br />

1. Die Ergebnisse der tiergestützten Interven-<br />

tionen müssen eindeutig bestimmten Pro-<br />

jekt-, Interventions- oder Vermittlungspro-<br />

zessen zugeschrieben werden können (Ef-<br />

fektivität);<br />

2. die Zielorientierung tiergestützter Inter-<br />

ventionen, die sich zwar aus verschiedenen<br />

Perspektiven (Nutzer, Anbieter, Angehöri-<br />

ge, Kostenträger) unterschiedlich darstel-<br />

len kann, deren Mittelpunkt aber die Per-<br />

spektive der Klienten bildet (Klientenorien-<br />

tierung);<br />

3. die Erfordernisse, auch die Möglichkeit in<br />

den Blick zu nehmen, dass Klienten uner-<br />

wünschten Wirkungen tiergestützter Inter-<br />

ventionen ausgesetzt sind, etwa Neben-<br />

wirkungen, Komplikationen, Unfällen und<br />

Übertherapie (Klientensicherheit);<br />

4. die Bedeutung von Qualitätsmaßen, damit<br />

die verschiedenen Dimensionen von Quali-<br />

tät einer Messung und Bewertung zugäng-<br />

lich und als Gegenstände von Qualitätssi-<br />

cherung, Qualitätsmanagement und Evalu-<br />

ation untersucht werden können (Mess-<br />

barkeit);<br />

5. die Notwendigkeit, sich am jeweils aktuel-<br />

len Kenntnisstand zu orientieren, d.h. Qua-<br />

lität weiter zu entwickeln (Qualitätsent-<br />

wicklung).<br />

Diese Beispiele sollen belegen, dass nicht<br />

„Empathie“, „Wertschätzung“, „Selbstbestim-<br />

mung“ oder „gut vorgebrachte Argumente“<br />

überzeugen, sondern nur eine eindeutige Ori-<br />

entierung an empirisch fundierten Wirksam-<br />

keitsnachweise, evidenzbasierter Anwendung<br />

und strikter Qualitätssicherung.<br />

Es ist nachvollziehbar, dass gerade im Bereich<br />

der tiergestützten <strong>Therapie</strong> solche Überlegun-<br />

gen abschreckend wirken. Und hier steht dann<br />

eine wesentliche Entscheidung an: ENTWEDER<br />

man geht den Weg einer (formalen) Anerken-<br />

nung der tiergestützten <strong>Therapie</strong> im Sozial-<br />

und Gesundheitswesen, dann sind auch die<br />

Seite 2


dort geltenden „Spielregeln“ einzuhalten.<br />

ODER man ist überzeugt, dass durch Professi-<br />

onalisierung und Qualitätssicherung die „ei-<br />

gentlichen Besonderheiten tiergestützter In-<br />

terventionen verloren gehen“ (Petermann,<br />

2012), dann jedoch muss man sich vom Ge-<br />

danken verabschieden in absehbarer Zeit eine<br />

formale Anerkennung zu erhalten. Alles ande-<br />

re ist nach meiner nun über 30 jährigen Erfah-<br />

rung im Sozial- und Gesundheitswesen (leider)<br />

reine Illusion. Um einen Einblick in solche Pro-<br />

zesse zu geben, beispielhaft der Weg der sozi-<br />

alrechtlichen Anerkennung eines Patienten-<br />

schulungsprogramms für Menschen mit Epi-<br />

lepsie (Ried, Baier, Dennig, Göcke et al., 2005).<br />

Hier hat die Anerkennung durch die Kranken-<br />

kassen über 15 Jahre gedauert. Vorher musste<br />

zum Beispiel nachgewiesen werden, dass ein<br />

strukturierter Trainerleitfaden und ein Patien-<br />

tenbegleitbuch vorliegt. Der Wirksamkeits-<br />

nachweis musste durch randomisierte, kon-<br />

trollierte Studien belegt, ein Qualitätshand-<br />

buch erarbeitet und Richtlinien für die Train-<br />

the-Trainer-Ausbildung festgelegt und umge-<br />

setzt werden. Die Kosten beliefen sich auf ei-<br />

nen mittleren sechsstelligen Betrag. Ein lang-<br />

wieriger und schwieriger Prozess und dabei<br />

war in diesem Fall zumindest klar und eindeu-<br />

tig definiert, was eine Patientenschulung ist.<br />

<strong>Profession</strong>alität und Qualitätssicherung: Un-<br />

serer Tiere zu Liebe!<br />

Petermann (2012) hat berechtigterweise da-<br />

rauf hingewiesen, dass das Augenmerk auf<br />

den ethischen Werten liegen sollte, welche<br />

Tiere uns vermitteln. Sie hat zudem die Wich-<br />

tigkeit des ethischen Umgangs mit Tieren her-<br />

vorgehoben. Nun stellt sich die Frage, steht<br />

ein ethischer Umgang mit Tieren einer Profes-<br />

sionalisierung und einer Qualitätssicherung<br />

entgegen, wie dies von Petermann implizit an-<br />

genommen wird?<br />

In Deutschland wird mit <strong>Profession</strong> - abgelei-<br />

tet vom lateinischen Begriff „professio - zu<br />

Beginn des 19. Jahrhunderts eine erlernte be-<br />

rufliche Tätigkeit bezeichnet, durch die je-<br />

mand seinen Lebensunterhalt verdiente und<br />

sich von ungelernten Personen sogenannten<br />

„Dilettanten“ abgrenzte.<br />

Unter <strong>Profession</strong>alisierung ist der Entwick-<br />

lungsprozess einer ausgeübten Tätigkeit zu ei-<br />

nem Beruf zu verstehen.<br />

Nach Goode (1972) ist „<strong>Profession</strong>alität“ im<br />

Wesentlichen durch folgende Faktoren ge-<br />

kennzeichnet:<br />

1. durch bestimmte Tätigkeiten, für die die Be-<br />

treffende zuständig ist,<br />

2. ein bestimmtes Fachwissen, das sich etwa<br />

in einer speziellen Fachsprache, in speziellen<br />

Methoden und in einer spezialisierten Ausbil-<br />

dung ausdrückt und<br />

3. eine bestimmte „Ethik“, die moralische<br />

Verpflichtung und moralische Verantwortung<br />

festlegt.<br />

Konkreter formuliert dies Herwig-Lemp<br />

(1997), in dem er folgende Kennzeichen von<br />

<strong>Profession</strong>alisierung beschreibt.<br />

<strong>Profession</strong>alisierung bedeutet, dass<br />

die Tätigkeit erlernt werden muss;<br />

das jeweilige Handwerkszeug beherrscht<br />

wird;<br />

Seite 3


man auf der Höhe der Zeit in Bezug auf das<br />

Fachwissen ist;<br />

dahinter Organisationen, Träger, Dienste<br />

und Einrichtungen sowie Fach- und Berufs-<br />

verbände stehen;<br />

man für seine Tätigkeit nicht nur Geld be-<br />

kommt, sondern auch davon lebt;<br />

der Kunde König ist;<br />

man sich frägt, für wen man das tut;<br />

die Arbeit effektiv und effizient erledig<br />

wird;<br />

man weiß, wozu man nicht in der Lage ist<br />

bzw. wofür andere zuständig oder besser<br />

geeignet sind.<br />

Diese Kriterien leiten über zum <strong>Profession</strong>ali-<br />

tät im Handeln. Der Begriff der <strong>Profession</strong>ali-<br />

tät wird im allgemeinen Sprachgebrauch zur<br />

Bezeichnung ›gekonnter Beruflichkeit‹ und als<br />

›Indikator für qualitativ hochwertige Arbeit‹<br />

verwendet (Nittel, 2000). Im Unterschied zu<br />

<strong>Profession</strong>alisierung meint <strong>Profession</strong>alität<br />

nicht den Entstehungsprozess, sondern das<br />

Vorhandensein professionstypischer Merkma-<br />

le. Dabei geht es auf der Ebene des professio-<br />

nellen Handelns um das Vorhandensein pro-<br />

fessionsspezifischer Kompetenzen und auf der<br />

Ebene der Persönlichkeit um das Vorhanden-<br />

sein eines professionellen Habitus.<br />

<strong>Profession</strong>alität ist also keineswegs an die<br />

Existenz einer <strong>Profession</strong> gebunden, sondern<br />

beschreibt die besondere Qualität einer per-<br />

sonenbezogenen Dienstleistung auch über<br />

den Kontext einer anerkannten <strong>Profession</strong><br />

hinaus (Nittel, 2004).<br />

In beruflichen Kontexten bezieht sich Profes-<br />

sionalität auf jeweils spezifizierte fachliche Kri-<br />

terien und Standards und eine bestimmte<br />

Wissensbasis, über die nur Personen mit einer<br />

entsprechenden Aus- und Fortbildung verfü-<br />

gen. Erst sie ermöglicht die fachgerechte Aus-<br />

führung einer beruflichen Handlung. Professi-<br />

onelles Handeln im engeren Sinn ist ein Han-<br />

deln, das von einer relevanten Kollegenschaft<br />

als den formalen und informellen Standards<br />

entsprechend wahrgenommen wird. Es ist ge-<br />

kennzeichnet durch den Bezug zu einer spezi-<br />

fizierten Wissensbasis, die Erklärungs- und<br />

Handlungswissen bereitstellt, sowie durch ei-<br />

ne Orientierung an spezifischen Kriterien und<br />

Standards, die maßgeblich für ein angemesse-<br />

nes Verhalten von Akteuren in einem Tätig-<br />

keitsfeld angesehen werden (Mieg, 2005).<br />

Damit ist auch das Verhältnis von Qualität und<br />

<strong>Profession</strong>alität in der tiergestützten <strong>Therapie</strong><br />

spezifiziert. <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> heißt nach<br />

wissenschaftlich fundierten, in der Fachwelt<br />

anerkannten Qualitätskriterien und –<br />

maßstäben zu handeln. Ein wichtiger Aspekt<br />

von Qualität ist dabei zweifellos die persönli-<br />

che und fachliche Kompetenz sowie die Ver-<br />

pflichtung auf (tier-) ethische Standards. Da-<br />

mit diese transparent und nachvollziehbar<br />

werden, bedarf es auch hier bestimmter Krite-<br />

rien und Nachweise in Form von Fortbildungs-<br />

standards und aussagefähigen, anerkannten<br />

Zertifikaten (Mieg, 2005).<br />

Als Synonym für „gekonnte Beruflichkeit“<br />

stellt <strong>Profession</strong>alität die nur schwer be-<br />

stimmbare Schnittmenge aus Wissen und<br />

Können dar. Sie markiert also die widersprüch-<br />

liche Einheit jener Kompetenzen und Wissens-<br />

formen, welche eine erfolgreiche Bearbeitung<br />

der Klientenprobleme wahrscheinlich werden<br />

lassen (Nittel, 2004).<br />

Seite 4


<strong>Profession</strong>alität zeigt sich aber nicht alleine im<br />

Umgang mit den Problemen der Klienten,<br />

sondern vor allem auch im gekonnten Einsatz<br />

der Tiere im Dreieck der Vis-a-vis-Interaktion<br />

<strong>zwischen</strong> Therapeut, Klient und Tier.<br />

Und <strong>Profession</strong>alität zeigt sich ganz besonders<br />

im ethischen Umgang mit unseren Tieren. Es<br />

gilt, die Potenziale, die der Umgang mit Tieren<br />

Menschen bieten kann, optimal zu nutzen. Ei-<br />

ne therapeutische, präventive, rehabilitative<br />

oder pädagogische Wirkung eines Tieres ist<br />

nur dann nachweisbar, wenn eine konstante,<br />

intensive, positive und partnerschaftliche<br />

Mensch-Tier-Primärbeziehung <strong>zwischen</strong> Be-<br />

zugsperson und Tier vorliegt.<br />

<strong>Profession</strong>alität und Qualitätssicherung erfolgt<br />

also nicht zu Ungunsten unserer Tiere, son-<br />

dern zu Gunsten unserer Tiere. Aus meiner Er-<br />

fahrung, vor allem mit Hunden in der tierge-<br />

stützten <strong>Therapie</strong>, kann ich sagen, dass Hunde<br />

sehr häufig funktionalisiert und instrumentali-<br />

siert werden und dies geschieht meist nicht<br />

mit Absicht. Dennoch sind es vor allem die<br />

Menschen, welche es besonders ‚gut meinen‘<br />

oder professioneller ausgedrückt ein ‚Helfer-<br />

syndrom‘ aufweisen und ihren Tieren oft<br />

‚übermenschliche Fähigkeiten‘ zusprechen.<br />

Hier finden wir die ausgeprägte Projektion,<br />

dass Tiere alle Menschen immer und überall<br />

helfen und Zuneigung geben möchten. Beson-<br />

ders eindrückliche (negative) Beispiele für In-<br />

strumentalisierung und Funktionalisierung<br />

finden sich übrigens in dem (nicht empfeh-<br />

lenswerten) Buch der „diplomierten Tierthe-<br />

rapeutin“ Maria Störr (2011). Aus meiner Sicht<br />

ist eine Stärkung von <strong>Profession</strong>alität aus die-<br />

sen Gründen zwingend, um tierethischen<br />

Überlegungen und Grundsätze viel stärker im<br />

Feld der tiergestützten <strong>Therapie</strong> zu verankern.<br />

Nicht Definitionen instrumentalisieren, son-<br />

dern wir Menschen tun es.<br />

<strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> disqualifiziert sich<br />

selbst, wenn sie sich gleichsetzt mit Laienar-<br />

beit, d.h. einer Tätigkeit, die ohne Ausbildung,<br />

ohne fachliches Wissen und ohne Bezahlung<br />

erfolgt. Durch die unreflektierte Gleichsetzung<br />

mit Nichtfachkräften werten sich Menschen,<br />

welche eine qualifizierte, anerkannte Fortbil-<br />

dung in tiergestützter <strong>Therapie</strong> absolviert ha-<br />

ben, selbst ab.<br />

Eine weitere Frage treibt mich im Kontext der<br />

Begriffe von <strong>Profession</strong>, <strong>Profession</strong>alisierung<br />

und <strong>Profession</strong>alität um: Warum heißt der<br />

neue Berufsverband „Berufsverband“? Wel-<br />

cher Beruf wird vertreten? Und wie wird der<br />

Beruf zu anderen Berufen abgegrenzt? Oder<br />

ganz im Sinne von Goode (1972): Welche be-<br />

ruflichen Tätigkeiten sind gemeint? Welche<br />

spezifischen Kompetenzen sind hierfür erfor-<br />

derlich? Wie werden diese vermittelt? Und<br />

welche (tier-) ethischen Festlegungen sind da-<br />

für erforderlich?<br />

Die Bezeichnung „Berufsverband“ wäre ja nur<br />

dann korrekt (s.o.), wenn zukünftig eine ei-<br />

genständige <strong>Profession</strong> angestrebt wird. Die<br />

bisherigen Ausführungen, welche ich aus der<br />

tiergestützten kenne, deuten jedoch eher in<br />

die Richtung, dass es sich vielmehr um einen<br />

Interessens- als einen Berufsverband handelt.<br />

<strong>Therapie</strong>: Ein rein medizinischer Begriff?<br />

Von Olbrich (2012) wird der Begriff „<strong>Therapie</strong>“<br />

ausschließlich im medizinischen Kontext ver-<br />

ortet und Begriffe wie „Salutgenese“, „Förde-<br />

Seite 5


ung der Resilienz“, „Achtsamkeit“ und „Stär-<br />

kung von Kompetenzen“ gegenüberstellt. Die-<br />

ser von Olbrich (2012) postulierte Dualismus<br />

besteht aus meiner Sicht schon seit vielen Jah-<br />

ren nicht mehr. Vielmehr erscheint Olbrich<br />

hier in einer Debatte verhaftet, welche seit<br />

Jahren überwunden ist (Franke, 2008).<br />

Heute wird für die Entstehung und Aufrecht-<br />

erhaltung von Krankheit wie für Gesundheit<br />

der Einfluss biologischer, psychischer und so-<br />

zialer Faktoren angenommen. Dies wird be-<br />

sonders im Konzept der Internationalen Klassi-<br />

fikation von Funktionen (ICF) deutlich, welcher<br />

eine umfassende Sicht auf Gesundheit und<br />

Krankheit zugrunde liegt und die vielfältige<br />

Aspekte der Kommunikation, Ressourcen,<br />

Kompetenzen und Partizipation berücksich-<br />

tigt.<br />

Die ICF leitete eine Paradigmenwechsel im<br />

Verständnis von Gesundheit und Krankheit ein<br />

und steht damit in deutlichem Kontrast zu<br />

dem von Olbrich (2012) ausführlich beschrie-<br />

benen DSM (Diagnostisches Statistisches Ma-<br />

nual), das mit dem biomedizinischen Paradig-<br />

ma verbunden ist. Olbrich (2012) reduziert<br />

den Begriff „<strong>Therapie</strong>“ auf dieses medizinische<br />

Paradigma, ohne darauf einzugehen, dass das<br />

biomedizinische Paradigma in den letzten<br />

Jahrzehnten durch ein umfassenderes Ver-<br />

ständnis dem bio-psycho-sozialen Paradigma<br />

abgelöst wurde und sich zu einem salutogene-<br />

tischen Verständnis weiterentwickelt hat<br />

(Franke, 2008). Dies zeigt sich vor allem an der<br />

ICF-CY, die sich in ihrer Ausgestaltung sogar an<br />

den aktuellen Standards zu Menschenrechten<br />

orientiert. Mit den Konzepten des Empower-<br />

ment, der Salutogenese und der Identitätsar-<br />

beit wurden in den letzten Jahrzehnte Ideen<br />

auf den Weg gebracht, welche den zentralen<br />

Aufgaben der gesunde Entwicklung, der Stär-<br />

kung und der Förderung gerade auch im Zu-<br />

sammenhang mit der neuen ICF/ICF-CY we-<br />

sentliche richtungsweisende Impulse gegeben<br />

haben.<br />

Durch den ICF-Standard wird es möglich, Res-<br />

sourcen und Defizite aller Lebensbereiche ge-<br />

genüber zu stellen und zu bewerten. Mit dem<br />

ICF ist es auch möglich, pädagogische Leistun-<br />

gen wirkungsorientiert und nachhaltig zu pla-<br />

nen und umzusetzen. Und der ICF wird heute<br />

in vielen Bereichen außerhalb der Medizin z.B.<br />

der Jugendhilfe, der sozialen Arbeit, der Päda-<br />

gogik angewendet. Es wird in der Förderpla-<br />

nung der Hilfeplanung wie auch als Planungs-<br />

instrument im Kindergarten oder der Grund-<br />

schule zum Beispiel in der Schweiz eingesetzt<br />

(Diezi-Duplain & Luder, o.J.).<br />

Warum gewinnt der ICF eine solch große Be-<br />

deutung? Er hebt gerade, die von Olbrich an-<br />

gesprochen Dualität von Gesundheit und<br />

Krankheit auf, verlässt das biomedizinische<br />

Paradigma und geht von einem mehrperspek-<br />

tivischen Verständnis von Gesundheit und<br />

Krankheit aus. Nach dem Medizinsoziologen<br />

Aaron Antonovsky sind sie vielmehr nur die<br />

Endpunkte auf einem so genannten Gesund-<br />

heits-Krankheits-Kontinuum (Franke, 2008).<br />

Jeder Mensch befindet sich jederzeit auf ei-<br />

nem Punkt dieser Strecke <strong>zwischen</strong> Anfangs-<br />

und Endpunkt. Vollkommen gesund oder voll-<br />

kommen krank kann ein Individuum nach die-<br />

ser Theorie in keinem Fall sein. Entscheidend<br />

ist auch nicht die Frage, ob der Mensch ge-<br />

sund oder krank, sondern wie groß seine Ent-<br />

fernung zu den beiden Polen jeweils ist. Ein-<br />

fluss auf den jeweiligen Status eines Men-<br />

Seite 6


schen innerhalb dieses Kontinuums haben so-<br />

wohl soziale als auch persönliche und um-<br />

weltbedingte Faktoren, die die Gesundheit<br />

entweder fördern oder belasten. Eine wesent-<br />

liche Rolle im Zusammenhang mit persönli-<br />

chen Determinanten spielen die Lebenserfah-<br />

rungen des Menschen und seine Strategien<br />

und Kapazitäten, Belastungen zu bewältigen,<br />

also seine Resilienz.<br />

Der ICF betreibt nun gerade nicht die von Ol-<br />

brich (2012) postulierte „Aussonderung“, son-<br />

dern fokussiert ebenso auf Ressourcen und<br />

Möglichkeiten einer Person und er versteht<br />

den Menschen nicht nur als biologische Ma-<br />

schine sondern als bio-psycho-soziales Ganzes.<br />

<strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong>, welche sich auf die ICF<br />

bezieht, hebt sich daher deutlich von einem<br />

rein biomedizinischen (<strong>Therapie</strong>-) Verständnis<br />

ab und gibt gerade den von Olbrich geforder-<br />

ten Entwicklungen Raum, die Tiere bei Men-<br />

schen anstoßen können.<br />

Ein weiterer Aspekt ist wichtig. Wird die ICF<br />

als grundlegendes Modell in der tiergestützten<br />

<strong>Therapie</strong> eingeführt, so wird auch die Ver-<br />

ständigung <strong>zwischen</strong> Ärzten, Therapeuten,<br />

Krankenkassenangestellten und anderen Be-<br />

rufsgruppen, die mit der Durchführung von<br />

Gesundheitsmaßnahmen zu tun haben, ver-<br />

bessert. Man spricht auch von der ICF als<br />

„gemeinsamer Sprache“ im Gesundheitswe-<br />

sen.<br />

Bei Olbrich schwingt in seiner Argumentation<br />

gegen das biomedizinische Modell, so vermu-<br />

te ich, jedoch noch ein weiterer Aspekt mit,<br />

den er jedoch nicht explizit äußert: Die soge-<br />

nannte Evidenzbasierung in der Medizin. ‚Evi-<br />

dent‘ sind im alltäglichen Sprachgebrauch<br />

Schlussfolgerungen genau dann, wenn ihre<br />

Gültigkeit und Offensichtlichkeit so augen-<br />

scheinlich ‚auf der Hand‘ liegen, dass jegliche<br />

empirische Untermauerung obsolet erscheint<br />

(Tippelt & Reich-Claassen, 2010).<br />

Als Technik der klassischen Rhetorik bringt<br />

‚Evidentia‘ die Zuhörer gleichsam in die Positi-<br />

on von ‚Augenzeugen‘ einer Schlussfolgerung,<br />

die zur Zustimmungsfähigkeit keines weiteren<br />

Beweises bedarf (Tippelt & Reich-Claassen,<br />

2010).<br />

Die im Sozial- und Gesundheitswesen seit den<br />

letzten Jahrzehnten verstärkt diskutierte ‚Evi-<br />

denzbasierung‘ allerdings läuft diesem Be-<br />

griffsverständnis nahezu diametral entgegen<br />

und stimmt eher mit der englischen Bedeu-<br />

tung überein – »evidence« im Sinne eines<br />

Nachweises und der Begründung der Wirk-<br />

samkeit einer Maßnahme (Jornitz, 2008).<br />

Die Idee der Evidenzbasierung als ein auf be-<br />

stätigten Erfahrungen beruhendes und an ho-<br />

hen und einheitlichen Standards orientiertes<br />

Wissen geht unmittelbar zurück auf Entwick-<br />

lungen in der Medizin. Denn eine »evidence-<br />

based medicine« steht für die „(…) bewusste,<br />

ausdrückliche und verständige Nutzung der<br />

jeweils besten Evidenz bei der Entscheidung<br />

über die Versorgung individueller Patienten.<br />

Ihre Praxis beinhaltet die Integration individu-<br />

eller klinischer Kenntnisse mit der jeweils bes-<br />

ten externen Evidenz aus systematischer For-<br />

schung“ (Comberg &Klimm 2004, S. 74). Es<br />

werden also nicht nur einheitliche Standards<br />

für die Konzeption und Durchführung medizi-<br />

nischer Studien festgelegt, sondern auch klare<br />

Kriterien für die Bewertung derselben in der<br />

Praxis formuliert.<br />

Seite 7


Zwei wichtige Bestandteile der Evidenzbasier-<br />

ten Medizin sind<br />

a) eine bestimmte methodische Vorgehens-<br />

weise, nämlich die prospektive randomi-<br />

sierte, kontrollierte Doppelblindstudie<br />

(randomized controlled trail, RCT),<br />

b) die ihr zugrunde liegende epistemologische<br />

Sicht eines ‚wissenschaftlichen Beweises‘,<br />

c) die systematische Zusammenfassung sol-<br />

cher Studien im Rahmen von Metaanaly-<br />

sen.<br />

Folgt man der Argumentation von Olbrich und<br />

versteht man seine Kritik am biomedizinischen<br />

Modell als Kritik an der Evidenzbasierung im<br />

Sozial- und Gesundheitswesen, so ist ihm in<br />

weiten Bereich zuzustimmen. So hat schon<br />

1997 der bekannte amerikanische Psychothe-<br />

rapeut Martin Seligman festgehalten:<br />

„dadurch wurde mir klar, dass die Entschei-<br />

dung, ob eine bestimmte Methode unter<br />

streng kontrollierten Bedingungen einer ande-<br />

ren Methode oder der Kontrollgruppe überle-<br />

gen ist, etwas anderes ist als die Frage nach<br />

dem, was in der Praxis wirkt (...). Ich halte<br />

‚Efficacy‘-Studien seitdem nicht mehr für die<br />

einzige, ja nicht einmal für die beste Möglich-<br />

keit, um festzustellen, welche Methoden in der<br />

Praxis tatsächlich wirksam sind. Ich bin zu der<br />

Überzeugung gekommen, dass ‚Effektiveness‘-<br />

Studien, mit denen die Erfahrungen der Pati-<br />

enten unter den realen Bedingungen in der<br />

Praxis erhoben werden, eine brauchbare und<br />

glaubwürdige ‚empirische Validierung‘ von<br />

Psychotherapie und Medikation ermöglichen“<br />

(Seligman, 1997).<br />

Hier stellt sich mit Nachdruck, die von Olbrich<br />

aufgeworfene Frage, ob sich die tiergestützte<br />

<strong>Therapie</strong> dem Paradigma der Evidenzbasie-<br />

rung unterwerfen möchte oder klarer formu-<br />

liert überhaupt kann, da „etwas mehr als nur<br />

das“ in der tiergestützten <strong>Therapie</strong> geschieht<br />

(Olbrich, 2012).<br />

<strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> = Psychotherapie?<br />

Von Olbrich (2012) wird angezweifelt, dass die<br />

Begriffe „<strong>Therapie</strong>“ und „Therapeut“ frei ver-<br />

wendbar seien. Hierzu werden von ihm vor al-<br />

lem der Bereich der Psychotherapie als Argu-<br />

ment herangezogen. Durch die Argumentation<br />

von Olbrich entsteht der Eindruck durch die<br />

neue Definition von „tiergestützter <strong>Therapie</strong>“<br />

solle eine neue Form der Psychotherapie ent-<br />

stehen. Dies ist in keiner Weise beabsichtigt<br />

und aus meiner Sicht aus der Definition auch<br />

nicht abzuleiten. Denn es wird klar festgehal-<br />

ten, dass tiergestützte <strong>Therapie</strong> jeweils nur im<br />

grundständigen Berufsfeld des menschlichen<br />

Teammitgliedes, also der Pädagogik, Psycho-<br />

logie, sozialen Arbeit oder Pflege u.a., ausge-<br />

übt werden darf.<br />

Grundsätzlich ist zu sagen, dass soweit be-<br />

kannt ist, keine Berufsgruppe weder in<br />

Deutschland, Österreich noch der Schweiz,<br />

Worte wie <strong>Therapie</strong> oder Therapeut für sich<br />

beanspruchen kann. Für den Begriff Psycho-<br />

therapie gelten wie Olbrich richtig darlegt an-<br />

dere Regeln, da Psychotherapeuten Heilkunde<br />

im Sinne des Gesetzes ausüben.<br />

Es steht also frei, den Begriff ‚<strong>Therapie</strong>‘ zu be-<br />

nutzen. Nicht erlaubt ist allerdings eine Wort-<br />

wahl in der Weise, wenn sie beim jeweiligen<br />

Klienten irreführend den Eindruck erweckt,<br />

dass eine ärztliche oder psychotherapeutische<br />

Tätigkeit entfaltet wird oder dass durch die<br />

Seite 8


Tätigkeit möglicherweise der Arztbesuch ent-<br />

behrlich ist, also durch den Begriff tiergestütz-<br />

te <strong>Therapie</strong> ein "Heilversprechen" abgegeben<br />

werden würde. Nach der Legaldefinition ist<br />

unter Heilkunde jede selbständig berufs- oder<br />

gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur<br />

Feststellung, Heilung oder Linderung von<br />

Krankheiten, Leiden oder Körperschäden zu<br />

verstehen.<br />

Dass die Argumentation von Olbrich nicht<br />

ganz schlüssig ist, zeigt sich auch an folgen-<br />

dem Beispiel. Frau Petermann hat - dem In-<br />

formationskasten zu ihrem Beitrag in der Zeit-<br />

schrift „tiergestützte“ zufolge - eine Fortbil-<br />

dung in Familientherapie und systemischer<br />

<strong>Therapie</strong> abgeschlossen. Folgt man den Ge-<br />

danken von Olbrich, dann müsste sie damit ei-<br />

gentlich mit dem medizinischen Paradigma<br />

verhaftet sein, da der Begriff „<strong>Therapie</strong>“ dies,<br />

so Olbrich, impliziert. Auch dürfte sie den Be-<br />

griff <strong>Therapie</strong> gar nicht benutzen, da sie rein<br />

rechtlich keine Psychotherapie durchführen<br />

darf. Sie müsste also ihre Tätigkeit folgt man<br />

der Argumentation von Olbrich als Familien<br />

„Intervention“ oder systemische „Interventi-<br />

on“ bezeichnen.<br />

In ihrem Beitrag macht Frau Petermann aber<br />

deutlich, dass sie nicht dem medizinischen Pa-<br />

radigma folgt, sondern eher einem ganzheitli-<br />

chen Denken verpflichtet ist. Sie hat eine the-<br />

rapeutische Fortbildung gemacht, ohne dass<br />

sie die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt<br />

psychotherapeutisch tätig zu werden. Trotz-<br />

dem wird die Fortbildung als <strong>Therapie</strong> be-<br />

zeichnet. Ihre Tätigkeit, so ist zu vermuten,<br />

umfasst nach der Fortbildung Beratung,<br />

Coaching und Förderung.<br />

Es stellt sich also die Frage, warum sollte der<br />

Begriff „tiergestützte <strong>Therapie</strong>“ nicht verwen-<br />

det werden, dafür aber Begriffe wie systemi-<br />

sche <strong>Therapie</strong> und/oder Familientherapie. Alle<br />

diese Begriffe kennzeichnen, dass sich eine<br />

Person umfassend in einem speziellen Fach-<br />

gebiet nach definierten Vorgaben fortgebildet<br />

hat.<br />

Da der Begriff „tiergestützte <strong>Therapie</strong>“ als<br />

Terminus technicus verwendet wird und der-<br />

zeit keine eigenständige <strong>Therapie</strong>form dar-<br />

stellt, sondern immer nur im grundständigen<br />

Berufsfeld bzw. unter fachkompetenter Ein-<br />

bindung durchgeführt werden soll, besteht<br />

aus unserer Sicht und nach juristischer Ver-<br />

nehmlassung keine Gefahr, dass der Begriff<br />

falsch verstanden werden kann.<br />

Es geht mir weniger um den Begriff als sol-<br />

chen, sondern um die Festlegung von Stan-<br />

dards bezüglich der Wissens-, Handlungs- und<br />

Sozialkompetenzen, die es bedarf, um ver-<br />

antwortungsvoll und tierethisch vertretbar,<br />

tiergestützt zu arbeiten.<br />

<strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> und tiergestützte Bil-<br />

dung<br />

Olbrich (2012) argumentiert weiter, dass der<br />

Begriff „<strong>Therapie</strong>“ zu eng sei, da er bestimmte<br />

Berufsgruppen wie PädagogInnen, Sozialarbei-<br />

terInnen, TheologInnen oder ErzieherInnen<br />

ausschließen würde. Ich sehe das nicht so, da<br />

der Begriff „tiergestützte <strong>Therapie</strong>“ - ähnlich<br />

wie ihn die Delta Society lange Jahre verwen-<br />

dete - einen Terminus technicus darstellt. Dies<br />

geschieht vor allem aus pragmatischen Grün-<br />

den, da der Begriff sehr gut eingeführt ist und<br />

auch schon bisher die Bereiche umfasste, wel-<br />

Seite 9


che nun durch die neue Definition der ESAAT<br />

spezifiziert werden.<br />

Aus den bisherigen intensiven Diskussionen<br />

wird jedoch deutlich, dass durch die Definition<br />

eine Abgrenzung zu einem Bereich erfolgt, der<br />

hier noch unscharf als „tiergestützte Bildung“<br />

bezeichnet werden kann. <strong>Tiergestützte</strong> Bil-<br />

dung umfasst viele Aspekte tiergestützten Ar-<br />

beitens, welche nicht unter die Bereiche des<br />

Sozialgesetzbuches fallen 1 . Im Rahmen von<br />

„tiergestützter Bildung“ werden Tiere in viel-<br />

fältiger Weise eingesetzt, dabei geht es in<br />

neueren Bildungsplänen nicht mehr nur um<br />

die Vermittlung von Kenntnissen, sondern von<br />

Lernkompetenzen im Mittelpunkt (Fthenakis,<br />

2009). Für ein sinnorientiertes Dasein ist Bil-<br />

dung notwendig. Sie führt den Einzelnen über<br />

den engen Horizont des Selbsterlebten und<br />

der eigenen Erfahrungen hinaus in die Fülle<br />

des „Mehr als ich“. Und hier kann tiergestütz-<br />

te Bildung ansetzen, indem sie das Ich öffnet<br />

für das Andere und Fremde wie Bekannte, für<br />

die soziale Gemeinschaft sowohl wie für die<br />

vielfältige Verfasstheit der Natur.<br />

Bereiche tiergestützter Bildung könnten sein:<br />

Optimalen Gestaltung des Umfelds zur<br />

Verbesserung von Bildungs- und Entwick-<br />

lungsprozessen,<br />

Initiierung und Begleitung von Lern- und<br />

Bildungsprozesse: Es geht darum zu lernen,<br />

wie man lernt und sein eigenes Wissen or-<br />

ganisiert, um Problemsituationen zu lösen<br />

und zwar auf eine sozial verantwortliche<br />

Weise,<br />

1 Vielen Dank an Inge Strunz für die bereichernden<br />

Diskussionen zu diesem Thema!<br />

Förderung vorhandener Fähigkeiten und<br />

Ressourcen, z.B. der frühzeitigen Stärkung<br />

individueller kindlicher Kompetenzen wie<br />

der Stärkung des Selbstkonzepts, des<br />

Selbstwertgefühls, der Selbstregulationsfä-<br />

higkeit,<br />

Befähigung einer selbständigen Lebensbe-<br />

wältigung, z.B. der Förderung der Fähigkeit,<br />

interpersonelle Konflikte friedlich zu lösen<br />

und<br />

Persönlichkeitsentwicklung (Unterstützung<br />

der Entfaltung der personalen Identität, zur<br />

Ausbildung von Fähigkeiten und Bereit-<br />

schaft zur Kommunikation und Kooperati-<br />

on),<br />

Förderung von Empathie, positiver Wert-<br />

schätzung, Akzeptanz und Toleranz zu sich<br />

und anderen, aber auch letztlich eine op-<br />

timistische Sicht zu entwickeln, von Selbst-<br />

vertrauen und Selbstwirksamkeit,<br />

Befähigung zu einem selbstbestimmten<br />

und gemeinschaftsverantwortlichen Um-<br />

gang mit sich, den anderen Menschen, den<br />

Tieren und der Natur<br />

Befähigung zur sozialen Integration und In-<br />

klusion. Kinder zu befähigen soziale Mit-<br />

verantwortung zu übernehmen. Sie sollen<br />

lernen, die Konsequenzen ihres Handelns<br />

nicht nur für sich selbst, sondern auch für<br />

andere zu reflektieren und an der Verbes-<br />

serung der Lebensbedingungen für alle<br />

konstruktiv mitzuwirken.<br />

Es ergeben sich also Zielsetzungen einer „tier-<br />

gestützten Bildung“, die mit den Erfordernis-<br />

sen einer zeitgemäßen Bildung zu tun haben.<br />

Hinzu kommt das Erziehen, das Fördern und<br />

das Kompetenzen anbahnen, wobei hierbei<br />

Tiere als besonderes 'Medium' eine entschei-<br />

Seite 10


dende Rolle spielen (Strunz, persönliche Mit-<br />

teilung).<br />

Die Stärkung solcher Kompetenzen kann in<br />

hohem Maße durch die Interaktion mit Tieren<br />

gelingen (Wohlfarth, Mutschler & Bitzer,<br />

2012).<br />

Insofern bezieht sich der Begriff tiergestützte<br />

<strong>Therapie</strong>, da ist Olbrich Recht zu geben, eher<br />

auf die in den deutschen Sozialgesetzbüchern<br />

beschriebenen Bereiche als auf den Bereich<br />

der oben beschriebenen ‚tiergestützten Bil-<br />

dung‘.<br />

Ein Gedankenexperiment<br />

Verlassen wir daher für einen Moment die<br />

Diskussion um den Begriff „<strong>Therapie</strong>“ und ma-<br />

chen ein einfaches Gedankenexperiment.<br />

Wir lesen die Definition der ESAAT mit dem<br />

Begriff „tiergestützte Intervention“. Würde<br />

sich etwas ändern? Ja vielleicht! PädagoInnen<br />

könnten sich damit vielleicht eher identifizie-<br />

ren. Der Streit um Begrifflichkeiten wäre be-<br />

endet. Und doch blieben die inhaltlichen As-<br />

pekte unverändert, wie die Festlegung der<br />

Einsatzfelder, die Zugangsvoraussetzungen,<br />

die Standards für die Fortbildung und vor al-<br />

lem die grundlegenden Standards für die<br />

Durchführung tiergestützter Interventionen<br />

(u.a. Zielorientierung, Dokumentationspflicht,<br />

Weiterbildungspflicht, ethische Standards für<br />

den Umgang mit Tieren).<br />

Dieses Gedankenexperiment soll anregen,<br />

nicht nur über den Begriff „<strong>Therapie</strong>“ nachzu-<br />

denken, sondern vor allem Standards zu be-<br />

nennen und zu diskutieren, die notwendig<br />

sind um tiergestützte Interventionen (tier-)<br />

ethisch vertretbar und fachlich kompetent<br />

durchzuführen.<br />

Hier möchte ich einen Aspekt herausgreifen:<br />

Dokumentation und Zielplanung gehören aus<br />

unserem Verständnis unbedingt zu einer pro-<br />

fessionellen Tätigkeit. Wie sonst kann ich fest-<br />

stellen, ob meine tiergestützte <strong>Therapie</strong> tat-<br />

sächlich eine Wirkung besitzt? Im Sinne der<br />

Qualitätssicherung kommt der Ergebnisquali-<br />

tät eine herausgehobene Bedeutung zu. Wir<br />

gehen davon aus, dass Menschen, die in tier-<br />

gestützter <strong>Therapie</strong> arbeiten, „gute“ Arbeit<br />

leisten möchten. Und dies können sie nur fest-<br />

stellen, wenn sie die Wirkungen ihrer Arbeit<br />

festhalten.<br />

Werden solche Standards benannt, dann erst<br />

wird es aus meiner Sicht spannend. Denn hier<br />

zeigen sich möglicherweise unterschiedliche<br />

Auffassungen <strong>zwischen</strong> der ISAAT und der<br />

ESAAT. Während zum Beispiel die ISAAT die<br />

Ausbildung von Tieren für entbehrlich, ja in<br />

Teilen sogar für schädlich hält, ist die prakti-<br />

sche Aus- und Fortbildung der Mensch-Tier-<br />

Teams für die ESAAT Grundlage für eine quali-<br />

tativ hochstehende Durchführung von tierge-<br />

stützter <strong>Therapie</strong>. Auch unter tierethischen<br />

Gesichtspunkten ist aus Sicht der ESAAT eine<br />

qualifizierte Aus- und Fortbildung unverzicht-<br />

bar. Es geht darum erkennen zu können, ob<br />

das Tier (und auch der Mensch) grundsätzlich<br />

Talent für den Einsatz in tiergestützter Thera-<br />

pie besitzt und den Belastungen, welche durch<br />

tiergestützte <strong>Therapie</strong> entstehen, gewachsen<br />

ist. Nicht jedes Tier ist geeignet und die Aus-<br />

wahl nur den Therapeuten oder den Besitzern<br />

zu überlassen, erscheint aufgrund unserer bis-<br />

herigen Erfahrungen kaum möglich (s.o. Pro-<br />

jektionen).<br />

Seite 11


<strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> = animal-assisted<br />

therapy?<br />

Zurück zum Begriff <strong>Therapie</strong>. In unserem bio-<br />

psycho-sozialen Verständnis von Gesundheit<br />

und Krankheit umfasst „<strong>Therapie</strong>“ alle Inter-<br />

ventionsformen aus medizinischen, psycholo-<br />

gischen und sozialen Arbeitsfeldern, die Men-<br />

schen helfen, auf dem Kontinuum von Ge-<br />

sundheit und Krankheit mehr zum Pol Ge-<br />

sundheit zu gelangen.<br />

Olbrich (2012) spricht jedoch neben der Klassi-<br />

fikation von Berufen, welche zum Bereich The-<br />

rapie aus seiner Sicht gehören bzw. nicht ge-<br />

hören, einen zweiten wesentlichen Aspekt an.<br />

Er argumentiert, dass Tiere aufgrund der lan-<br />

gen Affinität, die wir zu ihnen haben, hilfrei-<br />

che Prozesse in Menschen auslösen können,<br />

die „als Achtsamkeit nach innen, auf das Star-<br />

ke genauso wie auf das Schwache von Körper<br />

und der Psyche – und zu Empathie, zum Erle-<br />

ben von Verbundenheit, von nicht bewerten-<br />

der Anerkennung führen“. Er verweist damit<br />

implizit darauf, dass der Umgang und das Zu-<br />

sammensein mit Tieren über den engen Hori-<br />

zont von „<strong>Therapie</strong>“ hinausweist. Aus meiner<br />

Sicht erscheint diese Vorstellung sehr einer<br />

mythischen oder spirituellen Grundüberzeu-<br />

gung verhaftet. Zudem ist sie nahe an der Vor-<br />

stellung, Tiere würden von sich aus helfend<br />

und heilend wirksam sein. Mir scheinen hier<br />

zu sehr menschliche Projektionen von der<br />

„heilenden Wirkung von Tieren“ durch, was in<br />

umgangssprachlichen Schilderungen wie<br />

„Therapeuten auf vier Pfoten“ o.ä. zum Aus-<br />

druck kommt.<br />

Vielmehr zeigen die meisten wissenschaftli-<br />

chen Untersuchungen, dass die gefundenen<br />

Wirkungen nicht als störungsspezifische Wir-<br />

kungen zu verstehen sind, die direkten Ein-<br />

fluss auf die verschiedenen Funktionsbereiche<br />

haben (Prothmann, 2012). Tiere können defi-<br />

nitiv keine instrumentelle Hilfe geben, hierfür<br />

ist der Austausch mit Therapeuten/Pädagogen<br />

von zentraler Bedeutung. Wie Prothmann<br />

(2012) berichtet scheinen Tiere aber die At-<br />

mosphäre so nachhaltig verändern zu können,<br />

dass mit Hilfe des Therapeuten/Pädagogen<br />

Veränderungen im subjektiven Erleben und in<br />

der Selbstwahrnehmung auftreten.<br />

Durch tiergestützte <strong>Therapie</strong> erleben Klienten<br />

sich in eine Atmosphäre versetzt, die von<br />

Wärme, Akzeptanz und Einfühlungsvermögen<br />

in ihrer Gefühlswelt geprägt ist; Kriterien, die<br />

über alle Psychotherapieschulen hinweg als<br />

Fundament einer tragfähigen, zu Veränderun-<br />

gen ermutigenden Beziehung <strong>zwischen</strong> Pati-<br />

ent und Therapeut/Pädagoge angesehen wer-<br />

den (Prothmann, 2012). Tiere verändern im<br />

Vorfeld des eigentlichen therapeutischen Ge-<br />

schehens die Atmosphäre derart, dass der<br />

Aufbau einer therapeutischen, pädagogischen<br />

oder förderlichen Beziehung wesentlich kata-<br />

lysiert und vertieft werden kann (Levinson,<br />

1969; Prothmann, 2012).<br />

Folgt man der Argumentation von Olbrich, so<br />

erscheint der Begriff „<strong>Therapie</strong>“ im Zusam-<br />

menhang mit Tieren rechtlich, inhaltlich und<br />

anwendungsbezogen kritisch, wenn nicht gar<br />

obsolet.<br />

Doch verweist Olbrich (2012) auch auf die De-<br />

finitionen der Delta Society, die er dann wie-<br />

der für sinnvoll hält. Dies erscheint nicht ganz<br />

schlüssig und letztlich ist es eine tautologische<br />

Argumentation. In der Definition wird gefor-<br />

Seite 12


dert, dass „animal-assisted therapy“ von ei-<br />

nem ausgebildeten Therapeuten oder von<br />

Personen durchgeführt wird, die unter Super-<br />

vision professionell ausgebildeter Therapeu-<br />

ten arbeiten. Diese Vorstellung der Delta<br />

Society entspricht exakt der ESAAT Definition,<br />

in der er heißt: „Aufgabe der ‚Fachkraft für<br />

tiergestützte <strong>Therapie</strong>‘ ist es in ihrem grund-<br />

ständigen Berufsfeld oder unter fachkompe-<br />

tenter Einbindung durch den Einsatz eines Tie-<br />

res bzw. eines <strong>Therapie</strong>begleittier-Teams den<br />

Menschen in seinem Bedürfnis nach Linderung<br />

seiner Beschwerden, Autonomie und persona-<br />

ler und sozialer Integration zu unterstützen.<br />

Die fachkompetente Einbindung erfolgt je<br />

nach Einsatzfeld durch Ergotherapeuten, Phy-<br />

siotherapeuten, Psychologen, (Sozial-) Päda-<br />

gogen u.a.m.“ (Wohlfarth & Widder, 2011).<br />

Zudem wird die Beschreibung von „animal as-<br />

sisted therapy“ in der Darstellung von Olbrich<br />

(2012) sehr stark an biomedizinischen Be-<br />

griffssystemen ausgerichtet, während „animal<br />

assisted activities“ eher salutogentisch defi-<br />

niert werden. Er bezeichnet nun auch „animal<br />

assisted activities“ als tiergestützte Förderung,<br />

was bislang so weder in Amerika noch in<br />

Deutschland üblich war.<br />

Die Definitionen der Delta Society besitzen<br />

zudem aus meiner Sicht einige Schwachpunk-<br />

te:<br />

Die Definitionen der Delta Society beziehen<br />

sich nicht auf eine mögliche oder erwartete<br />

Wirkung, das bedeutet, wenn z.B. ein Hund<br />

Kunststückchen vorführt, dann ist das tier-<br />

gestützte Aktivität, denn die alten Men-<br />

schen fühlen sich sehr gut unterhalten.<br />

Wenn der Hund durch seine hinreißende<br />

Vorführung das Langzeitgedächtnis eines<br />

dementen Klienten anspricht, dann befin-<br />

den wir uns vielleicht plötzlich mitten in ei-<br />

ner tiergestützter <strong>Therapie</strong>.<br />

„<strong>Tiergestützte</strong> Aktivitäten“ sind ein allzu<br />

weit gefasster Begriff. Egal ob ich behinder-<br />

te Kinder mit meinem Hund spielen lasse,<br />

in einem Gefängnis Obdience vorführe o-<br />

der Menschen in einem Altenheim besu-<br />

che, dies kann alles unter tiergestützte Ak-<br />

tivitäten gefasst werden.<br />

Die Definitionen der Delta Society beziehen<br />

sich sehr stark auf die versicherungsrechtli-<br />

chen Vergütungsverhältnisse des amerika-<br />

nischen Sozialsystems und auf die rechtli-<br />

chen Restriktionen für Servicehunde, die in<br />

Amerika aus Gründen der Gleichberechti-<br />

gung Behinderter auch in Bereiche dürfen,<br />

die ihnen hier verboten wären.<br />

In den Definitionen werden auch keine An-<br />

gaben gemacht zu Standards für die Aus-<br />

und Fortbildung der Menschen, welche<br />

tiergestützte <strong>Therapie</strong> durchführen möch-<br />

ten noch über die Ausbildung von Tiere,<br />

welche im Bereich der tiergestützten The-<br />

rapie eingesetzt werden sollen.<br />

Mensch-Tier-Beziehung gleich tiergestützte<br />

<strong>Therapie</strong>?<br />

Olbrich (2012) unterscheidet nicht strikt zwi-<br />

schen förderlichen Wirkungen, welche Heim-<br />

tiere auf ihre Besitzer und den Wirkungen,<br />

welche Tiere auf Klienten in einer <strong>Therapie</strong><br />

ausüben.<br />

Bei tiergestützter <strong>Therapie</strong> handelt es sich bis-<br />

lang um keine einheitliche, theoriegeleitete<br />

und eigenständige Interventionsform (Wohl-<br />

Seite 13


farth, Mutschler & Bitzer, in Vorb.). Vielmehr<br />

erleichtert das Tier das therapeutische Ge-<br />

schehen, jedoch ohne einen menschlichen<br />

Therapeuten ersetzen zu können. Zur Erklä-<br />

rung der (kurzfristigen) positiven Wirkungen<br />

tiergestützter <strong>Therapie</strong>, die durch Metanaly-<br />

sen belegt sind (Nimer & Lundahl, 2007; Sou-<br />

ter & Millner, 2007, Virués-Ortega et al.,<br />

2011), werden häufig die Biophilie-Theorie<br />

genannt, Aspekte des Bindungsverhaltens<br />

herangezogen oder die Du Evidenz als wesent-<br />

lich herausgestellt (z.B. Olbrich, 2003, Beetz,<br />

2003).<br />

Für alle diese Erklärungsmodelle gilt, dass sie<br />

eher auf die allgemeine Mensch-Tier-<br />

Beziehung bezogen sind und weniger die spe-<br />

zifische Situation einer tiergestützten <strong>Therapie</strong><br />

abbilden (Wohlfarth, Mutschler & Bitzer, in<br />

Vorb.). Eine Mensch-Tier-Beziehung, wie wir<br />

sie zu bei uns lebenden Haustieren unterhal-<br />

ten, unterscheidet sich fundamental von ei-<br />

nem Mensch-Tier-Kontakt im Rahmen einer<br />

therapeutischen oder pädagogischen Bezie-<br />

hung (Hinde, 1997). Eine konkrete Form der<br />

Beziehung entsteht aus einer Serie von Inter-<br />

aktionen <strong>zwischen</strong> zwei Individuen über einen<br />

größeren Zeitraum. Es geht also allgemein um<br />

die Frage: Was tun die Beteiligten im Rahmen<br />

ihrer Beziehung? Und es geht spezifisch um<br />

die Frage: Durch welche spezifische Form der<br />

Interaktion und durch welche Qualität der<br />

Kommunikation, der Häufigkeit der Interakti-<br />

on und des Gebens und Nehmens (Symmetrie<br />

vs. Komplementarität; Konflikt, Macht, Ein-<br />

fluss, Kontrolle, Selbstöffnung) sind therapeu-<br />

tische Beziehungen im Dreieck Klient – Thera-<br />

peut – Tier charakterisiert (Hinde, 1997).<br />

Analysiert man die angesprochenen Aspekte<br />

genauer, so wird deutlich, dass sich Alltagsbe-<br />

ziehung <strong>zwischen</strong> Tierhalter und Tier vor allem<br />

im Hinblick auf die Dauer, die Häufigkeit, der<br />

Rahmen innerhalb dessen der Kontakt be-<br />

steht, Gleichberechtigung der Beziehungs-<br />

partner, Zielorientierung und Zweckbindung<br />

unterscheiden.<br />

Daher stellt sich die Frage, ob allgemeine Mo-<br />

delle der Mensch-Tier-Beziehung ohne weite-<br />

res auf die spezifische Situation der tierge-<br />

stützten <strong>Therapie</strong> übertragbar sind.<br />

Zunächst kann man sich dieser Frage annä-<br />

hern, in dem versucht wird allgemeine Kenn-<br />

zeichen tiergestützter <strong>Therapie</strong> abzuleiten.<br />

Hierzu kann auf allgemeine Aspekte rekurriert<br />

werden, die für anerkannte <strong>Therapie</strong>formen<br />

beschrieben wurden (z.B. für Selbstmanage-<br />

menttherapie: Reinecker, 2006):<br />

• <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> umfasst geplante<br />

und zielorientierte Maßnahmen, die zu<br />

Veränderungen führen sollen, um<br />

o die körperlichen, kognitiven und emoti-<br />

onalen Funktionen wiederherzustellen<br />

und zu erhalten,<br />

o die Fähigkeiten und Fertigkeiten zur<br />

Durchführung von Aktivitäten und<br />

Handlungen zu fördern,<br />

o das Einbezogensein in die jeweiligen<br />

Lebenssituation zu fördern und das sub-<br />

jektive Wohlbefinden zu verbessern.<br />

• In der tiergestützten <strong>Therapie</strong> werden Me-<br />

thoden angewendet, bei denen Klienten<br />

mit Tieren interagieren, über Tiere kom-<br />

munizieren oder für Tiere tätig sind.<br />

Seite 14


• <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> wird durch profes-<br />

sionelle Helfer in der Regel in deren grund-<br />

ständigem Beruf angewendet.<br />

• <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> ist theoretisch be-<br />

gründet, d. h. nicht zufällig oder willkürlich.<br />

• <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> besitzt den An-<br />

spruch einer Überprüfung ihrer Wirksam-<br />

keit.<br />

• <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> bedarf einer fun-<br />

dierten Ausbildung von Mensch und Tier.<br />

<strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> stellt also eine beson-<br />

dere Form einer kontrollierten menschlichen<br />

Beziehung dar, in welcher der/die Therapeu-<br />

tIn/PädagogIn mittels eines Tieres die jeweils<br />

spezifischen Bedingungen bereitstellt, um für<br />

einen oder mehrere Menschen Veränderun-<br />

gen in Richtung einer Verminderung oder Hei-<br />

lung von seelischem oder körperlichem Leiden<br />

zu ermöglichen. Auch eine persönliche Wei-<br />

terentwicklung kann mit tiergestützter Thera-<br />

pie verbunden oder sogar ihr ausdrückliches<br />

Ziel sein. Durch die besondere Beziehungsge-<br />

staltung und die ausgewählten „Methoden“<br />

steigert der Klient die Fähigkeit, besser mit<br />

sich und seinen Problemen umgehen zu kön-<br />

nen, um ein Mehr an geistigem, seelischem<br />

und körperlichem Wohlbefinden zu erreichen.<br />

Daher scheint die Auffassung von Olbrich, dass<br />

ein alltägliches Zusammenleben von Men-<br />

schen und Tieren oder wenn Eltern ihre Kinder<br />

mit Tieren aufwachsen lassen, eine Form tier-<br />

gestützter <strong>Therapie</strong> darstellt, deutlich zu weit<br />

gefasst. Nicht alles, was <strong>zwischen</strong> Tier und<br />

Mensch geschieht kann und darf im Kontext<br />

einer ‚<strong>Therapie</strong>‘ oder ‚Förderung‘ gesehen<br />

werden. Umgekehrt kann jedoch auch nicht<br />

ein therapeutischer Einfluss verneint werden,<br />

weil Tiere auch im alltäglichen Umgang positiv<br />

für uns sind.<br />

<strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> – ein eigenständiges<br />

Berufsfeld oder gibt es „TiertherapeutIn-<br />

nen“?<br />

Derzeit ist tiergestützte <strong>Therapie</strong> kein eigen-<br />

ständiges Berufsbild, auch wenn sich manche<br />

Menschen gerne als „diplomierte Tierthera-<br />

peuten“ 2 bezeichnen. Vielmehr ist zu fordern,<br />

dass tiergestützte <strong>Therapie</strong> immer im grund-<br />

ständigen Berufsfeld des menschlichen<br />

Teammitglieds oder unter fachkompetenter<br />

Einbindung durchgeführt wird. Daher ist ein<br />

möglicher nächster Schritt, dass "tiergestützte<br />

<strong>Therapie</strong>" als qualifizierte Fortbildung in ei-<br />

nem grundständigen Berufsfeld anerkannt<br />

wird (z.B. wie Bobath bei Physiotherapeuten;<br />

Systemische <strong>Therapie</strong> bei Psychotherapeu-<br />

ten). Wie es keine „Therapeuten auf vier Pfo-<br />

ten“ gibt, gibt es keine „Tiertherapeuten“.<br />

<strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> wird vielmehr von Pä-<br />

dagogen, Psychologen oder Pflegekräfte mit<br />

einer fundierten Zusatzausbildung in tierge-<br />

stützter <strong>Therapie</strong> in ihrem jeweiligen Arbeits-<br />

gebiet eingesetzt.<br />

Um es hier nochmals ausdrücklich auch aus<br />

Sicht der ESAAT zu betonen, da dies in den<br />

bisherigen Diskussionen - so scheint mir – et-<br />

was untergegangen ist: <strong>Tiergestützte</strong> Thera-<br />

pie kann nur durch Pädagogen, Psychologen,<br />

Pflegekräfte, Sozialarbeiter u.ä. in ihrem<br />

grundständigen Berufsfeld durchgeführt<br />

werden. <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> keine eigen-<br />

ständige <strong>Therapie</strong>form.<br />

22 www.kynosverlag.de/nextshopcms/cmsword.asp?id=57<br />

Seite 15


Auf dem Weg zu mehr <strong>Profession</strong>alität: The-<br />

sen zu einem übergreifenden Konsens<br />

Mit den vorliegenden Thesen möchte ich den<br />

Versuch unternehmen, einen übergreifenden<br />

Konsens zur tiergestützten <strong>Therapie</strong> herbeizu-<br />

führen. Dieser besteht in Aussagen zu theore-<br />

tisch-wissenschaftlichen Grundlagen der tier-<br />

gestützten <strong>Therapie</strong>, Ausbildungsschwerpunk-<br />

ten, konzeptionellen Voraussetzungen und<br />

Anwendungsbereichen. Die Thesen können<br />

nur in ihrer Gesamtheit verstanden werden,<br />

da die einzelnen Aussagen einander bedingen<br />

und ergänzen. Die darin enthaltenen Festle-<br />

gungen lassen Raum für die unterschiedlichen<br />

Konzeptionen zur tiergestützten <strong>Therapie</strong> und<br />

geben gleichzeitig eine verbindliche Basis für<br />

die Qualitätssicherung.<br />

Die Thesen dienen einem gemeinsamen Vor-<br />

gehen zur Schaffung der (gesetzlichen) Grund-<br />

lagen für die Ausübung von tiergestützter The-<br />

rapie. Gleichzeitig implizieren sie eine Abgren-<br />

zung zu anderen therapeutischen Verfahren,<br />

in denen ebenfalls Tiere eingesetzt werden.<br />

Die Thesen sind nicht neu, sondern basieren<br />

auf einem Konsensuspapier zur Musiktherapie<br />

und wurden auf tiergestützte <strong>Therapie</strong> ange-<br />

passt 3 .<br />

These 1: <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> ist eine pra-<br />

xisorientierte Disziplin, deren wissenschaftli-<br />

che Grundlagen in enger Wechselbeziehung zu<br />

verschiedenen Wissenschaftsbereichen ste-<br />

3 Kasseler Thesen zur Musiktherapie. Überarbeitung 2010 durch<br />

die Bundesarbeitsgemeinschaft Musiktherapie:<br />

Beatrix Evers-Grewe, Ulrike Haase, Ute Haesner, Ulrike Haffa-<br />

Schmidt, Judith Heidemann, Gerhard Landes, Regina Neuhäusel,<br />

Cornelia Nothold, Guido Schmid, Stefanie Trikojat-Klein, Melanie<br />

Vogt, Ilse Wolfram. Online verfügbar: http://www.bagmusiktherapie.de/Downloads/Kasseler%20Thesen%20zur%20<br />

Musiktherapie.pdf<br />

hen, insbesondere der Medizin, den Gesell-<br />

schaftswissenschaften, der Psychologie, der<br />

Ethologie und der Pädagogik.<br />

These 2: Der Begriff “tiergestützte <strong>Therapie</strong>”<br />

ist eine summarische Bezeichnung für unter-<br />

schiedliche tiergestützte Konzeptionen, die ih-<br />

rem Wesen nach vor allem als funktionsthera-<br />

peutisch, psychotherapeutisch oder pädago-<br />

gisch zu charakterisieren sind, in Abgrenzung<br />

zu pharmakologischer und medizinischer The-<br />

rapie. <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> kann nur näher<br />

gekennzeichnet werden mit Aussagen zum zu-<br />

grunde liegenden Verständnis von Psychothe-<br />

rapie, Pädagogik, Förderung oder Entwicklung.<br />

These 3: Ausgehend von einem bio-psycho-<br />

sozialen Gesundheitsverständnis ist tierge-<br />

stützte <strong>Therapie</strong> wissenschaftlich fundierte<br />

<strong>Therapie</strong> (im Sinne von Förderung, Training,<br />

Behandlung u.ä.) unter Einbezug von Tieren.<br />

Sie gehört zum Bereich des Gesundheits- und<br />

Sozialwesens und hat dort eine integrative<br />

Funktion. <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> beruht auf<br />

einem jeweils zu kennzeichnenden theoreti-<br />

schen Konzept, das Aussagen zum Menschen-<br />

bild, zur Ethik und zum Gesundheits- wie<br />

Krankheitsverständnis beinhaltet. Daraus<br />

ergibt sich ein System von Methoden, mit dem<br />

sie sich auf die therapeutischen, pädagogi-<br />

schen, rehabilitativen und präventiven Gebie-<br />

te des Gesundheits- und Sozialwesens einzu-<br />

stellen vermag. Somit ist das Erscheinungsbild<br />

der Methoden theorie- und kontextabhängig<br />

insbesondere in Bezug auf die Indikationsstel-<br />

lung, die Zielsetzung, das methodisch-<br />

didaktische „Therapeuten“ verhalten, den<br />

Umgang mit der Gruppendynamik bzw. den<br />

dynamischen Prozessen der Triade. Die Wirk-<br />

samkeit tiergestützter <strong>Therapie</strong> entfaltet sich<br />

Seite 16


im Wahrnehmen, Erleben, Erkennen, Verste-<br />

hen und im Handeln des Klienten. Keine Me-<br />

thode oder Technik folgt einem monokausalen<br />

Wirkprinzip.<br />

These 4: Begegnung mit Tieren findet im<br />

Spannungsfeld individueller – körperlicher,<br />

psychischer, spiritueller, sozialer – und gesell-<br />

schaftlich-kultureller Bedingungen statt und<br />

ist dort wirksam und bedeutsam. Tiere können<br />

zum subjektiven Bedeutungsträger über den<br />

Prozess des Wiedererkennens interiorisierter<br />

Erfahrungen werden, die im Zusammenhang<br />

der Menschheitsgeschichte, dem Enkulturati-<br />

onsprozess und der aktuellen Situation ste-<br />

hen.<br />

These 5: In der tiergestützten <strong>Therapie</strong> sind<br />

Tiere Gegenstand und damit Bezugspunkt für<br />

Klient und Therapeut in der materialen Welt.<br />

An ihm können sich Wahrnehmungs-, Erleb-<br />

nis-, Symbolisierungs- und Beziehungsfähigkeit<br />

des Individuums entwickeln. Begegnungen mit<br />

Tieren setzen intrapsychische und interperso-<br />

nelle Prozesse in Gang und haben dabei so-<br />

wohl diagnostische als auch therapeutische,<br />

unterstützende und fördernde Funktion. Die<br />

Begegnung mit Tieren eignet sich, Ressourcen<br />

zu aktivieren und individuell bedeutsame Er-<br />

lebniszusammenhänge zu konkretisieren, was<br />

zum Ausgangspunkt für weitere Bearbeitung<br />

genommen wird.<br />

These 6: <strong>Tiergestützte</strong> Methoden folgen un-<br />

terschiedlichen tiefenpsychologischen, verhal-<br />

tenstherapeutisch-lerntheoretischen,systemi- schen, anthroposophischen und ganzheitlich-<br />

humanistischen Ansätzen. Der Begriff “Ansät-<br />

ze” beinhaltet Theoriebildung und zugehörige<br />

Handlungskonzepte.<br />

These 7: <strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> wird in Insti-<br />

tutionen des Sozial– und Gesundheitswesens<br />

durchgeführt:<br />

• im klinischen Bereich (z.B. in psychothe-<br />

rapeutischen Spezialkliniken für Kinder,<br />

Jugendliche und Erwachsene, in stationä-<br />

ren und semistationären Kliniken, in psy-<br />

chosomatischen und psychiatrischen<br />

Fachkliniken)<br />

• im außerklinischen Bereich (z.B. soziale<br />

Fördereinrichtungen, Heime für alte<br />

Menschen)<br />

• im rehabilitativen Bereich (z.B. in Förder-<br />

einrichtungen für psychisch, geistig<br />

und/oder körperlich behinderte Kinder,<br />

Jugendliche und Erwachsene, in ambulan-<br />

ten psychiatrischen Nachsorgeeinrichtun-<br />

gen, in der Neurologie)<br />

• im präventiven Bereich (z.B. in der pro-<br />

phylaktischen Arbeit bei Kindern, Jugend-<br />

lichen und Erwachsenen in allen Lebens-<br />

abschnitten)<br />

• in der Palliativmedizin<br />

• in Beratung und Coaching<br />

• und in freier Praxis.<br />

These 8: Voraussetzung für die Anwendung<br />

von tiergestützter <strong>Therapie</strong> ist eine syndroma-<br />

tologische und eine prozessbezogene Diagnos-<br />

tik. Daraus leiten sich Indikationsstellung und<br />

Zielformulierung ab. Das Wesen der tierge-<br />

stützten Diagnostik liegt in der Beschreibung<br />

der Phänomene, in der Begegnung von Men-<br />

schen und Tieren und ihrer Verbindung zu<br />

körperlichen, seelischen und sozialen Vorgän-<br />

gen.<br />

These 9: In der tiergestützten <strong>Therapie</strong> wer-<br />

den spezifische Dokumentationsverfahren zur<br />

Seite 17


Evaluation und zur wissenschaftlichen For-<br />

schung verwendet.<br />

These 10: Eine mögliche zukünftige Standort-<br />

bestimmung innerhalb des Gesundheitswe-<br />

sens und innerhalb des bundesweiten Berufs-<br />

und Ausbildungssystems könnte lauten: Tier-<br />

gestützte <strong>Therapie</strong> wird verstanden als eigen-<br />

ständiger Heilberuf, der das bestehende Ge-<br />

sundheitswesen sowie das Sozial- und Bil-<br />

dungswesen um den nonverbalen und tierge-<br />

stützten Ansatz bereichert. Der Berufsab-<br />

schluss, der einem M.A. mindestens ver-<br />

gleichbar ist, wird erreicht in privatrechtlichen<br />

Ausbildungen und staatlichen Studiengängen.<br />

Musiktherapeutische Weiterbildungen<br />

haben derzeit eine Gesamtstundenzahl<br />

von ca. 1360 Std., die sich wie folgt vertei-<br />

len:<br />

• 800 Std. Seminare, Lehrtherapie, Kon-<br />

trollstunden<br />

• 200 Std. Theoriegruppe<br />

• 100 Std. Praktikum<br />

• 60 Projektarbeit bzw. Gruppencotraining<br />

• ca. 200 Std. Graduierungsarbeit und Fall-<br />

dokumentation<br />

<strong>Profession</strong>alisierung oder neugieriger Er-<br />

kenntnisfortschritt?<br />

Es stellt sich zusammenfassend die Frage, wa-<br />

rum soll tiergestützte <strong>Therapie</strong> nicht einen<br />

Weg einschlagen, der von anderen Arbeitsfel-<br />

dern wie Musik- oder Kunsttherapie auch be-<br />

schritten wird. Olbrich (2012) mahnt explizit<br />

bei Grenzziehungen behutsam und vorsichtig<br />

zu bleiben, implizit lehnt er sie jedoch ab.<br />

Vielmehr empfiehlt er ein (kindlich) „neugieri-<br />

ges, aber bei allem Erkenntnisfortschritt unsi-<br />

cher bleibendes Fragen nach all dem, was in<br />

der <strong>Tiergestützte</strong>n Intervention abläuft“ bei-<br />

zubehalten. Man kann dies aufgrund des noch<br />

sehr begrenzten Wissens über die Bausteine<br />

im lebendigen (therapeutischen) Zusammen-<br />

spiel <strong>zwischen</strong> Tier und Mensch nachvollzie-<br />

hen (Marino, 2012). Diese Haltung erfordert<br />

es jedoch zu tolerieren, dass dann aus Sicht<br />

der Verantwortlichen im Gesundheits- und So-<br />

zialwesen tiergestützte <strong>Therapie</strong> weiterhin in<br />

den „Kinderschuhen“ steckt und damit eine<br />

Anerkennung in absehbarer Zeit ausbleiben<br />

wird.<br />

<strong>Profession</strong>alisierung bedeutet im engen Sinn<br />

im Gegensatz zu <strong>Profession</strong>alität den Prozess<br />

der Entwicklung in Richtung eines Berufsbil-<br />

des. In einem weiten Sinn bedeutet Professio-<br />

nalisierung den Übergang von Tätigkeiten zu<br />

bezahlter Arbeit, die gewissen einklagbaren<br />

Qualitätsstandards unterliegt (Mieg, 2005).<br />

Bei der Diskussion dürfen die Probleme, die<br />

sich aus einer <strong>Profession</strong>alisierung (also einer<br />

Entwicklung hin auf einen Beruf) „tiergestütz-<br />

te <strong>Therapie</strong>“ ergeben nicht übersehen wer-<br />

den, Petermann (2012) hat hier auf Vieles hin-<br />

gewiesen und vor allen tierethische Überle-<br />

gungen hervorgehoben. Dem ist voll zuzu-<br />

stimmen. Während der Musiktherapeut seine<br />

Musikinstrumente jeden Tag über viele Stun-<br />

den beanspruchen kann und dem Kunstthera-<br />

peut Staffel und Leinwand oder Speckstein<br />

immer und nahezu überall zur Verfügung<br />

steht, gehen wir in der tiergestützten <strong>Therapie</strong><br />

mit Lebewesen um. Dies bedeutet viele As-<br />

pekte in der Sorge, den Umgang und der Hal-<br />

tung zu beachten (ausführlich Otterstedt,<br />

2007). Hier sei ein Aspekt hervorgehoben: Die<br />

Seite 18


Einsatzzeit von Tieren in der tiergestützten<br />

<strong>Therapie</strong> ist begrenzt, zudem haben Tiere viel-<br />

leicht an einigen Tagen keine Lust oder sind<br />

krank. Was macht man dann in tiergestützter<br />

<strong>Therapie</strong>? Menschen, welche derzeit „berufs-<br />

mäßig“ in der tiergestützten <strong>Therapie</strong> arbei-<br />

ten, haben daher oft mehrere Tiere, zudem<br />

noch unterschiedlicher Spezies. In Italien rei-<br />

sen zum Teil „Tiertherapeuten“ mit sechs oder<br />

acht Hunden zur tiergestützten <strong>Therapie</strong> in ei-<br />

ner Klinik an. Was geschieht mit Tieren, wel-<br />

che den Belastungen nicht mehr gewachsen<br />

sind? Dies wirft wichtige Fragen auf: Wie kön-<br />

nen wir professionell vorgehen, ohne unsere<br />

Tiere zu funktionalisieren und ohne tierethi-<br />

sche Überzeugungen über Bord zu werfen?<br />

Und damit stellt sich die Frage: Kann tierge-<br />

stützte <strong>Therapie</strong> überhaupt eine eigenständi-<br />

ge <strong>Profession</strong> (Beruf) werden? Ich habe darauf<br />

derzeit noch keine abschließende Antwort. Ich<br />

denke jedoch eher nicht…<br />

So what?<br />

Ein Lehrer nimmt seinen Hund mit in die Schu-<br />

le. Eine Demenzkranke bekommt Besuch von<br />

einer Angehörigen der Malteser Besuchshun-<br />

de-Staffel. Ein junges Mädchen geht auf einem<br />

Bauernhof Pferde versorgen… Ist das tierge-<br />

stützte <strong>Therapie</strong>?<br />

Nein, das ist keine tiergestützte <strong>Therapie</strong>! Die-<br />

se Beispiele sollen die Funktion einer Definiti-<br />

on deutlich zu machen. Alle drei Beispiele zei-<br />

gen, was nicht tiergestützte <strong>Therapie</strong> ist. Eine<br />

Definition ist eine „Grenzziehung“ und kenn-<br />

zeichnet damit, was unter diesen Begriff fallen<br />

soll und was nicht. Damit wird auch spezifi-<br />

ziert, welche Strukturen, Prozesse (und mögli-<br />

che Ergebnisse) erwartet werden dürfen und<br />

welche nicht. Erst wenn es eine eindeutige De-<br />

finition gibt, kann jeder Klient und jede Institu-<br />

tion entscheiden, möchte ich „tiergestützte<br />

<strong>Therapie</strong>“ oder einen „Besuchsdienst“ oder<br />

„tiergestützter Unterricht“.<br />

Die Entwicklung von Definitionen, das Festle-<br />

gen von Standards und Qualitätsleitlinien im<br />

Bereich der tiergestützten <strong>Therapie</strong> ist unbe-<br />

dingt erforderlich, damit mehr <strong>Profession</strong>alität<br />

in die tägliche Arbeit einzieht. Zum Wesen von<br />

<strong>Profession</strong>alität gehört die Festlegung von Kri-<br />

terien und Standards, wie sie von der ESAAT in<br />

Grundzügen festgelegt wurden. Dabei geht es<br />

um die Transparenz der Leistungen, die be-<br />

darfsgerechte Zielgruppenorientierung, die<br />

fachlichen Kompetenzen, die Partizipation der<br />

Klienten, die Effizienz und Effektivität der<br />

Maßnahmen. Im Fokus aber stehen unsere<br />

Tiere und die Mensch-Tier--Beziehung.<br />

<strong>Tiergestützte</strong> <strong>Therapie</strong> befindet sich an einer<br />

entscheidenden Weichenstellung. Entweder<br />

gelingt der Schritt hin zu mehr <strong>Profession</strong>alität<br />

(nicht unbedingt zu einer <strong>Profession</strong>) oder<br />

tiergestützte Interventionen bleiben weitere<br />

eine ‚Graswurzelbewegung‘, deren tierethi-<br />

schen Standards nicht definiert und damit<br />

auch nicht kontrollierbar sind (Wohlfarth,<br />

Mutschler & Bitzer, 2011).<br />

Bleiben wir im Dialog und behalten eine neu-<br />

gierige Offenheit für andere Sichtweisen<br />

Ich hoffe, wir sind mit unseren Tieren im Dia-<br />

log, wie wir mit uns im Dialog sind. Und wir<br />

sollten uns immer bewusst sein, es gibt nicht<br />

Seite 19


die Wirklichkeit. Vielleicht entscheiden wir uns<br />

bei Betrachtung aller Für und Wider gegen ei-<br />

ne <strong>Profession</strong>alisierung (d.h. einem eigenstän-<br />

digen Berufsbild im Sinne einer Fortbildung im<br />

grundständigen Berufsfeld), dafür begeben<br />

wir uns vielleicht auf einen Weg zu mehr Pro-<br />

fessionalität (d.h. anspruchsvollen Maßstäben<br />

zu genügen). Aber wir bleiben hoffentlich im<br />

neugierigen Dialog!<br />

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