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Brasilien: Halbwüchsiger, seiner Kraft nicht bewusst

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Hauptausgabe vom 21.04.2000 - Seite 003<br />

<strong>Brasilien</strong>: <strong>Halbwüchsiger</strong>, <strong>seiner</strong> <strong>Kraft</strong> <strong>nicht</strong> <strong>bewusst</strong><br />

VON REINHARD LACKINGER,<br />

BAHIA, BRASILIEN<br />

Der portugiesische Seefahrer Pedro Álvarez Cabral hat am 22. April 1500 <strong>Brasilien</strong> im<br />

heutigen Bundesstaat Bahia, genau genommen in Porto Seguro, entdeckt und tags darauf das<br />

Land betreten. <strong>Brasilien</strong>, das größte Land Südamerikas, feiert sein 500-Jahr-Jubiläum.<br />

Bei jedem Jahresbeginn widmet die brasilianische Presse dem allerersten Neugeborenen eine<br />

kleine Nachricht. Diesmal kam es zu einem besonderen Gedränge. Matéus, Sohn einer<br />

Sechzehnjährigen aus Salvador, Bahia, verlor das Rennen gegen ein Mädchen aus São Paulo,<br />

das genau um Mitternacht zur Welt kam, um nur 20 Sekunden. In derselben Minute beendete<br />

ein weiteres Dutzend Kaiserschnitte vorprogrammierte Geburten. Der Baiano Matéus jedoch<br />

erblickte ohne chirurgischen Eingriff die durch Feuerwerke erhellte Tropennacht.<br />

Als Nation darf <strong>Brasilien</strong> nach diesen ersten 500 Jahren weder als Säugling noch als<br />

Erwachsener oder gar als Greis eingestuft werden. Dieses junge Land ist wie ein<br />

halbwüchsiger Mensch, <strong>seiner</strong> eigenen <strong>Kraft</strong> <strong>nicht</strong> <strong>bewusst</strong>, der mit <strong>seiner</strong> Gesundheit<br />

Schindluder treibt. Geisel eigennütziger Interessen.<br />

Die riesige, grüne Einöde dieses flächenmäßig größten Landes Südamerikas wird nur durch<br />

das Dunkelgrau abgebrannter Landstriche unterbrochen. Eine Umweltzerstörung, die sich wie<br />

bösartige Geschwüre in den jugendlichen Körper fressen; Fleisch und Blut, Boden und<br />

Wasser ver<strong>nicht</strong>en.<br />

Ländereien vom König<br />

Um über das chronische Agrar-, Industrie- und Umweltproblem <strong>Brasilien</strong>s zu sprechen, ist es<br />

notwendig, weit auszuholen und zu den Sesmarias zurückzukehren.<br />

Sesmarias bedeuteten ursprünglich die Ländereien, die von den portugiesischen Königen<br />

gegen das Versprechen verteilt wurden, brasilianischen Grund und Boden zu bewirtschaften.<br />

Sollte das Land binnen fünf Jahren noch immer brach liegen, hätte der säumige Landwirt den<br />

Besitz an die Krone zurückzugeben. Es wurde in der Geschichte <strong>Brasilien</strong>s jedoch kein<br />

einziger Quadratmeter an die Regierung zurückerstattet.<br />

Trotzdem liegen riesige Ländereien bis heute brach und ungenutzt. Ein Anblick, der einige<br />

von uns an die Kupferstiche eines alten Märchenbuches, andere wieder an das unendliche<br />

Nichts eines Jurassic-Parks erinnert.<br />

Das Land lebt hauptsächlich von Monokulturen. Zuckerrohr, Kaffee, Sisal, Kakao, Soja und<br />

vor allem von extensiver Ochsenwirtschaft. Rote, ausgetrocknete Erde, Lehmhütten,<br />

Maultiere, eine Kirche, schattige Beisel mit dem Geruch von Schnaps und Rolltabak, zahnlose<br />

Dirnen, betrunkene Vaqueiros, streunende Hunde und nackte Kinder. Nichts geschieht. Alles<br />

bewegt sich im Rhythmus der wiederkäuenden Rinder. Auf der Hauptstraße, mehrere Léguas<br />

entfernt, sitzen arbeitslose Camponeses auf dem Asphalt und wärmen ihre ausgemergelten


Körper. An Tankstellen treibt sich allerlei Gesindel herum. Minderjährige Huren, dingbare<br />

Mörder. Auf der Ladefläche eines Lkw stoßen weiße Zeburinder ihre Hörner gegen den<br />

hölzernen Verschlag.<br />

Die " Armspannweite"<br />

Um den unermesslichen Reichtum dieses gigantischen Landes, aber auch die unsinnige<br />

Vergeudung fruchtbarsten Ackerlandes zu verstehen, muss der Europäer vorerst mit<br />

brasilianischen Maßeinheiten vertraut werden. Die "braça", die "Armspannweite", die<br />

umgerechnet etwa 2,2 Metern entspricht. Es ist erstaunlich, welches Gewicht ehemalige<br />

Pflichtschüler ihr Leben lang auf Maßeinheiten legen. Von der Volksschule her kennen wir<br />

die Elle. Ebenso das Zoll, das sich auf den Daumen bezieht, sowie Fuß und Yard, auf die<br />

unteren Gliedmaßen. Diese angeführten Maße sind mit der menschlichen Anatomie halbwegs<br />

konform.<br />

Wenn wir nun zur "braça" zurückkehren, stellen wir fest, dass kaum ein Mensch 2,2 Meter<br />

"Armspannweite" aufweisen kann. 2,2 Meter Armspannweite hat, an Leonardo da Vincis<br />

Kreis denkend, bestenfalls ein übermannsgroßer Orang-Utan.<br />

Was mochte wohl die Leute einst bewogen haben, die "braça" so übertrieben zu schätzen?<br />

Um diese geometrische Diskrepanz verstehen zu können, müssen wir ein weiteres Maß zu<br />

Rate ziehen, das aus derselben Epoche stammt. Die "tarefa", wortwörtlich übersetzt:<br />

"Aufgabe". Ein Flächenmaß.<br />

Ein "tarefa-großes" Stück Land soll angeblich von einer Person pro Tag bearbeitet werden<br />

können. Eine "tarefa" misst 4356 Quadratmeter, oder 900 Quadrat-praças. Also 30 "braças"<br />

mal 30 "braças", um es anschaulicher zu machen.<br />

Da Hauptschüler <strong>nicht</strong> nur mit allerlei Maßeinheiten vertraut sind, sondern auch mit<br />

Schlussrechnungen umgehen können, drängen sich sogleich folgende Gedanken auf:<br />

Angenommen, es gelang einem riesigen Negersklaven auf einer "Quadrat-braça" eine<br />

beliebige Arbeit in einer Minute zu verrichten, benötigte er für die 900 "Quadrat-braças", also<br />

einer "tarefa", volle 15 Stunden.<br />

In Bahia wie in anderen tropischen Regionen gibt es aber nur rund 12 Stunden Tageslicht,<br />

aber keine Akkordarbeit, wie wir sie aus Industrieländern kennen. Sich vorzustellen, dass<br />

Negersklaven 75 Minuten pro Stunde verdienen konnten, scheitert wiederum an der Tatsache,<br />

dass diese keinerlei Lohn erhielten. Höchstens Peitschenhiebe und Stockschläge. Es war also<br />

<strong>nicht</strong> nur die "braça" übertrieben groß ausgefallen, sondern auch die sogenannte "tarefa".<br />

Sollte der "braça" am Ende eine mit Harke bewaffnete Hand als Modell gedient haben?<br />

Mit einem Buschmesser, dessen Klinge mindestens einen halben Meter misst, kommt bald<br />

einer auf eine "Armspannweite" von einer "braça". Verschiedene Aufgaben können auf einem<br />

Feld vollzogen werden. Bei einigen kommt man schneller voran, bei anderen, komplizierteren<br />

und schwereren Arbeiten langsamer. Man kann eine "tarefa" mit Samen bestreuen,<br />

Maniokwurzen pflanzen oder Wald roden, von Unkraut befreien.<br />

Bis heute ist die "tarefa" ein ziemlich unbestimmter Beziehungspunkt. Sie stellt also kein Maß<br />

dar, um eine möglichst gerechte Bezahlung der verrichteten Arbeit zu ermöglichen.<br />

Landarbeiter sind nach wie vor an einen lächerlichen Taglohn gebunden. Im Schatten der


ehemaligen Sklaverei, die offiziell vor mehr als 100 Jahren abgeschafft worden ist.<br />

Die Tradition des Feuers<br />

Es fällt uns nur eine Aktivität ein, die ein Arbeiter, ohne Gebrauch von Maschinen, an einem<br />

Tag auf mehr als einer "tarefa" zuwege bringen kann. Die sogenannte "queimada". Das<br />

Abbrennen, ursprünglich das Reinigen von Ochsenweiden durch das Abbrennen, dem<br />

unweigerlich die angrenzenden Waldbestände zum Opfer fallen.<br />

Dieselbe Methode wird auch bei der manuellen Zuckerrohrernte angewendet, um das trockene<br />

Stroh, das dornige Unkraut und die Giftschlangen zu beseitigen, ehe die vermummten<br />

Taglöhner, Frauen und Kinder mit breiten Klingen an ihr mühsames Werk gehen.<br />

Mit riesigen Waldbeständen verhält es sich ebenso. Zuerst fressen sich Motorsägen in den<br />

unteren Meter der Mahagoni-, Jacarandá-, Zedern- und sonstiger Edelholzbäume. Bald darauf<br />

lodern die Flammen im Regenwald, der durch mehrmalige Waldbrände ausgetrocknet, zum<br />

leichten Opfer verbrecherischer Zündler wird. Die Brandrodung verwandelt das grüne<br />

Paradies in eine graubraune Hölle. Die auf diese Weise verwüstete Landschaft misst man<br />

freilich <strong>nicht</strong> mehr in "tarefas", sondern in Tausenden von Quadratkilometern. Ein Ausmaß,<br />

unter dem sich kein Hauptschüler etwas vorstellen kann. Jedenfalls kein österreichischer.<br />

Als zur Zeit der großen Geldentwertungen ein Liter Benzin oder ein Bier wiederum mehrere<br />

tausend Einheiten der damals gültigen Währung kosteten, strich ihr die Regierung kurzerhand<br />

drei Nullen ab, fror Preise und Gehälter ein und behauptete feierlich, dass in Zukunft alles<br />

anders sein würde, dass der Inflationsdrache nun für immer besiegt sei. Auch so eine<br />

Brandmethode.<br />

Vielleicht gelingt es der halbwüchsigen Nation, den Meilenstein des 500-Jahr-Jubiläums<br />

auszunützen, um die kindlichen Unarten, den Stimmbruch der vielen Ungereimtheiten<br />

abzulegen, erwachsen zu werden. <strong>Brasilien</strong> wird im kommenden Jahrtausend <strong>nicht</strong> mehr nur<br />

wie ein junger Kellner sein, wie eine kaffeebraune Kurtisane, sondern ein<br />

verantwortungsvoller Gesprächs- und Geschäftspartner. Jung, weltoffen, mit neuen Ideen.<br />

Reinhard Lackinger, in Kapfenberg/Steiermark geboren, lebt seit den 60er-Jahren in Salvador<br />

da Bahia im Nordosten <strong>Brasilien</strong>s.<br />

© Alle Rechte vorbehalten. Nutzung ausschließlich für den privaten Eigenbedarf.<br />

Quelle: http://www.oon.at/archiv/retrieve.asp?query=shlyc:client/ooen/ooen/textarch/j2000/q2/m04/t21/ph/s003/001_001.dcs&ausgabe=H/Haupt<br />

ausgabe&datum=21.04.2000&seite=003

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