Die duale Erklärung von Organisation als Handlungssystem - Eine ...
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<strong>Die</strong> <strong>duale</strong> <strong>Erklärung</strong> <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong><br />
- <strong>Eine</strong> theoretische und empirische Spurensuche<br />
D I S S E R T A T I O N<br />
der Universität St. Gallen,<br />
Hochschule für Wirtschafts-,<br />
Rechts- und Sozialwissenschaften (HSG)<br />
zur Erlangung der Würde einer<br />
Doktorin der Wirtschaftswissenschaften<br />
vorgelegt <strong>von</strong><br />
Judith Schütz<br />
<strong>von</strong><br />
Sumiswald (Bern)<br />
Genehmigt auf Antrag der Herren<br />
Prof. Dr. Kuno Schedler<br />
und<br />
Prof. Dr. Johannes Rüegg-Stürm<br />
Dissertation Nr. 2916<br />
Difo-Druck GmbH, Bamberg 2004
<strong>Die</strong> Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften<br />
(HSG) gestattet hiermit die Drucklegung der vorliegenden<br />
Dissertation, ohne damit zu den darin ausgesprochenen Anschauungen<br />
Stellung zu nehmen.<br />
St. Gallen, den 4. Mai 2004<br />
Der Rektor:<br />
Prof. Dr. Peter Gomez
Ihr in neuer Verwirrung Eures Verständnisses.<br />
Ich in neuem Verständnis meiner Verwirrung.<br />
nach Robert Graves
VORWORT<br />
<strong>Die</strong>se Dissertation ist die Geschichte einer zweifachen Entdeckung. Zum<br />
Ersten war es die Entdeckung der Praxis. Am Anfang des Forschungsprojekts<br />
hatte ich nur eine vage Vorstellung da<strong>von</strong>, was ich „da draussen“ im<br />
Forschungsfeld vorfinden werde. Doch Schritt für Schritt hat sich mir diese<br />
Praxis geöffnet und ist (be-)greifbar geworden. <strong>Die</strong> zweite Entdeckung fand<br />
während des Schreibens der Dissertation statt. Dabei ging es um die Frage,<br />
ob und wie ich das gesammelte Material „da drinnen“ in meiner<br />
Forschungsdatenbank zu einer sinnvollen theoretischen Arbeit verdichten<br />
kann. Das war die zweite Entdeckung, die Entdeckung der Theorie.<br />
Doch eigentlich gab es keine Entdeckungen, sondern immer nur mehr oder<br />
weniger sinnvolle und akzeptable Unterstellungen: Erstens unterstellte ich,<br />
dass ich mit einer geeigneten Forschungsmethode Zugang zu der Praxis des<br />
Forschungspartners erhalten kann. Zweitens unterstellte ich dieser erlebten<br />
Praxis theoretische Konzepte. So ist die vorliegende Dissertation denn<br />
eigentlich die Chronik <strong>von</strong> Entdeckungen, die in meinen Unterstellungen im<br />
Grunde bereits vorweggenommen worden waren.<br />
Natürlich sind es nicht allein meine Entdeckungen und meine Unterstellungen.<br />
Vielmehr sind es Materialisierungen eines kollektiven Prozesses, an dem eine<br />
Vielzahl <strong>von</strong> Menschen Teil hatten. Und diesen Menschen möchte ich danken<br />
für ihren Beitrag zu dem, was hier nun in Form meiner Dissertation vorliegt.<br />
Zunächst einmal sind da die Menschen im Forschungsfeld. Ohne ihre Neugier,<br />
Offenheit und Bereitschaft hätten meine Unterstellungen keine Projektionsfläche<br />
gefunden. Mein Dank geht an sie alle, namentlich unseren Sponsor<br />
Herrn Paul Müller und unsere Gatekeeperin Frau Léontine Steens.<br />
<strong>Die</strong> beiden Referenten, Prof. Dr. Kuno Schedler und Prof. Dr. Johannes<br />
Rüegg-Stürm, wussten stets treffsicher, wann und wo sie mir ihre Kritik, aber<br />
auch ihre Unterstützung anzubieten hatten. Für ihre fordernde und fördernde<br />
Begleitung meiner theoretischen und empirischen Entdeckungsreise bin ich<br />
ihnen dankbar.<br />
v
In den Entdeckungszusammenhang dieser Dissertation gehören ferner:<br />
Alexandra Baudenbacher, Daniel Beyeler, Udo Fischer, Anna Heydenreich,<br />
Judith Mühlbach, Anita Rüegsegger, Regula Ruflin, Esther Wyss, Barbara<br />
Zutter Baumer und ganz besonders Achim Bossler. Sie alle waren mir<br />
während meiner Forschungs- und Dissertationszeit wichtige Weggefährten.<br />
Danke, dass ihr es mit mir ausgehalten habt!<br />
St. Gallen, im Juli 2004 Judith Schütz<br />
vi
INHALTSVERZEICHNIS<br />
EINLEITUNG..................................................................................................... 1<br />
TEIL I: EINE THEORIE DER THEORIE...................................................... 5<br />
1 Wissenschaft nach der pluralistischen Wende................. 7<br />
1.1 Paradigmen in der Wissenschaft ........................................... 7<br />
1.2 Prämissen des relational-konstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramms.................................................... 11<br />
1.2.1 Grundannahmen ...................................................... 12<br />
1.2.2 Gütekriterien............................................................. 18<br />
1.3 Zusammenfassung: <strong>Eine</strong> Theorie der Theorie..................... 22<br />
2 Forschungsmethodik......................................................... 25<br />
2.1 Forschungsmethodische Implikationen................................ 25<br />
2.2 Longitudinale Prozessforschung.......................................... 28<br />
2.2.1 Beschreibung der longitudinalen<br />
Prozessforschung..................................................... 29<br />
2.2.2 Verwandte Forschungsmethoden ............................ 31<br />
2.2.2.1 Case Study Research ................................................31<br />
2.2.2.2 Ethnographie..............................................................33<br />
2.2.2.3 Aktionsforschung........................................................36<br />
2.3 Zusammenfassung: Vorgehensheuristik.............................. 39<br />
TEIL II: EINE THEORIE DER PRAXIS....................................................... 41<br />
3 <strong>Organisation</strong>stheorie <strong>als</strong> eine Theorie der Praxis .......... 42<br />
3.1 <strong>Organisation</strong>stheorie: <strong>Eine</strong> Bestandesaufnahme................. 43<br />
3.2 Postmoderne Entwicklung der <strong>Organisation</strong>stheorie ........... 46<br />
3.2.1 Postmodern? <strong>Eine</strong> Begriffsklärung........................... 46<br />
3.2.2 Postmodernes <strong>Organisation</strong>sverständnis ................ 47<br />
3.3 Zusammenfassung: Der Verlust der Gewissheit.................. 57<br />
vii
4 Konturen einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> .......... 61<br />
4.1 Kernbegriffe einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> ........... 62<br />
4.1.1 Strukturen und Prozesse.......................................... 62<br />
4.1.2 Politik und Macht...................................................... 67<br />
4.1.2.1 Politik..........................................................................69<br />
4.1.2.2 Macht .........................................................................74<br />
4.1.2.3 Politik und Macht:<br />
<strong>Eine</strong> relational-konstruktivistische (Re-)Definition......79<br />
4.1.3 Zusammenfassung: Das Grundgerüst<br />
einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> .................... 83<br />
4.2 Bausteine einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>............... 86<br />
4.2.1 <strong>Die</strong> Theorie der Strukturierung <strong>von</strong> Giddens............ 87<br />
4.2.1.1 Kernaussagen der Theorie der Strukturierung...........88<br />
4.2.1.2 Relational-konstruktivistische Würdigung<br />
der Theorie der Strukturierung ...................................96<br />
4.2.2 <strong>Die</strong> Sozialpsychologie des Organisierens<br />
<strong>von</strong> Hosking und Morley......................................... 101<br />
4.2.2.1 Kernaussagen der Sozialpsychologie des<br />
Organisierens...........................................................102<br />
4.2.2.2 Relational-konstruktivistische Würdigung<br />
der Sozialpsychologie des Organisierens ................106<br />
4.2.3 <strong>Die</strong> Zwänge kollektiven Handelns<br />
<strong>von</strong> Crozier und Friedberg ..................................... 108<br />
4.2.3.1 Kernaussagen des Spiel-Konzepts..........................111<br />
4.2.3.2 Relational-konstruktivistische Würdigung<br />
des Spiel-Konzepts ..................................................119<br />
5 <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong>............................... 124<br />
5.1 Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> Konzept<br />
einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>.............................. 124<br />
5.2 Kernelemente des <strong>Handlungssystem</strong>s .............................. 129<br />
5.2.1 Verhandlungsprozess des Organisierens .............. 129<br />
5.2.2 Strukturmodalitäten des Organisierens.................. 131<br />
5.2.3 Bezugsfähigkeiten des Organisierens.................... 133<br />
5.3 Zusammenfassung:<br />
<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> ................................... 138<br />
viii
TEIL III: SPUREN DER THEORIE IN DER PRAXIS................................. 143<br />
6 <strong>Die</strong> Erforschung der Praxis............................................. 145<br />
6.1 Forschungsdesign und -prozess<br />
des Dissertationsprojekts................................................... 145<br />
6.1.1 Forschungsziel, Forschungsfragen,<br />
Forschungsteam..................................................... 145<br />
6.1.2 Forschungsort und zeitlicher Bezugsrahmen......... 147<br />
6.1.3 Forschungsprozess................................................ 148<br />
6.1.4 Feldbeziehungen und Forschungstechniken ......... 155<br />
6.1.5 Dokumentation ....................................................... 158<br />
6.1.6 Ausarbeitung und Plausibilisierung ........................ 162<br />
6.2 Fragen an die Praxis.......................................................... 165<br />
7 Der Kontext <strong>von</strong> Helvetia Patria ..................................... 170<br />
7.1 Externer Kontext: <strong>Die</strong> Versicherungsbranche.................... 170<br />
7.1.1 Versicherungen <strong>als</strong> Gefahrengemeinschaft ........... 170<br />
7.1.2 Auf der Suche nach einem neuen<br />
Selbstverständnis................................................... 171<br />
7.2 Interner Kontext: Firmenprofil <strong>von</strong> Helvetia Patria ............. 173<br />
7.2.1 Zahlenmässige Eckwerte ....................................... 175<br />
7.2.1.1 Eckwerte des Schweizer Versicherungsmarkts .......175<br />
7.2.1.2 Eckwerte der Helvetia Patria Gruppe.......................177<br />
7.2.1.3 Eckwerte der Helvetia Patria Schweiz .....................178<br />
7.2.2 Leitbild und Strategie.............................................. 179<br />
7.2.3 Chronologie der Firmenentwicklung....................... 182<br />
7.2.3.1 Das Projekt SABA....................................................184<br />
7.2.3.2 Das Projekt Tempo ..................................................186<br />
7.2.3.3 Das Projekt Dynamo ................................................191<br />
8 Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria ................... 196<br />
8.1 Beschreibung des <strong>Handlungssystem</strong>s............................... 197<br />
8.1.1 Externer Kontext..................................................... 199<br />
8.1.2 Strukturmodalitäten ................................................ 202<br />
8.1.2.1 Interpretative Schemata...........................................202<br />
8.1.2.2 Normen ....................................................................206<br />
ix
8.1.2.3 Ressourcen..............................................................208<br />
8.1.2.4 Zusammenfassung...................................................211<br />
8.1.3 Bezugsfähigkeiten.................................................. 212<br />
8.1.3.1 (Re-)Konstruktionsfähigkeit......................................212<br />
8.1.3.2 Rationalisierungsfähigkeit ........................................215<br />
8.1.3.3 Routinisierungsfähigkeit...........................................216<br />
8.1.3.4 Zusammenfassung...................................................218<br />
8.1.4 Verhandlungsprozess des Organisierens .............. 219<br />
8.1.4.1 Kognitive Prozesse ..................................................219<br />
8.1.4.2 Politische Prozesse..................................................221<br />
8.1.4.3 Soziale Praktiken .....................................................222<br />
8.1.4.4 Zusammenfassung...................................................223<br />
8.1.5 Dialectic of Control ................................................. 224<br />
8.1.5.1 Abhängigkeiten im <strong>Handlungssystem</strong>......................225<br />
8.1.5.2 Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s .....................229<br />
8.2 Historische Rekonstruktion des <strong>Handlungssystem</strong>s .......... 234<br />
8.2.1 Das Projekt SABA .................................................. 234<br />
8.2.1.1 Auslöser und Ziele ...................................................234<br />
8.2.1.2 Prozess ....................................................................236<br />
8.2.1.3 Schlussfolgerungen..................................................241<br />
8.2.2 Das Projekt Tempo................................................. 243<br />
8.2.2.1 Auslöser und Ziele ...................................................243<br />
8.2.2.2 Prozess ....................................................................245<br />
8.2.2.3 Schlussfolgerungen..................................................249<br />
8.3 Intervention und Veränderung des <strong>Handlungssystem</strong>s ..... 252<br />
8.3.1 Das Projekt Dynamo .............................................. 253<br />
8.3.1.1 Auslöser und Ziele ...................................................253<br />
8.3.1.2 Prozess und Ergebnisse ..........................................255<br />
8.3.1.3 Schlussfolgerungen..................................................259<br />
8.4 Zukünftige Entwicklung des <strong>Handlungssystem</strong>s................ 264<br />
TEIL IV: SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR THEORIE UND PRAXIS ....... 269<br />
9 <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong>:<br />
Schlussfolgerungen......................................................... 271<br />
9.1 Theoretische Bedeutung.................................................... 271<br />
9.2 Praktische Implikationen .................................................... 274<br />
x
ANHANG ..................................................................................................... 279<br />
Anhang A: Glossar der theoretischen Begriffe .................... 279<br />
Anhang B: Liste der analysierten Dokumente<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria ............................................... 289<br />
Anhang C: Liste der Forschungsaktivitäten<br />
bei Helvetia Patria ................................................ 291<br />
Anhang D: Exkurs zur Versicherungsbranche..................... 295<br />
D.1 Versicherung <strong>als</strong> integrierte <strong>Die</strong>nstleistung........................ 295<br />
D.2 Versicherungsbranche im Wandel ..................................... 297<br />
D.2.1 Deregulierung <strong>als</strong> Treiber des Wandels................. 298<br />
D.2.1.1 Deregulierung auf europäischer Ebene ...................298<br />
D.2.1.2 Deregulierung auf Schweizer Ebene........................300<br />
D.2.2 Konsequenzen der Deregulierung ......................... 304<br />
D.2.3 Blick in die Zukunft ................................................. 305<br />
D.2.3.1 Entwicklung des Versicherungsmarkts ....................305<br />
D.2.3.2 Entwicklung der Versicherungsleistung ...................306<br />
LITERATURVERZEICHNIS .......................................................................... 309<br />
xi
ABBILDUNGSVERZEICHNIS<br />
Abbildung 1: Aufbau der Dissertation ........................................................... 3<br />
Abbildung 2: Einheit in der Wissenschaft.................................................... 10<br />
Abbildung 3: Grundannahmen des relational-konstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramms...................................................... 13<br />
Abbildung 4: Gütekriterien der interpretativen Wissenschaftstheorie ......... 19<br />
Abbildung 5: Plausibilisierungsmatrix ......................................................... 20<br />
Abbildung 6: Eckpunkte der relational-konstruktivistischen<br />
Forschungsmethodik.............................................................. 25<br />
Abbildung 7: Perspektiven der longitudinalen Prozessforschung............... 29<br />
Abbildung 8: Vorgehensheuristik der Prozessforschung ............................ 39<br />
Abbildung 9: Überblick über traditionelle <strong>Organisation</strong>stheorien ................ 44<br />
Abbildung 10: Eckpfeiler eines postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnisses<br />
....................................................................... 49<br />
Abbildung 11: Vergleich <strong>von</strong> verschiedenen Politik-Begriffen....................... 70<br />
Abbildung 12: Vergleich <strong>von</strong> verschiedenen Macht-Begriffen ...................... 76<br />
Abbildung 13: Politik und Macht <strong>als</strong> soziale Fähigkeiten .............................. 79<br />
Abbildung 14: Zusammenhang <strong>von</strong> Politik, Macht und Herrschaft ............... 81<br />
Abbildung 15: Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>............. 83<br />
Abbildung 16: Dualität <strong>von</strong> Struktur .............................................................. 89<br />
Abbildung 17: Dimensionen <strong>von</strong> Struktur...................................................... 91<br />
Abbildung 18: Relational-konstruktivistische Überarbeitung der<br />
Dimensionen und Dualität <strong>von</strong> Struktur ................................. 98<br />
Abbildung 19: Vermittlungsfunktion der Strukturmodalitäten...................... 100<br />
Abbildung 20: <strong>Die</strong> drei Elemente des Verhandlungsprozesses des<br />
Organisierens....................................................................... 104<br />
Abbildung 21: Verhandlungsprozess des Organisierens <strong>als</strong><br />
Vermittler zwischen Struktur und Handlung......................... 107<br />
Abbildung 22: Das Spiel <strong>als</strong> Mechanismus sozialer Organisierung............ 116<br />
Abbildung 23: Ermöglichende und einschränkende Funktion der<br />
Bezugsfähigkeiten................................................................ 118<br />
xiii
Abbildung 24: Bezugsfähigkeiten <strong>als</strong> weiteres Element der<br />
Vermittlung zwischen Struktur und Handlung ...................... 120<br />
Abbildung 25: Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> Konzept einer<br />
<strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>......................................... 127<br />
Abbildung 26: Macht und Politik <strong>als</strong> Grundlage des Vermittlungsprozesses<br />
zwischen Struktur und Handlung im<br />
<strong>Handlungssystem</strong>................................................................. 128<br />
Abbildung 27: Verhandlungsprozess des Organisierens............................ 130<br />
Abbildung 28: <strong>Die</strong> drei Dimensionen <strong>von</strong> Strukturmodalitäten.................... 132<br />
Abbildung 29: <strong>Die</strong> drei Dimensionen <strong>von</strong> Bezugsfähigkeiten ..................... 134<br />
Abbildung 30: Mix und Zusammenspiel der Bezugsfähigkeiten ................. 135<br />
Abbildung 31: Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> rekursive Erzeugung<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>.................................................................. 141<br />
Abbildung 32: <strong>Organisation</strong> des Forschungsprojekts ................................. 146<br />
Abbildung 33: Zeitplan des Forschungsprojekts ......................................... 149<br />
Abbildung 34: Forschungsphasen und Forschungsfokus des<br />
Forschungsprojekts.............................................................. 150<br />
Abbildung 35: Forschungsaktivitäten je Forschungsphase......................... 152<br />
Abbildung 36: Forschungstechniken je Phase............................................ 157<br />
Abbildung 37: Struktur des Forschungsprotokolls ...................................... 159<br />
Abbildung 38: Eintrag in der Forschungsdatenbank ................................... 161<br />
Abbildung 39: Fragenraster zum theoretischen Bezugsrahmen................. 167<br />
Abbildung 40: Fragenraster zu relevanten Themen und Ereignissen......... 168<br />
Abbildung 41: Codierschema zur Auswertung des<br />
empirischen Materi<strong>als</strong> .......................................................... 168<br />
Abbildung 42: Versicherungslogik versus Wirtschaftslogik......................... 172<br />
Abbildung 43: Rechtsstruktur der Helvetia Patria Gruppe .......................... 174<br />
Abbildung 44: Prämien nach Hauptbranchen<br />
Versicherungsmarkt Schweiz............................................... 176<br />
Abbildung 45: Konzentration im Schweizer Versicherungsmarkt ............... 176<br />
Abbildung 46: Entwicklung Prämienvolumen Helvetia Patria<br />
Gruppe und Schweiz............................................................ 177<br />
Abbildung 47: Entwicklung Beschäftigungszahlen Helvetia Patria<br />
Gruppe und Schweiz............................................................ 178<br />
xiv
Abbildung 48: Prämien nach Hauptbranchen Helvetia Patria Schweiz ...... 178<br />
Abbildung 49: Verteilung Leben-Prämien Helvetia Patria Schweiz ............ 179<br />
Abbildung 50: Verteilung der Nichtleben-Prämien<br />
Helvetia Patria Schweiz ....................................................... 179<br />
Abbildung 51: Strategische Erfolgspotenziale Helvetia Patria Schweiz...... 181<br />
Abbildung 52: Strategische Stossrichtung der Helvetia Patria Schweiz ..... 181<br />
Abbildung 53: Von der Partnerschaft zur Holding....................................... 183<br />
Abbildung 54: Projektziele <strong>von</strong> Tempo ....................................................... 187<br />
Abbildung 55: <strong>Die</strong> drei Handlungsfelder <strong>von</strong> Tempo .................................. 188<br />
Abbildung 56: <strong>Organisation</strong>sstruktur nach Tempo...................................... 190<br />
Abbildung 57: Ziele des Projekts Dynamo .................................................. 191<br />
Abbildung 58: <strong>Die</strong> 12 Dynamo-Programme ................................................ 193<br />
Abbildung 59: <strong>Organisation</strong>sstruktur nach Dynamo.................................... 194<br />
Abbildung 60: Rekonstruktion und Interpretation<br />
des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria......................... 197<br />
Abbildung 61: Erkundung des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria ...... 198<br />
Abbildung 62: Kontext des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria ........... 201<br />
Abbildung 63: Strukturmodalitäten des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria............................................................... 211<br />
Abbildung 64: Bezugsfähigkeiten des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria............................................................... 219<br />
Abbildung 65: Verhandlungsprozesse des Organisierens<br />
des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria......................... 224<br />
Abbildung 66: Empirische Evidenz des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria............................................................... 225<br />
Abbildung 67: Einfluss der Strukturmodalitäten .......................................... 226<br />
Abbildung 68: Einfluss der Bezugsfähigkeiten............................................ 227<br />
Abbildung 69: Einfluss des Verhandlungsprozesses des Organisierens.... 228<br />
Abbildung 70: Entwicklungstendenz des <strong>Handlungssystem</strong>s ..................... 230<br />
Abbildung 71: Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria.. 231<br />
Abbildung 72: <strong>Die</strong> Anfänge des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria.... 241<br />
Abbildung 73: <strong>Die</strong> Verfestigung des <strong>Handlungssystem</strong>s durch Tempo...... 250<br />
Abbildung 74: Veränderungsimpulse <strong>von</strong> Dynamo auf<br />
das <strong>Handlungssystem</strong>.......................................................... 261<br />
xv
Abbildung 75: Erneuerungsfähigkeit <strong>als</strong> Gleichgewicht zwischen<br />
politischen Prozessen und machtvollen Strukturen ............. 276<br />
Abbildung 76: Das 3-Ebenen-Konzept des Versicherungsprodukts........... 296<br />
Abbildung 77: Drei Etappen auf dem Weg zum EU-<br />
Versicherungsbinnenmarkt .................................................. 299<br />
Abbildung 78: Deregulierungsschritte in der Schweizer Assekuranz.......... 302<br />
Abbildung 79: Konsequenzen der Deregulierung ....................................... 304<br />
Abbildung 80: Blick in die Zukunft der Assekuranz..................................... 306<br />
xvi
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS<br />
A Kundenbereich Anlage<br />
AD Aussendienst<br />
CH Schweiz<br />
CHF Schweizer Franken<br />
EU Europäische Union<br />
e&VP Marktbereich e-Business/Vertragspartner<br />
GA Generalagentur<br />
HPV Helvetia Patria Versicherungen<br />
HS Hauptsitz<br />
ID Innendienst<br />
KB Kundenbereich<br />
L Leben<br />
MB Marktbereich<br />
NL Nichtleben<br />
Marktbereich Nichtleben<br />
PG Kundenbereich Privatpersonen/Gewerbe<br />
U Kundenbereich Unternehmen<br />
VM Vertriebsmanagement<br />
VP Kundenbereich Vertragspartner<br />
Marktbereich Vorsorge Privat<br />
VU Marktbereich Vorsorge Unternehmen<br />
xvii
ANMERKUNG<br />
<strong>Die</strong> vorliegende Dissertation handelt <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Nicht <strong>von</strong> der<br />
<strong>Organisation</strong> oder <strong>von</strong> den <strong>Organisation</strong>en, sondern <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> - auch<br />
wenn sie manchmal <strong>von</strong> der oder <strong>von</strong> den <strong>Organisation</strong>en spricht.<br />
Das ist ein feiner, aber weit reichender Unterschied.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong>(en) (mit Artikel, Einzahl oder Mehrzahl) steht für das, was<br />
einem üblicherweise in den Sinn kommt, wenn man das Wort liest: ein<br />
Unternehmen, eine Verwaltung, ein Verein. Kurz: ein Gebilde, eine handfeste<br />
Tatsache. Etwas, das wahrnehmbar ist <strong>als</strong> eigenständiges Objekt und<br />
<strong>Organisation</strong> genannt wird, weil es eine <strong>Organisation</strong> hat.<br />
<strong>Organisation</strong> (ohne Artikel, stets in Einzahl) steht für das, was sich hinter der<br />
<strong>Organisation</strong> verbirgt. Es ist ein Geschehen, ein Prozess und hat keine<br />
objektive Existenz ausserhalb dieses Geschehens. <strong>Organisation</strong> besteht nur<br />
im kontinuierlichen Vollzug, <strong>Organisation</strong> wird.<br />
<strong>Die</strong>ser kontinuierliche Vollzug <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> geschieht in organisationalen<br />
Prozessen. Damit sind nicht die Geschäftsprozesse des Business Process<br />
Reengineering gemeint. Der hier verwendete Prozessbegriff hat keinen<br />
organisatorischen Aspekt (Ablauforganisation), sondern einen zeitlichen. Mit<br />
dem Begriff Prozess sind temporalisierte soziale Ereignissequenzen gemeint,<br />
das heisst die historische Abfolge <strong>von</strong> Ereignissen, Kommunikationen und<br />
Interaktionen im kontinuierlichen Alltagsstrom der organisationalen Wirklichkeit<br />
(vgl. dazu den Prozessbegriff <strong>von</strong> Van de Ven 1992, S. 170).<br />
Soweit zu der grundlegenden Betrachtungsperspektive der vorliegenden<br />
Dissertation. Weitere theoretische Begriffsbestimmungen finden sich im<br />
Glossar in Anhang A.<br />
xix
EINLEITUNG<br />
<strong>Die</strong>se Dissertation ist Teil des Forschungsprojekts Learning Dynamics 1 , das<br />
unter der Leitung <strong>von</strong> Prof. Dr. Johannes Rüegg-Stürm vom Herbst 1998 bis<br />
Ende 2001 am Institut für Betriebswirtschaft der Universität St. Gallen geplant<br />
und durchgeführt worden ist.<br />
Das Ziel des Forschungsprojekts war es, eine Antwort auf die Frage zu finden,<br />
was <strong>Organisation</strong>en erneuerungsfähig macht, denn in Zeiten der „hypercompetition“<br />
ist die fortlaufende dynamische Erneuerung zu einem zentralen<br />
Faktor für den Erfolg und den längerfristigen Bestand jeder <strong>Organisation</strong><br />
geworden (Ilinitch/D'Aveni/et al. 1996).<br />
Aus dem Forschungsprojekt sind insgesamt fünf Dissertationen entstanden,<br />
die sich aus je einer anderen Perspektive mit der Beantwortung dieser Frage<br />
befasst haben. 2 <strong>Die</strong> vorliegende Dissertation hat sich auf die Suche nach den<br />
Wurzeln <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> gemacht. Denn um die Frage zu beantworten, was<br />
<strong>Organisation</strong>en erneuerungsfähig macht, muss zuerst mal geklärt werden, wie<br />
<strong>Organisation</strong> überhaupt entsteht und wie sie sich reproduziert bzw. erneuert.<br />
Aus diesem gewonnenen Verständnis können dann Hinweise darauf abgeleitet<br />
werden, was <strong>Organisation</strong>en erneuerungsfähig macht.<br />
Aus einer relational-konstruktivistischen Perspektive ist dabei <strong>von</strong> zwei<br />
grundlegenden Annahmen auszugehen: Erstens, dass <strong>Organisation</strong>en nicht<br />
gemacht werden, sondern sich selber machen. Zweitens, dass <strong>Organisation</strong>en<br />
nicht einfach sind, sondern kontinuierlich werden. 3 Es braucht demnach eine<br />
<strong>Erklärung</strong>, die <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> rekursives Phänomen organisierten Handelns<br />
deutet. <strong>Die</strong> theoretische Suche richtet sich somit auf die realitätsschaffenden<br />
und realitätserhaltenden Prozesse des Organisierens. Dabei müssen strukturdeterministische<br />
und handlungsvoluntaristische Elemente berücksichtigt und in<br />
einem integrierten theoretischen Ansatz miteinander verwoben werden. Das<br />
Ergebnis wird eine <strong>duale</strong> Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> sein, die sowohl die<br />
1 Für eine allgemeine Beschreibung des Forschungsprojekts vgl. Learning Dynamics 1999.<br />
2<br />
Neben der vorliegenden Dissertation sind das: Fischer 2002, Mühlbach 2003, Schumacher 2003<br />
und Young 2003.<br />
3<br />
Vgl. dazu die Ausführungen zum verwendeten <strong>Organisation</strong>sbegriff in der Anmerkung auf Seite<br />
xix oder im Glossar in Anhang A.<br />
1
EINLEITUNG<br />
Kontingenz <strong>als</strong> auch die Zwangsläufigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> beschreibt und<br />
erklärt.<br />
<strong>Die</strong> Lösung, die die vorliegende Dissertation vorschlägt, liegt darin,<br />
<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> zu verfassen. Kernstück dieses theoretischen<br />
Denkmodells ist der kontinuierliche, rekursive Vermittlungsprozess<br />
zwischen Struktur und Handlung. In dem Zwischenraum zwischen Struktur<br />
und Handlung entfaltet sich der gesamte organisationale Möglichkeitsraum.<br />
<strong>Die</strong> Strukturierung und Strukturiertheit dieses Möglichkeitsraums setzen die<br />
Bedingungen für das Entstehen und Bestehen und letztlich auch für die<br />
Erneuerung und Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Das Konzept des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s bietet eine <strong>Erklärung</strong> dafür an, wie diese Strukturierung<br />
und Strukturiertheit des organisationalen Möglichkeitsraums theoretisch gedacht<br />
werden kann. Jenseits aller Patentrezepte erhält man so ein tiefer<br />
gehendes Verständnis dafür, wie <strong>Organisation</strong>en funktionieren und gewinnt<br />
neue Einsichten zur Frage, was die Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en<br />
ausmacht.<br />
<strong>Die</strong> Dissertation ist wie folgt aufgebaut (vgl. Abbildung 1):<br />
• Teil I<br />
Beschreibung der wissenschaftstheoretischen und forschungsmethodischen<br />
Grundlagen.<br />
• Teil II<br />
Entwicklung einer theoretischen Skizze <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong><br />
<strong>Handlungssystem</strong>, die erklärt, wie <strong>Organisation</strong> rekursiv aus dem<br />
Vermittlungsprozess zwischen Struktur und Handlung entsteht<br />
und besteht.<br />
• Teil III<br />
Beschreibung der empirischen Suche nach Spuren eines<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s und Präsentation der Ergebnisse.<br />
• Teil IV<br />
Theoretische und praktische Schlussfolgerungen für die<br />
Erneuerung und Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en.<br />
2
Teil / Kapitel<br />
Einleitung<br />
Teil I:<br />
1<br />
<strong>Eine</strong><br />
Theorie der<br />
Theorie 2<br />
Teil II:<br />
<strong>Eine</strong><br />
Theorie der<br />
Praxis<br />
Teil III:<br />
Spuren der<br />
Theorie in<br />
der Praxis<br />
Teil IV:<br />
Schlussfolgerungen<br />
Anhang<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
Forschungs-<br />
methodik<br />
Forschungsmethodische<br />
Grundlagen<br />
Forschungsdesign<br />
Verzeichnis der<br />
Dokumente und<br />
Forschungsaktivitäten<br />
Wissenschafts-<br />
theorie<br />
3<br />
<strong>Organisation</strong>s-<br />
theorie<br />
Ziel und Aufbau der Dissertation<br />
Wissenschaftstheoretische<br />
Ausrichtung<br />
<strong>Organisation</strong>stheoretische<br />
Fundierung<br />
<strong>Organisation</strong><br />
<strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong><br />
Theoretische<br />
Bedeutung<br />
Glossar der<br />
theoretischen<br />
Begriffe<br />
Abbildung 1: Gliederung und Inhalt der Dissertation<br />
EINLEITUNG<br />
<strong>Organisation</strong>spraxis<br />
Das <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong><br />
Helvetia Patria<br />
Praktische<br />
Implikationen<br />
Exkurs zur<br />
Versicherungsbranche
EINLEITUNG<br />
Lesern und Leserinnen, die eher ein praxisorientiertes und weniger ein<br />
wissenschaftliches Interesse haben, werden folgende Kapitel empfohlen:<br />
Kapitel 5, 7, 8 und 9.2. Unter Zuhilfenahme des theoretischen Glossars in<br />
Anhang A sollte es ihnen möglich sein, sich auch ohne die vorgängige Lektüre<br />
der einleitenden wissenschafts- und organisationstheoretischen Kapitel im<br />
Konzept des <strong>Handlungssystem</strong>s zurecht zu finden.<br />
Kommentare und Feedback erreichen die Autorin dieser Dissertation per E-<br />
Mail unter folgender Adresse: judith.schuetz@alumni.unisg.ch.<br />
4
TEIL I: EINE THEORIE DER THEORIE<br />
<strong>Die</strong> Zukunft der Geisteswissenschaften liegt<br />
in einer neuen Form <strong>von</strong> Transdisziplinarität,<br />
deren Gegenstand die kulturelle Form der Welt<br />
und die Anstrengung sind,<br />
sich dieser Form wissenschaftlich zu vergewissern.<br />
5<br />
Jürgen Mittelstrass<br />
Wissenschaft ist keine Einheit und demzufolge gibt es auch keine<br />
Einheitswissenschaft (Spinner 1974; Primas 1992; Mittelstrass 1998; Küppers<br />
2000). Das heisst, dass sich Wissenschaft nicht einheitlich und linearkumulativ<br />
entwickelt, sondern in Brüchen und entlang verschiedenster<br />
Paradigmen (Kuhn 1962). Der Entscheid für eines dieser wissenschaftstheoretischen<br />
Paradigmen ist eine originäre Wahl, für die es keine<br />
Letztbegründung geben kann (Lakatos 1974).<br />
Das bedeutet jedoch nicht, dass „anything goes“ 4 ! Jedes wissenschaftstheoretische<br />
Paradigma 5 ist ein mehr oder weniger geschlossenes Set <strong>von</strong><br />
aufmerksamkeits- und handlungsleitenden Grundsätzen, die dem wissenschaftlichen<br />
Arbeiten einen gewissen Entwicklungskorridor abstecken (vgl.<br />
z.B. Dachler 1997a). Theorien können nur im Rahmen dieses Entwicklungskorridors<br />
konsistent erarbeitet werden und jegliche Forschungsmethode kann<br />
4<br />
Feyerabend (1975), auf den diese Aussage zurückgeht, wollte damit zum Ausdruck bringen, dass<br />
es keine privilegierte (Wissenschafts-)Theorie gibt, sondern nur die Wissenschafterin oder die<br />
Praktikerin alleine in ihrer konkreten Situation entscheiden kann, welche theoretischen Bezüge<br />
geeignet sind, ihr Denken und Handeln zu leiten.<br />
5<br />
Der Begriff Paradigma war in den letzten Jahren einem inflationären Gebrauch unterworfen, ohne<br />
dass er dabei gleichzeitig eine inhaltliche Klärung erfahren hat (vgl. Aretz 1990, S. 81f). Im<br />
Rahmen dieser Dissertation wird unter Paradigma folgendes verstanden: „… the basic belief<br />
system or worldview that guides the investigator, not only in choices of method but in<br />
ontologically and epistemologically fundamental ways.“ (Guba/Lincoln 1998, S. 195)
WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />
sich nur mit Bezug auf die zugrunde liegenden wissenschaftstheoretischen<br />
Grundlagen rechtfertigen. 6 Wissenschaft ist demnach kontextabhängig.<br />
Aufgabe des Teil I ist es, den wissenschaftstheoretischen Kontext der<br />
Dissertation einzugrenzen und zu beschreiben. Es wird <strong>als</strong>o gewissermassen<br />
die Theorie der Theorie diskutiert. Das in Teil I dargelegte wissenschaftstheoretische<br />
Paradigma bildet das Grundgerüst, auf dem in der Folge die<br />
Theorieentwicklung des Teils II und die empirische Forschungsarbeit des Teils<br />
III aufbauen.<br />
6 <strong>Die</strong>se Zusammenhänge zwischen wissenschaftstheoretischen Grundannahmen und Forschungsmethode<br />
zeigen verschiedene Autoren anschaulich auf, so z.B. Arbnor/Bjerke 1997 oder<br />
Slife/Williams 1995.<br />
6
1 WISSENSCHAFT NACH DER<br />
PLURALISTISCHEN WENDE<br />
7<br />
PARADIGMEN IN DER WISSENSCHAFT<br />
In diesem Kapitel geht es darum, die grundlegenden Perspektiven und<br />
Fragestellungen eines relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms<br />
einzuführen.<br />
1.1 Paradigmen in der Wissenschaft<br />
Marquard (2000) postuliert, dass es einen „Pluralismus der Wissenschaftskulturen“<br />
7 geben muss, denn jede Wissenschaftskultur hat zwangsläufig blinde<br />
Flecken, die zu Problemverlusten führen. Ein Pluralismus der Wissenschaftskulturen<br />
hilft, diese blinden Flecken durch einen Perspektivenwechsel zu<br />
erhellen. <strong>Die</strong> Reduktionskultur (der exakten Naturwissenschaften) ruft eine<br />
Kontinuitätskultur (der Sozial- und Geisteswissenschaften) auf den Plan, um<br />
das wieder in die Wissenschaft einzuschliessen, was durch die<br />
Reduktionskultur ausgeklammert worden ist: 8 „[W]as in der Laborwelt ausgeklammert<br />
werden muss, um zu messen und zu experimentieren, nämlich die<br />
Traditionen und Geschichten, halten die Geisteswissenschaften fest: durch die<br />
Kontinuitätskultur, indem sie jene Geschichten - Sensibilisierungsgeschichten,<br />
Bewahrungsgeschichten, Orientierungsgeschichten - erzählen, ohne die die<br />
Menschen austauschbare Erfahrungsobjekte statt ganze Menschen sind:<br />
Kittelträger in der Laborwelt statt Geschichtenbetroffene in der Lebenswelt.“<br />
(Marquard 2000, S. 63)<br />
7<br />
Der Begriff der Wissenschaftskulturen geht zurück auf Charles P. Snow, The Two Cultures and a<br />
Second Look. An Expanded Version of the Two Cultures and the Scientific Revolution.<br />
Cambridge 1964. Im Rahmen dieser Dissertation wird der Begriff der Wissenschaftskulturen<br />
gleich gesetzt mit dem Begriff des Wissenschaftsparadigma (vgl. Fussnote 5).<br />
8<br />
Mittelstrass (1982) macht Marquard den Vorwurf, den engstirnigen Monismus der <strong>von</strong> den<br />
Naturwissenschaften dominierten Wissenschaft in einen naiven Dualismus übergeführt zu haben,<br />
in denen die Geistes- und Sozialwissenschaften ihren Platz nicht mit eigenem Recht, sondern<br />
lediglich <strong>als</strong> kompensierendes Komplement zu den Naturwissenschaften einnehmen. Im weiteren<br />
kritisiert Mittelstrass, dass die übliche Zweiteilung der Wissenschaft (hier die<br />
Naturwissenschaften mit ihrem positiven Verfügungswissen, dort die Geistes- und<br />
Sozialwissenschaften mit ihrem regulativen Orientierungswissen) so nicht haltbar ist und<br />
höchstens analytisch begründet werden kann. Ich folge Mittelstrass mit beiden Kritikpunkten.<br />
Dennoch sind die (provokanten) Thesen Marquards interessant, vor allem wenn sie weniger unter<br />
dem Gesichtspunkt einer Kompensationstheorie der Geistes- und Sozialwissenschaften<br />
betrachtet, sondern mehr <strong>als</strong> Aufruf zu einer Multiperspektive in den Wissenschaften ganz<br />
allgemein verstanden werden.
WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />
Ist nun aber Geschichten erzählen Wissenschaft? Marquard ist der Meinung:<br />
Ja 9 . Und wenn es Stimmen gibt, die dagegen reden, so spricht das nach<br />
Marquard nicht gegen das Erzählen, sondern gegen ein derart eng gefasstes<br />
Wissenschaftsverständnis. Wissenschaftspluralismus ist notwendig, damit die<br />
Wissenschaft der Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit der Natur- und Lebenswelten<br />
angemessen begegnen kann.<br />
Das Auftauchen und die Verbreitung dieses neuen Wissenschaftsverständnisses<br />
(vgl. Kuhn 1962; Feyerabend 1975) hat eine pluralistische<br />
Wende 10 in der Wissenschaftstheorie eingeläutet. In der wissenschaftlichen<br />
Landschaft des 21. Jahrhunderts herrscht ein Paradigmen-Pluralismus. <strong>Die</strong><br />
übliche Einteilung der Wissenschaftskulturen in eine positivistische und eine<br />
interpretative Wissenschaftstheorie 11 hat dabei höchstens analytischen<br />
Charakter. Allein unter dem Begriff der interpretativen Wissenschaftstheorie<br />
(die hier im Rahmen dieser Dissertation interessiert) sind eine Vielzahl <strong>von</strong><br />
untereinander sehr unterschiedlichen Paradigmen zusammengefasst (vgl. z.B.<br />
Guba/Lincoln 1998).<br />
Wer heute wissenschaftlich arbeitet oder Ergebnisse wissenschaftlicher<br />
Arbeiten verwendet, tut gut daran sich bewusst zu machen, innerhalb <strong>von</strong><br />
welchem Wissenschaftsparadigma er oder sie sich bewegt - denn das<br />
Paradigma hat entscheidende Auswirkungen darauf, wie Wissenschaft sich<br />
selbst und ihre Ergebnisse versteht. „These ideas have the most profound<br />
implications for the way we view and conduct science, for they emphasize that<br />
science is basically a process of interaction, or better still, of engagement.<br />
9<br />
Und mit ihm viele andere Autoren, so z.B. Kubicek 1977; Morgan 1980; Geertz 1983; Tsoukas<br />
1989; Weick 1989b; Whetten 1989; Astley/Zammuto 1992; Tuchman 1994; Watson 1994; Van<br />
Maanen 1995b; Arbnor/Bjerke 1997; Kieser 1997.<br />
10<br />
In diesem Zusammenhang wird häufig auch <strong>von</strong> der erkenntnistheoretischen Wende, der<br />
interpretativen Wende, der postmodernen Wende oder dem linguistic turn gesprochen. Ich ziehe<br />
jedoch den Begriff der pluralistischen Wende vor, weil dadurch deutlich wird, dass es sich nicht<br />
bloss um einen Wechsel <strong>von</strong> einem wissenschaftlichen Monismus hin zu einem Dualismus<br />
handelt. Es haben sich nämlich unter dem Oberbegriff der positivistischen bzw. der<br />
interpretativen Wissenschaftstheorie nicht nur zwei, sondern eine Vielzahl <strong>von</strong> neuen<br />
wissenschaftstheoretischen Prämissen entwickelt (vgl. z.B. alleine die unterschiedlichen Formen<br />
des Konstruktivismus, dargestellt in Kieser 1999a, oder die unterschiedlichen Radikalität des<br />
postmodernen Verständnisses, dargestellt in Kilduff/Mehra 1997).<br />
11<br />
<strong>Die</strong> beiden Wissenschaftstheorien werden üblicherweise wie folgt charakterisiert (vgl. z.B.<br />
Putman 1983; Lamnek 1988; Schwandt 1998):<br />
positivistische Wissenschaftstheorie: objektivistisch, nomothetisch, ahistorisch, experimentell<br />
interpretative Wissenschaftstheorie: konstruktivistisch, idiographisch, historisierend,<br />
ethnographisch<br />
8
9<br />
PARADIGMEN IN DER WISSENSCHAFT<br />
Scientists engage a subject of study by interacting with it through means of a<br />
particular frame of reference, and what is observed and discovered in the<br />
object (i.e. its objectivity) is as much a product of this interaction and the<br />
protocol and technique through which it is operationalized as it is of the object<br />
itself. Moreover, since it is possible to engage an object of study in different<br />
ways - just as we might engage an apple by looking at it, feeling it, or eating it -<br />
we can see that the same object is capable of yielding many different kinds of<br />
knowledge. This leads us to see knowledge as a potentiality resting in an<br />
object of investigation and to see science as being concerned with the<br />
realization of potentialities - of possible knowledges.” (Morgan 1983, S. 13)<br />
Sich und anderen darüber Rechenschaft abzulegen, im Rahmen <strong>von</strong> welchem<br />
Wissenschaftsparadigma gearbeitet wird, ist deshalb eine Grundvoraussetzung<br />
dafür, um erstens überhaupt in einen wissenschaftlichen Dialog<br />
eintreten zu können und zweitens die wissenschaftlichen Aussagen und<br />
Ergebnisse angemessen beurteilen zu können.<br />
<strong>Die</strong> verschiedenen Wissenschaftsparadigmen sind untereinander jedoch<br />
häufig widersprüchlich bis unvereinbar. 12 Kuhn (1962) spricht <strong>von</strong> der<br />
Inkommensurabilität der Paradigmen. Für den Fall, dass zwei<br />
inkommensurable Paradigmen miteinander in Konkurrenz stehen, gibt es nach<br />
Kuhn keine Kriterien, mit denen die Vorzüge des einen Paradigmas gegenüber<br />
dem anderen objektiv gemessen oder begründet werden könnten. Lakatos<br />
(1974) spricht vom „harten Kern“ eines Wissenschaftsparadigmas, dessen<br />
theoretische Prämissen nicht in Frage gestellt werden können. <strong>Die</strong> Wahl eines<br />
Wissenschaftsparadigmas kann demnach nicht durch ein systematisches<br />
Entscheidungsverfahren erfolgen, sondern ist ein originärer Entscheid der<br />
Wissenschafterin. Für diesen Entscheid gibt es keine Letztbegründung, nur<br />
„gute, evidente und nachvollziehbare Gründe“ (Rüegg-Stürm 2001, S. 16).<br />
Jede wissenschaftliche Arbeit muss daher immer mit einer „reflexiven<br />
Selbstbeschreibung“ (vgl. Chia 1996b) anfangen, das heisst der detaillierten<br />
12 Vgl. z.B. die unvereinbaren Paradigmen des radikalen und des relationalen Konstruktivismus, die<br />
jedoch beide unter die interpretative Wissenschaftstheorie fallen. Während der radikale<br />
Konstruktivismus <strong>von</strong> einer individualistisch-kognitiven Konstruktion der sozialen Welt ausgeht<br />
(vgl. z.B. <strong>von</strong> Glasersfeld 1995), betont der relationale Konstruktivismus im Gegenteil gerade ihre<br />
kollektiv-soziale Dimension (vgl. z.B. Burr 1995; Gergen 2002). Im Englischen haben sich daher<br />
für den Begriff Konstruktivismus zwei unterschiedliche Bezeichnungen herausgebildet:<br />
constructivism für seine individualistisch-kognitive Erscheinungsform und constructionism für<br />
seine kollektiv-soziale Erscheinungsform.
WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />
und begründeten Darlegung des verfolgten Wissenschaftsprogramms. Über<br />
die Wahl und die guten Gründe der wissenschaftstheoretischen Prämissen der<br />
vorliegenden Dissertation wird das folgende Kapitel 1.2 Auskunft geben.<br />
Auch wenn es mittlerweile offensichtlich geworden sein muss, dass es keine<br />
Einheitswissenschaft (mehr) gibt, so gibt es doch eine Einheit in der<br />
Wissenschaft. Mittelstrass nennt sie die „methodische Einheit“ (1998, S. 35ff).<br />
Das heisst, dass jedes Wissenschaftsparadigma in sich eine Einheit ist.<br />
Wissenschaftstheoretische Prämissen, theoretischer Bezugsrahmen und<br />
Forschungsmethodik eines Wissenschaftsparadigmas bauen aufeinander auf<br />
und bilden ein mehr oder weniger geschlossenes Wissenschaftsprogramm<br />
(vgl. Abbildung 2). In diesem Sinne verstanden formt jedes Wissenschaftsparadigma<br />
je eine methodische Einheit der Wissenschaft. Wir können <strong>als</strong>o<br />
genau genommen nicht <strong>von</strong> der Einheit der Wissenschaft reden, sondern nur<br />
<strong>von</strong> den Einheiten.<br />
Wissenschaftsprogramm<br />
A<br />
Forschungsmethodik<br />
(Prozess und<br />
Techniken)<br />
Theoretischer<br />
Bezugsrahmen<br />
(anwendungsorientierte<br />
Theorien, Konzepte<br />
oder Modelle)<br />
Wissenschaftstheoretische Prämissen<br />
(Epistemologie, Ontologie)<br />
Abbildung 2: Einheit in der Wissenschaft<br />
10<br />
Wissenschaftsprogramm<br />
X<br />
In den meisten wissenschaftlichen Methodenwerken ist dieser Zusammenhang<br />
kurz andiskutiert, doch nicht immer wird der Tragweite dieser<br />
Verschränkung - insbesondere zwischen Wissenschaftstheorie und<br />
Forschungsmethodik - in voller Konsequenz Rechnung getragen. 13<br />
13<br />
Vgl. dazu exemplarisch den Austausch <strong>von</strong> Eisenhardt (1989, 1991) mit Dyer und Wilkins (1991)<br />
zum Thema Case Study Research.
PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />
Für die vorliegende Dissertation soll die Einheit des gewählten relationalkonstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramms wie folgt dargelegt und<br />
eingehalten werden:<br />
• Wissenschaftstheoretische Prämissen<br />
Sie sind die ontologischen und epistemologischen Grundannahmen<br />
wissenschaftlichen Arbeitens. 14 <strong>Die</strong> wissenschaftstheoretischen<br />
Prämissen der vorliegenden Dissertation werden<br />
in Kapitel 1.2 offen gelegt.<br />
• Theoretischer Bezugsrahmen<br />
Er umfasst die anwendungsorientierten Theorien und Konzepte<br />
und konkretisiert die wissenschaftstheoretischen Prämissen<br />
hinsichtlich ihrer Bedeutung für praktische Phänomene des<br />
Alltags. Der organisationstheoretische Bezugsrahmen der vorliegenden<br />
Dissertation wird in Teil II hergeleitet.<br />
• Forschungsmethodik<br />
Sie umfasst alle im Rahmen der wissenschafts- und<br />
anwendungstheoretischen Prämissen und Konzepte legitimen<br />
und akzeptierten Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten der<br />
Forschung sowie die dabei einsetzbaren Instrumente. <strong>Die</strong><br />
forschungsmethodischen Grundlagen der vorliegenden<br />
Dissertation werden in Kapitel 2 und das konkrete Vorgehen in<br />
Kapitel 6 beschrieben.<br />
1.2 Prämissen des relationalkonstruktivistischenWissenschaftsprogramms<br />
Der Pluralismus der Wissenschaftsparadigmen bedeutet Freiraum und Zwang<br />
zugleich für die Wissenschafterin. Freiraum, weil der Pluralismus ihr die Wahl<br />
des Wissenschaftsprogramms offen lässt. Zwang, weil die Wissenschafterin<br />
sich für ein Wissenschaftsprogramm entscheiden muss, um überhaupt<br />
14 Ontologie ist die Lehre <strong>von</strong> dem, wie die Realität ist, <strong>als</strong>o vom Sein. Was in der Ontologie<br />
interessiert, sind die Zustände und die beschreibenden Attribute der Wirklichkeit. Epistemologie<br />
ist die Lehre <strong>von</strong> der Entstehung <strong>von</strong> Erkenntnis, <strong>als</strong>o vom Werden. Was in der Epistemologie<br />
interessiert, sind die Prozesse und die benutzten Unterscheidungen, aus denen Wissen sich<br />
formt.<br />
11
WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />
arbeitsfähig zu sein. „It is only when commitments are made to a given<br />
theoretical perspective … that research can be mounted and methods<br />
selected.” (Gergen/Thatchenkery 1996, S. 363)<br />
<strong>Die</strong> vorliegende Dissertation reiht sich ein in die Tradition der Universität<br />
St. Gallen, <strong>Organisation</strong>en <strong>als</strong> soziale Systeme zu verstehen und unter dieser<br />
Prämisse zu forschen. Daraus erwachsen zwei fundamentale Konsequenzen:<br />
Erstens verlangt der systemische Ansatz, eine strikt relationale Perspektive<br />
einzunehmen, das heisst <strong>Organisation</strong>en <strong>als</strong> Abfolge <strong>von</strong> sozialen Prozessen<br />
zu betrachten, und nicht <strong>als</strong> formale Struktur, konstituiert durch<br />
Organigramme, Aufgabenbeschreibungen, Prozesshandbücher und ähnliches.<br />
Zweitens folgt daraus, <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> sozial konstruiert zu betrachten, das<br />
heisst <strong>als</strong> ein Phänomen, das keine objektive, unabhängige Bedeutung hat<br />
ausserhalb des Kontexts der sozialen Prozesse, die das Phänomen<br />
<strong>Organisation</strong> begründen und reproduzieren. <strong>Die</strong>se beiden Prämissen bilden<br />
die wissenschaftstheoretischen Eckpunkte der vorliegenden Dissertation. Das<br />
Wissenschaftsprogramm der Dissertation wird deshalb relationalkonstruktivistisches<br />
Wissenschaftsprogramm genannt. Im folgenden Kapitel<br />
1.2.1 werden die wissenschaftstheoretischen Grundannahmen dieses<br />
relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms 15 genauer vorgestellt.<br />
1.2.1 Grundannahmen<br />
<strong>Die</strong> Inhalte des relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms<br />
lassen sich am besten anhand der Gegenüberstellung und Diskussion<br />
verschiedener Begriffspaare deutlich machen (vgl. Abbildung 3). <strong>Die</strong>se<br />
Grundannahmen stellen den „harten Kern“ (Lakatos 1974) des relationalkonstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramms dar. Sie können nicht anhand<br />
<strong>von</strong> externen, objektiven Kriterien begründet, sondern nur plausibel und<br />
nachvollziehbar dargelegt werden.<br />
15 Es versteht sich aufgrund der vorangehenden Ausführungen, dass das relationalkonstruktivistische<br />
Wissenschaftsprogramm unter den Oberbegriff der ‚interpretativen<br />
Wissenschaftstheorie’ fällt.<br />
12
PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />
Epistemologie<br />
Bedeutung<br />
Relationen<br />
Reflexivität<br />
Rekursivität<br />
... statt ...<br />
13<br />
Ontologie<br />
Fakten<br />
Entitäten<br />
Rationalität<br />
Kausalität<br />
Abbildung 3: Grundannahmen des relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms<br />
Epistemologie statt Ontologie<br />
<strong>Die</strong> wohl grundlegendste Entscheidung bzw. Unterscheidung, die ein<br />
Wissenschaftsprogramm charakterisiert, ist diejenige, worauf sich das<br />
Erkenntnisinteresse des Wissenschaftsprogramms richtet, bzw. welche<br />
Qualität dem Gegenstand des Erkenntnisinteresses zugeschrieben wird.<br />
Das relational-konstruktivistische Wissenschaftsprogramm nimmt in dieser<br />
Frage eine Position ein, die Luhmann <strong>als</strong> „De-ontologisierung der Realität“<br />
beschreibt (1990a, S. 37). 16 Ontologische Vorstellungen und Betrachtungen<br />
sind demnach völlig uninteressant, weil die ontologische Unterscheidung<br />
Sein/Nichtsein ins Leere greift: In einer Welt, die sozial konstruiert ist, und<br />
deren Phänomene nur eingebettet in sozialen Prozessen eine Bedeutung<br />
gewinnen, sind keine eindeutigen ontologischen Aussagen über eben diese<br />
Phänomene möglich.<br />
Nach Vaassen (1996) wird in einem relational-konstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramm die ontologische Frage nach dem „So-Sein“ der<br />
Wirklichkeit abgelöst durch die epistemologische Frage nach den Prozessen<br />
des Konstruierens der Wirklichkeit. Im Zentrum steht <strong>als</strong>o nicht mehr das Was<br />
der Erkenntnis, sondern das Wie des Erkennens - oder wie Bardmann (1997,<br />
S. 9) es formuliert: Wissenschaft wendet ihren Blick auf den „Erzeugungs-,<br />
Hervorbringungs- und Härtungsprozess individueller wie sozialer<br />
Wirklichkeiten“.<br />
16 Für eine kurze Definition der beiden Begriffe Epistemologie und Ontologie vgl. Fussnote 14.
WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />
Als Schlussfolgerung heisst das, dass das relational-konstruktivistische<br />
Wissenschaftsprogramm die traditionelle Trennung zwischen Subjekt und<br />
Objekt, zwischen Mensch und Welt, zwischen Wissen und Wirklichkeit aufgibt.<br />
In Umkehrung <strong>von</strong> Popper (1973) gilt im relational-konstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramm vielmehr: es gibt kein Wissen ohne wissendes<br />
Subjekt.<br />
<strong>Die</strong>se Haltung hat weitreichende Konsequenzen, die in den nachfolgenden<br />
vier Begriffspaaren näher erläutert werden.<br />
Bedeutung statt Fakten<br />
Sobald <strong>von</strong> der Vorstellung abgerückt wird, dass Wissen objektive Gültigkeit<br />
hat und haben kann, erscheint Wissenschaft in einem völlig neuen Licht. <strong>Die</strong><br />
traditionelle wissenschaftliche Maxime, dass stringente Methoden pure Daten<br />
erzeugen und aus puren Daten objektives Wissen erwächst, gilt nicht mehr.<br />
Daten haben keine Faktizität und daher kann Wahrheit nicht methodologisch<br />
begründet werden. Jede Beobachtung <strong>von</strong> Fakten ist zwangsläufig „theorieimprägniert“<br />
(Chalmers 1994, S. 38f). Theorien entstehen nicht nur aus<br />
Beobachtungen, sondern gehen ihnen auch voraus. Vermeintliche Fakten sind<br />
daher immer schon geladen mit Theorie bzw. Bedeutung. 17<br />
Bardmann macht deutlich, dass es verkürzt wäre, aufgrund der<br />
Theoriegeleitetheit <strong>von</strong> Wahrnehmung und Beobachtung nun einfach darauf<br />
zu schliessen, dass Fakten nicht objektiv, sondern subjektiv sind. <strong>Eine</strong> solche<br />
Vorstellung würde geradewegs in einen methodologischen Individualismus<br />
münden. „<strong>Die</strong> Wirklichkeit ist damit nicht einfach nur subjekt- oder<br />
beobachterabhängig, sie ist beobachtungsabhängig, das meint abhängig <strong>von</strong><br />
den jeweils hier und jetzt aktuell benutzten Unterscheidungen und<br />
Bezeichnungen!“ (Bardmann 1997, S. 10) Fakten entstehen demnach nicht<br />
individualistisch-kognitiv, sondern in sozialen Prozessen der Interpretation,<br />
und sind damit Symbole kollektiv geteilter Bedeutungsinhalte. Sie können nicht<br />
verdinglicht und subjektiviert werden, sondern haben einen inhärent prozess-<br />
17 <strong>Die</strong> reine Vorstellung einer „Grounded Theory“ (Glaser/Strauss 1967), einer Forschungsmethodik,<br />
die regelmässig mit der interpretativen Wissenschaftstheorie in Verbindung gebracht<br />
wird, ist demzufolge nicht haltbar. Grounded Theory ermöglicht nicht wie gemeinhin behauptet<br />
die Überwindung der objektivistischen Engführung der positivistischen Wissenschaftsprogramme,<br />
sondern perpetuiert sie sogar noch, weil die Grounded Theory implizit <strong>von</strong> einem <strong>von</strong> objektiven<br />
Fakten getriebenen Erkenntnisinteresse ausgeht.<br />
14
PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />
und kontexthaften Charakter. 18 Ein relational-konstruktivistisches Wissenschaftsverständnis<br />
ist daher nicht an Fakten an sich interessiert, sondern an<br />
den Bedeutungsinhalten, die diesen Fakten in sozialen Prozessen der<br />
Interpretation zugeschrieben werden.<br />
Relationen statt Entitäten<br />
Das bisher Gesagte legt nahe, endgültig Abschied zu nehmen <strong>von</strong> einer<br />
materiellen Vorstellung <strong>von</strong> Wirklichkeit und <strong>von</strong> einer subjektzentrierten<br />
Vorstellung <strong>von</strong> Erkenntnis. Nicht Entitäten (Objekt, Subjekt) sind<br />
massgebend, sondern deren Einbettung in den kollektiven Weltentwurf: „Wenn<br />
Zeit und Raum Koordinaten oder Ordnungsprinzipien unseres Erlebens sind,<br />
dann können wir uns Dinge jenseits der Erlebenswelt überhaupt nicht<br />
vorstellen, denn Form, Struktur, Ablauf <strong>von</strong> Vorgängen und Anordnung<br />
irgendwelcher Art sind ohne dieses Koordinatensystem im wahrsten Sinne des<br />
Wortes undenkbar." (<strong>von</strong> Glasersfeld 1991, S. 23). Wirklichkeit spannt sich<br />
<strong>als</strong>o auf in einem Koordinatensystem <strong>von</strong> Raum und Zeit und nimmt Form an<br />
durch jeweils spezifische, temporäre Raum-Zeit-Konstellationen (Relationen).<br />
<strong>Die</strong>se Relationen sind offen, das heisst nicht determiniert. Sie entstehen erst<br />
durch die sozialen Prozesse der Interpretation und sie sind vergänglich, das<br />
heisst haben nur Bestand, solange sie in kontinuierlichen Prozessen der<br />
kollektiven Vergewisserung laufend reproduziert werden. Aber dennoch ist die<br />
Wirklichkeit, die daraus entsteht, nicht beliebig. „<strong>Die</strong> konstruierte Wirklichkeit<br />
ist kohärent, weil sie <strong>als</strong> eine bezogene, zusammenhängende Wirklichkeit<br />
konstruiert wird, in der Isoliertes nicht existiert und nicht existieren kann.<br />
Unsere Erfahrungswelt enthält keine Lücken oder weisse Flecken. Immer ist<br />
sie bereits vollständig, kohärent und sinnvoll. Sinn und Bedeutung sind<br />
unteilbar. Menschliches Konstruieren schafft die Welt <strong>als</strong> ein Netz <strong>von</strong><br />
Beziehungen." (Vaassen 1996, S. 65)<br />
18 Im Zusammenhang mit der Symbolhaftigkeit und Interpretationsbedürftigkeit <strong>von</strong> Fakten weisen<br />
Vaassen (1996, S. 25) und <strong>von</strong> Foerster (1997) beide auf eine sonst selten erwähnte, aber im<br />
Rahmen dieser Dissertation äusserst interessante Schlussfolgerung hin: wenn Fakten keine<br />
objektive Geltung haben, dann kann <strong>von</strong> ihnen auch kein Zwang ausgehen und man kann ihnen<br />
daher auch nicht unterworfen sein. Im Gegenteil, der Mensch ist „verdammt dazu frei zu sein“<br />
und selbst verantwortlich für die Weltentwürfe, die sich in den sozialen Prozessen der<br />
Interpretation entfalten. <strong>Die</strong>se Erkenntnis wird an späterer Stelle <strong>von</strong> Bedeutung werden, wenn es<br />
darum geht, die Vorstellung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einem <strong>Handlungssystem</strong> konzeptionell auszuarbeiten<br />
(vgl. Kapitel 4 und 5).<br />
15
WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />
Ein relational-konstruktivistisches Wissenschaftsprogramm ist daher weniger<br />
an einzelnen Akteuren oder Ereignissen der Wirklichkeit interessiert, <strong>als</strong><br />
vielmehr an den kontextuellen und historischen Zusammenhängen (Raum-<br />
Zeit-Konstellationen), die in kollektiven Prozessen der Interpretation um diese<br />
Akteure oder Ereignisse gewoben werden, und die sie dadurch aus dem Fluss<br />
der Wirklichkeit überhaupt erst hervorheben und entstehen lassen.<br />
Reflexivität statt Rationalität<br />
Das bisher Gesagte hat deutlich gemacht, dass Interpretationsprozesse eine<br />
zentrale Rolle einnehmen im Verständnis des relational-konstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramms. Daher muss die Frage interessieren, wonach sich<br />
diese Interpretationsprozesse richten. Was steuert sie und nach welchen<br />
Kriterien?<br />
Im positivistischen Wissenschaftsverständnis regiert die Rationalität. Nach<br />
dieser Vorstellung gibt es den einen besten Weg sowie allgemeingültige,<br />
ahistorische Kriterien, diesen Weg zu finden. Auch wenn der Rationalitätsbegriff<br />
über die Zeit hinweg mehreren Revisionen unterworfen wurde, die<br />
implizite Vorstellung <strong>von</strong> Rationalität <strong>als</strong> einem externen (Wert-)Massstab<br />
wurde dabei nie vollständig aufgegeben (vgl. Becker/Küpper/et al. 1992). <strong>Die</strong><br />
Angst, den Verzicht auf den Rationalitätsbegriff mit unkontrollierbarer<br />
Beliebigkeit und Narretei zu bezahlen, sitzt offenbar tief.<br />
Da Rationalität stets objektivistisch gedacht wird und direkt oder indirekt die<br />
Trennung zwischen Subjekt und Objekt voraussetzt, kann das relationalkonstruktivistische<br />
Wissenschaftsprogramm nicht auf den Rationalitätsbegriff -<br />
revidiert oder nicht - zurückgreifen. Was bietet sich an seiner Stelle an?<br />
<strong>Die</strong> einzige Weise, wie der Mensch im relational-konstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramm Wirklichkeit erfahren und somit auch gestalten kann,<br />
ist stets nur in Relation zu sich selbst und zu anderen. „Konstruieren bringt<br />
eine Welt hervor, zu der wir Stellung nehmen [müssen].“ (Vaassen 1996,<br />
S. 67) Mit diesem Im-Konstruieren-Stellung-nehmen ist die Reflexivität<br />
gemeint. Sie löst im relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramm<br />
die Rationalität ab.<br />
Nach Giddens (1997, S. 36) ist die Reflexivität mit dem Strom des Alltagslebens<br />
verwoben und somit untrennbar verbunden mit jeder Form <strong>von</strong> sozialen<br />
Prozessen. Wo der Rationalitätsbegriff jedoch aufgrund seiner<br />
objektivistischen Belegung zwingend immer nur eine manifeste, diskursive<br />
16
PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />
Form annehmen kann, ist der Reflexivitätsbegriff nicht auf die diskursive<br />
Ebene beschränkt. „Was die Handelnden über ihr Handeln und die<br />
entsprechenden Handlungsgründe wissen - ihre Bewusstheit<br />
(knowledgeability) <strong>als</strong> Handelnde - ist ihnen weitgehend in der Form des<br />
praktischen Bewusstseins präsent. 19 <strong>Die</strong>ses praktische Bewusstsein (practical<br />
consciousness) umfasst all das, was Handelnde stillschweigend darüber<br />
wissen, wie in den Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu verfahren ist,<br />
ohne dass sie in der Lage sein müssten, all dem einen direkten, diskursiven<br />
Ausdruck zu verleihen.“ (Giddens 1997, S. 36)<br />
Kohärenz und Kontinuität entspringt im relational-konstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramm <strong>als</strong>o der Reflexivität der sozialen Prozesse. Ordnung<br />
und Stabilität der sozial konstruierten Wirklichkeit entstehen dadurch, ohne<br />
dass auf den objektivistischen Rationalitätsbegriff zurückgegriffen werden<br />
muss.<br />
Rekursivität statt Kausalität<br />
Fasst man die Kernaussagen der vier voranstehenden Begriffspaare<br />
zusammen, so folgt daraus, dass sich Wirklichkeit und Erkenntnis zirkulär<br />
selbstbegründen (vgl. Bardmann 1997). Für eine weitere zentrale Denkfigur<br />
des positivistischen Wissenschaftsverständnisses ist damit kein Platz mehr im<br />
relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramm: die Kausalität. „Das<br />
Gefüge der Relationen, das unsere Wirklichkeit ausmacht, lässt sich weder<br />
aufknüpfen, analytisch zerlegen in (primär sinnlose) Fragmente, noch lässt<br />
sich ein zeitlicher oder räumlicher Ursprung ausmachen." (Vaassen 1996,<br />
S. 65) Das Kausalitätsdenken, 20 das einen Zusammenhang zwischen Ursache<br />
und Wirkung postuliert, kommt in der Zirkularität und Gleichzeitigkeit (vgl.<br />
Nowotny 1992; Luhmann 1990b) der sozial konstruierten Wirklichkeit nicht<br />
zurecht.<br />
An seine Stelle tritt die Rekursivität. Rekursiv bezeichnet einen Prozess, der<br />
seine Ergebnisse <strong>als</strong> Grundlage für das weitere Prozessieren verwendet. 21<br />
19<br />
Vgl. dazu auch die Unterscheidung zwischen knowledge und knowing, die Cook und Brown<br />
(1999) vorgenommen haben.<br />
20<br />
Wie der Rationalitätsbegriff hat auch der Kausalitätsbegriff im Laufe der Zeit mehrere Revisionen<br />
erfahren (vgl. Wuketits 1981). Über den Verursachungsgedanken ist der Kausalitätsbegriff auch<br />
in seinen revidierten Formen jedoch nie hinausgewachsen.<br />
21<br />
<strong>Eine</strong>n äusserst lesenswerten Artikel zum Thema Rekursivität hat Ortmann (1995b) verfasst.<br />
17
WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />
Das bedeutet nicht nur, dass dieser Prozess seine eigenen Outputs <strong>als</strong> Inputs<br />
verwendet, sondern - und das ist wesentlich entscheidender - dass dieser<br />
Prozess auch die Bedingungen seines Prozessierens selbst erzeugt. Für<br />
soziale Prozesse folgt daraus, dass in und durch ihre Handlungen die<br />
Handelnden die Bedingungen, die ihr Handeln ermöglichen, selbst<br />
(re-)produzieren (vgl. Giddens 1997, S. 52).<br />
Für das relational-konstruktivistische Wissenschaftsprogramm heisst das,<br />
dass mit der Abkehr vom Kausalitätsdenken und somit <strong>von</strong> einem<br />
objektivistischen Handlungsdeterminismus nicht umstandslos in einen<br />
subjektivistischen Handlungsvoluntarismus verfallen werden darf. <strong>Die</strong><br />
Rekursivität sozialer Prozesse umfasst eben beides: Sie sind insofern<br />
determiniert, <strong>als</strong> dass sie auf gewisse Bedingungen der Möglichkeit<br />
angewiesen sind; sie sind jedoch ebenso auch voluntaristisch, indem sie in<br />
ihrem Prozessieren die eigenen Bedingungen der Möglichkeit überhaupt erst<br />
schaffen.<br />
1.2.2 Gütekriterien<br />
<strong>Die</strong> Beschreibung der wissenschaftstheoretischen Grundannahmen im vorangehenden<br />
Kapitel 1.2.1 hat deutlich gemacht, dass Wissenschaft ein völlig<br />
neues Gesicht erhalten hat. Bardmann (1997, S. 7f) sagt dazu:<br />
„Es geht nicht mehr um raum-, zeit- und beobachterunabhängige<br />
Erkenntnisse, sondern ganz im Gegenteil um die Raum-, Zeit- und<br />
Beobachterabhängigkeit allen Erkennens. Das bisher hierarchisch und linear<br />
gedachte Verhältnis zwischen Beobachtungssubjekt und Beobachtungsobjekt<br />
gerät in Bewegung und wird in Richtung Heterarchie und Zirkularität<br />
verschoben. Erkenntnisse gelten nunmehr lokal, nicht mehr global, situativ,<br />
nicht mehr zeitüberdauernd oder gar ewig, operativ, und nicht mehr objektiv<br />
oder gar transzendental.“<br />
Es liegt auf der Hand, dass sich diese grundlegende Perspektivenverschiebung<br />
des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses auch auf die<br />
wissenschaftlichen Gütekriterien auswirkt. <strong>Die</strong> Unterscheidung Wahrheit/Irrtum<br />
des positivistischen Wissenschaftsverständnisses spielt in der interpretativen<br />
Wissenschaftstheorie keine bedeutende Rolle (vgl. Mittelstrass 1998).<br />
Mittelstrass sieht das <strong>als</strong> Vorteil: Da wissenschaftliche Erkenntnis nicht mehr<br />
länger exklusiv an die Kategorien <strong>von</strong> Wahrheit und Irrtum gebunden ist,<br />
machen auch methodologische Einschränkungen, die auf diesen Kriterien<br />
18
PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />
basieren, keinen Sinn und können im Rahmen der interpretativen<br />
Wissenschaftstheorie zu Gunsten eines anderen Regelwerks fallen gelassen<br />
werden. <strong>Die</strong>ses Regelwerk richtet sich nicht mehr nach Wahrheit und Irrtum,<br />
sondern nach neuen Kriterien wie Plausibilität, Authentizität und dem Potenzial<br />
zur kritischen (Selbst-)Reflexion (vgl. Lamnek 1988; Weick 1989b; Mayring<br />
1990; Golden-Biddle/Locke 1993). 22<br />
So formuliert Mayring (1990, S. 104f) sechs Gütekriterien zur Plausibilisierung<br />
der interpretativen Wissenschaft und Forschung (vgl. Abbildung 4):<br />
1) Verfahrensdokumentation<br />
2) Argumentative Interpretationsabsicherung<br />
3) Regelgeleitetheit<br />
4) Nähe zum Gegenstand<br />
5) Kommunikative Plausibilisierung<br />
6) Triangulation<br />
Abbildung 4: Gütekriterien der interpretativen Wissenschaftstheorie<br />
Auf eine Diskussion der sechs Gütekriterien wird an dieser Stelle verzichtet. 23<br />
Statt dessen soll kurz auf ein interessantes Plausibilisierungskonzept <strong>von</strong><br />
Arbnor und Bjerke (1997) eingegangen werden. Ihr Plausibilisierungskonzept<br />
ist insbesondere für ein relational-konstruktivistisches Wissenschaftsprogramm<br />
<strong>von</strong> Bedeutung, weil es dem Prozesscharakter und dem<br />
Alltagsbezug der Forschung Rechnung trägt. Arbnor und Bjerke (1997,<br />
S. 234f) verlangen sozusagen eine vierfache Plausibilisierung. Zum einen<br />
muss sich Wissenschaft nicht nur über ihre Ergebnisse, sondern ebenso über<br />
ihren Prozess bewähren. Zum andern muss Wissenschaft nicht nur in der<br />
22<br />
Entsprechend wird in der interpretativen Wissenschaftstheorie auch nicht mehr <strong>von</strong> der<br />
Validierung der Forschung (einem Kernbegriff der positivistischen Wissenschaftstheorie),<br />
sondern vielmehr <strong>von</strong> der Plausibilisierung gesprochen.<br />
23<br />
In Kapitel 1 wird anhand der Beschreibung des dieser Dissertation zugrunde liegenden<br />
Forschungsprojekts konkret aufgezeigt, wie diese Gütekriterien in ein Forschungsdesign<br />
eingebaut werden können.<br />
19
WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />
wissenschaftlichen Community, sondern ebenso auch im Praxisfeld<br />
Anerkennung finden.<br />
Auf diesen Gedanken aufbauend kann eine Plausibilisierungsmatrix erstellt<br />
werden (vgl. Abbildung 5). Alle vier Plausibilisierungskriterien müssen gleichzeitig<br />
erfüllt sein, wobei jedoch den Plausibilisierungskriterien des Forschungsprozesses<br />
und der Praxisorientierung ein Vorrang zukommt. <strong>Eine</strong> wissenschaftliche<br />
Plausibilisierung ist nur unter dem Vorbehalt erfolgreich, dass<br />
gleichzeitig auch die praxisorientierte Plausibilisierung gelingt. Und eine<br />
Plausibilisierung der Forschungsergebnisse ist nur unter dem Vorbehalt erfolgreich,<br />
dass gleichzeitig auch die Plausibilisierung des Forschungsprozesses<br />
gelingt.<br />
Prozess<br />
Ergebnisse<br />
<strong>Die</strong> praxisorientierte Prozess-<br />
Plausibilisierung erfolgt durch ständigen<br />
sozialen Feedback seitens der Akteure<br />
im Forschungsfeld:<br />
- die Interaktion mit den Forschenden<br />
wird nicht abgebrochen sondern<br />
ausgebaut, und es zeigt sich<br />
- ein zunehmendes Interesse<br />
<strong>Die</strong> praxisorientierte Ergebnis-<br />
Plausibilisierung liegt im Potenzial der<br />
präsentierten Ergebnisse, bei den<br />
Akteuren im Forschungsfeld:<br />
- einen kontroversen, emotionalen<br />
Diskurs auszulösen und in Gang zu<br />
halten, sowie<br />
- Aktionen/Massnahmen zu initiieren<br />
praxisorientiert wissenschaftlich<br />
Abbildung 5: Plausibilisierungsmatrix 24<br />
20<br />
<strong>Die</strong> wissenschaftliche Prozess-<br />
Plausibilisierung verlangt <strong>von</strong> den<br />
Forschenden eine Offenlegung der<br />
Vorgehensweise, der gemachten<br />
Interpretationen und der zeitlichen und<br />
inhaltlichen Entwicklung der Forschungsprozesse<br />
und der Ergebnisse.<br />
<strong>Die</strong> wissenschaftliche Ergebnis-<br />
Plausibilisierung verlangt <strong>von</strong> den<br />
Forschenden, dass sie aufzeigen, in<br />
welcher Art und Weise sich ihre<br />
Erkenntnisse an bereits vorhandenes<br />
Wissen anschliessen bzw. dieses<br />
Wissen erweitern.<br />
Besonders erwähnenswert in dieser Matrix ist das Feld praxisorientierte<br />
Plausibilisierung der Ergebnisse (links unten). Es fällt auf, dass nicht etwa die<br />
24 Nach dem Konzept <strong>von</strong> Arbnor und Bjerke (1997).
PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />
explizite Zustimmung zu den Ergebnissen bzw. die konkrete Umsetzung der<br />
Ergebnisse in Handlungen <strong>als</strong> Plausibilisierungskriterium gelten, sondern ganz<br />
allgemein ein kontroverser, emotionaler Diskurs. Damit ist die Möglichkeit<br />
eröffnet, dass eine emotional gefärbte Ablehnung der Ergebnisse diese<br />
Ergebnisse nicht etwa zwingend verwirft, sondern im Gegenteil gerade<br />
dadurch plausibilisiert.<br />
Auf den ersten Blick scheint das paradox zu sein. <strong>Die</strong> dahinter stehende<br />
Annahme kann jedoch konsistent auf eine Prämisse des relationalkonstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramms zurückgeführt werden.<br />
Menschen haben, wie im Kapitel 1.2.1 dargelegt, ein praktisches Bewusstsein<br />
über die Welt, in der sie sich bewegen. <strong>Die</strong>ses praktische Bewusstsein äussert<br />
sich nicht in expliziten Regeln oder Handlungsanweisungen, sondern eher in<br />
Form <strong>von</strong> implizitem Orientierungswissen, <strong>von</strong> „lokalen Theorien“ (Baitsch<br />
1993). Nach Weick (1989b, S. 526) stellen Forschungsergebnisse, die diesem<br />
praktischen Bewusstsein widersprechen, zuerst einmal eine Störung und<br />
Bedrohung der Ordnung des Alltags dar, die durch die lokalen Theorien<br />
fortlaufend erzeugt wird. Daher wird tendenziell versucht werden, solche<br />
Ergebnisse abzuwehren. Je plausibler und überzeugender die<br />
Forschungsergebnisse im Vergleich zu der bisherigen lokalen Theorie sind,<br />
desto stärker ist die Bedrohung, die da<strong>von</strong> für die Ordnung des Alltags<br />
ausgeht, und desto heftiger wird demnach wahrscheinlich die spontane<br />
emotionale Abwehr der Ergebnisse ausfallen. Daher kann tatsächlich eine<br />
emotional gefärbte Ablehnung ein Hinweis für eine erfolgreiche<br />
Plausibilisierung der Forschungsergebnisse sein. In diesem Fall wird jedoch<br />
der argumentativen Interpretationsabsicherung dieser Ergebnisse (vgl.<br />
Gütekriterien <strong>von</strong> Mayring, Abbildung 4) besondere Sorgfalt und Beachtung<br />
geschenkt werden müssen.<br />
Weitere Überlegungen zur Plausibilisierung werden in Kapitel 6.1.6 angestellt,<br />
wenn das Forschungsdesign des dieser Dissertation zugrunde liegenden<br />
Forschungsprojekts beschrieben wird.<br />
Das Ende des Kapitels 1 ist im Sinn einer Schlussfolgerung nun der Frage<br />
gewidmet, in welcher Form sich - ausgehend <strong>von</strong> den dargelegten<br />
wissenschaftstheoretischen Grundannahmen und Gütekriterien - eine<br />
relational-konstruktivistische Theorie der <strong>Organisation</strong> überhaupt präsentieren<br />
kann. Darauf wird dann in Teil II der Dissertation zurückzugreifen sein.<br />
21
WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />
1.3 Zusammenfassung:<br />
<strong>Eine</strong> Theorie der Theorie<br />
<strong>Die</strong> in Kapitel 1.2.1 eingeführten wissenschaftstheoretischen Grundannahmen<br />
führen zu einer ganz bestimmten Sichtweise, wie die Wirklichkeit <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong>en <strong>als</strong> soziale Systeme im Rahmen wissenschaftlichen Arbeitens<br />
vorausgesetzt werden darf: <strong>Organisation</strong>en <strong>als</strong> soziale Systeme sind<br />
kontingent, 25 aber sie navigieren nicht „am Rande des Chaos“ (vgl. z.B. Marion<br />
1999). Sie zeigen Kontinuität, Kohärenz und Struktur, aber nicht aufgrund<br />
irgendwelcher objektiver Eigenschaften, Kausalitäten oder Determinanten,<br />
sondern <strong>als</strong> Ergebnis ihres selbstreferenzierenden, rekursiven Konstruktionsprozesses.<br />
Es stellt sich nun die Frage, wie in einer solchen Wirklichkeit, die offensichtlich<br />
jeglichen privilegierten Zugang zu sich selbst verwehrt, wissenschaftliche<br />
Theoriebildung überhaupt noch denkbar ist. So kann es nicht verwundern,<br />
wenn vielerorts Unbehagen und Unzufriedenheit über den Stand und den<br />
Nutzen der <strong>Organisation</strong>stheorie laut wird. Für Van Maanen ist es klar, dass<br />
der Stand der heutigen <strong>Organisation</strong>stheorie „is not a symptom of the<br />
problems the field faces but is a cause of such problems." (1995b, S. 139)<br />
Für Astley und Zammuto (1992) kann dieser nicht zufrieden stellende Zustand<br />
nur dadurch überwunden werden, dass die Aufgabe der <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
grundlegend überdacht wird. Der Ruf nach Anwendungsorientierung der<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie darf nicht derart ausgelegt werden, dass die<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie empirisch erarbeitete Lösungen und Instrumente für<br />
spezielle Fragestellungen anbietet, sondern dass die <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
„provides conceptual language that shapes managers’ perceptions and<br />
thoughts, thereby enhancing their problem-solving capabilities.“<br />
(Astley/Zammuto 1992, S. 455)<br />
<strong>Die</strong> Aufgabe der <strong>Organisation</strong>stheorie kann es demnach nicht sein, allgemeingültiges<br />
Wissen und konkrete Handlungsanleitungen zu vermitteln, sondern<br />
das Verständnis für den organisationalen Alltag dadurch zu erhöhen, dass<br />
diesem Alltag eine neue Perspektive bzw. einen neuen Sinn und Bedeutung<br />
25 Kontingent heisst „auch-anders-möglich-sein“, weder notwendig noch unmöglich sein.<br />
<strong>Organisation</strong>en sind genau in diesem doppelten Sinn ebenso ungewiss (nicht notwendig) wie<br />
abhängig (nicht unmöglich). Ungewiss, weil sie weder deterministisch noch voluntaristisch<br />
‚gemacht’ werden können, und abhängig, weil sie nur in Bezug auf ihren Kontext überhaupt einen<br />
Ausdruck bzw. eine Identität finden.<br />
22
ZUSAMMENFASSUNG: EINE THEORIE DER THEORIE<br />
verliehen wird. Theoriebildung ist ein kreativer Akt im wahrsten Sinn des<br />
Wortes: Theorie kreiert Sinn, ist „sensemaking“ (Weick 1989b). <strong>Die</strong> Bausteine<br />
einer derart verstandenen <strong>Organisation</strong>stheorie sind Worte, nicht Zahlen (vgl.<br />
Daft/Wiginton 1979). Und die Ergebnisse präsentieren sich <strong>als</strong> „storytelling“<br />
(Daft 1983), „thick descriptions“ (Geertz 1983), „language game“<br />
(Astley/Zammuto 1992) oder „style“ (Van Maanen 1995b), nicht <strong>als</strong><br />
mathematische Modelle und Wahrscheinlichkeiten. 26<br />
Es ist nicht überraschend, dass diese Art <strong>Organisation</strong>stheorie nicht den<br />
klassischen Regeln der Theoriebildung (vgl. z.B. Whetten 1989) folgt. Sie<br />
bedient sich Bildern und Metaphern (Morgan 1980; Weick 1989b; Kieser<br />
1997). Sie ergibt sich nicht linear aus rigoros verfolgten Methoden, sondern<br />
gewinnt zirkulär Form durch „disciplined imagination“ (Weick 1989b). Und sie<br />
zeichnet sich nicht durch ihre Sparsamkeit (parsimony) an theoretischen<br />
Konzepten und Bezügen aus. Ganz im Gegenteil gewinnt sie an Gehalt durch<br />
die Verknüpfung vieler, auch heterogener Ideen. <strong>Eine</strong> allfällig daraus<br />
resultierende Ambiguität der Aussagen spricht nicht etwa gegen die Theorie,<br />
sondern erhöht die Möglichkeiten ihrer Anwendung in verschiedensten<br />
Kontexten (Astley/Zammuto 1992). Kein Wunder verlangt Bardmann (1997,<br />
S. 11) „die Zulassung bisher verfemter zirkulärer, tautologischer und<br />
paradoxer Aussageformen“ und verorten Kray und Pfeiffer (1991) die<br />
theoretische Qualität <strong>von</strong> Wissenschaft in ihrer „paradoxen Substanz“. 27<br />
Wie ist der praktische Nutzen einer derartigen <strong>Organisation</strong>stheorie zu<br />
veranschlagen? Astley und Zammuto (1992, S. 453) sind der Ansicht, dass<br />
<strong>Organisation</strong>stheorien nicht neues Wissen vermitteln können und sollen,<br />
sondern dass ihr Beitrag darin liegt, dass sie „intelligibility for what is already<br />
26<br />
<strong>Eine</strong> solche Radikalisierung des Theoriebegriffs ist natürlich nicht ohne Widerspruch möglich. In<br />
führenden wissenschaftlichen Zeitschriften kommt es deshalb hin und wieder zu einem<br />
angeheizten verbalen Schlagabtausch (vgl. die folgenden Literaturhinweise):<br />
- storytelling: Eisenhardt 1989, 1991(contra); Dyer/Wilkins 1991 (pro)<br />
- language game: Astley/Zammuto 1992 und Mauws/Phillips 1995 (pro); Donaldson 1992 und<br />
Beyer 1992 (contra)<br />
- style: Pfeffer 1993, 1995 (contra); Van Maanen 1995a, 1995b (pro)<br />
27<br />
Burrell (1997) hat beispielsweise versucht, diesem neuen Verständnis <strong>von</strong> Theorie dadurch<br />
Rechnung zu tragen, dass er die traditionelle Darreichungsform <strong>von</strong> Theorie <strong>als</strong> Buch<br />
aufgebrochen hat. Das Ergebnis besticht zwar nicht durch eine leichte Lesbarkeit, aber macht<br />
dafür die zirkulären Bezüge <strong>von</strong> Theorie umso anschaulicher.<br />
23
WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />
known“ schaffen. 28 <strong>Eine</strong> gute <strong>Organisation</strong>stheorie erkennt man deshalb<br />
gemäss Weick (1989b) nicht daran, dass sie wahr ist, sondern dass sie<br />
Interesse weckt („that’s interesting!“). Entsprechend ist Gergen (1992, S. 210)<br />
der Meinung, dass Theorie nicht stimmen, sondern passen muss, das heisst,<br />
dass Theorie die Praxis nicht abbilden, sondern der Praxis neue (Handlungs)-<br />
Impulse verleihen muss. <strong>Die</strong> wichtigste Funktion der Theorie liegt daher in der<br />
Orientierungsleistung für die Praxis, das heisst in der Klärung der Frage „what<br />
‚the world’ really is and what it consists of“ (Knorr-Cetina 1983, S. 136), denn<br />
nur wer die Welt - bzw. das Phänomen <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> rekursives Element<br />
dieser Welt - versteht, kann sich darin zurechtfinden.<br />
Der theoretische Ausbruch aus dem engen Korsett methodischer Regeln und<br />
Strenge hat jedoch auch seinen Preis: Aufgrund ihrer Raum-, Zeit- und<br />
Beobachtungsabhängigkeit haben derart formulierte <strong>Organisation</strong>stheorien<br />
nurmehr eine begrenzte Reichweite. Sie sind lediglich noch beschränkt übertragbar<br />
und generalisierbar. 29<br />
Soweit an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit organisationstheoretischen<br />
Gedanken. Sie werden wieder aufgenommen, wenn es in Teil II<br />
um die Skizzierung eines postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnisses und der<br />
Herleitung einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> geht.<br />
In einem nächsten Schritt wird im folgenden Kapitel 2 nun die<br />
Forschungsmethodik des relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms<br />
diskutiert.<br />
28<br />
Wird der Begrifflichkeit <strong>von</strong> Mittelstrass (1982) gefolgt, dann heisst das, dass <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
in erster Linie Orientierungswissen statt Verfügungswissen schaffen soll.<br />
29<br />
Da es aus relational-konstruktivistischer Perspektive aber im Grunde genommen gar keine<br />
andere <strong>als</strong> eine raum-, zeit- und beobachtungsabhängige Theorie geben kann, ist das nicht<br />
wirklich ein Nachteil.<br />
24
2 FORSCHUNGSMETHODIK<br />
FORSCHUNGSMETHODISCHE IMPLIKATIONEN<br />
Das im vorangehenden Kapitel skizzierte Bild eines relationalkonstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramms kann wegen der methodischen<br />
Einheit der Wissenschaft (vgl. Abbildung 2) nicht ohne Folgen für die<br />
Forschungsmethodik bleiben. In einem ersten Schritt werden deshalb in<br />
Kapitel 2.1 thesenartig die Eckpunkte einer relational-konstruktivistischen<br />
Forschungsmethodik dargestellt. Es gibt selbstverständlich eine Reihe <strong>von</strong><br />
Forschungsstrategien, die diesen relational-konstruktivistischen Prämissen<br />
genügen (vgl. z.B. Morgan 1983; Bradbury/Bergmann-Lichtenstein 2000). In<br />
Kapitel 2.2 folgt daher die Beschreibung einer ausgewählten relationalkonstruktivistischen<br />
Forschungsmethode, der longitudinalen Prozessforschung,<br />
die die methodische Grundlage des Forschungsprojekts abgibt, auf<br />
dem diese Dissertation aufbaut (vgl. Kapitel 1).<br />
2.1 Forschungsmethodische Implikationen<br />
Jede einzelne wissenschaftstheoretische Prämisse des relationalkonstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramms (vgl. Abbildung 3) hat selbstverständlich<br />
direkte Folgen für das Design eines diesen Prämissen folgenden<br />
Forschungsprogramms. Analog den wissenschaftstheoretischen Prämissen<br />
werden deshalb in diesem Kapitel die forschungsmethodischen Prämissen<br />
eines relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms beschrieben<br />
(vgl. Abbildung 6).<br />
Rekonstruktion<br />
Rekonstruktion<br />
Prozess<br />
Prozess<br />
Dialog<br />
Dialog<br />
Kontext<br />
Kontext<br />
Nähe<br />
Nähe<br />
... ... statt ... ...<br />
25<br />
Beweis<br />
Beweis<br />
Hypothesen<br />
Hypothesen<br />
Instrumente<br />
Instrumente<br />
Ereignisse Ereignisse<br />
Distanz<br />
Distanz<br />
Abbildung 6: Eckpunkte der relational-konstruktivistischen Forschungsmethodik
FORSCHUNGSMETHODIK<br />
Rekonstruktion statt Beweis<br />
Da epistemologische Prozesse statt ontologischer Realitäten das<br />
Erkenntnisinteresse des relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms<br />
sind, kann es in der Forschung nicht mehr um unanfechtbare<br />
Beweise, sondern nur noch um die Sinnhaftigkeit der sozialen Prozesse gehen<br />
(vgl. Kubicek 1977). Forschungsmethodisch steht deshalb die <strong>von</strong><br />
theoretischen Absichten geleitete, ganzheitliche Rekonstruktion des<br />
Forschungsobjekts 30 im Vordergrund. <strong>Die</strong>se Rekonstruktion soll weniger den<br />
Zuwachs an gesichertem, ontologischem Wissen gewährleisten, <strong>als</strong> vielmehr<br />
zu einem vertieften und differenzierten Verständnis der sozialen Prozesse im<br />
Forschungsfeld führen. Das so gewonnene Erfahrungswissen erschliesst neue<br />
Sichtweisen bzw. Sinndeutungen über die sozial konstruierte Wirklichkeit des<br />
Forschungsobjekts und erweitert dadurch das kollektive Handlungsvermögen<br />
in eben dieser Wirklichkeit.<br />
Der relational-konstruktivistische Forschungsprozess greift <strong>als</strong>o nicht auf eine<br />
positivistische „Begründungsmethodologie“ (Kubicek 1977) zurück, sondern<br />
operiert mit einer eigenen „Rekonstruktionsmethodologie“. <strong>Die</strong> vier wichtigsten<br />
Merkmale dieser Rekonstruktionsmethodologie werden nachstehend<br />
beschrieben.<br />
Prozess statt Hypothesen<br />
Im Zentrum der Rekonstruktionsmethodologie steht nicht der Test irgendwelcher<br />
a-priori-Hypothesen, sondern ein explorativer Lernprozess (vgl.<br />
Kubicek 1977; Arbnor/Bjerke 1997; Gill/Johnson 1997). <strong>Die</strong> Rekonstruktionsmethodologie<br />
geht da<strong>von</strong> aus, dass die Forschenden das Objekt ihrer<br />
Forschung (noch) nicht kennen, sondern zuerst einmal durch gezielte<br />
Erfahrungsgewinnung selbst kennen lernen müssen. In einer „iterativen<br />
Heuristik“ (Kubicek 1977) werden deshalb theoriegeleitete Fragen an das<br />
30 Der Begriff „Forschungsobjekt“ ist für ein relational-konstruktivistisches Forschungsprogramm<br />
natürlich völlig unzulänglich. Der englische Begriff der „unit of analysis“ lässt sich leider nicht<br />
angemessen übersetzen. Mangels einer besseren Alternative bleibt nichts anderes übrig, <strong>als</strong> den<br />
Begriff Forschungsobjekt weiterhin zu verwenden. Objekt darf jedoch nicht in einem<br />
positivistischen Sinn verstanden werden, sondern so, wie Glanville (1997, S. 152) das vorschlägt:<br />
„Wenn ich z.B. daran denke, hier ein Objekt zu haben, dann ist es mein ‚subject of attention’, <strong>als</strong>o<br />
der Gegenstand meiner Aufmerksamkeit. Objekte sind insofern immer auch subjektiv. ... Objekte<br />
werden dadurch hergestellt, dass wir mit, vielleicht besser ‚in’ dem Ding sind, uns mit ihm<br />
beschäftigen.“<br />
26
FORSCHUNGSMETHODISCHE IMPLIKATIONEN<br />
Objekt der Forschung gestellt. Durch die Verarbeitung des dabei gewonnenen<br />
Erfahrungswissens wird der theoretische Bezugsrahmen in einem zirkulären<br />
Prozess laufend novelliert und erweitert sowie neue theoriegeleitete Fragen<br />
ausgearbeitet. Daraus entsteht eine kontinuierlich ausdifferenzierte<br />
Rekonstruktion des Forschungsobjekts, die schliesslich die kreative<br />
Umsetzung verdichteter Aussagen in eine erfahrungsgestützte Theorie<br />
ermöglicht.<br />
Heuristisch vorgehen heisst, dass nicht nur die Forschungsfragen, sondern<br />
auch die einzelnen Forschungsaktivitäten nicht im Voraus exakt planbar sind.<br />
Vielmehr ist der Forschungsprozess eine kontinuierliche Re-Evaluation der<br />
ursprünglich formulierten Forschungsfragen und der geplanten Forschungsaktivitäten<br />
in Abstimmung mit dem Fortschritt und den bisherigen Ergebnissen<br />
der Forschung (vgl. Watson 1994).<br />
Dialog statt Instrumente<br />
Der Forschungsprozess wird getrieben <strong>von</strong> Fragen. Doch wie fragt man, wenn<br />
„you know that you don’t know“ (Arbnor/Bjerke 1997)? <strong>Eine</strong><br />
Forschungsmethodik, die Forschung <strong>als</strong> Lernprozess versteht, kann nicht auf<br />
vorstrukturierte Methoden und geschlossene Instrumente zurückgreifen. <strong>Die</strong><br />
sinnhaften Konstruktionsprozesse sozialer Wirklichkeit lassen sich nur durch<br />
ein hermeneutisches, situatives Fragen und durch dialogische Methoden wie<br />
z.B. dem narrativen Interview (vgl. z.B. Froschauer/Lueger 1992) erschliessen.<br />
Der Dialog zwischen den Forschenden und den Menschen im Forschungsfeld<br />
findet <strong>als</strong> doppelter sensemaking-Prozess 31 statt (Weick 1989b): die<br />
Forschenden rekonstruieren im Gespräch die soziale Konstruktion der<br />
Wirklichkeit ihrer Gesprächspartner. Sprache ist demnach sowohl Medium<br />
(sozial konstruierte Wirklichkeit beschreiben bzw. erfragen) wie Ergebnis<br />
(sozial konstruierte Wirklichkeit schaffen bzw. rekonstruieren) der Forschung<br />
(vgl. Burr 1995; Weik 1996) und wird ein zentraler Aspekt des Forschungsprozesses.<br />
Forschung muss sich folglich mit Sprache bzw. Sprechen<br />
befassen. 32<br />
31<br />
Giddens (1984b) spricht in diesem Zusammenhang <strong>von</strong> „double hermeneutics“ und die modernen<br />
Systemtheoretiker nennen das eine „Beobachtung 2. Ordnung“ (vgl. Luhmann 1990a).<br />
32<br />
Zur Bedeutung <strong>von</strong> Sprache für die Forschung findet sich eine dichte sprachtheoretische<br />
Zusammenfassung in Rüegg-Stürm (2001, S. 33ff).<br />
27
FORSCHUNGSMETHODIK<br />
Kontext statt Ereignisse<br />
Soziale Wirklichkeit konstruiert sich nicht voraussetzungslos. Immer wird dabei<br />
auf das Bezug genommen, was bereits ist (vgl. Kieser 1998). <strong>Die</strong> Konstruktion<br />
sozialer Wirklichkeit vollzieht sich somit durch kontinuierliche „Vergewisserung“<br />
dessen, was bisher und weiterhin <strong>als</strong> wirklich und gültig zu betrachten ist<br />
(Rüegg-Stürm 2001, S. 42).<br />
Einzelne Ereignisse der sozialen Wirklichkeit werden dabei nur deshalb zu<br />
Ereignissen, weil sie in diesem Vergewisserungsprozess aus dem stetigen<br />
Strom an sozialem Geschehen herausgehoben und in einen speziellen Sinnzusammenhang<br />
gestellt werden.<br />
<strong>Die</strong>ser Sinnzusammenhang, das heisst der raum-, zeit- und beobachtungsabhängige<br />
Kontext, ist für die relational-konstruktivistische Forschung daher<br />
massgebender <strong>als</strong> einzelne Ereignisse (vgl. Dachler 1992).<br />
Nähe statt Distanz<br />
Wenn sich soziale Wirklichkeit in einem kommunikativen Prozess der<br />
laufenden Vergewisserung vollzieht, so ist eine Rekonstruktion dieser sozial<br />
konstruierten Wirklichkeit nur möglich durch eine Teilhabe an eben diesen<br />
Konstruktions- und Vergewisserungsprozessen. Forschung setzt <strong>als</strong>o Nähe<br />
zum Forschungsobjekt voraus.<br />
Während Nähe in einem positivistischen Forschungsprogramm <strong>als</strong> methodologischer<br />
Verstoss gilt, ist das im relational-konstruktivistischen Forschungsprogramm<br />
eine Voraussetzung der Forschung (Dachler 1997a). Das relationalkonstruktivistische<br />
Wissenschaftsprogramm greift daher auf ethnomethodologische<br />
Forschungsmethoden zurück (Garfinkel 1967; Gellner/Hirsch 2001).<br />
Soweit die Eckpunkte einer relational-konstruktivistischen Forschungsmethodik.<br />
Im Folgenden wird mit der longitudinalen Prozessforschung eine<br />
Forschungsmethode vorgestellt, die diese Prämissen in die Praxis umsetzt.<br />
2.2 Longitudinale Prozessforschung<br />
Wie im vorangehenden Kapitel dargelegt, impliziert das relationalkonstruktivistische<br />
Wissenschaftsprogramm grundsätzlich die Unmöglichkeit,<br />
den Forschungsprozess im Vornherein genau zu strukturieren. Dennoch muss<br />
28
29<br />
LONGITUDINALE PROZESSFORSCHUNG<br />
sich der Forschungsprozess an gewissen Vorgaben orientieren, damit er sich<br />
nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit aussetzt. 33<br />
Pettigrew (1985, 1990, 1992, 1997) hat mit der longitudinalen Prozessforschung<br />
eine Forschungsmethode entwickelt, die ideal zum relationalkonstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramm passt. <strong>Die</strong> konkrete<br />
Ausgestaltung des empirischen Forschungsprojekts, das in Kapitel 1<br />
beschrieben wird, lehnt sich an diese longitudinale Prozessforschung an.<br />
Nachfolgend sollen daher kurz ihre Grundprinzipien skizziert werden. 34<br />
2.2.1 Beschreibung der longitudinalen<br />
Prozessforschung<br />
<strong>Die</strong> longitudinale Prozessforschung ist eine Forschungsmethode zur<br />
Exploration organisationstheoretischer Fragestellungen. Sie gründet in der<br />
Einsicht, dass „theoretically sound and practically useful research ... should<br />
explore the contexts, content, and process ... together with their<br />
interconnections through time.“ (Pettigrew 1990, S. 268)<br />
Kontext<br />
Inhalt<br />
Prozess<br />
Abbildung 7: Perspektiven der longitudinalen Prozessforschung<br />
33 Vgl. das Gütekriterium Regelgeleitetheit in Abbildung 4.<br />
34 <strong>Die</strong> Ausführungen des Kapitels 2.2 stützen sich auf ein Arbeitspapier des Forschungsprojekts<br />
Learning Dynamics (Schütz/Mühlbach 2001).
FORSCHUNGSMETHODIK<br />
Inhalt bezieht sich hier auf das Thema der Forschung im engeren Sinn, das<br />
heisst die eigentliche Forschungsfrage. Um die Forschungsfrage überhaupt<br />
angemessen verstehen und beantworten zu können, müssen neben dem<br />
fachlich-inhaltlichen Aspekt stets auch Kontext und Prozess mit in die<br />
Untersuchung einbezogen werden.<br />
Den Kontext einer <strong>Organisation</strong> einzubeziehen heisst, in einer Mehrebenenanalyse<br />
nicht nur die <strong>Organisation</strong> selbst, sondern auch mögliche<br />
Einwirkungen der organisationalen Umwelt (Wirtschaftspolitik, Branche,<br />
Wettbewerb) bzw. einzelner Teilbereiche der <strong>Organisation</strong> (<strong>Organisation</strong>sstruktur,<br />
Machtverteilung, Entscheidungsprozesse) auf die <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong><br />
Ganzes zu untersuchen.<br />
Den Prozess einer <strong>Organisation</strong> zu berücksichtigen heisst, die historische<br />
Pfadabhängigkeit einer <strong>Organisation</strong> aufzuzeigen, indem organisationale<br />
Ereignisse oder Handlungen in ihrer zeitlichen Abfolge dargestellt und<br />
miteinander verknüpft werden.<br />
Pettigrew betont, dass die longitudinale Prozessforschung keine vorgefertigte<br />
Vorgehensweise ist: „... the real challenge lies in applying this theory of<br />
method. In this kind of research there is no ideal set of procedures, steps, or<br />
rules of application ...“ (1997, S. 342). Er gibt jedoch Hinweise auf<br />
verschiedene Punkte, die bei der Gestaltung des Forschungsprozesses zu<br />
beachten sind (1990, S. 271ff):<br />
a) Wahl des Forschungsorts<br />
<strong>Die</strong> Wahl des Forschungsorts hängt mindestens ebenso <strong>von</strong> sorgfältiger<br />
Planung und bewusster Wahl wie <strong>von</strong> sich zufällig ergebenden Möglichkeiten<br />
und Opportunismus ab. Besonders zu empfehlen sind extreme Situationen<br />
oder kritische Ereignisse, weil sich dort wahrscheinlich besonders dichte<br />
Episoden beobachten lassen. Ebenfalls soll auf Schlüsselorte geachtet<br />
werden, das heisst Forschungsorte, bei denen ein direkter und intensiver<br />
Zugang möglich ist. Ist dieser Erstzugang einmal etabliert, kann <strong>von</strong> dort aus<br />
ein Beziehungsnetzwerk zu der gesamte <strong>Organisation</strong> aufgebaut und der<br />
Forschungsort kontinuierlich ausgedehnt werden.<br />
b) Berücksichtigung <strong>von</strong> Zeit<br />
Zeit ist ein wichtiger Aspekt in der Prozessforschung, denn der gewählte<br />
Zeitabschnitt bzw. die gewählte Forschungsepisode bestimmt automatisch die<br />
30
31<br />
LONGITUDINALE PROZESSFORSCHUNG<br />
Forschungsperspektive. Zeit setzt somit einen Bezugsrahmen, der steuert,<br />
was die Forschenden sehen und wie sie das Gesehene interpretieren. <strong>Die</strong><br />
Definition <strong>von</strong> Anfang und Ende der zu erforschenden Episode ist deshalb <strong>von</strong><br />
grösster Bedeutung.<br />
c) Forschungstechnik und Plausibilisierung<br />
<strong>Die</strong> Prozessforschung arbeitet mit verschiedenen Forschungstechniken<br />
(„triangulated methodology“, Pettigrew 1990, S. 277), wie zum Beispiel<br />
narrativen Interviews, Dokumentenanalyse und teilnehmender Beobachtung.<br />
Zusätzlich finden im Rahmen der Prozessforschung so genannte<br />
Aktionsforschungsworkshops statt. In diesen Workshops präsentieren die<br />
Forschenden den aktuellen (Zwischen-)Stand ihrer Forschungsergebnisse und<br />
machen so die Resultate ihrer Forschung den Menschen im Forschungsfeld<br />
zugänglich. Ausserdem sind diese Aktionsforschungsworkshops ein probates<br />
Mittel zur Plausibilisierung der (vorläufigen) Forschungsergebnisse.<br />
Abschliessend muss festgestellt werden, dass trotz verschiedenster<br />
Publikationen und Konkretisierungen die longitudinale Prozessforschung ein<br />
eher offenes Konzept bleibt. <strong>Die</strong> zukünftige Prozessforscherin tut daher gut<br />
daran, sich neben der Prozessforschung auch noch an anderen, ähnlichen<br />
Forschungsmethoden zu orientieren. Im folgenden Kapitel werden darum drei<br />
Forschungsmethoden beschrieben, die einen vergleichbaren Ansatz haben<br />
wie die longitudinale Prozessforschung und sich ebenfalls gut in das relationalkonstruktivistische<br />
Wissenschaftsprogramm einfügen lassen. Für jede der drei<br />
Forschungsmethoden wird untersucht, was die longitudinale Prozessforschung<br />
<strong>von</strong> der jeweiligen Forschungsmethode lernen kann.<br />
2.2.2 Verwandte Forschungsmethoden<br />
Es gibt drei Forschungsmethoden, die eine enge Verwandtschaft zur<br />
longitudinalen Prozessforschung aufweisen, und daher <strong>als</strong> Ergänzung in<br />
Frage kommen: die Case Study Research, die Ethnographie und die<br />
Aktionsforschung.<br />
2.2.2.1 Case Study Research<br />
<strong>Die</strong> Case Study Research ist eine Forschungsmethode, die in der Literatur<br />
breit behandelt worden ist (vgl. z.B. Yin 1984; Eisenhardt 1989, 1991). Nach<br />
Eisenhardt (1989, S. 534) ist die Case Study Research „a research strategy
FORSCHUNGSMETHODIK<br />
which focuses on understanding the dynamics present within single settings.“<br />
Sie verfolgt <strong>als</strong>o ähnliche Ziele wie die longitudinale Prozessforschung (vgl.<br />
Pettigrew 1990). Es erstaunt deshalb nicht, dass die Case Study Research<br />
über weite Teile hinweg ähnliche Merkmale wie die longitudinale Prozessforschung<br />
aufweist. <strong>Die</strong> Ähnlichkeit zwischen longitudinaler Prozessforschung<br />
und der Case Study Research ist so gross, dass die longitudinale<br />
Prozessforschung häufig selbst der Case Study Research zugeordnet wird<br />
(vgl. Eisenhardt 1989).<br />
Ein direkter Vergleich zwischen der Case Study Research und der<br />
longitudinalen Prozessforschung deckt jedoch einen entscheidenden<br />
Unterschied zwischen diesen beiden Forschungsmethoden auf. Obwohl sich<br />
beide Methoden auf die interpretative Wissenschaftstheorie stützen, gehen sie<br />
<strong>von</strong> unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Prämissen aus: die Case<br />
Study Research verfolgt ein eher ontologisches Erkenntnisinteresse, während<br />
die Prozessforschung deutlich einem epistemologischen Erkenntnisinteresse<br />
verpflichtet ist. 35<br />
<strong>Die</strong>ser Unterschied legt es nahe, die longitudinale Prozessforschung nicht<br />
unter der Case Study Research zu subsumieren, sondern <strong>als</strong> eigenständige<br />
Forschungsmethode zu verstehen. Dennoch sind insbesondere zwei Punkte<br />
aus der Literatur über die Case Study Research auch für die longitudinale<br />
Prozessforschung aufschlussreich:<br />
a) Hinweise für eine Einzelfallstudie<br />
Auch im Rahmen einer Einzelfallstudie darf nicht auf eine komparative<br />
Analyse verzichtet werden. Im Gegensatz zu einer Cross Case Analysis findet<br />
die komparative Analyse bei einer Einzelfallstudie jedoch nicht zwischen zwei<br />
oder mehreren Fallstudien statt, sondern innerhalb desselben Falls, indem<br />
verschiedene Episoden oder Ebenen innerhalb der Einzelfallstudie<br />
miteinander verglichen werden. Eisenhardt nennt dies die “embedded single<br />
case study” (1991, S. 622).<br />
35 Vgl. dazu die Literaturhinweise in Fussnote 13.<br />
32
33<br />
LONGITUDINALE PROZESSFORSCHUNG<br />
b) Hinweise zu Feldnotizen<br />
Nützlich sind auch die Hinweise zum Thema Feldnotizen bei Yin (1984,<br />
S. 98ff):<br />
• Trennen <strong>von</strong> Beobachtung und Interpretation<br />
In den Feldnotizen ist stets auf eine klare Trennung <strong>von</strong><br />
Ursprungsdaten (Beobachtung) und Forschungsergebnissen<br />
(Interpretation) zu achten.<br />
• Führen einer Forschungsdatenbank<br />
Sämtliche Forschungsaktivitäten sind in einer (elektronischen)<br />
Datenbank zu dokumentieren, mit Hilfe derer jederzeit direkt auf<br />
die Feldnotizen zurückgegriffen werden kann. Idealerweise<br />
unterstützt die Datenbank Querweise zwischen den einzelnen<br />
Einträgen, so dass ein roter Faden durch die Datenbank gelegt<br />
werden kann.<br />
• Kategorisieren und Beschlagworten<br />
Feldnotizen sind zu kategorisieren und beschlagworten. Das hilft,<br />
selbst bei grosser Datenmenge einen Überblick über die<br />
Feldnotizen zu erhalten, und unterstützt den gezielten Zugriff auf<br />
Feldnotizen auch in einer späteren Phase bzw. während des<br />
Schreibens der Fallstudie.<br />
• Zwischenergebnisse dokumentieren<br />
Auch allfällige Zwischenergebnisse sind zu dokumentieren und<br />
zu archivieren, damit die Entwicklung der endgültigen<br />
Forschungsergebnisse jederzeit nachvollzogen werden kann.<br />
2.2.2.2 Ethnographie<br />
<strong>Eine</strong> Beziehung zwischen der longitudinalen Prozessforschung und der<br />
Ethnographie herzustellen bietet sich an, weil die Prozessforschung selbst auf<br />
ethnographische Forschungsmethoden (wie z.B. teilnehmende Beobachtung)<br />
zurückgreift.<br />
Ethnographie und Prozessforschung stammen aus zwei völlig<br />
unterschiedlichen Kontexten (Anthropologie einerseits und <strong>Organisation</strong>sforschung<br />
andererseits). Allerdings ist Ethnographie im Rahmen der<br />
<strong>Organisation</strong>sforschung kein neues Thema. Es gibt eine Reihe hervorragender<br />
und viel beachteter Beispiele ethnographischer Forschung in der Organisa-
FORSCHUNGSMETHODIK<br />
tionsliteratur (vgl. z.B. Dalton 1959; Kanter 1977; Barley 1983; Bartunek 1984;<br />
Orr 1996).<br />
<strong>Die</strong> Ethnographie will aus dem sozialen und kulturellen Leben <strong>von</strong><br />
Gemeinschaften und <strong>Organisation</strong>en lernen. 36 „Ethnography generates or<br />
builds theories of cultures - or explanations of how people think, believe, and<br />
behave - that are situated in local time and space.“ (LeCompte/Schensul 1999,<br />
S. 8) Typisch für die ethnographische Forschung ist, dass sie nicht in einer<br />
kontrollierten Laborsituation stattfindet, sondern die Forschenden Gast sind im<br />
Alltag des Forschungsfelds. Mit anderen Worten: Ethnographisch Forschende<br />
haben keine Kontrolle über das, was im Forschungsfeld abläuft. Gleichzeitig<br />
sind sie selbst das wichtigste Forschungsinstrument, das sie einsetzen<br />
können: „The basic tools of ethnography use the researcher’s eyes and ears<br />
as the primary modes for data collection. ... [E]thnographic researchers learn<br />
through systematic observation in the field by interviewing and carefully<br />
recording what they see and hear, as well as how things are done, while<br />
learning the meanings that people attribute to what they make and do.“<br />
(LeCompte/Schensul 1999, S. 2)<br />
Was kann die longitudinale Prozessforschung <strong>von</strong> der Ethnographie lernen?<br />
Vor allem zwei in der Literatur zur ethnographischen Methode diskutierte<br />
Themen können fruchtbar auf die Prozessforschung übertragen werden:<br />
a) Aufbau und Pflege <strong>von</strong> Feldbeziehungen<br />
<strong>Die</strong> Gestaltung <strong>von</strong> Feldbeziehungen ist ein zentrales Thema. Jorgensen<br />
(1989) widmet in seinem Buch ein ganzes Kapitel der Frage, wie Feldbeziehungen<br />
aufgebaut und gepflegt werden können. Dabei verweist er auf<br />
zwei Aspekte der Feldbeziehung:<br />
• Vertrauen und Zusammenarbeit<br />
Vertrauen und Zusammenarbeit sind die Grundlage jeder<br />
Feldbeziehung. Doch wie gewinnt man sie? Jorgensen rät den<br />
Forschenden, stets zu betonen, dass die Zusammenarbeit<br />
freiwillig ist, die Identität aller Personen anonym bleiben wird,<br />
und dass jede Information vertraulich behandelt wird. Im<br />
36 Allerdings haben sich die Vorstellungen darüber, was genau ethnographische Forschung ist,<br />
ziemlich unterschiedlich entwickelt (vgl. dazu Hammersley/Atkinson 1983).<br />
34
35<br />
LONGITUDINALE PROZESSFORSCHUNG<br />
Weiteren sollen die Forschenden darauf achten, sich im Feld<br />
möglichst unauffällig zu verhalten, z.B. dadurch, dass sie sich<br />
gleich kleiden oder gleiche Dinge tun wie die anderen Menschen<br />
im Feld.<br />
• Reziprozität und Austausch<br />
„What do you have to offer people in exchange for trust,<br />
cooperation, information, ...?“ fragt Jorgensen (1989, S. 71). Am<br />
direktesten können die Forschenden Reziprozität im Geben und<br />
Nehmen der Feldbeziehung dadurch sicherstellen, dass sie den<br />
Menschen im Feld mit Respekt und echtem Interesse begegnen<br />
und sie an den Ergebnissen der Forschung teilhaben lassen.<br />
b) Schreiben <strong>von</strong> Forschungsberichten<br />
<strong>Die</strong> Frage der Aufbereitung ethnographischer Daten ist intensiv diskutiert<br />
worden (vgl. z.B. Van Maanen 1983, 1995b). Golden-Biddle und Locke (1993)<br />
haben in ihrer Untersuchung aufgezeigt, dass es beim Schreiben <strong>von</strong><br />
ethnographischen Texten auf drei Punkte ankommt: Sie überzeugen durch<br />
ihre Authentizität, durch ihre Plausibilität und durch ihre Fähigkeit, bei den<br />
Lesenden eine kritische Reflexion auszulösen („criticality“).<br />
• Authentizität<br />
Authentizität verlangt die wahrheitsgetreue Schilderung des<br />
Forschungsfelds und wird im Text durch zwei Faktoren vermittelt:<br />
Zum einen muss der Text durch seinen Kenntnisreichtum<br />
vermitteln, dass die Forschenden wirklich dort im Feld waren<br />
(„having been there“, Golden-Biddle/Locke 1993, S. 599); zum<br />
andern muss der Text auch glaubhaft machen, dass die<br />
Beschreibungen die Eigenheiten des Feldes so wiedergeben,<br />
wie sie <strong>von</strong> den Menschen im Feld selbst (und nicht <strong>von</strong> den<br />
Forschenden) wahrgenommen werden.<br />
• Plausibilität<br />
Plausibilität heisst, dass die Lesenden einen Bezug zum Thema<br />
finden und der Text einen Beitrag zum besseren Verständnis<br />
leistet. <strong>Die</strong>ses Ziel wird dadurch erreicht, dass der Text eine<br />
gewisse Asymmetrie zu den Lesenden hat. Der Text muss<br />
genügend bekannte Aussagen enthalten, damit die Lesenden<br />
den Anschluss daran finden können, er muss jedoch auch
FORSCHUNGSMETHODIK<br />
genügend neue Informationen beinhalten, damit der Text für die<br />
Lesenden nicht zu trivial und banal wird. Der Text muss <strong>als</strong>o<br />
einen „pragmatischen Neuigkeitswert“ haben (<strong>von</strong> Weizsäcker<br />
1987).<br />
• kritische Reflexion<br />
Der Text muss die Fähigkeit haben, die Lesenden zum Denken<br />
zu bringen und sie dazu anzuregen, ihre eigenen Vorstellungen<br />
und Glaubenssätze zu hinterfragen. <strong>Die</strong>se Fähigkeit erlangt ein<br />
Text nicht nur durch seinen Inhalt, sondern vor allem auch<br />
dadurch, in welcher Form dieser Inhalt präsentiert wird (vgl. Van<br />
Maanen 1995b).<br />
2.2.2.3 Aktionsforschung<br />
<strong>Die</strong> longitudinale Prozessforschung sieht Aktionsforschungsworkshops vor,<br />
geht jedoch nicht näher darauf ein, wie solche Workshops forschungsmethodisch<br />
zu gestalten sind. Es ist daher sicherlich empfehlenswert, sich <strong>als</strong><br />
dritte und letzte Forschungsmethode mit der Aktionsforschung näher<br />
auseinanderzusetzen.<br />
Aktionsforschung ist eine Forschungsstrategie, die ebenso alt wie umstritten<br />
ist. 37 Aktionsforschung soll Wissen im <strong>Die</strong>nst der Praxis generieren, und dazu<br />
werden Forschen, Handeln und Lernen gezielt zusammengebracht. In dieser<br />
Nähe <strong>von</strong> Forschung und Praxis liegt die Stärke der Aktionsforschung <strong>als</strong><br />
„enabling science” (Susman/Evered 1978).<br />
Aus der Literatur zur Aktionsforschung können zwei wichtige Erkenntnisse für<br />
die Prozessforschung gewonnen werden:<br />
a) Der Forschungskontrakt<br />
Aktionsforschung setzt das Einverständnis der betroffenen Menschen im<br />
Forschungsfeld voraus. Bruce und Wyman (1998) empfehlen deshalb, eine Art<br />
37 Vgl. z.B. Rapoport 1970, Susman/Evered 1978 oder König 1983.<br />
Ausserdem ist zu sagen, dass es so etwas wie die Aktionsforschung gar nicht gibt. Vielmehr<br />
unterteilt sich die Aktionsforschung in einzelne Schulen. Zu nennen wären insbesondere die<br />
Action Science <strong>von</strong> Argyris, Putnam und McLain-Smith (1985), die Participatory Action Research<br />
<strong>von</strong> Whyte (1991), die deutsche Form der Aktionsforschung (dargestellt z.B. bei Moser 1975)<br />
oder der Actors Approach <strong>von</strong> Arbnor und Bjerke (1997).<br />
36
37<br />
LONGITUDINALE PROZESSFORSCHUNG<br />
<strong>von</strong> „memorandum of understanding“ gemeinsam mit den Menschen im Feld<br />
zu erarbeiten. <strong>Die</strong>ses „memorandum of understanding“ ist nicht zu<br />
verwechseln mit dem juristischen Forschungsvertrag, der die rechtlichen<br />
Aspekte des Forschungsprojekts regelt. Der Forschungskontrakt im Sinne<br />
eines „memorandum of understanding“ regelt die Beziehungsaspekte der<br />
Forschungszusammenarbeit. Dabei ist auf Folgendes zu achten:<br />
• Form<br />
Der Forschungskontrakt kann schriftlich sein, muss aber nicht. Er<br />
kann beispielsweise auch die Form eines psychologischen<br />
Vertrags annehmen. Er wird in der Regel nicht für die Dauer des<br />
gesamten Forschungsprojekts fest abgeschlossen, sondern<br />
bleibt in ständiger Ausarbeitung und Konkretisierung. Mit Beginn<br />
jeder neuen Phase des Forschungsprojekts wird das<br />
„memorandum of understanding“ erneuert und wenn notwendig<br />
angepasst. <strong>Die</strong>s kann durchaus stillschweigend erfolgen.<br />
• Inhalt<br />
<strong>Die</strong> Vereinbarung sollte das gemeinsame Verständnis und<br />
Einverständnis hinsichtlich der folgenden Punkte schaffen und<br />
verbindlich machen:<br />
− thematischer Fokus: um was geht es bei der Forschung, worin<br />
besteht der Erkenntnisgewinn?<br />
− Rolle der Forschenden: was tun die Forschenden im Feld und<br />
wie verhalten sie sich dabei?<br />
− Ressourcen: welche Ressourcen muss das Feld bereitstellen,<br />
mit wem arbeiten die Forschenden im Feld zusammen, wie<br />
erfolgt diese Zusammenarbeit, auf welche vorhandenen<br />
unternehmensinternen Unterlagen und Dokumente können die<br />
Forschenden zugreifen?<br />
− Zeitrahmen: wie lange dauert das Forschungsprojekt, wie<br />
intensiv sind die Forschenden während dieser Zeit im Feld<br />
präsent?<br />
− Berichterstattung: wie informieren die Forschenden die<br />
Menschen im Feld über ihre Forschungsarbeit und deren<br />
Erkenntnisse?
FORSCHUNGSMETHODIK<br />
• Vertragspartner<br />
<strong>Die</strong> Forschenden müssen den Forschungskontrakt nicht nur mit<br />
dem verantwortlichen Management der <strong>Organisation</strong> abschliessen,<br />
sondern während des gesamten Forschungsprojekts auch<br />
laufend mit all denjenigen Personen, die in die Forschungsaktivitäten<br />
der Forschenden unmittelbar involviert werden.<br />
b) Gestaltung eines Aktionsforschungsworkshops<br />
Aktionsforschungsworkshops sollen einen Rahmen schaffen, in dem die<br />
Menschen im Feld über ihr Wissen und ihr Handeln nachdenken können. „...<br />
the point is to slow down the action so that actors can reflect on the tacit<br />
understandings embedded in action.“ (Argyris/Putnam/et al. 1985, S. 60) <strong>Die</strong><br />
Interventionen der Aktionsforschung sind demnach keine direkten, steuernden<br />
Eingriffe in den organisationalen Alltag. Vielmehr sollen sie einen diskursiven<br />
Rahmen schaffen und den Dialog im Feld stärken, so dass die Menschen im<br />
Feld dazu angeregt werden, sich über ihren organisationalen Alltag Gedanken<br />
zu machen. Damit dieser Reflexionsprozess aktiv unterstützt wird, empfehlen<br />
Argyris und Schön (1996, S. 154f), einen Aktionsforschungsworkshop wie folgt<br />
<strong>als</strong> Feedbackprozess zu gestalten:<br />
• Beschreibung der Elemente<br />
In einem ersten Schritt soll das gesammelte Material so<br />
verdichtet und beschrieben werden, dass es einen Überblick gibt<br />
über die typischen Interaktionen der Menschen im Feld.<br />
• Verknüpfung der Elemente<br />
In einem zweiten Schritt sollen die einzelnen Elemente<br />
zueinander in Verbindung gesetzt werden, so dass sich ein<br />
umfassendes Interaktionsmuster ergibt, das die vergangene und<br />
gegenwärtige Dynamik im Forschungsfeld beschreiben und<br />
erklären kann.<br />
• Interpretation der Elemente<br />
Zusammenfassend sollen die gesamten Ergebnisse visualisiert<br />
und interpretiert werden. Das soll den Menschen im<br />
Forschungsfeld ein möglichst umfassendes Verständnis ihres<br />
gegenwärtigen organisationalen Alltags ermöglichen und sie<br />
ausserdem dabei unterstützen, ihre Erkenntnisse in einem<br />
38
ZUSAMMENFASSUNG: VORGEHENSHEURISTIK<br />
reflexiven Transfer für eine kontinuierliche Verbesserung des<br />
organisationalen Alltags zu nutzen.<br />
2.3 Zusammenfassung: Vorgehensheuristik<br />
Prozessforschung kennt keine Punkt-für-Punkt-Anleitung für das Vorgehen im<br />
Feld. Als einziger Orientierungsrahmen kann aus dem Kapitel 2.2 ein<br />
heuristischer Leitfaden zur kontinuierlichen Gestaltung und Ausdifferenzierung<br />
des Forschungsprozesses abgeleitet werden. <strong>Die</strong>ser Leitfaden, der die<br />
Prozessforschung mit Erkenntnissen aus der der Case Study Research, der<br />
Ethnographie und der Aktionsforschung verbindet, nennt sechs iterative und<br />
rekursive Schritte, denen die Forschenden im Sinne einer Handlungsempfehlung<br />
folgen können (vgl. Abbildung 8).<br />
Definition des Forschungsziels<br />
Formulierung <strong>von</strong> Forschungsfragen<br />
Wahl des Forschungsorts und<br />
des zeitlichen Bezugsrahmens<br />
Planung des Forschungsprozesses<br />
und Gestaltung der Feldbeziehungen<br />
Dokumentation der Forschungsaktivitäten<br />
und der Ursprungsdaten<br />
Ausarbeitung der Forschungsergebnisse<br />
und Schreiben des Forschungsberichts<br />
Präsentation des Forschungsberichts und<br />
Plausibilisierung der Forschungsergebnisse<br />
Abbildung 8: Vorgehensheuristik der Prozessforschung<br />
39
FORSCHUNGSMETHODIK<br />
In Kapitel 6.1 <strong>von</strong> Teil III wird beschrieben, wie das der Dissertation zugrunde<br />
liegende Forschungsprojekt gestützt auf diese Vorgehensheuristik organisiert<br />
und durchgeführt worden ist. Als nächstes folgt nun in Teil II die Darstellung<br />
des organisationstheoretischen Bezugsrahmens des gewählten relationalkonstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramms (vgl. Abbildung 2).<br />
40
TEIL II: EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
41<br />
Was wir brauchen,<br />
sind nicht neue Patentrezepte,<br />
sondern ein tiefer gehendes Verständnis,<br />
wie Unternehmen jenseits <strong>von</strong><br />
Bürokratie und Hierarchie funktionieren.<br />
Stefan Kühl<br />
<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong>stheorie ist eine Theorie über die Praxis der <strong>Organisation</strong>.<br />
Inwieweit sie auch eine Theorie für die <strong>Organisation</strong>spraxis sein soll - das<br />
heisst Handlungsempfehlungen und Instrumente für eine erfolgreiche<br />
<strong>Organisation</strong>spraxis liefern muss bzw. kann - ist eine der grossen<br />
Diskussionen in der <strong>Organisation</strong>stheorie selbst. 38<br />
Wie in dieser Diskussion argumentiert wird, ist nicht zufällig. Das hängt<br />
einerseits da<strong>von</strong> ab, welches Verständnis <strong>von</strong> Theorie zugrunde liegt (vgl.<br />
Kapitel 1.3). Andererseits ist entscheidend, <strong>von</strong> welchen (impliziten)<br />
Vorstellungen darüber ausgegangen wird, was eine <strong>Organisation</strong> ist und wie<br />
sie funktioniert.<br />
Ziel des Teils II ist es, genau diese zweite Frage zu beantworten. Ausgehend<br />
vom aktuellen Stand der <strong>Organisation</strong>stheorie wird ein postmodernes Bild des<br />
Phänomens <strong>Organisation</strong> entwickelt (Kapitel 3) und der Versuch gemacht, mit<br />
Rückgriff auf verschiedene theoretische Bausteine (Kapitel 4) dieses<br />
<strong>Organisation</strong>sverständnis in einen angemessenen Rahmen zu fassen (Kapitel<br />
5).<br />
<strong>Die</strong> Einheit der Wissenschaft verlangt, dass dabei den eigenen wissenschaftstheoretischen<br />
Ansprüchen zu genügen ist. Insbesondere bedeutet das, sich<br />
stets bewusst zu sein, dass Theoriebildung ein selbstreflexiver Prozess ist, in<br />
dem „the researcher/theorist plays an active role in constructing the very<br />
reality he/she is attempting to investigate.“ (Chia 1996b, S. 42)<br />
38 Vgl. dazu z.B. die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der <strong>Organisation</strong>stheorie in<br />
der Zeitschrift Organization Studies (Hinings/Clegg/et al. 1988).
ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
3 ORGANISATIONSTHEORIE ALS<br />
EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
„[<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong>stheorie] dient dem Zweck, das Entstehen, das Bestehen<br />
und die Funktionsweise <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en zu erklären bzw. zu verstehen.<br />
Sie dient damit (implizit oder explizit) der Verbesserung der<br />
<strong>Organisation</strong>spraxis.“ (Scherer 1999, S. 1)<br />
Auf diesen einen Satz verdichtet, scheint <strong>Organisation</strong>stheorie eine ziemlich<br />
klare und unproblematische Sache zu sein. Ein Blick auf die Geschichte 39 und<br />
auf den Meta-Diskurs 40 der <strong>Organisation</strong>stheorie lässt dieses friedliche Bild<br />
jedoch rasch verfliegen. <strong>Die</strong> pluralistische Wende in der Wissenschaftstheorie<br />
ist an der <strong>Organisation</strong>stheorie nicht spurlos vorbeigegangen (vgl. Kapitel 3.1).<br />
<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong>stheorie präsentiert sich <strong>als</strong> fragmentierte Disziplin und die<br />
Grenzen der Verwissenschaftlichung organisationaler Praxis sind spürbar<br />
geworden: „Zu wissen, dass man grundsätzlich über reiche Erfahrungen im<br />
Umgang mit <strong>Organisation</strong>en verfügt, ist eine Sache; eine ganz andere aber,<br />
beschreiben zu können, wie im einzelnen reagiert und agiert wurde, welche<br />
Emotionen, Wissensbestände dabei ins Spiel kamen, und was sie bewirkten."<br />
(Walter-Busch 1996, S. 2)<br />
Es sollte eigentlich nicht überraschen, dass alle Versuche, die<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie mit einer Metatheorie zu bändigen, gescheitert sind (vgl.<br />
Chia 1996b, S. 41f). Wenn es keine Einheit in der Wissenschaftstheorie mehr<br />
gibt (vgl. Kapitel 1.1), wie könnte es dann noch eine einheitliche<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie geben?<br />
Daher dient das Kapitel 3 dazu, ausgehend <strong>von</strong> den im Kapitel 1.2.1<br />
dargelegten wissenschaftstheoretischen Prämissen die Eckpunkte eines dazu<br />
kompatiblen <strong>Organisation</strong>sverständnisses darzulegen. <strong>Die</strong>se postmoderne 41<br />
Skizze erfährt anschliessend in den Kapiteln 4 und 5 ihre theoretische<br />
Ausarbeitung.<br />
39<br />
Z.B. in Kieser 1999b oder Walter-Busch 1996.<br />
40<br />
Z.B. Burrell/Morgan 1979; Daft 1978; Astley/Van de Ven 1983; Gioia/Pitre 1990; Astley/Zammuto<br />
1992; Koza/Thoenig 1995; Kieser 1995; Clegg/Hardy 1996; Willmott 1997; Kieser 1997.<br />
41<br />
Zur Klärung des Begriffs postmodern vgl. Kapitel 3.2.1. In der Literatur sind bereits Ansätze zu<br />
erkennen, die postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorie durch neuere, noch radikalere Konzepte<br />
abzulösen. Gehandelt werden z.B. ultramoderne <strong>Organisation</strong>stheorien (Heinl 1996) oder die<br />
retro-organization-Theorie (Burrell 1997).<br />
42
ORGANISATIONSTHEORIE: EINE BESTANDESAUFNAHME<br />
3.1 <strong>Organisation</strong>stheorie:<br />
<strong>Eine</strong> Bestandesaufnahme<br />
<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong>stheorie war bereits vor der pluralistischen Wende keine<br />
Einheitstheorie. Es gab immer eine Vielzahl theoretischer Konzepte, die teils<br />
nacheinander, teils nebeneinander das Feld der <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
beherrschten. In der Literatur wurde eine Reihe <strong>von</strong> Versuchen unternommen,<br />
der Vielfalt der <strong>Organisation</strong>stheorien mit einer Meta-Perspektive<br />
beizukommen. 42<br />
Chia weist zurecht darauf hin, wie beliebig diese Klassifikationen sind (1996b,<br />
S. 41f). Im Hinblick auf die spätere Entwicklung eines organisationstheoretischen<br />
Bezugsrahmens (vgl. Kapitel 3.2.2) soll hier dennoch das Feld<br />
der <strong>Organisation</strong>stheorie nach einem solchen Metaraster eingeteilt werden<br />
(vgl. Abbildung 9). 43<br />
<strong>Die</strong>ser Metaraster ist nicht zufällig gewählt, sondern nimmt zwei der<br />
Hauptkritikpunkte postmoderner <strong>Organisation</strong>stheorien an den traditionellen<br />
<strong>Organisation</strong>stheorien vorweg: das Denken in Entitäten (Struktur/Individuum)<br />
und das Denken in Zuständen (Stabilität/Wandel). 44<br />
In den traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien wird das Phänomen <strong>Organisation</strong><br />
<strong>als</strong> eine diskrete Einheit konzeptualisiert, die unabhängig <strong>von</strong> den<br />
Betrachtenden (Forscherin oder Praktikerin, Führungskraft oder Mitarbeitende)<br />
besteht. „The object of orthodox organizational analysis is the organization: a<br />
bounded social system, with specific structures and go<strong>als</strong> which acts more or<br />
less rationally and more or less coherently.” (Cooper/Burrell 1988, S. 102) Der<br />
Stoff, aus dem <strong>Organisation</strong>en sind, variiert je nach organisations-<br />
42<br />
Beispielhaft:<br />
- nach wissenschaftstheoretischem Paradigma: Burrell/Morgan 1979, Gioia/Pitre 1990<br />
- nach methodischem Forschungsfokus: Astley/Van de Ven 1983<br />
- nach fachwissenschaftlichem Hintergrund: Walter-Busch 1996, S. 60ff<br />
- nach theoretischem Erkenntnisinteresse: Willmott 1997<br />
43<br />
Auf eine Beschreibung der einzelnen traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien wird an dieser Stelle<br />
verzichtet. Sie sind anderen Ortes ausführlich dargestellt (z.B. in Kieser 1999b oder Walter-Busch<br />
1996). Hier geht es darum, das gemeinsame Denkgerüst herauszuarbeiten, das allen diesen<br />
theoretischen <strong>Organisation</strong>sansätzen eigen ist.<br />
44<br />
Vgl. dazu z.B. Cooper/Burrell 1988; Gergen 1992; Holtbrügge 2000. <strong>Die</strong> postmoderne<br />
Beurteilung der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorie ist natürlich nicht ohne Widerspruch geblieben<br />
(vgl. Donaldson 1985 und Hinings/Clegg/et al. 1988), und es wurden (bisher erfolglose) Versuche<br />
unternommen, die postmoderne Perspektive in dem Forschungsprogramm der traditionellen<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie aufgehen zu lassen (vgl. Reed 1993) bzw. die Unmöglichkeit der<br />
postmodernen Perspektive nachzuweisen (vgl. Thompson 1993).<br />
43
ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
theoretischem Ansatz. Entweder steht die Gestaltung mehr oder weniger<br />
dauerhafter instrumenteller Strukturen oder aber das Verstehen kognitiver<br />
Interpretations- und Entscheidungsprozesse im Vordergrund. Aber egal<br />
welcher Perspektive der Vorrang gegeben wird, Struktur oder Individuum<br />
werden gleichermassen <strong>als</strong> eine exogene und begrenzbare Entität behandelt,<br />
der bestimmte funktionale Eigenschaften zugeordnet werden können.<br />
Stabilität<br />
Wandel<br />
Scientific<br />
Management<br />
Struktur Individuum<br />
kontingenztheoretische<br />
Ansätze<br />
Neue Institutionenökonomie<br />
soziotechnischer<br />
Systemansatz<br />
populationsökologische<br />
und<br />
evolutionstheoretische<br />
Ansätze<br />
44<br />
Human Relations<br />
Ansätze<br />
netzwerktheoretische<br />
Ansätze<br />
entscheidungstheoretische<br />
Ansätze<br />
prozessorientierte<br />
und interpretative<br />
Ansätze<br />
Abbildung 9: Überblick über traditionelle <strong>Organisation</strong>stheorien<br />
Eng verknüpft mit dem Denken in Entitäten ist in den traditionellen<br />
<strong>Organisation</strong>stheorien das Denken in Zuständen. <strong>Organisation</strong>en werden<br />
entweder <strong>als</strong> inhärent stabil und geordnet oder aber <strong>als</strong> in permanentem<br />
Wandel und Anpassung gedacht. <strong>Die</strong> ordnende Gestaltung und Veränderung<br />
dieses organisationalen Urzustands ist ein vordringliches Interesse und<br />
wichtige Aufgabe traditioneller <strong>Organisation</strong>stheorien. In ersterem Fall wird<br />
versucht, etwas mehr Flexibilität und Dynamik in die Geordnetheit einzubauen,<br />
um die <strong>Organisation</strong> aus dem Würgegriff der Trägheit zu befreien. Im zweiten<br />
Fall ist es das Ziel, Muster der Geordnetheit im Chaos zu identifizieren, die die<br />
<strong>Organisation</strong> dabei unterstützen, sich in der Dynamik und der Diskontinuität<br />
des permanenten Wandels zu orientieren.
ORGANISATIONSTHEORIE: EINE BESTANDESAUFNAHME<br />
In direkter Konsequenz dieses Denkens in Entitäten und Zuständen herrscht in<br />
den traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien die Idee der Gestaltbarkeit und<br />
Machbarkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. „[E]s wird da<strong>von</strong> ausgegangen, dass es den<br />
Gestaltern grundsätzlich möglich ist, ihren Intentionen entsprechende<br />
Koordinationsmechanismen hervorzubringen.“ (Sandner/Meyer 1994, S. 186)<br />
Postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorien stellen diese Grundannahmen<br />
traditioneller <strong>Organisation</strong>stheorien in Frage. Aus ihrer Sicht kann<br />
<strong>Organisation</strong> nicht mehr <strong>als</strong> selbständiges und begrenzbares Objekt der realen<br />
Welt gefasst werden, das der theoretischen Analyse und direkten Intervention<br />
einer unabhängigen Beobachterin offen steht (vgl. Kapitel 1.3). Vielmehr sind<br />
Theorie und Praxis untrennbar miteinander verknüpft (vgl. Gergen 1992) und<br />
„organizational scientists ‚make’ organizations as much as they study them“.<br />
(Calás/Smircich 1992, S. 223)<br />
Bevor die postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorien <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> ihr<br />
Forschungsobjekt ins Auge fassen können, müssen sie sich daher zuerst<br />
darüber klar werden, wie sie sich das Phänomen <strong>Organisation</strong> in der Theorie<br />
denken, denn „[t]he organization of these objects of knowledge is …<br />
inextricably interwoven with any knowledge generated about the object (in this<br />
case ‚organizations’) itself. Knowledge about organizations and the<br />
organization of knowledge, therefore, implicate and explicate each other and<br />
are thereby irretrievably intertwined.“ (Chia 1997, S. 692)<br />
Damit in den folgenden Kapiteln 4 und 5 mit der Entwicklung eines angemessenen<br />
organisationstheoretischen Bezugsrahmens begonnen werden kann,<br />
müssen daher im Kapitel 3.2 zuerst die Grundzüge des postmodernen<br />
<strong>Organisation</strong>sverständnisses dargelegt werden.<br />
45
ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
3.2 Postmoderne Entwicklung der<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie<br />
3.2.1 Postmodern? <strong>Eine</strong> Begriffsklärung<br />
Das Kapitel muss sinnvollerweise mit einer Klärung des Worts postmodern<br />
beginnen, denn innerhalb der <strong>Organisation</strong>stheorie wird dieser Begriff<br />
unterschiedlich verwendet bzw. interpretiert. 45<br />
Es wird zwischen “postmodernity” bzw. „post-modern“ auf der einen Seite und<br />
„postmodernism“ bzw. „postmodern“ auf der anderen Seite unterschieden.<br />
Postmodernity entspricht der so genannten „epochalen“ Perspektive der<br />
Postmoderne, während postmodernism für die so genannte<br />
„epistemologische“ Perspektive steht (vgl. Hassard 1993).<br />
In der epochalen Perspektive bezeichnet der Begriff postmodern „emergent<br />
features of contemporary societies“ (Parker 1992, S. 2). <strong>Die</strong> Gesellschaft ist im<br />
Umbruch und mit ihr die <strong>Organisation</strong>en, die ein wesentliches Element dieser<br />
Gesellschaft sind. <strong>Die</strong> post-modernen <strong>Organisation</strong>stheorien beschäftigen sich<br />
mit der Frage, wie sich <strong>Organisation</strong>en in dem zunehmend turbulenten und<br />
komplexen Umfeld behaupten können (vgl. Clegg 1990). Zentrale Aussage der<br />
post-modernen <strong>Organisation</strong>stheorien ist, dass das „bureaucratic regime of<br />
rules, hierarchies, predictability and centralization [is] to be replaced by<br />
decentralized, self-regulating, fluid and flexible structures.” (Thompson 1993,<br />
S. 185) <strong>Die</strong> post-modernen <strong>Organisation</strong>stheorien sind <strong>als</strong>o im Wesentlichen<br />
eine Fortschreibung der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien, die lediglich den<br />
sich ändernden Anforderungen des gesellschaftlichen und technologischen<br />
Umfelds angepasst worden sind. Das Phänomen <strong>Organisation</strong> wird <strong>von</strong> den<br />
post-modernen <strong>Organisation</strong>stheorien unverändert entitativ gedacht und<br />
entsprechend ist das Hauptanliegen immer noch „to produce prescriptions for<br />
a scientifically designed organization.“ (Parker 1992, S. 5)<br />
In der epistemologischen Perspektive bezieht sich der Begriff postmodern<br />
nicht auf eine neue Form der <strong>Organisation</strong>, sondern auf eine neue Form des<br />
Wissens, und stellt so „important questions about the epistemological status of<br />
45 <strong>Die</strong> Ursprünge des postmodernen Denkens gehen zurück auf Lyotard (1979). Wesentliche<br />
Beiträge dazu beigesteuert haben ausserdem Michel Foucault und Jacques Derrida. Zur unterschiedlichen<br />
Rezeption der Postmoderne in der <strong>Organisation</strong>stheorie vgl. z.B. Parker 1992;<br />
Hassard 1993; Thompson 1993; Weik 1996; Kilduff/Mehra 1997.<br />
46
POSTMODERNE ENTWICKLUNG DER ORGANISATIONSTHEORIE<br />
our knowledge of organization and the ideological character of such ‚truth’<br />
claims.“ (Chia 1996b, S. 32) Der epistemologische Postmodernismus<br />
begründet somit ein gegenüber den traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien neues<br />
und eigenständiges wissenschaftstheoretisches Programm. <strong>Die</strong> Grundzüge<br />
dieses wissenschaftstheoretischen Programms 46 sind deutlich relationalkonstruktiv<br />
(vgl. mit Abbildung 3). Ein postmodernes <strong>Organisation</strong>sverständnis<br />
bildet <strong>als</strong>o den idealen theoretischen Bezugsrahmen (vgl. Abbildung 2) für das<br />
relational-konstruktivistische Wissenschaftsprogramm, das in Kapitel 1.2<br />
vorgestellt worden ist. Wenn daher im Rahmen dieser Dissertation der Begriff<br />
postmodern verwendet wird, dann ist er damit immer in seiner<br />
epistemologischen Bedeutung gemeint, denn nur diese ist anschlussfähig und<br />
konsistent mit dem verfolgten relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramm.<br />
47<br />
Im folgenden Abschnitt werden nun die typischen Merkmale des postmodernen,<br />
epistemologischen <strong>Organisation</strong>sverständnisses vorgestellt, denn<br />
darauf wird bei der Entwicklung eines organisationstheoretischen Bezugsrahmens<br />
in Kapitel 4 und 5 zurückzugreifen sein.<br />
3.2.2 Postmodernes <strong>Organisation</strong>sverständnis<br />
<strong>Die</strong> „grossen argumentativen Schlachten um den einzig richtigen<br />
systemischen Zugang zu dem Phänomen <strong>Organisation</strong>“ (Bardmann/Groth<br />
2001, S. 12) sind geschlagen, aber noch hat sich daraus keine neue<br />
einheitliche Beschreibung des Phänomens <strong>Organisation</strong> herausgebildet.<br />
Über die post-moderne <strong>Organisation</strong> ist viel geschrieben worden, 48 Literatur<br />
über postmoderne <strong>Organisation</strong> bzw. über das postmoderne Verständnis <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> liegt jedoch erst in Fragmenten vor. <strong>Die</strong> Elemente einer<br />
postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorie sind zwar bekannt, werden aber je nach<br />
46<br />
Vgl. z.B. Chia 1996b, 1997; Cooper/Burrell 1988; Gergen 1992; Gergen/Thatchenkery 1996;<br />
Hassard/Parker 1993; Parker 1992; Linstead 1993; Jeffcutt 1994; Weik 1996.<br />
47<br />
Da die beiden Begriffe postmodern und relational-konstruktivistisch im epistemologischen Sinn<br />
deckungsgleich sind, werden sie im Rahmen dieser Dissertation auch synonym verwendet, das<br />
heisst postmodern meint immer auch relational-konstruktivistisch und umgekehrt.<br />
48<br />
Vgl. z.B. Miles/Snow 1986; Senge 1990; Daft/Lewin 1993; Nadler/Gerstein/et al. 1994; Deiser<br />
1995; Ilinitch/D'Aveni/et al. 1996; Volberda 1996; Bahrami 1996; Mohrman/Galbraith/et al. 1998;<br />
Schreyögg 1999; Nadler/Tushman 1999; Rüegg-Stürm/Achtenhagen 2000; Hitt 2000;<br />
Dess/Picken 2000; Rüegg-Stürm/Young 2001; Galbraith 2002.<br />
47
ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
Autorin bzw. Autor anders zusammengestellt oder gewichtet. 49 <strong>Die</strong> Umrisse<br />
einer postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorie muss man sich aufgrund dieser<br />
Fragmente vorerst noch selbst zusammenreimen. <strong>Eine</strong> eigentliche neue<br />
postmoderne „Theory of the Firm“ gibt es (noch) nicht. 50<br />
Sogar in erklärtermassen konstruktivistischen Vorstellungen <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
schimmert häufig noch die alte, entitative und auf Zustände ausgerichtete<br />
Denkweise durch (vgl. z.B. Wagner/Beenken/et al. 1995).<br />
Was es an postmoderner Literatur gibt (vgl. Fussnote 49), ist häufig eine<br />
Beschreibung des postmodernen Forschungszugangs zur <strong>Organisation</strong>, nicht<br />
der <strong>Organisation</strong> selbst. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn eine<br />
Beschreibung der <strong>Organisation</strong> kann im postmodernen Sinn nur noch eine<br />
Prozessbeschreibung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> sein, und keine Zustandsbeschreibung<br />
mehr im Sinn eines organisationalen Designs. <strong>Eine</strong> Prozessbeschreibung ist<br />
ohne Empirie jedoch nicht denkbar. Da liegt es auf der Hand, sich dem<br />
Phänomen <strong>Organisation</strong> über den Forschungsprozess zu nähern.<br />
<strong>Die</strong> Grundlagen für den forschungsmethodischen Zugang zum Phänomen<br />
<strong>Organisation</strong> sind in Kapitel 2 bereits ausgearbeitet worden. Im Folgenden soll<br />
nun der Versuch unternommen werden, aus den vorhandenen Materialien<br />
(vgl. Fussnote 49) die Eckpfeiler eines postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnisses<br />
herauszuarbeiten (vgl. Abbildung 10). Damit wird der<br />
Empfehlung <strong>von</strong> Heinl (1996, S. 64) gefolgt, statt den erfolglosen Versuch<br />
einer Definition des Begriffs <strong>Organisation</strong> zu unternehmen, die wichtigsten<br />
Eckpunkte der Verfasstheit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> zu beschreiben. <strong>Die</strong>se Eckpfeiler<br />
bilden die Leitplanken, entlang derer in den folgenden Kapiteln 4 und 5 dann<br />
49<br />
Postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorie nimmt Bezug auf verschiedene Metatheorien. Im Wesentlichen<br />
sind das die neuere Systemtheorie (vgl. z.B. Willke 2000, 1996, 1998; Probst 1987;<br />
Baecker 1999, Baecker 1999; Kasper 1990; Kolbeck/Nicolai 1996; Heinl 1996), der<br />
Konstruktivismus (in allen seinen Spielformen; vgl. z.B. Kieser 1999a; Burr 1995; Gergen 2002;<br />
Bardmann 1994) und der Dekonstruktivismus (vgl. z.B. Derrida 1974, 1976; Chia 1996a; Weik<br />
1996). Mehr oder weniger ausformulierte Fragmente dieser postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
finden sich z.B. in Weick 1995; Baecker 1993; Bardmann 1994; Bauer 1996; Kieser 1998; Kühl<br />
1998; Rüegg-Stürm 1998, 2000, 2001; Schreyögg 1999; Holtbrügge 2001. <strong>Eine</strong> gute Darstellung<br />
der Entwicklung des <strong>Organisation</strong>sverständnisses <strong>von</strong> einer traditionellen hin zu einer<br />
postmodernen Sichtweise findet sich z.B. bei Bardmann/Groth 2001; Hosking 1991.<br />
50<br />
Ob es eine solche postmoderne Theory of the Firm überhaupt je geben wird, ist fraglich. Das<br />
relational-konstruktivistische Wissenschaftsverständnis steht einer solchen „grand theory“<br />
skeptisch gegenüber (vgl. Kapitel 1.3). Zu erwarten sind eher „analytically structured narratives”<br />
(Reed 1993, S. 180f).<br />
48
POSTMODERNE ENTWICKLUNG DER ORGANISATIONSTHEORIE<br />
die theoretische Konzeptualisierung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> - im Sinne einer<br />
Prozessbeschreibung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> - entwickelt wird.<br />
soziale Konstruktion<br />
relationaler Prozess<br />
emergente Ordnung<br />
politisches Gefüge<br />
... statt ...<br />
49<br />
rationales Objekt<br />
formalisierte Struktur<br />
geschaffene Ordnung<br />
unitaristisches Instrument<br />
Abbildung 10: Eckpfeiler eines postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnisses<br />
soziale Konstruktion statt rationales Objekt<br />
In der traditionellen Vorstellung ist die <strong>Organisation</strong> ein Mittel, um ein<br />
definiertes Ziel zu erreichen. <strong>Die</strong> theoretische und praktische Herausforderung<br />
liegt darin, dafür die effizienteste und effektivste <strong>Organisation</strong>sform (im Sinne<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>sstrukturen und -kulturen sowie Geschäftsprozessen) zu<br />
finden und zu implementieren. So verstanden ist <strong>Organisation</strong> „... a social tool<br />
and an extension of the human agent“. (Cooper/Burrell 1988, S. 102)<br />
Aus postmoderner Perspektive kann dieses geschlossene Bild der<br />
<strong>Organisation</strong> nicht länger aufrechterhalten werden. <strong>Eine</strong>rseits ist mit dem<br />
Einzug der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie 51 das rationale<br />
Bild der <strong>Organisation</strong> in seinen Grundfesten erschüttert worden, andererseits<br />
wird zunehmend deutlich, dass das Phänomen <strong>Organisation</strong> nicht unabhängig<br />
<strong>von</strong> seiner Beobachtung existiert (vgl. Reed/Hughes 1992) bzw. keine<br />
Existenz ausserhalb der Praxis, des tagtäglichen Vollzugs, hat (vgl.<br />
Brown/Duguid 1991). So erstaunt es nicht, dass Weick (1985, S. 109) zum<br />
Schluss kommt: „There is less to rationality than meets the eye.”<br />
Wenn das Kontrollmodell der <strong>Organisation</strong> nicht mehr eine adäquate Metapher<br />
ist - wie kann die <strong>Organisation</strong> sonst konzeptualisiert werden? Das Angebot in<br />
51<br />
Vgl. dazu die Arbeiten <strong>von</strong> Simon (1948), March und Simon (1959) sowie Cyert und March<br />
(1965).
ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
der Literatur ist ebenso vielfältig wie uneinheitlich. <strong>Organisation</strong>en werden<br />
sinnbildlich beschrieben <strong>als</strong> „garbage can“ (Cohen/March/et al. 1972), „loosely<br />
coupled system“ (Weick 1976), „interpretation systems“ (Daft/Weick 1984),<br />
„organisms“, „brains“, „cultures“, „political systems“, „psychic prisons“, „flux<br />
and transformation“ oder „instruments of domination“ (Morgan 1986),<br />
„communities-of-practice“ (Brown/Duguid 1991), „paradox“, „otherness“<br />
„seduction“ oder „discourse“ (Linstead 1993), „Erfindungen“ (Bardmann 1994,<br />
S. 334), „distributed knowledge system“ (Tsoukas 1996) oder <strong>als</strong> ein<br />
„strukturierter Strom <strong>von</strong> Ereignissen“ (Rüegg-Stürm 1998). Egal welcher der<br />
angebotenen neuen Metaphern man folgt, gemeinsam ist ihnen allen, dass<br />
das Prozesshafte des Phänomens <strong>Organisation</strong> betont wird.<br />
<strong>Organisation</strong> ist <strong>als</strong>o „... first and fundamentally a process of ‚worldmaking’“.<br />
(Chia 1997, S. 685) <strong>Organisation</strong> ist nicht einfach, sie passiert („occur“,<br />
Cooper/Burrell 1988, S. 108). Und wenn in der Theorie oder der Praxis<br />
<strong>Organisation</strong> und ihre vermeintlichen Eigenschaften <strong>als</strong> diskrete Einheit<br />
wahrgenommen werden, so nur zu dem Preis, dass die Beobachterin den<br />
dynamischen Fluss der organisationalen Realitäts- und Selbst-Konstruktion<br />
zeitweilig anhält und verdinglicht. 52<br />
Der organisationale Konstruktionsprozess ist jedoch nicht das Ergebnis<br />
individueller kognitiver Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse und<br />
-muster. <strong>Organisation</strong> findet eben gerade nicht „in den Köpfen der<br />
<strong>Organisation</strong>smitglieder“ (wie das Kieser 1998, S. 46, formuliert) statt.<br />
Vielmehr ist <strong>Organisation</strong> ein sozialer Prozess, der in der Interaktion zwischen<br />
den <strong>Organisation</strong>smitgliedern stattfindet (vgl. Bradbury/Bergmann-Lichtenstein<br />
2000), und kann daher nicht ursächlich auf einzelne Individuen oder<br />
Interventionen zurückgeführt werden.<br />
<strong>Organisation</strong> kann nicht nur nicht auf einzelne <strong>Organisation</strong>smitglieder oder<br />
Gestaltungsmassnahmen zurückgeführt werden, sie steht ausserdem auch<br />
ausserhalb der Einflusssphäre einzelner Personen und deren Interventionen,<br />
denn die soziale Konstruktion <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> erfolgt in einem autopoietischen<br />
Prozess ausschliesslich mit Rückgriff auf sich selbst.<br />
<strong>Organisation</strong>en liegen dadurch „jenseits der Machbarkeit“ (Rüegg-Stürm<br />
2000).<br />
50
POSTMODERNE ENTWICKLUNG DER ORGANISATIONSTHEORIE<br />
Obwohl sich <strong>Organisation</strong> nur in Prozessen konstituiert, bilden sich paradoxerweise<br />
im Laufe dieser Prozesse objektive Realitäten, das heisst, es<br />
sedimentieren bzw. kristallisieren sich materielle und immaterielle Strukturen<br />
(vgl. Rüegg-Stürm 1998). <strong>Organisation</strong> wird <strong>als</strong>o nicht nur laufend „verfertigt“<br />
(Kieser 1998), sondern auch allmählich verfestigt. Daher kommt Chia (1997,<br />
S. 699) zum Schluss: „Organizing as this active and dynamic process of<br />
identity-construction and reality-configuration is, therefore, an ontological<br />
activity.” 53<br />
Damit hat <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> soziales Konstrukt eine inhärent paradoxe Natur.<br />
<strong>Eine</strong>rseits ist die organisationale Realität das Ergebnis menschlicher Interaktion,<br />
das heisst <strong>von</strong> Menschen selbst geschaffen, andererseits wird das<br />
Produkt <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> eben diesen Menschen <strong>als</strong> objektive Faktizität und<br />
Einschränkung erfahren: „However, these representational abstractions, as we<br />
have seen, quickly become more ‚solidified’ with increased familiarity and<br />
usage and begin to take on an independent life.“ (Chia 1996b, S. 49) <strong>Die</strong><br />
Prozesse der sozialen Konstruktion schaffen <strong>als</strong>o Ergebnisse bzw.<br />
Materialisierungen, die später <strong>als</strong> Bedingung bzw. Einschränkung auf eben<br />
diese Prozesse zurückwirken (vgl. Rüegg-Stürm 1998).<br />
<strong>Die</strong>ses organisationale Dilemma rückt die sozialen Konstruktions- und<br />
Reifikationsprozesse der <strong>Organisation</strong> ins Zentrum des theoretischen<br />
Interesses. <strong>Die</strong> postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorie fragt nicht mehr nach dem<br />
Was, sondern nach dem Wie dieser sozialen Konstruktions- und<br />
Reifikationsprozesse. Weick schlägt darum vor: „If you want to improve<br />
organizational theory, quit studying organizations [im Sinn <strong>von</strong> Entitäten].”<br />
(1974, S. 487)<br />
relationaler Prozess statt formalisierte Struktur<br />
<strong>Die</strong> postmoderne Perspektive <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einem sozialen Konstrukt<br />
favorisiert eine Prozesssicht <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. „... the emphasis is on the<br />
primacy of process, interaction and relatedness.“ (Chia 1997, S. 696) <strong>Die</strong><br />
52<br />
Und dadurch vielleicht die Essenz dessen gerade verliert, wonach die Beobachterin eigentlich auf<br />
der Suche ist.<br />
53<br />
So erhalten Entitäten über die Hintertüre wieder einen Platz in der postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
- aber nicht mehr <strong>als</strong> externe, objektive Grösse, sondern <strong>als</strong> sozial verfertigte Konstrukte,<br />
das heisst <strong>als</strong> kollektive „taken-for-granteds“ (vgl. Hosking/Bass 1998) bzw. „Erwartungsgeneralisierungen“<br />
(Lueger 1992b, S. 174).<br />
51
ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
Vorstellung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einer formalisierten Struktur wird<br />
aufgegeben, denn aus postmoderner Sicht verstellt die <strong>Organisation</strong> den Blick<br />
auf <strong>Organisation</strong> (im Sinne <strong>von</strong> emergenter Ordnung, vgl. nächster Abschnitt) -<br />
oder mit den Worten <strong>von</strong> Weick (1995, S. 129):<br />
„Das Wort <strong>Organisation</strong> ist ein Substantiv, und es ist ausserdem ein Mythos.<br />
Wenn Sie nach einer <strong>Organisation</strong> suchen, werden Sie sie nicht finden. Was<br />
Sie finden werden, ist, dass miteinander verbundene Ereignisse vorliegen, die<br />
durch Betonwände hindurchsickern; und diese Sequenzen, ihre Pfade und ihre<br />
zeitliche Ordnung sind die Formen, die wir fälschlich in Inhalte verwandeln,<br />
wenn wir <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en reden.“<br />
Aus einer Prozesssicht <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> interessiert hauptsächlich die Frage,<br />
wie <strong>Organisation</strong> entsteht und besteht, denn das Werden bestimmt das Sein<br />
(vgl. Chia 1996b, S. 33). Auch Weick (1979) hat schon früh vorgeschlagen,<br />
dass der Fokus der <strong>Organisation</strong>stheorie besser auf den Prozessen des<br />
Organisierens statt auf den Strukturen der <strong>Organisation</strong> liegen sollte. 54 Um<br />
dem entitativen Denken in der <strong>Organisation</strong>stheorie entgegenzuwirken hat<br />
Weick (1995, S. 67) sogar vorgeschlagen, alle „Substantive einzustampfen“.<br />
54<br />
In der bisherigen postmodernen Entwicklung der <strong>Organisation</strong>stheorie haben sich zwei<br />
unterschiedliche Auffassungen bzw. Interpretationen über die Natur dieser Prozesse des<br />
Organisierens herausgebildet.<br />
<strong>Die</strong> eine Richtung wird der „skeptische Ansatz“ (Kilduff/Mehra 1997 bzw. die „linguistic<br />
constructionist“ Perspektive (Heinl 1996, S. 410ff) genannt. Vertreter der skeptischen bzw.<br />
linguistischen Richtung sind z.B. Cooper und Burrell (Cooper/Burrell 1988; Cooper 1990) oder<br />
Weik (1996). Sie stützen sich auf Derridas Theorie der Dekonstruktion, die die Sprache ins<br />
Zentrum stellt, und gehen da<strong>von</strong> aus, dass <strong>Organisation</strong> über die Dekonstruktion der Sprache<br />
bzw. des Sprachgebrauchs erschlossen werden kann.<br />
<strong>Die</strong> andere Richtung wird der „affirmative Ansatz“ bzw. die „social constructionist“ Perspektive<br />
genannt. Vertreter der affirmativen bzw. sozialen Richtung sind z.B. Gergen (1992, 1996) oder<br />
Dachler (1992, 2000). Sie stützen sich auf den relationalen Konstruktivismus, der die sozialen<br />
Interaktionsprozesse ins Zentrum stellt, und gehen da<strong>von</strong> aus, dass <strong>Organisation</strong> über die<br />
Rekonstruktion dieser relationalen Prozesse erschlossen werden kann.<br />
Aus Sicht der social-constructionist-Perspektive muss sich die linguistic-constructionist-<br />
Perspektive den Vorwurf gefallen lassen, Sprache zu entitativ zu behandeln. <strong>Die</strong> socialconstructionist-Perspektive<br />
ist so gesehen radikaler in ihrem Versuch, das Phänomen<br />
<strong>Organisation</strong> prozesshaft zu erfassen. Interessanterweise sind die Rollen genau umgekehrt,<br />
wenn es um die Einschätzung geht, das Phänomen <strong>Organisation</strong> theoretisch zu fassen. <strong>Die</strong><br />
linguistic-constructionist-Perspektive betont eher die Unmöglichkeit <strong>von</strong> Theorie (daher auch<br />
skeptischer Ansatz genannt), während die social-constructionist-Perspektive die Möglichkeit <strong>von</strong><br />
Theorie zwar einschränkt, aber nicht ausschliesst (daher auch affirmativer Ansatz genannt).<br />
Im Rahmen der vorliegenden Dissertation wird der social-constructionist-Interpretation <strong>von</strong><br />
Organisieren gefolgt, weil sie sich besser mit den Prämissen des relational-konstruktivistischen<br />
Wissenschaftsprogramms deckt (vgl. Kapitel 1.2.1).<br />
52
POSTMODERNE ENTWICKLUNG DER ORGANISATIONSTHEORIE<br />
<strong>Die</strong> Prozesse des Organisierens sind realitäts- und sinnstiftend. Sie heben aus<br />
dem Strom des täglichen Geschehens jene Ereignisse, Entscheide, Regeln<br />
etc. hervor, die aus dem lockeren Geschehen überhaupt erst ein sinnhaftes<br />
Ganzes - eben <strong>Organisation</strong> - entstehen lassen. „It is this active process of<br />
singling out and putting together certain aspects of our experiences whilst<br />
ignoring others that brings about the socially constructed reality that we find so<br />
immediate and self-evident.“ (Chia 1997, S. 698; vgl. dazu auch Rüegg-Stürm<br />
2001, S. 162ff).<br />
<strong>Die</strong>se Prozesse, die <strong>Organisation</strong> kontinuierlich konstituieren und (re-)<br />
konstruieren, entziehen sich jedoch jeglichen Versuchen der direkten,<br />
absichtsvollen Einflussnahme, denn sie verlaufen operationell geschlossen,<br />
das heisst definieren für sich selbst und unter Bezugnahme auf sich selbst die<br />
eigenen Regeln, nach denen sie prozessieren.<br />
<strong>Die</strong>se Regeln sind kontingent, das heisst sie sind wie sie sind, könnten aber<br />
auch anders sein - aber sie sind keinesfalls beliebig. <strong>Die</strong> Prozesse des<br />
Organisierens, die gleichzeitig auch die Regeln ihres Prozessierens schaffen,<br />
erfolgen nämlich relational. 55 Das bedeutet, dass die Prozesse zwar<br />
operationell geschlossen verlaufen, aber dass sie eingebettet sind in einen<br />
ganz bestimmten Kontext, und dass die Prozesse des Organisierens immer in<br />
Bezug auf diesen Kontext, das heisst dem historischen, sozialen und<br />
technologischen Umfeld, prozessieren. <strong>Organisation</strong> ist demnach sowohl<br />
autonom (operationell geschlossen) <strong>als</strong> auch kontext- und pfadabhängig<br />
(relational).<br />
<strong>Die</strong>ses sowohl-<strong>als</strong>-auch ist typisch für das postmoderne <strong>Organisation</strong>sverständnis:<br />
<strong>Organisation</strong> ist Ergebnis und Vorgabe (vgl. vorherigen Abschnitt)<br />
und ist ebenso autonom wie abhängig. In dieser Doppel- und Mehrdeutigkeit<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> liegt eine grosse Herausforderung für jeden postmodernen<br />
Versuch, das Phänomen <strong>Organisation</strong> theoretisch zu fassen. Postmoderne<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie darf die organisationale Paradoxie nicht glätten oder gar<br />
55 <strong>Die</strong> Verwendung des Begriffs relational erfolgt hier weit gefasst. In diesem Sinn ist relational nicht<br />
nur ein Synonym für sozial, sondern steht umfassend für das Eingebettet-Sein in einen lokalen<br />
Gesamtkontext.<br />
53
ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
ausschliessen, sondern muss sie in ihrem <strong>Erklärung</strong>sansatz berücksichtigen<br />
und explizit einbauen. 56<br />
Das postmoderne <strong>Organisation</strong>sverständnis schliesst wie gesagt formalisierte<br />
Strukturen <strong>als</strong> (alleiniges) konstitutives Element <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> aus: „If we<br />
are to look at organization (as a verb) in this way, we must continually<br />
recognize the impossibility of the formal structure.“ (Parker 1992, S. 10) Doch<br />
wenn nicht formalisierte Strukturen Ordnung und somit <strong>Organisation</strong> schaffen -<br />
wer oder was dann?<br />
emergente Ordnung statt geschaffene Ordnung<br />
Aus postmoderner Sicht ist Ordnung sozial und nicht technisch-instrumentell<br />
konstituiert. Im Vergleich zur traditionellen Vorstellung ist diese Ordnung eher<br />
eine Ordnung im Werden, denn eine Ordnung im Sein. Sie wird nicht durch<br />
den formalisierten Einsatz <strong>von</strong> Strukturen, Entscheiden, Werten etc.<br />
absichtsvoll geschaffen, sondern erwächst rekursiv aus den sozialen<br />
Konstruktionsprozessen des Organisierens. Sie muss nicht extra geschaffen<br />
werden, weil sie sich selbst konstituiert. Wie bereits erwähnt, bilden sich<br />
nämlich in den Prozessen der sozialen Konstruktion Ergebnisse bzw.<br />
Materialisierungen heraus, die später <strong>als</strong> Bedingung bzw. Einschränkung auf<br />
eben diese Prozesse zurückwirken. Durch dieses Zurückwirken entfaltet sich<br />
eine stabilisierende Wirkung auf die Prozesse des Organisierens. Ordnung ist<br />
in diesem Sinn ein Strom <strong>von</strong> sich selbst stabilisierenden Ereignissen.<br />
Trotzdem ist diese Ordnung nie selbstverständlich und unangefochten. Da sie<br />
aus kontingenten, relationalen Prozessen (vgl. vorhergehenden Abschnitt)<br />
entspringt, ist Ordnung stets ein immanent prekäres und gefährdetes<br />
Phänomen.<br />
Wenn wir den kontinuierlichen Strom <strong>von</strong> täglichem Geschehen betrachten,<br />
aus dem die Prozesse des Organisierens diejenigen Ereignisse hervorheben,<br />
die schliesslich <strong>Organisation</strong> entstehen lassen, dann ergeben sich daraus<br />
folgende Fragen: Wie und nach welchen Regeln erfolgt dieses Hervorheben<br />
und wie entsteht aus der routinisierten Anwendung bewährter Regeln<br />
schliesslich Ordnung und im weiteren Verlauf letztlich <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> ein <strong>von</strong><br />
diesen Regeln unabhängiges, externes Phänomen? „From this we might begin<br />
56 Vgl. z.B. Denzin 1983; Astley/Van de Ven 1983; Quinn/Cameron 1988; Poole/Van de Ven 1989;<br />
Gioia/Pitre 1990; Leonard-Barton 1992; Handy 1994; Eisenhardt 2000.<br />
54
POSTMODERNE ENTWICKLUNG DER ORGANISATIONSTHEORIE<br />
to ask how it is that some kinds of interaction become recursive and appear to<br />
‚succeed’ in stabilizing and reproducing themselves, generating patterned<br />
effects such as organizations, whilst others disappear completely.” (Chia<br />
1996b, S. 53)<br />
Es ist bekannt, dass routinisiertes Wissen eine wesentliche Rolle in diesem<br />
Prozess <strong>von</strong> Entstehen <strong>von</strong> Ordnung spielt. Solches routinisiertes Wissen ist<br />
beispielsweise beschrieben worden <strong>als</strong>: „Alltagswissen“ (Berger/Luckmann<br />
1969), „cause maps“ oder „cognitive maps“ (Weick 1979, 1986), „praktisches<br />
Bewusstsein“ (Giddens 1997), „dominant logic“ (Prahalad/Bettis 1986),<br />
„scripts“ (Sims/Gioia 1986; Gioia/Poole 1984), „lokale Theorien“ (Baitsch 1993,<br />
oder „taken-for-granteds“ (Hosking/Bass 1998). Kollektive Handlungsfähigkeit<br />
basiert darauf, dass sich dieses Wissen bzw. diese Gewissheit gegenseitig<br />
unterstellt wird. <strong>Organisation</strong> kann <strong>als</strong>o verstanden werden <strong>als</strong> Prozess der<br />
laufenden Vergewisserung, dass dieses unterstellte routinisierte Wissen noch<br />
gilt (vgl. Rüegg-Stürm 2001).<br />
Mit Blick auf die relational-konstruktivistischen wissenschaftstheoretischen<br />
Prämissen (vgl. Abbildung 3) gilt es aber zu betonen, dass dieses routinisierte<br />
Wissen nicht (allein) eine kognitive Fähigkeit einzelner Individuen ist. Vor<br />
allem ist es ein Merkmal und Ergebnis der sozialen Interaktionen dieser<br />
Individuen und kann daher nicht eindeutig und ursächlich auf einzelne<br />
Individuen zurückgeführt werden, sondern immer nur im Zusammenhang mit<br />
den sozialen Interaktionen verstanden werden, an denen die Individuen<br />
beteiligt sind. „The conditions of order and tightness in organizations exist as<br />
much in the mind as they do in the field of action.“ (Weick 1985, S. 128)<br />
<strong>Eine</strong> postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorie, die am Phänomen <strong>Organisation</strong><br />
interessiert ist, muss <strong>als</strong>o letztlich die Ordnungsmuster untersuchen, die aus<br />
routinisierten sozialen Interaktionen erwachsen. „Organization theory conceived<br />
thus takes on a different complexion, one in which organization now<br />
refers to the fundamental socially structured process of punctuating,<br />
abstracting and ordering and hence arresting the flow of human experiences in<br />
order to create a coherent, stabilized, and livable world. Instead of an<br />
organization theory concerned with organized states, this generalized<br />
economy of organization takes it upon itself to elaborate the emergence,<br />
endurance and sustenance of such organized states.” (Chia 1997, S. 700)<br />
Obwohl Ordnung ein vorrangiges Forschungsinteresse ist, ist sie aus postmoderner<br />
Sicht im Gegensatz zur traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorie nicht<br />
55
ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
zwingend ein erstrebenswertes organisationales Ziel. Gergen (1992) macht<br />
darauf aufmerksam, dass Ordnung immer auch den Ausschluss <strong>von</strong><br />
Möglichkeiten bedeutet und damit letztlich die Handlungsfähigkeit und<br />
Entwicklungsfähigkeit der <strong>Organisation</strong> einschränkt und gefährdet. Aus diesem<br />
Grund sagt er: „[B]luntly, if everything is running smoothly the organization is in<br />
trouble.“ (Gergen 1992, S. 223)<br />
<strong>Die</strong>ser Ausschluss <strong>von</strong> Möglichkeiten - oder umgekehrt formuliert - das Sich-<br />
Durchsetzen bestimmter Möglichkeiten des Organisierens ist ein interessanter<br />
Aspekt des postmodernen Verständnisses <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, denn es verweist<br />
darauf, dass Ordnung untrennbar verbunden ist mit politischen Prozessen.<br />
politisches Gefüge statt unitaristisches Instrument<br />
Aus postmoderner Sicht sind <strong>Organisation</strong>en nicht ein zweckrationales,<br />
objektiv-verselbständigtes Instrument, sondern ein heterogenes und<br />
pluralistisches soziales Interaktionssystem. An Stelle einer unitaristischen, das<br />
heisst einer einheitlichen und zentral geregelten organisationalen Rationalität<br />
und Zielhierarchie treten verteilte Rationalitäten und Ziele, die miteinander in<br />
einem laufenden Wettbewerb stehen. „Politikorientierte Ansätze fassen<br />
<strong>Organisation</strong>en nicht <strong>als</strong> durch die vermeintliche Zweckrationalität eines<br />
<strong>Organisation</strong>sherren bestimmte Strukturen auf, sondern <strong>als</strong> ‚Arena’<br />
interessengeleiteter Interventionen, Aushandlungen, Konflikte mit jeweils nur<br />
temporären Problemlösungen.“ (Türk 1989, S. 122)<br />
<strong>Organisation</strong>en <strong>als</strong> politisches Gefüge zu sehen hat <strong>als</strong>o letztlich zur<br />
Konsequenz, dass man Abschied nehmen muss <strong>von</strong> einem unitaristischen<br />
<strong>Organisation</strong>sbegriff, das heisst der Vorstellung einer zentral gelenkten<br />
Ordnung. <strong>Organisation</strong>ale Kohäsion, Kohärenz und Integration sind aus<br />
postmoderner Sicht zutiefst problematisch, weil sie nicht exogen durch objektiv<br />
verbindliche Ziele und Strukturen abgesichert werden können. „Nichts spricht<br />
dafür, dass der Rationalität die Bedeutung zukommt, die ihr in klassischen<br />
Bürokratiemodellen beigemessen wurde. Weder gibt es Ziele und Zwecke vor<br />
aller <strong>Organisation</strong>, so dass sich die <strong>Organisation</strong> schlicht <strong>als</strong> rationales Mittel<br />
zum Zweck begreifen könnte. Noch dürfen wir annehmen, dass alles, was eine<br />
<strong>Organisation</strong> tut, zumindest in seinen wichtigsten Bestandteilen konsistent ist,<br />
dass die <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong>o rational mit sich selbst übereinstimmt.“ (Baecker<br />
1994, S. 92)<br />
56
ZUSAMMENFASSUNG: DER VERLUST DER GEWISSHEIT<br />
Der Prozess des Organisierens ist somit immer auch ein mehr oder weniger<br />
expliziter Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichsten Rationalitäten<br />
und damit inhärent politisch. Im Gegensatz zu dem traditionellen<br />
<strong>Organisation</strong>sverständnis, bei dem Macht und Politik hierarchisch geregelt und<br />
zurückgebunden bzw. in den Bereich des Informellen abgedrängt werden,<br />
anerkennen postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorien daher politische Prozesse <strong>als</strong><br />
konstitutiver Bestandteil <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> (vgl. z.B. Gergen 1992;<br />
Cooper/Burrell 1988). Macht und der Einsatz <strong>von</strong> Macht werden zu einem<br />
wichtigen Forschungsfokus.<br />
Das Thema Macht und Politik in <strong>Organisation</strong>en ist schon aus unterschiedlichen<br />
Blickwinkeln untersucht worden, 57 aber es gibt mit nur wenigen<br />
Ausnahmen (vgl. z.B. Gergen 1995; Hosking 1995) kaum eine Auseinandersetzung<br />
mit dem Thema aus einer relational-konstruktivistischen Sicht. 58 <strong>Die</strong>s<br />
ist eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass <strong>von</strong> vielen Autoren auf die<br />
zentrale Stellung <strong>von</strong> Macht in der postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
hingewiesen wird (z.B. bei Cooper/Burrell 1988). In Kapitel 4.1.2 wird jedoch<br />
ein Versuch gemacht, diese Lücke zu füllen und die Bedeutung und Funktion<br />
<strong>von</strong> Macht und Politik in den Prozessen des Organisierens aus relationalkonstruktivistischer<br />
Sicht zu interpretieren.<br />
3.3 Zusammenfassung:<br />
Der Verlust der Gewissheit<br />
<strong>Die</strong> postmoderne Entwicklung hat Unsicherheit in die <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
gebracht. „Gone is the certainty, if it ever existed, about what organizations<br />
are; gone, too, is the certainty about how they should be studied, the place of<br />
the researcher, the role of methodology, the nature of theory.” (Clegg/Hardy<br />
1996, S. 3) Altervertrautes wird radikal neu gedacht, Selbstverständliches wird<br />
in Frage gestellt.<br />
57<br />
Vgl. z.B. Burns 1962; Pettigrew 1973; Clegg 1979, 1989; Crozier/Friedberg 1993/1979;<br />
Bacharach/Lawler 1980; Pfeffer 1981, 1992; Mintzberg 1983; March 1988a; Empter 1988;<br />
Sandner 1990, 1992; Küpper/Ortmann 1992; Ortmann 1995a; Friedberg 1995; Neuberger 1995.<br />
58<br />
<strong>Die</strong>se Aussage gilt genau genommen nur für den social-constructionist-Ansatz der postmodernen<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie (vgl. Definition in Fussnote 54). Der linguistic-constructionist-Ansatz hat sich<br />
mit dem Thema Macht und Politik in <strong>Organisation</strong>en schon stärker auseinandergesetzt (vgl. Weik<br />
1996, S. 392f).<br />
57
ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
Postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorien wählen einen neuen Ausgangspunkt für<br />
ihr Theoretisieren: Sie gehen <strong>von</strong> Prozessen und nicht mehr <strong>von</strong> Entitäten<br />
aus, <strong>von</strong> Interaktion und Abhängigkeit statt <strong>von</strong> objektiven Strukturen oder<br />
rational und autonom handelnden Individuen. Solche Entitäten sind aus<br />
postmoderner Sicht nicht exogen gegeben, sondern das Ergebnis <strong>von</strong> sie<br />
konstituierenden Prozessen des Organisierens. Aus diesem Grund können<br />
und dürfen sie nicht <strong>als</strong> Ausgangspunkt für eine Theorie der <strong>Organisation</strong><br />
gewählt werden.<br />
Das heisst aber nicht, dass postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorien Entitäten<br />
völlig aus ihrem Untersuchungsfeld verbannen. Sie weisen ihnen lediglich<br />
einen anderen Platz zu. Entitäten sind aus relational-konstruktivistischer Sicht<br />
kollektive Errungenschaften, die <strong>als</strong> „Erwartungsgeneralisierungen“ (Lueger<br />
1992b, S. 174) in den Prozess des Organisierens eingehen, und so<br />
paradoxerweise die Bedingungen ihres eigenen Entstehens beeinflussen,<br />
allenfalls sogar verändern.<br />
Organisieren wird so <strong>von</strong> einem linearen zu einem zirkulären Prozess und<br />
<strong>Organisation</strong> avanciert <strong>von</strong> einer Gewissheit zu einem Problem. „Aus den<br />
ehem<strong>als</strong> berechenbaren Maschinen sind im Laufe der Zeit immer<br />
unberechenbarere, fast schon anarchische Gebilde geworden, die nur noch<br />
ihren organisierten Einredungen folgen. Aus fremdorganisierten Systemen, die<br />
vorgegebene Probleme effizient zu bearbeiten hatten, sind selbstorganisierte<br />
Systeme geworden, die passende Probleme zu ihren Lösungswegen suchen.<br />
Aus Managern und Beratern, die anfangs mit überlegenem Fachwissen allein<br />
zu überzeugen wussten, sind Paradoxiekünstler geworden, die im Wissen um<br />
das unwahrscheinliche Gelingen ihres Tuns, irritierend auf die Systeme<br />
einwirken.“ (Bardmann/Groth 2001, S. 10) Da ist es nicht erstaunlich, wenn<br />
Baecker sich fragt (1997, S. 21): „Wie kann das gut gehen?“<br />
<strong>Organisation</strong> hat aus postmoderner Sicht ihre Unschuld verloren, und sie steht<br />
daher unter dem Zwang, ihre Existenz zu erklären und zu begründen. Es muss<br />
gezeigt werden, wie sich organisiertes Handeln konstituiert bzw. wie<br />
organisationale Ordnung entsteht und besteht. Das ist keine leichte Aufgabe<br />
angesichts des paradoxen Charakters <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>: „From an<br />
organizational analysis standpoint, the idea of organization as an ontological<br />
reality-creating process involving the ongoing relational configuring of material<br />
elements, which are themselves continuously changing and generating<br />
58
ZUSAMMENFASSUNG: DER VERLUST DER GEWISSHEIT<br />
themselves recursively, implies that organization is both at once a medium and<br />
an outcome.” (Chia 1996b, S. 52f)<br />
Es braucht demnach eine <strong>Organisation</strong>stheorie, die diesen paradoxen<br />
Charakter der <strong>Organisation</strong> erklären kann - eine Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. 59<br />
Theorien, die <strong>Organisation</strong> einseitig mit Rückgriff auf objektive Struktur- oder<br />
autonome Handlungselemente erklären, genügen diesen Anforderungen nicht<br />
mehr. Gesucht ist eine <strong>duale</strong> Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, die <strong>Organisation</strong> im<br />
Lichte organisierten Handelns deutet, und dabei strukturdeterministische und<br />
handlungsvoluntaristische Elemente in einem einheitlichen <strong>Erklärung</strong>sansatz<br />
miteinander verwebt. Der theoretische Fokus dieser <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> richtet sich auf die realitätsschaffenden und realitätserhaltenden<br />
sozialen Praktiken des Organisierens, die sowohl die Kontingenz <strong>als</strong> auch die<br />
Zwangsläufigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> hervorbringen. Das Entstehen und<br />
Bestehen <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> wird zum eigentlichen Thema der <strong>duale</strong>n Theorie<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> und somit zur relevanten Forschungsfrage. 60<br />
Das verlangt nach einer theoretischen Brille, die die latenten Strukturen <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> sichtbar macht. <strong>Die</strong> Theorie muss deontologisieren, damit sie die<br />
ontologisierende Leistung der Praxis kenntlich machen und würdigen kann.<br />
Was sind die theoretischen Bausteine einer solchen <strong>duale</strong>n Sichtweise? <strong>Die</strong>se<br />
Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil selbstverständlich nicht auf die gut<br />
fundierten theoretischen Elemente der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
59 Es wird daher ab sofort nicht mehr <strong>von</strong> einer Theorie der <strong>Organisation</strong>, sondern <strong>von</strong> einer Theorie<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> gesprochen (vgl. dazu auch die Anmerkung zur Verwendung des Begriffs<br />
<strong>Organisation</strong> auf Seite xix).<br />
60 Einige <strong>Organisation</strong>stheoretiker weisen darauf hin, dass dies eigentlich eine Wiederentdeckung<br />
der <strong>Organisation</strong> und eine Rückkehr an die Weberschen Wurzeln der (traditionellen)<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie bedeutet - wenn auch mit neuem, relational-konstruktivistischem<br />
Vorzeichen (vgl. Cooper/Burrell 1988; Reed 1993; Chia 1997). „In other words, Weber made us<br />
see modern organization as a process which emblemized the rationalization and objectification of<br />
social life, and it is to this process that the current debate returns us, but with a fresh twist…”<br />
(Cooper/Burrell 1988, S. 92<br />
Das deckt sich mit Bardmann (1994, S. 277ff), der darauf hinweist, dass Webers Bürokratieansatz<br />
<strong>von</strong> der <strong>Organisation</strong>stheorie nicht richtig rezipiert worden ist. „Weber wollte weder<br />
normative Vorschriften und Empfehlungen für die vorbildliche, nachahmungswerte, rationale<br />
<strong>Organisation</strong>sgestaltung liefern, ... noch sollte sein Verwaltungsmodell <strong>als</strong> Beschreibung des<br />
tatsächlichen Verhaltens in <strong>Organisation</strong>en dienen. Vielmehr sollte es helfen, sich in historisch<br />
vergleichenden Analysen gesellschaftlicher Ordnungs- und Herrschaftsformen einer solchen<br />
Beschreibung anzunähern, indem man die Wirklichkeit gerade an den Abweichungen vom ‚reinen<br />
Typus’ herausarbeitete. Nur vor diesem Hintergrund sind Webers Ausführungen angemessen zu<br />
verstehen.“<br />
59
ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />
zurückgegriffen werden kann. „So, if we do not base theories on conceptions<br />
of rationality, motivation, emotion and the like, where do we turn?“ (Gergen<br />
1992, S. 217) Es ist denkbar, dass es keine singuläre Theorie mehr geben<br />
wird, die es vermag, das Phänomen <strong>Organisation</strong> umfassend zu erklären.<br />
Vielleicht liegt die Zukunft der <strong>Organisation</strong>stheorie nicht in einer einzigen<br />
„grand theory“ sondern in einer Vielzahl <strong>von</strong> „analytically structured<br />
narratives”.<br />
Das folgende Kapitel 4 stellt mögliche Bausteine einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> vor, die dann in Kapitel 5 zu einem <strong>duale</strong>n <strong>Erklärung</strong>sansatz <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> zusammengefügt werden.<br />
60
4 KONTUREN EINER DUALEN<br />
THEORIE VON ORGANISATION<br />
ZUSAMMENFASSUNG: DER VERLUST DER GEWISSHEIT<br />
Heinl (1996, S. 63ff) hält fest, dass die Entwicklung einer Theorie immer auch<br />
mit einer Änderung des theoretisches Gehalts zentraler Begriffe einhergeht.<br />
Bei der Entwicklung einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> gilt das in<br />
besonderem Masse für die Begriffe <strong>von</strong> Struktur und Ordnung. In den<br />
traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien wurde Ordnung bislang immer mit<br />
formalen Strukturen in Zusammenhang gebracht. <strong>Die</strong> zentrale Aufgabe dieser<br />
formalen Strukturen war es, das kollektive Handeln in der <strong>Organisation</strong> zu<br />
koordinieren und dadurch die wirtschaftliche Erreichung bzw. Erfüllung der<br />
organisationalen Ziele bzw. Aufgaben sicherzustellen.<br />
Aus einem solchen Verständnis heraus macht es Sinn zu fragen, „wieviel<br />
<strong>Organisation</strong> die <strong>Organisation</strong> braucht“ (vgl. Baecker 1997). Der Ansatz der<br />
Kontingenztheorie hat versucht, auf diese Frage eine schlüssige Antwort zu<br />
finden - ihr Erfolg ist aber nicht unumstritten. 61 Aus postmoderner Sicht liegt es<br />
auf der Hand, dass die Kontingenztheorie ihr Versprechen nicht einlösen<br />
konnte, weil formelle Mittel eben nicht der (einzige) Weg zur <strong>Erklärung</strong> <strong>von</strong><br />
organisationaler Ordnung sind (vgl. Schütz/Mühlbach/et al. 2001). Baecker<br />
(1997, S. 19) macht deutlich, dass es in eine theoretische Sackgasse führt,<br />
wenn man Ordnung mit formellen Strukturen gleichsetzt: „<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong><br />
braucht viel <strong>Organisation</strong>. Und: <strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong> braucht wenig <strong>Organisation</strong>.<br />
... Ich behaupte, dass man jede <strong>Organisation</strong> sowohl überdeterminieren <strong>als</strong><br />
auch unterdeterminieren kann und dass sie trotzdem und in beiden Fällen<br />
arbeitsfähig ist.“ Das scheint eine paradoxe Aussage zu sein - aber nur<br />
solange, <strong>als</strong> man Ordnung ursächlich mit formellen Strukturen in Verbindung<br />
bringt. Löst man diese vermeintliche Einheit zwischen Ordnung und formellen<br />
Strukturen auf, dann verweist das Zitat <strong>von</strong> Baecker darauf, dass es eine<br />
Ordnung gibt, die jenseits <strong>von</strong> formellen organisatorischen Mitteln liegt.<br />
Sich diese Ordnung in dem Bezugsrahmen einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> vorzustellen ist eine Herausforderung, denn man kann dafür auf<br />
nichts anderes mehr zurückgreifen <strong>als</strong> auf Prozesse und „Beziehungszustände“<br />
(Heinl 1996, S. 67). So erstaunt es nicht, dass Kühl (1998, S. 16)<br />
61 Vgl. dazu die Diskussion der Kontingenztheorie (Situativer Ansatz) z.B. in Kieser 1999b.<br />
61
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
noch eine gewisse „theoretische Sprachlosigkeit“ konstatiert, wenn es darum<br />
geht, das Phänomen Ordnung in eine neue Sprache zu fassen.<br />
Es ist deshalb wohl ebenso notwendig wie sinnvoll, zur Entwicklung einer<br />
<strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> zunächst einmal <strong>von</strong> denjenigen Begriffen<br />
auszugehen, die den Kern des postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnisses<br />
ausmachen und schrittweise zu versuchen, diese Kernbegriffe in einer <strong>duale</strong>n<br />
Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> neu zu fassen.<br />
4.1 Kernbegriffe einer <strong>duale</strong>n Theorie<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
Aus der Diskussion der postmodernen Entwicklung der <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
(vgl. Kapitel 3.2) lassen sich für die Erarbeitung einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> zwei zentrale Themenkomplexe ableiten:<br />
• die Re-Definition <strong>von</strong> Strukturen <strong>als</strong> Materialisierungen des<br />
Sozialen im weitesten Sinne und die Wirkungsweise dieser<br />
Strukturen in den Prozessen des Organisierens, sowie<br />
• die Rolle <strong>von</strong> Politik und Macht bei der Entstehung<br />
organisationaler Strukturen und der Entfaltung organisationaler<br />
Prozesse.<br />
<strong>Die</strong> Begriffe Strukturen, Prozesse, Politik und Macht sind zwar alt vertraut,<br />
aber die Bedeutung und die Interpretation, die ihnen in den traditionellen<br />
<strong>Organisation</strong>stheorien zugeteilt worden sind, können in einem postmodernen<br />
Verständnis nicht mehr genügen. Daher müssen die Begriffe aus ihrem<br />
bisherigen theoretischen Zusammenhang herausgelöst und neu positioniert<br />
werden. Das soll in den folgenden Kapiteln erfolgen.<br />
4.1.1 Strukturen und Prozesse<br />
Strukturen sind eines der klassischen Themen der traditionellen<br />
<strong>Organisation</strong>sliteratur. Darunter wurde das relativ stabile „Beziehungs- oder<br />
Anordnungsmuster zwischen den Personen und Maschinen einer<br />
<strong>Organisation</strong>“ (Scharfenkamp 1987, S. 20) verstanden. Der Fokus lag auf den<br />
formellen Mitteln, mit denen dieses Muster zu gestalten ist: Aufgabenteilung<br />
62
KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
(Differenzierung, Spezialisierung), (De-)Zentralisierung, Formalisierung. 62<br />
<strong>Die</strong>se Erscheinungsform <strong>von</strong> organisierter Ordnung wurde unter den Stichworten<br />
Hierarchie und Bürokratie zusammengefasst. Ordnung, Strukturen,<br />
Hierarchie und Bürokratie werden somit in den traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien<br />
in der Regel <strong>als</strong> kausal verknüpft gedacht und verwendet. 63<br />
Das Versagen bürokratischer Strukturen ist in der <strong>Organisation</strong>sliteratur<br />
vielstimmig beklagt worden. 64 Es gibt Autoren, die den Grund des Versagens<br />
in der mangelhaften Umsetzung des bürokratischen Konzepts verorten und<br />
dafür plädieren, die bürokratischen Strukturen in der Praxis besser zu<br />
implementieren (vgl. z.B. Jacques 1990). Hier soll die leidende Ordnung durch<br />
nachgebesserte Strukturen gerettet werden. <strong>Eine</strong>n neuen Beitrag zum Thema<br />
Strukturen leisten diese Autoren damit nicht - sie schlagen lediglich mehr vom<br />
selben vor.<br />
Andere Autoren unterziehen das Bürokratie-Modell einer kritischen Analyse<br />
und stellen nicht nur Implementierungsmängel, sondern inhärente Schwächen<br />
und Grenzen des bürokratischen Ansatzes fest, und entwerfen darum ein<br />
Gegenmodell zur bürokratischen Struktur (vgl. z.B. Heckscher 1994).<br />
<strong>Eine</strong> dritte Gruppe <strong>von</strong> Autoren kritisiert die Bürokratie-Kritik <strong>als</strong> zu eng, weil<br />
sie die eigentliche Funktionsweise bürokratischer Mechanismen übersehe<br />
bzw. das Funktionieren hierarchischer Strukturen trivialisiere (vgl. z.B.<br />
Thompson 1993). <strong>Die</strong>se Autoren verwerfen Bürokratie <strong>als</strong> <strong>Organisation</strong>sform<br />
nicht a priori, sondern rufen dazu auf, ein differenzierteres Verständnis für das<br />
Funktionieren der bürokratischen Strukturen zu entwickeln.<br />
Auf diese beiden letzteren Strömungen soll nun kurz eingegangen werden.<br />
62<br />
<strong>Die</strong>ses Ordnungsverständnis wird stets auf Weber zurückgeführt. Allerdings gibt es neuerdings<br />
auch Tendenzen, Weber anders zu interpretieren <strong>als</strong> auf diese traditionelle und tradierte Art und<br />
Weise (vgl. Fussnote 60).<br />
63<br />
Im Rahmen dieser Dissertation werden die Begriffe Hierarchie und Bürokratie nicht weiter<br />
differenziert. Damit lehnt sich die Dissertation an den amerikanischen Sprachgebrauch an, in<br />
dem Bürokratie die neutrale Bezeichnung einer hierarchisch strukturierten <strong>Organisation</strong> ist, ohne<br />
abwertenden Beiton, wie das im deutschen Sprachgebrauch häufig der Fall ist.<br />
64<br />
Vgl. z.B. Daft 1982; Drazin/Van de Ven 1985; Kurke 1988; Bartlett/Ghoshal 1993;<br />
Heckscher/Donnellon 1994; Adler/Borys 1996; Kanter 1996; Kilman 1996; Bower 1997; Iverson<br />
1998.<br />
63
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
a) Entwicklung neuer <strong>Organisation</strong>smodelle<br />
Nohira und Berkley (1994) sehen in den neu auftauchenden organisationalen<br />
Konzepten die Ablösung der Weberschen Bürokratie: <strong>Die</strong> Bürokratie war der<br />
Versuch, Information und Wissen durch hierarchische Strukturen zu<br />
koordinieren und verfügbar zu machen. Mit den neuen technologischen<br />
Möglichkeiten, Information und Wissen elektronisch verfügbar zu machen, ist<br />
die Notwendigkeit für diese bürokratischen Strukturen nunmehr entfallen. „In<br />
its purest sense, this project has to do with the implosion of our older<br />
structures of coordination and control. … The idea of organizational structure<br />
is in many ways a legacy of the bureaucratic era, one that has decreased<br />
relevance in the ‚immaterial’ world of the virtual organization.“ (Nohria/Berkley<br />
1994, S. 116/119)<br />
Momentan steht die Rückbesinnung auf kleine Einheiten wie autonome<br />
Arbeitsgruppen, temporäre Projektgruppen, lose Netzwerke und ähnliche<br />
Formationen hoch im Kurs (vgl. z. B. Heintel/Krainz 1988). Dahinter steht die<br />
Überzeugung, dass überschaubare Einheiten auf eine bürokratische Struktur<br />
verzichten können und dadurch an Flexibilität und Dynamik gewinnen.<br />
<strong>Die</strong>ser Drang nach einer „grenzenlosen“, „fraktalen“, „fluiden“, „interaktiven“<br />
oder „virtuellen“ <strong>Organisation</strong> 65 hängt in der Regel eng zusammen mit einem<br />
ungenügenden Verständnis der Wirkungsweise <strong>von</strong> (bürokratischen)<br />
Strukturen (vgl. Abschnitt unten). Das vermeintlich einengende Korsett<br />
bürokratischer Strukturen wird abgeschafft, und inspiriert <strong>von</strong> den<br />
anspruchsvollen Autopoiesis-Konzepten der modernen Systemtheorie werden<br />
neue Vorstellungen darüber entwickelt, wie organisatorische Einheiten<br />
gestaltet und gesteuert werden können. „[T]he design of the organization itself<br />
has emerged as a new strategic variable.“ (Daft/Lewin 1993, S. ii)<br />
Das Zauberwort, mit dem das möglich sein soll, heisst Selbstorganisation statt<br />
Fremdorganisation durch bürokratische Strukturen (vgl. z.B. Schmidt 1993).<br />
Man verspricht sich da<strong>von</strong> eine <strong>Organisation</strong>sform, die zwar Freiräume und<br />
Flexibilität schafft, aber Führung und Kontrolle dennoch nicht ganz verhindert.<br />
65 Vgl. Picot/Reichwald/et al. 1996; Warnecke 1992, 1995; Weber 1996; Heckscher 1994;<br />
Cooper/Rousseau 1999). <strong>Die</strong> fantasievollen Bezeichnungen für die neuen <strong>Organisation</strong>sformen<br />
vermögen nicht darüber hinweg zu täuschen, dass sich trotz neuer Begriffe hinsichtlich des<br />
Verständnisses des Phänomens <strong>Organisation</strong> wenig geändert hat. Keine dieser Veröffentlichungen<br />
geht am Anfang ihrer Überlegungen auf die Frage ein, was (eine) <strong>Organisation</strong> ist und<br />
wie sie entsteht und besteht. <strong>Organisation</strong> wird nach wie vor unproblematisch vorausgesetzt.<br />
64
KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
„Leadership in these new organizations seems to reflect a shift from<br />
maintaining rational control to leadership without control, at least in the<br />
traditional sense.“ (Daft/Lewin 1993, S. ii) Was dabei herauskommt sind in der<br />
Regel mehr oder weniger direkte Ansätze <strong>von</strong> Kultur- und Mindset-<br />
Management (vgl. z.B. Lessem 1990). 66<br />
Doch es zeigt sich, dass der Transfer des hoch abstrakten Gedankenguts der<br />
Autopoiesis-Konzepte in die Niederungen des organisationalen Alltags nicht<br />
ohne Tücken ist (vgl. Kühl 1998). <strong>Die</strong> Probleme, die die Praxis mit den neuen<br />
<strong>Organisation</strong>sformen hat, haben damit zu tun, dass die traditionelle<br />
Vorstellung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> und Ordnung auch den Umgang mit den neuen<br />
<strong>Organisation</strong>sformen weiterhin implizit bestimmt. So wird Selbstorganisation in<br />
der Regel auf die Frage des Designs flexibler <strong>Organisation</strong>sstrukturen verkürzt<br />
und umstandslos auf ein unverändert gebliebenes Verständnis <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> entitative Einheit aufgepfropft. Ulrich (1990, S. 291f)<br />
konstatiert denn auch, dass trotz neuer Führungs- und <strong>Organisation</strong>sformen<br />
kein Paradigmenwechsel stattgefunden hat: „Da<strong>von</strong> kann schon deshalb nicht<br />
die Rede sein, weil der eigentliche Mythos des wissenschaftlichen<br />
Managements, die Verkürzung <strong>von</strong> rationaler Kooperationspraxis auf<br />
Sozialtechnologie (das heisst der Umgang mit Subjekten nach dem Muster der<br />
technischen Verfügung und Kontrolle über Objekte, <strong>als</strong> ob Mitarbeiter bloss<br />
Objekte des Managements wären), <strong>als</strong> solche noch überhaupt nicht reflektiert<br />
wird.“<br />
Was passiert, wenn Fremdorganisation durch Selbstorganisation abgelöst<br />
wird, ist nämlich nicht wie erhofft ein Abbau bzw. Verschwinden <strong>von</strong><br />
Steuerungs- und Kontrollmechanismen (vgl. Hastings 1993), sondern lediglich<br />
eine Verschiebung. <strong>Die</strong> Steuerungs- und Kontrollmechanismen der<br />
Fremdorganisation werden nämlich ganz einfach ersetzt durch diejenigen der<br />
Selbstorganisation. Es geht daher nicht um Fremdorganisation versus<br />
Selbstorganisation, sondern ganz allgemein darum, die Prozesse des<br />
Organisierens zu verstehen, zu erkennen wie sich <strong>Organisation</strong> im wahrsten<br />
Sinn des Wortes (selbst) organisiert. Das heisst: Wir brauchen ein neues<br />
Struktur- und Ordnungsverständnis.<br />
66 Nach dem Konzept des Business Process Reengineering (Hammer/Champy 1993) geht es nun<br />
an das Engineering der soft factors, vgl. z.B. die 4. Dimension der Balanced Score Card<br />
(Kaplan/Norton 1996).<br />
65
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
b) Entwicklung eines neuen Struktur- und Prozessverständnisses<br />
Angesichts des durchwegs auch positiven Leistungsausweises bürokratisch<br />
strukturierter <strong>Organisation</strong>en warnt Baecker (1994, S. 30) davor, hierarchische<br />
Strukturen leichtfertig über Bord zu werfen: „Aber es kommt darauf an zu<br />
verstehen, dass jeder Versuch, Unternehmensorganisation nichthierarchisch<br />
aufzubauen, aus guten Gründen die gesamte Managementtradition gegen sich<br />
hat, deren Leistungsfähigkeit in den westlichen Industrieländern auf eben<br />
dieser Hierarchie beruht. Alle Managementformen, die besser sind <strong>als</strong><br />
Hierarchie, müssen mindestens so gut sein wie: Hierarchie.“<br />
Es kommt <strong>als</strong>o darauf an, besser zu verstehen, was Strukturen eigentlich sind<br />
und wie sie wirken. <strong>Organisation</strong>ale Strukturen sind bereits unter den<br />
verschiedensten Aspekten untersucht worden. 67 Blau (1963) und Weick (1979)<br />
waren jedoch die ersten <strong>Organisation</strong>stheoretiker, die angefangen haben, das<br />
Thema Struktur aus einer prozessorientierten Perspektive zu betrachten. Sie<br />
hatten die Erkenntnis, dass die Funktionsweise <strong>von</strong> Strukturen erst dann<br />
verstanden werden kann, wenn Strukturen <strong>als</strong> Prozess betrachtet werden,<br />
oder mit den Worten <strong>von</strong> Denzin (1983, S. 135) <strong>als</strong> „forms of interaction,<br />
whose contents must be filled in by the interactions, intentions, and<br />
experiences of individu<strong>als</strong>.“<br />
Strukturen <strong>als</strong> Prozess zu betrachten heisst aber nicht, einfach den Fokus weg<br />
<strong>von</strong> formellen Gegebenheiten auf zwischenmenschliche Interaktionen zu<br />
lenken. Law (1994, S. 2) macht deutlich, dass soziale Ordnung eine sehr<br />
diverse Erscheinungsform besitzt: „Rather, I argue, what we call the social is<br />
materially heterogeneous: talk, bodies, texts, machines, architectures, all of<br />
these and many more are implicated in and perform the ‚social’.“ Das<br />
Phänomen Ordnung kann <strong>als</strong>o weder auf exogene, formelle Strukturen noch<br />
auf soziale Prozesse reduziert werden. Vielmehr ist Ordnung eine komplexe<br />
Materialisierung ganz bestimmter, sich wiederholender Raum-Zeit-<br />
Konstellationen. Strukturen und Prozesse fallen zusammen in „reified,<br />
patterned regularities of thought and action that find their realization in the<br />
interactional and phenomenological situational streams that bind persons to<br />
one another.“ (Denzin 1983, S. 135)<br />
67 Vgl. z.B. Meyer/Rowan 1977; Ranson/Hinings/et al. 1980; Miller 1981; Brief/Downey 1983;<br />
Drazin/Sandelands 1989; Miller 1992; Greenwood/Hinings 1993; Weick 1993; Sandner/Meyer<br />
1994; Hinings/Thibault/et al. 1996.<br />
66
KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Strukturen und Prozesse sind auf das Engste miteinander verwoben und ein<br />
Ausdruck des spezifischen Ordnungsmusters einer <strong>Organisation</strong>. Bauer (1996,<br />
S. 258) spricht da<strong>von</strong>, dass Strukturen „Eigenwerte“ der <strong>Organisation</strong> sind. Sie<br />
weisen eine „interne Konsistenz“ auf, die nicht auf externe Gestaltungsmassnahmen<br />
allein zurückgeführt werden kann. So sagt Baecker (1999, S. 202f):<br />
„Man hält ‚<strong>Organisation</strong>’ und ‚Hierarchie’ für Konstanten sozialer Ordnung und<br />
übersieht vollständig, wie sehr die internen Konditionierungen, wenn sie sich<br />
auf unterschiedliche Anforderungen der Koordination <strong>von</strong> Arbeit beziehen,<br />
auch ganz unterschiedliche <strong>Organisation</strong>en und unterschiedliche Hierarchien<br />
hervorbringen.“<br />
Zwischen der Auffassung <strong>von</strong> Strukturen <strong>als</strong> exogene Gestaltungsfaktoren<br />
bzw. <strong>als</strong> spezifisches Charakteristika einer <strong>Organisation</strong> liegt ein radikaler<br />
Perspektivenwechsel. Mit einem Mal sind hierarchische Strukturen nicht mehr<br />
etwas, das der <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> aussen aufgesetzt, sondern <strong>von</strong> der<br />
<strong>Organisation</strong> in den Prozessen des Organisierens selbst hervorgebracht wird.<br />
Für Weick sind daher Strukturen eine „enacted stability“ (1993, S. 368) und er<br />
verweist damit darauf, dass Strukturen nicht etwas sind, was eine<br />
<strong>Organisation</strong> hat, sondern tut (1990, S. 218). Zwischen dem Begriff der<br />
Strukturen und dem Begriff der organisationalen Prozesse gibt es <strong>als</strong>o letztlich<br />
keine Trennschärfe mehr.<br />
<strong>Eine</strong> derartige (Re-)Definition des Struktur- und des Prozessbegriffs ruft nach<br />
einer neuen theoretischen Sprache, mit der Strukturen und der gegenseitige<br />
enge Zusammenhang zwischen Strukturen und Prozessen erhellt und erklärt<br />
werden können. <strong>Die</strong> Bausteine dieser neuen theoretischen Fundierung werden<br />
in Kapitel 4.2 eingeführt. Doch zunächst wird noch das zweite zentrale<br />
Begriffspaar einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> näher vorgestellt: Politik<br />
und Macht.<br />
4.1.2 Politik und Macht<br />
Im traditionellen organisationstheoretischen Verständnis wurden Politik und<br />
Macht <strong>als</strong> unerwünschte Nebenerscheinungen, <strong>als</strong> ausserhalb der legitimen<br />
<strong>Organisation</strong> betrachtet. Gerade mit Hilfe der bürokratischen Strukturen wollte<br />
man Macht und politische Prozesse zurückbinden und in den <strong>Die</strong>nst der<br />
formellen <strong>Organisation</strong> stellen. „The art of ‚leadership’ in a bureaucracy is<br />
largely a matter of understanding these subterranean processes - ‚how things<br />
67
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
really work around here’ - and turn them toward support of collective go<strong>als</strong>.“<br />
(Heckscher 1994, S. 22)<br />
Allgemein wird angenommen, dass mit dem Abbau formeller Strukturen und<br />
der Vergrösserung des organisationalen Freiraums Macht und politische<br />
Prozesse in der <strong>Organisation</strong> zunehmen werden und postbürokratische<br />
<strong>Organisation</strong>en darum einer immanenten „Politisierungsgefahr“ ausgesetzt<br />
sind (Kühl 1998, S. 83; ebenso Heckscher 1994; Baecker 1999; Gordon<br />
1994). 68 Doch mit dem Thema Macht und Politik hat sich die<br />
<strong>Organisation</strong>sliteratur dennoch bisher nur vereinzelt auseinandergesetzt, 69 und<br />
bis heute hat sich keine einheitliche Theorie der Macht herausgebildet (vgl.<br />
Bacharach/Lawler 1998). 70<br />
Ausserdem wird dort, wo Macht und Politik in <strong>Organisation</strong>en thematisiert wird<br />
(vgl. z.B. Heckscher 1994), das mit einem sehr traditionellen, entitativen<br />
Verständnis <strong>von</strong> politischen Prozessen und Macht unternommen, das sich nur<br />
schwer in ein postmodernes Verständnis <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> einfügen lässt. In<br />
der ganzen Literatur (vgl. Fussnote 69) gibt es nur gerade zwei Artikel, die sich<br />
ausführlich und aus relational-konstruktivistischer Sicht mit dem Thema Politik<br />
und Macht befassen: Gergen (1995) und Hosking (1995), wobei letzterer eine<br />
Replik auf ersteren ist.<br />
Somit eröffnet sich eine neue Herausforderung für die Entwicklung einer<br />
<strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>: Wie können die Phänomene Politik und<br />
Macht in <strong>Organisation</strong>en passend zu einem postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnis<br />
konzeptualisiert werden und welche Rolle spielen politische<br />
Prozesse und Macht in diesem <strong>Organisation</strong>sverständnis?<br />
68<br />
Vereinzelt lässt sich aber auch die gegenteilige Behauptung finden, nämlich dass durch die<br />
Einführung <strong>von</strong> Selbstorganisation den bürokratischen Machtprozessen ihre Basis entzogen wird,<br />
so z.B. bei Schmidt (1993, S. 132): „Mit diesem Konzept fällt, summa summarum, eine Reihe <strong>von</strong><br />
‚heiligen Kühen’: <strong>Die</strong> traditionellen Führungskonzepte veralten genauso wie Karrieremuster und<br />
-ansprüche, Kontrollverfahren und Absicherungsstrategien, bürokratische Schwerfälligkeiten und<br />
verschlungene Mitentscheidungsprozesse. Sie alle lassen sich aus der jetzt möglichen Distanz<br />
<strong>als</strong> kunstvolle Varianten <strong>von</strong> Machtprozessen erkennen.“<br />
69<br />
Vgl. z.B. Hall 1973; Burns 1962; Pettigrew 1973, 1977; March/Olsen 1976; Clegg 1979, 1989;<br />
Bacharach/Lawler 1980; Pfeffer 1981, 1992; March 1988a; Empter 1988; Türk 1989; Sandner<br />
1990, 1992; Vogel 1990; Küpper/Ortmann 1992; Neuberger 1995; Gergen 1995; Hosking 1995;<br />
Ortmann 1995a; Kramer/Neale 1998; Schirmer 2000.<br />
70<br />
Interessanterweise wird auch der Begriff <strong>Organisation</strong> ähnlich bemängelt (vgl. Kapitel 3.1).<br />
68
KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
4.1.2.1 Politik<br />
Der Begriff des Politischen ist durch Burns (1962) in die <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
eingeführt worden. Er hat in seinem grundlegenden Artikel ursprünglich den<br />
engen Zusammenhang zwischen Politik und Wandel in <strong>Organisation</strong>en<br />
aufgezeigt. Im Laufe der Zeit sind den Begriffen Politik bzw. politisches<br />
Handeln jedoch noch unzählige andere Bedeutungen zugemessen worden<br />
(vgl. z.B. Elsik 1999, S. 78): zweckgerichtete Beeinflussung, Einsatz bzw.<br />
taktischer Gebrauch <strong>von</strong> Macht, Machtkunst, Kampf um Herrschaft,<br />
Erweiterung des persönlichen Handlungsspielraums, Herstellung und<br />
Wahrung <strong>von</strong> Ordnungsvorstelllungen, Ausgleich und Koordination<br />
rivalisierender Interessen - das alles und mehr wird heutzutage in der<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie unter dem Begriff des Politischen subsumiert.<br />
Im Rahmen dieser Entwicklung seit Burns hat der Begriff des Politischen seine<br />
Wertung verändert. Burns hat dam<strong>als</strong> noch ausdrücklich festgehalten, dass<br />
Politik bzw. politisches Handeln funktional sind für die <strong>Organisation</strong>. Weit<br />
häufiger steht heute jedoch die dysfunktionale Wirkung politischen Handelns<br />
im Vordergrund der organisationstheoretischen Auseinandersetzungen. Erst in<br />
jüngster Zeit machen sich wieder Bemühungen breit, den konstruktiven<br />
Beitrag politischen Handelns zu untersuchen (vgl. Küpper/Ortmann 1992).<br />
Aus organisationstheoretischer Sicht lassen sich drei Interpretationen <strong>von</strong><br />
Politik unterscheiden: Politik <strong>als</strong> unternehmerische Aufgabe, Politik <strong>als</strong><br />
persönliche Interessenverfolgung und Politik <strong>als</strong> Konstitutionsprozess <strong>von</strong><br />
Ordnung (vgl. Abbildung 11).<br />
<strong>Die</strong>se drei Politikbegriffe werden im Folgenden kurz vorgestellt und auf ihre<br />
Verwendbarkeit im relational-konstruktivistischen Kontext einer <strong>duale</strong>n Theorie<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> geprüft.<br />
69
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Konzeptionelle Zuordnung<br />
Fokus<br />
Definition<br />
Beschreibung<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie<br />
Soziologie 71<br />
Politikwissenschaft<br />
Bewertung<br />
Unternehmerische<br />
Aufgabe bzw. Funktion<br />
Zweckrationale<br />
Strukturgestaltung und<br />
Entscheidungsfindung<br />
strukturorientiert<br />
top-down<br />
stabil<br />
Kontinuität<br />
formell<br />
entitativ<br />
Politik ist ...<br />
Verfolgung <strong>von</strong> Eigen-<br />
interesse bzw. -nutzen<br />
Interessengeleitete<br />
Machtausübung und<br />
Sicherungshandeln<br />
handlungsorientiert<br />
bottom-up<br />
dynamisch<br />
Wandel<br />
informell<br />
entitativ<br />
70<br />
Konstitution <strong>von</strong><br />
Ordnung<br />
Kontinuierliche<br />
(Re-)Produktion der<br />
<strong>Organisation</strong><br />
dual<br />
überall<br />
emergent<br />
Regulation<br />
konstitutiv<br />
relational<br />
Unternehmenspolitik Mikropolitik Spiele<br />
Herrschaft Macht<br />
Wechselbeziehung <strong>von</strong><br />
Herrschaft und Macht<br />
policy politics polity<br />
Politik <strong>als</strong> Aufgabe bzw.<br />
Funktion ist das formelle<br />
Privileg der <strong>Organisation</strong>sspitze.<br />
Politisches Handeln<br />
ist per Definition Handeln<br />
ohne formelle Autorität und<br />
Legitimation und ist<br />
deshalb prinzipiell<br />
schädlich und<br />
unerwünscht.<br />
Politik bzw. politisches<br />
Handeln ist zwar eigennützig,<br />
wirkt jedoch <strong>als</strong><br />
(notwendige) Korrektur<br />
der Starrheit organisationaler<br />
Strukturen und ist<br />
daher durchaus auch im<br />
Interesse der<br />
<strong>Organisation</strong>.<br />
Abbildung 11: Vergleich <strong>von</strong> verschiedenen Politik-Begriffen<br />
Jedes Handeln ist<br />
zwangsläufig auch<br />
politisch. Man kann<br />
nicht nicht politisch<br />
handeln. Politische<br />
Prozesse sind<br />
konstitutiv und<br />
konstituierend zugleich<br />
für die <strong>Organisation</strong>.<br />
71 Interessanterweise hat in der Soziologie der Begriff Politik keine eigenständige Bedeutung. In<br />
jedem der konsultierten Handbücher bzw. Wörterbücher bzw. Lexika der Soziologie wird Politik<br />
bzw. politisches Handeln nicht <strong>als</strong> eigener Begriff, sondern immer nur in Bezug auf Staat (Politikwissenschaft)<br />
erklärt. Soziologisch steht eher das Ergebnis politischen Handelns, das heisst<br />
Macht und Herrschaft im Vordergrund - diese beiden Begriffe werden im Gegensatz zu Politik<br />
jeweils sehr ausführlich behandelt.
KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
a) Politik <strong>als</strong> unternehmerische Aufgabe<br />
Politik wird in diesem Sinn in der <strong>Organisation</strong>sliteratur verstanden <strong>als</strong><br />
Unternehmenspolitik, das heisst <strong>als</strong> die Festlegung grundsätzlicher Ziele und<br />
Strategien der <strong>Organisation</strong>. Politik ist demnach eine Aufgabe und das<br />
formelle Privileg einiger Weniger, die Kraft der Autorität ihrer Funktion bzw.<br />
hierarchischen Position zur Ausübung dieser Aufgabe legitimiert sind. <strong>Die</strong><br />
Erarbeitung und Durchsetzung der Unternehmenspolitik gilt nicht <strong>als</strong><br />
politisches, sondern <strong>als</strong> unternehmerisches Handeln, weil es der Wahrung der<br />
organisationalen Interessen dient. Unter politischem Handeln hingegen wird<br />
die Verfolgung persönlicher Interessen verstanden. Politisches Handeln<br />
befindet sich daher per Definition stets im Widerspruch zu unternehmerischem<br />
Handeln, weil <strong>von</strong> einem Konflikt zwischen organisationalen und persönlichen<br />
Zielen und Interessen ausgegangen wird. Politisches Handeln ist somit aus<br />
Sicht der <strong>Organisation</strong> stets illegitim, potenziell schädlich und infolgedessen<br />
unerwünscht bzw. zu verhindern.<br />
Politik <strong>als</strong> Unternehmenspolitik beruht auf der formellen Hierarchie und betont<br />
damit den struktur- und stabilitätsorientierten Aspekt <strong>von</strong> Politik. Sie ist<br />
Führungsaufgabe und entfaltet sich entsprechend top-down. <strong>Die</strong>se Vorstellung<br />
<strong>von</strong> Politik ist stark entitativ geprägt, das heisst Politik ist eine Sache, die<br />
gemacht wird. Eng verwandt mit dem organisationstheoretischen Begriff <strong>von</strong><br />
Politik <strong>als</strong> Unternehmenspolitik sind die Konzepte <strong>von</strong> „Herrschaft“ 72<br />
(Soziologie) und „policy“ (Politikwissenschaft).<br />
Es liegt auf der Hand, dass sich ein derart entitativer und strukturorientierter<br />
Politikbegriff nicht in einen relational-konstruktivistischen Kontext einpassen<br />
lässt und daher für die weiteren Überlegungen nicht relevant ist.<br />
b) Politik <strong>als</strong> persönliche Interessenverfolgung<br />
Politik <strong>als</strong> persönliche Interessenverfolgung hat unter dem Begriff „Mikropolitik“<br />
Eingang in die <strong>Organisation</strong>sliteratur gefunden. 73<br />
Im Gegensatz zum versachlichten Politikbegriff der Unternehmenspolitik, der<br />
politischem Handeln jede Legitimation abspricht, verstehen mikropolitische<br />
72<br />
Vgl. dazu Kapitel 4.1.2.3.<br />
73<br />
Vgl. Bosetzky 1977; Bacharach/Lawler 1980; Türk 1989; Küpper/Ortmann 1992; Neuberger 1995;<br />
Kramer/Neale 1998.<br />
71
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Ansätze politisches Handeln <strong>als</strong> untrennbar verknüpft mit unternehmerischem<br />
Handeln bzw. Handeln in <strong>Organisation</strong>en ganz allgemein. „Organizational<br />
politics, therefore, are at the center of organizational processes and a principal<br />
way that ‚people get things done’ in organizations rather than being limited to<br />
the unsanctioned or nonrational domains.“ (Bacharach/Lawler 1998, S. 69)<br />
Man kann demnach „nicht nicht politisch handeln“. (Neuberger 1995, S. 3)<br />
Politik <strong>als</strong> Interessensverfolgung beruht auf intentional handelnden Individuen,<br />
die neben den organisationalen Zielen auch einen Eigennutzen verfolgen, und<br />
betont dadurch den handlungsorientierten Aspekt <strong>von</strong> Politik. Mikropolitik wird<br />
<strong>als</strong> Korrekturfaktor für die starren organisationalen Strukturen gewertet, der<br />
Dynamik und Wandel in den sonst trägen organisationalen Alltag bringt.<br />
Insofern ist Mikropolitik zwar problematisch, aber nicht unwillkommen in<br />
<strong>Organisation</strong>en, weil politisches Handeln die organisationale Flexibilität und<br />
Handlungsfähigkeit sicherstellt (vgl. Schirmer 2000, S. 27).<br />
Da politisches Handeln <strong>von</strong> Individuen ausgeht, die im Rahmen bestehender<br />
organisationaler Strukturen agieren, entfaltet sich Mikropolitik eher bottom-up.<br />
Politisches Handeln ist hier insofern informell, <strong>als</strong> formelle Mittel und Wege<br />
entweder bewusst umgangen oder aber taktisch gezielt (und nicht zwingend<br />
regelkonform) eingesetzt werden. Eng verwandt mit dem organisationstheoretischen<br />
Begriff <strong>von</strong> Politik <strong>als</strong> Mikropolitik sind die Konzepte <strong>von</strong><br />
„Macht“ 74 (Soziologie) und „politics“ (Politikwissenschaft).<br />
Das Konzept Mikropolitik neigt zum Handlungsvoluntarismus (vgl.<br />
insbesondere Bosetzky 1977) und gerät dadurch immer wieder in Gefahr,<br />
Politik bzw. politisches Handeln allzu entitativ zu fassen. Der aus relationalkonstruktivistischer<br />
Sicht heikle Punkt im Konzept der Mikropolitik liegt in<br />
seiner Unterstellung <strong>von</strong> Intentionalität. Politisches Handeln wird stets mit<br />
bewusstem Willen und gezieltem, berechnetem Handeln gleichgesetzt. Es<br />
geht um die Verfolgung und Erreichung <strong>von</strong> Nutzen, Interessen, Einfluss,<br />
Zielen, Strategien, Vorteilen etc. Politik bzw. politisches Handeln richtet sich<br />
demnach auf etwas, das diesem Handeln äusserlich ist. Dahinter steht in der<br />
Regel immer die implizite Annahme einer Kausalität des Handelns.<br />
Damit ist klar, dass sich der Politikbegriff, verstanden <strong>als</strong> Mikropolitik, ebenfalls<br />
nicht in einen relational-konstruktivistischen Kontext passt. Dennoch sind<br />
74 Vgl. dazu Kapitel 4.1.2.2.<br />
72
KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
mikropolitische Ansätze nicht uninteressant. Sie verweisen auf die<br />
Verschränkung zwischen politischen Prozessen und dem Prozess des<br />
Organisierens und verstehen politisches Handeln geradezu <strong>als</strong> Grundvoraussetzung<br />
zur Erhaltung der organisationalen Handlungsfähigkeit. <strong>Die</strong><br />
einseitige Fixierung auf nahezu beliebig handelnde Individuen und die<br />
Verankerung des Handlungsbegriffs in der Intentionalität des Individuums<br />
schränken aus relational-konstruktivistischer Sicht jedoch seinen<br />
organisationstheoretischen Nutzen ein. In jüngerer Zeit gibt es allerdings<br />
mikropolitische Ansätze, die genau an diesen zwei Kritikpunkten ansetzen.<br />
<strong>Die</strong>se neueren Konzepte ebnen den Weg zum Verständnis <strong>von</strong> Politik <strong>als</strong><br />
Konstitutionsprozess <strong>von</strong> Ordnung.<br />
c) Politik <strong>als</strong> Konstitutionsprozess <strong>von</strong> Ordnung<br />
<strong>Die</strong> neueren mikropolitischen Ansätze betonen ein radikal anderes Verständnis<br />
<strong>von</strong> Politik und politischem Handeln. „Mikropolitik - das meint gerade nicht,<br />
dass sich die Perspektive auf einen innerorganisationalen Kleinkrieg <strong>von</strong><br />
Macchiavellisten à la Bosetzky richtet, sondern dass es um eine mikroskopische<br />
Analyse der wechselseitigen Konstitution <strong>von</strong> organisationalem<br />
Handeln und (<strong>Organisation</strong>s-)Strukturen geht.“ (Ortmann 1995a, S. 48)<br />
Auch der neuere mikropolitische Ansatz versteht politisches Handeln <strong>als</strong><br />
zwangsläufiges Phänomen eines jeden organisierten Handelns. Der einseitige<br />
Fokus auf das (voluntaristisch) handelnde Individuum wird jedoch zugunsten<br />
einer <strong>duale</strong>n Perspektive aufgegeben. <strong>Die</strong>se <strong>duale</strong> Perspektive vereint<br />
struktur- und handlungsorientierte Aspekte des politischen Handelns in einem<br />
rekursiven Prozess. Für diesen Prozess hat sich in der <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
der Begriff der „Spiele“ eingebürgert. 75<br />
Politik <strong>als</strong> Spiele betont die konstitutive und konstituierende Natur der<br />
politischen Prozesse. Politik ist nicht mehr eine Gefährdung oder ein<br />
Korrekturfaktor <strong>von</strong> Ordnung, sondern im Gegenteil eine notwendige Voraussetzung<br />
für ihr Entstehen. Politische Prozesse sind somit das zentrale<br />
regulierende Element einer <strong>Organisation</strong>. Eng verwandt mit diesem Begriff <strong>von</strong><br />
Politik <strong>als</strong> Konstitutionsprozess ist das Konzept <strong>von</strong> „polity“ (Politikwissenschaft).<br />
Da der Begriff „Politik“ soziologisch gewissermassen<br />
75 Vgl. dazu Kapitel 4.2.3.<br />
73
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
unterdefiniert ist (vgl. Fussnote 71), gibt es keinen Begriff in der Soziologie,<br />
der dem Verständnis <strong>von</strong> Politik <strong>als</strong> Konstitutionsprozess <strong>von</strong> Ordnung bzw.<br />
<strong>Organisation</strong> entspricht. Am ehesten könnte man es noch <strong>als</strong> eine<br />
Wechselbeziehung zwischen Herrschaft und Macht beschreiben (vgl. Lueger<br />
1992a).<br />
Wenn sich politische Prozesse weder an Strukturen noch an Individuen und<br />
deren Intentionen zurückbinden lassen, dann können sie sich auch nicht topdown<br />
entlang der Befehlskette oder bottom-up <strong>als</strong> Abfolge individualistischer<br />
Winkelzüge entfalten, sondern sie sind emergent und überall. Damit werden<br />
politische Prozesse mächtiger bzw. durchdringender, gleichzeitig aber auch<br />
unklarer und schwerer zu fassen <strong>als</strong> im traditionellen unternehmenspolitischen<br />
bzw. mikropolitischen Verständnis.<br />
Neuere Definitionen <strong>von</strong> politischen Prozessen in <strong>Organisation</strong>en betonen<br />
denn auch die kollektive Errungenschaft des Politischen: Bacharach und<br />
Lawler (1998) verstehen Politik <strong>als</strong> kollektive Erwartungen bezüglich gemeinsamer<br />
Handlungen. Lueger (1992a, S. 185) sagt, dass politische Prozesse die<br />
„kollektiv verbindliche Festlegung sozialen Handelns hinsichtlich einer Unzahl<br />
möglicher Entscheidungsalternativen“ bedeuten. Und für Sandner und Meyer<br />
(1994) drehen sich politische Prozesse um die Wirklichkeitsverständigung in<br />
<strong>Organisation</strong>en.<br />
<strong>Die</strong> Wortwahl der oben zitierten Definitionen macht deutlich, dass das<br />
Verständnis <strong>von</strong> Politik <strong>als</strong> Konstitutionsprozess <strong>von</strong> Ordnung ideal in einen<br />
relational-konstruktivistischen Kontext passt. In Kapitel 4.1.2.3 wird daher auf<br />
Basis dieses Politik-Verständnisses eine relational-konstruktivistische Definition<br />
<strong>von</strong> Politik bzw. politischem Handeln formuliert. Doch zunächst muss der<br />
Machtbegriff noch näher untersucht werden, denn zwischen Politik und Macht<br />
besteht ein enger inhaltlicher Zusammenhang.<br />
4.1.2.2 Macht<br />
„Macht wird überreichlich und in einer grossen Vielfalt <strong>von</strong> Bedeutungen<br />
gebraucht.“ (Boudon/Bourricaud 1992, S. 302) Es ist damit nicht einfach, zu<br />
einer handhabbaren Definition <strong>von</strong> Macht zu kommen - zumal es eine<br />
relational-konstruktivistische Definition sein muss!<br />
74
KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Wie das Zitat <strong>von</strong> Boudon und Bourricaud vermuten lässt, sind unterschiedlichste<br />
Theorien <strong>von</strong> Macht entwickelt worden, 76 doch prinzipiell kann<br />
unterschieden werden zwischen einem traditionellen und einem modernen<br />
Machtbegriff (vgl. Abbildung 12).<br />
Der traditionelle Machtbegriff definiert Macht <strong>als</strong> die Beschränkung des<br />
Freiraums anderer, sei es durch den Zwang <strong>von</strong> Strukturen (strukturelle<br />
Macht) oder durch die Handlungen einzelner, machtvoller Individuen (interaktionelle<br />
Macht). Damit wird die Nähe <strong>von</strong> Macht und Politik unmittelbar<br />
deutlich (vgl. Kapitel 4.1.2.3): Politik <strong>als</strong> unternehmerische Aufgabe stützt sich<br />
auf einen strukturellen Machtbegriff, auch Herrschaft genannt. 77 Politik <strong>als</strong><br />
persönliche Interessenverfolgung stützt sich hingegen auf einen<br />
interaktionellen Machtbegriff bzw. Macht(ausübung) i.e.S.<br />
Macht verstanden <strong>als</strong> Beschränkung des Freiraums anderer ist immer eine<br />
Macht über andere. Macht ist etwas, das dem Handeln äusserlich ist, aber auf<br />
das beim Handeln zurückgegriffen werden kann. Es liegt auf der Hand, dass<br />
der traditionelle Machtbegriff (analog den entsprechenden Politikbegriffen, vgl.<br />
Kapitel 4.1.2.1) sich auf ein entitatives Verständnis <strong>von</strong> Strukturen und<br />
handelnden Individuen stützt. Obwohl sich nahezu die gesamten Theorien und<br />
Literatur zum Thema Macht auf diesen traditionellen Machtbegriff stützen, wird<br />
er hier nicht weiter verfolgt, weil er <strong>als</strong> Begriff in einem relationalkonstruktivistischen<br />
Kontext nicht geeignet ist.<br />
Es gibt jedoch neuere Entwicklungen in der Machttheorie, die aus relationalkonstruktivistischer<br />
Sicht viel versprechend sind. <strong>Die</strong>ser neue, moderne<br />
Machtbegriff geht zurück auf Lukes (1974) und Foucault (1976, 1978).<br />
Danach ist Macht die Fähigkeit, Konsequenzen hervorzubringen, 78 <strong>als</strong>o nicht<br />
eine Macht über irgendwen oder irgendwas, sondern die Macht zu, das heisst<br />
die Macht etwas geschehen oder nicht geschehen zu machen bzw. zu lassen.<br />
76<br />
Vgl. die Diskussion der verschiedenen Machttheorien z.B. in: Pfeffer 1981; Empter 1988; Clegg<br />
1989; Sandner 1990; Neuberger 1995; Heinl 1996; Hardy/Clegg 1996; Schirmer 2000.<br />
77<br />
Zum Verhältnis zwischen Macht und Herrschaft (<strong>als</strong> institutionalisierter Macht) vgl. Lueger 1992a.<br />
78 „Konsequenzen hervorbringen“ ist bewusst allgemein und unbestimmt formuliert, denn darunter<br />
fällt alles, was <strong>als</strong> Ergebnis sozialer Beziehungen denkbar ist, das heisst nicht nur die<br />
Veränderung sondern auch der Erhalt des Status quo.<br />
75
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Konzeptionelle Zuordnung<br />
Definition<br />
Fokus<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie<br />
Soziologie<br />
Machttheorien<br />
Bewertung<br />
Macht ist ...<br />
Beschränkung des Freiraums anderer<br />
Zwang der Strukturen<br />
(Macht-über)<br />
politisch handelnde<br />
Individuen<br />
76<br />
Fähigkeit,<br />
Konsequenzen<br />
hervorzubringen<br />
(Macht-zu)<br />
Zusammenwirken <strong>von</strong><br />
Zwängen der Strukturen<br />
und politischen<br />
Prozessen<br />
Unternehmenspolitik Mikropolitik Spiele<br />
Herrschaft Macht i.e.S.<br />
Macht <strong>als</strong> Besitz<br />
oder Einsatz <strong>von</strong><br />
Ressourcen<br />
(z.B. Dahl)<br />
Ressourcenorientierte Theorien<br />
Macht ist an eine Sache<br />
gebunden. Wer die Sache<br />
hat bzw. einsetzt, hat<br />
Macht. <strong>Die</strong> Ausübung <strong>von</strong><br />
Macht ist ein Ein-Weg-Akt<br />
und wirkt kausal. Entitatives<br />
Machtverständnis.<br />
Machtbasen-<br />
Modelle (z.B.<br />
French/Raven)<br />
Dependenz-<br />
Modelle nach<br />
Emerson<br />
(z.B. Pfeffer)<br />
Macht ist vieles:<br />
Ressourcen, Strukturen,<br />
Personen, Immaterielles.<br />
Machtausübung wirkt<br />
kausal, aber ist in einem<br />
gewissen Umfang dependent<br />
vom Kontext. Trotz<br />
Berücksichtigung <strong>von</strong><br />
Dependenz immer noch<br />
ein entitatives Machtverständnis.<br />
Abbildung 12: Vergleich <strong>von</strong> verschiedenen Macht-Begriffen<br />
Wechselbeziehung <strong>von</strong><br />
Herrschaft und Macht<br />
Verhandlungsorientierte<br />
Theorien<br />
(im Entstehen) 79<br />
Macht ist ein Artefakt,<br />
das routinisierten<br />
sozialen Praktiken<br />
entspringt. Macht ist<br />
eine relationale Beziehung<br />
und nie kausal.<br />
Machtausübung ist nicht<br />
Zwang, sondern<br />
Konsens. Relationales<br />
Machtverständnis.<br />
79 Es bestehen noch kaum Theorien der Macht, die nicht nur einen Dependenz-Ansatz, sondern<br />
einen eigentlichen Interdependenz-Ansatz verfolgen, das heisst tatsächlich relational und ohne<br />
Restkausalität sind. Ich nenne diese erst im Entstehen begriffenen Machtmodelle verhandlungsorientierte<br />
Theorien, um sie gegen das Austauschkonzept der Dependenz-Modelle (was gibst du<br />
mir, wenn ich dir gebe?) abzugrenzen. Erste Ansätze zu einer solchen echten relationalen<br />
Verhandlungstheorie <strong>von</strong> Macht finden sich bei Sandner (1990) und bei Gergen (1995). Aber<br />
auch die Machtbegriffe <strong>von</strong> Giddens (1997) und Crozier und Friedberg (1993/1979) können <strong>als</strong><br />
verhandlungsorientierte Machtmodelle interpretiert werden (vgl. dazu die Kapitel 4.2.1 und 4.2.3).
KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Ausgangspunkt der neuen Machtdefinition ist der Gedanke, dass jeder<br />
Handelnde zwar innerhalb gewisser struktureller oder interaktioneller<br />
Einschränkungen agiert, jedoch stets über eine nicht wegbedingbare relative<br />
Autonomie bzw. (Entscheidungs- und Handlungs-)Spielraum verfügt. <strong>Die</strong><br />
Existenz <strong>von</strong> strukturellen oder interaktionellen Zwängen wird <strong>als</strong>o nicht<br />
negiert, doch es wird die Möglichkeit betont, dass jeder Handelnde immer<br />
auch die Möglichkeit hat, anders oder nicht zu handeln.<br />
Macht entfaltet <strong>als</strong>o keinen absoluten Zwang mehr - im Gegenteil: Macht <strong>als</strong><br />
Macht-zu betont den ermöglichenden Charakter <strong>von</strong> Macht, im Gegensatz zu<br />
Macht-über, das die einschränkende Wirkung <strong>von</strong> Macht unterstreicht. Macht<br />
ist keine Behinderung, sondern Grundvoraussetzung <strong>von</strong> Handeln, weil Macht<br />
überhaupt erst die Voraussetzung bzw. Fähigkeit zu kollektivem Handeln<br />
schafft.<br />
<strong>Die</strong> Ausübung <strong>von</strong> Macht kann daher nicht die Beschränkung der Handlungsfähigkeit<br />
anderer zum Ziel haben, im Gegenteil: Sie ist gerade auf die<br />
Handlungsfähigkeit der anderen angewiesen, um die gewünschten<br />
Konsequenzen kollektiv hervorbringen zu können. Damit sind nicht mehr<br />
Gewalt und Konflikt die inhärenten Begleiter <strong>von</strong> Macht, sondern Macht ist<br />
paradoxerweise die Erreichung <strong>von</strong> Konsens zwischen relativ autonom<br />
Handelnden. 80 Macht ist damit ent-moralisiert, das heisst hat ihre negative<br />
Konnotation verloren.<br />
Typisch für den neuen Machtbegriff ist ausserdem, dass Macht weder in<br />
Strukturen noch bei Individuen, sondern in gelebten Beziehungen verortet<br />
wird. Macht ist das, womit Individuen in erfolgreichen Handlungen aufeinander<br />
einwirken. Damit überwindet der moderne Machtbegriff den Gegensatz bzw.<br />
die Trennung zwischen struktureller und interaktioneller Macht und wächst<br />
über den einfachen Dependenzansatz der bisherigen Machttheorien hinaus.<br />
Macht wird nicht via Beziehungen ausgeübt, sondern Beziehungen sind<br />
Macht. 81 Macht wird ein wahrhaft relationales Phänomen. Macht ist somit nicht<br />
mehr ein Privileg <strong>von</strong> ein paar Wenigen, sondern verteilt und in allen sozialen<br />
Beziehungen eingelagert. Jeder und jede hat Macht-zu. Macht wird zu einem<br />
80<br />
Damit soll nicht die „dunkle Seite der Macht“ (vgl. Bies/Tripp 1998) ausgeblendet werden. Doch<br />
bevor über negative Auswirkungen <strong>von</strong> Macht diskutiert werden kann, muss zuerst eine<br />
angemessene Theorie <strong>von</strong> der Entstehung und Stabilisierung <strong>von</strong> Macht erarbeitet werden.<br />
81<br />
Das weiss der Volksmund schon längst und spricht darum vom Vitamin B(eziehungen).<br />
77
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
alltäglichen Phänomen, und ist nicht mehr ein rares Gut, sondern im Überfluss<br />
vorhanden.<br />
Weil Macht ein Alltagsgut ist, wird Macht bzw. die Ausübung <strong>von</strong> Macht häufig<br />
gar nicht wahrgenommen (vgl. Burr 1995, S. 62ff). Macht wird mit Realität<br />
verwechselt. Wir sind machtblind. 82 Macht entfaltet sich nämlich nicht nur in<br />
Unsicherheitszonen, in denen den Beteiligten mehr <strong>als</strong> eine einzige<br />
Handlungsalternative zur Disposition steht und daher über das weitere<br />
kollektive Handeln entschieden werden muss, so wie das Lueger (1992a,<br />
S. 186) festhält. Macht findet auch in Nicht-Entscheidungssituationen statt, in<br />
denen mögliche Alternativen gar nicht erst zur Auswahl stehen. Es ist dieses<br />
„zweite Gesicht der Macht“ (vgl. Bachrach/Baratz 1962), für das wir in der<br />
Regel blind sind.<br />
Auch wenn Macht in Beziehungen ruht, sedimentieren sich im Laufe der Zeit<br />
die Produkte dieser (Macht-)Beziehungen 83 <strong>als</strong> Materialisierungen des<br />
Sozialen und entfalten eine eigene, <strong>von</strong> der ursprünglichen (Macht-)Beziehung<br />
unabhängige Macht, die wiederum auf die (Macht-)Beziehungen zurückwirkt.<br />
Macht konstituiert sich <strong>als</strong>o rekursiv. 84 <strong>Die</strong>ses Zurückwirken <strong>von</strong> sedimentierten<br />
(Macht-)Beziehungen wird dann <strong>als</strong> Zwang wahrgenommen. Aus<br />
Macht-zu ist plötzlich Macht-über geworden. <strong>Organisation</strong>stheoretisch wird<br />
dieses Wechselspiel <strong>von</strong> Macht-zu und Macht-über <strong>als</strong> organisationale Spiele<br />
bezeichnet (vgl. Kapitel 4.2.3). Damit wird deutlich, dass ein enger<br />
Zusammenhang zwischen der Macht-zu und dem Verständnis <strong>von</strong> Politik <strong>als</strong><br />
Konstitutionsprozess <strong>von</strong> Ordnung (vgl. Abbildung 11) besteht und der<br />
begriffliche Bogen <strong>von</strong> Politik über Macht zurück wieder zu Politik ist<br />
geschlossen.<br />
Abschliessend werden nun die beiden Begriffe Politik und Macht aus einer<br />
relational-konstruktivistischen Sicht redefiniert und zusammengefasst.<br />
82<br />
<strong>Die</strong>se Machtblindheit und ihre Auswirkungen auf die Definition <strong>von</strong> Geschlecht und in der Folge<br />
auf die Gestaltung unserer Gesellschaft und unsere alltäglichen Interaktionen ist ein Kernanliegen<br />
der feministischen Theorie (vgl. Hughes 2002).<br />
83<br />
Es ist eigentlich ein Pleonasmus, <strong>von</strong> Macht-Beziehungen zu reden: Beziehungen sind ja Macht,<br />
<strong>als</strong>o sind keine anderen Beziehungen denkbar <strong>als</strong> Macht-Beziehungen.<br />
84<br />
Vgl. Lueger (1992a), der die rekursive Konstitution <strong>von</strong> Macht <strong>als</strong> Wechselbeziehung zwischen<br />
Herrschaft und Macht konzeptualisiert.<br />
78
KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
4.1.2.3 Politik und Macht: <strong>Eine</strong> relationalkonstruktivistische<br />
(Re-)Definition<br />
Aus relational-konstruktivistischer Sicht muss zusammenfassend betont<br />
werden, dass Politik und Macht fundamentale Elemente eines jeden<br />
kollektiven Handelns sind. Sie können <strong>als</strong> soziale Fähigkeiten begriffen<br />
werden, in denen kollektives Handeln gründet, und <strong>als</strong> solche sind sie<br />
konstituierend für die Entstehung <strong>von</strong> Ordnung. Politik und Macht stellen<br />
sozusagen den Motor dar, der den sozialen Konstruktions- und<br />
Reifikationsprozess der organisationalen Wirklichkeit antreibt (vgl. Abbildung<br />
13):<br />
Definitionsleistung<br />
Macht<br />
Konstruktions- und<br />
Reifikationsprozess<br />
der sozialen Wirklichkeit<br />
Politik<br />
Verhandlungsleistung<br />
Abbildung 13: Politik und Macht <strong>als</strong> soziale Fähigkeiten<br />
• Macht<br />
Macht ist in diesem Sinn die Fähigkeit, aus dem unstrukturierten<br />
Strom des täglichen Geschehens bestimmte Ereignisse,<br />
Entscheide, Regeln etc. hervorzuheben und in einen speziellen<br />
Sinnzusammenhang zu stellen und so das Phänomen Ordnung<br />
bzw. <strong>Organisation</strong> überhaupt erst entstehen zu lassen. Aus dem<br />
Bereich des denkbar Möglichen wählt Macht dasjenige aus, was<br />
ist und gilt. Erst dadurch erhält kollektives Handeln einen<br />
gemeinsamen Fokus und wird überhaupt möglich. Macht hat<br />
demnach eine konstruktive, ermöglichende Wirkung, die<br />
paradoxerweise auf Selektion bzw. Restriktion beruht. Macht<br />
79
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
ermöglicht, weil Macht durch Restriktion bisher Unstrukturiertes<br />
und Desorganisiertes in Struktur und <strong>Organisation</strong> transformiert<br />
und dadurch die Voraussetzungen und Anschlussmöglichkeiten<br />
für kollektives Handeln schafft.<br />
Macht ist <strong>als</strong>o eine Definitionsleistung, die soziale Wirklichkeit<br />
durch einen definitorischen Akt schafft. Burr (1995, S. 64) sagt:<br />
„To define the world ... is to exercise power.“ In Abgrenzung zum<br />
strukturellen und interaktionellen Machtbegriff der traditionellen<br />
Machttheorien kann der relational-konstruktivistische Machtbegriff<br />
daher <strong>als</strong> ontologische Macht bezeichnet werden. Als<br />
soziale Fähigkeit sorgt Macht für das „sensegiving“ im Prozess<br />
der organisationalen Wirklichkeitskonstruktion (vgl.<br />
Gioia/Chittipeddi 1991).<br />
• Politik<br />
<strong>Die</strong> voranstehend beschriebene ontologische Macht existiert<br />
jedoch nicht einfach, sondern sie verwirklicht sich nur in sozialen<br />
Beziehungen. Macht muss <strong>als</strong>o, um erfolgreich zu sein, Diskurse<br />
und Praktiken erzeugen, die in eine jeweilige bestimmte<br />
Wirklichkeitsdefinition einladen (vgl. Gergen 2002, S. 257ff).<br />
Politik ist die Fähigkeit, im Rahmen dieser Diskurse und<br />
Praktiken unterschiedlichste Vorstellungen der sozialen Wirklichkeit<br />
miteinander abzustimmen, zu koordinieren und zu<br />
integrieren. Weick (1995, S. 16) sagt dazu: „Mitglieder <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong>en verbringen beträchtlich viel Zeit damit,<br />
untereinander eine annehmbare Darstellung dessen, was vor<br />
sich geht, auszuhandeln.“ In politischen Prozessen vergewissern<br />
sich <strong>als</strong>o die Mitglieder <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en laufend der aktuellen<br />
Gültigkeit der kontingenten organisationalen Wirklichkeit - und<br />
(re-)produzieren sie gerade dadurch immer wieder neu.<br />
Wenn Macht eine Definitionsleistung ist, dann ist Politik eine<br />
Verhandlungsleistung. Der Zweck dieser Verhandlungen<br />
„besteht in der Herstellung oder Veränderung verbindlicher<br />
Situationsdefinitionen“ (Sandner 1990, S. 143). Politik sorgt für<br />
das „sensemaking“ im Prozess der organisationalen<br />
Wirklichkeitskonstruktion (vgl. Gioia/Chittipeddi 1991).<br />
Verhandlungen dienen somit dem kontinuierlichen kollektiven<br />
80
KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Bemühen, organisationale Ordnungsmuster festzulegen, zu<br />
bestätigen oder zu ändern. 85 In Verhandlungen wird die<br />
Mehrdeutigkeit und Kontingenz der sozialen Realität verarbeitet<br />
und die Bedingungen des Seins der organisationalen Wirklichkeit<br />
ausgehandelt. Verhandlungen bzw. ihre Ergebnisse entfalten<br />
dadurch eine ontologische Wirkung.<br />
Selbstverständlich sind Macht und Politik nicht unabhängig <strong>von</strong>einander.<br />
Macht <strong>als</strong> Definitionsakt beeinflusst Politik <strong>als</strong> Verhandlungsleistung und<br />
umgekehrt. Macht ist erfolgreiches politisches Handeln und politisches<br />
Handeln ist der Einsatz <strong>von</strong> Macht. Damit dürfte klar sein, dass Politik und<br />
Macht sich rekursiv konstituieren (vgl. Abbildung 14).<br />
politisches Handeln<br />
Macht<br />
Herrschaft<br />
81<br />
+/-<br />
+/- +/-<br />
Abbildung 14: Zusammenhang <strong>von</strong> Politik, Macht und Herrschaft<br />
In politischem Handeln verwirklicht sich Macht (↓), Macht ist aber auch eine<br />
Voraussetzung für erfolgreiches politisches Handeln (↑). Macht ist somit<br />
Ergebnis und Mittel politischen Handelns zugleich. Macht ermöglicht aber<br />
politisches Handeln nicht nur (+), sondern schränkt es auch ein (-).<br />
Und um das Bild abzurunden, kann es noch mit dem Begriff der Herrschaft<br />
ergänzt werden. Herrschaft ist Sediment der Macht bzw. das geronnene<br />
Produkt erfolgreicher politischer Handlungen (↓). Herrschaft ermöglicht ihrer-<br />
85 Der hier verwendete Verhandlungsbegriff grenzt sich somit vom deutlich <strong>von</strong> den klassischen<br />
Verhandlungstheorien ab, die Verhandlung primär <strong>als</strong> Verteilungsproblem (Kampf um<br />
Ressourcen) betrachten (vgl. Sandner 1990, S. 136ff).
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
seits jedoch wiederum aktuelle und zukünftige Macht(ausübung) und<br />
politisches Handeln (↑). Herrschaft ist somit Ergebnis und Mittel <strong>von</strong> Macht<br />
zugleich. Insofern wirkt Herrschaft stabilisierend und entlastet <strong>von</strong> dauernden<br />
(Macht)Verhandlungen. Herrschaft ermöglicht aber Macht(ausübung) nicht nur<br />
(+), sondern schränkt sie auch ein (-).<br />
Mit anderen Worten: <strong>Die</strong> ontologische Bestimmung der organisationalen<br />
Wirklichkeit mag ihren Ursprung vielleicht in der definitorischen Macht<br />
einzelner Individuen haben, zur sozial gültigen Wirklichkeitsordnung wird sie<br />
jedoch nur im Rahmen <strong>von</strong> laufenden kollektiven Verhandlungen und<br />
Auseinandersetzungen mit diesem ontologischen Bestimmungsakt. Was <strong>als</strong><br />
Ergebnis aus diesen kollektiven Verhandlungsprozessen herauskommt, lässt<br />
sich dann nicht mehr einer individuellen Definitionsleistung zuordnen, sondern<br />
ist eine kollektive Errungenschaft. Gegenwärtige und zukünftige ontologische<br />
Definitionsleistungen stützen sich auf und hängen wiederum ab <strong>von</strong> diesen<br />
kollektiven Ergebnissen früherer Verhandlungsleistungen. <strong>Die</strong> organisationale<br />
Wirklichkeit ist demnach das Ergebnis eines kontinuierlichen politischen<br />
Verhandlungsprozesses, in dem soziale Wirklichkeit nicht nur kollektiv<br />
verfertigt, sondern allmählich auch verfestigt wird.<br />
Wenn Politik und Macht <strong>als</strong> soziale Fähigkeiten begriffen werden, die<br />
konstitutiv und konstituierend zugleich sind für die Entstehung <strong>von</strong> Ordnung,<br />
dann erlaubt das auch, den Politikbegriff (und in der Folge ebenfalls den<br />
Handlungsbegriff) ziemlich umstandslos vom lästigen (weil entitativ belasteten)<br />
Begriff der Intentionalität zu befreien. Politisches Handeln braucht nicht mehr<br />
in einer Intention verankert zu werden, weil politisches Handeln keine<br />
spezielle, intentionale Rechtfertigung mehr braucht. Denn aus relationalkonstruktivistischer<br />
Sicht ist jedes Handeln politisches Handeln, und Handeln<br />
ist für soziale Akteure eine existenzielle Notwendigkeit - im wahrsten Sinn des<br />
Wortes: Soziale Akteure geben in ihrem (politischen) Handeln sich selbst, den<br />
anderen und der Welt überhaupt erst Existenz. Nur durch die Beziehung<br />
zueinander verschaffen sich soziale Akteure die notwendige ontologische<br />
Sicherheit zu sich selbst, zu den anderen und zu der Welt und werden so<br />
überhaupt erst handlungsfähig. Somit ist Handeln eine konstitutive und<br />
konstituierende Bedingung des Sozialen und braucht daher nicht noch<br />
intentional begründet zu werden. Wenn überhaupt noch <strong>von</strong> der Intentionalität<br />
des Handelns gesprochen werden kann, dann höchstens noch in dem Sinn,<br />
dass die Intention das Bedürfnis nach ontologischer Sicherheit ist.<br />
82
KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Soweit zu der relational-konstruktivistischen Re-Definition <strong>von</strong> Politik und<br />
Macht. Was nun fehlt, ist ein theoretisches Gerüst, das das skizzierte<br />
postmoderne Verständnis <strong>von</strong> Strukturen, Prozessen, Politik und Macht zu<br />
einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> zusammenfügt.<br />
Zum Abschluss des Kapitels 4.1 werden daher die bisherigen Erkenntnisse<br />
aus der theoretischen Exploration der Kernbegriffe einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> zu einem vorläufigen Gesamtbild zusammengefügt (vgl.<br />
Abbildung 15). Im folgenden Kapitel 4.2 werden dann drei theoretische<br />
Bausteine vorgestellt, mit denen dieses vorläufige Gesamtbild theoretisch<br />
fundiert und schliesslich in Kapitel 5 zum Denkmodell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong><br />
<strong>Handlungssystem</strong> verdichtet wird.<br />
4.1.3 Zusammenfassung: Das Grundgerüst<br />
einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
Strukturen, Prozesse, Politik und Macht können <strong>als</strong> Grundbegriffe einer <strong>duale</strong>n<br />
Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> gelten. Sie sind jedoch nicht isoliert zu betrachten,<br />
sondern stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis (vgl.<br />
Abbildung 15).<br />
aktualisierte Ordnung<br />
(<strong>Organisation</strong>)<br />
Macht<br />
Strukturen<br />
Prozesse<br />
83<br />
Politik<br />
Abbildung 15: Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
potenzielle<br />
Ordnung<br />
Strukturen, Prozesse, Politik und Macht sind sich gegenseitig konstituierende<br />
Phänomene, die zwischen sich einen Raum aufspannen, der eine potenzielle
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Ordnung darstellt. In diesem Raum <strong>von</strong> potenzieller Ordnung etablieren sich<br />
im Laufe der Zeit durch bevorzugte, sich wiederholende Prozesse des<br />
Organisierens bestimmte Struktur-Prozess-Politik-Macht-Konstellationen, die<br />
<strong>als</strong> typische Ordnungsmuster - <strong>als</strong> aktualisierte Ordnung bzw. <strong>Organisation</strong> -<br />
erkannt werden können.<br />
Der Umstand, dass Prozesse und Strukturen gleichzeitig Elemente des<br />
Grundgerüsts sind, verhindert, dass zur <strong>Erklärung</strong> <strong>von</strong> organisationaler<br />
Ordnung vereinfachend auf einen verkürzten Handlungs- oder Strukturdeterminismus<br />
zurückgegriffen wird. <strong>Die</strong> Gleichzeitigkeit <strong>von</strong> Prozessen und<br />
Strukturen sorgt dafür, dass jeder <strong>Erklärung</strong>sansatz <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
zwingend ein Sowohl-<strong>als</strong>-auch beinhalten muss.<br />
Der Begriff der Strukturen umfasst mehr <strong>als</strong> nur die traditionellen bürokratischen<br />
Strukturen. Strukturen sind „materially heterogeneous“ und können<br />
unterschiedlichste Erscheinungsformen haben. Ausserdem dürfen Strukturen<br />
nicht isoliert betrachtet werden, denn sie sind immer das Ergebnis <strong>von</strong> ihnen<br />
vorangehenden Prozessen des Organisierens. „I believe we need to include all<br />
materi<strong>als</strong> in sociological analysis if we want to make sense of social ordering,<br />
but, symmetrically, I <strong>als</strong>o take it that materi<strong>als</strong> are better treated as products or<br />
effects rather than as having properties that are given in the order of things.”<br />
(Law 1994, S. 24)<br />
Der Begriff der Prozesse bringt zum Ausdruck, dass organisationale Ordnung<br />
nie das isolierte Ergebnis autarker Massnahmen einzelner Individuen ist,<br />
sondern sich stets aus einem kontinuierlichen Strom <strong>von</strong> vergangenen und<br />
zukünftigen Handlungen und Ereignissen entfaltet. 86 Wie sich dabei aus<br />
potenzieller Ordnung aktualisierte Ordnung materialisiert, ist offen. <strong>Die</strong><br />
Geschichte kann zwar erklären, was gegenwärtig möglich ist, aber daraus<br />
kann in keiner Weise darauf geschlossen werden, was in Zukunft möglich sein<br />
wird. „Man ist der Gefangene seiner vergangenen Entscheidungen, ohne<br />
daraus auch nur eine einzige künftige Entscheidung ableiten zu können.“<br />
(Baecker 1994, S. 14)<br />
86 Daher wird der Begriff der Prozesse dem sonst eher üblichen Begriff der Handlungen vorgezogen,<br />
weil damit besser zum Ausdruck zu bringen ist, dass nicht ein einzelner Akteur <strong>als</strong><br />
‚Urheber’ identifiziert werden kann, auch wenn aus dem Ereignisstrom Entitäten ausgeflaggt<br />
werden, die traditionellerweise <strong>als</strong> Handlungen eines Individuums bezeichnet werden.<br />
84
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Aktualisierte Ordnung ist <strong>als</strong>o stets ein kontingenter Zustand, aber es wäre<br />
f<strong>als</strong>ch, daraus zu schliessen, dass Ordnung deshalb zufällig ist. Denn hier<br />
kommen nämlich die zwei anderen Grundelemente ins Spiel: Politik und<br />
Macht. Politische Prozesse und Macht bestimmen, was sich aus dem weiten<br />
Feld potenzieller Ordnung <strong>als</strong> lokal gültige Ordnung aktualisiert. Politik und<br />
Macht ent-scheiden im wahrsten Sinn des Wortes, indem sie Aktualität <strong>von</strong><br />
Potenzialität scheiden. Politik und Macht sind damit - entgegen dem<br />
traditionellen Verständnis <strong>von</strong> Politik und Macht - im doppelten Sinn des<br />
Wortes konstruktiv.<br />
Politik und Macht werden im Rahmen einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
<strong>als</strong> eine realitätsschaffende und -erhaltende Kraft verstanden. Politik und<br />
Macht helfen dabei, das Grundproblem des Organisierens zu lösen, nämlich<br />
die zur Herstellung <strong>von</strong> Ordnung zwingend notwendige Bewältigung der<br />
Mehrdeutigkeit im Ereignisstrom <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en (vgl. Weick 1995). Politik<br />
und Macht tragen dazu bei, Wirklichkeit einzuklammern und<br />
Handlungsfähigkeit herzustellen.<br />
Wenn Politik und Macht die Fähigkeit ist, den Konstruktions- und<br />
Reifikationsprozess des Organisierens in Gang zu setzen und zu beeinflussen,<br />
dann wird auch unmittelbar klar, dass Politik und Macht keinen bestimmbaren<br />
Platz mehr haben. Politik und Macht residieren sowohl in Prozessen wie in<br />
Strukturen, denn beide haben realitätsschaffende und -erhaltende Qualitäten.<br />
Ferner können dem Politik- bzw. Machtbegriff auch keine Intentionen und<br />
keinen Nutzen mehr vorangestellt werden, denn dies sind Begriffe, die erst<br />
innerhalb einer fixierten Realität Sinn machen - aber hier wird vorgeschlagen,<br />
dass Politik und Macht an der (Entstehungs-)Grenze zur Realität operieren.<br />
Soweit das Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, das jedoch<br />
noch theoretisch fundiert und ausgearbeitet werden muss. <strong>Die</strong>s ist die<br />
Aufgabe des folgenden Kapitels 4.2.<br />
85
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
4.2 Bausteine einer <strong>duale</strong>n Theorie<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
Das Phänomen <strong>Organisation</strong> zu verstehen heisst erklären zu können, „wie es<br />
<strong>Organisation</strong>en gelingt, in der Haltlosigkeit Halt zu finden, mehr noch: in die<br />
nur <strong>als</strong> sinnlos zu denkende ‚letzte Realität’ eine Welt mit ‚heiligen Ordnungen’<br />
(Hierarchien) zu projizieren und sie so mit zwingenden Notwendigkeiten<br />
(Plänen, Programmen, Terminen, Zielen, Zielerreichungsstrategien und<br />
Erfolgsfeiern) auszustaffieren, dass man machen kann, was man macht und<br />
immer wieder weitermachen kann mit dem, was man macht, obwohl man<br />
wissen könnte, dass es im Grunde höchst unwahrscheinlich, fast ‚unmöglich’<br />
ist, was man da recht problemlos tagtäglich bewerkstelligt.“ (Bardmann 1994,<br />
S. 380)<br />
Ausgehend vom im Kapitel 4.1.3 beschriebenen Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n<br />
Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> werden in der Folge drei theoretische Bausteine<br />
vorgestellt, die ein theoretisches Licht darauf werfen, wieso die<br />
Unwahrscheinlichkeit des Gelingens des Phänomens <strong>Organisation</strong> eben doch<br />
nicht so unwahrscheinlich ist, wie das Bardmann im oben stehenden Zitat so<br />
pointiert formuliert hat.<br />
<strong>Die</strong> drei theoretischen Bausteine stammen nicht aus der <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
im engeren Sinn, sondern aus verwandten Wissenschaftsgebieten, nämlich<br />
der Soziologie (Theorie der Strukturierung), der Sozialpsychologie (Sozialpsychologie<br />
des Organisierens) und der <strong>Organisation</strong>ssoziologie (Zwänge des<br />
kollektiven Handelns).<br />
Wieso sind es gerade diese drei Theorien? <strong>Die</strong> Antwort ist einfach: Erstens<br />
sind alle drei Theorien anschlussfähig an das postmoderne <strong>Organisation</strong>sverständnis,<br />
wie es in Kapitel 3.2.2 skizziert worden ist - was natürlich eine<br />
zwingende Grundvoraussetzung ist. Zweitens leisten alle drei Theorien einen<br />
Beitrag zur Integration der in der <strong>Organisation</strong>stheorie bisher getrennt<br />
behandelten Begriffe Struktur und Prozesse (bzw. Handlung). Das ist<br />
entscheidend, denn die Integration bzw. Gleichzeitigkeit <strong>von</strong> Strukturen und<br />
Prozessen ist das zentrale Anliegen der hier gesuchten <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> (vgl. Kapitel 4.1.3). Und drittens sind Politik und Macht in allen<br />
drei Theorien integrale Bestandteile. Damit räumen sie diesen beiden<br />
Begriffen die gleiche zentrale Bedeutung ein, die sie auch im bisher hier<br />
86
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
beschriebenen Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> haben<br />
(vgl. Kapitel 4.1.3).<br />
<strong>Die</strong> drei Theorien haben sich <strong>als</strong>o dadurch empfohlen, dass sie einerseits<br />
passen 87 und andererseits das bisher aufbereitete Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n<br />
Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> (vgl. Abbildung 15) theoretisch zu fundieren<br />
vermögen.<br />
4.2.1 <strong>Die</strong> Theorie der Strukturierung<br />
<strong>von</strong> Giddens<br />
Wenn organisationale Ordnung aus kollektiven Definitions- und Verhandlungsleistungen<br />
entspringt, dann bedeutet das, dass diese Leistungen eine gewisse<br />
Regelmässigkeit bzw. Struktur aufweisen müssen, um ein einigermassen<br />
konstantes Ergebnis im Sinne <strong>von</strong> Ordnung hervorbringen zu können. Es stellt<br />
sich dann die Frage, woher diese Regelmässigkeit stammt und wie sie zu<br />
erklären ist.<br />
Darauf gibt die Theorie der Strukturierung 88 <strong>von</strong> Giddens eine Antwort. Sie<br />
geht aus <strong>von</strong> der Fragestellung, wie soziale Praktiken über Zeit und Raum<br />
geregelt sind, und führt <strong>als</strong> <strong>Erklärung</strong> dafür das Konzept der Dualität <strong>von</strong><br />
Struktur ein. Das Konzept der Dualität versteht Giddens <strong>als</strong> Antwort auf die<br />
einseitig entweder strukturfunktionalistische oder handlungsvoluntaristische<br />
Orientierung der Sozialwissenschaften. Giddens verwirft beide traditionellen<br />
Positionen und schlägt eine neue, integrative - eben <strong>duale</strong> - Sichtweise vor:<br />
„<strong>Erklärung</strong>en setzen unbedingt einen zumindest impliziten Bezug auf das<br />
zweckgerichtete, vernünftige Verhalten <strong>von</strong> Akteuren sowie auf dessen<br />
Verknüpfung mit den ermöglichenden und einschränkenden Aspekten der<br />
sozialen und materiellen Kontexte, in denen dieses Verhalten stattfindet,<br />
voraus.“ (Giddens 1997, S. 232f)<br />
Handlung und Struktur sind in der Theorie der Strukturierung somit nicht mehr<br />
Gegenbegriffe, sondern zwei Dimensionen ein und derselben sozialen<br />
Wirklichkeit, die nur analytisch zu trennen sind. Schirmer bezeichnet die<br />
87 Damit erfüllen sie ein wichtiges wissenschaftstheoretisches Kriterium (vgl. Kapitel 1.3).<br />
88 Anstatt des Begriffs Theorie der Strukturierung wird häufig auch die Bezeichnung Strukturationstheorie<br />
verwendet. Hier wird dem Begriff der Strukturierung den Vorzug gegeben, weil dadurch<br />
der prozesshafte Charakter des Giddensschen Strukturbegriffs besser zum Ausdruck kommt.<br />
87
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Theorie der Strukturierung daher auch <strong>als</strong> „Brückentheorie“ (Schirmer 2000, S.<br />
187).<br />
Giddens hat seine Theorie der Strukturierung in verschiedenen Publikationen<br />
entwickelt, wo<strong>von</strong> die beiden wichtigsten Werke „Central Problems in Social<br />
Theory. Action, structure and contradiction in social analysis.“ (1979) und „The<br />
Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration.“ (1984a,<br />
deutsch 1997) sind. <strong>Die</strong> Arbeit <strong>von</strong> Giddens ist aber auch <strong>von</strong> vielen anderen<br />
Autoren aufgenommen und diskutiert worden, 89 so dass zur Theorie der<br />
Strukturierung eine umfangreiche Sekundärliteratur existiert, die den Zugang<br />
zu den Gedanken Giddens erheblich vereinfacht.<br />
In die <strong>Organisation</strong>stheorie ist Giddens eingeführt worden durch den Artikel<br />
<strong>von</strong> Ranson et al. (1980) und die Replik <strong>von</strong> Willmott (1981). Seither ist<br />
strukturationstheoretisches Gedankengut <strong>von</strong> vielen anderen Autoren<br />
aufgenommen und verarbeitet worden, und es existiert mittlerweile eine<br />
ziemlich repräsentative Auswahl an organisationstheoretischen Veröffentlichungen.<br />
90<br />
Im Folgenden wird die Theorie der Strukturierung anhand der drei Kernkonzepte<br />
Dualität und Virtualität <strong>von</strong> Struktur, Dimensionen und Modalitäten<br />
<strong>von</strong> Struktur sowie soziale Praktiken erläutert (vgl. Kapitel 4.2.1.1) und<br />
anschliessend im Hinblick auf ihren Beitrag zu einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> zusammenfassend gewürdigt (vgl. Kapitel 4.2.1.2).<br />
4.2.1.1 Kernaussagen der Theorie der Strukturierung<br />
a) Dualität und Virtualität <strong>von</strong> Struktur<br />
<strong>Die</strong> Regelmässigkeit der sozialen Praktiken ergibt sich für Giddens aus der<br />
Dualität der Struktur, die dem Handeln zugrunde liegt und auf die sich das<br />
Handeln bezieht. Dualität heisst, dass zwischen Struktur und Handlung eine<br />
wechselseitige Konstitutionsbeziehung besteht. Sie gehen auseinander hervor<br />
und (re-)produzieren sich gegenseitig (vgl. Abbildung 16). <strong>Die</strong>ser rekursive<br />
89<br />
Vgl. z.B. Empter 1988; Ortmann 1995a; Neuberger 1995; Becker 1996; Ortmann/Sydow/et al.<br />
1997; Reckwitz 1997; Walgenbach 1999; Rüegg-Stürm 2001. Daneben gibt es die nicht<br />
unbedeutende englische Sekundärliteratur zu Giddens, die hier jedoch nicht berücksichtigt<br />
worden ist.<br />
90<br />
Für eine Übersicht der strukturationstheoretischen Publikationen in der <strong>Organisation</strong>sliteratur vgl.<br />
die Zusammenstellung in Ortmann/Sydow/et al. 1997, S. 341ff.<br />
88
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Zusammenhang erklärt „Zustandekommen und Wirkung ‚objektiver’ Strukturen<br />
..., die zwar durch menschliches Handeln erzeugt sind, den Subjekten aber <strong>als</strong><br />
fremder Zwang gegenübertreten und ihr Handeln bestimmen“ (Neuberger<br />
1995, S. 286) - und so für Kontinuität des Handelns sorgen.<br />
Handeln<br />
Struktur<br />
89<br />
+/-<br />
Ergebnis Mittel<br />
Abbildung 16: Dualität <strong>von</strong> Struktur<br />
<strong>Eine</strong>rseits wird Struktur durch Handeln geschaffen (↓), andererseits ist<br />
Struktur aber auch die Grundlage für Handeln (↑). Und <strong>als</strong> Grundlage für das<br />
Handeln haben Strukturen eine zweifache Wirkung: „So gut wie sie bestimmte<br />
Handlungsmöglichkeiten einschränken oder negieren [(-)], dienen sie dazu,<br />
andere zu eröffnen [(+)].“ (Giddens 1997, S 227) <strong>Die</strong>sen doppelten Charakter<br />
der Konstitutionsbeziehung <strong>von</strong> Struktur und Handlung meint Giddens, wenn<br />
er <strong>von</strong> der Dualität <strong>von</strong> Struktur spricht. Struktur ist zugleich Ergebnis und<br />
Mittel sowie Restriktion und Ermöglichung <strong>von</strong> Handeln.<br />
Dadurch, dass Struktur und Handlung ein rekursiver Konstitutionszusammenhang<br />
unterstellt wird, rückt der Entstehungsprozess <strong>von</strong> Struktur,<br />
die Strukturbildung, ins Zentrum des Interesses. Somit stellt sich die Frage<br />
nach den „Bedingungen, die die Kontinuität oder Veränderung <strong>von</strong> Strukturen<br />
... bestimmen.“ (Giddens 1997, S. 77) Aus dem Grundsatz der Dualität <strong>von</strong><br />
Struktur lassen sich zwei entscheidende Rückschlüsse darauf ziehen, wie der<br />
Strukturbegriff zu verstehen ist: 91<br />
91 An dieser Stelle muss der Hinweis erfolgen, dass Giddens zwischen Struktur und Strukturen<br />
unterscheidet. Unter Strukturen versteht Giddens ein Strukturgefüge, das heisst ein ganz<br />
bestimmtes Set an Regeln und Ressourcen, die eine bestimmte, aktuell gültige lokale Ordnung<br />
bilden. Unter Struktur versteht Giddens die Struktur der Strukturen, oder mit anderen Worten die<br />
Strukturiertheit dieser lokalen Ordnung. Es ist nicht immer einfach, diese Trennung aufrecht zu<br />
[Forts.]
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
• Wenn Struktur und Handlung sich rekursiv konstituieren, dann<br />
heisst das erstens, dass Struktur dem Handeln nicht äusserlich<br />
ist, sondern eine Ausdrucksform <strong>von</strong> Handeln ist.<br />
• Daraus muss zweitens gefolgert werden, dass Struktur keine<br />
objektive, vom Handeln unabhängige Existenz zukommt,<br />
sondern dass sie sich erst im Handeln verwirklicht bzw.<br />
materialisiert.<br />
Struktur entsteht und vergeht im Handeln und überdauert nur <strong>als</strong><br />
„Erinnerungsspuren, die das Verhalten bewusst handelnder Subjekte<br />
orientieren.“ (Giddens 1997, S. 69) Daher hat Struktur für Giddens nur eine<br />
virtuelle Qualität. Um die Virtualität <strong>von</strong> Strukturen zu betonen, führt Giddens<br />
den Begriff der Strukturmomente ein: „Wenn da<strong>von</strong> die Rede ist, dass Struktur<br />
eine ‚virtuelle Ordnung’ ... darstellt, dann heisst das, dass soziale Systeme ...<br />
weniger ‚Strukturen’ haben, <strong>als</strong> dass sie vielmehr ‚Strukturmomente’<br />
aufweisen“. (Giddens 1997, S. 69)<br />
Der Begriff der Strukturmomente weist darauf hin, dass Struktur nur in<br />
Momenten der Einklammerung <strong>von</strong> Zeit <strong>als</strong> objektive Strukturen erkennbar<br />
werden. In allen anderen Fällen ist Struktur nicht fixiert sondern wird<br />
kontinuierlich (re-)produziert und muss deshalb „<strong>als</strong> Prozess“ (Neuberger<br />
1995, S. 306) verstanden werden.<br />
In Anbetracht dessen, wie radikal Giddens den Strukturbegriff verflüssigt bzw.<br />
temporalisiert, erstaunt es nicht, dass Giddens unter Strukturen etwas anderes<br />
und weit mehr versteht, <strong>als</strong> in der traditionellen <strong>Organisation</strong>sliteratur<br />
gemeinhin unter dem Begriff der (formalen) Strukturen subsumiert wird.<br />
erhalten, weil wichtige Begriffe der Theorie der Strukturierung, wie z.B. die Dualität und Virtualität<br />
<strong>von</strong> Struktur und die Dimensionen <strong>von</strong> Struktur auf beide Strukturbegriffe gleichermassen<br />
zutreffen. <strong>Die</strong> beiden Begriffe laufen auch bei Giddens häufig ineinander und es ist da<strong>von</strong><br />
auszugehen, dass die Dualität <strong>von</strong> Struktur sich genau genommen nicht nur über zwei<br />
(Struktur/Handlung), sondern über drei Ebenen erstreckt, nämlich <strong>von</strong> Struktur über Strukturen zu<br />
Handlung und wieder zurück. In der nachfolgenden Darstellung der Theorie der Strukturierung<br />
wird der Unterscheidung zwischen Struktur und Strukturen weiter keine Beachtung geschenkt -<br />
wie das übrigens auch in der Mehrzahl der (deutschen) Sekundärliteratur der Fall ist (eine<br />
Ausnahme bildet Rüegg-Stürm 2001).<br />
90
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
b) Dimensionen und Modalitäten <strong>von</strong> Struktur<br />
Struktur ist für Giddens das, was verantwortlich ist dafür, dass es so abläuft,<br />
wie es abläuft. Um das soziale Geschehen erklären zu können, unterscheidet<br />
er daher drei Dimensionen <strong>von</strong> Struktur, die alle drei über die Dualität der<br />
Struktur mit Handlung rekursiv verknüpft sind (vgl. Abbildung 17). Wirksam<br />
werden diese drei Dimensionen über den komplexen Zusammenhang <strong>von</strong> je<br />
Strukturdimension typischen Regeln oder Ressourcen.<br />
Struktur<br />
Modalität<br />
Handlung<br />
Signifikation Herrschaft Legitimation<br />
interpretative<br />
Schemata<br />
Kommunikation<br />
• Signifikation<br />
91<br />
Machtmittel Normen<br />
Macht<br />
Abbildung 17: Dimensionen <strong>von</strong> Struktur 92<br />
Sanktion<br />
<strong>Die</strong> Dimension Signifikation bzw. die ihr zugehörenden Regeln 93<br />
der Sinnkonstitution steuern 94 die Erinnerungsspuren, die mit der<br />
(Be-)Deutung der sozialen Welt <strong>als</strong> Grundlage des Handelns<br />
zusammenhängen. Sie stellt <strong>als</strong>o die kognitive Ordnung des<br />
92 Abbildung leicht modifiziert übernommen aus Giddens (1997, S. 81).<br />
93 Wie schon beim Strukturbegriff verwendet Giddens auch einen ganz eigenen Regelbegriff. Das,<br />
was traditionellerweise unter dem Begriff Regeln (<strong>als</strong> schriftlich festgehaltene Anweisungen) verstanden<br />
wird, sind für Giddens lediglich „kodifizierte Interpretationen <strong>von</strong> Regeln“. Mit seinem<br />
Regelbegriff meint Giddens jedoch „Verfahrensweisen des Handelns“, das heisst „verallgemeinerbare<br />
Verfahren, die in der Reproduktion sozialer Praktiken angewendet werden.“ (Giddens<br />
1997, S. 73) Regeln im Giddensschen Sinn sind <strong>als</strong>o eher <strong>als</strong> Regelmässigkeiten des Handelns<br />
zu interpretieren.<br />
94 Mit „steuern“ ist nicht ein aktiver Prozess gemeint, sondern das Ergebnis des praktischen<br />
Bewusstseins der Handelnden (vgl. dazu Punkt c).
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
sozialen Handelns bereit. „Wie die Welt zu sehen ist, ist nicht ins<br />
Belieben der einzelnen Subjekte gestellt oder deren individuelle<br />
Leistung; sie sind vielmehr in ihren jeweiligen kulturellen und<br />
sozialen Kontexten und ganz bestimmten Welt-Anschauungen,<br />
kognitiven Ordnungen oder Deutungsschemata aufgewachsen,<br />
die ihnen zur sprichwörtlichen ‚zweiten Wirklichkeit’ geworden<br />
sind und damit zu einer normalerweise nicht hinterfragten<br />
Selbstverständlichkeit.“ (Neuberger 1995, S. 307f)<br />
• Herrschaft<br />
<strong>Die</strong> Dimension Herrschaft bzw. die ihr zugehörenden allokativen<br />
und autoritativen Ressourcen 95 stellen die faktische 96 Ordnung<br />
des Handelns bereit. Damit kommt die Struktur-Dimension<br />
Herrschaft dem traditionellen Strukturbegriff am nächsten. Für<br />
Giddens geht es bei dieser Struktur-Dimension um das<br />
Vermögen bzw. die Fähigkeit der Handelnden, in die soziale<br />
Welt verändernd eingreifen zu können.<br />
• Legitimation<br />
In der Dimension Legitimation bzw. den ihr zugehörenden<br />
Regeln der Sanktionierung <strong>von</strong> Handeln fussen die Erinnerungsspuren,<br />
die mit der Begründung und Rechtfertigung des<br />
Handelns zusammenhängen. Sie stellt <strong>als</strong>o die normative<br />
Ordnung des sozialen Handelns bereit, „in der die Prinzipien<br />
oder Geltungsansprüche enthalten sind, denen soziale<br />
Handlungen und Verhältnisse zu genügen haben. Wer diesen<br />
vorgegebenen Prinzipien folgt, entlastet sich <strong>von</strong> allfälliger<br />
Begründungsarbeit.“ (Neuberger 1995, S. 308)<br />
Es ist offensichtlich, dass die drei Strukturdimensionen nicht unabhängig<br />
<strong>von</strong>einander sind. Beispielsweise müssen sich Legitimation und Signifikation<br />
95<br />
Unter allokativen Ressourcen ist die Kontrolle materieller Aspekte der sozialen Welt zu verstehen,<br />
wie z.B. Rohstoffe, Technik oder Geld. Mit autoritativen Ressourcen ist die Kontrolle über<br />
und Koordination <strong>von</strong> Menschen und Ereignissen gemeint, wie z.B. Arbeitsorganisation oder<br />
Planungsinstrumente.<br />
96<br />
Der Begriff faktisch ist hier nicht in Zusammenhang mit dem Wort Fakt (<strong>als</strong>o: objektive Tatsache,<br />
Wahrheit) zu sehen, sondern soll auf die Artefakte der faktischen Ordnung verweisen (vgl.<br />
Fussnote 100).<br />
92
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
auf Herrschaft stützen können, um Erfolg zu haben. Umgekehrt ist Herrschaft<br />
aber ebenso auf Legitimation und Signifikation angewiesen, um Bestand zu<br />
haben. Giddens weist darum verschiedentlich darauf hin, dass diese drei<br />
Strukturdimensionen nur analytisch trennbar sind.<br />
<strong>Die</strong> drei Dimensionen <strong>von</strong> Struktur sind wie bereits erwähnt über die Dualität<br />
der Struktur rekursiv verknüpft mit Handlung, das heisst, jede Strukturdimension<br />
findet auf der Ebene der Handlung ihre Entsprechung im Handeln<br />
sozialer Akteure. Signifikation erhält ihren Ausdruck in kommunikativem<br />
Handeln, Herrschaft zeigt sich im machtvollen Eingreifen in den fortlaufenden<br />
Gang der Ereignisse und Legitimation verwirklicht sich in sanktionierenden<br />
Massnahmen.<br />
Zur Verdeutlichung dieser wechselseitigen Beziehung führt Giddens den<br />
Begriff der Modalitäten ein. „Es geht darum, die Bewusstheit der Akteure mit<br />
den strukturellen Momenten sozialer Systeme zu vermitteln. Akteure beziehen<br />
sich auf diese Modalitäten in der Reproduktion der Interaktionssysteme, und<br />
im selben Zug rekonstruieren sie deren Strukturmomente.“ (Giddens 1997,<br />
S. 81) Modalitäten nehmen <strong>als</strong>o eine Vermittlungsfunktion zwischen Struktur<br />
und Handlung ein. Beispiele solcher Modalitäten sind verwendete Interpretationsschemata<br />
(Wahrnehmungsmuster, Sprachmuster), eingesetzte<br />
Machtmittel (<strong>Organisation</strong>sinstrumente, Infrastruktur, Rohstoffe, Geld) und<br />
gelebte Normen (organisatorische Regeln, juristische Festlegungen).<br />
<strong>Die</strong> Modalitäten selbst sind wiederum rekursiv mit dem Handeln verknüpft. Sie<br />
werden nicht nur durch Handeln hervorgebracht, sondern sie sind auch das<br />
Vehikel, mit denen sich die Handelnden ausdrücken. In und durch ihre<br />
Handlungen reproduzieren die Handelnden demnach die Bedingungen, die ihr<br />
Handeln ermöglichen. <strong>Die</strong>ser selbstreferenzielle Bezug ist die Quelle der<br />
Stabilität und Kontinuität des Handelns und die Voraussetzung dafür, dass<br />
sich aus dem Handeln sich wiederholende soziale Praktiken herausbilden<br />
können, wodurch die soziale Welt Ordnung annimmt.<br />
Damit ist nochm<strong>als</strong> der virtuelle Charakter <strong>von</strong> Struktur betont, dass heisst die<br />
Unmöglichkeit allein durch (Erinnerungsspuren <strong>von</strong>) Strukturen Ordnung in<br />
einem sozialen System zu schaffen und zu erhalten. Vielmehr braucht es dazu<br />
das Zusammenspiel dreier Elemente: „(a) knowledge - as memory traces - of<br />
‚how things are to be done’ (said, written), on the part of social actors; (b)<br />
social practices organised through the recursive mobilisation of that<br />
93
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
knowledge; (c) capabilities that the production of those practices<br />
presupposes.“ (Giddens 1979, S. 64)<br />
Der Begriff der Struktur verweist <strong>als</strong>o - wegen der Dualität <strong>von</strong> Struktur -<br />
geradewegs auf den Begriff der Handlung bzw. im weiteren Sinn auf den<br />
Begriff <strong>von</strong> sozialen Praktiken.<br />
c) soziale Praktiken <strong>als</strong> Verwirklichung <strong>von</strong> Struktur<br />
Soziale Praktiken sind routinisierte Handlungen (vgl. Giddens 1979, S. 56).<br />
Nach Giddens liegen sie der Konstitution <strong>von</strong> Subjekt und sozialem Objekt<br />
zugrunde (vgl. Giddens 1997, S. 35) - das heisst in sozialen Praktiken<br />
schaffen wir uns, die anderen und die Welt. „Ohne menschliches Handeln<br />
gäbe es ... soziale Systeme überhaupt nicht. Das heisst aber nicht, dass<br />
Handelnde soziale Systeme erschaffen: Sie reproduzieren und verändern sie,<br />
indem sie immer wieder neu schaffen, was in der Kontinuität <strong>von</strong> Praxis<br />
bereits existiert.“ (Giddens 1997, S. 224)<br />
Soziale Praktiken muss man sich demnach nicht <strong>als</strong> einzelne, isolierbare<br />
Handlungen vorstellen, sondern eher <strong>als</strong> ein „continuous flow of conduct“<br />
(Giddens 1979, S. 55) Sie sind direkt eingebettet in den Ereignisstrom des<br />
täglichen Lebens und <strong>von</strong> ihm nicht unabhängig.<br />
Drei Merkmale zeichnen den Handlungsbegriff <strong>von</strong> Giddens speziell aus:<br />
Handeln beruht auf „knowledgeabilty“, auf „accountability“ und auf<br />
„capability“. 97<br />
Erstens räumt Giddens jedem Handelnden eine Handlungsautonomie ein in<br />
dem Sinn, dass der Handelnde „in jeder Phase einer gegebenen<br />
Verhaltenssequenz anders hätte handeln können.“ (Giddens 1997, S. 60) Das<br />
setzt voraus, dass die Handelnden über einen gewissen handlungsrelevanten<br />
Wissensbestand verfügen (knowledgeability). Der grösste Teil dieses<br />
Wissensbestands ist jedoch nicht in einem diskursiven Bewusstsein verfügbar,<br />
97 Es gibt in der Theorie der Strukturierung noch zwei weitere Elemente, die für den Handlungsbegriff<br />
wichtig sind, auf die aber hier nicht eingegangen wird: <strong>Die</strong> unerkannten Handlungsbedingungen<br />
und die unbeabsichtigten Handlungsfolgen. Mit diesen beiden Begriffen erklärt<br />
Giddens den Umstand, dass Handeln nicht immer rational ist bzw. erscheint. <strong>Die</strong>se beiden<br />
Begriffe stehen meines Erachtens in einem seltsamen Verhältnis zur restlichen Handlungstheorie<br />
<strong>von</strong> Giddens, wenn man berücksichtigt, dass Giddens seinen Handlungsbegriff <strong>von</strong> demjenigen<br />
der Intentionalität trennt und fest im praktischen Bewusstsein verankert. Dort muten diskursive<br />
Begriffe wie Handlungsbedingungen und Handlungsfolgen (tendenziell) fremd an.<br />
94
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
sondern liegt im praktischem Bewusstsein der Handelnden. Das heisst, sie<br />
greifen nicht bewusst, sondern routinisiert auf diesen Wissensbestand zu. Das<br />
praktische Bewusstsein „umfasst all das, was Handelnde stillschweigend<br />
darüber wissen, wie in den Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu<br />
verfahren ist, ohne dass sie in der Lage sein müssten, all dem einen direkten<br />
diskursiven Ausdruck zu verleihen.“ (Giddens 1997, S. 36)<br />
Zweitens handeln Akteure - obwohl das meiste Handeln dem praktischen<br />
Bewusstsein entspringt - nicht marionettenhaft sondern sind strategiefähig,<br />
das heisst sind in der Lage dazu, vergangene Erfahrungen und zukünftige<br />
Erwartungen in ihr Handeln miteinzubeziehen. Giddens nennt das die reflexive<br />
Handlungssteuerung. <strong>Die</strong>se reflexive Handlungssteuerung befähigt die<br />
Akteure dazu, „zu verstehen, was sie tun, während sie es tun.“ (Giddens 1997,<br />
S. 36) Handelnde unterziehen ihr Handeln und das anderer <strong>als</strong>o einer<br />
kontinuierlichen Beobachtung und sind deshalb dazu in der Lage, ihr eigenes<br />
Handeln korrekt an dasjenige anderer Akteure anzuschliessen und bei Bedarf<br />
eine kohärente Darstellung ihrer Handlungen und ihrer Beweggründe zu<br />
geben (accountability).<br />
Drittens ruht für Giddens Handeln nicht in den „Intentionen, die Menschen<br />
beim Tun <strong>von</strong> Dingen haben, sondern auf ihr Vermögen, solche Dinge<br />
überhaupt zu tun“ (capability). (Giddens 1997, S. 60) Damit ist der<br />
Giddenssche Handlungsbegriff untrennbar verknüpft mit Macht, denn Macht<br />
bedeutet für Giddens „das Mittel der Ausführung <strong>von</strong> Dingen und kommt <strong>als</strong><br />
solches unmittelbar in menschlichem Handeln zur Geltung“. (Giddens 1997,<br />
S. 337) Macht ist somit ein konstitutiver Bestandteil <strong>von</strong> Handeln und damit<br />
niem<strong>als</strong> nur Zwang, sondern immer auch Ermöglichung, weil in Macht das<br />
Vermögen der Akteure gründet, beabsichtigte Handlungsergebnisse<br />
hervorzubringen. Macht geht demnach dem Handeln voraus und ist nicht - wie<br />
im traditionellen Verständnis - eine Wirkung <strong>von</strong> Handeln.<br />
So eng Giddens seinen Handlungsbegriff mit demjenigen der Macht verknüpft,<br />
so deutlich trennt er ihn vom Begriff der Intentionalität. <strong>Eine</strong> intentionale<br />
Ausrichtung erhält Handeln sozusagen erst ex-post, wenn es diskursiv<br />
begründet werden muss. Vorher wird es nicht durch Intentionen, sondern<br />
durch die reflexive Handlungssteuerung geleitet (vgl. Giddens 1997, S. 13).<br />
Das heisst, dass Handlungen typischerweise nicht intentional, sondern<br />
routinisiert sind.<br />
95
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
<strong>Die</strong>se gewohnheitsmässigen, Tag für Tag in gleicher Weise vollzogenen<br />
Handlungen - sprich sozialen Praktiken - sind jedoch keine Selbstverständlichkeit.<br />
Giddens weist darauf hin, dass „der Routinecharakter der meisten<br />
sozialen Aktivitäten etwas ist, ‚woran’ diejenigen, die diese Aktivitäten in ihrem<br />
Alltagsverhalten immer wieder produzieren, andauernd ‚arbeiten’ müssen.“<br />
(Giddens 1997, S. 140) Handelnde müssen sich <strong>als</strong>o der Gültigkeit ihres<br />
routinisierten Handelns immer wieder vergewissern, damit sie ihre<br />
Handlungsfähigkeit aufrecht erhalten können (vgl. Giddens 1997, S. 36f).<br />
<strong>Die</strong>se Vergewisserung ist stets auch eine Überprüfung der Struktur, die den<br />
sozialen Praktiken - aufgrund der Dualität <strong>von</strong> Struktur - zugrunde liegt. Damit<br />
verwirklichen und bekräftigen soziale Praktiken fortlaufend die Struktur,<br />
aufgrund der sie überhaupt erst möglich geworden sind. Für Giddens sind<br />
deshalb soziale Praktiken der wichtigste Ausdruck der Struktur, die für die<br />
Kontinuität bzw. die Ordnung sozialer Systeme sorgt (vgl. Giddens 1997,<br />
S. 336).<br />
4.2.1.2 Relational-konstruktivistische Würdigung der<br />
Theorie der Strukturierung<br />
<strong>Die</strong> Strukturationstheorie sensibilisiert „für die strukturell verankerte<br />
Dauerhaftigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en, ohne dabei den Handlungsaspekt aus<br />
den Augen zu verlieren.“ (Schirmer 2000, S. 186f) Sie erreicht das durch eine<br />
komplexe Argumentationskette, die wie folgt zusammengefasst werden<br />
könnte:<br />
Ordnung entsteht aus der Kontinuität sozialer Praktiken. <strong>Die</strong> Kontinuität<br />
sozialer Praktiken entspringt der Struktur, die den sozialen Praktiken zugrunde<br />
liegt und auf die sich die sozialen Praktiken beziehen, wobei die Struktur nur in<br />
ihrer Verwirklichung in den sozialen Praktiken auch tatsächlich eine ordnende<br />
Wirkung entfalten kann. <strong>Die</strong> ordnende Wirkung <strong>von</strong> Struktur verwirklicht sich<br />
über Modalitäten, die in den sozialen Praktiken zur Anwendung gelangen, das<br />
heisst in den Regeln und Ressourcen des Handelns, die jedoch ihrerseits<br />
wiederum rekursiv eingebettet sind in das Handeln.<br />
Giddens leistet damit eine ziemlich radikale Redefinition des Strukturbegriffs.<br />
Sie hilft, den Eckpunkt Strukturen des bisherigen theoretischen Grundgerüsts<br />
(vgl. Abbildung 15) besser zu verstehen. <strong>Die</strong> drei Strukturdimensionen<br />
betonen den sozialen Charakter <strong>von</strong> Struktur und machen begreiflich, was<br />
darunter zu verstehen ist, wenn gesagt wird, dass Strukturen<br />
96
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Materialisierungen des Sozialen sind. <strong>Die</strong> Dualität und Virtualität <strong>von</strong> Struktur<br />
veranschaulichen die Wirkungsweise der Strukturen. Insgesamt stellt die<br />
Theorie der Strukturierung <strong>als</strong>o einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis<br />
der strukturellen Bedingungen, der Strukturiertheit <strong>von</strong> Ordnung bzw.<br />
<strong>Organisation</strong> dar.<br />
Dennoch gibt es auch Lücken in der Theorie der Strukturierung. Wenig zu<br />
sagen hat Giddens nämlich dazu, wie sich Strukturen materialisieren, das<br />
heisst wie aus der Fülle denkbarer Modalitäten jeweils ein ganz bestimmtes<br />
Set an Regeln und Ressourcen in sozialen Praktiken ausgewählt und<br />
routinisiert wird. Das ist darauf zurückzuführen, dass Giddens in seiner<br />
Theorie der Strukturierung zwar auf die beiden Begriffe Macht und Politik<br />
abstützt, sie aber nicht konsequent genug eingebunden hat.<br />
Sein Machtbegriff entspricht zwar dem modernen Machtbegriff <strong>von</strong> Macht-zu. 98<br />
Aber obwohl Giddens Macht in jegliches Handeln „logisch einschliesst“<br />
(Giddens 1997, S. 66), sagt er nichts Näheres dazu, wie sich diese Macht in<br />
den sozialen Praktiken politisch durchsetzt. Das ist unbefriedigend. Denn<br />
wenn Macht integraler Bestandteil des Handelns ist, heisst das, dass jeder<br />
Handelnde Macht hat, und dass es daher zwangsläufig zu Verhandlungssituationen<br />
kommen muss, wenn die Macht verschiedener Akteure aufeinander<br />
trifft.<br />
Das Thema Politik und Macht ist aus relational-konstruktivistischer Sicht <strong>als</strong>o<br />
die Schwachstelle in der Theorie der Strukturierung, und hier setzen denn<br />
auch die zwei relational-konstruktivistischen Hauptkritikpunkte an der Theorie<br />
der Strukturierung an. Sie betreffen erstens die Frage, wie Giddens Macht in<br />
sein Modell eingebettet hat, und zweitens wie sich diese Macht entfaltet.<br />
a) Einbettung <strong>von</strong> Macht<br />
Giddens verknüpft in seinem Modell Macht mit dem Einsatz <strong>von</strong> Machtmitteln<br />
und Herrschaft mit der Kontrolle über allokative und autoritative Ressourcen<br />
(vgl. Abbildung 17). Dagegen sind zwei Einwände zu erheben: 99 Erstens<br />
widerspricht Giddens mit dieser Anbindung <strong>von</strong> Macht an einen einzigen<br />
98<br />
Was nicht weiter erstaunlich ist, bezieht sich Giddens doch in seinen Ausführung ausdrücklich<br />
(wenn auch nicht ohne Vorbehalte) auf Foucault.<br />
99<br />
Zu dieser Kritik sind auch Ortmann et al. (1990) gelangt und haben eine ähnliche Änderung am<br />
Modell der Struktur-Dimensionen vorgenommen, wie hier vorgeschlagen.<br />
97
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Aspekt <strong>von</strong> Handlung im Grunde seiner eigenen Machtdefinition, die besagt,<br />
dass Macht die Grundlage und Voraussetzung jeglichen Handelns ist - <strong>als</strong>o<br />
auch des kommunikativen und sanktionierenden Handelns. Zweitens wird<br />
Herrschaft, wenn mit dem Einsatz <strong>von</strong> Ressourcen gleichgesetzt, zu eng an<br />
das Prinzip der faktischen Ordnung gebunden. Herrschaft zeigt sich aber nicht<br />
nur in Form <strong>von</strong> faktischer Ordnung, sondern ebenso durch kognitive und/oder<br />
normative Ordnung.<br />
Macht bzw. Herrschaft dürfen <strong>als</strong>o nicht exklusiv einer einzigen Handlungs-<br />
bzw. Strukturdimension zugeordnet werden, sondern müssen sich <strong>als</strong><br />
konstitutive Grundlage quer durch alle Handlungs- bzw. Strukturdimensionen<br />
ziehen (vgl. Abbildung 18). Damit stellt sich aber die Frage, womit der<br />
bisherige Platz <strong>von</strong> Macht bzw. Herrschaft im Modell gefüllt werden kann.<br />
Struktur<br />
Modalitäten<br />
Handlung<br />
Signifikation<br />
(kognitive Ordnung)<br />
interpretative<br />
Schemata<br />
Herrschaft<br />
Reifikation Legitimation<br />
(faktische Ordnung) (normative Ordnung)<br />
Ressourcen<br />
Normen<br />
Kommunikation Artefakte<br />
Sanktionen<br />
Macht<br />
Abbildung 18: Relational-konstruktivistische Überarbeitung<br />
der Dimensionen und Dualität <strong>von</strong> Struktur<br />
98<br />
Potenzialität<br />
Aktualisierung<br />
lokale<br />
Ordnung
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Aus relational-konstruktivistischer Sicht bietet es sich an, die bisherige<br />
Strukturdimension Herrschaft mit den ihr zugeordneten autoritativen und<br />
allokativen Ressourcen umzubenennen in Reifikation. Damit ist das Vermögen<br />
der sozialen Praktiken angesprochen, im Laufe der Zeit <strong>als</strong> Folge ihrer<br />
Routinisierung Materialisierungen in Form <strong>von</strong> autoritativen und allokativen<br />
Ressourcen zu sedimentieren, das heisst zu reifizieren, und dadurch eine<br />
faktische Ordnung bereit zu stellen. Entsprechend kann das Gegenstück auf<br />
der Handlungs-Ebene Artefakte 100 genannt werden. Damit wären dann die<br />
Materialisierungen in ihrer tatsächlichen physischen Erscheinungsform<br />
gemeint, das heisst die formellen Strukturen, Prozesse und (Hilfs-)Mittel, auf<br />
die Handeln zurückgreift bzw. einsetzt.<br />
Auf der Ebene der Modalitäten sind dann die einzelnen autoritativen und<br />
allokativen Ressourcen angesiedelt, die zwischen der Ebene der Reifikation<br />
und der Ebene der Artefakte vermitteln.<br />
Aus relational-konstruktivistischer Sicht eröffnet sich zudem ein spezieller<br />
Zusammenhang der drei Ebenen Struktur, Modalitäten und Handlung. <strong>Die</strong><br />
Struktur-Ebene kann verstanden werden <strong>als</strong> Raum der potenziellen Ordnung,<br />
<strong>als</strong> Summe dessen, was denkbar wäre. Aus diesem Raum werden über die<br />
Vermittlungsfunktion der Modalitäten ganz bestimmte Regel- und Ressourcen-<br />
Komplexe aktualisiert, die sich dann in der routinisierten Wiederholung der<br />
sozialen Praktiken <strong>als</strong> lokal gültige Ordnung niederschlagen.<br />
b) Entfaltung <strong>von</strong> Macht<br />
Giddens bietet keine <strong>Erklärung</strong> der Wirkungsweise <strong>von</strong> Macht <strong>als</strong> Phänomen<br />
<strong>von</strong> Handlung. 101 Er erwähnt lediglich, dass sich Macht im Rahmen der<br />
Herrschaftsstrukturen „sanft fliessend“ entfaltet (1997, S. 314), ohne jedoch zu<br />
konkretisieren, wie Macht <strong>als</strong> das Eingreifen in den fortlaufenden Gang der<br />
Ereignisse <strong>von</strong> den einzelnen Akteuren kunstvoll eingesetzt wird. Man muss<br />
sich vergegenwärtigen, dass jeder Akteur per Definition über Macht verfügt,<br />
denn dann wird unmittelbar klar, dass hier eine grosse Lücke klafft: Was<br />
passiert, wenn in einer sozialen Situation multiple Akteure gleichzeitig<br />
machtvoll handeln und interagieren?<br />
100<br />
Den Begriff der Artefakte entlehne ich bei Schein (1992, S. 17), der darunter „visible<br />
organizational structures and processes“ versteht.<br />
101<br />
<strong>Die</strong>se Kritik erheben auch Neuberger (1995) und Schirmer (2000).<br />
99
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Empter (1988, S. 143f) hat darauf hingewiesen, dass der Begriff <strong>von</strong> Macht-zu<br />
(wie ihn Giddens vertritt) „solange ‚amorph’ [bleibt], <strong>als</strong> nicht die Umstände<br />
und Bedingungen spezifiziert werden, unter denen Macht sich entfalten kann.<br />
<strong>Eine</strong> solche Fähigkeit gewinnt nämlich erst in einer konkreten sozialen<br />
Interaktion bzw. in einer interdependenten sozialen Beziehung zwischen<br />
sozialen Akteuren, in welcher alle Beteiligten in ihren Handlungsfähigkeiten<br />
aufeinander angewiesen sind, ihren Sinn.“<br />
Aus dem Modell der Strukturdimensionen wird ersichtlich, dass die Ebene der<br />
Modalitäten eine wichtige Rolle spielen muss bei der Frage, wie sich Macht<br />
entfaltet (vgl. Abbildung 19).<br />
Signifikation Reifikation<br />
interpretative<br />
Schemata<br />
Vermittlungsfunktion<br />
der Strukturmodalitäten<br />
Kommunikation Artefakte<br />
100<br />
Legitimation<br />
Ressourcen Normen<br />
Sanktionen<br />
Abbildung 19: Vermittlungsfunktion der Strukturmodalitäten 102<br />
<strong>Die</strong> Modalitäten vermitteln zwischen potenzieller und aktueller Ordnung. Dort<br />
wird <strong>als</strong>o entschieden, welche der denkbaren Ordnungen des Sozialen<br />
aktualisiert und demnach Wirklichkeit wird. Doch ausgerechnet auch über die<br />
102 Giddens bringt die Dualität <strong>von</strong> Struktur und Handlung mit Doppelpfeilen zum Ausdruck (vgl.<br />
Abbildung 17). Hier und in allen weiteren Abbildungen wird eine andere Darstellungsform<br />
gewählt. <strong>Die</strong> Dualität <strong>von</strong> Struktur und Handlung wird mit den gestrichelten Rechtecken zum<br />
Ausdruck gebracht, die die Struktur- und Handlungsdimensionen verbinden.<br />
der Modalitäten
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
nähere Funktionsweise der Vermittlungsfunktion der Modalitäten schweigt sich<br />
Giddens in seiner Theorie der Strukturierung aus. 103<br />
Giddens hilft zwar, die Strukturiertheit <strong>von</strong> Ordnung bzw. <strong>Organisation</strong>en zu<br />
verstehen, aber gerade die Frage des Entstehungsprozesses, der Strukturierung<br />
<strong>von</strong> Ordnung, vermag die Theorie der Strukturierung demnach nicht<br />
restlos zu beantworten. Es gibt jedoch eine Theorie, die zu genau diesem<br />
Punkt eine wertvolle Ergänzung liefern kann: die Sozialpsychologie des<br />
Organisierens <strong>von</strong> Hosking und Morley.<br />
4.2.2 <strong>Die</strong> Sozialpsychologie des Organisierens<br />
<strong>von</strong> Hosking und Morley<br />
Hosking und Morley wollen mit ihrer Sozialpsychologie des Organisierens<br />
einen Beitrag zur Überwindung der theoretischen Trennung zwischen<br />
Individuum und <strong>Organisation</strong> der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien leisten.<br />
Für sie besteht ein enger Zusammenhang zwischen Individuum und<br />
<strong>Organisation</strong> in dem Sinn, dass „actors, to some degree, make their contexts<br />
whilst at the same time being made by them“ (1991, S. 60)<br />
Dem theoretischen Verständnis <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> Hosking und Morley<br />
liegt die Vorstellung einer fundamentalen Relationalität aller Phänomene der<br />
sozialen Wirklichkeit zugrunde. <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> soziale Tatsache entsteht aus<br />
relationalen Prozessen und ist das Ergebnis der Konstruktions- und<br />
Koordinationsleistungen multipler Akteure. „The processes through which<br />
actors make contexts and contexts make actors is, in a very fundamental<br />
sense, a matter of negotiation: both social order, and individu<strong>als</strong>, arise in and<br />
through a process of ongoing negotiation about who shall be whom, and what<br />
order shall pertain.“ (Hosking/Morley 1991, S. 146) Für Hosking und Morley<br />
muss daher das Verständnis für die kontinuierlichen Verhandlungsprozesse<br />
der sozialen Akteure das zentrale Element einer jeden <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
bilden.<br />
<strong>Die</strong> Sozialpsychologie des Organisierens ist in einem Buch umfassend<br />
dargestellt (Hosking/Morley 1991). Daneben gibt es eine Reihe kürzerer<br />
103 <strong>Die</strong> gleiche Kritik erhebt auch Neuberger (1995, S. 321).<br />
101
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Publikationen, die einen guten Einstieg in das theoretische Modell anbieten<br />
(Hosking 1988; Hosking/Fineman 1990; Hosking/Bass 1998; Hosking 2000). 104<br />
Im Folgenden wird die Sozialpsychologie des Organisierens anhand ihrer<br />
Kernbegriffe und Kernaussagen erläutert (vgl. Kapitel 4.2.2.1) und<br />
anschliessend im Hinblick auf ihren Beitrag zu einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> zusammenfassend gewürdigt (vgl. Kapitel 4.2.2.2).<br />
4.2.2.1 Kernaussagen der Sozialpsychologie des<br />
Organisierens<br />
a) Relationalität <strong>von</strong> Individuum und <strong>Organisation</strong><br />
Relationalität bedeutet die konstitutive Interdependenz zwischen dem Selbst,<br />
den Anderen und der Welt. Nur in und durch die relationalen Prozesse der<br />
gegenseitigen Bezugnahme finden Handelnde zu ihrem Selbst und die Welt zu<br />
ihrer sozialen Ordnung. Das Ich ist für sein Ich-Sein auf das Du angewiesen<br />
(vgl. Mead 1968; Buber 1973; Gergen 2002, S. 164f).<br />
Relationale Prozesse umfassen jedoch nicht nur die Relationen zwischen<br />
einzelnen Individuen, sondern ebenso auch diejenigen zwischen den<br />
Individuen und den Objekten der Welt. Mit den relationalen Prozessen sind<br />
<strong>als</strong>o die kollektiven Konstruktionsprozesse gemeint, die aus dem<br />
kontinuierlichen Fluss <strong>von</strong> Ereignissen Dinge, Personen etc. hervorheben und<br />
ihnen faktische Qualität verleihen. „These relational processes importantly are<br />
characterized by what we shall call the activities of sense-making [and worldmaking].”<br />
(Hosking/Morley 1991, S. xi) Soziale Ordnung bzw. das, was<br />
<strong>Organisation</strong> genannt wird, ist somit das Ergebnis dieser relationalen<br />
Prozesse.<br />
Drei Anmerkungen sind dazu zu machen:<br />
• Erstens sind relationale Prozesse immer kollektiv. Soziale<br />
Konstruktionsprozesse (und ihre entitativen Materialisierungen)<br />
können nicht den Konstruktionsleistungen eines einzelnen<br />
Akteurs zugeordnet werden. Relationale Prozesse sind zwingend<br />
auf Kooperation angewiesen. „What is most fundamental about<br />
104 Ebenfalls aufschlussreich ist die Homepage <strong>von</strong> Hosking. Dort stehen eine Reihe <strong>von</strong> online-<br />
Texten und Artikeln zum Herunterladen bereit (http://www.geocities.com/dian_marie_hosking).<br />
102
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
relational processes is that they are grounded in helping. All<br />
actors need the help of others in constructing their identities and<br />
their sense of social order, and need the help of others in order<br />
to act in relation to them.” (Hosking/Morley 1991, S. 239)<br />
Individuen brauchen für ihre Handlungen demnach keine Motive<br />
und keine Intentionen. Sie handeln, weil das der einzige Weg ist,<br />
wie sie sein können und wie sie wissen können. 105<br />
• Zweitens entfalten sich relationale Prozesse nicht unabhängig<br />
vom Kontext, in dem sie stattfinden. <strong>Die</strong> soziale Wirklichkeit, die<br />
aus relationalen Prozessen entsteht, wirkt auf diese relationalen<br />
Prozesse wieder zurück, in dem sie die Bedingungen der<br />
Möglichkeit dessen schafft, was in Zukunft sein könnte und sein<br />
wird. Kontext und Selbst bzw. <strong>Organisation</strong> und Individuum<br />
konstituieren und definieren sich gegenseitig. „It appears that, in<br />
a very real sense, who people are, and how they act very much<br />
depends on who they are with, and why they are there.“<br />
(Hosking/Fineman 1990, S. 588) <strong>Die</strong> soziale Wirklichkeit, die aus<br />
den relationalen Prozessen entsteht, ist <strong>als</strong>o stets ebenso<br />
kontingent wie lokal.<br />
• Drittens sind relationale Prozesse stets auch politische<br />
Prozesse. Aus jedem relationalen Prozess entspringen eine<br />
Vielfalt <strong>von</strong> sozialen Konstrukten, die sich manchmal gegenseitig<br />
zu einer kohärenten sozialen Ordnung ergänzen, aber ebenso<br />
oft auch in Konkurrenz zueinander stehen. Soziale Akteure<br />
müssen daher permanent um ein gemeinsames Verständnis<br />
ringen um kollektiv handlungsfähig zu sein. Relationale Prozesse<br />
sind deshalb nicht nur Konstruktionsprozesse, sondern<br />
gleichzeitig auch Verhandlungsprozesse, in denen um die<br />
Bedeutung und die Akzeptanz der sozialen Konstrukte gerungen<br />
wird. „These are processes in which actors negotiate their own<br />
descriptions of issues ... and seek to influence the descriptions<br />
and actions of others … They are symbolic processes,<br />
105 Hosking und Morley sprechen daher nicht <strong>von</strong> Motiven, Zielen oder Aufgaben, die Akteure in<br />
ihrem Handeln verfolgen, sondern <strong>von</strong> „projects“: „... one way of looking at a project is to see it as<br />
a set of conversations which commit people to some future action.“ (Hosking/Morley 1991, S. 93)<br />
103
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
processes of influence, negotiation, and exchange; they are<br />
processes in which joint action is made possible; they are<br />
processes in which the valuations and interests of some actors<br />
are better protected and promoted than the valuations and<br />
interests of others.” (Hosking/Morley 1991, S. 86)<br />
b) Verhandlungsprozesse des Organisierens<br />
Im Kern ist der Prozess des Organisierens <strong>als</strong>o ein kollektiver<br />
Verhandlungsprozess über die Signifikation und die Legitimation der sozial<br />
konstruierten organisationalen Wirklichkeit, um die gemeinsame Basis für<br />
gegenwärtige und zukünftige organisationale Handlungen zu schaffen.<br />
<strong>Die</strong>ser Verhandlungsprozess besteht aus kognitiven und politischen<br />
Prozessen, die sich in sozialen Praktiken des Organisierens materialisieren<br />
(vgl. Abbildung 20). Soziale Praktiken gehen <strong>als</strong>o aus kognitiven und<br />
politischen Prozessen hervor, sie sind aber gleichzeitig auch das Mittel, mit<br />
dem sich die kognitiven und politischen Prozesse entfalten. Soziale Praktiken,<br />
kognitive Prozesse und politische Prozesse sind <strong>als</strong>o ineinander verschränkt<br />
und nur analytisch trennbar.<br />
kognitive<br />
Prozesse<br />
soziale<br />
Praktiken<br />
104<br />
politische<br />
Prozesse<br />
Abbildung 20: <strong>Die</strong> drei Elemente des Verhandlungsprozesses des Organisierens<br />
Kognitive Prozesse sind Prozesse des Verstehens. In kollektiven kognitiven<br />
Prozessen 106 gelangen die organisationalen Akteure zu einem gemeinsamen<br />
106 Es ist wichtig, an dieser Stelle nochm<strong>als</strong> die Kollektivität der kognitiven Prozesse zu betonen.<br />
Kognition wird in der (<strong>Organisation</strong>s-)Theorie traditionell <strong>als</strong> individuelle Fähigkeit und Leistung<br />
unabhängiger Akteure konzipiert (vgl. Dachler 1997b). Hier werden kognitive Prozesse jedoch <strong>als</strong><br />
relationales Phänomen verstanden, das nur kollektiv erreicht werden kann (vgl. Punkt a).
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Verständnis dessen was ist, was war und was zukünftig sein könnte. „We see<br />
cognitive [processes] as something that goes on all the time: activity which,<br />
when oriented to the present, is so in relation to possible futures and<br />
constructions of the past.” (Hosking/Morley 1991, S. xxi) So entsteht ein<br />
geteiltes Vorverständnis (“taken-for-granteds”) einer bestimmten lokalen<br />
Wirklichkeit. Kognitive Prozesse projizieren eine soziale Ordnung in den<br />
kontinuierlichen Fluss des Alltagsgeschehens und vermitteln bestimmte<br />
Perspektiven, Ansichten und Meinungen auf und über diese konstruierte<br />
soziale Wirklichkeit.<br />
<strong>Die</strong>se konstruierte soziale Wirklichkeit ist nie völlig eindeutig und klar. Es<br />
können verschiedene Interpretationen dieser sozialen Wirklichkeit entstehen<br />
oder gar völlig andere Wirklichkeiten konstruiert werden. Hand in Hand mit<br />
dem kognitiven Prozess der Wirklichkeitskonstruktion geht daher immer ein<br />
politischer Prozess der Wirklichkeitskoordination, in dem die verschiedenen<br />
konkurrierenden Wirklichkeitskonstruktionen gegenseitig abgestimmt und<br />
koordiniert werden müssen, um eine gemeinsame Basis für das<br />
organisationale Handeln zu schaffen. Politische Prozesse sind Prozesse der<br />
Einflussnahme, in denen organisationale Akteure versuchen „to influence the<br />
description and actions of interdependent others who are committed to<br />
different descriptions and actions.“ (Hosking/Morley 1991, S. 127) Politische<br />
Prozesse sind aber auch Prozesse der Macht, weil die einzelnen Akteure sich<br />
in ihrer Fähigkeit unterscheiden, Unterstützung für ihre jeweilige Interpretation<br />
der sozialen Wirklichkeit zu mobilisieren.<br />
Organisieren ist <strong>als</strong>o ein Verhandlungsprozess der Wirklichkeitskonstruktion<br />
und -koordination. <strong>Die</strong>ser Verhandlungsprozess ist nicht völlig frei, sondern<br />
auch vorstrukturiert vom Ergebnis früher Verhandlungsprozesse, das heisst<br />
<strong>von</strong> aktuellen sozialen Praktiken: „As we have already remarked, negotiations<br />
are not conducted de novo, but are temporally located in relation to<br />
constructions of the past and the future. From past activities and interactions,<br />
emerge patternings of resources, value, and commitments. These are<br />
reflected, and to some extent are reproduced, through ongoing negotiations.<br />
Further, contemporary negotiations are performed in anticipation of future<br />
negotiations, so that, for example, relationships between the actors are<br />
preserved, thus enabling future negotiations.” (Hosking/Morley 1991, S. 146f)<br />
105
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
4.2.2.2 Relational-konstruktivistische Würdigung der<br />
Sozialpsychologie des Organisierens<br />
<strong>Die</strong> Sozialpsychologie des Organisierens liefert zwei wichtige theoretische<br />
Beiträge, die den Eckpunkt Prozesse des bisherigen theoretischen<br />
Grundgerüst (vgl. Abbildung 15) näher beleuchten. Erstens legt sie eine<br />
konsequent relationale Fundierung des Prozesses des Organisierens und<br />
befreit <strong>Organisation</strong> dadurch <strong>von</strong> jeglichen objektivistischen und entitativen<br />
Kurzschlüssen. Zweitens erhellt sie die Emergenz <strong>von</strong> sozialer Ordnung <strong>als</strong><br />
Ergebnis eines kollektiven Verhandlungsprozesses („negotiated social<br />
order“ 107 ) und beschreibt diesen Verhandlungsprozess <strong>als</strong> die Integration und<br />
Abfolge der zwei miteinander auf das Engste verwobenen kollektiven<br />
Prozesse des Verstehens (kognitiv) und der Einflussnahme (politisch), die sich<br />
in sozialen Praktiken des Organisierens materialisieren.<br />
<strong>Die</strong> häufig zitierte Selbstorganisation der <strong>Organisation</strong> erscheint plötzlich in<br />
einen völlig neuen Licht: <strong>Die</strong>se passiert eben nicht sozusagen zufällig, wie <strong>von</strong><br />
selbst, sondern ist gemacht in einem kollektiven Verhandlungsprozess, der<br />
nichts anderes ist <strong>als</strong> ein ebenso kunstvoller wie komplexer Prozess der<br />
kollektiven Wirklichkeitskonstruktion und -koordination.<br />
Das Prozessverständnis der Sozialpsychologie des Organisierens verträgt<br />
sich auch problemlos mit dem Strukturverständnis der Theorie der<br />
Strukturierung <strong>von</strong> Giddens - mehr noch: <strong>Die</strong> beiden Begriffe ergänzen und<br />
erhellen sich gegenseitig. In der Theorie der Strukturierung gewinnt die<br />
Wirkungsweise der Vermittlungsfunktion der Modalitäten an Konkretheit und<br />
Klarheit, wenn der Verhandlungsprozess des Organisierens unterlegt wird.<br />
Und umgekehrt gewinnt die Sozialpsychologie des Organisierens an<br />
theoretischer Substanz, wenn im Verhandlungsprozess des Organisierens die<br />
Strukturiertheit (Strukturdimensionen <strong>von</strong> Giddens) des Prozesses<br />
berücksichtigt wird (vgl. Abbildung 21).<br />
107 Der Begriff der „negotiated social order“ geht auf Strauss (1978) zurück.<br />
106
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Signifikation Reifikation Legitimation<br />
kognitive<br />
Prozesse<br />
Vermittlungsfunktion<br />
soziale<br />
Praktiken<br />
der Verhandlungsprozesse des Organisierens<br />
Kommunikation Artefakte<br />
107<br />
politische<br />
Prozesse<br />
Sanktionen<br />
Abbildung 21: Verhandlungsprozess des Organisierens <strong>als</strong> Vermittler<br />
zwischen Struktur und Handlung<br />
Es sind allerdings auch ein paar kritische Anmerkungen zur Sozialpsychologie<br />
des Organisierens zu machen:<br />
a) Status der sozialen Prozesse<br />
Hosking und Morley erwähnen neben den kognitiven und politischen<br />
Prozessen <strong>als</strong> Drittes auch soziale Prozesse. <strong>Die</strong>se Prozesse gewinnen aber<br />
nie ein selbständiges Profil. Manchmal ist damit die grundlegende<br />
Relationalität der Prozesse gemeint: „Rather, we view social processes as<br />
processes in which participants (in organizing) construct a sense of who they<br />
are (identity) in relation to a context, which consists importantly of other people<br />
and their constructions.“ (Hosking/Morley 1991, S. xi) Soziale Prozesse sind in<br />
diesem Fall einfach eine andere Bezeichnung für relationale Prozesse. An<br />
anderer Stelle rücken soziale Prozesse in die Nähe kognitiver Prozesse:<br />
„Through their social relations they construct descriptions (valuations) of social<br />
order including descriptions of the contributions that each actor will make, and<br />
the consequences of their participation.“ (Hosking/Morley 1991, S. 66) <strong>Eine</strong><br />
Lösung, die sich anbietet (und die in Punkt b oben auch verfolgt worden ist),<br />
liegt darin, sich die erwähnten sozialen Prozesse <strong>als</strong> soziale Praktiken des
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Organisierens zu denken, das heisst <strong>als</strong> Materialisierungen der kognitiven und<br />
politischen Prozesse, aus denen sie sich konstituieren.<br />
b) Verwendeter Machtbegriff<br />
Obwohl Hosking und Morley Macht <strong>als</strong> interdependentes Phänomen<br />
beschreiben, schimmert immer wieder durch, dass sie sich Macht eher <strong>als</strong><br />
Macht-über und nicht so sehr <strong>als</strong> Macht-zu denken. Vollends unvereinbar mit<br />
ihrem eigenen relational-konstruktivistischen Gedankengut werden die<br />
Überlegung <strong>von</strong> Hosking und Morley zum Thema Macht, wenn sie zur<br />
Konkretisierung <strong>von</strong> Macht auf die Machtbasen-Theorie <strong>von</strong> French/Raven<br />
zurückgreifen (vgl. Hosking/Morley 1991, S. 139ff). Auch wenn sie kritisch<br />
anmerken, dass die traditionellen Machttheorien ungenügend sind, verfehlen<br />
sie es doch, eine eigene, relational-konstruktivistisch kohärente Definition <strong>von</strong><br />
Macht auszuarbeiten. Den Kernaussagen der Sozialpsychologie des<br />
Organisierens tut dies zum Glück jedoch keinen Abbruch, und der<br />
ungenügende Machtbegriff <strong>von</strong> Hosking und Morley kann ohne weiteres<br />
gedanklich durch die relational-konstruktivistische Machtdefinition ersetzt<br />
werden, die in Kapitel 4.1.2.3 erarbeitet worden ist.<br />
4.2.3 <strong>Die</strong> Zwänge kollektiven Handelns<br />
<strong>von</strong> Crozier und Friedberg<br />
Crozier und Friedberg haben keine eigentliche Theorie geschaffen. Ihr Werk<br />
„<strong>Die</strong> Zwänge kollektiven Handelns. Über Macht und <strong>Organisation</strong>.“<br />
(1993/1979) ist eher <strong>als</strong> theoretisches Fazit einer langjährigen empirischen<br />
Studie zu verstehen - und gilt daher ebenso <strong>als</strong> ein theoretischer<br />
108, 109<br />
<strong>Erklärung</strong>sansatz wie ein methodologischer Forschungsansatz.<br />
108<br />
Crozier und Friedberg wollen ihren Beitrag auch so verstanden wissen: „Its perspective is above<br />
all heuristic. It tries to formulate a mode of reasoning for the empirical analysis of these<br />
[organizing] processes, rather than a substantive theory on the emergence, the diffusion and/or<br />
the elimination of distinct organizational forms.” (Crozier/Friedberg 1995, S. 75)<br />
109<br />
<strong>Die</strong> nachfolgende Darstellung des Spiel-Konzepts <strong>von</strong> Crozier und Friedberg beschränkt sich auf<br />
den theoretischen <strong>Erklärung</strong>sansatz. Auf die forschungsmethodischen Teile, insbesondere die<br />
Begriffe des strategischen Denkens und des systemischen Denkens wird nicht eingegangen. Es<br />
sei nur soviel erwähnt, dass die forschungsmethodische Unterteilung in eine Analyse des<br />
strategischen Denkens und eine Analyse des systemischen Denkens derjenigen entspricht, die<br />
auch Giddens (1997) macht. Giddens nennt sie die strategische Analyse und die institutionelle<br />
Analyse.<br />
108
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Ihre Forschungsarbeit stellte das organisierte kollektive Handeln bzw. die<br />
Integrationsmechanismen dieses kollektiven Handelns im Rahmen eines<br />
strukturierten Handlungsfelds - z.B. einer <strong>Organisation</strong> - in den Mittelpunkt. Für<br />
Crozier und Friedberg sind dabei die beiden Begriffe <strong>Organisation</strong> und<br />
kollektives Handeln komplementär: „Sie sind die beiden untrennbaren Seiten<br />
ein- und desselben Problems, nämlich der Strukturierung der Handlungsfelder,<br />
innerhalb derer menschliches Handeln sich entwickelt.“ (Crozier/Friedberg<br />
1993/1979, S. 10)<br />
In ihrem Ansatz geht es Crozier und Friedberg darum, die einseitigen<br />
<strong>Erklärung</strong>sansätze der strukturdeterminierten Theorien einerseits bzw. der<br />
handlungsvoluntaristischen Theorien andererseits mit einer integrierten<br />
Perspektive zu überwinden, die „sich mit der Erforschung der Entwicklungsbedingungen<br />
des organisierten Handelns <strong>von</strong> Menschen und den diesem<br />
Handeln eigenen Zwängen“ befasst (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 66). Sie<br />
wollen ihren theoretischen Beitrag denn auch nicht <strong>als</strong> <strong>Organisation</strong>ssoziologie,<br />
sondern <strong>als</strong> eine Soziologie organisierten Handelns verstanden<br />
wissen (vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 66).<br />
Nach Crozier und Friedberg setzen kollektive Handlungsformen ein<br />
bestimmtes Mass an Strukturierung der sozialen Handlungsfelder voraus und<br />
richten eine solche aber zugleich auch ein. <strong>Eine</strong> zentrale Rolle spielt dabei der<br />
politische Charakter jedes organisierten Handelns bzw. jeder <strong>Organisation</strong>.<br />
Für Crozier und Friedberg stellt sich „jede Struktur kollektiven Handelns <strong>als</strong><br />
Machtsystem dar. Sie ist ein Machtphänomen, das <strong>als</strong> solches zugleich<br />
Auswirkung und Ausübung <strong>von</strong> Macht beinhaltet. Als menschliches Konstrukt<br />
ordnet, regularisiert, ‚zähmt’ und schafft sie Macht, um den Menschen ihre<br />
Zusammenarbeit in kollektiven Vorhaben zu ermöglichen. Jede ernst zu<br />
nehmende Analyse kollektiven Handelns muss <strong>als</strong>o Macht in das Zentrum<br />
ihrer Überlegungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts<br />
anderes <strong>als</strong> tagtägliche Politik.“ 110 (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 14)<br />
<strong>Die</strong>se tagtägliche Politik entfaltet sich nach Crozier und Friedberg in der Form<br />
eines organisationalen Spiels. Das Spiel ist „ein konkreter Mechanismus, mit<br />
dessen Hilfe die Menschen ihre Machtbeziehungen strukturieren und<br />
110 Aufgrund der zentralen Bedeutung <strong>von</strong> Macht und Politik im theoretischen Modell <strong>von</strong> Crozier<br />
und Friedberg wird ihr Beitrag häufig auch <strong>als</strong> „Politologie organisierter Systeme“ bezeichnet (vgl.<br />
Empter 1988).<br />
109
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
regulieren und sich doch dabei Freiheit lassen. ... Es ist das wesentliche<br />
Instrument organisierten Handelns. Es vereint Freiheit und Zwang.“<br />
(Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 68) Wie eine <strong>Organisation</strong> funktioniert bzw.<br />
wie organisationale Ordnung entsteht und besteht, ist demzufolge stets das<br />
Resultat verschiedener, ineinander verschränkter, kontingenter organisationaler<br />
Spiele.<br />
Ihr Konzept der organisationalen Spiele <strong>als</strong> zentraler Koordinations- und<br />
Integrationsmechanismus kollektiven Handelns haben Crozier und Friedberg<br />
erstm<strong>als</strong> 1977 (deutsch: 1979) veröffentlicht. 1993 ist das vergriffene deutsche<br />
Buch (allerdings mit verändertem Titel) neu herausgegeben worden. 111 Ihr<br />
Werk ist sowohl <strong>von</strong> der amerikanischen wie der europäischen akademischen<br />
Welt lange ignoriert bzw. abgelehnt worden (vgl. Crozier/Friedberg 1995).<br />
Heute nimmt vor allem Ortmann (Ortmann/Windeler/et al. 1990; Ortmann<br />
1995a; Küpper/Ortmann 1992) in seiner organisationstheoretischen Arbeit<br />
Bezug auf Crozier und Friedberg. Beliebt ist auch die Verknüpfung des<br />
Gedankenguts <strong>von</strong> Crozier und Friedberg mit der Theorie der Strukturierung<br />
<strong>von</strong> Giddens (vgl. Empter 1988; Ortmann 1992a, 1995a; Neuberger 1995;<br />
Elsik 1999; Küpper/Felsch 2000; Schirmer 2000; Holtbrügge 2001). Und zum<br />
Abschluss sei noch die ausgezeichnete Rezeption des Spiel-Konzepts <strong>von</strong><br />
Brentel (1999) erwähnt. 112<br />
Im Folgenden wird das Spiel-Konzept <strong>von</strong> Crozier und Friedberg anhand<br />
einiger Kernbegriffe näher erläutert (vgl. Kapitel 4.2.3.1) und anschliessend im<br />
Hinblick auf dessen Beitrag zu einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
zusammenfassend gewürdigt (vgl. Kapitel 4.2.3.2).<br />
111<br />
Weitere Veröffentlichungen <strong>von</strong> Crozier und Friedberg zum Spiel-Konzept: Crozier/Friedberg<br />
1995; Friedberg 1992; Friedberg 1995.<br />
112<br />
<strong>Die</strong> Rezeption <strong>von</strong> Brentel hebt sich vor allem dadurch ab, dass Brentel auf das <strong>von</strong> Crozier und<br />
Friedberg eingeführte Konzept der Bezugsfähigkeit eingeht, das in der übrigen Sekundärliteratur<br />
völlig unerwähnt bleibt. Wie in Kapitel 4.2.3.2 zu zeigen sein wird, liegt jedoch gerade in diesem<br />
Konzept der (aus relational-konstruktivistischer Sicht) besondere Reiz des Spiel-Konzepts <strong>von</strong><br />
Crozier und Friedberg.<br />
110
4.2.3.1 Kernaussagen des Spiel-Konzepts<br />
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
a) Freiheit des Handelns<br />
Crozier und Friedberg statten in ihrem Konzept die sozialen Akteure mit einer<br />
prinzipiellen (Handlungs- bzw. Entscheidungs-)Freiheit aus - und sei sie auch<br />
noch so klein. Handeln „ist immer Ausdruck und Verwirklichung einer wenn<br />
auch noch so geringen Freiheit. Das Verhalten ist Ergebnis einer Wahl,<br />
mithilfe derer der Akteur die Gelegenheiten ‚am Schopfe ergreift’, die sich ihm<br />
im Rahmen der ihn einschränkenden Zwänge bieten. Es ist daher niem<strong>als</strong><br />
völlig voraussehbar, denn es ist nicht determiniert, sondern im Gegenteil<br />
immer kontingent.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 27)<br />
Mit dieser Definition <strong>von</strong> Handeln gelingt es Crozier und Friedberg, das<br />
Handeln sozialer Akteure doppelt zu verankern: einerseits in der Freiheit der<br />
Akteure und andererseits im Zwang des Systems. Damit kann das Handeln<br />
der Akteure immer nur in Bezug auf den Handlungskontext verstanden werden<br />
(vgl. Punkt b), ohne dass dieser Handlungskontext aber je die Handlungen der<br />
Akteure direkt bestimmen könnte.<br />
Das Handeln der Akteure reflektiert <strong>als</strong>o immer eine durch sie gemachte Wahl.<br />
<strong>Die</strong>se Wahl ist Ausdruck ihrer Handlungsstrategie. Doch diese Strategie darf<br />
nicht gedacht werden <strong>als</strong> eine bewusste Intentionalität der Handelnden. Für<br />
Crozier und Friedberg ist Strategie „nichts anderes <strong>als</strong> die ex post gefolgerte<br />
Grundlage der empirisch beobachteten Verhaltensregelmässigkeiten. Daraus<br />
folgt, dass eine solche ‚Strategie’ keineswegs mit dem Willen identisch ist, und<br />
dass sie auch nicht notwendig bewusst zu sein braucht.“ (Crozier/Friedberg<br />
1993/1979, S. 34)<br />
Trotz dieser Einschränkung ist Handeln für Crozier und Friedberg immer<br />
rational, denn Akteure handeln stets in und mit Bezug auf den erlebten<br />
organisationalen Kontext. <strong>Die</strong> Rationalität der Akteure ist <strong>als</strong>o <strong>als</strong> eine<br />
strategisch-systemische zu verstehen. 113 Sie bemisst sich an dem, was - in<br />
einem zweifachen Sinn - machbar ist: machbar im Sinne einer<br />
durchsetzungsfähigen Strategie des Akteurs (strategische Rationalität),<br />
machbar aber auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den Zwängen des<br />
vorstrukturierten Handlungsfelds (systemische Rationalität).<br />
111
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Allfällige irrationale oder dysfunktionale Ergebnisse des Handelns sind daher<br />
nicht den Handelnden bzw. ihren Handlungen zuzurechnen, sondern dem<br />
Handlungskontext, auf den sich die Handelnden in ihren Handlungen<br />
beziehen 114 - und es stellt sich dann die Frage, wie das Handlungsfeld<br />
strukturiert ist, um diese irrationale Handlung möglich zu machen (vgl.<br />
Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 111).<br />
<strong>Die</strong> grundlegende, niem<strong>als</strong> völlig einschränkbare Freiheit der Akteure,<br />
entstammt der Macht, die eine „unausweichliche, nicht aus der Welt zu<br />
schaffende Dimension des sozialen Handelns überhaupt“ ist.<br />
(Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 15) Macht ist für Crozier und Friedberg die<br />
Grundlage und zwingende Voraussetzung eines jeden Handelns. Friedberg<br />
sagt sogar, dass die Möglichkeit <strong>von</strong> Existenz Macht voraussetzt (vgl. 1992).<br />
Macht definieren Crozier und Friedberg <strong>als</strong> die Möglichkeit, auf andere<br />
einzuwirken. Damit sind zwei Dinge gesagt: Erstens ist Macht ein<br />
Beziehungsphänomen, und zweitens ist Macht „unlösbar an Verhandlungen<br />
gebunden“. (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 40) Was in diesen<br />
Verhandlungsbeziehungen ausgehandelt wird, sind jedoch nicht „Kräfte“<br />
(Macht-über), sondern „Handlungsmöglichkeiten“ (Macht-zu) (vgl.<br />
Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 41) <strong>Die</strong> Macht eines Akteurs hängt da<strong>von</strong> ab,<br />
in welchem Umfang er in der Lage dazu ist, die Handlungsmöglichkeiten<br />
anderer zu kontrollieren bzw. einzuschränken, währenddem er gleichzeitig<br />
sein eigenes Handlungsvermögen möglichst offen hält. <strong>Die</strong>se Kontrolle bzw.<br />
Einschränkung erfolgt wegen der Handlungsfreiheit der Akteure jedoch nie<br />
direkt, <strong>als</strong> Macht-über, sondern immer nur indirekt über die Kontrolle <strong>von</strong> für<br />
das Handeln relevanten Ungewissheitszonen (vgl. Crozier/Friedberg<br />
1993/1979, S. 43; Friedberg 1992, S. 42).<br />
Je besser es einem Akteur gelingt, die relevanten Ungewissheitszonen des<br />
kollektiven Handelns zu kontrollieren, desto mächtiger ist der Akteur. Kontrolle<br />
<strong>von</strong> Ungewissheitszonen heisst aber nicht deren Elimination, sondern im<br />
Gegenteil, deren gezielte Aufrechterhaltung in der Beziehung zu den anderen.<br />
113<br />
Mit March (1988b, S. 259) könnte man sagen, dass Rationalität in diesem Sinn verstanden<br />
werden kann <strong>als</strong> „sensible foolishness“.<br />
114<br />
Hier unterscheidet sich der Handlungsbegriff <strong>von</strong> Crozier und Friedberg <strong>von</strong> demjenigen <strong>von</strong><br />
Giddens. Während Crozier und Friedberg Irrationalität dem System bzw. der spezifischen Form<br />
seiner Strukturierung zurechnen, greift Giddens zur <strong>Erklärung</strong> auf unerkannte Handlungsbedingungen<br />
und unbeabsichtigte Handlungsfolgen zurück (vgl. Fussnote 97).<br />
112
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Je grösser nämlich die Ungewissheitszone, desto unberechenbarer ist das<br />
Handeln des Akteurs für die anderen und desto grösser bzw. vielfältiger ist in<br />
der Folge seine Macht bzw. sein Handlungsvermögen. <strong>Die</strong>s führt zu der<br />
paradoxen Situation, dass man Macht definieren kann „<strong>als</strong> die gleichzeitige<br />
Fähigkeit, (a) für die anderen relevante Probleme an ihrer Stelle zu lösen, das<br />
heisst für sie relevante Ungewissheiten an ihrer Stelle zu kontrollieren, und (b)<br />
die Bereitschaft zu eben dieser Problemlösung zu verweigern.“ (Friedberg<br />
1992, S. 42f)<br />
Obwohl Macht eine grundlegende Dimension des Handelns ist, kann sie<br />
dennoch nie voraussetzungslos mobilisiert werden, denn Akteure handeln<br />
immer in einem bereits vorstrukturierten Handlungsfeld. Macht ist <strong>als</strong>o nicht<br />
nur an Handeln, sondern immer auch an eine Struktur gebunden (vgl.<br />
Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 17). 115 Um diese Strukturen geht es im<br />
folgenden Punkt b.<br />
b) Zwang der Strukturen<br />
Nach Crozier und Friedberg gibt es kein nicht-strukturiertes Handlungsfeld<br />
(vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 18). Jedes Handeln sozialer Akteure<br />
findet stets in einem vorstrukturierten Kontext statt. Der Akteur „steht einem<br />
<strong>Handlungssystem</strong> gegenüber, das zwar ein menschliches Konstrukt und keine<br />
Notwendigkeit ist, sich aber vor und ausser ihm gebildet hat.“<br />
(Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 254) Daraus darf aber nicht der Schluss<br />
gezogen werden, dass die Strukturiertheit des Handlungsfelds, z.B. einer<br />
<strong>Organisation</strong>, einen universellen, objektiven Charakter hat. Vielmehr handelt<br />
es sich bei diesen Strukturen „um immer spezifische Lösungen, die die<br />
Menschen mit ihren jeweiligen Ressourcen und Fähigkeiten erfunden haben,<br />
um ihre Interaktion zwecks Lösung ihrer gemeinsamen Probleme zu regeln.<br />
Und <strong>als</strong> solche sind sie auch immer widerrufbar.“ (Crozier/Friedberg<br />
1993/1979, S. 18)<br />
<strong>Die</strong> Struktur eines Handlungsfelds ist <strong>als</strong>o stets kontingent und lokal. Sie ist<br />
aber auch äusserst real, indem sie die Bedingungen schafft, unter denen die<br />
Akteure miteinander interagieren können, sich die (Macht-)Beziehungen der<br />
115 Mit Lueger (1992a) könnte man sagen, dass Macht an Herrschaft gebunden ist.<br />
113
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Akteure untereinander entwickeln können. <strong>Die</strong> Struktur bildet „die Zwänge, die<br />
allen Teilnehmern auferlegt sind.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 47) 116<br />
Unter der Struktur eines Handlungsfelds verstehen Crozier und Friedberg zwar<br />
auch die formale Struktur, doch ihr wird kein unabhängiger Stellenwert<br />
beigemessen. Sie ist in den Augen <strong>von</strong> Crozier und Friedberg „nichts anderes<br />
<strong>als</strong> eine ebenso provisorische, ebenso kontingente und vor allem immer<br />
partielle Kodifizierung (Formalisierung) der Spielregeln, die sich in dem der<br />
<strong>Organisation</strong> zugrunde liegenden <strong>Handlungssystem</strong> durchgesetzt haben.“ 117<br />
(Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 65)<br />
In erster Linie geht es Crozier und Friedberg um die soziale Struktur des<br />
Handlungsfelds, das heisst um die Interaktionsstruktur. Und da Macht die<br />
Grundlage jeden Handelns ist, heisst das, dass es in der Konsequenz um die<br />
Struktur der Machtbeziehungen geht. <strong>Die</strong> Machtstruktur ist „das wirkliche<br />
Organigramm der <strong>Organisation</strong>“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 55) und der<br />
fundamentale Mechanismus der Stabilisierung menschlichen Handelns.<br />
Handeln und Struktur lassen sich <strong>als</strong>o auf ein und denselben Nenner<br />
zurückführen: Macht. Darin liegen auch die zwei widersprüchlichen Aspekte<br />
<strong>von</strong> Macht im Konzept <strong>von</strong> Crozier und Friedberg begründet. Als Strukturmacht<br />
bzw. Machtstruktur bildet sie die Zwänge des Systems, denen alle<br />
Akteure unterworfen sind, auch diejenigen aus deren Handlungen das<br />
Handlungsfeld ursprünglich entstanden ist. Als Handlungsmacht bzw. <strong>als</strong><br />
machtvolles Handeln bildet sie aber gleichzeitig auch die Grundlage der<br />
Freiheit menschlichen Handelns. Mit anderen Worten: Macht ist Zwang und<br />
Ermöglichung gleichzeitig und somit verantwortlich für den „sozial<br />
konstruierten und sozial aufrechterhaltenden Charakter jeder Struktur<br />
kollektiven Handelns, dessen Regeln zwar die Entscheidungen der Individuen<br />
steuern, dessen Erhaltung aber wiederum durch diese Entscheidungen<br />
bedingt wird.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 73)<br />
116<br />
Nach dem so genannten Thomas-Theorem ist ‚real’ keine natürliche (das heisst physische)<br />
Eigenschaft, sondern eine soziale: „If men define situations as real, they are real in their<br />
consequences“.<br />
117<br />
In einem ähnlichen Sinn bezeichnet ja auch Giddens formale organisationale Regeln auch nicht<br />
<strong>als</strong> Regeln im eigentlichen Sinn, sondern nur <strong>als</strong> „kodifizierte Interpretationen <strong>von</strong> Regeln“ (vgl.<br />
Fussnote 93).<br />
114
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Der Mechanismus, mit dem ein Handlungsfeld strukturiert und reguliert und<br />
das kollektive Handeln koordiniert und integriert wird, ohne dass die Akteure<br />
darob jedoch ihre Handlungsfreiheit verlieren, nennen Crozier und Friedberg<br />
das Spiel.<br />
c) <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> Spiel<br />
Spiele 118, 119 dienen der Koordination und Integration kollektiver Handlungen<br />
im Rahmen vorstrukturierter Handlungsfelder, so genannter <strong>Handlungssystem</strong>e.<br />
120 Sie sind „Mechanismen sozialer Organisierung“ (Empter 1988, S.<br />
187) und <strong>als</strong> solche verantwortlich bzw. konstituierend für das Entstehen und<br />
Bestehen <strong>von</strong> Ordnung. So gesehen hat eine <strong>Organisation</strong> keine Spiele,<br />
sondern sie ist ein Spiel - das sich selbst wiederum zusammensetzt aus<br />
ineinander verschränkten anderen Spielen. Wie eine <strong>Organisation</strong> funktioniert,<br />
ist letztlich das Ergebnis dieser verschachtelten Spiele.<br />
Im Spiel trifft die Freiheit der Akteure mit den Zwängen des Systems<br />
zusammen. Spiele definieren daher keine Verhaltensvorschriften im Sinne <strong>von</strong><br />
wenn ..., dann ..., sondern lediglich Spielräume (vgl. Crozier/Friedberg<br />
1993/1979, S. 66ff). <strong>Die</strong>se Spielräume sind abgesteckt durch die<br />
Beschaffenheit des Spiels (vgl. Abbildung 22), das heisst seiner Struktur. <strong>Die</strong><br />
Struktur des Spiels bestimmt sich neben den formellen organisationalen<br />
Regeln (Kodifizierungen) insbesondere aus der Gesamtheit aller impliziten<br />
Regeln, die der spezifischen Machtstruktur eines Handlungsfelds entstammen,<br />
118<br />
Der hier verwendete Spielbegriff hat nichts mit der (mathematischen) Spieltheorie zu tun, bei der<br />
es um die Lösung strategischer Optimierungsprobleme in Entscheidungssituationen geht.<br />
119<br />
Es wird auch kritisiert, dass dem Wort Spiel etwas abschätziges anhaftet, und daher dem<br />
theoretischen Gehalt des Begriffs eigentlich nicht genügt. Zumindest an einer Stelle ihres Werks<br />
verwenden Crozier und Friedberg (1993/1979, S. 248) denn auch nicht den Begriff <strong>von</strong> Spiel,<br />
sondern reden <strong>von</strong> „sozialer Praxis“. Das baut eine Brücke dazu, sich Spiele <strong>als</strong> soziale Praktiken<br />
zu denken. Damit würde der Beitrag <strong>von</strong> Crozier und Friedberg noch näher an die Theorie der<br />
Strukturierung bzw. die Sozialpsychologie des Organisierens zu rücken, in denen der Begriff der<br />
sozialen Praktiken ein zentrales Element ist (vgl. Kapitel 4.2.1.1, Punkt c und Kapitel 4.2.2.1,<br />
Punkt b).<br />
120<br />
Handlungsfelder, in denen sich das Vorhandensein und die Regulierungsweise <strong>von</strong> Spielen<br />
empirisch nachweisen lassen - <strong>als</strong>o z.B. <strong>Organisation</strong>en - nennen Crozier und Friedberg<br />
„konkrete <strong>Handlungssystem</strong>e“. <strong>Handlungssystem</strong>e können demnach definiert werden <strong>als</strong> „ein<br />
strukturiertes menschliches Gebilde, das die Handlungen seiner Angehörigen durch relativ stabile<br />
Spielmechanismen koordiniert, und seine Struktur, das heisst die Stabilität seiner Spiele und der<br />
Beziehungen zwischen diesen, durch die Regulierungsmechanismen aufrechterhält, die<br />
wiederum andere Spiele darstellen.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 172)<br />
115
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
und die Crozier und Friedberg ganz allgemein <strong>als</strong> Kultur bezeichnen (vgl.<br />
Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 111ff). 121<br />
Zwang<br />
Struktur<br />
des Systems<br />
Spielräume<br />
Handlung<br />
der Akteure<br />
116<br />
Freiheit<br />
Spiel<br />
Abbildung 22: Das Spiel <strong>als</strong> Mechanismus sozialer Organisierung<br />
<strong>Die</strong> durch die Struktur des Spiels abgegrenzten Spielräume lassen eine<br />
begrenzte Anzahl <strong>von</strong> spielbaren Handlungsstrategien zu. Unter diesen<br />
können und müssen die Akteure ihre eigene Strategie auswählen. Der Zwang<br />
des Spiels ist <strong>als</strong>o kein Zwang zu einem bestimmten Verhalten, sondern es ist<br />
der Zwang zur Wahl. Das Spiel zwingt zu wählen aus einem Set vorgegebener<br />
Möglichkeiten.<br />
Den Akteuren verbleibt stets ein Freiheitsgrad in der Form einer aktiven Wahl<br />
zwischen mehreren möglichen Strategien. Der Zwang, dem sie unterliegen, ist<br />
indirekt. Er beruht auf der Tatsache, dass - wenn sie weiterhin mitspielen<br />
wollen - sie sich den Regeln des <strong>von</strong> ihnen gespielten Spiels beugen müssen,<br />
das heisst nicht irgendeine Strategie wählen können, sondern eine, die<br />
121 Crozier und Friedberg betonen jedoch, dass sie mit dem Begriff Kultur nicht „jenes Universum<br />
fleischlos gewordener und unberührbarer Werte und Normen [meinen], die letzten Endes die<br />
beobachteten Verhaltensweisen leiten, ordnen und <strong>als</strong>o erklären. Bestehend aus einer Reihe <strong>von</strong><br />
Elementen des psychischen und geistigen Lebens, mit seinen affektiven, kognitiven,<br />
intellektuellen, relationellen Komponenten, ist sie Instrument, Fähigkeit, die die Individuen<br />
erwerben, benutzen und umformen, indem sie ihre Beziehungen und ihre Tauschverhältnisse mit<br />
den anderen ausbauen und leben. Werte, Normen und Einstellungen gehören zu dieser<br />
Gesamtheit, aber ihr Status ändert sich. Sie sind hier nur Elemente, die die Fähigkeiten <strong>von</strong><br />
Individuen und Gruppen strukturieren und <strong>von</strong> daher die individuellen und kollektiven Strategien<br />
zwar bedingen, aber nie bestimmen.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 118)
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
innerhalb des Spielraums liegt (vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 69). Denn<br />
die Möglichkeit zu kollektivem Handeln (mitspielen) ist <strong>von</strong> der Existenz und<br />
vom Fortbestand eines Handlungsfelds abhängig, und daher muss die<br />
Handlungsstrategie der Akteure stets auch einen Beitrag zum Erhalt des<br />
Handlungsfelds beinhalten - das heisst innerhalb des Spielraums liegen. Mit<br />
anderen Worten: <strong>Die</strong> Handlungen der Akteure müssen anschlussfähig an bzw.<br />
integrierbar in das Handlungsfeld sein, und so - ob sie es wollen oder nicht -<br />
zur Erhaltung der Strukturen des Systems und den Regeln des Spiels beitragen.<br />
122<br />
Aufgrund des verbleibenden Freiheitsgrads der Akteure ist das Ergebnis des<br />
Spiels, das heisst die erreichte Koordination des kollektiven Handelns bzw. die<br />
organisationale Ordnung, stets kontingent. 123 <strong>Die</strong> Spiele sind zwar immer<br />
Machtspiele, 124 aber ihre konkreten Ergebnisse sind nicht normativ ableitbar,<br />
sondern nur empirisch beobachtbar.<br />
d) Gestaltung des Spiels <strong>als</strong> kulturelle Fähigkeit<br />
<strong>Die</strong> Fähigkeit, aus dem Spielraum der Möglichkeiten eine ganz bestimmte<br />
erfolgsversprechende Handlungsstrategie zu erkennen und zu verfolgen,<br />
verstehen Crozier und Friedberg <strong>als</strong> eine „kulturelle Fähigkeit“, <strong>als</strong> so<br />
genannte „Bezugsfähigkeit“ (vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 111ff).<br />
Bezugsfähigkeiten sind jene kollektiven Kompetenzen, die die Akteure im und<br />
für das Spiel entwickeln und erwerben, um kollektives Handeln zu<br />
ermöglichen. Kollektives Handeln ist eben nicht nur Ausdruck der<br />
122<br />
Der Zwang zum Mitspielen gilt in besonderem Masse auch dann, wenn die Akteure das<br />
bestehende Spiel eigentlich gar nicht mehr mitspielen, sondern ändern wollen (z.B. in einem<br />
Wandelprojekt). Das neue Spiel kann sich nämlich nur auf der Grundlage des alten entwickeln,<br />
denn dieses stellt die einzig verfügbare Möglichkeit zu kollektivem Handeln dar. Somit ist klar,<br />
dass Wandel stets das Ergebnis eines kollektiven Prozess ist, durch den auf der Grundlage des<br />
alten Spiels die notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen für den Aufbau neuer Spiele<br />
geschaffen werden. (vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 235ff)<br />
123<br />
Durch das Vorhandensein einer Ordnung - wenn auch einer kontingenten - grenzt sich das Spiel-<br />
Konzept explizit gegen zu relativistische Konzepte ab, wie z.B. das „garbage can model“ <strong>von</strong><br />
Cohen et al. (1972).<br />
124<br />
Ortmann (1992b, S. 23f) macht darauf aufmerksam, dass es allerdings nicht nur Spiele gibt, die<br />
Machtbeziehungen darstellen, sondern auch Spiele, die „gleichsam das Negativ <strong>von</strong><br />
Machtspielen“ (mimicry) sind. In solchen Spielen wird Macht gezielt überspielt bzw. umgangen.<br />
Im Endeffekt ist aber auch das Umgehen <strong>von</strong> Macht eine indirekte Anerkennung bzw.<br />
Bestätigung und (Re-)Produktion der Machtbeziehungen. Somit hat diese Unterscheidung im<br />
konkreten Fall keine Relevanz.<br />
117
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Beschaffenheit des Systems, sondern stets auch ein Ausdruck der<br />
Bezugsfähigkeiten der involvierten Akteure. Daher sind <strong>Organisation</strong>en<br />
„Spielkonstrukte, die [nur] im Zusammenhang mit den Bezugsfähigkeiten ihrer<br />
Mitglieder fortbestehen“. (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 111f)<br />
<strong>Die</strong>se Bezugsfähigkeit basiert auf zwei Kompetenzen (vgl. Crozier/Friedberg<br />
1993/1979, S. 119): Erstens der Fähigkeit der Akteure, die sich eröffnenden<br />
strategischen Handlungsmöglichkeiten eines abgesteckten Spielraums zu<br />
entdecken, und zweitens die Fähigkeit der Akteure, die Ungewissheit, Risiken<br />
und Schwierigkeiten auf sich zu nehmen und zu ertragen, die jede Wahl einer<br />
bestimmten Handlungsstrategie aus der Menge der Möglichkeiten mit sich<br />
bringt. 125<br />
Crozier und Friedberg betonen explizit den kollektiven Charakter dieser<br />
Bezugsfähigkeit und warnen davor, Bezugsfähigkeiten zu psychologisieren<br />
und auf einzelne Individuen zu reduzieren. „<strong>Die</strong>se Fähigkeiten, die im Handeln<br />
und für es erworben und entwickelt wurden, sind untrennbar <strong>von</strong> den<br />
Strukturen, innerhalb derer sich das soziale Handeln <strong>von</strong> Individuen abspielen<br />
muss. Beide Elemente bedingen sich gegenseitig und bilden ein System.“<br />
(Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 121) Mit anderen Worten: <strong>Die</strong> Struktur<br />
bestimmt die Bezugsfähigkeiten und die Bezugsfähigkeiten bestimmen die<br />
Struktur (vgl. Abbildung 23).<br />
+/-<br />
Struktur<br />
Bezugsfähigkeiten<br />
Handlungsstrategien<br />
118<br />
+/-<br />
Spiel<br />
Abbildung 23: Ermöglichende und einschränkende Funktion der Bezugsfähigkeiten<br />
125<br />
Man könnte <strong>als</strong>o sagen, dass die Bezugsfähigkeit aus einer kognitiven und einer affektiven<br />
Fähigkeit besteht.
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Das gesagte verdeutlicht auch die doppelte Funktion der Bezugsfähigkeiten<br />
einerseits <strong>als</strong> ermöglichende, andererseits <strong>als</strong> einschränkende Funktion in<br />
einer <strong>Organisation</strong>: Im Hinblick auf die Handlungsebene ermöglichen sie<br />
einerseits die Koordination und Integration der unterschiedlichen<br />
Handlungsstrategien und so das Entstehen <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> (+), andererseits<br />
legen sie dem kollektiven Handeln Restriktionen auf (-), indem sie indirekt<br />
festlegen, was machbar ist. Im Hinblick auf die Strukturebene gewährleisten<br />
sie den Bestand bestimmter Strukturen und so die Ordnung der <strong>Organisation</strong><br />
(+), andererseits verhindern sie dadurch indirekt die Weiterentwicklung der<br />
bestehenden Strukturen bzw. die Entwicklung neuer Strukturen (-) und<br />
gefährden dadurch unter Umständen den zukünftigen Bestand der<br />
<strong>Organisation</strong> (vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 124).<br />
4.2.3.2 Relational-konstruktivistische Würdigung des<br />
Spiel-Konzepts<br />
<strong>Eine</strong> einfache und konzise Beschreibung des Spiel-Konzepts <strong>von</strong> Crozier und<br />
Friedberg zu fertigen ist nicht einfach. Neuberger (1992, S. 64) hält zu Recht<br />
fest, dass Crozier und Friedberg ein „geistreiches, aber essayistischunstrukturiertes<br />
Buch“ geschrieben haben. So ist es das Einfachste, zur<br />
abschliessenden Zusammenfassung des Spiel-Konzepts nochm<strong>als</strong> die<br />
Autoren selbst zu Wort kommen zu lassen:<br />
„Das Spiel ist das Instrument, das die Menschen entwickelt haben, um ihre<br />
Zusammenarbeit zu regeln. Es ist das wesentliche Instrument organisierten<br />
Handelns. Es vereint Freiheit und Zwang. Der Spieler bleibt frei, muss aber,<br />
wenn er gewinnen will, eine rationale Strategie verfolgen, die der Beschaffenheit<br />
des Spiels entspricht, und muss dessen Regeln beachten. Das heisst,<br />
dass er zur Durchsetzung seiner Interessen die ihm auferlegten Zwänge<br />
zumindest zeitweilig akzeptieren muss.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 68)<br />
Mit dem Spielkonzept werfen Crozier und Friedberg ein interessantes Licht auf<br />
den Vermittlungsprozess zwischen Zwang und Freiheit bzw. zwischen Struktur<br />
und Handlung. Ohne den Zwang der Strukturen ausser Acht zu lassen, gelingt<br />
es ihnen mit dem Verweis auf die Bezugsfähigkeiten der Akteure, die<br />
Mechanismen der Vermittlung zwischen Struktur und Handlung <strong>als</strong> kollektive<br />
kulturelle Fähigkeit und Errungenschaft zu beschreiben (vgl. Abbildung 24).<br />
Ordnung ist somit kein Zustand, sondern eine Fähigkeit.<br />
119
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Signifikation Reifikation<br />
Vermittlungsfunktion<br />
Bezugsfähigkeiten<br />
der Bezugsfähigkeiten<br />
Kommunikation Artefakte<br />
120<br />
Legitimation<br />
Sanktionen<br />
Abbildung 24: Bezugsfähigkeiten <strong>als</strong> weiteres Element der Vermittlung<br />
zwischen Struktur und Handlung<br />
Das Spiel-Konzept <strong>von</strong> Crozier und Friedberg weist neben diesem zentralen,<br />
konstruktiven Beitrag aber auch ein paar Schwachstellen auf. Glücklicherweise<br />
betreffen diese Mängel alles Punkte, die mit Rückgriff auf die Theorie<br />
der Strukturierung <strong>von</strong> Giddens (vgl. Kapitel 4.2.1) bzw. die Sozialpsychologie<br />
des Organisierens <strong>von</strong> Hosking und Morley (vgl. Kapitel 4.2.2) kompensiert<br />
werden können.<br />
Nachstehend werden nun die zwei wichtigsten relational-konstruktivistischen<br />
Kritikpunkte an dem Spiel-Konzept <strong>von</strong> Crozier und Friedberg sowie ihre<br />
Behebung durch Bezüge auf die Theorie der Strukturierung bzw. die<br />
Sozialpsychologie des Organisierens besprochen.<br />
a) Quellen bzw. Struktur der Macht<br />
Crozier und Friedberg führen die Fähigkeit, Macht in sozialen Beziehungen<br />
erfolgreich mobilisieren zu können, auf die Kontrolle <strong>von</strong> vier Ungewissheitsquellen<br />
zurück (vgl. 1993/1979, S. 49ff): Verfügung über Expertenwissen,<br />
Pflege <strong>von</strong> Beziehungen zu anderen Handlungsfeldern, Kontrolle der<br />
Kommunikations- und Informationsflüsse innerhalb des Handlungsfelds,<br />
Gestaltung <strong>von</strong> organisatorischen Regeln.<br />
der Modalitäten
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Aus Sicht eines relational-konstruktivistischen Machtbegriffs, der Macht <strong>als</strong><br />
Macht-zu versteht, das heisst <strong>als</strong> die Fähigkeit, den sozialen Konstruktions-<br />
und Reifikationsprozess der organisationalen Realität zu beeinflussen, haben<br />
Crozier und Friedberg mit der Aufzählung dieser vier Quellen eindeutig zu kurz<br />
gegriffen. 126 Macht entwickelt sich nämlich nicht nur in Ungewissheitszonen,<br />
wie das Crozier und Friedberg meinen, sondern auch in Zonen der<br />
Gewissheit, so genannten Nicht-Entscheidungssituationen (vgl. Ausführungen<br />
zum Thema Macht in Kapitel 4.1.2.2, insbesondere Seite 78).<br />
Ein Vergleich mit der Theorie der Strukturierung zeigt, dass Giddens dort <strong>von</strong><br />
dem gleichen Machtbegriff ausgeht, den auch Crozier und Friedberg<br />
verwenden, jedoch zu einer viel umfassenderen Definition <strong>von</strong> Machtquellen<br />
(im Sinn <strong>von</strong> Herrschaft) gelangt, indem er die Quellen <strong>von</strong> Macht in drei<br />
Strukturdimensionen (Signifikation, Reifikation, Legitimation) 127 verortet. Im<br />
Hinblick auf diese drei Dimensionen wird deutlich, dass es noch viele andere<br />
Machtquellen geben muss, <strong>als</strong> nur gerade die vier faktischen Machtquellen,<br />
die Crozier und Friedberg aufgezählt haben. Insbesondere fehlen jegliche<br />
Machtquellen, die der Strukturdimension Signifikation oder Legitimation<br />
entspringen, das heisst definitorische Machtquellen (vgl. Kapitel 4.1.2.3).<br />
Mit dem Rückgriff auf die Strukturdimensionen <strong>von</strong> Giddens erledigt sich<br />
gleich noch eine andere Kritik an Crozier und Friedberg, nämlich diejenige,<br />
dass das Spiel-Konzept keinen präzisen Strukturbegriff habe (vgl. Ortmann<br />
1992a). <strong>Die</strong> Generalklausel, Struktur mit Machtstruktur gleichzusetzen,<br />
vermag in der Tat nicht restlos zu befriedigen. <strong>Die</strong> drei Strukturdimensionen<br />
<strong>von</strong> Giddens vermitteln eine bei weitem differenziertere Vorstellung der<br />
Struktur des Sozialen.<br />
Es stellt sich allerdings die Frage, ob es prinzipiell vertretbar ist, dem Spielkonzept<br />
<strong>von</strong> Crozier und Friedberg so einfach die Strukturdimensionen <strong>von</strong><br />
Giddens überzustülpen. Doch wenn man vergleicht, ist ja letztlich die Lösung,<br />
die Giddens respektive Crozier und Friedberg für das Problem der Vermittlung<br />
zwischen Struktur und Handlung finden, eine sehr ähnliche - obwohl sie<br />
126<br />
<strong>Eine</strong> ähnliche Kritik formulierten ebenfalls Ortmann (1995a, S. 54f), Brentel (1999, S. 276f) und<br />
Schirmer (2000, S. 197).<br />
127<br />
<strong>Die</strong> Benennung der drei Dimensionen beziehen sich nicht auf das Original <strong>von</strong> Giddens, sondern<br />
auf das in dieser Dissertation überarbeitete Konzept (vgl. Kapitel 4.2.1.2, Punkt a).<br />
121
KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
unterschiedliche Strukturbegriffe zugrunde legen: 128 Giddens verknüpft die<br />
beiden Begriffe in seinem Konzept der Dualität, während Crozier und<br />
Friedberg dasselbe tun mit ihrem Konzept des Spiels. Vor diesem Hintergrund<br />
scheint die vorgeschlagene Lösung vertretbar zu sein.<br />
b) Relationalität des Spiel-Konzepts<br />
Crozier und Friedberg führen die beiden Begriffe (Handlungs-)Strategie und<br />
Macht des Individuums <strong>als</strong> <strong>von</strong> Beziehungen dependente Konzepte ein, die<br />
nur in der konkreten menschlichen Interaktion Gestalt gewinnen. Beide<br />
Begriffe verlieren jedoch durch die Art und Weise, wie Crozier und Friedberg<br />
im Laufe der Beschreibung ihres Spiel-Konzepts darauf Bezug nehmen,<br />
deutlich an Relationalität (vgl. insbesondere bei Friedberg 1992).<br />
Macht wird an die Kontrolle faktischer Machtquellen gebunden und nimmt<br />
dadurch implizit die Form <strong>von</strong> Macht-über an. Strategie wird auf die Verfolgung<br />
<strong>von</strong> Eigennutzen reduziert, was eine vorgelagerte Intentionalität impliziert (und<br />
nicht erst eine ex post, wie das Crozier und Friedberg ursprünglich<br />
festgehalten haben).<br />
Es ist zu vermuten, dass Crozier und Friedberg diese Inkonsistenzen<br />
unterlaufen sind, weil sie nicht durchwegs <strong>von</strong> einer relationalen Fundierung<br />
des Individuums ausgehen, wie das aus relational-konstruktivistischer Sicht<br />
eigentlich notwendig wäre (vgl. Kapitel 4.2.2.1, Punkt a). Der Aspekt der<br />
Relationalität „<strong>als</strong> Quelle und Grundlage der Identität eines Individuums und<br />
<strong>als</strong>o seiner Fähigkeit und Möglichkeit zu existieren“ wird <strong>von</strong> Crozier und<br />
Friedberg zwar an einer Stelle erwähnt (1993/1979, S. 119), aber ist in ihrem<br />
gesamten Spiel-Konzept nicht wirklich konsequent umgesetzt, was wie gesagt<br />
am spürbarsten wird bei den beiden Begriffen Strategie und<br />
(Handlungs-)Macht.<br />
Wenn man sich die fundamentale gegenseitige Abhängigkeit der relationalen<br />
Akteure vor Augen hält, so wie sie Hosking und Morley dargelegt haben (vgl.<br />
Kapitel 4.2.2.1, Punkt a), dann muss man sofort zu einem weiteren relationalkonstruktivistischen<br />
Kritikpunkt am Spiel-Konzept <strong>von</strong> Crozier und Friedberg<br />
kommen: Er betrifft die Kontrolle der Ungewissheitszonen, über die der Akteur<br />
128<br />
Auf die Ähnlichkeit <strong>von</strong> Dualität und Spiel weisen auch Neuberger (1995, S. 215) und Empter<br />
(1988, S. 63f) hin.<br />
122
BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
seine Macht entfaltet bzw. Strategie verfolgt. Aus relational-konstruktivistischer<br />
Sicht macht es keinen Sinn, Ungewissheitszonen offen zu halten, weil die<br />
Voraussetzung des kollektiven Handelns ein gemeinsames Vorverständnis ist,<br />
das nur durch die Beseitigung der relevanten Ungewissheitszonen entstehen<br />
kann. Alle Akteure sind zur Erhaltung ihrer Handlungsfähigkeit auf die<br />
Reduktion <strong>von</strong> Mehrdeutigkeit und Ungewissheit angewiesen. 129 Aus<br />
relational-konstruktivistischer Sicht muss daher gerade der Umkehrschluss<br />
gezogen werden: Macht hat derjenige Akteur, der erfolgreich<br />
Ungewissheitszonen reduzieren kann und einer bestimmten sozialen Situation<br />
bzw. einem Problem ontologische Sicherheit verleihen kann.<br />
In den voranstehenden Kapiteln 4.2.1 bis 4.2.3 sind die drei Bausteine<br />
vorgestellt und diskutiert worden, die die theoretische Grundlage zu einer<br />
<strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> liefern. Was nun noch fehlt, ist der letzte<br />
Schritt, nämlich diese drei Bausteine zu einem Gesamtmodell zu verdichten.<br />
Das ist Aufgabe des folgenden Kapitels 5.<br />
129 Damit soll nicht gesagt sein, dass Akteure nicht auch in mikropolitischen Ränkespielen à la<br />
Bosetzky (vgl. Zitat <strong>von</strong> Ortmann Seite 73) gezielt Informationen zurückhalten, um sich so einen<br />
Vorteil zu verschaffen. Doch diese Form <strong>von</strong> Ungewissheitszone ist hier nicht gemeint.<br />
123
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
5 ORGANISATION ALS<br />
HANDLUNGSSYSTEM<br />
Aus den in Kapitel 4 diskutierten Kernbegriffen und Bausteinen soll nun in<br />
Kapitel 5 das Konzept einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> ausgearbeitet<br />
werden. Es wird zu zeigen sein, dass sich die verschiedenen theoretischen<br />
Bausteine zu einem „eleganten <strong>Erklärung</strong>sinstrument“ des Phänomens<br />
<strong>Organisation</strong> zusammenfügen lassen. Ob dieses <strong>Erklärung</strong>sinstrument auch<br />
zutrifft, ist - mit den Worten <strong>von</strong> Luhmann - „natürlich eine andere Frage.“ 130<br />
<strong>Die</strong>se wird in Teil III zu beantworten sein.<br />
5.1 Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> Konzept<br />
einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
Der zentrale Fokus einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> muss auf der<br />
Beschreibung und <strong>Erklärung</strong> der Vermittlung zwischen Struktur und Handlung<br />
liegen (vgl. Kapitel 4.1.3). Zur <strong>Erklärung</strong> und Beschreibung dieses<br />
Vermittlungsprozesses bieten alle drei in den voranstehenden Kapiteln 4.2.1<br />
bis 4.2.3 diskutierten theoretischen Bausteine eine schlüssige <strong>Erklärung</strong>. <strong>Die</strong><br />
Bausteine stammen zwar aus unterschiedlichen Wissensgebieten, sie sind<br />
jedoch untereinander kompatibel und ergänzen sich gegenseitig. Ihre<br />
Kompatibilität liegt darin begründet, dass jede der drei Theorien einen <strong>duale</strong>n<br />
Ansatz vertritt, das heisst eine integrierte <strong>Erklärung</strong> für den handlungsprägenden<br />
Charakter <strong>von</strong> Struktur und den strukturprägenden Charakter <strong>von</strong><br />
Handlung anbietet. Ausserdem ergänzen sie sich gegenseitig, weil die<br />
diskutierten Schwachstellen in der Argumentation der einen Theorie durch<br />
Bezüge aus einer anderen Theorie ausgeglichen werden können, so dass ein<br />
insgesamt kohärentes <strong>Erklärung</strong>smodell für das Phänomen <strong>Organisation</strong><br />
entsteht.<br />
130 Das Zitat ist eine Anspielung auf Luhmann, der über seine Systemtheorie einmal gesagt haben<br />
soll: „<strong>Die</strong> Theorie funktionaler Systemdifferenzierung ist ein weitreichendes, elegantes,<br />
ökonomisches <strong>Erklärung</strong>sinstrument für positive und negative Aspekte der modernen<br />
Gesellschaft. Ob sie auch zutrifft, ist natürlich eine andere Frage.“ (zitiert in: Staub-Bernasconi<br />
2000, S. 225) Genau in diesem Sinn soll in den folgenden Kapiteln das Modell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
<strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> entwickelt werden, bevor es sich dann in Teil III empirisch zu bewähren<br />
hat.<br />
124
DAS HANDLUNGSSYSTEM ALS KONZEPT EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Der Vermittlungsprozess zwischen Struktur und Handlung bzw. <strong>Organisation</strong><br />
und Individuum - das Dazwischen - wird <strong>von</strong> den in Kapitel 4.2 vorgestellten<br />
theoretischen Bausteinen unterschiedlich benannt und beschrieben. Aber<br />
dennoch ist die Ähnlichkeit dieser verschiedenen vermittelnden Dazwischen<br />
unverkennbar:<br />
• Giddens bezeichnet das Dazwischen <strong>als</strong> Strukturmodalitäten und<br />
hält fest, dass diese Strukturmodalitäten eine Vermittlungsfunktion<br />
zwischen Struktur und Handlung ausüben (vgl.<br />
Abbildung 19).<br />
• Hosking und Morley verweisen darauf, dass der Raum zwischen<br />
Individuum und <strong>Organisation</strong> durch einen kontinuierlichen<br />
Verhandlungsprozess gefüllt wird, der aus interagierenden<br />
Schlaufen <strong>von</strong> kognitiven und politischen Prozessen besteht und<br />
dessen materialisierte Ergebnisse <strong>als</strong> soziale Praktiken sicht-<br />
und beobachtbar werden (vgl. Abbildung 21).<br />
• Crozier und Friedberg nennen den Koordinations- und<br />
Integrationsprozess zwischen <strong>Organisation</strong> und Individuum bzw.<br />
zwischen Zwang und Autonomie ein Spiel, das im Rahmen der<br />
Bezugsfähigkeiten der Akteure gestaltet und entwickelt werden<br />
kann (vgl. Abbildung 24).<br />
Das Konzept einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> kann Bezüge <strong>von</strong> allen<br />
drei Vorstellungen Gewinn bringend integrieren:<br />
• <strong>Die</strong> Giddensschen Strukturmodalitäten bieten eine sinnvolle und<br />
tragfähige Konzeptualisierung dafür an, wie sich die virtuelle<br />
Kraft <strong>von</strong> Struktur in den Prozessen des Organisierens entfaltet.<br />
Sie sind das Element, das die Strukturdimension bzw. den<br />
Zwang der Strukturen in dem Prozess des Organisierens<br />
verankert.<br />
• In den Bezugsfähigkeiten der Akteure, auf die Crozier und<br />
Friedberg hinweisen, kommt die kollektive Handlungskompetenz<br />
der Akteure zum Ausdruck, das heisst das Vermögen, gestaltend<br />
und lenkend in die Prozesse des Organisierens einzugreifen. Sie<br />
sind das Element, das die Handlungsdimension bzw. die Freiheit<br />
der Akteure in dem Prozess des Organisierens verankert.<br />
125
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
• Der Verhandlungsprozess des Organisierens, so wie ihn Hosking<br />
und Morley darstellen, stellt dann letztlich die Mikro-Integration<br />
<strong>von</strong> Struktur und Handlung sicher. Im Verhandlungsprozess des<br />
Organisierens werden Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten<br />
in kollektiven kognitiven und politischen Prozessen<br />
verwoben und zu einem kontinuierlichen Strom sozialer<br />
Praktiken materialisiert.<br />
Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und Verhandlungsprozess des<br />
Organisierens sind <strong>als</strong>o die Elemente, mit denen in einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> ein theoretisch differenziertes Verständnis der Funktionsweise<br />
des Dazwischens zwischen Struktur und Handlung ausgearbeitet werden<br />
kann. Sie prägen den <strong>duale</strong>n Charakter <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einem<br />
<strong>Handlungssystem</strong> 131 (vgl. Abbildung 25).<br />
Struktur und Handlung, Zwang und Freiheit, Macht und Konsens, Stabilität und<br />
Wandel sind in diesem <strong>Handlungssystem</strong> nicht mehr Gegenbegriffe. Sie<br />
wirken vielmehr in einer „dialectic of control“ (Giddens 1997, S. 67) gleichzeitig<br />
auf die organisationalen Konstruktions- und Reifikationsprozesse und<br />
bedingen und konstituieren sich gegenseitig. Durch diese Dialectic of Control<br />
stabilisiert sich letztlich das <strong>Handlungssystem</strong> und es emergiert das<br />
Phänomen <strong>Organisation</strong>.<br />
Im Zentrum des <strong>Handlungssystem</strong>s steht der Verhandlungsprozess des<br />
Organisierens. In diesem Verhandlungsprozess werden die Bedingungen und<br />
Möglichkeiten der organisationalen Wirklichkeit ausgehandelt und materialisiert.<br />
Doch dieser Verhandlungsprozess des Organisierens entfaltet sich nicht<br />
voraussetzungslos. Er stützt sich immer ab auf das, was an Ergebnissen aus<br />
früheren Verhandlungsprozessen bereits seine Spuren hinterlassen hat. <strong>Die</strong>se<br />
Spuren werden sichtbar in den Strukturmodalitäten, auf die der Verhandlungsprozess<br />
Bezug nimmt und die in diesem Prozess aktualisiert und<br />
(re-)produziert werden. Der Verhandlungsprozess bzw. die Ergebnisse hängen<br />
jedoch auch <strong>von</strong> den Fähigkeiten der Akteure ab, diesen Prozess zu gestalten.<br />
Dabei sind diese so genannten Bezugsfähigkeiten immer <strong>als</strong> kollektive<br />
131 Der Begriff des <strong>Handlungssystem</strong>s soll diesen <strong>duale</strong>n Charakter <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> zum Ausdruck<br />
bringen. Dabei soll Handlung darauf verweisen, dass <strong>Organisation</strong> etwas ist, das <strong>von</strong> strategiefähigen<br />
Akteuren geschaffen worden ist, und System den Umstand in Erinnerung rufen, dass die<br />
Handlungsautonomie der Akteure eingeschränkt ist durch den Zwang bestehender materialisierter<br />
Strukturen.<br />
126
DAS HANDLUNGSSYSTEM ALS KONZEPT EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />
Errungenschaften zu verstehen, das heisst <strong>als</strong> die kulturelle Fähigkeit der<br />
Akteure, in den Verhandlungsprozess des Organisierens gestaltend und<br />
lenkend einzugreifen.<br />
Struktur<br />
Vermittlungsfunktionen<br />
Handlung Handlung Handlung<br />
Signifikation Reifikation Legitimation<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens<br />
kognitive<br />
Prozesse<br />
<strong>Handlungssystem</strong><br />
Strukturmodalitäten<br />
soziale<br />
Praktiken<br />
Bezugsfähigkeiten<br />
Kommunikation Artefakte<br />
Sanktionen<br />
127<br />
politische<br />
Prozesse<br />
Abbildung 25: Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> Konzept einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
Macht und Politik <strong>als</strong> konstitutive Elemente eines jeden sozialen Handelns<br />
(vgl. Kapitel 4.1.2.3) treten im <strong>Handlungssystem</strong> in mehrfacher Weise auf: Sie<br />
manifestieren sich virtuell in den Strukturmodalitäten und den Bezugsfähigkeiten,<br />
indem sich Macht und Politik rekursiv (re-)produzieren durch Bezugnahme<br />
auf eben diese Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten. In den<br />
kognitiven und politischen Prozessen des Verhandlungsprozess des<br />
Organisierens wirken Macht und Politik <strong>als</strong> Restriktion und Ermöglichung<br />
zugleich bei der Herstellung und Koordination der organisationalen Wirklich-<br />
Struktur Vermittlungsfunktionen<br />
Handlung
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
keit. Macht und Politik sind demnach sowohl <strong>als</strong> Mittel wie <strong>als</strong> Ergebnis einer<br />
<strong>duale</strong>n Verfertigung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> anzusehen. Sie sind die Grundlage, auf<br />
dem das <strong>Handlungssystem</strong> ruht (vgl. Abbildung 26). <strong>Organisation</strong>en sind<br />
demnach letztlich immer <strong>als</strong> machtvolle, politische Phänomene zu verstehen<br />
und auch entsprechend zu gestalten und lenken (vgl. Schlussfolgerungen und<br />
Implikationen in Kapitel 9).<br />
Macht<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens<br />
kognitive<br />
Prozesse<br />
Strukturmodalitäten<br />
soziale<br />
Praktiken<br />
Bezugsfähigkeiten<br />
128<br />
politische<br />
Prozesse<br />
Politik<br />
Abbildung 26: Macht und Politik <strong>als</strong> Grundlage des Vermittlungsprozesses zwischen<br />
Struktur und Handlung im <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>Die</strong> drei Elemente des <strong>Handlungssystem</strong>s (Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten<br />
und Verhandlungsprozess des Organisierens) werden in den<br />
folgenden Kapiteln nun näher beschrieben.
5.2 Kernelemente des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s<br />
129<br />
KERNELEMENTE DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
5.2.1 Verhandlungsprozess des Organisierens<br />
Der Verhandlungsprozess des Organisierens ist der Nukleus des Phänomens<br />
<strong>Organisation</strong> und somit der eigentliche Konstruktions- und Reifikationsprozess<br />
der organisationalen Wirklichkeit. In ihm und durch ihn werden die<br />
Bedingungen und Möglichkeiten des organisationalen Seins ausgehandelt und<br />
nimmt die organisationale Wirklichkeit ihre Form an. 132<br />
Der Verhandlungsprozess des Organisierens ist ein kollektiver Prozess. 133 Er<br />
läuft jedoch in den seltensten Fällen bewusst und explizit ab. In der Regel ist<br />
der Verhandlungsprozess ein impliziter, stummer Parallelprozess jeden<br />
kollektiven Handelns. Mehr noch: Der Verhandlungsprozess ist im Grunde<br />
konstitutiv für jedes kollektive Handeln, denn kollektives Handeln setzt einen<br />
erfolgreichen Verhandlungsprozess voraus.<br />
Im Verhandlungsprozess des Organisierens sind kollektive kognitive und<br />
politische Elemente aufs Engste miteinander verwoben. Dadurch wird die<br />
Mehrdeutigkeit der organisationalen Wirklichkeit unentwegt in eine lokale Form<br />
<strong>von</strong> Ordnung und Gewissheit transformiert, die koordiniertes Handeln<br />
überhaupt erst möglich macht (vgl. Abbildung 27).<br />
In kollektiven kognitiven Prozessen werden aus dem kontinuierlichen Strom<br />
der täglichen Ereignisse einzelne Elemente hervorgehoben. Durch ihre<br />
Wahrnehmung (sei es im praktischen oder diskursiven Bewusstsein) werden<br />
sie wahr, werden sie Teil der organisationalen Wirklichkeit. Doch die<br />
kollektiven kognitiven Prozesse generieren laufend Ausschnitte der<br />
organisationalen Wirklichkeit, die untereinander nicht zwingend konsistent sein<br />
müssen. Damit kollektives Handeln in der selbst geschaffenen organisationa-<br />
132<br />
Der Vorschlag, dass Verhandlungsprozesse das Kernelement des Organisierens sind, ist nicht<br />
neu. Strauss (1978) hat diesen Gedanken in die <strong>Organisation</strong>stheorie eingeführt. Für ihn war jede<br />
Form <strong>von</strong> sozialer Ordnung zwingend immer auch eine „negotiated order“. Aus relationalkonstruktivistischen<br />
Optik gewinnen seine Überlegungen einen neuen Gehalt und eine aktuelle<br />
Bedeutung.<br />
133<br />
<strong>Die</strong> Kollektivität gilt für alle Elemente des Verhandlungsprozesses, insbesondere auch für die<br />
kognitiven Prozesse. Kognition darf in einem relational-konstruktivistischen Bezugsrahmen nicht<br />
auf einzelne Individuen zurückgebunden werden (vgl. auch Fussnote 106).
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
len Wirklichkeit überhaupt möglich ist, müssen diese Ausschnitte darum in<br />
kollektiven politischen Prozessen fortdauernd koordiniert und integriert<br />
werden.<br />
Macht<br />
kognitive<br />
Prozesse<br />
soziale<br />
Praktiken<br />
130<br />
politische<br />
Prozesse<br />
Abbildung 27: Verhandlungsprozess des Organisierens<br />
Politik<br />
Es versteht sich, dass Politik und Macht integrale Bestandteile des<br />
Verhandlungsprozesses des Organisierens sind. Ohne sie wären erfolgreiche<br />
kognitive und politische Prozesse undenkbar. Macht, bzw. die Fähigkeit zur<br />
sozialen Wirklichkeitsdefinition, steht am Anfang aller kognitiven Prozesse.<br />
Ohne Macht wären wir nicht dazu in der Lage, aus dem kontinuierlichen Fluss<br />
der Alltagsereignisse spezifische Elemente hervorzuheben und ins Bewusstsein<br />
zu bringen. Politik, bzw. die Fähigkeit zur sozialen Koordination und<br />
Integration, ist die Grundvoraussetzung für erfolgreiche politische Prozesse.<br />
Ohne Politik gäbe es keinen Konsens über die lokale Ordnung und somit keine<br />
kollektive Wirklichkeit.<br />
Der Verhandlungsprozess des Organisierens ist ein rekursiver Prozess. Was<br />
in den kollektiven kognitiven Prozessen hervorgehoben wird, ist nicht zufällig,<br />
sondern hängt immer auch <strong>von</strong> den Koordinations- und Integrationsergebnissen<br />
früherer politischer Prozesse ab. Umgekehrt können in den<br />
politischen Prozessen nur diejenigen Elemente organisationaler Wirklichkeit<br />
verarbeitet werden, die in kollektiven kognitiven Prozessen zuvor ins<br />
(praktische oder diskursive) organisationale Bewusstsein gelangt sind.<br />
Kognitive und politische Prozesse bedingen sich <strong>als</strong>o gegenseitig. Man sollte<br />
sie deshalb besser nur <strong>als</strong> analytisch zu unterscheidende denn <strong>als</strong> zwei<br />
getrennte, unterschiedliche Prozesse verstehen.<br />
Als Ergebnis der kognitiven und politischen Prozesse werden soziale<br />
Praktiken der <strong>Organisation</strong> herausgebildet, das heisst routinisierte (bzw.
131<br />
KERNELEMENTE DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
stabilisierte) Kommunikations- und Interaktionsformen. <strong>Die</strong> sozialen Praktiken<br />
sind aber nicht nur das sichtbare, materialisierte Ergebnis des Verhandlungsprozesses<br />
des Organisierens - sie sind ebenfalls Mittel und Treiber der<br />
kollektiven kognitiven und politischen Prozesse. Daher wirken herrschende<br />
soziale Praktiken ermöglichend, aber auch einschränkend, auf den<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens. Als Ergebnis früherer Verhandlungsprozesse<br />
engen sie den Möglichkeitsraum des Organisierens ein, sind aber<br />
zugleich auch (einziges) Mittel und Treiber für jegliche zukünftige<br />
Verhandlungsprozesse des Organisierens.<br />
Der Verhandlungsprozess des Organisierens entfaltet sich nie<br />
voraussetzungslos. Er stützt sich stets ab auf bereits vorhandene Strukturen,<br />
die in Form <strong>von</strong> Strukturmodalitäten den Verhandlungsprozess ebenso<br />
ermöglichen wie einschränken.<br />
5.2.2 Strukturmodalitäten des Organisierens<br />
<strong>Die</strong> Strukturmodalitäten sind Sedimente vergangener erfolgreicher<br />
Verhandlungsprozesse des Organisierens und stecken den Rahmen, das<br />
heisst den Möglichkeitsraum des Phänomens <strong>Organisation</strong>, ab. Der<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens läuft innerhalb dieses Möglichkeitsraums<br />
ab und greift gleichzeitig auf die Struktur zurück, die die<br />
Strukturmodalitäten diesem Raum bieten. So sind die Strukturmodalitäten des<br />
Organisierens Ermöglichung und Zwang zugleich.<br />
<strong>Die</strong> Strukturmodalitäten lassen sich gemäss den drei Strukturdimensionen<br />
Signifikation, Reifikation und Legitimation unterscheiden in interpretative<br />
Schemata, Ressourcen und Normen (vgl. Abbildung 28):<br />
• interpretative Schemata<br />
Interpretatiave Schemata schaffen eine kognitive Ordnung<br />
(Signifikation) im Verhandlungsprozess des Organisierens. Sie<br />
regeln, wie die Welt üblicherweise wahrgenommen und die<br />
hevorgehobenen Ereignisse interpretiert werden.<br />
• Ressourcen<br />
Allokative und autoritative Ressourcen gestalten die faktische<br />
Ordnung (Reifikation) im Verhandlungsprozess des<br />
Organisierens. Durch sie wird die soziale Wirklichkeit in eine<br />
physische Erscheinungsform verpackt und dadurch beherrschbar<br />
gemacht.
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
• Normen<br />
Normen regeln die normative Ordnung (Legitimation) des<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens. Sie stecken die<br />
Geltungsansprüche der organisationalen Wirklichkeit ab und<br />
lieferen dem kollektiven Handeln seine objektivierte normative<br />
Rechtfertigung.<br />
Signifikation Reifikation<br />
interpretative<br />
Schemata<br />
Ressourcen<br />
132<br />
Legitimation<br />
Normen<br />
kognitive Ordnung faktische Ordnung<br />
normative Ordnung<br />
• Wahrnehmungsmuster<br />
• <strong>Organisation</strong>svokabular<br />
• Visionen und Leitbilder<br />
Interpretative Schemata<br />
legen der Wirklichkeit eine<br />
sinnhafte Ordnung auf. Sie<br />
lenken, wie Wirklichkeit<br />
wahrgenommen, kategorisiert<br />
und strukturiert wird.<br />
• Aufbau- und Ablauforganisation<br />
• Planungs- und<br />
Entscheidungsrichtlinien<br />
• Ausstattung des Arbeitsplatzes<br />
(Infrastruktur,<br />
räumliche Gestaltung)<br />
• Finanzen<br />
• Technik<br />
• Rohstoffe und Materialien<br />
Ressourcen verleihen der<br />
Wirklichkeit einen dinglichen<br />
Ausdruck und ermöglichen<br />
gleichzeitig die Kontrolle und<br />
Verfügungsgewalt über die<br />
derart geschaffene Wirklichkeit.<br />
• organisationale Regeln<br />
• gesellschaftliche Werte<br />
• rechtliche Normen<br />
Normen unterlegen der<br />
Wirklichkeit eine moralische<br />
Wertung und liefern damit<br />
die Legitimationsbasis für<br />
jedes Tun oder Lassen im<br />
Rahmen dieser Wirklichkeit.<br />
Abbildung 28: <strong>Die</strong> drei Dimensionen <strong>von</strong> Strukturmodalitäten<br />
<strong>Die</strong> Einteilung der Strukturmodalitäten in eine kognitive, normative und<br />
faktische Dimension ist jedoch rein analytisch und keinesfalls trennscharf. <strong>Die</strong><br />
drei Dimensionen bedingen sich auch gegenseitig. So wirkt beispielsweise die<br />
faktische Ordnung aufmerksamkeitslenkend für die interpretativen Schemata<br />
der kognitiven Ordnung. Und die normative Ordnung legt der faktischen<br />
Ordnung klare Regeln und Grenzen auf.<br />
Strukturmodalitäten schaffen aber nicht nur die kognitive, normative und<br />
faktische Ordnung, nach denen sich der Verhandlungsprozess des
133<br />
KERNELEMENTE DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Organisierens organisiert, sie werden auch laufend durch diesen<br />
Verhandlungsprozess bestätigt und erneuert. Demnach haben<br />
Strukturmodalitäten immer nur eine virtuelle Kraft bzw. Wirkung. Den<br />
vermeintlichen Zwang, den sie ausüben, können sie nur deshalb entfalten,<br />
weil die Existenz und Gültigkeit der Modalitäten in den Verhandlungsprozessen<br />
des Organisierens ungefragt vorausgesetzt werden. <strong>Die</strong> Strukturmodalitäten<br />
sind die „taken-for-granteds“ des Verhandlungsprozesses des<br />
Organisierens, das heisst sie stellen die Erwartungsgeneralisierungen der<br />
sozialen Akteure dar.<br />
<strong>Die</strong> Strukturmodalitäten sind alle immer gleichzeitig und überall präsent im<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens. Es wäre viel zu verkürzt,<br />
interpretative Schemata nur dem kognitiven Prozess, Normen nur dem<br />
politischen Prozess und die faktische Ordnung nur den sozialen Praktiken zu<br />
unterlegen. In jeder Phase und in jedem Moment des Verhandlungsprozesses<br />
des Organisierens wirken alle drei Strukturmodalitäten gleichzeitig und<br />
gleichwertig.<br />
<strong>Die</strong> Strukturmodalitäten üben aber keinen absoluten Zwang aus. Sie lassen<br />
immer einen Spielraum offen, der <strong>von</strong> den sozialen Akteuren genutzt werden<br />
kann. Wie dieser Spielraum genutzt wird, hängt im Wesentlichen <strong>von</strong> der<br />
kollektiven Handlungskompetenz, den so genannten Bezugsfähigkeiten, der<br />
Akteure ab.<br />
5.2.3 Bezugsfähigkeiten des Organisierens<br />
Crozier und Friedberg (1993/1979) haben darauf aufmerksam gemacht, dass<br />
Bezugsfähigkeiten wichtige Elemente des Prozess des Organisierens sind. 134<br />
Sie haben damit die Vermittlung zwischen Struktur und Handlung um eine<br />
weitere und zentrale Facette erweitert: Neben den Strukturmodalitäten spielen<br />
nun auch kollektive Fähigkeiten, Bezugsfähigkeiten genannt, eine wichtige<br />
Rolle.<br />
134 Der Begriff der Fähigkeiten lässt an den Capabilities-Diskurs der Resource-Based-View der<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie denken (vgl. z.B. Ulrich/Lake 1991; Collis 1994; Teece/Pisano/et al. 1997;<br />
Eisenhardt/Martin 2000; Leonard-Barton 1992). In der Tat sind Bezugsfähigkeiten diesen<br />
dynamic capabilities verwandt. Beides sind kollektive Fähigkeiten und umfassen jeweils ein<br />
ganzes Set <strong>von</strong> Fähigkeiten, wobei es dabei ebenso auf die einzelnen Fähigkeiten wie auf deren<br />
Zusammenspiel und die situative Einbettung bzw. historische Entwicklung ankommt.
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
Ausser der ausdrücklichen Betonung, dass Bezugsfähigkeiten kollektive<br />
kulturelle Fähigkeiten sind, haben Crozier und Friedberg dieses entscheidende<br />
Element im Verhandlungsprozess des Organisierens nicht näher konkretisiert.<br />
Wir können uns darunter eine Form <strong>von</strong> kollektiver Handlungskompetenz<br />
vorstellen.<br />
<strong>Die</strong> drei Handlungsdimensionen Kommunikation, Artefakte und Sanktionen<br />
liefern einen geeigneten Raster, entlang dem die Bezugsfähigkeiten <strong>von</strong><br />
Crozier und Friedberg weiter ausgearbeitet werden können. So wie die drei<br />
Strukturdimensionen zu drei Kategorien <strong>von</strong> Strukturmodalitäten führen (vgl.<br />
Abbildung 28), müssen sich aus den drei Handlungsdimensionen auch drei<br />
unterschiedliche Kategorien <strong>von</strong> Bezugsfähigkeiten ableiten lassen (vgl.<br />
Abbildung 29).<br />
Kommunikation Artefakte<br />
(Re-)Konstruktion<br />
Routinisierung<br />
134<br />
Sanktionen<br />
Rationalisierung<br />
generative Fähigkeit gestalterische Fähigkeit<br />
selektive Fähigkeit<br />
• Vernetzung<br />
• Vielfalt, Optionen<br />
• Mehrdeutigkeit<br />
• multiple Szenarien<br />
• multiple Auffassungen<br />
• Komplexität erhalten<br />
• verzetteln<br />
• Ziellosigkeit<br />
<strong>Die</strong> Fähigkeit zur (Re-)<br />
Konstruktion zeigt sich in:<br />
• diskursiven Praktiken<br />
• Diskussionsplattformen<br />
• Begegnungsstätten<br />
• Verdinglichung<br />
• Vergewisserung<br />
• Kontinuität<br />
• Kontrolle und Zwang<br />
• Schutz und Entlastung<br />
• Referenzpunkt<br />
• repetitiv<br />
• sinnentleert<br />
<strong>Die</strong> Fähigkeit zur<br />
Routinisierung zeigt sich in:<br />
• Geschäftsprozessen<br />
• Verfahren<br />
• Instrumenten/Tools<br />
• Grenzen ziehen<br />
• Identität<br />
• Integration<br />
• Gewissheit<br />
• Verbindlichkeit<br />
• Komplexität reduzieren<br />
• Rigidität<br />
• festgefahren<br />
<strong>Die</strong> Fähigkeit zur<br />
Rationalisierung zeigt sich in:<br />
• Führungsprozessen<br />
• Entscheidungsprozessen<br />
• Planungsprozessen<br />
Abbildung 29: <strong>Die</strong> drei Dimensionen <strong>von</strong> Bezugsfähigkeiten<br />
<strong>Die</strong> drei Bezugsfähigkeiten werden in den folgenden Abschnitten einzeln kurz<br />
beschrieben. Insgesamt müssen folgende Anmerkungen vorausgeschickt<br />
werden: Bezugsfähigkeiten repräsentieren die Handlungskompetenz der
135<br />
KERNELEMENTE DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Akteure. Sie stellen die Anschlussfähigkeit des kollektiven Handelns sicher.<br />
<strong>Die</strong> drei Bezugsfähigkeiten gehören zusammen und sind nur analytisch<br />
trennbar. Sie ergänzen und stabilisieren sich gegenseitig (vgl. Abbildung 30).<br />
Im Verhandlungsprozess des Organisierens sind immer alle drei<br />
Bezugsfähigkeiten gleichzeitig und gleichwertig am Werk - wenn auch<br />
vielleicht nicht stets gleichgewichtig. Das heisst, es kann Momente oder<br />
Phasen im Verhandlungsprozess des Organisierens geben, in denen<br />
bestimmte Bezugsfähigkeiten eine grössere Rolle spielen <strong>als</strong> andere.<br />
Routinisierung<br />
umsetzen, in den Alltag<br />
integrieren, automatisieren<br />
(Re-)Konstruktion<br />
Mix und Zusammenspiel<br />
der Bezugsfähigkeiten<br />
entscheiden, planen<br />
Ressourcen bereitstellen<br />
innovative Ideen,<br />
Zukunftschancen,<br />
Handlungsmöglichkeiten<br />
Rationalisierung<br />
Abbildung 30: Mix und Zusammenspiel der Bezugsfähigkeiten<br />
Daraus kann aber keinesfalls geschlossen werden, dass diese Bezugsfähigkeiten<br />
wichtiger sind <strong>als</strong> andere. Es kommt auf die Zusammensetzung an.<br />
Nur ein ausgewogener Mix aller drei Bezugsfähigkeiten vermag die ebenfalls<br />
vorhandenen negativen Seiten der einzelnen Bezugsfähigkeiten aufzuwiegen.<br />
Es gibt aber auch kein Optimum der Zusammensetzung. Was <strong>als</strong> ausgewogen<br />
gilt, ist nur situativ zu beurteilen. Ebenso wichtig wie der ausgewogene Mix ist<br />
nämlich auch das spontane, fliessende Zusammenspiel 135 der drei<br />
Bezugsfähigkeiten (vgl. Abbildung 30).<br />
135 Damit könnte die Gefahr bestehen, dass Bezugsfähigkeiten genau wie die dynamic capabilites in<br />
den Verdacht einer endlosen Regression gelangen (vgl. Collis 1994): Da die Bezugsfähigkeiten<br />
alleine nicht genügen, braucht es auch eine Fähigkeit, die das Zusammenspiel der Bezugsfähig-<br />
[Forts.]
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
a) (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />
Im Lichte der Handlungsdimension Kommunikation ist mit Bezugsfähigkeit die<br />
Fähigkeit zur diskursiven (Re-)Konstruktion gemeint. Das ist eine generative<br />
Fähigkeit, das heisst die Fähigkeit, in der sozialen Wirklichkeit durch<br />
diskursive Praktiken neue bzw. bestehende Bedeutungen, Zusammenhänge<br />
und Perspektiven zu schaffen bzw. zu bestätigen. Zur (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />
gehört das diskursive Vermögen, mit Komplexität und Mehrdeutigkeit<br />
umzugehen - mehr noch: Komplexität und Vieldeutigkeit überhaupt erst zu<br />
generieren. Vergangene Ereignisse erhalten neue, ungewohnte Interpretationen,<br />
zukünftige Entwicklungspfade öffnen sich, alternative Handlungsmöglichkeiten<br />
rücken ins Blickfeld. (Re-)Konstruktionsfähigkeit zeichnet sich<br />
ferner dadurch aus, dass multiple Zukunftsszenarien entwickelt und<br />
unterschiedliche Handlungsstränge parallel verfolgt werden können.<br />
Vergangenes wird lose mit Zukünftigem verknüpft. Es wird spielerisch<br />
ausprobiert. <strong>Die</strong> (Re-)Konstruktionsfähigkeit ist die Kunst, Optionen zu<br />
schaffen und offen zu halten, Möglichkeiten zu erkennen und sich anzupassen,<br />
in Bewegung zu bleiben, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren.<br />
<strong>Die</strong>se generative Fähigkeit kann natürlich auch negative Auswirkungen haben.<br />
Man kann sich in der Fülle der Möglichkeiten verlieren. Man kann alles in der<br />
Schwebe halten und nie zum abschliessenden Entscheid kommen. Man kann<br />
seine eigenen Gedanken mit immer neuen eigenen Gedanken hinterfragen<br />
und so nie Klarheit finden.<br />
<strong>Die</strong> (Re-)Konstruktionsfähigkeit lebt vom Diskurs, vom sozialen Austausch.<br />
Überall, wo kollektives sensemaking abläuft, da lässt sich<br />
(Re-)Konstruktionsfähigkeit entdecken, z.B. in Diskussionsrunden, Kaffeepausen,<br />
Brainstorming-Sequenzen, Grossgruppen-Veranstaltungen oder<br />
Sitzungen.<br />
keiten regelt. Doch diese Fähigkeit ist selbst auch situativ und dynamisch. Deswegen braucht es<br />
eine Fähigkeit, die die Fähigkeit zum Zusammenspiel regelt. <strong>Die</strong>se Fähigkeit muss selbstverständlich<br />
ihrerseits wiederum situativ und dynamisch sein, deswegen... <strong>Die</strong>ser endlose<br />
Regress kann nur gebrochen werden, wenn auf die implizite Kausalität verzichtet wird, die hinter<br />
dieser Argumentation liegt. Es gibt keine ‚Ur-Suppe’, aus der die Bezugsfähigkeiten ihren Anfang<br />
nehmen und sich entwickeln. Es gibt keine Fähigkeit, die das Zusammenspiel der Bezugsfähigkeiten<br />
regelt. Das Zusammenspiel sind die Bezugsfähigkeiten selbst. Bezugsfähigkeiten sind<br />
selbstreferenzierende Fähigkeiten. Sie beziehen sich nur auf sich selbst und nicht auf irgendwelche<br />
Meta-Fähigkeiten. Das Zusammenspiel der Bezugsfähigkeiten ist stets kontingent und<br />
ebenso ein zufälliges wie vorstrukturiertes Ergebnis. Damit erübrigt sich die Suche nach der<br />
endgültigen Meta-Fähigkeit, die tatsächlich nur in einem endlosen Regress münden kann.<br />
136
137<br />
KERNELEMENTE DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
b) Routinisierungsfähigkeit<br />
In der Perspektive der Handlungsdimension Artefakte entsprechen die<br />
Bezugsfähigkeiten der Routinisierungsfähigkeit. Damit ist die Fähigkeit<br />
gemeint, (soziale) Prozesse, Verfahren und Instrumente zu routinisieren, das<br />
heisst zu formalisieren und zu standardisieren. Es handelt sich <strong>als</strong>o um eine<br />
gestalterische Fähigkeit. Sie sichert den Bestand und den kontinuierlichen<br />
Vollzug der sozialen Wirklichkeit, indem sie dieser Wirklichkeit eine<br />
gegenständliche Form gibt. <strong>Die</strong> Routinisierung setzt Referenzpunkte der<br />
Gültigkeit und dadurch erübrigt sich die Notwendigkeit der laufenden<br />
Vergewisserung und Bestätigung dessen, was gilt und richtig ist. Sie hat damit<br />
eine entlastende Funktion für den sozialen Alltag. Gleichzeitig schaffen<br />
Referenzpunkte auch eine Kontrollmöglichkeit und einen gewissen Zwang, der<br />
die Koordination und Integration der sozialen Wirklichkeit erleichtert.<br />
<strong>Die</strong> negative Seite der Routinisierungsfähigkeit kommt in sinnentleerten,<br />
veralteten Abläufen und Verfahren zum Ausdruck, die schon längst in keinem<br />
Zusammenhang mehr mit der aktuellen sozialen Wirklichkeit stehen. Sie kann<br />
sich aber auch in Widerstand gegen Neues, gegen Veränderung äussern.<br />
<strong>Die</strong> Fähigkeit zur Routinisierung kommt überall dort zum Tragen, wo es um die<br />
repetitive Koordination und Integration <strong>von</strong> sozialen Prozessen geht: bei der<br />
Gestaltung <strong>von</strong> Geschäftsprozessen, in Verfahren und Instrumenten oder in<br />
Sitzungen.<br />
c) Rationalisierungsfähigkeit 136<br />
Aus der Sicht der Handlungsdimension Sanktionen nehmen die Bezugsfähigkeiten<br />
die Form <strong>von</strong> Rationalisierungsfähigkeiten an. Das ist eine<br />
selektive Fähigkeit, die auf Restriktion basiert. <strong>Die</strong> Rationalisierungsfähigkeit<br />
wählt soziale Wirklichkeit aus und grenzt sie ein. Sie reduziert die Komplexität<br />
und Optionenvielfalt. Aus dem Bereich dessen, was möglich und denkbar ist,<br />
hebt die Rationalisierungsfähigkeit das hervor, was (scheinbar objektiv)<br />
machbar und richtig ist. Dadurch schafft sie Klarheit, Ziele und Identität, und<br />
sie sichert Gewissheit, Konsens und Kontinuität. Kollektives Handeln wird der<br />
136 Rationalisierung ist hier nicht im betriebswirtschaftlichen Sinn (Effizienzsteigerung), sondern in<br />
einem kognitiven Sinn gemeint. Rationalisierung will zum Ausdruck bringen, dass es hier um die<br />
kollektive Verfertigung <strong>von</strong> guten Gründen und um die soziale Entstehung <strong>von</strong> Normen und<br />
Werten geht.
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
Zufälligkeit entrissen dadurch, dass ihm Intentionen und Kausalitäten<br />
unterstellt werden. Rationalisierungsfähigkeit ist demnach <strong>als</strong>o die<br />
„Verursachung <strong>von</strong> Ursachen“ (Ridder 1979, S. 20). Kollektives Handeln wird<br />
dadurch planbar und kann - ja muss sogar - jederzeit argumentativ<br />
gerechtfertigt werden. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Handeln<br />
überhaupt eine Gewissheit und Kontinuität erhält und dadurch einforderbar<br />
und sanktionierbar wird.<br />
Aber auch die Rationalisierungsfähigkeit hat negative Seiten. Was einmal das<br />
(zufällige) Ergebnis einer Wahl war, wird zum voraussetzungslosen Objekt,<br />
das raum- und zeitunabhängige Gültigkeit hat. Doch die Sicherheit und<br />
Kontinuität, die die Rationalisierungsfähigkeit schafft, ist eine trügerische, denn<br />
andere Wirklichkeiten werden zwar ausgeblendet, sind deshalb aber nicht<br />
unmöglich. Es kann jederzeit und überraschend anders sein oder kommen.<br />
<strong>Die</strong> Rationalisierung gelingt ausserdem nur auf Kosten <strong>von</strong> Komplexität und<br />
Flexibilität, denn sie schränkt die Möglichkeiten ein, kontinuierlich neue<br />
Möglichkeiten auszuwählen bzw. auszuschliessen.<br />
Rationalisierungsfähigkeit kommt überall dort zum Tragen, wo es um Ziele,<br />
Beurteilungen und Entscheide geht. Resultate, Ereignisse, Schlussfolgerungen<br />
etc. sind alles Ergebnisse der Rationalisierungsfähigkeit und ohne sie<br />
nicht denkbar.<br />
5.3 Zusammenfassung:<br />
<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong><br />
Der Ruf nach einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> ist aus der Notwendigkeit<br />
entstanden, ein theoretisches Konzept zu finden, das dazu in der Lage ist, das<br />
Phänomen <strong>Organisation</strong> zu beschreiben und zu erklären, ohne dabei auf die<br />
althergebrachten Entweder-oder-Konzepte der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
zurückzugreifen (vgl. Einleitung zu Kapitel 4). Sie sucht eine Antwort<br />
auf die Frage, wie gleichzeitig und gleichwertig sowohl die Strukturiertheit <strong>als</strong><br />
auch die Strukturierung des Phänomens <strong>Organisation</strong> theoretisch<br />
angemessen gefasst werden können.<br />
<strong>Die</strong> Antwort, die die vorliegende Dissertation vorschlägt, liegt darin, sich auf<br />
den Zwischenraum zu konzentrieren, der zwischen Struktur und Handlung,<br />
zwischen Freiheit und Zwang, zwischen Macht und Konsens, zwischen<br />
Stabilität und Wandel liegt. <strong>Die</strong>ses Dazwischen wird in der Metapher <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> zum Ausdruck gebracht. Der Begriff<br />
138
ZUSAMMENFASSUNG: ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
<strong>Handlungssystem</strong> vereint in sich die beiden wichtigsten (Gegen-)Positionen<br />
der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorie (vgl. Fussnote 131) und verleiht ihnen<br />
einen neuen Sinngehalt. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit liegt nicht mehr auf den<br />
entgegengesetzten Polen, sondern auf dem Zwischenraum, der sich zwischen<br />
ihnen aufspannt.<br />
In diesem Zwischenraum entfaltet sich der gesamte organisationale<br />
Möglichkeitsraum. Das bedeutet, dass sich <strong>Organisation</strong> nicht vorhersagbar<br />
entlang einem (mehr oder weniger breiten) Entwicklungspfad bewegt.<br />
Vielmehr lassen sich im Möglichkeitsraum immer eine Vielzahl möglicher<br />
Pfade einschlagen. Manche da<strong>von</strong> mögen wahrscheinlicher sein <strong>als</strong> andere,<br />
aber denkbar sind alle.<br />
<strong>Organisation</strong> kann inmitten dieser Vielfalt an Möglichkeiten ihre Handlungsfähigkeit<br />
nur dadurch erhalten, dass sie die Vielfalt an Möglichkeiten<br />
einschränkt. Auf diesen Umstand ist in der neueren <strong>Organisation</strong>stheorie<br />
verschiedentlich hingewiesen worden, so zum Beispiel <strong>von</strong> Baecker (1994, S.<br />
13; 1999, S. 69), der da<strong>von</strong> spricht, dass <strong>Organisation</strong>en hochselektiv sein<br />
müssen, um handlungsfähig zu sein. Auch Crozier und Friedberg (1993/1979,<br />
S. 20) haben genau darauf abgezielt, wenn sie im Vorwort ihres Buch darauf<br />
hinweisen, dass die „zur Erweiterung der Freiräume, der Autonomie und der<br />
Initiativemöglichkeiten der Individuen notwendige Veränderung unserer<br />
kollektiven Handlungsweisen keineswegs weniger, sondern im Gegenteil mehr<br />
Organisierung im Sinne <strong>von</strong> bewusster Strukturierung der Handlungsfelder<br />
voraussetzt.“<br />
<strong>Die</strong> Strukturierung der organisationalen Handlungsfelder, die Crozier und<br />
Friedberg verlangen, hängt nicht zwingend <strong>von</strong> kunstvollen formellen<br />
<strong>Organisation</strong>sstrukturen ab, denn sie ist immer schon da. Der organisationale<br />
Möglichkeitsraum ist nämlich nicht leer und unstrukturiert, sondern gefüllt und<br />
vorstrukturiert durch Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten, die in<br />
kontinuierlichen Verhandlungsprozessen des Organisierens miteinander<br />
verwoben und (re-)produziert werden und so den Möglichkeitsraum fortlaufend<br />
neu strukturieren.<br />
<strong>Die</strong>se kontinuierliche Strukturierung und Strukturiertheit des Möglichkeitsraumes<br />
ist jedoch nicht ein rein zufälliges Ergebnis, sondern folgt einer<br />
eigenen Logik, einer eigenen Dynamik. <strong>Die</strong> Dynamik, die sich in diesem<br />
Prozess der Strukturierung und Strukturiertheit entfaltet, wird getrieben <strong>von</strong><br />
einer Dialectic of Control - einer gegenseitigen Beeinflussung und Abhängig-<br />
139
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
keit - die sich zwischen Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens auftut. <strong>Die</strong>se Dialectic of Control hat<br />
keine universelle Steuerungslogik, und sei sie auch noch so ausgeklügelt und<br />
differenziert. Sie ist historisch-situativ und einzigartig und zeigt sich in jeder<br />
<strong>Organisation</strong> neu und anders. Dennoch produziert sie organisationale<br />
Wiederholungsmuster. Weick (1995, S. 255) nennt das eine „Gewohnheitsvermaschung“<br />
und Ortmann (1995a, S. 40) spricht vom „Schneeball-Effekt“<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>: <strong>Organisation</strong> kann sich (fast) nur in vorgezeichneten<br />
Bahnen bewegen, es gibt (fast) keinen Weg zurück und (fast) keine<br />
Möglichkeit zu stoppen. Um <strong>Organisation</strong> zu verstehen empfiehlt Ortmann<br />
(1995a, S. 69) deshalb: „cherchez la structure!“, das heisst die strukturellen<br />
Handlungsbedingungen der Prozesse des Organisierens.<br />
Das Konzept <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einem <strong>Handlungssystem</strong> liefert genau eine<br />
solche Beschreibung und <strong>Erklärung</strong> dieser strukturellen Handlungsbedingungen<br />
und ihrer rekursiven Wirkungsweise. Das <strong>Handlungssystem</strong> ist<br />
die in Kapitel 3.3 geforderte theoretische Brille, mit denen die latenten<br />
Strukturen <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> sichtbar gemacht werden können.<br />
<strong>Die</strong> Handlungsbedingungen sind eine Mischung aus Strukturmodalitäten<br />
(Erwartungsgeneralisierungen) und Bezugsfähigkeiten (kollektive Handlungskompetenz),<br />
die sowohl Mittel wie Ergebnis des Verhandlungsprozesses des<br />
Organisierens sind. <strong>Die</strong> Wirkungsweisen <strong>von</strong> Strukturmodalitäten und<br />
Bezugsfähigkeiten können jedoch nicht aus einem statischen Blickwinkel<br />
heraus verstanden werden. Nur wenn sie aus der Bewegung des<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens heraus beobachtet und erklärt<br />
werden, kann man sich daraus einen Reim machen. Das <strong>Handlungssystem</strong> ist<br />
eben kein Strukturmodell, sondern eine Prozessbeschreibung <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong>. <strong>Die</strong>se Prozessbeschreibung verfertigt ein rekursives Bild <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong>, in dem <strong>Organisation</strong> sowohl das Mittel wie das Ergebnis der<br />
Prozesse des Organisierens ist (vgl. Abbildung 31).<br />
140
Macht<br />
so ist die Welt ... das können wir tun ...<br />
<strong>Organisation</strong><br />
ZUSAMMENFASSUNG: ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
Signifikation Reifikation<br />
interpretative<br />
Schemata<br />
Ressourcen Normen<br />
Mittel kognitive soziale politische Ergebnis<br />
Prozesse Praktiken Prozesse<br />
(Re-)Konstruktion Routinisierung Rationalisierung<br />
Kommunikation Artefakte<br />
141<br />
Legitimation<br />
Sanktionen<br />
Abbildung 31: Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> rekursive Erzeugung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
so ist die Welt ...<br />
<strong>Organisation</strong><br />
das können wir tun ...<br />
Politik<br />
Aufgrund dieser Rekursivität <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> kann das Konzept des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s nie eine detailscharfe Repräsentation <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
vermitteln, sondern immer nur ein „unordentliches Bild“ (Ortmann 1995a,<br />
S. 35). Damit ist auch gesagt, dass es im Phänomen <strong>Organisation</strong> keine (exante)-Gewissheit,<br />
sondern nur eine (ex-post)-Erfahrungskumulation gibt. Wohl<br />
wirkt sich die Routinisierung und Reifikation der Prozesse des Organisierens<br />
im Sinne materialisierter, repetitiver sozialer Praktiken, Verfahren und<br />
Instrumente in einer gewissen Beständigkeit aus - aber diese Stabilität ist<br />
eben nur eine vermeintliche. Man kann zwar durch Erfahrung wissen, was<br />
man in etwa zu erwarten hat, aber man darf sich nicht restlos und unreflektiert<br />
darauf verlassen.<br />
Doch gerade dieses unordentliche Bild vermittelt ein angemessenes<br />
Verständnis <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, weil es in <strong>Organisation</strong>en trotz allem Ringen um<br />
Ordnung eben immer einen Restteil Unordnung geben wird - oder wie Clauss<br />
sagt: „Der moderne Plan, eine übersichtliche und damit sichere Welt zu
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />
gestalten, kann niem<strong>als</strong> vollendet werden: das ‚Unfertige’ ist Dauerzustand,<br />
und damit erweist sich die Herstellung <strong>von</strong> Ordnung <strong>als</strong> Illusion.“ (1997, S.<br />
131) <strong>Eine</strong> Illusion, die sich in der Praxis jedoch bisher recht gut bewährt hat,<br />
ist man versucht anzufügen.<br />
<strong>Die</strong> in diesem Kapitel 5 vorgestellte Konkretisierung einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> ist selbstverständlich nur eine theoretische<br />
Skizze. Dennoch hat sie sich in der Praxis zu bewähren, wenn sie ihre<br />
theoretischen Ansprüche verteidigen will. Das bedeutet dreierlei:<br />
• Erstens müssen die konzeptionellen Elemente und die sie<br />
verbindende Dialectic of Control in der Praxis erkennbar sein.<br />
• Zweitens muss sich mit ihnen eine konkrete empirische Praxis<br />
beschreiben und erklären lassen.<br />
• Und drittens müssen sich für diese konkrete empirische Praxis<br />
gestützt auf die konzeptionellen Mechanismen der <strong>duale</strong>n<br />
<strong>Organisation</strong>stheorie konkrete Handlungsempfehlungen ableiten<br />
lassen.<br />
Mit anderen Worten: Um eine wirkungsvolle Theorie der Praxis zu sein, muss<br />
sich das bisher ausgearbeitete Denkmodell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong><br />
nicht nur in der Theorie, sondern vor allem auch in der Praxis<br />
bewähren. In diesem Sinn ist der folgende Teil III der Dissertation <strong>als</strong> die<br />
praktische Bewährungsprobe für das im Kapitel 5 erarbeitete Konzept <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> zu verstehen.<br />
142
TEIL III: SPUREN DER THEORIE IN DER<br />
PRAXIS<br />
143<br />
May you live<br />
in interesting times.<br />
Chinesische Verwünschung<br />
Das Ziel in diesem Teil III ist es, aus der Perspektive einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> nach Spuren eines <strong>Handlungssystem</strong>s in der Praxis zu suchen.<br />
Solche Spuren werden nicht in den formellen Strukturen der<br />
<strong>Organisation</strong>spraxis zu finden sein, sondern sich nur über die Beobachtung<br />
der organisationalen Prozesse, des <strong>Organisation</strong>salltags, erschliessen.<br />
Das, was - hoffentlich - zu finden ist, wird sich ebenso nicht in Form eines<br />
klaren, selbsterklärenden Bildes präsentieren oder sich wie <strong>von</strong> selbst<br />
aufdrängen. Es wird eher das Ergebnis eines intuitiven Spurenlesens, eines<br />
schrittweise verfertigten Interpretationsprozesses sein. Insofern gleichen sich<br />
<strong>Organisation</strong>spraxis und <strong>Organisation</strong>stheorie: Beides sind kunstvolle<br />
Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion und -interpretation. Darum sagt Law<br />
(1994, S. 48) treffend über die <strong>Organisation</strong>sforschung: „[T]he business of<br />
labelling a discovery as a discovery takes time, effort and negotiation.“<br />
<strong>Die</strong> Fundstücke organisationaler Wirklichkeit werden sich auch kaum zu einem<br />
kohärenten und eindeutigen Ergebnis zusammenfügen lassen, sondern wohl<br />
eher einem Mosaik ähneln, mit Lücken und Ungewissheiten. Selbst das<br />
Mosaik wird kein treffendes Gesamtbild abgeben, sondern eher ein zaghafter<br />
Interpretationsversuch des Phänomens <strong>Organisation</strong> sein, mit dem lediglich<br />
der Kontingenz des organisationalen Alltags eine mögliche Form <strong>von</strong><br />
Interpretation, <strong>von</strong> Ordnung, abgerungen worden ist. So warnen denn auch<br />
Hosking, Dachler et al. (1995, S. xii) vor zu grossen Erwartungen an die<br />
<strong>Organisation</strong>sforschung: „To be sure, we may not pursue such inquiry<br />
because it will result in an accurate picture of organizations as they are.”<br />
<strong>Die</strong>se Einschränkungen und Vorbehalte stets im Bewusstsein, kann die<br />
empirische Suche nach dem <strong>Handlungssystem</strong> in der <strong>Organisation</strong>spraxis in<br />
Angriff genommen werden.
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
<strong>Die</strong> hier verarbeiteten empirischen Daten stammen aus einem zweijährigen<br />
Forschungsprojekt der Universität St. Gallen, das die Autorin der Dissertation<br />
zusammen mit einer Teamkollegin bei Helvetia Patria, einer mittelgrossen<br />
schweizerischen Versicherung, durchgeführt hat. 137 Es ist natürlich der<br />
Wunsch und die Hoffnung einer jeden Forscherin, eine möglichst interessante,<br />
das heisst ereignisreiche Zeit im Feld zu verbringen. Und ganz im Sinne des<br />
doppeldeutigen chinesischen Wunsches können interessante Zeiten eben<br />
nicht nur angenehm spannend und (theoretisch) anregend sein, sondern<br />
ebenfalls auch hektisch, ungewiss und anstrengend - und zwar nicht nur für<br />
die Forscherinnen, sondern auch für die Menschen im Forschungsfeld.<br />
Im Rückblick auf die zwei Jahre Feldforschung kann daher im doppelten Sinn<br />
gesagt werden: Wir haben - zum Glück, aber manchmal auch leider - eine<br />
interessante Zeit im Feld verbracht.<br />
Teil III beschreibt diese zwei Jahre Feldforschung und präsentiert die daraus<br />
erwachsenen Forschungsergebnisse. In Kapitel 6.1 wird das Forschungsdesign<br />
und der Forschungsprozess aufgerollt. In Kapitel 6.2 werden die<br />
Forschungsfragen offen gelegt, mit denen das empirische Material am Ende<br />
der zweijährigen Feldforschung aufbereitet worden ist. Kapitel 7 beschreibt<br />
den Forschungspartner Helvetia Patria samt dem wirtschaftlich relevanten<br />
Kontext. Und in Kapitel 8 schliesslich werden die Ergebnisse des<br />
Forschungsprojekts vorgestellt, indem das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia<br />
Patria schrittweise rekonstruiert und interpretiert wird.<br />
137 Vgl. den Projektbeschrieb des Forschungsprojekts in Learning Dynamics 1999.<br />
144
FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />
6 DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS 138<br />
6.1 Forschungsdesign und -prozess des<br />
Dissertationsprojekts<br />
Das Kapitel 2 hat die forschungsmethodischen Grundlagen und Leitlinien<br />
beschrieben, nach welchen das Dissertationsprojekt gestaltet und kontinuierlich<br />
entwickelt worden ist. In diesem Kapitel wird nun dargestellt, wie das<br />
Dissertationsprojekt konkret organisiert und durchgeführt worden ist. <strong>Die</strong><br />
Beschreibung folgt der Vorgehensheuristik der longitudinalen Prozessforschung<br />
(vgl. Abbildung 8). 139<br />
6.1.1 Forschungsziel, Forschungsfragen,<br />
Forschungsteam<br />
a) Forschungsziel<br />
Das Dissertationsprojekt ist Teil des Forschungsprojekts Learning<br />
Dynamics, 140 das vom Herbst 1998 bis Ende 2001 am Institut für<br />
Betriebswirtschaft der Universität St. Gallen unter der Leitung <strong>von</strong> Prof. Dr.<br />
Johannes Rüegg-Stürm durchgeführt worden ist. Forschungsinteresse dieses<br />
Projekts war die Frage, was die Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en<br />
ausmacht. Über einen Zeitraum <strong>von</strong> zwei Jahren wurde diesen Fragen bei<br />
ausgewählten Forschungspartnern empirisch nachgegangen.<br />
b) Forschungsfragen<br />
Im Rahmen <strong>von</strong> Learning Dynamics hat sich jedes Teammitglied auf einen<br />
individuell gewählten Ausschnitt zum Thema der organisationalen<br />
Erneuerungsfähigkeit konzentriert und damit einen Beitrag zur Klärung und<br />
Beantwortung der übergreifenden Forschungsfrage geleistet. 141 Das<br />
138<br />
Kapitel 6 beschränkt sich auf die methodische Vorstellung des Forschungsprojekts. Der<br />
Forschungspartner Helvetia Patria wird in Kapitel 7 vorgestellt.<br />
139<br />
<strong>Die</strong> Ausführungen des Kapitels 6.1 stützen sich auf ein Arbeitspapier des Forschungsprojekts<br />
Learning Dynamics (Schütz/Mühlbach 2001).<br />
140<br />
Das Forschungsprojekt ist ausführlich beschrieben worden in Learning Dynamics 1999.<br />
141 An dieser Stelle sei nochm<strong>als</strong> auf die Dissertationen der anderen Teammitglieder verwiesen:<br />
Fischer 2002, Mühlbach 2003, Schumacher 2003 und Young 2003.<br />
145
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
theoretische Interesse und der gewählte Ausschnitt des vorliegenden<br />
Dissertationsprojekts sind in der Einleitung der Dissertation beschrieben<br />
worden. <strong>Die</strong> operationalisierten Forschungsfragen finden sich in Kapitel 6.2.<br />
c) Forschungsteam<br />
Das Forschungsteam bestand aus fünf Doktorierenden, die in zwei Zweierund<br />
einer <strong>Eine</strong>rgruppe bei insgesamt drei Forschungspartnern geforscht<br />
haben (vgl. Abbildung 32).<br />
Dissertation<br />
Partnerorganisation<br />
Doktorandin Doktorandin<br />
Dissertation<br />
Partnerorganisation<br />
Doktorandin<br />
Dissertation<br />
146<br />
Partnerorganisation<br />
Doktorand Doktorand<br />
Dissertation<br />
Dissertation<br />
Abbildung 32: <strong>Organisation</strong> des Forschungsprojekts<br />
Forschungspartner<br />
Forschungsteamteam<br />
Forschungsergebnisse<br />
Dass in der Regel in Zweiergruppen gearbeitet und geforscht worden ist, steht<br />
in einem direkten Zusammenhang mit dem relational-konstruktivistischen<br />
Forschungsverständnis (vgl. Kapitel 2). Danach ist Forschung nicht der<br />
Einsatz einer stringenten Methode, sondern ein sozialer Konstruktions- und<br />
Interpretationsprozess, und kann sich gegenüber dem zu erforschenden<br />
<strong>Organisation</strong>salltag auf keine privilegierte Beobachtungsposition berufen. <strong>Die</strong><br />
Teamarbeit ist der gezielte Versuch, Diversität in den Forschungsprozess<br />
einzubauen, um damit der Pluralität und Kontingenz des organisationalen<br />
Alltags angemessen begegnen zu können.
FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />
6.1.2 Forschungsort und zeitlicher<br />
Bezugsrahmen<br />
a) Forschungsort<br />
Forschungsort sollte der organisationale Alltag ausgewählter Forschungspartner<br />
sein. <strong>Die</strong> Wahl der Forschungspartner richtete sich nach den<br />
folgenden Kriterien:<br />
• <strong>Organisation</strong> im Wandel<br />
Um die Erneuerung und Erneuerungsfähigkeit tatsächlich auch<br />
empirisch beobachten zu können, musste der Forschungspartner<br />
vor oder mitten in der Herausforderung eines strategischen<br />
Wandels stehen.<br />
• Grösse<br />
Um das Phänomen der Erneuerung und Erneuerungsfähigkeit<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en in einer angemessenen Komplexität<br />
empirisch beobachten zu können, wurde eine Mindestgrösse <strong>von</strong><br />
600 Mitarbeitenden festgelegt. 142<br />
• Interesse und Offenheit<br />
<strong>Die</strong> gewählten Forschungstechniken (vgl. Kapitel 6.1.4) setzten<br />
weitgehende Zugangsmöglichkeiten zum Feld voraus. Daher war<br />
das Interesse und die Offenheit des Forschungspartners<br />
gegenüber unserem Forschungsprojekt ein weiteres wichtiges<br />
Selektionskriterium, um die Forschungs- und Bewegungsfreiheit<br />
während der Dauer des Forschungsprojekts bestmöglichst zu<br />
garantieren.<br />
• Finanzierung<br />
<strong>Die</strong> Partnerorganisation musste bereit sein, unsere Forschung<br />
mit einem finanziellen Beitrag zu unterstützen.<br />
Nach einer Such- und Akquisitionsphase <strong>von</strong> über zwölf Monaten standen<br />
Ende 1999 alle drei Forschungspartner fest. <strong>Die</strong> Autorin der Dissertation hat<br />
während zwei Jahren zusammen mit einer Teamkollegin bei Helvetia Patria,<br />
einer mittelgrossen schweizerischen Versicherungsgesellschaft (vgl. Firmen-<br />
142 In der Schweiz entspricht das einem Mittel- bis Grossbetrieb.<br />
147
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
profil in Kapitel 7.2), geforscht. <strong>Die</strong> wirtschaftliche Dynamik der Versicherungsbranche<br />
(vgl. Kapitel 7.1 und Anhang D) bot den idealen Kontext, um das<br />
Thema organisationale Erneuerung und Erneuerungsfähigkeit zu untersuchen.<br />
b) Zeitlicher Bezugsrahmen<br />
Zu Beginn des Forschungsprojekts stand fest, dass die Forscherinnen den<br />
organisationalen Alltag des Forschungspartners über einen Zeitraum <strong>von</strong> zwei<br />
Jahren hinweg begleiten werden. Im konkreten Fall <strong>von</strong> Helvetia Patria hat es<br />
sich während des Forschungsprozesses ergeben, dass eine historische<br />
Rekonstruktion der Firmengeschichte der letzten zehn Jahre sinnvoll erschien<br />
(vgl. Kapitel 6.1.3). Somit umfassten die Forschungsaktivitäten letztlich den<br />
Zeitraum <strong>von</strong> 1992-2001. <strong>Die</strong> Jahre 1992-1999 wurden in einer Interviewserie<br />
historisch rekonstruiert, während die Jahre 2000-2001 <strong>von</strong> den Forscherinnen<br />
mittels teilnehmender Beobachtung persönlich erlebt wurden.<br />
6.1.3 Forschungsprozess<br />
a) Zeitplan<br />
<strong>Die</strong> Arbeit im Forschungsprojekt richtete sich nach einem allgemeinen Zeitplan<br />
(vgl. Abbildung 33), der <strong>von</strong> einer Vorbereitungszeit <strong>von</strong> rund 15 Monaten und<br />
einer Feldforschungsphase <strong>von</strong> zwei Jahren ausging. Für die Erarbeitung der<br />
individuellen Dissertationen wurde abschliessend ein bis zwei Jahre eingeplant.<br />
Das konkrete Vorgehen in der Phase der Feldforschung wurde in diesem<br />
Zeitplan nicht näher bestimmt. Der allgemeine Zeitplan des Forschungsprojekts<br />
ging lediglich da<strong>von</strong> aus, dass die Feldforschung wahrscheinlich in<br />
drei aufeinander aufbauenden Phasen ablaufen wird:<br />
• Phase 1<br />
Exploration, erstes Kennenlernen<br />
• Phase 2<br />
Vertiefung, Weiterführung der ersten Erkenntnisse<br />
• Phase 3<br />
Konsolidierung, Abrunden der bisherigen Erkenntnisse<br />
148
Aktivitäten<br />
Aktivitäten<br />
Herbst 98<br />
Formierung des Forschungsteams<br />
FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />
Erarbeitung der forschungsmethodischen<br />
und theoretischen Grundlagen<br />
1.1.99<br />
Suche der<br />
Forschungspartner<br />
Feldforschung<br />
Phase 1 Phase 2 Phase 3<br />
t<br />
1.1.00 1.1.01 1.1.02<br />
31.12.03<br />
Abbildung 33: Zeitplan des Forschungsprojekts<br />
149<br />
Ausarbeitung der<br />
Dissertationen<br />
<strong>Die</strong> Feldforschung konkret zu planen und durchzuführen war Aufgabe der<br />
jeweiligen Zweier- bzw. <strong>Eine</strong>rgruppen und gestaltete sich je nach<br />
Forschungspartner unterschiedlich.<br />
b) Forschungsphasen und Forschungsfokus<br />
<strong>Die</strong> Feldforschung bei Helvetia Patria dauerte vom Januar 2000 bis Dezember<br />
2001, und lief in drei verschiedenen Phasen ab (vgl. Abbildung 34). <strong>Die</strong><br />
Ergebnisse jeder Phase lieferten die Grundlage und die Hinweise für das<br />
Vorgehen in der nächsten Phase. So hat sich die Forschungsarbeit und der<br />
Forschungsfokus in einem inkrementalen Prozess <strong>von</strong> Phase zu Phase<br />
konkretisiert.
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
Umfeld<br />
(Branche)<br />
��<br />
150<br />
��<br />
Helvetia Patria<br />
��<br />
Abbildung 34: Forschungsphasen und Forschungsfokus des Forschungsprojekts<br />
� In der Explorationsphase haben die Forscherinnen einen Längsschnitt<br />
entlang der Hierarchie durch die <strong>Organisation</strong> gelegt (top-down / bottomup),<br />
um Helvetia Patria in ihrer spezifischen Denk- und Handlungsweise<br />
insgesamt kennen zu lernen.<br />
� In der Vertiefungsphase haben die Forscherinnen einen Querschnitt entlang<br />
der funktionalen Gliederung durch die <strong>Organisation</strong> gelegt, um den<br />
vielfältigen organisationalen Alltag zu verfolgen.<br />
� In der Konsolidierungsphase haben die Forscherinnen einen Längsschnitt<br />
entlang der Zeitachse durch die <strong>Organisation</strong> gelegt, um prägende<br />
wiederkehrende Muster in der Denk- und Handlungsweise der<br />
<strong>Organisation</strong> zu erkennen.<br />
c) Forschungsaktivitäten<br />
Der genaue Ablauf der Feldforschung ist in Abbildung 35 dargestellt und wird<br />
nachstehend beschrieben. 143<br />
143 <strong>Eine</strong> detaillierte Liste aller Forschungsaktivitäten findet sich in Anhang B.<br />
t
FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />
Erstkontakt<br />
Nach mehreren informativen Gesprächen im Laufe des Jahres, fand am<br />
14.12.1999 eine formelle Präsentation des Forschungsprojekts Learning<br />
Dynamics vor der Geschäftsleitung <strong>von</strong> Helvetia Patria statt. Ziel der<br />
Präsentation war es, zu einer definitiven Entscheidung über eine<br />
Zusammenarbeit im Forschungsprojekt zu kommen. Aus Sicht des<br />
Forschungsprojekts wurde deshalb bei der Präsentation und in der<br />
anschliessenden Diskussion insbesondere Wert auf die Klärung folgender<br />
Punkte gelegt (momorandum of understanding):<br />
• Thematischer Fokus<br />
Worum geht es genau bei diesem Forschungsprojekt<br />
(Forschungsfrage)? Welchen Nutzen kann Helvetia Patria<br />
daraus ziehen (praktische Implikationen)?<br />
• Rolle und Aufgabe des Forschungsteams<br />
Wie geht das Forschungsteam vor (grober Zeitplan,<br />
Forschungstechniken) und wie verhält sich das Forschungsteam<br />
im Feld (Forschungstechniken, Code of Conduct)?<br />
• Materielle und zeitliche Ressourcen<br />
Zu welchen Bereichen/Themen braucht/erhält das Forschungsteam<br />
Zugang (Forschungsfreiheit)? Wer sind die internen<br />
Ansprechpersonen für das Forschungsteam (Sponsor und<br />
Gatekeeper)? Wie hoch ist der Beitrag zur Finanzierung des<br />
Forschungsprojekts?<br />
• Rechtliche Regelungen<br />
Was gilt z.B. bezüglich Geheimhaltung, Konkurrenzschutz und<br />
Publikation der Forschungsergebnisse (Forschungsvertrag)?<br />
Nachdem alle Fragen geklärt werden konnten und der formelle Forschungsvertrag<br />
unterschrieben war, konnte im Januar 2000 die Feldforschung<br />
beginnen.<br />
151
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
Aktivitäten<br />
1/00<br />
Phase 1<br />
Rekonstruktion<br />
Strategie 99-04<br />
Begleitung einer<br />
Generalagentur<br />
Teilnahme an<br />
Tagungen<br />
1x<br />
1x<br />
Phase 2<br />
Vertriebsmanagement<br />
(Generalagenturen)<br />
Vertriebsmanagement<br />
(Bereich/Regionen)<br />
Teilnahme an<br />
Tagungen<br />
152<br />
Phase 3<br />
= Zwischenbericht<br />
und Feedback<br />
= Feedback<br />
Dokumentenanalyse<br />
Rekonstruktion<br />
Firmengeschichte<br />
Teilnahme an<br />
Tagungen<br />
7/00 1/01 4/01<br />
7/01<br />
12/01<br />
Abbildung 35: Forschungsaktivitäten je Forschungsphase<br />
Phase 1: Exploration<br />
<strong>Die</strong> Explorationsphase dauerte <strong>von</strong> Januar 2000 bis Juli 2000. Ziel der<br />
Explorationsphase war es, ein erstes Bild <strong>von</strong> Helvetia Patria zu erhalten und<br />
die <strong>Organisation</strong> insgesamt in ihrer spezifischen Denk- und Handlungsweise<br />
kennen zu lernen.<br />
Zu diesem Zweck haben die Forscherinnen einen zweifachen Zugang zur<br />
<strong>Organisation</strong> gewählt (Mehrebenenanalyse):<br />
• top-down über die Rekonstruktion der Arbeit der Projektgruppe,<br />
welche im Jahr 1999 die Strategie 1999-2004 überarbeitet hatte,<br />
und<br />
• bottom-up über die Begleitung des Alltags einer Generalagentur.<br />
Ergänzt wurden diese Forschungsaktivitäten mit der teilnehmenden<br />
Beobachtung <strong>von</strong> Führungskonferenzen (halbjährliche Tagung der Führungskräfte)<br />
und Tagungen des Vertriebs (jährliche Aussendienstkonferenzen)<br />
3x<br />
2x<br />
1x<br />
2x<br />
t
FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />
sowie narrativen Interviews mit Personen aus verschiedenen <strong>Organisation</strong>sbereichen<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria.<br />
Insgesamt wurden in dieser Phase sechzehn Interviews geführt, ergänzt durch<br />
zehn teilnehmende Beobachtungen. Zudem fanden zwei Feedbackveranstaltungen<br />
zusammen mit den in dieser Phase beteiligten Mitgliedern der<br />
<strong>Organisation</strong> statt. <strong>Die</strong> Explorationsphase wurde am 12.07.2000 mit einem<br />
Zwischenbericht und einer Feedbackveranstaltung für den Sponsor und den<br />
Gatekeeper abgeschlossen.<br />
Phase 2: Vertiefung<br />
<strong>Die</strong> Vertiefungsphase dauerte bis Juni 2001. Ziel dieser Phase war es, die<br />
durch das im Frühjahr 2000 gestartete Projekt Dynamo (vgl. Kapitel 7.2.3.3)<br />
ausgelösten Veränderungen in der <strong>Organisation</strong> aus der Optik einer einzelnen<br />
<strong>Organisation</strong>seinheit heraus zu beobachten. <strong>Die</strong> Wahl fiel auf den Bereich<br />
Vertriebsmanagement. Der Bereich Vertriebsmanagement ist im Rahmen <strong>von</strong><br />
Dynamo neu geschaffen worden und eignete sich <strong>als</strong> zentraler Schnittstellenbereich<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria ideal, um einen repräsentativen Querschnitt des<br />
gesamten, vielfältigen organisationalen Alltags zu verfolgen.<br />
Das Forschungsteam untersuchte den Alltag des neuen Bereichs Vertriebsmanagement<br />
aus drei Blickwinkeln (Mehrebenenanalyse):<br />
• erstens über die teilnehmende Beobachtung auf Ebene Bereich<br />
(Teilnahme an den regelmässigen Sitzungen der Bereichsleitung),<br />
• zweitens über die teilnehmende Beobachtung auf Ebene Region<br />
(Teilnahme an regionalen Tagungen des Aussendienstes) und<br />
• drittens über die teilnehmende Beobachtung auf Ebene Generalagentur<br />
(Teilnahme an Kader- und Aussendienstsitzungen sowie<br />
Wochenrapporten <strong>von</strong> zwei Generalagenturen).<br />
Insgesamt fanden in dieser Zeit neun Interviews und fünfunddreissig<br />
teilnehmende Beobachtungen statt. In sechs Feedbackveranstaltungen<br />
wurden die Erkenntnisse aus dieser Phase mit den Direktbetroffenen<br />
diskutiert. Erste Zwischenergebnisse dieser Phase wurden am 25.4.2001 an<br />
einer Feedbackveranstaltung dem Sponsor und dem Gatekeeper präsentiert.<br />
153
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
Standortbestimmung<br />
In der Zeit vom Juli 2001 bis August 2001 haben sich die Forscherinnen aus<br />
dem Feld zurückgezogen, um eine erste theoretische Auswertung vorzunehmen.<br />
Gestützt auf die Erkenntnisse dieser Standortbestimmung haben die<br />
Forscherinnen anschliessend die dritte und letzte Phase der Feldforschung in<br />
Angriff genommen.<br />
Phase 3: Konsolidierung<br />
Phase 3 dauerte <strong>von</strong> Oktober 2001 bis Dezember 2001. Sie war die letzte<br />
Phase des Forschungsprojekts und sollte deshalb einerseits die bisherigen<br />
Forschungsergebnisse möglichst gut ergänzen und bereichern, und<br />
andererseits das Forschungsprojekt <strong>als</strong> Ganzes abrunden und für die<br />
beteiligten Personen im Forschungsfeld zufrieden stellend abschliessen.<br />
Im Lichte der bisherigen Ergebnisse erschien eine historische Rekonstruktion<br />
der Firmenentwicklung der letzten zehn Jahre ideal, um die<br />
Forschungserkenntnisse abzurunden. Ziel der Konsolidierungsphase war es<br />
deshalb, einen zeitlichen Längsschnitt durch die <strong>Organisation</strong> zu legen, um die<br />
Entwicklungsgeschichte <strong>von</strong> Helvetia Patria kennen zu lernen, und darüber<br />
prägende Muster in der Denk- und Handlungsweise der <strong>Organisation</strong> zu<br />
entdecken (Analyse der Pfadabhängigkeit).<br />
<strong>Die</strong> Rekonstruktion des zeitlichen Längsschnitts <strong>von</strong> Helvetia Patria wurde<br />
anhand einer Interviewserie aufgebaut. Bei der Selektion der Interviewpartner<br />
hat das Forschungsteam gezielt den verschiedenen Sichtweisen innerhalb der<br />
<strong>Organisation</strong> Rechnung getragen (z.B. alte/neue <strong>Organisation</strong>sstruktur,<br />
Leben/Nicht-Leben, Hauptsitz/Generalagenturen). Insgesamt fanden in dieser<br />
letzten Phase zweiundzwanzig Interviews, drei teilnehmende Beobachtungen<br />
und zwei Feedbackveranstaltungen mit direktbeteiligten <strong>Organisation</strong>smitgliedern<br />
statt. Ergänzt wurden diese Aktivitäten mit einer Analyse wichtiger<br />
Firmenunterlagen zu vergangenen Schlüsselereignissen. <strong>Die</strong> Phase wurde am<br />
13.12.2001 mit einem Schlussbericht und einer Feedbackveranstaltung für<br />
den Sponsor und den Gatekeeper abgeschlossen. <strong>Die</strong> Präsentation dieses<br />
Berichts war gleichzeitig der formelle Abschluss des Forschungsprojekts und<br />
beendete die zweijährige Forschungszusammenarbeit des Forschungsteams<br />
mit Helvetia Patria.<br />
154
6.1.4 Feldbeziehungen und<br />
Forschungstechniken<br />
FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />
a) Feldbeziehungen<br />
Solide und vertrauensvolle Feldbeziehungen sind ein entscheidender Erfolgsfaktor<br />
in jedem Forschungsprojekt. Sie wurden durch verschiedene Massnahmen<br />
aufgebaut und gepflegt:<br />
• Memorandum of Understanding<br />
<strong>Die</strong> wichtigsten Punkte Forschungskontrakts sind in einem<br />
schriftlichen Dokument (Code of Conduct) festgelegt worden.<br />
<strong>Die</strong>s unterstützte die Erwartungs- und Rollenklärung und brachte<br />
Transparenz in die Arbeit der Forscherinnen. Ausserdem haben<br />
die Forscherinnen zu Beginn jeder neuen Forschungsphase ein<br />
Antrittsgespräch mit den neuen Kontaktpersonen im Forschungsfeld<br />
geführt, um den Forschungskontrakt auch lokal zu<br />
verankern.<br />
• Freiwilligkeit und Anonymität<br />
Für alle Kontaktpersonen war die Zusammenarbeit mit den<br />
Forscherinnen freiwillig. Zudem garantierten die Forscherinnen<br />
die Vertraulichkeit und Anonymität der Forschungsbeziehung,<br />
und zwar sowohl nach aussen (gegenüber der Konkurrenz) <strong>als</strong><br />
auch nach innen (gegenüber Vorgesetzten und Mitarbeitenden).<br />
• Neutralität und Unvoreingenommenheit<br />
Damit die Forscherinnen gegenüber allen Kontaktpersonen ihre<br />
Neutralität und Unvoreingenommenheit sichtbar machen<br />
konnten, verkehrten sie unabhängig <strong>von</strong> Hierarchiestufe,<br />
Aufgabenbereich oder Dauer des Forschungskontakts mit allen<br />
Kontaktpersonen nur in der Sie-Form.<br />
• Zwiebelschalen-Prinzip<br />
Forschungsergebnisse wurden ohne Ausnahme immer zuerst<br />
derjenigen Personengruppe präsentiert, <strong>von</strong> welcher die<br />
Forscherinnen durch Interviews oder teilnehmende<br />
Beobachtungen das Ausgangsmaterial erhoben hatten. <strong>Die</strong>s<br />
stellte die Reziprozität der Forschungsbeziehung sicher und gab<br />
den Kontaktpersonen ausserdem die Möglichkeit, eine<br />
abweichende Meinung zu den <strong>von</strong> den Forscherinnen<br />
155
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
präsentierten Ergebnissen zu äussern und zu begründen. Erst in<br />
einem zweiten Schritt wurden die derart plausibilisierten<br />
Forschungsergebnisse in Form eines zusammenfassenden<br />
Zwischenberichts dem Sponsor und dem Gatekeeper des<br />
Forschungsprojekts präsentiert.<br />
b) Forschungstechniken<br />
Im Laufe der zweijährigen Feldforschung wurden <strong>von</strong> den Forscherinnen<br />
verschiedene Forschungstechniken 144 angewendet (Triangulation):<br />
• qualitative, teilstrukturierte Interviews<br />
zur Exploration organisationaler Interpretationsmuster<br />
• teilnehmende Beobachtung<br />
zur Analyse organisationaler sozialer Praktiken<br />
• Aktionsforschungsworkshops (Feedback)<br />
zur Präsentation, Diskussion und Plausibilisierung <strong>von</strong><br />
Forschungsergebnissen 145<br />
• qualitative Dokumentenanalyse<br />
zur punktuellen Abrundung und Ergänzung des gesammelten<br />
Datenmateri<strong>als</strong><br />
In der Explorationsphase wollte das Forschungsteam einerseits schnell und<br />
gezielt einen Einblick in Helvetia Patria erhalten, andererseits jedoch dem Feld<br />
möglichst offen entgegentreten, um diejenigen Themen und Fragestellungen<br />
aufzuspüren, die im Forschungsfeld unabhängig vom Forschungsprojekt im<br />
Moment gerade aktuell waren. <strong>Die</strong>sem doppelten Anliegen wurde dadurch<br />
Rechnung getragen, dass in der Phase 1 ein ausgewogener Mix zwischen<br />
Interviews (Themen/Fragen gezielt ansprechen können) und teilnehmender<br />
144<br />
Es wird an dieser Stelle auf eine detaillierte forschungsmethodische Beschreibung und<br />
Diskussion dieser Forschungstechniken verzichtet. Interessierten wird folgende Literatur<br />
empfohlen:<br />
- teilnehmende Beobachtung: Lamnek 1989; Jorgensen 1989; Spradley 1980<br />
- qualitative Interviews: Lamnek 1989; Froschauer/Lueger 1992; Spradley 1979<br />
- Aktionsforschungsworkshops: Argyris/Putnam/et al. 1985; Bruce/Wyman 1998; Whyte 1991<br />
145<br />
<strong>Die</strong> Aktionsforschungs-Workshops wurden strikt nach dem Zwiebelschalenprinzip durchgeführt.<br />
Ausserdem wurde stets die Anonymität der Forschungskontakte geschützt.<br />
156
FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />
Beobachtung (aktuelle Themen/Fragen offen aufnehmen) gewählt worden ist<br />
(vgl. Abbildung 36). Drei Aktionsforschungsworkshops (zwei Feedbackveranstaltungen<br />
im Feld, eine Präsentation des Zwischenberichts an<br />
Gatekeeper/Sponsor) dienten in dieser Phase der Plausibilisierung der ersten<br />
Zwischenergebnisse.<br />
Anzahl<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
16<br />
10<br />
3<br />
9<br />
35<br />
7<br />
157<br />
22<br />
3<br />
1 2<br />
Forschungsphase<br />
3<br />
Abbildung 36: Forschungstechniken je Phase<br />
3<br />
Interviews<br />
Beobachtungen<br />
Workshops<br />
In der Vertiefungsphase lag das Interesse in der Beobachtung, wie in Helvetia<br />
Patria nach dem Projekt Dynamo die neue organisationale Realität aufgebaut<br />
wird. Daher lag in der Phase 2 der Feldforschung das Schwergewicht auf<br />
teilnehmenden Beobachtungen. <strong>Die</strong> Ergebnisse der Vertiefungsphase wurden<br />
in sieben Aktionsforschungsworkshops präsentiert und plausibilisiert (sechs<br />
Feedbackveranstaltungen im Feld, eine Präsentation des Zwischenberichts an<br />
Gatekeeper/Sponsor).<br />
<strong>Die</strong> Konsolidierungsphase diente der historischen Rekonstruktion der Firmengeschichte.<br />
Qualitative, teilstrukturierte Interviews waren zu diesem Zweck die<br />
geeignete Forschungstechnik. <strong>Die</strong> Ergebnisse der Phase 3 wurden in zwei<br />
Aktionsforschungsworkshops (Feedbackveranstaltungen im Feld)<br />
plausibilisiert. Ein dritter und letzter Aktionsforschungsworkshop (Präsentation
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
des Schlussberichts an Gatekeeper/Sponsor) diente dem Abschluss der<br />
Forschungszusammenarbeit und der Präsentation der kumulierten<br />
Forschungsergebnisse aller drei Phasen.<br />
6.1.5 Dokumentation<br />
In einem zweijährigen Forschungsprojekt fallen eine Unmenge Forschungsdaten<br />
an. Es war für das Forschungsteam daher erfolgskritisch, vor Beginn der<br />
empirischen Feldforschung die Grundlagen dafür zu schaffen, dass das<br />
anfallende Material strukturiert protokolliert und archiviert werden konnte.<br />
a) Forschungsprotokoll<br />
Das Forschungsprotokoll diente dem Zweck, eine einzelne Forschungsaktivität<br />
im Detail festzuhalten und zu beschreiben (vgl. Abbildung 37).<br />
Für jede Forschungsaktivität (Interview, teilnehmende Bebachtung,<br />
Aktionsforschungsworkshop) wurde ein separates Protokoll geschrieben. <strong>Die</strong><br />
laufenden Beobachtungen und Eindrücke wurden während den Forschungsaktivitäten<br />
in handschriftlichen Notizen festgehalten. Im Anschluss daran<br />
wurden sie in das Forschungsprotokoll übertragen und bereits mit ersten<br />
Interpretationen bzw. Hypothesen angereichert. Wenn ein Interview auf<br />
Tonband aufgenommen worden war, so wurde in Abschnitt 3 des Protokolls<br />
zusätzlich das Transkript der Tonbandaufnahme eingefügt.<br />
<strong>Die</strong> in den Forschungsprotokollen festgehaltenen Beobachtungen, Eindrücke<br />
und ersten Interpretationen waren jedoch nicht bereits das Endergebnis,<br />
sondern dienten den Forscherinnen lediglich <strong>als</strong> Ausgangsmaterial für die<br />
anschliessende Datenauswertung. Kapitel 6.1.6 beschreibt diesen<br />
Interpretationsprozess und die Ausarbeitung der Forschungsergebnisse.<br />
158
FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />
1. Eckpunkte des Forschungsereignisses<br />
Kurzer Steckbrief des Forschungsereignisses:<br />
• Kurzbezeichnung<br />
• Datum, Zeit und Ort<br />
• Name der anwesenden Personen<br />
• Name der anwesenden Forscherinnen<br />
2. Allgemeine Eindrücke/Beobachtungen<br />
Erwähnenswerte Einzelheiten, die jedoch nicht direkt mit den<br />
besprochenen Themen in Zusammenhang stehen, wie z.B.:<br />
• Kontext (Besonderheiten der Situation)<br />
• Milieu (Raum, Sitzordung)<br />
• Gesprächsdynamik (Redeanteile, Redezeiten)<br />
3. Besprochenen Themen<br />
<strong>Die</strong> besprochenen Themen wurden wie folgt protokolliert:<br />
• Inhaltliche Wiedergabe<br />
Transkript der Tonbandaufnahme. Wo keine Aufnahme möglich<br />
war, steht hier die Niederschrift der eigenen Notizen, aus der die<br />
Struktur bzw. Abfolge der Aussagen ersichtlich bleibt. Wichtige<br />
Aussagen werden möglichst im Originalwortlaut wiedergegeben.<br />
• Gemachte Beobachtungen<br />
Z.B. Interaktionen unter den <strong>Organisation</strong>smitgliedern, Emotionen,<br />
nonverbale Kommunikation etc.<br />
• Erste Interpretation<br />
Abgehoben in einer separater Textspalte bzw. in Kursivschrift, um<br />
den Interpretationsprozess transparent zu machen.<br />
4. Wichtige Erkenntnisse/Interpretationen<br />
Hier erfolgt eine erste ad-hoc-Auswertung des Forschungsereignisses:<br />
• Zusammenfassung der wichtigen Erkenntnisse bzw.<br />
Interpretationen.<br />
• Hinweise/Ideen für das weitere Vorgehen im Forschungsprozess.<br />
Abbildung 37: Struktur des Forschungsprotokolls<br />
b) Forschungsdatenbank<br />
<strong>Die</strong> Forschungsprotokolle sind ein wichtiges Element, um Struktur und<br />
Systematik in das Forschungsmaterial zu bekommen. Sie alleine genügen<br />
jedoch nicht, um während eines zweijährigen Forschungsprojekts den<br />
Überblick über den Stand und den Fortschritt des Forschungsprojekts zu<br />
behalten.<br />
159
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
Daher wurde im Rahmen des Forschungsprojekts Learning Dynamics eine<br />
Forschungsdatenbank entwickelt, in der im Sinne eines Tagebuchs genau<br />
Buch geführt wurde, wann und wo welche Forschungsaktivitäten stattgefunden<br />
haben. Für jede einzelne Forschungsaktivität gab es einen Eintrag, der das<br />
Ereignis in einem kurzen Steckbrief mit verschiedenen Merkmalen und<br />
Schlagworten skizzierte (vgl. Abbildung 38).<br />
<strong>Die</strong> oben beschriebenen Forschungsprotokolle waren selbstverständlich Teil<br />
dieser Forschungsdatenbank. Mittels Querverweisen konnten zudem die<br />
einzelnen Datenbankeinträge miteinander verknüpft werden. Umfangreiche<br />
Suchfunktionen erleichterten ausserdem den Zugriff auf die Einträge<br />
vergangener Forschungsaktivitäten.<br />
160
FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />
Abbildung 38: Eintrag in der Forschungsdatenbank<br />
161
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
6.1.6 Ausarbeitung und Plausibilisierung<br />
a) Im Rahmen des Forschungsprojekts<br />
Das Ausarbeiten der Forschungsergebnisse ist ein interpretativer Prozess. Um<br />
in diesem Prozess eine möglichst grosse Gedankenvielfalt und Interpretationsreichtum<br />
zu ermöglichen, fanden alle Forschungsaktivitäten im Forschungsfeld<br />
und die anschliessenden interpretativen Auswertungen immer zu zweit statt.<br />
<strong>Die</strong> wichtigste Herausforderung bei der Ausarbeitung der Forschungsergebnisse<br />
war es, Beobachtung und Interpretation zwar stets getrennt zu<br />
halten, aber dennoch einen Zusammenhang zwischen Beobachtung und<br />
Interpretation herzustellen, so dass jede Interpretation stets wieder<br />
zurückverfolgt werden konnte auf die Ursprungsbeobachtung. Das erleichterte<br />
nicht nur die Ausarbeitung konsistenter und transparenter Forschungsergebnisse,<br />
sondern auch deren Präsentation und Plausibilisierung im<br />
Rahmen der Aktionsforschungsworkshops.<br />
Der Interpretationsprozess im Forschungsteam entwickelte sich in drei<br />
Schlaufen:<br />
• <strong>Eine</strong> erste Interpretation erfolgte unmittelbar im Anschluss an<br />
jede Forschungsaktivität. <strong>Die</strong> Forscherinnen setzten sich<br />
zusammen und liessen in einem offenen, assoziativen Gespräch<br />
ihren Gedanken freien Lauf. Erste Eindrücke wurden verglichen<br />
und mögliche Interpretationen erwogen.<br />
• <strong>Die</strong> zweite Interpretationsschlaufe wurde beim Schreiben des<br />
Forschungsprotokolls durchlaufen. Das Schreiben eines<br />
Forschungsprotokolls nahm durchschnittlich vier bis sieben<br />
Stunden in Anspruch und ergab jeweils zehn bis fünfzehn Seiten.<br />
Während des Schreibens des Forschungsprotokolls fand eine<br />
intensive gedankliche Auseinandersetzung mit den handschriftlichen<br />
Forschungsnotizen (gegebenenfalls dem Transkript) statt.<br />
Dabei wurden erstm<strong>als</strong> theoretische Schlussfolgerungen<br />
schriftlich festgehalten (Abschnitt 4 des Protokolls). Das Protokoll<br />
wurde jeweils <strong>von</strong> der einen Forscherin erstellt und<br />
anschliessend <strong>von</strong> der anderen Forscherin ergänzt. Bei divergierenden<br />
Beobachtungen oder Interpretationen galten beide<br />
Aussagen gleichwertig und blieben mit einem kurzen Hinweis auf<br />
die Differenz nebeneinander im Protokoll stehen.<br />
162
FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />
• <strong>Eine</strong> dritte Interpretationsschlaufe wurde bei der Vorbereitung<br />
der Aktionsforschungsworkshops durchlaufen - die natürlich<br />
ihrerseits wiederum Ursprungsdaten für den Interpretationsprozess<br />
lieferten. Alle Berichte oder Workshops wurden <strong>von</strong><br />
beiden Forscherinnen gemeinsam vorbereitet und durchgeführt.<br />
<strong>Die</strong> Präsentation der Forschungsergebnisse erfolgte in jeder Phase laufend<br />
durch mehrere so genannte Feedbackveranstaltungen (vgl. Abbildung 35).<br />
Feedbackveranstaltungen waren Aktionsforschungsworkshops, an denen die<br />
vorläufigen Zwischenergebnisse denjenigen Personen im Forschungsfeld<br />
präsentiert wurden, mit denen die Forscherinnen zu diesem Zeitpunkt in<br />
Kontakt standen. <strong>Die</strong> Forschungsergebnisse wurden in den Feedbackveranstaltungen<br />
<strong>als</strong>o sozusagen an ihren Ursprung zurückgespiegelt.<br />
<strong>Eine</strong> Feedbackveranstaltung bestand in der Regel aus drei Teilen:<br />
• Präsentation der Beobachtungen (analytisch)<br />
• Präsentation der Interpretationen (diagnostisch)<br />
• Vergleich, Diskussion<br />
<strong>Die</strong> an die Präsentation anschliessende Diskussion diente einem doppelten<br />
Zweck. <strong>Eine</strong>rseits lieferte sie den Forscherinnen die mitlaufende<br />
Plausibilisierung der vorgestellten Forschungsergebnisse 146 , andererseits<br />
ermöglichte die diskursive Auseinandersetzung den Personen im<br />
Forschungsfeld eine kritische Reflexion ihres eigenen organisationalen Alltags<br />
und ihres eigenen Wissens und Handelns.<br />
Aufgrund des Zwiebelschalen-Prinzips der Präsentation der Ergebnisse stellte<br />
die Authentizität der präsentierten Beobachtungen und Interpretationen nie ein<br />
Problem dar. <strong>Die</strong> Personen im Feld hatten die Arbeit der Forscherinnen<br />
unmittelbar erlebt. <strong>Die</strong>s sicherte eine hohe Akzeptanz der präsentierten<br />
Ergebnisse - nicht im Sinne <strong>von</strong> Zustimmung, sondern im Sinne <strong>von</strong><br />
Bereitschaft, sich mit den Ergebnissen diskursiv auseinanderzusetzen.<br />
Pro Phase wurden die aufgearbeiteten und in den Feedbackveranstaltungen<br />
bereits plausibilisierten Forschungsergebnisse in einem Bericht zusammengefasst<br />
und verdichtet. <strong>Die</strong>ser Bericht wurde in einer Präsentation dem<br />
146 Zum Konzept der Plausibilisierung vgl. Abbildung 5.<br />
163
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
Sponsor und dem Gatekeeper des Forschungsprojekts vorgestellt und<br />
anschliessend ebenfalls diskutiert. <strong>Die</strong>se Diskussion stellte eine zweite,<br />
parallele Plausibilisierung der Forschungsergebnisse aus einem alternativen<br />
Blickwinkel sicher.<br />
<strong>Die</strong>se Berichte bildeten ausserdem die Grundlage für die inhaltliche und<br />
methodische Planung der nächsten Phase der Feldforschung.<br />
b) Im Rahmen der Dissertation<br />
<strong>Eine</strong> weitere umfangreiche und intensive Auseinandersetzung mit dem<br />
Forschungsmaterial erfolgte dann im Rahmen der Ausarbeitung der<br />
Dissertation. <strong>Die</strong>sen Interpretationsprozess hat jede Forscherin im Anschluss<br />
an das Forschungsprojekt selbständig durchlaufen. 147<br />
In dieser Phase der Auswertung ist das gesammelte empirische Material (vgl.<br />
Anhang B und C) am theoretischen Bezugsrahmen der Dissertation (vgl.<br />
Kapitel 5) gespiegelt worden. <strong>Die</strong> empirischen Daten wurden dahingehend<br />
untersucht, ob sich erstens in ihnen das Modell eines <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
erkennen lässt und zweitens, ob dieses empirisch konkretisierte Modell eine<br />
plausible <strong>Erklärung</strong> des in den zwei Forschungsjahren erlebten <strong>Organisation</strong>salltags<br />
zu leisten vermag. <strong>Die</strong> Ergebnisse dieses Auswertungs- und<br />
Interpretationsprozesses sind im folgenden Kapitel 7 dargestellt.<br />
<strong>Die</strong> Auswertung des empirischen Materi<strong>als</strong> ist mit Hilfe <strong>von</strong> MAXqda erfolgt,<br />
einer Software zur professionellen Analyse qualitativer Forschungsdaten. 148<br />
Sämtliche Forschungsprotokolle sind in MAXqda importiert und nach<br />
relevanten Stellen durchforstet worden. Zutreffende Fundstellen sind markiert<br />
und mit einem Verweis auf einen oder mehreren Codes aus einem eigens<br />
entwickelten Codierungsschema (vgl. Kapitel 6.2) gekennzeichnet worden. 149<br />
Daraus hat sich eine Fülle <strong>von</strong> Material ergeben (ca. 1'500 Fundstellen, inkl.<br />
Mehrfachnennungen), die anschliessend die Grundlage für die Ausarbeitung<br />
147 Das Promotionsreglement verlangt, dass die Dissertation eine selbständige wissenschaftliche<br />
Leistung ist. Aus diesem Grund wurde in der Phase der Erarbeitung der Dissertation die<br />
Teamzusammenarbeit aufgegeben.<br />
148 Bei MAXqda handelt es sich um eines der bekanntesten und am weitesten verbreiteten<br />
Programme zur qualitativen Datenanalyse im deutschsprachigen Raum. Weitere Informationen<br />
zu MAXqda sind auf der Homepage des Anbieters erhältlich: www.maxqda.de.<br />
149<br />
Zum Einsatz <strong>von</strong> Programmen zur qualitativen Datenanalyse vgl. die Einführung <strong>von</strong> Kuckartz<br />
(1999).<br />
164
165<br />
FRAGEN AN DIE PRAXIS<br />
und Interpretation des konkreten empirischen <strong>Handlungssystem</strong>s in Kapitel 8<br />
ergeben haben.<br />
Methodologisch ging es bei diesem Verarbeitungsschritt um das Erkennen <strong>von</strong><br />
Mustern bzw. sozialen Regelhaftigkeiten in den vorliegenden empirischen<br />
Daten. Doch auch wenn der Einsatz des Programms MAXqda eine grosse<br />
Unterstützung und Erleichterung für die methodisch kontrollierte Auswertung<br />
des Forschungsmateri<strong>als</strong> bedeutet, ist es letztlich immer noch die Forscherin,<br />
die die Daten analysiert und interpretiert. Der Vorgang ist eine interpretative<br />
Codierung und keine automatische, maschinelle Verarbeitung. 150<br />
<strong>Die</strong> Ergebnisse aus dieser Auswertungsphase sind wiederum zweifach<br />
plausibilisiert worden. 151 Erstens sind die Ergebnisse laufend mit dem<br />
theoretischen Bezugsrahmen (vgl. Kapitel 5) verglichen und auf Konsistenz<br />
und theoretische Plausibilität überprüft worden (theoretische Plausibilisierung).<br />
Zweitens sind die Ergebnisse dem Forschungspartner vorgelegt worden, der<br />
dazu in einem Gespräch nochm<strong>als</strong> Stellung nehmen konnte und letztlich der<br />
Veröffentlichung der Forschungsergebnisse im Rahmen der Dissertation<br />
zustimmte (praktische Plausibilisierung).<br />
6.2 Fragen an die Praxis<br />
Um die Spuren eines <strong>Handlungssystem</strong>s in der <strong>Organisation</strong>spraxis zu<br />
entdecken, braucht es Fragen, die die theoretische Suchbewegung durch<br />
diese Praxis lenken.<br />
Abgeleitet aus dem theoretischen Bezugsrahmen der Dissertation (vgl. Kapitel<br />
5) ist ein Fragenraster entwickelt worden (vgl. Abbildung 39), mit dem das<br />
gesamte empirische Material (vgl. Anhang B und C) durchforstet worden ist.<br />
Zusätzlich zu diesen Fragen wurde das empirische Material auch nach<br />
Aussagen zu folgenden zwei Bereichen untersucht (vgl. Abbildung 40):<br />
• relevante Themen im <strong>Organisation</strong>salltag<br />
• relevante Ereignisse im <strong>Organisation</strong>salltag<br />
150 Zu der Systematik der Auswertung qualitativer Interviews vgl. die Ausführungen <strong>von</strong> Witzel 1996.<br />
151 Vgl. die Plausibilisierungsmatrix in Abbildung 5.
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
Gestützt auf die beiden Fragenraster (vgl. Abbildung 39 und Abbildung 40)<br />
wurde ausserdem ein Codierungsschema entwickelt, mit dem die zutreffenden<br />
Fundstellen im empirischen Material gekennzeichnet werden konnten (vgl.<br />
Abbildung 41). Während des Codierungsprozesses ist das Codierungsschema<br />
induktiv überarbeitet worden, das heisst die Codes sind nach Bedarf ergänzt<br />
und/oder differenziert worden.<br />
166
Suche nach Strukturmodalitäten<br />
167<br />
FRAGEN AN DIE PRAXIS<br />
• Gibt es interpretative Schematas, auf die typischerweise immer wieder und in<br />
unterschiedlichsten Situationen Bezug genommen wird?<br />
• Gibt es Normen, auf die typischerweise immer wieder und in unterschiedlichsten<br />
Situationen Bezug genommen wird?<br />
• Gibt es Ressourcen, die typischerweise immer wieder und in<br />
unterschiedlichsten Situationen eingesetzt werden?<br />
• Welche ermöglichenden Wirkungen der Strukturmodalitäten sind erkennbar?<br />
• Welche restringierenden Wirkungen der Strukturmodalitäten sind erkennbar?<br />
Suche nach Bezugsfähigkeiten<br />
• Sind (Re-)Konstruktionsfähigkeiten erkennbar, die typischerweise immer<br />
wieder und in unterschiedlichsten Situationen eingesetzt werden?<br />
• Sind Routinisierungsfähigkeiten erkennbar, die typischerweise immer wieder<br />
und in unterschiedlichsten Situationen eingesetzt werden?<br />
• Sind Rationalisierungsfähigkeiten erkennbar, die typischerweise immer wieder<br />
und in unterschiedlichsten Situationen eingesetzt werden?<br />
• Welche positiven Wirkungen der Bezugsfähigkeiten sind erkennbar?<br />
• Welche negativen Wirkungen der Bezugsfähigkeiten sind erkennbar?<br />
Suche nach Verhandlungsprozessen<br />
• Gibt es erkennbare, typischerweise immer wieder nach dem gleichen Muster<br />
ablaufende Sensemaking-Zyklen (kognitive Prozesse)?<br />
• Gibt es erkennbare, typischerweise immer wieder nach dem gleichen Muster<br />
ablaufende Sensegiving-Zyklen (politische Prozesse)?<br />
• Gibt es soziale Praktiken, die sich typischerweise im <strong>Organisation</strong>salltag in den<br />
unterschiedlichsten Situationen immer wieder wiederholen?<br />
Dialectic of Control des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
• Welche Dynamiken bzw. Spannungen sind erkennbar im <strong>Handlungssystem</strong>?<br />
• In welchen Kreisläufen stabilisiert sich das <strong>Handlungssystem</strong>?<br />
Entwicklung des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
• Sind Veränderungen bzw. Entwicklungstendenzen des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
erkennbar?<br />
• Welche Ereignisse bzw. Interventionen haben diese Veränderungen initiiert?<br />
Abbildung 39: Fragenraster zum theoretischen Bezugsrahmen
DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />
Relevante Themen<br />
• Gibt es Themen, die in der sozialen Kommunikation und Interaktion innerhalb<br />
der <strong>Organisation</strong> immer wieder auftauchen? Wie nehmen die <strong>Organisation</strong>smitglieder<br />
darauf Bezug?<br />
• Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Themen? Wie nehmen die<br />
<strong>Organisation</strong>smitglieder diesen wahr?<br />
Relevante Ereignisse<br />
• Welches sind gegenwärtig die wichtigsten Ereignisse bzw. Projekte im<br />
<strong>Organisation</strong>salltag <strong>von</strong> Helvetia Patria? Wie nehmen die <strong>Organisation</strong>smitglieder<br />
darauf Bezug?<br />
• Welches sind die wichtigsten Ereignisse bzw. Projekte in der Vergangenheit<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria? Wie nehmen die <strong>Organisation</strong>smitglieder darauf Bezug?<br />
• Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen bzw. Projekten?<br />
Wie nehmen die <strong>Organisation</strong>smitglieder diesen wahr?<br />
Abbildung 40: Fragenraster zu relevanten Themen und Ereignissen<br />
Abbildung 41: Codierschema zur Auswertung des empirischen Materi<strong>als</strong><br />
168
169<br />
FRAGEN AN DIE PRAXIS<br />
<strong>Eine</strong> relevante Fundstelle konnte beliebig vielen einzelnen Codes aus dem<br />
Codierungsschema zugeordnet werden. Nach der vollständigen Auswertung<br />
des empirischen Material ergab sich eine Menge <strong>von</strong> rund 1'500 Fundstellen<br />
(inkl. Mehrfachnennungen). <strong>Die</strong>se Textpassagen bildeten dann die Grundlage<br />
für die Ausarbeitung und Interpretation der theoretischen Erkenntnisse (vgl.<br />
Kapitel 8).
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
7 DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
Bevor im folgenden Kapitel 8 das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
beschrieben werden kann, muss hier im Kapitel 7 zuerst der externe und<br />
interne Kontext dieses <strong>Handlungssystem</strong>s vorgestellt werden, denn die<br />
Entstehung und Entwicklung eines <strong>Handlungssystem</strong>s kann nicht unabhängig<br />
<strong>von</strong> dessen Kontext verstanden werden.<br />
7.1 Externer Kontext:<br />
<strong>Die</strong> Versicherungsbranche 152<br />
<strong>Die</strong> Versicherungsbranche ist der relevante externe Kontext <strong>von</strong> Helvetia<br />
Patria. <strong>Die</strong> Branche war in den letzten Jahrzehnten aufgrund der rechtlichen<br />
Deregulierung einer markanten Veränderungsdynamik ausgesetzt. 153 <strong>Die</strong><br />
Deregulierung betrifft jedoch nicht nur die wirtschaftlichen Faktoren des<br />
Versicherungsmarkts. Auch das Selbstverständnis der Versicherer ist unter<br />
dem Einfluss der Deregulierung in Bewegung gekommen. Das traditionelle<br />
Bild der sozialen Gefahrengemeinschaft verblasst zunehmend. <strong>Eine</strong> neue<br />
Versicherungsidentität entsteht.<br />
7.1.1 Versicherungen <strong>als</strong> Gefahrengemeinschaft<br />
Bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts basierten Versicherungen auf dem<br />
Konzept der Gefahrengemeinschaft, das heisst einem persönlichen<br />
Beziehungsgeflecht zwischen Versicherten und darauf aufbauend<br />
unmittelbarer, gegenseitiger Unterstützung. 154 <strong>Die</strong>ser solidarische Grundzug<br />
bzw. ethische Wert <strong>von</strong> Versicherungen wies ihnen eine besondere Stellung in<br />
der Gesellschaft zu. <strong>Die</strong> Gefahrengemeinschaft galt <strong>als</strong> „normative Ordnung<br />
dessen, was man sich gegenseitig schuldig ist“. (Haller/Petin 1994, S. 116)<br />
Versicherungsgesellschaften galten deshalb für den Staat <strong>als</strong> schützenswerte<br />
Institution und er regulierte den Versicherungsmarkt weitestgehend (vgl.<br />
152<br />
Kapitel 7.1 stützt sich auf ein Arbeitspapier des Forschungsprojekts Learning Dynamics<br />
(Mühlbach/Schütz 2001).<br />
153<br />
<strong>Die</strong> Details zur Deregulierung der Versicherungsbranche finden sich in Anhang D. Dort werden<br />
die kulturellen Veränderungen beschrieben, die mit der Deregulierung einhergegangen sind.<br />
154<br />
Für eine ausführliche Auseinandersetzung zum Thema der Gefahrengemeinschaft siehe<br />
Pachlatko (1984, 1988).<br />
170
EXTERNER KONTEXT: DIE VERSICHERUNGSBRANCHE<br />
Anhang D, Kapitel D.2). Der Versicherungsmarkt zeichnete sich allerdings<br />
nicht nur durch eine strenge Fremdregulierung aus, sondern auch durch eine<br />
umfassende Selbstregulierung durch Kartelle und kartellähnliche <strong>Organisation</strong>en.<br />
<strong>Die</strong>se strenge Fremd- und Selbstreglementierung verlieh der<br />
Assekuranz eine Sonderstellung, was zu einer weitgehenden Abkoppelung der<br />
Assekuranz <strong>von</strong> der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung führte.<br />
<strong>Die</strong> Versicherer selbst sahen sich „nicht <strong>als</strong> Unternehmer und Gestalter <strong>von</strong><br />
Leistungen für den Markt, sondern eher <strong>als</strong> jene Instanz, welche mit<br />
<strong>Organisation</strong> und Verwaltung der Gefahren- und Risikogemeinschaft<br />
beauftragt ist“. (Haller 1988, S. 561) <strong>Die</strong>ses Selbstverständnis spiegelte sich in<br />
den Denkmustern der Versicherungsbranche wider, welche durch eine starke<br />
Innensicht, Sicherheitsgedanken und Vergangenheitsorientierung geprägt<br />
waren. Aus dieser Denkhaltung entstanden <strong>Organisation</strong>sstrukturen, welche<br />
„hierarchisch, zentralistisch, spartenorientiert, mit der Machtverteilung<br />
zwischen Vertriebs- und Sparten-‚Fürsten‘, stabil, langfristig angelegt und<br />
integriert“ (vgl. Köhne/Koch 1999, S. 32) waren. Denken und Handeln in der<br />
Assekuranz waren vorrangig auf Hierarchien und Organigramme beschränkt.<br />
<strong>Die</strong> Regulierung und Kartellierung des Versicherungsmarkts hat die<br />
Handlungsfreiheit der einzelnen Versicherungsgesellschaft aber nicht nur<br />
eingeschränkt, sondern auch erhöht. Zwar verzichteten die Versicherer auf<br />
eine autarke Preis- und Produktpolitik - aber dafür konnte im Schosse des<br />
Kartells „jede noch so kleine Gesellschaft überall alles anbieten“. (Frei 1993,<br />
S. 473)<br />
7.1.2 Auf der Suche nach einem neuen<br />
Selbstverständnis<br />
<strong>Die</strong> Deregulierung - in Verbindung mit einem enormen Wachstumsschub 155 -<br />
hat eine „säkulare“ (Haller/Maas 1997, S. 292) Entwicklung in der Assekuranz<br />
ausgelöst, die sich stark auf das ursprüngliche Sinnbild der Gefahrengemeinschaft<br />
der Assekuranz ausgewirkt:<br />
155<br />
Vgl. hierzu die Zahlen zur Prämien-Entwicklung im Versicherungsmarkt Schweiz in Kapitel<br />
7.2.1.1.<br />
171
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
• <strong>Die</strong> Versicherung hat sich vom Instrument des solidarischen<br />
Ausgleichs <strong>von</strong> Existenzrisiken zum Instrument der individuellen<br />
Wohlstandssicherung gewandelt.<br />
• <strong>Die</strong> soziale Gefahrengemeinschaft hat sich allmählich aufgelöst<br />
und ist durch einen nüchternen Geschäftsprozess der Risikotransformation<br />
ersetzt worden.<br />
• Das traditionelle Produktverständnis der Assekuranz ist überholt<br />
(vgl. Anhang D, Kapitel D.1), und mit dem Trend zur Allfinanz<br />
verschwimmen die Branchengrenzen zwischen Versicherungen<br />
und Banken zunehmend.<br />
<strong>Die</strong> traditionelle Branchenlogik der Assekuranz, die sich im Schutze der<br />
Regulierung und Kartellierung entwickelt hat, ist darob in Bewegung geraten.<br />
Immer mehr verabschiedet sich die Assekuranz <strong>von</strong> der für sie typisch<br />
gewordenen Versicherungslogik und nähert sich der Marktlogik unregulierter<br />
Wirtschaftszweige (vgl. Abbildung 42).<br />
Versicherungslogik<br />
Versicherung <strong>als</strong> etwas Besonderes<br />
Orientierung am Kartell/Verband<br />
Verwalter<br />
Fachkenntnisse<br />
Ethische Grundkomponente<br />
Statisch<br />
Frieden<br />
Wachstum/Produktion<br />
Solidarisch-Integrierend<br />
Identifikation mit der Branche<br />
Sachorientierung<br />
Kontinuität<br />
Sicherheit<br />
Rücksicht<br />
156 Vgl. Haller/Maas 1995.<br />
172<br />
Wirtschaftslogik<br />
Versicherung <strong>als</strong> Wirtschaftsunternehmen<br />
Orientierung an Kosten/Nutzen<br />
Unternehmer<br />
Führungskenntnisse<br />
Wirtschaftliches Interesse<br />
Dynamisch<br />
Kampf<br />
ROE/Gewinn<br />
Differenzierend<br />
Identifikation mit dem Unternehmen<br />
Machtorientierung<br />
Innovation<br />
Unternehmer-Risiko<br />
Handeln „Do it!“<br />
Abbildung 42: Versicherungslogik versus Wirtschaftslogik 156
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
<strong>Die</strong>ser Prozess hat eben erst angefangen und wird selbstverständlich noch<br />
einige Jahre dauern. Doch es ist klar, dass dieser Prozess einen<br />
fundamentalen Wandel im Selbstverständnis der Assekuranz impliziert. <strong>Die</strong><br />
eigene Rolle des Versicherungsunternehmens am Markt muss neu gefunden<br />
und definiert werden.<br />
Für das Management einer Versicherung bedeutet dies, dass eine<br />
strategische Neuausrichtung und Positionierung am Markt unabdingbar ist, um<br />
den gezielten Ressourceneinsatz und eine klare Marktorientierung sicher zu<br />
stellen. Das verlangt eine „Neuausrichtung der strategischen Tools<br />
(Kernkompetenzen), der organisatorischen Koppelungsmuster (Prozesse,<br />
Netzwerke) und der kulturellen Orientierung (Identitätsstiftung)“. (Maas 1996,<br />
S. 155)<br />
<strong>Die</strong> aktuellen und zukünftigen Veränderungen stellen für die Versicherungsgesellschaften<br />
eine grosse Herausforderung nicht nur inhaltlicher, sondern vor<br />
allem auch führungsmässiger Natur dar. Es liegt auf der Hand, dass die<br />
Versicherer aufgrund der starken Selbst- und Fremdregulierung in der<br />
Vergangenheit wenig Erfahrungen mit dem erfolgreichen Umgang mit<br />
Veränderungsprozessen sammeln konnten (vgl. Haller/Maas 1995). Zugleich<br />
hat sich der Versicherungsmarkt aufgrund der Deregulierung und Wachstumsdynamik<br />
in einem derartigen Ausmass beschleunigt, dass die Unternehmen im<br />
Inneren mit dieser äusseren Entwicklung kaum Schritt halten konnten.<br />
Solange dieses Ungleichgewicht besteht, werden jegliche Veränderungsprozesse<br />
zu einem unternehmerischen Risiko, zu einer Bedrohung für die<br />
Ausgewogenheit und Stabilität des Unternehmens und der Branche.<br />
7.2 Interner Kontext:<br />
Firmenprofil <strong>von</strong> Helvetia Patria 157<br />
<strong>Die</strong> Helvetia Patria Schweiz hat ihren Sitz in Basel und betreibt das<br />
Versicherungsgeschäft auf dem Heimmarkt der international tätigen Helvetia<br />
Patria Gruppe mit Sitz in St. Gallen. <strong>Die</strong>se Gruppe entstand 1992 aus dem<br />
schrittweisen Zusammenschluss der Lebens-Versicherungsgesellschaft Patria<br />
157<br />
Kapitel 7.2 stützt sich auf ein Arbeitspapier des Forschungsprojekts Learning Dynamics<br />
(Mühlbach/Schütz 2001).<br />
173
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
mit Sitz in Basel und der Nichtlebens-Versicherungsgesellschaft Helvetia mit<br />
Sitz in St. Gallen (vgl. Kapitel 7.2.3). 158<br />
Seit 1996 ist die Helvetia Patria Gruppe in einer Holdinggesellschaft<br />
organisiert (vgl. Abbildung 43). Der Dachgesellschaft Helvetia Patria Holding<br />
gehören direkt und indirekt die beiden Aktiengesellschaften Patria und<br />
Helvetia. <strong>Die</strong> Holding-Namenaktien sind seit dem 5. Juli 1996 an der<br />
Schweizer Börse kotiert. Grösste Einzelaktionärin der Versicherungsgruppe ist<br />
die Patria Genossenschaft mit einem Anteil <strong>von</strong> 38,9 Prozent (Stand Ende<br />
2001).<br />
Patria<br />
Genossenschaft<br />
Patria<br />
Leben AG<br />
39 % 61 %<br />
Helvetia Patria<br />
Holding<br />
100 % 75 %<br />
25 %<br />
174<br />
übrige<br />
Aktionäre<br />
Helvetia<br />
Versicherungen AG<br />
Abbildung 43: Rechtsstruktur der Helvetia Patria Gruppe<br />
<strong>Die</strong> Helvetia Patria Schweiz besitzt selbst keine eigenständige juristische<br />
Rechtspersönlichkeit, sondern ist der führungsmässige und organisatorische<br />
Zusammenschluss der beiden Gesellschaften Patria Leben AG und Helvetia<br />
Versicherungen AG.<br />
Im Folgenden werden die zahlenmässigen Eckwerte des Schweizer<br />
Versicherungsmarkts, der Helvetia Patria Gruppe und der Helvetia Patria<br />
Schweiz aufgezeigt, gefolgt <strong>von</strong> der Darstellung der strategischen Ausrichtung<br />
der Helvetia Patria Schweiz. Abschliessend wird die Firmenchronologie der<br />
Helvetia Patria Schweiz anhand der wichtigsten Ereignisse beschrieben.<br />
158 Sofern in der vorliegenden Dissertation <strong>von</strong> Helvetia Patria die Rede ist, so ist damit Helvetia<br />
Patria Schweiz gemeint. Sofern auf die Helvetia Patria Gruppe Bezug genommen wird, so wird<br />
das explizit verdeutlicht.
7.2.1 Zahlenmässige Eckwerte<br />
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
7.2.1.1 Eckwerte des Schweizer<br />
Versicherungsmarkts<br />
<strong>Die</strong> Schweiz besitzt im internationalen Vergleich die höchste<br />
Versicherungsdichte. 159 Weiter ist typisch für die Schweiz, dass die<br />
Versicherungssparten Leben und Nichtleben gemäss dem Versicherungsaufsichtsgesetz<br />
(VAG) in getrennten Rechtspersönlichkeiten zu halten sind. Es ist<br />
somit aus rechtlichen Gründen in der Schweiz nicht möglich, eine Allbranchen-<br />
Versicherungsgesellschaft zu gründen. <strong>Die</strong>ser Umstand führt dazu, dass in der<br />
Schweiz die Versicherungsgesellschaften häufig in einer Holding-Struktur<br />
organisiert sind, die es der Versicherungsgesellschaft erlaubt, <strong>als</strong> Allbranchenversicherer<br />
am Markt aufzutreten (vgl. Abbildung 43). 160<br />
Das Total des Prämienaufkommens im Schweizer Versicherungsmarkt hat<br />
sich zwischen 1970 und 1995 um 760 % erhöht, 161 und ist bis 2000 nochm<strong>als</strong><br />
um 23 % <strong>von</strong> 37,8 Mrd. CHF auf 46,6 Mrd. CHF angestiegen. 162 Der Vergleich<br />
mit dem Bruttoinlandprodukt (BIP), das sich im Zeitraum <strong>von</strong> 1970 bis 1995<br />
um knapp 300 % erhöhte, zeigt die enorme und weitaus überdurchschnittliche<br />
Wachstumsdynamik des Versicherungsmarkts in den letzten drei Jahrzehnten.<br />
163<br />
Im Jahr 2000 verteilte sich das Prämienaufkommen im Schweizer Markt auf<br />
folgende Hauptbranchen (vgl. Abbildung 44):<br />
159 <strong>Die</strong> Versicherungsdichte beschreibt den Betrag, der pro Einwohner und Land für Versicherungsprämien<br />
ausgegeben wird. In der Schweiz belief sich dieser Betrag im Jahre 1999 auf USD<br />
4’643. 62 % da<strong>von</strong> wurden für Lebensversicherungen aufgewendet. Gefolgt wird die Schweiz im<br />
internationalen Vergleich der Versicherungsdichte <strong>von</strong> Japan (USD 3’909 mit 79% Anteil<br />
Lebensversicherungen), Grossbritannien (USD 3’244 mit 77% Anteil Lebensversicherungen) und<br />
den USA (USD 2’921 mit 50% Anteil Lebensversicherungen) (vgl. SVV 2001b, S. 11).<br />
160<br />
Vgl. Kuhn (1999) für Ausführungen über verschiedene Rechtsformen zur Betreibung <strong>von</strong> Allfinanz<br />
in der Schweiz.<br />
161<br />
Nicht eingerechnet ist hierbei die Teuerung, welche im Zeitraum 1970-1995 160% betrug.<br />
162 Vgl. SVV 2001a, S. 63 und SVV 2001b, S. 5.<br />
163 Vgl. Bär 1997, S. 378f.<br />
175
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
Hauptbranchen<br />
176<br />
Jahr 2000<br />
in Mrd. CHF in %<br />
Leben 32,1 66,3<br />
Nichtleben 14,5 30,0<br />
Rückversicherung 1,8 3,7<br />
Total 48,4 100,0<br />
Abbildung 44: Prämien nach Hauptbranchen Versicherungsmarkt Schweiz 164<br />
Beobachtet über einen Zeitraum <strong>von</strong> 25 Jahren lässt sich im Prämienaufkommen<br />
eine Verschiebung innerhalb der Hauptbranchen vom Nichtleben-<br />
hin zum Lebengeschäft verzeichnen. Belief sich der Anteil Lebengeschäft am<br />
Prämientotal 1975 noch auf 44 %, so stieg er 1983 auf 51 % und betrug im<br />
Jahr 2000 schliesslich 66 %. 165<br />
Nicht nur die Wachstumsdynamik, auch der Konzentrationsprozess fällt für<br />
Leben- und Nichtlebengeschäft unterschiedlich aus (vgl. Abbildung 45)<br />
Marktkonzentration 1970 1995<br />
Leben<br />
Marktanteil Top Drei 56 % 60 %<br />
Marktanteil Top Sechs<br />
Nichtleben<br />
80 % 81 %<br />
Marktanteil Top Drei 42 % 52 %<br />
Marktanteil Top Sechs 65 % 78 %<br />
Abbildung 45: Konzentration im Schweizer Versicherungsmarkt<br />
Im Vergleich zum Nichtlebengeschäft läuft der Konzentrationsprozess im<br />
Lebengeschäft langsamer ab. 166 Mit einem Konzentrationsgrad im Leben-<br />
164 Vgl. SVV 2001b, S. 5.<br />
165 Vgl. Bär 1997, S. 379f.<br />
166 Es gilt jedoch zu betonen, dass der Konzentrationsgrad im Lebengeschäft bereits vor 25 Jahren<br />
im Vergleich zu den grossen europäischen Versicherungsländern sehr hoch war.
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
geschäft <strong>von</strong> 81 % und im Nichtlebengeschäft <strong>von</strong> 78 % nimmt die Schweiz<br />
europaweit einen Spitzenrang ein. 167<br />
7.2.1.2 Eckwerte der Helvetia Patria Gruppe<br />
<strong>Die</strong> Helvetia Patria Gruppe konzentriert ihre geographische Präsenz auf drei<br />
Kernmärkte (Schweiz, Deutschland und Österreich), zwei Aufbaumärkte<br />
(Italien und Spanien), sowie auf die beiden Spezialgeschäfte<br />
Transportversicherungen (Frankreich) und aktive Rückversicherung (weltweit).<br />
Das Prämienvolumen der Helvetia Patria Gruppe hat in den letzten Jahren um<br />
22 % zugenommen (vgl. Abbildung 46) und liegt damit knapp unter dem<br />
durchschnittlichen Wachstum des Schweizer Markts.<br />
Mit einem Anteil am Gesamtprämienvolumen <strong>von</strong> knapp 59 % im Jahr 2001 ist<br />
die Schweiz grösster Ländermarkt der Helvetia Patria Gruppe. <strong>Die</strong>ser Anteil<br />
hat sich seit 1997 stetig verringert. 2001 hat die Schweiz jedoch erstm<strong>als</strong><br />
wieder einen Anteilszuwachs verzeichnen können. 168<br />
Prämienvolumen<br />
(in Mio. CHF)<br />
1997 1998 1999 2000 2001<br />
Gruppe 3 768,5 4 032,6 4 112,8 4 351,8 4 606,3<br />
Schweiz 2 260,4 2 329,0 2 349,9 2 430,6 2 704,7<br />
Anteil Schweiz in % 60,0 57,8 57,1 55,8 58,7<br />
Abbildung 46: Entwicklung Prämienvolumen Helvetia Patria Gruppe und Schweiz<br />
In der Helvetia Patria Gruppe waren im Jahre 2001 insgesamt 4'789<br />
Mitarbeitende beschäftigt (vgl. Abbildung 47). Über die vergangenen fünf<br />
Jahre ist die Anzahl der Beschäftigten weitgehend konstant geblieben. Der<br />
Anteil der Mitarbeitenden im Markt Schweiz hat sich hingegen absolut und<br />
prozentual seit 1997 verringert.<br />
167 Vgl. Bär 1997, S. 286.<br />
168 Mit knapp 59 % ist der Anteil des Schweizer Geschäfts am Gruppenumsatz relativ hoch. Im<br />
nationalen Vergleich beträgt bei den Versicherungsgruppen der Anteil des Schweizer Geschäfts<br />
durchschnittlich nur 33 %.<br />
177
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
Beschäftigte 1997 1998 1999 2000 2001<br />
Gruppe 4 693 4 809 4 819 5 022 4 789<br />
Schweiz 2 669 2 528 2 535 2 416 2 202<br />
Anteil Schweiz in % 48,0 52,6 52,6 48,1 46,0<br />
Abbildung 47: Entwicklung Beschäftigungszahlen Helvetia Patria Gruppe und Schweiz<br />
7.2.1.3 Eckwerte der Helvetia Patria Schweiz<br />
Das Prämienvolumen der Helvetia Patria Schweiz hat über einen Zeitraum <strong>von</strong><br />
fünf Jahren knapp 20 % zugenommen und liegt damit unterhalb des<br />
durchschnittlichen Marktwachstum in diesem Zeitraum (vgl. Kapitel 7.2.1.1).<br />
Das Prämienvolumen der Schweiz verteilt sich auf die beiden Hauptbranchen<br />
Leben und Nichtleben (vgl. Abbildung 48). <strong>Die</strong> Lebenquote der Helvetia Patria<br />
Schweiz hat über die vergangenen fünf Jahr kontinuierlich zugenommen und<br />
liegt nun mit rund 80 % deutlich über dem Marktdurchschnitt <strong>von</strong> 66,3%.<br />
Prämienvolumen<br />
in Mio. CHF (bzw. in %)<br />
1997 1998 1999 2000 2001<br />
Leben 1 703,0 (75) 1 786,9 (77) 1 822,4 (78) 1 900,9 (78) 2 171,0 (80)<br />
Nichtleben 557,4 (25) 542,1 (23) 527,5 (22) 529,7 (22) 533,7 (20)<br />
Total 2 260,4 2 329,0 2 349,9 2 430,6 2 704,7<br />
Abbildung 48: Prämien nach Hauptbranchen Helvetia Patria Schweiz<br />
Das Leben-Geschäft teilt sich in der Helvetia Patria Schweiz in die drei<br />
Bereiche Einzelleben, Kollektivleben und Anteilsgebundene Lebensversicherungen<br />
auf, wobei der Anteil Kollektivleben in den letzten Jahren<br />
kontinuierlich zugenommen hat (vgl. Abbildung 49).<br />
Das Nichtleben-Geschäft der Helvetia Paria Schweiz teilt sich in die Branchen<br />
Sach, Transport, Motorfahrzeug und Haftpflicht auf (vgl. Abbildung 50). Das<br />
Unfall/Krankengeschäft wurde Ende 1997 an die Helsana Krankenkasse<br />
abgetreten. <strong>Die</strong> Aufteilung des Prämienvolumens auf die übrigen Branchen ist<br />
in den vergangen Jahren relativ stabil geblieben. Das Nichtleben-Prämienvolumen<br />
insgesamt hat über den aufgezeigten Zeitraum jedoch einen<br />
Rückgang <strong>von</strong> 4,3 % zu verbuchen.<br />
178
Prämienvolumen Leben<br />
in Mio. CHF ( bzw. in %)<br />
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
1997 1998 1999 2000 2001<br />
Einzelleben 734,8 (43) 800,7 (45) 630,1 (35) 568,5 (30) 689,3 (32)<br />
Kollektivleben 968,2 (57) 986,2 (55) 1 116,2 (61) 1 245,8 (66) 1 387,4 (64)<br />
Anteilgebunden 0 (0) 0 (0) 76,1 (4) 86,6 (4) 94,3 (4)<br />
Total 1 703,0 1 786,9 1 822,4 1 900,9 2 171,0<br />
Abbildung 49: Verteilung Leben-Prämien Helvetia Patria Schweiz<br />
Prämienvolumen Nichtleben<br />
in Mio. CHF (bzw. in %)<br />
1997 1998 1999 2000 2001<br />
Sach 346,9 (62) 335,7 (62) 325,7 (62) 315,8 (60) 314,8 (59)<br />
Transport 30,3 (5) 26,3 (5) 22,9 (4) 24,2 (5) 24,2 (5)<br />
Motorfahrzeug 121,3 (22) 124,1 (23) 122,3 (23) 129,1 (24) 130,5 (24)<br />
Haftpflicht 55,0 (10) 56,0 (10) 56,6 (11) 60,6 (11) 64,2 (12)<br />
Unfall/Kranken 3,9 (1) 0,0 (0) 0,0 (0) 0,0 (0) 0,0 (0)<br />
Total 557,4 542,1 527,5 529,7 533,7<br />
Abbildung 50: Verteilung der Nichtleben-Prämien Helvetia Patria Schweiz<br />
7.2.2 Leitbild und Strategie<br />
<strong>Die</strong> Vision der Helvetia Patria Gruppe lautet: „Gemeinsam erfolgreich!“.<br />
Oberste strategische Richtschnur für die gesamte Tätigkeit <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
Schweiz ist das Leitbild der Gruppe, in welchem die wichtigsten unternehmerischen<br />
Leitmotive festgehalten sind. Es wurde 1995 entwickelt und umfasst<br />
zentrale Geschäftsaussagen zu den vier Anspruchsgruppen Kunden,<br />
Kapitalgeber, Mitarbeitende und Umwelt.<br />
<strong>Die</strong> strategische Zielsetzung wird im Leitbild wie folgt umschrieben:<br />
• „Wir wollen <strong>als</strong> dynamischer Anbieter <strong>von</strong> erstklassigen<br />
Versicherungs- und Finanzdienstleistungen gelten.“<br />
• „Wir wollen bekannt sein für hohe Qualität und persönlichen<br />
Service.“<br />
179
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
• „Wir wollen die Bedürfnisse unserer Kunden nach Wertzuwachs,<br />
Werterhalt und Risikoschutz einwandfrei, rasch und innovativ<br />
befriedigen.“<br />
• „Wir wollen langfristig den <strong>Die</strong>nstleistungswert für unsere<br />
Kunden steigern, den Substanz- und Ertragswert für unsere<br />
Kapitalgeber mehren und den Stellenwert für unsere<br />
Mitarbeitenden erhöhen.“<br />
<strong>Die</strong> strategischen Ziele sollen gemäss Leitbild erreicht werden durch die<br />
Orientierung an fünf Schlüsselqualifikationen, welche zum gemeinsamen<br />
Erfolg beitragen:<br />
• „Persönlichkeit:<br />
Wir handeln ehrlich, fair, beharrlich und verlässlich.“<br />
• „Power:<br />
Wir sind dynamisch, innovativ und wettbewerbsbewusst.“<br />
• „Führung:<br />
Wir fördern Kreativität und Eigeninitiative und arbeiten<br />
gemeinsam auf ein Ziel hin.“<br />
• „Kommunikation:<br />
Wir sind offen für Veränderungen, können zuhören und uns für<br />
gute Lösungen begeistern.“<br />
• „Handwerk:<br />
Wir führen unsere Aufgaben unkompliziert, schnell und sachkundig<br />
aus.“<br />
Auf der Basis des Leitbilds und strategischer Eckwerte der Gruppe wird die<br />
Strategie der Helvetia Patria Schweiz entwickelt. <strong>Die</strong> strategische Planung<br />
erfolgt dabei jährlich rollierend auf fünf Jahre hinaus. <strong>Die</strong> erste Strategie der<br />
neu formierten Helvetia Patria Schweiz wurde 1995/96 entwickelt und reichte<br />
bis in das Jahr 2001. 169 <strong>Die</strong> während des zweijährigen Forschungsprojekts<br />
gültige Strategie reichte <strong>von</strong> 1999 bis 2004. 170 Ihr zentraler Leitsatz lautet: „Wir<br />
169<br />
<strong>Die</strong>se Strategie wird <strong>von</strong> den Mitarbeitenden gelegentlich <strong>als</strong> „Tempo-Strategie“ bezeichnet, in<br />
Anlehnung an den Namen des Fusionsprojekts (vgl. Kapitel 7.2.3).<br />
170<br />
Genannt Strategie 99-04.<br />
180
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
denken und handeln unkompliziert, beweglich, fortschrittlich, denn: Wir sind<br />
die clevere Alternative.“<br />
Als strategische Erfolgspotenziale werden in der Strategie 99-04 die folgenden<br />
Punkte aufgezählt (vgl. Abbildung 51):<br />
• fachliche und soziale Kompetenz<br />
der Mitarbeitenden<br />
• Marktkenntnisse<br />
• Kunden-informationen<br />
• zielgerichtete Produkt- und<br />
<strong>Die</strong>nstleistungsentwicklung<br />
• Kundenbindung<br />
181<br />
• ertragsorientierter<br />
Ressourceneinsatz<br />
• effiziente Prozesse<br />
• neue Technologien<br />
• mehrere Marktzugänge<br />
• Kooperationen<br />
• Kapitalkraft und Kapitalerträge<br />
Abbildung 51: Strategische Erfolgspotenziale Helvetia Patria Schweiz<br />
Im Strategiezyklus 99-04 hat sich Helvetia Patria Schweiz die folgenden<br />
strategischen Ziele gesetzt (vgl. Abbildung 52): 171<br />
Marktanteil Ertrag<br />
Kollektivleben � �<br />
Einzelleben � �<br />
Nichtleben Privatkunden � �<br />
Nichtleben Grosskunden � �<br />
Abbildung 52: Strategische Stossrichtung der Helvetia Patria Schweiz<br />
171<br />
Dabei steht ein nach oben zeigender Pfeil für Marktanteil bzw. Ertrag erhöhen, ein waagrechter<br />
Pfeil für Ertrag halten.
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
<strong>Die</strong> strategische Zielerreichung wird durch die Setzung folgender<br />
Investitionsschwerpunkte unterstützt: Personalentwicklung, technologische<br />
Entwicklung, Einstieg ins e-Business und Kooperationspartner.<br />
7.2.3 Chronologie der Firmenentwicklung<br />
Als strategische Antwort auf die Deregulierung und die Verschärfung des<br />
Wettbewerbs gaben am 6. April 1992 die Helvetia Versicherungen (Aktiengesellschaft)<br />
und die Patria Leben (Genossenschaft) ihre Absicht zur Bildung<br />
einer strategischen Allianz bekannt. Ziel dieser Allianz war es, mit zwei sich<br />
ideal ergänzenden Gesellschaften (Helvetia im Nichtleben- und Patria im<br />
Lebenbereich) eine Verstärkung der gemeinsamen Wettbewerbsposition zu<br />
erreichen, verbunden mit einer entscheidenden Senkung der Kosten. Noch im<br />
gleichen Jahr, am 30. September 1992, kam es zur Unterzeichnung des<br />
Kooperationsvertrags.<br />
Ab dem 1. Januar 1993 arbeiteten die beiden Partner eng zusammen. Jede<br />
Gesellschaft konzentrierte sich dabei auf ihr angestammtes Kerngeschäft.<br />
Über Cross-Selling vertrieben beide Aussendienste exklusiv auch die Produkte<br />
des Partners. Gleichzeitig wurden mit dem Projekt SABA (vgl. Kapitel 7.2.3.1)<br />
in alle <strong>Organisation</strong>sbereiche mögliche Synergiepotenziale identifiziert und<br />
ausgeschöpft.<br />
Im Dezember 1993 beschlossen beide Unternehmen eine Vertiefung der<br />
Zusammenarbeit. <strong>Eine</strong> gemeinsame Geschäftsleitung nahm per 1. Januar<br />
1994 ihre Arbeit auf und ab 1. März 1994 trat eine neue gemeinsame Aufbauorganisation<br />
in Kraft. Ab September 1994 traten beide Gesellschaften unter<br />
dem Namen Helvetia Patria mit einem einheitlichen grafischen Erscheinungsbild<br />
auf, jedoch unter Weiterführung der beiden eigenständigen Marken- und<br />
Firmenbezeichnungen Helvetia und Patria. Im März 1995 wurde das neue<br />
Leitbild der Helvetia Patria eingeführt.<br />
Ende April 1995 beschlossen die Verwaltungsräte beider Gesellschaften ihren<br />
Gesellschaftsorganen die Umwandlung in eine neue Rechtsstruktur zu<br />
empfehlen. Beide Unternehmen sollten <strong>als</strong> gleichberechtigte Partner unter<br />
eine gemeinsame Dachgesellschaft - der Helvetia Patria Holding - zusammengeführt<br />
werden. Mit der neuen Rechtsstruktur sollte die bisherige erfolgreiche<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit auf entsprechende juristische und dauerhafte<br />
Grundlagen gestellt werden und Klarheit in der Rechtsform, in den finanziellen<br />
Beziehungen und in der Führung geschaffen werden. Beide Partner<br />
182
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
bekannten sich damit nach innen und nach aussen zur Sicherung der<br />
Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Gruppe.<br />
Am 1. April 1996 wurde schliesslich die Helvetia Patria Holding gegründet.<br />
Abbildung 53 fasst die wichtigsten Schritte <strong>von</strong> strategischen Allianz bis zur<br />
gemeinsamen Holding im Überblick zusammen.<br />
1992/93<br />
Patria<br />
Helvetia<br />
sich finden<br />
1994/95<br />
Patria und<br />
Helvetia<br />
anpassen<br />
183<br />
1996<br />
Holding<br />
Patria Helvetia<br />
ordnen und<br />
erneuern<br />
Abbildung 53: Von der Partnerschaft zur Holding 172<br />
1997<br />
Helvetia Patria<br />
gemeinsam<br />
erfolgreich<br />
Ausgelöst durch die rechtliche Zusammenführung der beiden Gesellschaften<br />
verlief <strong>von</strong> 1995 bis 1997 im Rahmen des Projekts Tempo die organisatorischstrukturelle<br />
Zusammenführung und Neuorientierung der operativen<br />
<strong>Organisation</strong>seinheiten (vgl. Kapitel 7.2.3.2).<br />
Im April 2000 gab die Geschäftsleitung der Helvetia Patria Schweiz den Start<br />
des Projekts Dynamo bekannt (vgl. Kapitel 7.2.3.3). Ziel des Projekts war die<br />
Identifikation und Umsetzung ertragswirksamer Massnahmen zur Sicherung<br />
der strategischen Zielerreichung der Strategie 99-04. Das Projekt Dynamo<br />
dauerte ein Jahr und wurde im April 2001 erfolgreich beendet.<br />
Zum Abschluss des Firmenprofils der Helvetia Patria Schweiz liefert das<br />
folgende Kapitel 7.2.3 eine zusammenfassende Darstellung der drei<br />
wichtigsten <strong>Organisation</strong>sprojekte in der bisherigen Firmengeschichte:
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
• SABA: die strategische Allianz<br />
• Tempo: das organisatorische Zusammengehen<br />
• Dynamo: die interne Neuausrichtung<br />
<strong>Eine</strong> interpretative Beurteilung dieser drei Projekte erfolgt in Kapitel 7, wo die<br />
empirischen Daten des Forschungsprojekts unter der theoretischen Brille einer<br />
<strong>duale</strong>n <strong>Organisation</strong>stheorie (vgl. Kapitel 5) aufgearbeitet werden.<br />
7.2.3.1 Das Projekt SABA<br />
Auslöser für das Projekt SABA war die Absichtserklärung im April 1992 zur<br />
Bildung einer strategischen Allianz zwischen der Helvetia und der Patria. 173<br />
Um der sich anbahnenden Liberalisierung und dem damit verbundenen<br />
Margendruck einen Schritt voraus zu sein, haben sich Patria Leben <strong>als</strong> Leben-<br />
Versicherer und Helvetia Versicherungen <strong>als</strong> Nichtleben-Versicherer zu einer<br />
Partnerschaft zusammengefunden. Unter dem Motto „Gemeinsam sind wir<br />
stärker“ sollte es die Allianz beiden Partnern ermöglichen, die Fähigkeiten des<br />
anderen Partners im Leben- bzw. Nichtleben-Bereich zu nutzen, und dabei<br />
trotzdem die eigene wirtschaftliche Selbständigkeit zu wahren.<br />
In so genannten SABA-Projektgruppen wurde Form und Philosophie der<br />
Zusammenarbeit - das „ABC der Partnerschaft“ 174 - ausgearbeitet und die<br />
operative Umsetzung der strategischen Allianz vorbereitet. SABA war dabei<br />
das Akronym für St. Gallen/Basel.<br />
Um den partnerschaftlichen Charakter der Allianz zu betonen, war die<br />
Projektorganisation strikt paritätisch aufgebaut. Es wurde darauf geachtet,<br />
dass die Mitarbeitenden <strong>von</strong> Patria und Helvetia möglichst gleichgewichtig in<br />
die Projektarbeit involviert waren. Zentrales Organ für alle Fragen der<br />
Partnerschaft war der so genannte Steuerungsausschuss unter der Leitung<br />
des Vorsitzenden der Geschäftsleitung der Helvetia Versicherungen. 175<br />
Daneben blieben die bisherigen Geschäftsleitungen <strong>von</strong> Patria bzw. Helvetia<br />
172<br />
Vgl. Foliensatz Tempo.<br />
173<br />
Vgl. Partner-News Nr. 1/1992.<br />
174<br />
Partner-News, Nr. 1/1992, S. 1.<br />
175 Der Steuerungsausschuss bestand ferner aus je drei Geschäftsleitungsmitgliedern der Patria und<br />
der Helvetia, sowie aus allen Teilprojektleitern der SABA-Projekte.<br />
184
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
weiterhin im Amt. Sie waren für den operativen Erfolg der Partnerschaft<br />
verantwortlich. Hierarchisch waren die beiden Geschäftsleitungen und der<br />
Steuerungsausschuss gleichgestellt. Entscheide wurden im gemeinsamen<br />
Einverständnis gefällt.<br />
<strong>Die</strong> Projektarbeit wurde am 14. April 1992 gestartet. Es wurde ohne externe<br />
Unterstützung eines Unternehmensberaters geplant und durchgeführt. <strong>Eine</strong><br />
erste Konzeptionsphase war bis zum September des gleichen Jahres<br />
abgeschlossen und zur Vorlage an die beiden Verwaltungsräte bereit. Nach<br />
Zustimmung der Verwaltungsräte erfolgte ab 1. Januar 1993 die Umsetzung<br />
der erarbeiteten Vorschläge.<br />
Im Zeitraum <strong>von</strong> 1992 bis 1995 wurden die wesentlichen Grundlagen der<br />
Zusammenarbeit geschaffen, wie Leitbild, Marktstrategie, Erscheinungsbild<br />
und gemeinsame Geschäftsstellen. Dazu wurden insgesamt acht Teilprojekte<br />
gestartet, in welchen zeitweise über 100 Mitarbeitende der beiden<br />
Gesellschaften arbeiteten. <strong>Die</strong>se SABA-Teilprojekte waren:<br />
• Marketing/Vertrieb<br />
• Verwaltung (Schweizer Markt)<br />
• Patria Allgemeine (Nichtleben-Geschäft der Patria)<br />
• Zusammenarbeit Ausland<br />
• Informatik<br />
• Anlage-Management/Rückversicherung<br />
• Ausbildung<br />
• Kommunikation/Information<br />
Von besonderer Bedeutung war das Teilprojekt Verwaltung. Ziel dieses<br />
Projekts war es, eine effiziente Zusammenarbeit und den gegenseitigen<br />
Support sicherzustellen. Dazu wurde das SABA-Manual entwickelt. <strong>Die</strong><br />
wichtigsten administrativen Regeln für die Abwicklung des Tagesgeschäfts<br />
waren darin dokumentiert. Das Ziel einer effizienten Zusammenarbeit wurde<br />
mit dem Folgeprojekt SABA-Agenturen, der räumlichen Zusammenlegung der<br />
jeweiligen Generalagenturen, weiter vorangetrieben. <strong>Die</strong> Generalagenturen<br />
wurden unter einem Dach zusammengeführt, waren aber nach wie vor<br />
führungsmässig und juristisch getrennt.<br />
185
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
Ein weiterer wichtiger Meilenstein in der Partnerschaft war die Abtretung des<br />
Nichtleben-Geschäfts der Patria an die Helvetia. Zur Stärkung ihrer<br />
Marktposition und zur Kostensenkung wollten sich Helvetia und Patria im<br />
Rahmen ihrer Partnerschaft auf ihr jeweiliges Kerngeschäft konzentrieren.<br />
Jeder sollte das tun, was er am besten kann. Aus diesem Grund wurde das<br />
Nichtleben-Portefeuille der Patria Allgemeinen 176 per 1.1.1993 an die Helvetia<br />
Versicherungen übertragen. Als Folge der Portefeuille-Übertragung mussten<br />
bei Patria rund 70 Stellen abgebaut werden.<br />
Wohin die Partnerschaft letzten Endes führen sollte, wurde im Projekt SABA<br />
bewusst offen gelassen. Das heisst, dass ein eigentlicher rechtlicher und<br />
organisatorischer Zusammenschluss (wie er dann im Jahre 1995/96 mit dem<br />
Projekt Tempo vollzogen wurde) nicht <strong>von</strong> Beginn weg <strong>als</strong> längerfristiges Ziel<br />
festgelegt worden war. „Wohin aber führt der Weg? <strong>Die</strong> Partnerschaft soll und<br />
wird sich <strong>als</strong> offener Prozess gestalten. Und dies heisst auch: Wir bleiben<br />
unvoreingenommen gegenüber Veränderungen und suchen ständig nach<br />
Innovationsmöglichkeiten. Dabei wollen wir den vollen Spielraum für neue<br />
Ideen gewähren. Wir gestalten so aktiv und gemeinsam unsere Zukunft. Denn:<br />
Gemeinsam sind wir stärker.“ 177<br />
7.2.3.2 Das Projekt Tempo<br />
<strong>Die</strong> partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Patria Leben und Helvetia<br />
Versicherungen wurde in den Jahren 1993 bis 1995 kontinuierlich ausgebaut.<br />
Ab 1.1.1994 arbeiteten Patria Leben und Helvetia Versicherungen unter einer<br />
gemeinsamen Geschäftsleitung. Mitte 1995 wurde schliesslich ein gemeinsames<br />
Leitbild erarbeitet und ein neues Logo für den einheitlichen Marktauftritt<br />
eingeführt, das die bisherigen individuellen Firmenlogos <strong>von</strong> Helvetia<br />
Versicherungen und Patria Leben ablöste. <strong>Die</strong> beiden Partner traten fortan<br />
unter der Bezeichnung „Helvetia Patria Gruppe“ auf.<br />
Trotz der intensivierten Zusammenarbeit brachte die Allianz jedoch nicht die<br />
gewünschten Erfolge. <strong>Die</strong> Partner hatten weiterhin Marktanteilsverluste und<br />
steigende Kosten zu verzeichnen. „Um unsere unternehmerische Tätigkeit der<br />
künftigen Entwicklung anpassen und stärker im Interesse unserer Kunden und<br />
176<br />
<strong>Die</strong> Patria Allgemeine war eine kleinere Tochtergesellschaft der Patria Leben, die das Nichtleben-<br />
Geschäft betrieb.<br />
177<br />
Editorial der Partner-News Nr. 1/1992<br />
186
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
Kapitelgeber handeln zu können, brauchen wir tief greifende Veränderungen,<br />
mehr Effektivität und Effizienz, mehr Marktorientierung, mehr Partnerschaft<br />
und eine leistungsfähige, flexible <strong>Organisation</strong>.“ 178<br />
Darauf trat die Partnerschaft zwischen Patria Leben und Helvetia<br />
Versicherungen in eine neue Phase. Man beschloss im September 1995,<br />
beide Gesellschaften unter einer gemeinsamen Rechtsstruktur zusammenzuführen.<br />
Mit der neuen Holdingstruktur (vgl. Abbildung 53) wollte man die bisher<br />
erreichten Vorteile der Allianz dauerhaft absichern und das Potenzial der<br />
Partnerschaft konsequenter ausnutzen. In diesem Sinne war es Aufgabe des<br />
Projekts Tempo, Helvetia Versicherungen und Patria Leben in einer<br />
gemeinsamen <strong>Organisation</strong>sstruktur zusammenzuführen, neu zu ordnen und<br />
rundum zu erneuern. 179<br />
Mit Tempo sollten aus den beiden Partnern durch eine tief greifende<br />
Neuausrichtung ein gemeinsames, modernes Versicherungsunternehmen<br />
werden. Der Name des Projekts war gleichzeitig auch sein Programm (vgl.<br />
Abbildung 54):<br />
T wie Transformation: tief greifende Veränderung<br />
E wie Effektivität und Effizienz: nachhaltige Senkung der Kostensätze<br />
M wie Markt: stärkere Position<br />
P wie Partnerschaft: bessere Ausschöpfung der Zusammenarbeit<br />
O wie <strong>Organisation</strong>: konsequente, flexible <strong>Organisation</strong>sstruktur<br />
Abbildung 54: Projektziele <strong>von</strong> Tempo 180<br />
<strong>Die</strong> Massnahmen <strong>von</strong> Tempo zielten darauf ab, Veränderungsimpulse in drei<br />
Handlungsfeldern zu initiieren (vgl. Abbildung 55):<br />
178 Präsentation „Von SABA zu TEMPO“, S. 6.<br />
179 Vgl. Projekt-Unterlagen Tempo.<br />
180 Vgl. Tempo-Trends 9/96.<br />
187
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
Mehr<br />
• Marktanteil<br />
• Ertrag<br />
• Innovation<br />
• Dynamik<br />
Weniger<br />
• Kosten<br />
• Komplexität<br />
• Doppelspurigkeiten<br />
188<br />
Umdenken<br />
• kundenorientiert<br />
• betriebswirtschaftlich<br />
• lernfähig<br />
Abbildung 55: <strong>Die</strong> drei Handlungsfelder <strong>von</strong> Tempo 181<br />
<strong>Die</strong> Projektverantwortung oblag dem Lenkungsausschuss, welcher sich aus<br />
Mitgliedern der Geschäftsleitung und einer externen Beratungsfirma<br />
zusammensetzte. Der Lenkungsausschuss war für die Planung, Steuerung<br />
und Überwachung des Gesamtprojekts zuständig sowie für Zielsetzung und<br />
Entscheide. Für die operative Steuerung und Überwachung des Projektfortschritts<br />
in den einzelnen Teilprojekten sowie die Koordination der<br />
Projektgruppen war die Projektleitung zuständig.<br />
Das Projekt wurde im September 1995 gestartet und gliederte sich in drei<br />
Phasen:<br />
• Phase 1<br />
Erarbeitung eines Rahmenkonzepts, ausgehend <strong>von</strong> der Analyse<br />
des Ist-Zustandes der Partnerschaft sowie des bestehenden<br />
Geschäftssystems.<br />
• Phase 2<br />
Evaluation <strong>von</strong> Detailprogrammen zur Umsetzung des<br />
Rahmenkonzepts.<br />
• Phase 3<br />
Realisierung <strong>von</strong> sieben Detailprogrammen: 182 Strategie,<br />
181 Vgl. Projekt-Unterlagen Tempo.<br />
182 „Tempo-Baustellen“ genannt (vgl. Foliensatz Tempo).
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
Optimierung interne <strong>Die</strong>nste, Informatik, Schlüsselqualifikationen,<br />
Controlling, Geschäftsprozesse und ADUS. 183<br />
<strong>Die</strong> Projektarbeit wurde in Phase 1 vom Projektkernteam ausgefüllt, in den<br />
weiteren Phasen 2 und 3 <strong>von</strong> programmbezogenen Arbeitsgruppen. Im Juni<br />
1997 wurde das Projekt Tempo beendet und die weitere Umsetzung an die<br />
Linie übergeben. Der Stand der Umsetzung betrug dabei im März 1997:<br />
Strategie 100 %, Optimierung interne <strong>Die</strong>nste 90 %, Informatik 33 %,<br />
Schlüsselqualifikationen 25 %, Controlling 50 %, Geschäftsprozesse 50 %,<br />
ADUS 50 %. 184<br />
<strong>Eine</strong> der massgeblichsten Veränderungen, die durch das Projekt Tempo<br />
initiiert worden waren, betraf die neue <strong>Organisation</strong>sstruktur, 185 die ab<br />
1.9.1996 für das Schweizer Geschäft gültig wurde (vgl. Abbildung 56).<br />
Im Einklang mit der neu formulierten Marktstrategie <strong>als</strong> Allbranchenversicherer,<br />
die mehr Kundennähe, Kundennutzen und Kundenzufriedenheit anvisierte,<br />
wurde die bisherige branchenbezogene Aufteilung der <strong>Organisation</strong> in die<br />
beiden Sparten Leben und Nichtleben durch eine kundenorientierte<br />
Segmentierung ersetzt. In einer fundamentalen Ausrichtung am Kunden<br />
wurden neu vier Kundenbereiche geschaffen, nämlich Privatpersonen/-<br />
Gewerbe (PG), Unternehmen (U), Anlage (A) und Vertragspartner (VP).<br />
Hauptschwerpunkt lag auf den beiden Kundenbereichen PG und U. 186 <strong>Die</strong>se<br />
beiden Kundenbereiche sollten inskünftig mit je einem eigenen, flächendeckenden<br />
Vertriebsnetz (Generalagenturen) das Leben- und Nichtleben-<br />
Geschäft für das jeweilige Kundensegment integriert anbieten. Dazu wurden<br />
die vorhandenen Kundenstämme der beiden Gesellschaften Patria Leben und<br />
Helvetia Versicherungen aufgeteilt und den entsprechenden Kundenbereichen<br />
PG oder U zugeführt.<br />
183<br />
ADUS steht für „Aussendienst-Unterstützungssystem“ und war eine computergestützte Verkaufshilfe<br />
für den Aussendienst.<br />
184<br />
Vgl. Foliensatz Tempo.<br />
185 <strong>Die</strong>se <strong>Organisation</strong>sstruktur wird im Rahmen der Dissertation <strong>als</strong> Tempo-Struktur bezeichnet.<br />
186 Vgl. Tempo & Trends Nr. 7/96.<br />
189
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
Aussendienst<br />
GL Schweiz<br />
Mathematik Stab<br />
KB PG KB U KB A KB VP Informatik<br />
Aussendienst<br />
Marketing &<br />
Ausbildung<br />
Makler<br />
Kundendienst L<br />
Key Account L<br />
Kundendienst L Kundendienst NL Services<br />
190<br />
Marketing &<br />
Ausbildung<br />
Controlling<br />
Logistik<br />
Marketing<br />
Qualität & <strong>Organisation</strong><br />
Vertriebssteuerung<br />
Infomation & Dokumentation<br />
Kundendienst NL<br />
Schaden NL<br />
Abbildung 56: <strong>Organisation</strong>sstruktur nach Tempo<br />
<strong>Die</strong> Kundensegmentierung hat innerhalb der <strong>Organisation</strong> innovative Kräfte<br />
freigesetzt. Im kürzester Zeit wurde die gesamte Produktepalette kundenspezifisch<br />
überarbeitet und modernisiert. 187 Nicht erreicht werden konnte<br />
hingegen mit Tempo das Ziel der Verbesserung der Effizienz. Im Laufe der<br />
Zeit verschlechterte sich die Kostensituation <strong>von</strong> Helvetia Patria Schweiz<br />
weiter. Das sich zuspitzende Kostenproblem führte dazu, dass die<br />
Geschäftsleitung im April 2000 das Projekt Dynamo startete, das schliesslich<br />
Helvetia Patria Schweiz in eine völlig neue <strong>Organisation</strong>sstruktur überführte.<br />
187 Vgl. Protokoll 13-02.
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
7.2.3.3 Das Projekt Dynamo<br />
Auslöser für das Projekt Dynamo war die Kostensituation in der Schweiz. 188<br />
<strong>Die</strong> Kombination aus sich abschwächendem Finanzmarkt, hoher Schadensquote<br />
und steigendem Kostensatz drückte auf das Ergebnis der Helvetia<br />
Patria Schweiz. Zudem fürchtete man, dass es im Zuge der Deregulierung<br />
zukünftig zu einer Offenlegung der internen Kostensätze kommen könnte -<br />
und dagegen wollte man mit konkurrenzfähigen Kostensätzen gewappnet<br />
sein. 189<br />
Das Projekt Dynamo wurde am 2.5.2000 gestartet und verfolgte anfangs eine<br />
zweifache Zielsetzung (vgl. Abbildung 57).<br />
hoch<br />
Effizienz<br />
tief<br />
�� Neuer Führungs- und Handlungsrahmen<br />
��<br />
��<br />
Effizienz-<br />
Effizienz-<br />
Programme<br />
Programme<br />
Ausgangslage<br />
191<br />
Zielstellung<br />
Projekt Dynamo<br />
��<br />
��<br />
Wachstums-<br />
Wachstums-<br />
Programme<br />
Programme<br />
tief hoch<br />
Wachstum<br />
Abbildung 57: Ziele des Projekts Dynamo<br />
Zum einen sollte der Gesamtkostenblock um 60 Mio. CHF (bzw. 15 %)<br />
reduziert werden. Zum anderen sollten mit verstärkten Anstrengungen die<br />
Wachstumsziele gemäss Strategie 99-04 erreicht werden. Im Laufe des<br />
Projekts Dynamo kam zu den beiden anfänglichen Zielen noch ein drittes<br />
188<br />
Im Gegensatz zu den beiden Projekten SABA und Tempo war Dynamo demnach ein Projekt,<br />
welches vom Ländermarkt Schweiz initiiert wurde und auch nur diesen betraf.<br />
189<br />
Vgl. Protokoll 21-06.
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
hinzu: die Schaffung eines neuen Führungs- und Handlungsrahmens. Mit<br />
diesem dritten Ziel wollte man zusätzlich zur monetären Dimension der<br />
Effizienz- und Wachstumsziele auch die kulturelle Dimension der<br />
Neuausrichtung <strong>von</strong> Helvetia Patria Schweiz betonen. 190<br />
<strong>Die</strong> Projektorganisation bestand aus einem Lenkungsausschuss<br />
(Projektführungsteam) unter der Leitung des Vorsitzenden der<br />
Geschäftsleitung der Helvetia Patria Schweiz und einem Projektteam. Das<br />
Projektführungsteam setzte sich aus der gesamten Geschäftsleitung Helvetia<br />
Patria Schweiz, sowie drei weiteren Mitarbeitenden und zwei Vertretern einer<br />
externen Beratungsfirma zusammen. Das Projektteam bestand zu Beginn des<br />
Projekts aus elf Personen, wuchs aber im weiteren Verlauf des Projekts auf<br />
ca. 60 Personen an.<br />
Das Projektvorgehen gliederte sich in drei Phasen. Der Zeitplan war straff<br />
ausgelegt und verlangte eine strikte Arbeitsdisziplin. In Phase 1 ging es um die<br />
Identifikation <strong>von</strong> aktuellen Kostentreibern und möglichen Wachstumshebeln.<br />
Dabei wurden drei Themenbereiche untersucht:<br />
• Kosten/Effizienz<br />
Lokalisierung <strong>von</strong> Effizienz-Potenzialen und Optimierung der<br />
Wertschöpfung mittels vertiefter Analyse ausgewählter Kernprozesse.<br />
• Nutzen/Kostenanalyse laufender Projekte<br />
Beurteilung der grössten Projektvorhaben aus Sicht der Kosten<br />
und ihrer Bedeutung für die Stärkung der Wettbewerbsposition.<br />
• Wachstum<br />
Untersuchung der vorhandenen Vertriebskanäle im Hinblick auf<br />
Wachstumsmöglichkeiten und Aufzeigen <strong>von</strong> Entwicklungspotenzialen.<br />
<strong>Die</strong> Phase 1 wurde Ende Juni 2000 abgeschlossen. In der anschliessenden<br />
Phase 2 wurden zu den identifizierten Effizienz- bzw. Wachstumspotenzialen<br />
insgesamt 33 Massnahmenpakte (25 Effizienz- und 8 Wachstumsprogramme)<br />
ausgearbeitet und priorisiert. Daraus resultierten schliesslich 12 Dynamo-<br />
190 Vgl. Protokolle 21-06 und 22-04.<br />
192
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
Programme, die dann in Phase 3 ab dem 1.9.2000 umgesetzt wurden (vgl.<br />
Abbildung 58). 191<br />
1. Umstrukturierung Gesamtorganisation<br />
2. Neuausrichtung Vertriebsmanagement<br />
3. Aufbau AD-Management<br />
4. Optimierung MB Vorsorge P<br />
5. Optimierung MB Vorsorge U<br />
6. Optimierung MB Nichtleben<br />
7. Aufbau Kompetenz-Center<br />
8. Aufbau Broker-Center<br />
9. Neugestaltung Stab<br />
10. Neuorganisation regionale Standorte<br />
11. Optimierung Informatik<br />
12. Entwicklung zusätzlicher Wachstumsinitiativen<br />
Abbildung 58: <strong>Die</strong> zwölf Dynamo-Programme<br />
Am offiziellen Projektende per 30.4.2001 waren viele Dynamo-Programme<br />
teilweise oder ganz realisiert, dennoch waren noch längst nicht alle<br />
Projektaktivitäten abgeschlossen. <strong>Die</strong> verbleibenden Projekt-Pendenzen<br />
wurden zur weiteren Umsetzung an die Linie übergeben. <strong>Die</strong> Überwachung<br />
dieser Pendenzen oblag der Geschäftsleitung.<br />
Das bedeutendste und zugleich einschneidenste Ergebnis des Projekts<br />
Dynamo war die Umstrukturierung der Gesamtorganisation, die bereits per<br />
1.10.2000 operativ wirksam wurde (vgl. Abbildung 59).<br />
191 Bestandteil dieser Umsetzung war ein Abbau <strong>von</strong> 440 Stellen, der 260 Kündigungen auslöste.<br />
<strong>Die</strong> restlichen 180 Stellen konnten durch einen vorausschauenden Anstellungsstopp, der zu<br />
Beginn des Projekts Dynamo verhängt wurde, eingespart werden.<br />
193
DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />
Vertriebsmanagement<br />
GL Schweiz<br />
Branding Mathematik Controlling Projektsteuerung<br />
MB VP MB VU MB NL MB e&VP<br />
Produktemanagement Kundencenter Marktentwicklung<br />
Prozesse &<br />
Qualität<br />
AD-Regionen AD-Management Services<br />
Produktemanagment<br />
Prozesse &<br />
Qualität<br />
194<br />
Fachsupport &<br />
Underwritung<br />
Fach- &<br />
Marktsupport<br />
Prozesse &<br />
Qualität<br />
Kunden-<br />
Center<br />
Prozesse &<br />
Qualität<br />
Kundendienst-<br />
Center<br />
Abbildung 59: <strong>Organisation</strong>sstruktur nach Dynamo<br />
Leistungs-<br />
Center<br />
Informatik<br />
Logistik<br />
Schaden-<br />
Center<br />
Broker-<br />
Center<br />
<strong>Die</strong> konsequente Kundenbereichssegmentierung aus dem Projekt Tempo<br />
wurde zu Gunsten einer wiederum stärker branchenorientierten Struktur<br />
aufgegeben. <strong>Die</strong> neue <strong>Organisation</strong>sstruktur gliedert sich nun in die<br />
<strong>Organisation</strong>seinheit Vertriebsmanagement (VM) sowie die vier Marktbereiche
INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />
Vorsorge Unternehmen (MB VU), Vorsorge Privat (MB VP), Nichtleben<br />
(MB NL) und e-Business/Vertragspartner (MB e&VP). 192<br />
<strong>Die</strong> im Rahmen <strong>von</strong> Tempo geschaffenen zwei parallelen Vertriebsorganisationen<br />
des Kundenbereichs PG und des Kundenbereichs U wurden<br />
wieder aufgehoben und zum einheitlichen Bereich Vertriebsmanagement<br />
zusammengelegt. Das Vertriebsmanagement ist neu zuständig für den<br />
gesamten Vertrieb - unabhängig <strong>von</strong> Sparte (L/NL) oder Kundensegment<br />
(PG/U/A). <strong>Die</strong> strategische Ausrichtung je Kundensegment/Branche, die<br />
interne Abwicklung sowie die fachliche Unterstützung des Aussendiensts sind<br />
Aufgabe der vier neuen Marktbereiche (VU, VP, NL, e&VP). 193<br />
192 <strong>Die</strong>se <strong>Organisation</strong>sstruktur wird im Rahmen der Dissertation <strong>als</strong> Dynamo-Struktur bezeichnet.<br />
193 Es handelt sich bei der neuen Dynamo-Struktur <strong>als</strong>o gewissermassen um eine Matrix-<br />
<strong>Organisation</strong>, auch wenn das im Organigramm nicht so dargestellt wird (vgl. Abbildung 59).<br />
195
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
8 DAS HANDLUNGSSYSTEM VON<br />
HELVETIA PATRIA<br />
„Denn eine <strong>Organisation</strong> ist nicht, was sie ist, sondern ist immer nur das, was<br />
ein bestimmter Schnitt zu erkennen gibt. Jedes Wissen ist an einen solchen<br />
Schnitt gebunden, sei es, dass die <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> Form der Produktion, <strong>als</strong><br />
gesellschaftliche Ordnungsform, <strong>als</strong> Resultat einer Hierarchie, <strong>als</strong> Planungsgegenstand<br />
<strong>von</strong> Experten oder <strong>als</strong> Milieu ihrer Mitarbeiter gesehen wird.“<br />
(Baecker 1999, S. 70)<br />
Auch die Darstellung des <strong>Organisation</strong>salltags <strong>von</strong> Helvetia Patria <strong>als</strong><br />
<strong>Handlungssystem</strong> ist ein solcher Schnitt im Sinne <strong>von</strong> Baecker. Das bedeutet,<br />
dass diese Darstellung nur eine mögliche Beschreibung der <strong>Organisation</strong><br />
Helvetia Patria unter vielen denkbaren anderen Beschreibungen ist. Das<br />
Firmenprofil <strong>von</strong> Helvetia Patria in Kapitel 7.2 ist eine solche mögliche<br />
Beschreibung. Das Firmenprofil umreisst die wirtschaftlichen Umrisse <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria. Es stellt die <strong>Organisation</strong> in den Kategorien Fakten und Zahlen<br />
dar.<br />
Hier im Kapitel 8 soll die soziale Ordnung des organisationalen Alltags <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria zum Vorschein gebracht und erklärt werden. Dazu wird das<br />
Bild <strong>von</strong> Helvetia Patria <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> aufgezeichnet und interpretiert<br />
(vgl. Abbildung 60).<br />
Zunächst wird in Kapitel 8.1 Helvetia Patria <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> beschrieben.<br />
Dazu gehört der Kontext des <strong>Handlungssystem</strong>s, die Elemente des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s und natürlich die Dialectic of Control, die im <strong>Handlungssystem</strong><br />
einen Zustand <strong>von</strong> Ordnung und Stabilität (re-)produziert.<br />
In Kapitel 8.2 werden die historischen Wurzeln der vorgefundenen Evidenz<br />
des <strong>Handlungssystem</strong>s untersucht. Kapitel 8.3 beschreibt eine Intervention ins<br />
<strong>Handlungssystem</strong> und Kapitel 8.4 schliesslich stellt Überlegungen zur<br />
möglichen zukünftigen Entwicklung des <strong>Handlungssystem</strong>s an.<br />
196
197<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Kapitel 8.2 Kapitel 8.1<br />
Kapitel 8.3<br />
Historische Rekonstruktion Das <strong>Handlungssystem</strong> Intervention und Veränderung<br />
SABA SABA SABA und und und Tempo Tempo Tempo<br />
<strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
Kontext<br />
Dynamo Dynamo<br />
1992 2001<br />
Abbildung 60: Rekonstruktion und Interpretation des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
8.1 Beschreibung des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
In den zwei Jahren, in denen die Forscherinnen Helvetia Patria im Firmenalltag<br />
begleiten konnten, haben sich graduell Gründzüge des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria herauskristallisiert. Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong><br />
Ganzes ist jedoch eine theoretische Konstruktion, die für die Beobachtenden<br />
in der <strong>Organisation</strong>spraxis nie <strong>als</strong> solches, sondern immer nur in Auszügen<br />
und in Abhängigkeit <strong>von</strong> der konkreten Situation sichtbar und nachvollziehbar<br />
wird. Einzelne Aspekte dieses <strong>Handlungssystem</strong>s konnten allerdings <strong>von</strong> den<br />
Forscherinnen in verschiedenen Phasen des Forschungsprojekts mit<br />
Mitgliedern der <strong>Organisation</strong> diskutiert und plausibilisiert werden. 194<br />
In den nachfolgenden Kapiteln werden die einzelnen Elemente des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s (Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten, Verhandlungsprozess<br />
des Organisierens) sowie das Ineinandergreifen und Zusammen-<br />
194 Vgl. Protokolle 31-03, 32-01, 32-02, 32-04, 32-06, 32-07, 33-01, 33-02, 33-03.<br />
t
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
wirken der einzelnen Elemente (Dialectic of Control) beschrieben (vgl.<br />
Abbildung 61). 195 Das <strong>Handlungssystem</strong> kann selbstverständlich nicht<br />
losgelöst vom Kontext <strong>von</strong> Helvetia Patria verstanden werden. Daher wird in<br />
einem ersten Schritt auf den Kontext <strong>von</strong> Helvetia Patria Bezug genommen.<br />
interpretative Schemata<br />
Nach welchen Schemata<br />
erfolgt die soziale<br />
Konstruktion der organisationalen<br />
Wirklichkeit?<br />
Wie laufen die<br />
kognitiven<br />
Prozesse des<br />
Organisierens ab?<br />
(Re-)Konstruktion<br />
Wie entfalten sich die<br />
generativen Fähigkeiten<br />
in der sozialen Konstruktion<br />
der organisationalen<br />
Wirklichkeit?<br />
Externer Kontext<br />
Ressourcen<br />
Welche Materialisierungen<br />
der organisationalen<br />
Wirklichkeit sind beobachtbar?<br />
Welche sozialen<br />
Praktiken des<br />
Organisierens sind<br />
beobachtbar?<br />
Routinisierung<br />
Wie wirken die gestalterischen<br />
Fähigkeiten auf<br />
die Materialisierung der<br />
organisationalen Wirklichkeit?<br />
198<br />
Normen<br />
Nach welchen Normen<br />
erfolgt die soziale<br />
Legitimation der organisationalen<br />
Wirklichkeit?<br />
kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />
Wie laufen die<br />
politischen<br />
Prozesse des<br />
Organisierens ab?<br />
Rationalisierung<br />
Wie ermöglichen die<br />
selektiven Fähigkeiten<br />
die Legitimation der<br />
organisationalen Wirklichkeit?<br />
Welcher Einfluss hat der externe Kontext auf das <strong>Handlungssystem</strong>?<br />
Abbildung 61: Erkundung des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
195 An dieser Stelle sei auf das Kapitel 5 verwiesen, in dem die theoretischen Grundlagen zum<br />
Konzept des <strong>Handlungssystem</strong>s dargestellt sind, sowie auf das Glossar in Anhang A, in dem die<br />
wichtigsten theoretischen Begriffe zusammengestellt und kurz beschrieben sind.<br />
Ebenfalls muss betont werden, dass ein <strong>Handlungssystem</strong> immer in Bewegung ist und nie einen<br />
statischen Zustand annimmt, der sich eineindeutig beschreiben liesse. Das <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria hat sich in den zwei Jahren des Forschungsprojekts bewegt und wird sich<br />
ohne Frage auch seither entwickelt haben. <strong>Die</strong> vorliegende Darstellung des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria ist daher eine zeitliche Einklammerung und beschreibt das <strong>Handlungssystem</strong>,<br />
wie es die Forscherinnen in den Jahren 2000 und 2001 im Rahmen der Feldforschung wahrgenommen<br />
haben. <strong>Die</strong> durch Dynamo ausgelösten Veränderungen sind in dieser Beschreibung<br />
noch nicht berücksichtigt. Sie werden erst in Kapitel 8.3 beschrieben und interpretiert.
199<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
8.1.1 Externer Kontext<br />
<strong>Die</strong> kulturellen Eigenheiten und die wirtschaftliche Entwicklung der<br />
Versicherungsbranche stellen für Helvetia Patria den relevanten externen<br />
Kontext dar. <strong>Die</strong> Deregulierung der Versicherungsbranche hat in den<br />
vergangenen vierzig Jahren eine massive Veränderungswelle ausgelöst, die<br />
für jedes Versicherungsunternehmen eine grosse Herausforderung bedeutete.<br />
<strong>Die</strong>se Entwicklung ist in Kapitel 7.1 sowie Anhang D ausführlich beschrieben.<br />
Hier sollen im Sinne einer Zusammenfassung nur noch diejenigen Punkte<br />
aufgeführt werden, die zum Zeitpunkt des Forschungsprojekts einen spürbaren<br />
Einfluss auf das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria ausgeübt haben<br />
(vgl. Abbildung 62).<br />
Der Versicherungskontext ... ... und seine Auswirkungen auf HPV<br />
Produkt Versicherung verändert<br />
sich:<br />
Deregulierung bringt<br />
Produktevielfalt:<br />
Der Erfolg eines Versicherungsprodukts hängt je<br />
länger je weniger <strong>von</strong> seinen Kernfunktionen,<br />
sondern vielmehr <strong>von</strong> den eingebetteten Serviceund<br />
Leistungsfunktionen ab (vgl. Abbildung 76).<br />
Das stellt den Vertrieb <strong>von</strong> Helvetia Patria vor<br />
neue Aufgaben:<br />
• Vertrieb heisst nicht mehr nur Verkauf,<br />
sondern verlangt neu die umfassende<br />
Betreuung des Kunden („Care“). Der Aussendienst<br />
muss für diese neue Aufgabe befähigt<br />
werden. <strong>Die</strong> Qualifizierung des Vertriebs ist für<br />
Helvetia Patria ein ständiges Thema.<br />
• Je differenzierter das Produkt, desto variantenreicher<br />
muss auch der Auftritt am Markt sein.<br />
Spezifische Kundensegmente müssen gezielt<br />
angesprochen werden. <strong>Die</strong> Interaktion mit dem<br />
Kunden wird vielfältiger und anforderungsreicher.<br />
Ein einzelner Absatzkanal (Aussendienst)<br />
kann die benötigte Vielfalt nicht mehr<br />
generieren. Helvetia Patria versucht deshalb,<br />
ein ausdifferenziertes Vertriebsnetz aus<br />
verschiedensten Absatzkanälen aufzubauen<br />
(Aussendienst, Makler, Vertragspartner).<br />
<strong>Die</strong> rasante Entwicklung der Produktpalette stellt<br />
hohe Anforderungen an den Produktionsprozess.<br />
Helvetia Patria reagiert darauf mit folgenden<br />
Massnahmen:<br />
• Produktentwicklung und -management sind<br />
wichtige Funktionen, für die gezielt Kompetenzen<br />
und Ressourcen aufgebaut werden.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Der Versicherungskontext ... ... und seine Auswirkungen auf HPV<br />
Deregulierungsdynamik ist<br />
unterschiedlich:<br />
• Es sind immer flexiblere Informatiklösungen<br />
notwendig, um die Produktevielfalt effizient<br />
abwickeln zu können. Für die Neuentwicklung<br />
<strong>von</strong> Informatiklösungen werden hohe<br />
Investitionssummen bereitgestellt.<br />
• <strong>Die</strong> internen Prozesse müssen schlanker und<br />
schneller werden, um mit der rasanten<br />
Entwicklung am Markt mithalten zu können.<br />
Prozessmanagement wird zu einer integralen<br />
Führungsaufgabe erklärt.<br />
<strong>Die</strong> Deregulierungsbemühungen in der Sparte<br />
Leben haben früher eingesetzt <strong>als</strong> in der Sparte<br />
Nichtleben. Das hat zu einer unterschiedlichen<br />
Entwicklung in diesen beiden Branchen und damit<br />
zu neuen Problemen für den Allbranchenversicherer<br />
Helvetia Patria geführt:<br />
• <strong>Die</strong> Sparte Leben ist innovativer und weist die<br />
grössere Wachstumsdynamik auf <strong>als</strong> die<br />
Sparte Nichtleben. Das verstärkt die wirtschaftlichen<br />
und kulturellen Unterschiede zwischen<br />
den beiden Branchen.<br />
• Es wird zunehmend anspruchsvoller, beide<br />
Branchen in einer Gesamtstrategie zu<br />
integrieren.<br />
Dekartellierung bringt Wettbewerb: <strong>Die</strong> Auflösung der Kartelle hatte zur Folge, dass<br />
die Versicherer untereinander plötzlich im<br />
Wettbewerb standen. Das stellt Helvetia Patria<br />
vor völlig neue Aufgaben bzw. Probleme:<br />
• Sie muss sich am Markt positionieren und<br />
gegenüber den Kunden ein unverwechselbares<br />
(Leistungs-)Profil gewinnen.<br />
• <strong>Die</strong> Differenzierung <strong>von</strong> der Konkurrenz<br />
erfolgte nicht nur über die Leistung, sondern<br />
ebenfalls über den Preis. <strong>Die</strong> Versicherungsprämien<br />
stehen unter einem erheblichen<br />
Preisdruck. Das führt zu einer Schwächung<br />
des technischen Ergebnisses.<br />
• Der Kunde wird kritischer und stellt Konkurrenzvergleiche<br />
an. <strong>Die</strong> Forderung nach<br />
Transparenz (Offenlegung der Kostensätze<br />
und Margen) nimmt zu. Das stellt für<br />
Versicherer mit ineffizienten und kostenintensiven<br />
Strukturen ein Risiko dar. Helvetia<br />
Patria hat deshalb ihre Kosten deutlich<br />
reduziert.<br />
200
201<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Der Versicherungskontext ... ... und seine Auswirkungen auf HPV<br />
• Ganz allgemein zeichnet sich eine sinkende<br />
Rentabilität der Versicherungsbranche ab. <strong>Die</strong><br />
fetten Jahre sind vorbei.<br />
Strukturelle Verdichtung: Der Konkurrenzdruck am Markt hat zu verschiedenen<br />
Unternehmenszusammenschlüssen<br />
geführt. <strong>Die</strong> Macht einzelner Wettbewerber hat<br />
dadurch zugenommen. Das führt zu neuen<br />
Spielregeln am Markt:<br />
Kultureller Wandel in der<br />
Assekuranz:<br />
• Helvetia Patria braucht eine gewisse Mindestgrösse,<br />
um mit Hilfe <strong>von</strong> Skalen- und<br />
Synergieeffekten am Markt noch mithalten zu<br />
können. 196 Sonst ist auf längere Sicht die<br />
wirtschaftliche Unabhängigkeit gefährdet.<br />
• <strong>Die</strong> Entwicklung und der Ausbau des Produkts<br />
Versicherung lässt den Ressourcenbedarf<br />
erheblich ansteigen. <strong>Die</strong> Investitionskraft wird<br />
zu einem kritischen Faktor für Helvetia Patria.<br />
• Der Professionalisierungsdruck im Versicherungsgeschäft<br />
nimmt zu. Als Antwort darauf<br />
stärkt Helvetia Patria ihre Kompetenzen im<br />
Bereich Führung und <strong>Organisation</strong>.<br />
<strong>Die</strong> wirtschaftlichen Veränderungen in der<br />
Versicherungsbranche haben auch einen<br />
kulturellen Wandel ausgelöst. Helvetia Patria ringt<br />
um eine neue Denkhaltung:<br />
• aktive Gestaltung der Zukunft vs. Orientierung<br />
an der Vergangenheit<br />
• Differenzierung des Leistungsangebots vs.<br />
Alleskönner<br />
• flexible Prozesse vs. stabile <strong>Organisation</strong>sstrukturen<br />
• Orientierung an Deckungsbeiträgen und<br />
Rendite vs. Prämienproduktion<br />
• Führungskenntnisse vs. Fachkenntnisse<br />
Abbildung 62: Kontext des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
Zusammenfassend lässt sich zum Verhältnis zwischen Kontext und<br />
<strong>Handlungssystem</strong> Folgendes festhalten:
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
• <strong>Die</strong> Veränderungen in der Versicherungsbranche üben<br />
Handlungsdruck auf Helvetia Patria aus. Helvetia Patria muss<br />
auf die in Gang gekommenen wirtschaftlichen und kulturellen<br />
Veränderungen reagieren, um den Anschluss an die Marktentwicklung<br />
nicht zu verlieren.<br />
• Um auf diese Veränderungen angemessen reagieren zu können,<br />
sind <strong>von</strong> Helvetia Patria neue Fähigkeiten gefragt. Helvetia<br />
Patria muss eine neue Form <strong>von</strong> Denken und Handeln entwickeln,<br />
wie sie <strong>von</strong> Helvetia Patria in der Vergangenheit bisher<br />
noch nicht gelebt worden ist.<br />
• <strong>Die</strong> Entwicklung neuer, völlig ungewohnter Fähigkeiten ist eine<br />
paradoxe Herausforderung: Wie kann Helvetia Patria etwas<br />
hervorbringen, das es selbst (noch) nicht kennt? Wie gelingt es,<br />
Neues zu schaffen, wenn dabei nicht mehr auf das Wissen und<br />
die Erfahrungen der Vergangenheit zurückgegriffen werden<br />
kann?<br />
8.1.2 Strukturmodalitäten<br />
<strong>Die</strong> Strukturmodalitäten stecken den organisationalen Möglichkeitsraum ab.<br />
Sie sind vergleichbar mit einem Repertoire an interpretativen Regeln, Normen<br />
und Ressourcen, deren sich der organisationale Alltag situativ bedienen kann.<br />
Welche Regeln, Normen und Ressourcen letztlich konkret herangezogen<br />
werden, lässt sich nicht im Voraus bestimmen. Auch sind die Regeln, Normen<br />
und Ressourcen untereinander nicht zwingend eineindeutig und konfliktfrei.<br />
Erst das Zusammenspiel aller drei Strukturmodalitäten in Kombination mit den<br />
Bezugsfähigkeiten führt im Rahmen des Verhandlungsprozesses des<br />
Organisierens schliesslich zur Ausbildung einer sich selbst stabilisierenden<br />
organisationalen Wirklichkeit.<br />
8.1.2.1 Interpretative Schemata<br />
<strong>Die</strong> interpretativen Schemata <strong>von</strong> Helvetia Patria zeichneten sich nicht durch<br />
ein bestimmtes Set eindeutiger und dominanter Schemata aus, eher im<br />
196<br />
Es sei denn, Helvetia Patria würde sich konsequent auf die Nutzung einer Marktnische zurückziehen.<br />
202
203<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Gegenteil. Es schien keine klaren, stabilen Regeln der Signifikation zu geben,<br />
die die Konstruktion der sozialen Wirklichkeit <strong>von</strong> Helvetia Patria lenkten.<br />
<strong>Die</strong>ses Sinn-Vakuum wurde in einem Interview treffend beschrieben <strong>als</strong><br />
„Neutralisierung“: „<strong>Die</strong> Fusion hat Helvetia Patria neutralisiert. Es gibt alte<br />
Helvetianer und alte Patrianer, aber keine einheitliche Unternehmensphilosophie.“<br />
197<br />
Im Prinzip kann man <strong>von</strong> zwei typischen Mustern reden, die für die<br />
interpretativen Schemata <strong>von</strong> Helvetia Patria <strong>von</strong> Bedeutung waren, und<br />
eigentlich genau das Gegenteil <strong>von</strong> Orientierung und Stabilität bewirkten:<br />
Ambivalenz und Fragmentierung.<br />
a) Ambivalenz<br />
Seit dem rechtlichen Zusammenschluss 1996 hat man bei Helvetia Patria<br />
grosse Anstrengungen unternommen, die <strong>Organisation</strong> flexibler und kundenorientierter<br />
auszurichten (vgl. Kapitel 7.2.3). Im Denken und Handeln <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria waren Spuren der traditionellen Versicherungslogik (vgl.<br />
Abbildung 42 und Abbildung 62) jedoch immer noch deutlich spürbar. Helvetia<br />
Patria befand sich noch mitten im Übergang <strong>von</strong> einem traditionellen<br />
Versicherer hin zu einem modernen, integrierten Versicherungsdienstleister.<br />
Das führte zu einer Ambivalenz in der <strong>Organisation</strong>, die sich auf verschiedene<br />
Weise äusserte:<br />
• Offenheit gegenüber Neuem<br />
Nicht überall in der <strong>Organisation</strong> war man da<strong>von</strong> überzeugt, dass<br />
Helvetia Patria den richtigen Weg einschlägt und befürchtete<br />
eine Gefährdung der traditionellen Versicherungswerte: „Wir verkaufen<br />
Sicherheit. Und wir sollten eigentlich keine Speer- oder<br />
Stossrichtung spielen im Wandel.“ 198 Das traditionelle<br />
Versicherungsdenken vermittelte zwar Werte und Identität, wirkte<br />
aber auch einschränkend auf die Wahrnehmung und Entwicklung<br />
neuer Handlungsmöglichkeiten: „In der Versicherung<br />
sitzen immer noch Versicherer, und ... die denken schon in<br />
197<br />
Protokoll 11-03, Absatz 36. Zur Methodik der Referenzierung auf Originalzitate aus dem<br />
empirischen Material vgl. Anhang C.<br />
198<br />
Protokoll 13-15, Absatz 27.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Versicherungen.“ 199 <strong>Die</strong>ses Paradox war spürbar in der<br />
<strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria und war vielen Führungskräften<br />
und Mitarbeitenden auch bewusst: „Sowohl der Mut zur<br />
Bewahrung, <strong>als</strong> auch der Mut zur Veränderung sind sehr wichtig.<br />
... Bestimmte Grund- und Werthaltungen müssen bewahrt<br />
werden. ... <strong>Die</strong> Stellung der mittleren und unteren Führungskräfte<br />
ist schwierig und auch ambivalent, denn sie müssen im<br />
Spannungsverhältnis zwischen Bewahrung und Veränderung<br />
agieren und vermitteln.“ 200<br />
• Führungskultur<br />
<strong>Eine</strong> weitere erstaunliche Ambivalenz war festzustellen bei der<br />
Eigenbewertung der Führungskultur <strong>von</strong> Helvetia Patria. Wir<br />
Forscherinnen hörten die Einschätzung, dass Helvetia Patria<br />
„paternalistisch“ und hierarchisch geführt wird, und dass<br />
abweichende Meinungen keinen Platz haben. 201 In anderen<br />
Gesprächen hingegen wurde betont, dass die Kommunikationswege<br />
bis in die oberste Führungsspitze offen und unkompliziert<br />
sind und dass abweichende Meinungen vertreten werden<br />
können: „Helvetia Patria ist ein Unternehmen mit viel Freiraum,<br />
welches offen geführt ist. Man kann mit Persönlichkeiten aus der<br />
Geschäftsleitung problemlos direkt kommunizieren, es ist kein<br />
streng hierarchisches Denken vorhanden.“ 202 <strong>Eine</strong> abschliessende<br />
<strong>Erklärung</strong> für diese unterschiedlichen Wahrnehmungen ist<br />
hier nicht möglich. Doch diese fehlende Berechenbarkeit der<br />
Führung <strong>von</strong> Helvetia Patria ist ein weiteres Indiz für die<br />
temporäre Orientierungsambivalenz in den Sinn-Prozessen der<br />
<strong>Organisation</strong>.<br />
• Zusammenarbeitskultur<br />
Ambivalenz gab es auch in der Kultur der Zusammenarbeit. Als<br />
Anbieter integrierter Versicherungsleistungen ist für Helvetia<br />
Patria eine team- und prozessorientierte Zusammenarbeit<br />
199 Protokoll 13-04, Absatz 28.<br />
200<br />
Protokoll 21-06, Absatz 38.<br />
201<br />
Vgl. z.B. Protokoll 32-05, Absatz 29.<br />
202 Protokoll 11-03, Absatz 36.<br />
204
205<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
zentral. Darum ist beispielsweise der Aufbau eines Prozessmanagements<br />
ein wichtiges Ziel <strong>von</strong> Helvetia Patria. Doch dem<br />
stand das für die Versicherungsbranche typische Einzelkämpfertum<br />
im Weg. „Das war etwas, das mir am ehesten aufgefallen ist:<br />
<strong>Die</strong> Leute waren sich nicht gewohnt, in Teams zu arbeiten. Jeder<br />
war ein Einzelkämpfer, ein Haufen Leute haben für sich<br />
gearbeitet. Und wenn die Arbeit für die Einzelperson gestimmt<br />
hat, dann war das in Ordnung. Aber wie es denn dem Nachbarn<br />
geht oder wie das Team funktioniert, ist weniger interessant<br />
gewesen.“ 203 Damit hatte Helvetia Patria mit einem weiteren<br />
Paradox zu kämpfen: Wie kann man Team- und Prozessorientierung<br />
im Alltag leben, wenn man nicht weiss, 204 wie das<br />
geht?<br />
b) Fragmentierung<br />
<strong>Die</strong> Gesamtorganisation Helvetia Patria zerfiel je nach Blickwinkel in<br />
verschiedenste Teilbereiche mit je unterschiedlichen Werten und Zielen: 205<br />
• nach Sparte: Leben, Nichtleben<br />
• nach Kundenbereich: PG, U, A , VP<br />
• nach Standort: Basel, St. Gallen<br />
• nach <strong>Organisation</strong>: Hauptsitz, Inndienst, Aussendienst<br />
Das Trennende zwischen diesen Teilbereichen (insbesondere die<br />
Segmentierung in Kundenbereiche, vgl. Kapitel 8.1.2.3) wirkte oftm<strong>als</strong> stärker<br />
<strong>als</strong> die Integrationskräfte der Gesamtorganisation, so dass innerhalb der<br />
<strong>Organisation</strong> eine gewisse Resignation bzw. Akzeptanz des Unvermeidlichen<br />
festzustellen war. Es ist „eine Einsicht in die Macht des Faktischen ..., weil<br />
203 Protokoll 11-17, Absatz 27.<br />
204<br />
Mit „Wissen“ ist hier nicht das theoretische Wissen gemeint, das bei Helvetia Patria zweifelsohne<br />
vorhanden war. Es ist das Erfahrungswissen bzw. Handlungswissen gemeint. <strong>Die</strong> englische<br />
Sprache stellt für diese Unterscheidung den differenzierteren Wortschatz zur Verfügung: es geht<br />
nicht um „knowledge“, sondern um „knowing“ (vgl. zu dieser Unterscheidung Cook/Brown 1999).<br />
205<br />
Es sei nochm<strong>als</strong> betont, dass die Beschreibung des <strong>Handlungssystem</strong>s den Alltag <strong>von</strong> Helvetia<br />
Patria vor dem Projekt Dynamo beleuchtet. Der Abschnitt Fragmentierung bezieht sich deshalb<br />
auf die Tempo-Struktur <strong>von</strong> Helvetia Patria (vgl. Kapitel 7.2.3.2, Abbildung 56).
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
einfach die beiden Standorte, die beiden Kulturen, die beiden Disziplinen - na<br />
ja - die sind einfach hier.“ 206<br />
Der Alltag <strong>von</strong> Helvetia Patria war geprägt <strong>von</strong> Bereichsdenken und<br />
Subkulturen. Es fehlte eine Unité de Doctrine, die das Gesamtunternehmen<br />
zusammenhält. Das wurde <strong>von</strong> den Mitarbeitenden <strong>als</strong> Mangel an Klarheit und<br />
Zielvorgaben wahrgenommen. „Allgemein tut man sich schwer, Prioritäten zu<br />
setzen.“ 207<br />
8.1.2.2 Normen<br />
Der Ambivalenz der interpretativen Schemata stand eine klare, vorherrschende<br />
Norm gegenüber, mit der die organisationale Wirklichkeit beurteilt<br />
und legitimiert wurde: Es ist das Primat der Prämien. Ausserdem zog sich ein<br />
unausgesprochenes Tabu quer durch die <strong>Organisation</strong>. Es betraf die<br />
Segmentierung nach Kundenbereichen, die Helvetia Patria im Rahmen des<br />
Projekts Tempo eingeführt hatte (vgl. Kapitel 7.2.3.2 und 8.2.2). <strong>Die</strong> Probleme<br />
und Unzufriedenheit, die man im Alltag mit der Segmentierung hatte (vgl.<br />
Kapitel 8.1.2.3), fanden keine angemessene offizielle Ausdrucksform.<br />
• Primat der Prämien<br />
<strong>Eine</strong>r unserer Interviewpartner brachte es auf den Punkt: „<strong>Die</strong><br />
wichtigste Frage lautet immer: Bringt es Prämien?“ 208<br />
<strong>Die</strong> Höhe der Prämienproduktion war die zentrale mentale Messgrösse.<br />
Über sie wurde im Bewusstsein der Führungskräfte und<br />
Mitarbeitenden der Erfolg der Gesamtorganisation und insbesondere<br />
der Selbstwert des Aussendienstes definiert. 209<br />
Obgleich bereits Bemühungen im Gang waren, differenziertere<br />
Mess- und Lenkungsgrössen einzuführen, 210 war der Alltag<br />
immer noch fixiert auf das Prämienaufkommen. Entsprechend<br />
206<br />
Protokoll 13-09, Absatz 28.<br />
207<br />
Protokoll 31-02, Absatz 36.<br />
208<br />
Protokoll 12-04, Absatz 31.<br />
209<br />
<strong>Die</strong>ser Fokus auf die Prämien ist branchentypisch (vgl. Kapitel 7.1 und Anhang D) und ist in<br />
diesem Sinne ein Überbleibsel der traditionellen Versicherungslogik (vgl. Abbildung 42).<br />
210<br />
Im Aussendienst z.B. über das neue Vergütungssystem „Move“ oder über das neue Führungstool<br />
„Produktivitätssteigerungsprogramm PSP“.<br />
206
207<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
schwer tat man sich z.B. mit der Definition eines ausgewogenen<br />
Zielsystems für den Aussendienst. 211<br />
<strong>Die</strong>se Fokussierung auf die Prämien schlug sich auch deutlich<br />
nieder im Controlling <strong>von</strong> Helvetia Patria. In den Augen der<br />
interviewten Personen war das Controlling <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
zuwenig in den Alltag eingebettet. Es habe eher informativen<br />
Charakter gehabt und keinen direkten Einfluss auf Entscheide<br />
bzw. Handlungen im Alltag ausgeübt. Ausserdem fehlten<br />
wichtige Führungskennzahlen wie Deckungsbeiträge nach<br />
Produkten oder Kundengruppen. 212<br />
• Tabu Segmentierung<br />
<strong>Die</strong> im Rahmen <strong>von</strong> Tempo (vgl. Kapitel 7.2.3.2 und 8.2.2) eingeführte<br />
Aufteilung der <strong>Organisation</strong> in die Kundenbereiche PG, U,<br />
A und VP hat sich bis zu ihrer Ablösung im Rahmen des Projekts<br />
Dynamo nie legitimieren können. 213 Doch die Vorbehalte und der<br />
Widerstand gegen diese Segmentierung fanden bis zum Projekt<br />
Dynamo nie einen formellen, offiziellen Ausdruck. <strong>Die</strong> Idee der<br />
Segmentierung war zu eng verknüpft mit der Vorstellung eines<br />
innovativen, zukunftsorientierten, erfolgreichen Versicherungsdienstleisters,<br />
<strong>als</strong> dass dagegen Kritik hätte erhoben werden<br />
können: „Ich habe das <strong>als</strong> sehr innovativ betrachtet. Und wir sind<br />
da relativ allein auf weiter Flur gestanden in der Versicherungsbranche.<br />
... So konsequent hat das eigentlich keiner durchgezogen.“<br />
214 Kritik an der Segmentierung wäre gleichbedeutend<br />
gewesen mit dem Festhalten an der alten, überholten Versicherungstradition.<br />
Und diesem Verdacht wollte und konnte man sich<br />
selbstverständlich nicht aussetzen. „... <strong>als</strong> alter Versicherungsmann<br />
... habe ich gespürt, dass da ... gewisse Elemente reinkommen,<br />
die sich beissen werden. Und man hat mir auch zu<br />
211<br />
Vgl. Protokoll 22-18.<br />
212<br />
Vgl. z.B. Protokolle 11-11, 13-13, 11-13. Das war eine Schwachstelle, die insbesondere im<br />
Projekt Dynamo (vgl. Kapitel 7.2.3.3 und 8.3) schmerzhaft zum Vorschein kam, weil dort vielfach<br />
das verlässliche Zahlenmaterial für eine solide Ist-Analyse fehlte (vgl. Protokolle 22-02, 22-08,<br />
22-27).<br />
213<br />
Zu den Gründen für dieses Legitimationsdefizit vgl. Kapitel 8.1.2.3.<br />
214 Protokoll 13-12, Absatz 31.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
verstehen gegeben, dass das halt jetzt eine neue Welt ist, und ...<br />
wenn Sie das nicht akzeptieren, dann müssen Sie sich halt die<br />
Grundsatzfrage stellen. ... und dann hat man sich dann natürlich<br />
zurückgenommen ... .“ 215 So kam es, dass die Segmentierung<br />
zwar in den Augen unserer Interviewpartner „eines der grössten<br />
Probleme ist, das HPV im Moment versucht auszubalancieren“<br />
216 , aber gleichzeitig „hat [man] das nicht wahrhaben<br />
wollen und man hat ... das gar nicht mehr erwähnen dürfen in<br />
dieser Firma, dass das ein Problem ist.“ 217<br />
<strong>Die</strong>ser unausgesprochene Widerspruch zwischen der proklamierten<br />
und in Struktur gegossenen Norm „Kundenorientierung<br />
durch Segmentierung“ einerseits und den erlebten jedoch<br />
tabuisierten Problemen und Widersprüchen im Alltag andererseits<br />
(vgl. Kapitel 8.1.2.3) hat während fünf Jahren mehr oder<br />
weniger unterschwellig die <strong>Organisation</strong> gelähmt. „Das hat dann<br />
auch diese Passivität ausgelöst. ... Man ist abgetaucht und hat<br />
abgewartet.“ 218<br />
8.1.2.3 Ressourcen<br />
Welche Materialisierungen der organisationalen Wirklichkeit waren für das<br />
<strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria <strong>von</strong> entscheidender Bedeutung? Dazu<br />
sind an erster Stelle die beiden Faktoren Firmengrösse und die<br />
Segmentierung der <strong>Organisation</strong>sstruktur zu nennen:<br />
• Firmengrösse<br />
Helvetia Patria gehört nicht zu den grossen Versicherern der<br />
Schweiz. Das wird <strong>von</strong> den Führungskräften und Mitarbeitenden<br />
jedoch durchwegs <strong>als</strong> Chance gewertet: 219 Helvetia Patria sei<br />
überschaubar, habe unkomplizierte Kommunikationswege und<br />
kurze Entscheidungsprozesse. Das mache die <strong>Organisation</strong><br />
215<br />
Protokoll 13-15, Absatz 27.<br />
216<br />
Protokoll 11-17, Absatz 35.<br />
217<br />
Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />
218<br />
Protokoll 13-15, Absatz 29.<br />
219<br />
Vgl. Protokoll 31-03.<br />
208
209<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
flexibel und reaktionsschnell. Interessanterweise haben die<br />
Interviewpartner ihre positiven Aussagen meist umgehend<br />
wieder relativiert, indem sie darauf hinwiesen, dass Helvetia<br />
Patria diese Chancen bzw. Vorteile noch viel zu wenig nutze. 220<br />
„Allerdings wird diese Chance noch zu wenig genutzt. ... Hierfür<br />
wäre ein mentaler Wandel aller Mitarbeiter notwendig.“ 221 Ein<br />
weiterer Vorteil der Firmengrösse liegt darin, dass man sich die<br />
„Versicherungs-Arroganz“, alles selber machen zu wollen, gar<br />
nie leisten konnte und daher schon früh den Weg über<br />
Kooperationen und innovative Vertriebsstrukturen gesucht<br />
habe. 222<br />
<strong>Die</strong> mittlere Grösse <strong>von</strong> Helvetia hatte in den Augen der<br />
Führungskräfte und Mitarbeitenden aber auch zwei gewichtige<br />
Nachteile. Zum einen macht sie verwundbar für Übernahmeversuche<br />
der Konkurrenz. Zum anderen stellt das durch die<br />
Grösse begrenzte Prämienvolumen aus zweierlei Gründen ein<br />
Problem dar. Erstens war das Verhältnis Prämienaufkommen/Fixkostenblock<br />
ungünstig (Kostenstruktur). Andererseits<br />
beeinträchtigte das begrenzte Prämienvolumen die<br />
Investitionskraft <strong>von</strong> Helvetia Patria. Das ist insbesondere im<br />
Hinblick auf zukünftige Informatikinvestitionen ein ernst zu<br />
nehmender Engpassfaktor. „Wenn man das alles zusammenzählt,<br />
muss man sich die Frage stellen, hat Helvetia Patria<br />
strategisch betrachtet die richtige Grösse. Also, können wir mit<br />
etwa 2 ½ Milliarden Franken Prämien in der Schweiz langfristig<br />
überleben. ... Also unser Damoklesschwert sind die<br />
Informatikinvestitionen.“ 223<br />
220<br />
Das ist ein Hinweis darauf, dass sich gewisse Strukturmodalitäten des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria im Sinne einer Dialectic of Control gegenseitig blockieren, z.B. die interpretativen<br />
Schemata der traditionellen Versicherungslogik und die (Chancenauswertung der) Firmengrösse<br />
(vgl. Kapitel 8.1.5).<br />
221<br />
Protokoll 11-17, Absatz 39.<br />
222 Vgl. Protokoll 11-04, Absatz 44 und 11-15, Absatz 42.<br />
223 Protokoll 13-13, Absatz 30.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
• <strong>Organisation</strong>sstruktur (Segmentierung)<br />
Im Rahmen des Projekts Tempo wurde die <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria neu aufgestellt. <strong>Die</strong> Segmentierung nach<br />
Kundenbereichen wurde bis in die <strong>Organisation</strong>sstrukturen<br />
durchgezogen und die bestehenden Kundenbeziehungen und<br />
Versicherungsportefeuilles neu verteilt (vgl. Kapitel 7.2.3.2 und<br />
8.2.2). <strong>Die</strong>s hatte eine gewaltige Auswirkung auf die <strong>Organisation</strong>.<br />
<strong>Die</strong> einzelnen Kundenbereiche fingen an, sich gegenseitig<br />
am Markt zu konkurrenzieren. <strong>Die</strong> Kundenbereiche agierten „wie<br />
eigene Firmen“. „Da hätten Sie Aktiengesellschaften daraus<br />
machen können, die wären gezeichnet worden.“ 224 Mit „Grabenkämpfen“<br />
und „fast Kannibalismus“ wurde in unseren Interviews<br />
das Verhältnis zwischen den Kundenbereichen untereinander,<br />
insbesondere den Kundenbereichen PG und U, beschrieben. Als<br />
Gründe für diese Entwicklung wurden uns <strong>von</strong> den Interviewpartnern<br />
alternativ zwei verschiedene Gründe genannt.<br />
224 Protokoll 13-02, Absatz 27.<br />
225 Protokoll 13-13, Absatz 27.<br />
226 Protokoll 13-09, Absatz 28<br />
<strong>Die</strong> einen waren überzeugt da<strong>von</strong>, dass die Schwierigkeiten mit<br />
der Segmentierung in ihrer zu wenig konsequenten Umsetzung<br />
liegt. „Man hat am Anfang eine gute Idee gehabt, diese relativ<br />
hart und stringent formuliert, aber in der Umsetzung sind <strong>von</strong><br />
Phase zu Phase, oder auch schon in der Konzepterarbeitung,<br />
Kompromisse gemacht worden, wo man versucht hat, die verschiedenen<br />
Anspruchsgruppen gegeneinander auszutarieren.“ 225<br />
<strong>Die</strong> anderen führten an, dass die Segmentierungs-Idee an sich<br />
f<strong>als</strong>ch war, weil sie gegen die Grundlogik des Versicherungsgeschäfts<br />
verstossen habe. „... hat mich überrascht seinerzeit in<br />
der Konsequenz, mit der man das durchgezogen hat. Ich habe<br />
das nie geglaubt, weil ich kenne die Leute. Ganz simpel: Ich<br />
kenne ... keinen erfolgreichen Lebenagent, der ebenso<br />
erfolgreich Nichtleben-Produkte verkauft.“ 226 „Aber es gibt<br />
gewisse Grundsätze, die man nicht verletzen darf. ... [Man darf]<br />
keine Kunden mutwillig jemandem wegnehmen. ... <strong>Die</strong> haben<br />
210
211<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
sich dann gewehrt nach Strich und Faden und dann hat man<br />
Kompromisse machen müssen. ... Und dann hat sich das<br />
verwässert und es ist dann kompliziert geworden. Man hat nicht<br />
mehr genau gewusst, was ist jetzt wirklich die Meinung. ... Man<br />
hat es nicht mehr so im Griff gehabt.“ 227<br />
Unabhängig da<strong>von</strong>, was die Ursachen der internen Probleme mit<br />
der Segmentierung waren - sie haben dazu geführt, dass sich<br />
Helvetia Patria „zu fest mit sich selber beschäftigte“ statt<br />
„Prämien herein[zu]holen“. 228<br />
8.1.2.4 Zusammenfassung<br />
Abschliessend lassen sich die Strukturmodalitäten des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria wie folgt zusammenfassen (vgl. Abbildung 63):<br />
interpretative Schemata Ressourcen<br />
Normen<br />
• Ambivalenz<br />
• Fragmentierung<br />
•Firmengrösse<br />
• Segmentierung<br />
•Primat der Prämien<br />
• Tabu Segmentierung<br />
Abbildung 63: Strukturmodalitäten des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
• Interpretative Schemata<br />
Helvetia Patria befand sich im Aufbruch in die Zukunft, doch die<br />
neue Identität <strong>als</strong> moderner, kundenorientierter Versicherungsdienstleister<br />
war noch nicht gefestigt. Infolgedessen herrschte<br />
ein Sinn-Vakuum, geprägt <strong>von</strong> der Suche nach einer neuen<br />
Orientierung und einer fehlenden Unité de Doctrine.<br />
• Normen<br />
Unterschiedliche Normen standen im Widerstreit. Der Alltag war<br />
noch geprägt vom Primat der Prämien, das aus der traditionellen<br />
227 Protokoll 13-15, Absatz 28.<br />
228 Protokoll 13-15, Absatz 28.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Versicherungslogik stammte. Daneben wurde versucht, die neue<br />
Norm Kundenorientierung über die Segmentierung der<br />
<strong>Organisation</strong>sstrukturen zu verankern. Doch diese Norm konnte<br />
wegen der fehlenden Legitimierung der Segmentierung nicht<br />
Fuss fassen.<br />
• Ressourcen<br />
Helvetia Patria hat eine Firmengrösse, die Flexibilität und<br />
Reaktionsschnelligkeit ermöglicht, aber auch gewisse Risiken<br />
vor allem im finanziellen Bereich birgt (Kostenstruktur,<br />
Investitionskraft). Einschneidenstes Merkmal waren die Folgen<br />
der strukturellen Umsetzung der Segmentierung. Sie haben die<br />
<strong>Organisation</strong> gelähmt.<br />
8.1.3 Bezugsfähigkeiten<br />
Bezugsfähigkeiten sind die kollektive Fähigkeit, den Verhandlungsprozess des<br />
Organisierens zu formen und steuern. Sie sind entscheidend dafür, wie im<br />
laufenden Prozess des Organisierens auf das Repertoire der Strukturmodalitäten<br />
zugegriffen wird und welches Set an Schemata, Normen und<br />
Ressourcen aktualisiert wird. In diesem Sinne sind Bezugsfähigkeiten entscheidend<br />
für die Qualität des Prozesses und das Ergebnis des<br />
Organisierens.<br />
<strong>Die</strong> empirischen Daten, die im Rahmen des Forschungsprojekts gesammelt<br />
worden sind, lassen keine detaillierte Analyse der Bezugsfähigkeiten zu. 229 In<br />
der Regel musste daher <strong>von</strong> Ereignissen, Entscheidungen oder Handlungen<br />
auf die darunter liegenden Bezugsfähigkeiten geschlossen werden.<br />
Entsprechend fällt die Beschreibung der Bezugsfähigkeiten eher grob aus.<br />
8.1.3.1 (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />
<strong>Die</strong> (Re-)Konstruktionsfähigkeit ist die Fähigkeit zum Aufbau neuer bzw. zur<br />
Ausdifferenzierung bestehender Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. <strong>Die</strong>se<br />
Fähigkeit war gerade für Helvetia Patria <strong>von</strong> grosser Bedeutung, steckte doch<br />
229 <strong>Die</strong> Beobachtung <strong>von</strong> Bezugsfähigkeiten setzt eine enge Begleitung <strong>von</strong> zwei bis drei bestimmten<br />
Aktivitäten (Projekte, Umsetzungsmassnahmen) direkt im organisationalen Alltag voraus, denn<br />
Bezugsfähigkeiten zeigen sich nur im Tun. <strong>Die</strong> Forschungsaktivitäten der Feldforschung waren<br />
jedoch anders ausgerichtet (vgl. Kapitel 6.1.3). Sie haben vor allem ein historisches Querschnittsbild<br />
vom <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria vermittelt.<br />
212
213<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
die Firma mitten im Wandel zu einer modernen, kundenorientierten Versicherungsgesellschaft.<br />
Der Aufbau und die Verankerung neuer, interpretativer<br />
Schemata war dabei ein elementarer Bestandteil des Veränderungsprozesses.<br />
<strong>Die</strong> Erneuerung <strong>von</strong> interpretativen Schemata kann durch gezielte Interventionen<br />
oder kontinuierlich im organisationalen Alltag erfolgen, wobei eine<br />
Kombination beider Möglichkeiten sicherlich die effektivste Methode darstellt.<br />
Helvetia Patria nutzte diese beiden Möglichkeiten wie folgt:<br />
• gezielte Interventionen<br />
Helvetia Patria hat die Entstehung neuer interpretativer<br />
Schemata mit zwei grossen Massnahmen aktiv vorangetrieben:<br />
mit der Einführung einer kundenorientierten <strong>Organisation</strong>sstruktur<br />
(das heisst der Segmentierung, vgl. Kapitel 7.2.3.2 und<br />
8.2.2) und mit der Einführung eines neuen, marktorientierten<br />
Vergütungssystems für den Aussendienst (Move). Beide Massnahmen<br />
haben die traditionelle Versicherungslogik komplett auf<br />
den Kopf gestellt und waren zum Zeitpunkt ihrer Einführung für<br />
die Versicherungsbranche äusserst progressiv. Helvetia Patria<br />
hat damit eine Vorreiterrolle übernommen. Beide Massnahmen<br />
haben Helvetia Patria aber auch einer immensen Belastungsprobe<br />
ausgesetzt, weil zum Zeitpunkt ihrer operativen Einführung<br />
die neuen interpretativen Schemata noch nicht ausreichend<br />
verankert waren. 230 So ist letztlich beiden Veränderungsinitiativen<br />
Widerstand erwachsen.<br />
<strong>Die</strong> beiden Beispiele Segmentierung und Move zeigen, dass bei<br />
Helvetia Patria das Bewusstsein vorhanden war, dass die<br />
Entstehung neuer interpretativer Schemata aktiv angegangen<br />
werden muss, und sich nicht nur in Leitbildern und Strategien,<br />
sondern unmittelbar in den Materialisierungen des organisationalen<br />
Alltags (Strukturen, Lohnsystem) widerspiegeln muss. <strong>Die</strong><br />
230 <strong>Die</strong> Sinn-Defizite der Segmentierung sind <strong>von</strong> unseren Interviewpartnern mehrfach direkt angesprochen<br />
worden (vgl. Kapitel 8.1.2.3). <strong>Die</strong> Deutungsprobleme <strong>von</strong> Move waren hingegen<br />
weniger offensichtlich. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Einführung <strong>von</strong> Move durch<br />
grosse Informatikprobleme überschattet war, die die Sinn-Diskussion in den Hintergrund gedrängt<br />
haben. Zwischen den Zeilen kam jedoch verschiedentlich zum Ausdruck, dass insbesondere der<br />
Vertrieb Zweifel an der Sinnhaftigkeit <strong>von</strong> Move hatte. Move wurde eine „Traumwelt“ genannt und<br />
den Move-Verantwortlichen wurde vorgeworfen, nicht zu wissen bzw. berücksichtig zu haben,<br />
was den Aussendienst motiviert (vgl. Protokoll 22-18, Absatz 34).
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Segmentierung und Move haben somit direkt auf zwei Strukturdimensionen<br />
des <strong>Handlungssystem</strong>s eingewirkt: auf die<br />
Signifikation und auf die Reifikation.<br />
<strong>Die</strong> beiden Beispiele machen aber auch deutlich, dass die (Re-)<br />
Konstruktionsfähigkeit <strong>von</strong> Helvetia Patria nicht ausreichte.<br />
Sowohl die Segmentierung wie Move litten unter einem Legitimationsproblem,<br />
was darauf hin deutet, dass die (Re-)Konstruktionsprozesse<br />
der anvisierten neuen organisationalen Wirklichkeit<br />
nicht durchgehend erfolgreich waren.<br />
• kontinuierlich im Alltag<br />
Formelle, institutionalisierte Kontakt- und Dialogplattformen (z.B.<br />
Sitzungen oder Tagungen) bilden eine ideale Arena für die<br />
kontinuierliche Arbeit an den (Re-)Konstruktionsprozessen der<br />
organisationalen Wirklichkeit. Ein im Rahmen des Forschungsprojekts<br />
vorgenommene Analyse der Sitzungs- und Tagungslandschaft<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria 231 hat jedoch Lücken aufgezeigt.<br />
Erstens fehlte eine Plattform für das mittlere Kader. Das birgt<br />
eine zweifache Gefahr in sich. Zum einen kann - hierarchisch<br />
gesehen - im Bereich des mittleren Kaders ein Kommunikationsvakuum<br />
entstehen, das die (Re-)Konstruktionsprozesse<br />
beeinträchtigt. Es gibt Hinweise darauf, dass Helvetia Patria<br />
genau mit diesem Problem kämpfte: „Von all den Initiativen, die<br />
bei Helvetia Patria gestartet worden sind, ist nichts unten<br />
angekommen. ... <strong>Die</strong> Informationen bleiben auf der Ebene<br />
Teamleiter stecken.“ 232 Zum anderen wurde durch die Ausklammerung<br />
des mittleren Kaders aus der Sitzungs- und<br />
Tagungslandschaft aber auch Führungspotenzial brach liegen<br />
gelassen. 233<br />
231 Vgl. Protokoll 32-05, am Beispiel des Bereichs Vertriebsmanagement.<br />
232 Protokoll 11-04, Absatz 43.<br />
233 Für die Führungskonferenz, die dreimal jährlich stattfindet, hat Helvetia Patria für dieses Problem<br />
eine elegante Lösung gefunden. Jeder <strong>Organisation</strong>sbereich verfügt über zwei so genannte Wildcards.<br />
Mit diesen Wildcards können Personen zur Führungskonferenz eingeladen werden, die<br />
<strong>von</strong> ihrem hierarchischen Rang (mittleres Kader) her eigentlich nicht zum fixen Kreis der<br />
Teilnehmenden der Führungskonferenz (oberes Kader) gehören.<br />
214
215<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Zweitens sah die Sitzungs- und Tagungslandschaft keine<br />
bereichsübergreifenden Anlässe vor, wie z.B. zwischen Innendienst<br />
und Aussendienst oder Fachbereich und Vertrieb. Das<br />
war insofern ein Nachteil, <strong>als</strong> mit interdisziplinären Anlässen der<br />
Fragmentierung innerhalb <strong>von</strong> Helvetia Patria (vgl. Kapitel<br />
8.1.2.1) hätte entgegengewirkt werden können.<br />
Insgesamt scheint (Re-)Konstruktionsfähigkeit im <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria vorhanden, aber noch ungenügend ausgebildet zu sein.<br />
Insbesondere war die Verknüpfung zwischen der (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />
und der Rationalisierungsfähigkeit nicht gesichert, so dass sich keine<br />
Legitimation für neue interpretativen Schemata entwickeln bzw. durchsetzen<br />
konnte. <strong>Die</strong> branchentypisch mangelnde Erfahrung mit Change-Prozessen, mit<br />
der selbstverständlich auch Helvetia Patria kämpft, könnte ein Grund dafür<br />
sein. Darauf deutet auch folgende Aussage eines Interviewpartners: „Und<br />
persönlich bin ich dam<strong>als</strong> wie heute überzeugt, dass das der Weg wäre. Aber<br />
wir haben ein paar Dinge elementar unterschätzt.“ 234<br />
8.1.3.2 Rationalisierungsfähigkeit<br />
<strong>Die</strong> Rationalisierungsfähigkeit ist die Fähigkeit zur Herausbildung <strong>von</strong> und zur<br />
Referenzierung auf Normen, die zur Legitimation und Fixierung der<br />
organisationalen Wirklichkeit herangezogen werden können.<br />
Im Rahmen der Feldforschung waren schon früh Hinweise darauf aufgetaucht,<br />
dass gerade die Rationalisierungsfähigkeit ein Schwachpunkt im <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria sein könnte. Insbesondere die Verbindlichkeit und<br />
Konsequenz der Entscheidungsprozesse wurde <strong>von</strong> unseren Interviewpartnern<br />
immer wieder kritisiert. Das Problem kann hauptsächlich zwei<br />
Faktoren zugeordnet: fehlenden Vorgaben und keine Sanktionen.<br />
• fehlende Vorgaben<br />
Es fehlte offenbar die Fähigkeit, Vorgaben bzw. Leitplanken zu<br />
erlassen, die das organisationale Handeln im Alltag verbindlich<br />
hätten lenken können. „Man könnte viel mehr machen, wenn<br />
man ein bisschen mehr konzentriert, wenn man besser führen<br />
würde, wenn man besser Vorgaben machen würde. Man könnte<br />
234 Protokoll 13-02, Absatz 21.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
viel, viel mehr machen. Viel, viel mehr. Also es wäre viel, viel<br />
mehr möglich.“ 235<br />
• keine Sanktionen<br />
Das Nichteinhalten oder Nichterfüllen <strong>von</strong> Zielen ist bei Helvetia<br />
Patria nicht zwangsläufig sanktioniert worden. „Es klingt nicht<br />
populär, aber es geht eigentlich nur über das Runterschrauben<br />
<strong>von</strong> Demokratie in einem gewissen Sinne, dass man sich strikter<br />
an Entscheidungen halten muss und die entsprechend auch<br />
umsetzt, und sanktioniert, falls die Ziele nicht erreicht werden.<br />
Also, ich habe jetzt in den ... Jahren, wo ich da bin, in dem Sinn<br />
nie Sanktionen gesehen, das heisst jetzt nicht, dass jedes Mal<br />
ein Kopf rollen muss.“ 236<br />
<strong>Die</strong> schlecht ausgebildete Rationalisierungsfähigkeit des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria hat sich letztlich darin niedergeschlagen, dass die<br />
<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> führungs- und entscheidungsschwach wahrgenommen<br />
worden ist. „... in der Helvetia Patria [ist] die Führungsintensität ... viel weicher.<br />
... [Sie ist] stärker auf Kompromisse oder Demokratie ausgerichtet. ... Es<br />
gipfelt, und das ist bei uns leider ein Nachteil, relativ stark in den Punkt, dass<br />
wir hier drinnen sehr viel diskutieren, abstimmen, versuchen eine breite<br />
Konsensbasis zu erreichen, in sehr vielen Belangen. Und dann vielfach einen<br />
Entscheid, der gefällt worden ist, auch nachträglich noch diskutieren und<br />
allenfalls abschwächen.“ 237<br />
8.1.3.3 Routinisierungsfähigkeit<br />
Routinisierung ist die Fähigkeit, der organisationalen Wirklichkeit eine gegenständlich<br />
Form und damit eine gewisse Autarkie und Kontinuität zu verleihen.<br />
<strong>Die</strong> Routinisierungsfähigkeit lässt sich gut beobachten in verschiedensten<br />
Implementierungsprozessen, z.B. im Projektmanagement, im Prozessmanagement<br />
oder in der Strategieentwicklung. Es hat sich gezeigt, dass es in<br />
allen drei Beispielen an Routinisierungsfähigkeit fehlte:<br />
235 Protokoll 13-08, Absatz 32.<br />
236 Protokoll 13-13, Absatz 28.<br />
237 Protokoll 13-13, Absatz 26.<br />
216
217<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
• Strategieentwicklung<br />
In der ersten Phase der Feldforschung haben wir Forscherinnen<br />
unter anderem den Entwicklungsprozess der Strategie 99-04<br />
rekonstruiert. <strong>Die</strong> Untersuchung ergab, dass zwar klare<br />
Aussagen zur strategischen Positionierung und zu den strategischen<br />
Zielen vorlagen, sich Helvetia Patria aber schwer tat bei<br />
der Umsetzung der strategischen Pläne in den organisationalen<br />
Alltag. 238 <strong>Die</strong> Verknüpfung zwischen strategischer und operativer<br />
Ebene schien nicht zu gelingen. Ein Grund für diese<br />
Schwierigkeit, die Strategie mit dem Alltag zu verbinden, lag in<br />
der Gestaltung des Strategieprozesses. Es gab keine Durchgängigkeit<br />
<strong>von</strong> der Strategieentwicklung bis zur -umsetzung. Das<br />
Strategieteam, das für die Strategieentwicklung zuständig war,<br />
wurde nach Abschluss der Konzeptphase aufgelöst und die<br />
Verantwortung für die Umsetzung der erarbeiteten strategischen<br />
Massnahmen der Linie übertragen. Mit dem Wegfall des<br />
Strategieteams fehlte dann jedoch eine übergeordnete Instanz,<br />
die den dezentralisierten Umsetzungsprozess gesamthaft hätte<br />
planen, steuern und koordinieren können.<br />
• Prozessmanagement<br />
<strong>Die</strong> Beobachtungen und Interviews zum Thema Prozessmanagement<br />
ergaben das folgende Bild: Das Prozessmanagement<br />
bei Helvetia Patria war eine Stabsaufgabe. Der Stab hat<br />
die Arbeiten der einzelnen Kundenbereiche unterstützt, aber das<br />
Prozessmanagement an sich nicht zentral gesteuert und<br />
koordiniert. „Es existiert keine gesamtheitliche Koordination aller<br />
Aktivitäten bezüglich Prozessmanagement bei Helvetia<br />
Patria.“ 239 Das machte es entsprechend schwierig, dass das<br />
Prozessmanagement flächendeckend Fuss fassen konnte und<br />
führte ausserdem zu einer „riesigen Bandbreite“ bezüglich der<br />
konkreten Ausgestaltung des Prozessmanagements. 240 So kam<br />
es, dass Helvetia Patria zwar ein Prozessmanagement hatte und<br />
238<br />
Vgl. Protokoll 31-03.<br />
239<br />
Protokoll 11-05, Absatz 34.<br />
240<br />
Protokoll 11-05, Absatz 34.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Prozesse auch bereichsübergreifend definiert waren, aber diese<br />
Prozesse einfach nicht gelebt wurden. 241 Das Prozessmanagement<br />
konnte deshalb nie dauerhafte und sichtbare Spuren im<br />
organisationalen Alltag hinterlassen.<br />
• Projektmanagement<br />
Der wirtschaftliche und kulturelle Aufbruch <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
schlug sich in einer Vielzahl <strong>von</strong> Projekten nieder. 242 Helvetia<br />
Patria verfügte zwar über ein detailliertes Projektmanagement-<br />
Handbuch sowie über eine Stelle, die für die Projektsteuerung<br />
verantwortlich war, aber beides hat nicht gegriffen. 243 <strong>Die</strong> zeit-<br />
und budgetgerechte Abwicklung der Projekte war ein ungelöstes<br />
Problem bei Helvetia Patria. Ein Interviewpartner hat daher den<br />
ironischen Vorschlag gemacht, besser nicht <strong>von</strong> Projekten,<br />
sondern <strong>von</strong> „Versuchen“ zu reden. 244 <strong>Die</strong> Schwierigkeiten im<br />
Projektmanagement lassen sich auf eine ungenügende Routinisierungsfähigkeit<br />
zurückzuführen. <strong>Die</strong> Projekte waren fachlich<br />
gut ausgestattet und brachten konzeptionell gute Lösungen<br />
hervor, aber sie waren nicht in ein übergreifendes Change<br />
Management eingebettet. Somit war einmal mehr die Schnittstelle<br />
zwischen Konzept und organisationalem Alltag nicht<br />
sichergestellt (vgl. Strategieprozess).<br />
8.1.3.4 Zusammenfassung<br />
Zusammenfassend lässt sich für die Bezugsfähigkeiten im <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria festhalten, dass alle drei Bezugsfähigkeiten die gleiche<br />
Schwäche aufwiesen (vgl. Abbildung 64). Sie konnten keine Brücken schlagen<br />
zwischen der Ideen-Ebene und der Handlungs-Ebene.<br />
241 Vgl. Protokoll 11-17, Absatz 40.<br />
242<br />
In den Jahren 2000/2001 waren es allein 29 Informatikprojekte mit einem Projektvolumen<br />
zwischen einer halben und zwanzig Millionen (vgl. Protokoll 11-14, Absatz 32).<br />
243<br />
Vgl. Protokoll 22-05, Absatz 41.<br />
244 Protokoll 11-04, Absatz 36.<br />
218
(Re-)Konstruktion<br />
• Bewusstsein vorhanden<br />
• wenig praktische Erfahrung<br />
Routinisierung<br />
• Bruch zwischen Konzept<br />
und Umsetzung<br />
219<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Rationalisierung<br />
• fehlende Vorgaben<br />
• keine Sanktionen<br />
Abbildung 64: Bezugsfähigkeiten des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
<strong>Die</strong> Bezugsfähigkeiten waren zu wenig ausgebildet, um ein ganz bestimmtes<br />
Set an Schemata, Normen und Ressourcen nachhaltig aktualisieren und verfestigen<br />
zu können. So reichten die vorhanden Bezugsfähigkeiten nicht aus,<br />
um Handlungslücken zu schliessen:<br />
• (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />
zwischen der strategischen Vision und dem operativen Alltag<br />
• Rationalisierungsfähigkeit<br />
zwischen Entscheid und Massnahme<br />
• Routinisierungsfähigkgeit<br />
zwischen Konzept und Umsetzung<br />
8.1.4 Verhandlungsprozess des Organisierens<br />
Der Verhandlungsprozess des Organisierens ist der eigentliche Konstruktionsund<br />
Reifikationsprozess der organisationalen Wirklichkeit. Es ist ein kollektiver<br />
Prozess, in dem kognitive und politische Elemente aufs Engste miteinander<br />
verwoben sind. <strong>Die</strong> Ergebnisse dieses Prozesses schlagen sich nieder in den<br />
sozialen Praktiken der <strong>Organisation</strong>, das heisst den routinisierten Kommunikations-<br />
und Interaktionsformen des organisationalen Alltags, aus denen sich<br />
das <strong>Handlungssystem</strong> letztlich selbst wieder (re-)produziert.<br />
8.1.4.1 Kognitive Prozesse<br />
<strong>Die</strong> kognitiven Prozesse formen und steuern die kollektive Wahrnehmung der<br />
organisationalen Wirklichkeit. Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten<br />
vereinen sich hier zu einem kollektiven Muster, wie die soziale Welt wahrgenommen<br />
und gedeutet wird und welche Möglichkeiten sich in dieser sozialen
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Welt anbieten. In den kognitiven Prozessen werden die Grundzüge der<br />
organisationalen Identität verfertigt.<br />
<strong>Die</strong> kognitiven Prozesse im <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria zeichneten<br />
sich vor allem durch ein Merkmal aus: Offenheit. Der Begriff Offenheit kann in<br />
einem doppelten Sinn gedeutet werden: offen im Sinn <strong>von</strong> aufgeschlossen,<br />
aber auch offen im Sinn <strong>von</strong> (noch) ungeklärt. Auf die kognitiven Prozesse im<br />
<strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria trafen beide Bedeutungsinhalte zu.<br />
• aufgeschlossen<br />
Bei Helvetia Patria kann man „auf der grünen Wiese denken“. 245<br />
Es war möglich, sich Nischen zu schaffen, in denen völlig Neues<br />
ausprobiert werden konnte, ohne Zwänge und Rücksichtnahme<br />
auf Bestehendes. 246<br />
• ungeklärt<br />
<strong>Die</strong> kognitiven Prozesse blieben häufig aber auch stecken, bevor<br />
alle relevanten Punkte verbindlich geklärt worden waren. Ergebnisse<br />
waren zu wenig ausgearbeitet bzw. ausdifferenziert. 247<br />
„Und es hat dann teilweise wirklich die seriöse Auseinandersetzung<br />
und Tiefe gefehlt.“ 248<br />
<strong>Die</strong> Offenheit der kognitiven Prozesse konnte im <strong>Handlungssystem</strong> nicht<br />
kompensiert werden, da weder die interpretativen Schemata noch die<br />
Rationalisierungsfähigkeit ein ausgleichendes Gegengewicht zu leisten<br />
vermochten. Das hat zur Folge, dass es den Prozessen des Organisierens an<br />
Verbindungskraft fehlt. Obwohl es kollektive Prozesse waren, schafften sie<br />
nicht wirklich eine Kollektivität, eine gemeinsame Basis. Sie waren nicht<br />
wirklich identitätsstiftend.<br />
245<br />
Protokoll 11-11, Absatz 31. (Mit dem interessanten Nachsatz: „Das Umsetzen ist dann wieder<br />
etwas anderes.“)<br />
246<br />
Aus diesen Nischen sind z. B. die innovativen Philosophien der Segmentierung und Move, die<br />
Initiativen des Kundenbereichs VP oder die GM-Internetlösung entstanden. Auch die Durchführung<br />
unseres Forschungsprojekts war nur möglich dank dieser Offenheit.<br />
247<br />
Beispiele dafür konnten wir in der Zeit der Feldforschung verschiedentlich beobachten, etwa bei<br />
der Klärung und Festlegung des Status <strong>von</strong> Agenturen, in der Namensgebung der Kompetenzcenter<br />
oder bei der Handhabung der Unterscheidung KB1/KB2 im Einstufungstool.<br />
248<br />
Protokoll 13-13, Absatz 27.<br />
220
221<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
8.1.4.2 Politische Prozesse<br />
<strong>Die</strong> politischen Prozesse formen und steuern die kollektive Integration und<br />
Koordination der organisationalen Wirklichkeit. Hier wird ausgehandelt und<br />
selektiert. Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten vereinen sich zu einem<br />
kollektiven Muster, wie sich die soziale Welt in einer ganz bestimmten<br />
Konstellation verfestigt und bestätigt. In den politischen Prozessen werden die<br />
Grundzüge der organisationalen Legitimation verfertigt.<br />
Entscheidend für das Funktionieren der politischen Prozesse im <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria war die Konfliktkultur:<br />
• Konfliktkultur<br />
Aussagen der Interviewpartner geben Hinweise darauf, dass die<br />
politischen Prozesse des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
<strong>von</strong> einem grossen Harmoniebedürfnis geprägt waren und daher<br />
Konflikte nicht wirklich ausgetragen werden konnten: „Man ist<br />
wirklich überall nett und lieb zueinander, auch auf oberster Stufe.<br />
Das ist ein Riesenqualitätssiegel für eine Firma. Aber es braucht<br />
auch gewisse Konfliktfähigkeit. ... Man sucht immer Konsens." 249<br />
Oder: „Ich wünsche mir mehr Konflikte, es wird einfach alles<br />
immer nur schön geredet in dieser Unternehmung drin. Man ist<br />
immer nur lieb und nett miteinander.“ 250<br />
Harmoniebedürfnis und fehlende Konfliktfähigkeit schienen dem<br />
<strong>Handlungssystem</strong> das Leben, die Dynamik zu nehmen: „Wenn<br />
alle friedlich und höflich miteinander sind, dann gibt das<br />
friedhöflich.“ 251<br />
<strong>Die</strong> Folge war, dass es den Prozessen des Organisierens an Verbindlichkeit<br />
fehlte. Sie schafften nicht wirklich eine Legitimation des organisationalen<br />
Alltags. Es fehlten die Orientierungspunkte. Daraus erwuchs der Wunsch,<br />
mehr Führung zu spüren: „Man versucht Gespräch um Gespräch die Leute zu<br />
überzeugen, anstatt zu sagen: So ist es und so wird es gemacht!“ 252<br />
249<br />
Protokoll 13-16, Absatz 29.<br />
250<br />
Protokoll 13-04, Absatz 33.<br />
251<br />
Protokoll, 13-16, Absatz 29.<br />
252<br />
Protokoll 11-15, Absatz 40.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
8.1.4.3 Soziale Praktiken<br />
Soziale Praktiken sind routinisierte Handlungen, mit denen sich das<br />
<strong>Handlungssystem</strong> fortwährend (re-)produziert. Was waren die typischen Merkmale<br />
der sozialen Praktiken des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria? 253<br />
• pragmatisch zupackend<br />
Probleme und Herausforderungen des organisationalen Alltags<br />
wurden zupackend und unbürokratisch gelöst. Leistungsbereitschaft<br />
und Engagement waren spürbar. Der Handlungspragmatismus<br />
hatte jedoch auch eine Kehrseite. Den sozialen<br />
Praktiken fehlte eine übergeordnete Ausrichtung und Steuerung.<br />
Der Arbeitsalltag wurde in einzelnen Problemlösungen abgearbeitet.<br />
<strong>Die</strong> resultierende organisationale Wirklichkeit glich eher<br />
einem Patchwork <strong>als</strong> einem einheitlichen Entwurf.<br />
• ad-hoc problemorientiert<br />
Problemlösungen waren häufig Insellösungen. Das ermöglichte<br />
ein zügiges und einfaches Vorgehen und brachte rasch<br />
Resultate. <strong>Die</strong> Kehrseite da<strong>von</strong> war, dass Denken und Handeln<br />
zuwenig prozessorientiert waren. <strong>Die</strong> Insellösungen leisteten<br />
nicht zwingend einen Beitrag zur Gesamteffizienz und<br />
-effektivität des <strong>Handlungssystem</strong>s.<br />
• familiär<br />
<strong>Die</strong> sozialen Praktiken entfalteten sich in einem organisch<br />
gewachsenen Beziehungsnetz und waren deshalb nicht ausschliesslich<br />
auf Hierarchie und <strong>Die</strong>nstweg angewiesen. <strong>Die</strong><br />
Kehrseite dieser informellen Vernetzung lag darin, dass die<br />
sozialen Praktiken in ihrem Einfluss auf die organisationale<br />
Wirklichkeit zeitlich und räumlich begrenzt waren. Sie entfalteten<br />
nur lokale Wirkung.<br />
Insgesamt bedeutete das, dass das <strong>Handlungssystem</strong> soziale Praktiken<br />
rekursiv konstituierte und (re-)produzierte, die keine Nachhaltigkeit aufwiesen,<br />
das heisst, die Wirkungen des <strong>Handlungssystem</strong>s auf sich selbst waren raumzeitlich<br />
stark beschränkt.<br />
253 Vgl. Protokoll 31-03.<br />
222
223<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
<strong>Eine</strong> treffende Vignette für diese typische Form <strong>von</strong> sozialen Praktiken des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria ist das benahe schon rituelle Kaffeetrinken<br />
vor den Sitzungen und Tagungen. Bei Helvetia Patria ist es üblich, vor<br />
Sitzungen und Tagungen, zu denen die Teilnehmenden anreisen müssen,<br />
einen Willkommenskaffee anzubieten. Das hat einen ganz praktischen<br />
Hintergrund: So können die aufgrund <strong>von</strong> unterschiedlichen Zugsverbindungen<br />
gestaffelt eintreffenden Teilnehmenden allmählich zusammenfinden.<br />
Das Kaffeetrinken hat bei Helvetia Patria aber schon längst eine Bedeutung<br />
erlangt, die über diesen praktischen Nutzen hinausgewachsen ist: Der<br />
Willkommenskaffee ist zur unverzichtbaren Kontaktform und Informations- und<br />
Entscheidungsplattform geworden. Es gibt Teilnehmende, die extra mit einem<br />
früheren Zug anreisen, damit ihnen genügend Zeit für die Gespräche beim<br />
Willkommenskaffee bleibt. 254 So sind diese Kaffeegespräche im Grunde nichts<br />
anderes <strong>als</strong> ein Ort dichter und intensiver kollektiver kognitiver und politischer<br />
Prozesse - die aber ausserhalb eines formellen organisationalen Rahmens<br />
stattfinden, und deren Ergebnisse und Wirkungen daher auch nicht nachhaltig<br />
in eben diesem formellen Rahmen zurückgeführt und verankert werden<br />
können.<br />
8.1.4.4 Zusammenfassung<br />
Der Verhandlungsprozess des Organisierens des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria war pragmatisch, unkompliziert und schnell (vgl. Abbildung 65).<br />
Er entsprach damit dem strategischen Leitbild <strong>von</strong> Helvetia Patria, nachdem<br />
die <strong>Organisation</strong> „unkompliziert, beweglich, fortschrittlich“ handeln soll (vgl.<br />
Kapitel 7.2.2).<br />
Allerdings war der Verhandlungsprozess des Organisierens nicht nachhaltig<br />
wirksam. Es fehlte an Verbindungskraft, um eine gemeinsame, einheitliche<br />
Sinn-Basis zu schaffen, und es fehlte an Verbindlichkeit, um das gemeinsame<br />
Denken und Handeln zu formen und zu steuern. Darum konnten letztlich die<br />
sozialen Praktiken keine nachhaltige Wirkung entfalten.<br />
254 Vgl. Protokoll 22-36.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />
• aufgeschlossen<br />
• ungeklärt<br />
• keine Verbindungskraft<br />
• pragmatisch<br />
• ad-hoc<br />
•familiär<br />
•keine Nachhaltigkeit<br />
224<br />
• Harmoniebedürfnis<br />
• Konfliktunfähigkeit<br />
• keine Verbindlichkeit<br />
Abbildung 65: Verhandlungsprozesse des Organisierens des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
8.1.5 Dialectic of Control<br />
<strong>Die</strong> empirische Evidenz des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria, die in den<br />
vorangehenden Kapiteln schrittweise hergeleitet und beschrieben worden ist,<br />
ist in Abbildung 66 zusammenfassend dargestellt.<br />
Viele Interviewpartner haben in einer Selbstbeschreibung <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
darauf hingewiesen, dass die Firma an einer „Umsetzungsschwäche“ bzw. an<br />
einem „Umsetzungsdefizit“ leide: „<strong>Die</strong> Umsetzungsschwäche <strong>von</strong> uns, wir<br />
haben sehr viel gute Konzepte oder Strategien, sehr viel gute Ideen, sind<br />
eigentlich im Vergleich zum Markt in vielen Bereichen wirklich voraus, - das<br />
sieht man in Diskussionen mit anderen Kollegen - aber bei uns klemmt es<br />
dann immer an der Konsequenz, an der Umsetzung.“ 255 Oder wie es ein<br />
anderer Interviewpartner formulierte: „In der Umsetzung waren wir nicht<br />
gerade Weltmeister.“ 256<br />
Wie kann das hergeleitete <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria dieses<br />
Phänomen erklären? Um darauf Antwort zu finden, muss die Dialectic of<br />
Control des <strong>Handlungssystem</strong>s näher untersucht werden.<br />
255 Protokoll 13-13, Absatz 26.<br />
256 Protokoll 13-02, Absatz 19.
225<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Wirtschaftliche und kulturelle Veränderung der Branche<br />
interpretative Schemata Ressourcen<br />
Normen<br />
• Ambivalenz<br />
• Fragmentierung<br />
• aufgeschlossen<br />
• ungeklärt<br />
• keine Verbindungskraft<br />
(Re-)Konstruktion<br />
• Firmengrösse<br />
• Segmentierung<br />
•pragmatisch<br />
• ad-hoc<br />
• familiär<br />
•keine Nachhaltigkeit<br />
Routinisierung<br />
• Bewusstsein vorhanden • Bruch zwischen Konzept<br />
• wenig praktische Erfah- und Umsetzung<br />
rung<br />
• Primat der Prämien<br />
• Tabu Segmentierung<br />
kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />
• Harmoniebedürfnis<br />
• Konfliktunfähigkeit<br />
• keine Verbindlichkeit<br />
Rationalisierung<br />
• fehlende Vorgaben<br />
• keine Sanktionen<br />
Abbildung 66: Empirische Evidenz des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
<strong>Die</strong> Analyse der Dialectic of Control des <strong>Handlungssystem</strong>s zeigt, dass eine<br />
Mischung aus verstärkenden und blockierenden Kräften sich zu einem<br />
organisationalen Gleichgewicht eingependelt hatte, das eine ganz typische<br />
Form <strong>von</strong> sozialen Praktiken erzeugte. <strong>Die</strong>se sozialen Praktiken brachten<br />
schliesslich das hervor, was die Führungskräfte und Mitarbeitenden <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria <strong>als</strong> die Umsetzungsschwäche der Firma wahrnahmen.<br />
8.1.5.1 Abhängigkeiten im <strong>Handlungssystem</strong><br />
Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und Verhandlungsprozess des<br />
Organisierens stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Im<br />
Grunde wird in einem <strong>Handlungssystem</strong> immer alles <strong>von</strong> allem beeinflusst. Es<br />
gibt jedoch immer gewisse Einflusswirkungen, die besonders prägend sind. Im<br />
<strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria waren das die Folgenden:
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
a) Strukturmodalitäten<br />
Folgende wesentliche Abhängigkeiten und Wirkungen sind <strong>von</strong> den Strukturmodalitäten<br />
auf das gesamte <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria ausgegangen<br />
(vgl. Abbildung 67):<br />
interpretative Schemata Ressourcen<br />
Normen<br />
kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />
(Re-)Konstruktion<br />
Routinisierung<br />
226<br />
Rationalisierung<br />
Abbildung 67: Einfluss der Strukturmodalitäten<br />
• interpretative Schemata und Rationalisierung<br />
<strong>Die</strong> Ambivalenz und Fragmentierung der interpretativen<br />
Schemata hat die Rationalisierungsfähigkeit des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
beeinträchtigt und unmittelbar den Mangel an Vorgaben<br />
und Sanktionen im <strong>Handlungssystem</strong> bewirkt.<br />
• interpretative Schemata und Normen<br />
<strong>Die</strong> Ambivalenz und Fragmentierung der interpretativen<br />
Schemata hat einen Widerstreit der Normen ausgelöst und die<br />
Verfestigung der neuen Normen blockiert.<br />
• interpretative Schemata und Ressourcen<br />
<strong>Die</strong> Ambivalenz und Fragmentierung der interpretativen<br />
Schemata vereitelte die erfolgreiche Nutzung der vorhandenen<br />
Ressourcen des <strong>Handlungssystem</strong>s.<br />
• Normen und politische Prozesse<br />
Der unlösbare Widerstreit der Normen im <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong>
227<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Helvetia Patria hat das Harmoniebedürfnis gesteigert und die<br />
Konfliktunfähigkeit der politischen Prozesse verstärkt.<br />
b) Bezugsfähigkeiten<br />
Folgende wesentliche Abhängigkeiten und Wirkungen sind <strong>von</strong> den Bezugsfähigkeiten<br />
auf das gesamte <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria ausgegangen<br />
(vgl. Abbildung 68):<br />
interpretative Schemata Ressourcen<br />
Normen<br />
kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />
(Re-)Konstruktion<br />
Routinisierung<br />
Abbildung 68: Einfluss der Bezugsfähigkeiten<br />
Rationalisierung<br />
• (Re-)Konstruktion und kognitive Prozesse<br />
Das <strong>Handlungssystem</strong> verfügte über eine zu wenig stark<br />
ausgeprägte (Re-)Konstruktionsfähigkeit, um nachhaltig erfolgreiche<br />
kognitive Prozesse in Gang zu bringen. Das hat die<br />
mangelnde Verbindungskraft der kognitiven Prozesse verstärkt.<br />
• (Re-)Konstruktion und interpretative Schemata<br />
<strong>Die</strong> schwach ausgeprägte (Re-)Konstruktionsfähigkeit hat direkt<br />
und indirekt über die kognitiven Prozesse den Aufbau und die<br />
Verankerung neuer interpretativer Schemata behindert. Das hat<br />
das Sinn-Vakuum der interpretativen Schemata gefördert.<br />
• Rationalisierung und Routinisierung<br />
Der Mangel an Rationalisierungsfähigkeit hat sich direkt auf die
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Routinisierung im <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria ausgewirkt.<br />
<strong>Die</strong> fehlenden Vorgaben schwächten die ohnehin schon<br />
brüchige Schnittstelle zwischen Konzept und Umsetzung.<br />
• Rationalisierung und politische Prozesse<br />
<strong>Die</strong> schwache Rationalisierungsfähigkeit des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
hat sich direkt auf die politischen Prozesse ausgewirkt und deren<br />
Mangel an Verbindlichkeit gesteigert.<br />
c) Verhandlungsprozess des Organisierens<br />
Folgende wesentliche Abhängigkeiten und Wirkungen sind vom Verhandlungsprozess<br />
des Organisierens auf das gesamte <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria ausgegangen (vgl. Abbildung 69):<br />
interpretative Schemata Ressourcen<br />
Normen<br />
kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />
(Re-)Konstruktion<br />
Routinisierung<br />
228<br />
Rationalisierung<br />
Abbildung 69: Einfluss des Verhandlungsprozesses des Organisierens<br />
• kognitive Prozesse und interpretative Schemata<br />
<strong>Die</strong> fehlende Verbindungskraft der kognitiven Prozesse hat den<br />
Aufbau und die Verfestigung neuer interpretativer Schemata<br />
erschwert.<br />
• kognitive Prozesse und (Re-)Konstruktion<br />
<strong>Die</strong> fehlende Verbindungskraft der kognitiven Prozesse hat den<br />
erfolgreichen Einsatz und die Wirkung der (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />
im <strong>Handlungssystem</strong> blockiert.
229<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
• kognitive Prozesse und soziale Praktiken<br />
<strong>Die</strong> fehlende Verbindungskraft der kognitiven Prozesse hat dazu<br />
geführt, dass die sozialen Praktiken keine Nachhaltigkeit entwickelt<br />
haben, sondern immer nur zeitlich und lokal begrenzt in<br />
das <strong>Handlungssystem</strong> eingriffen.<br />
• politische Prozesse und Rationalisierung<br />
<strong>Die</strong> fehlende Verbindlichkeit der politischen Prozesse schwächte<br />
die Rationalisierungsfähigkeit des <strong>Handlungssystem</strong>s und<br />
hemmte die Herausbildung klarer Vorgaben und Sanktionen.<br />
• politische Prozesse und soziale Praktiken<br />
<strong>Die</strong> fehlende Verbindlichkeit der politischen Prozesse hat dazu<br />
geführt, dass die sozialen Praktiken keine Nachhaltigkeit entwickelt<br />
haben, sondern immer nur zeitlich und lokal begrenzt im<br />
<strong>Handlungssystem</strong> Wirkung entfaltet haben.<br />
Aus der Summe dieser Abhängigkeiten hat sich schliesslich eine sich selber<br />
stabilisierende Sequenz entwickelt - die eigentliche Dialectic of Control des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s (vgl. Kapitel 8.1.5.2).<br />
8.1.5.2 Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
Aus den verschiedenen, gleichzeitig wirkenden Kräften im <strong>Handlungssystem</strong><br />
hat sich im Laufe der Zeit eine bestimmte Richtung, ein bestimmter Drift<br />
entwickelt (vgl. Abbildung 70).<br />
Alle gleichzeitig wirkenden Kräfte beeinflussten letztlich die sozialen Praktiken<br />
des <strong>Handlungssystem</strong>s und diese wiederum beeinflussten massgeblich, wie<br />
sich das <strong>Handlungssystem</strong> selber kontinuierlich reproduzierte. Im Laufe der<br />
Zeit hat sich dann ein sich wiederholendes Muster herausgebildet. <strong>Die</strong>ses<br />
Muster hat schliesslich zur Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s geführt.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
interpretative Schemata Ressourcen<br />
Normen<br />
kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />
(Re-)Konstruktion<br />
Routinisierung<br />
230<br />
Rationalisierung<br />
Abbildung 70: Entwicklungstendenz des <strong>Handlungssystem</strong>s 257<br />
<strong>Die</strong>se Stabilisierung hat sich selbstverständlich nur ganz allmählich entwickelt<br />
und kann nur rückblickend in einen kausalen Zusammenhang gestellt werden.<br />
<strong>Die</strong> Sequenz der Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s könnte jedoch wie folgt<br />
abgelaufen sein (vgl. Abbildung 71):<br />
• Ausgehend <strong>von</strong> der mangelnden (Re-)Konstruktionsfähigkeit des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s hat sich eine Schwächung der interpretativen<br />
Schemata ergeben. <strong>Die</strong> alten Denkmuster und Werte der traditionellen<br />
Versicherungslogik wurden aufgegeben, der Aufbau<br />
neuer, alternativer Schemata war jedoch nicht abschliessend<br />
gelungen. So resultierte allmählich eine Aushöhlung der interpretativen<br />
Schemata und ein Sinn-Vakuum.<br />
• <strong>Die</strong>ses Sinn-Vakuum verhinderte, dass sich einerseits die<br />
Rationalisierungsfähigkeit des <strong>Handlungssystem</strong>s entwickeln<br />
und anpassen konnte, und dass sich andererseits neue Normen<br />
handlungsleitend verankern konnten. Deshalb konnten keine<br />
257<br />
<strong>Die</strong> zunehmende Dicke der Pfeile steht für die zunehmende Stabilisierung und den zunehmenden<br />
Drift des <strong>Handlungssystem</strong>s.
231<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
neuen Vorgaben und Sanktionen ausgebildet werden. So waren<br />
die politischen Prozesse des <strong>Handlungssystem</strong>s schliesslich<br />
beinahe ohne Leitplanken. Das Harmoniebedürfnis und die<br />
Loyalität verhinderten jedoch eine Eskalation und nahmen die<br />
Rolle der fehlenden Vorgaben und Sanktionen ein.<br />
• Das Ergebnis war schliesslich, dass das <strong>Handlungssystem</strong><br />
soziale Praktiken herausbildete, die kaum mit nachhaltiger<br />
Wirkung ins <strong>Handlungssystem</strong> rückgekoppelt waren. <strong>Die</strong><br />
sozialen Praktiken waren nicht widerspruchsfähig genug, um das<br />
paradoxe Dilemma des <strong>Handlungssystem</strong>s aufzulösen. Das<br />
<strong>Handlungssystem</strong> hatte sich beinahe bis zur Handlungsunfähigkeit<br />
selbst stabilisiert.<br />
interpretative<br />
Schemata<br />
1<br />
(Re-)Konstruktion<br />
soziale<br />
Praktiken<br />
Normen und<br />
Rationalisierung<br />
4<br />
2<br />
3<br />
politische<br />
Prozesse<br />
Abbildung 71: Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
<strong>Die</strong> Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s äusserte sich nach aussen <strong>als</strong><br />
Umsetzungsschwäche. <strong>Die</strong> Gründe für diese Umsetzungsschwäche wurden<br />
<strong>von</strong> den Führungskräften und Mitarbeitenden jedoch sehr unterschiedlich<br />
interpretiert.<br />
Für die Mitarbeitenden und unteren Führungskräfte lagen die Ursachen der<br />
Umsetzungsschwäche in einer operativen Hektik und Führungsschwäche. Sie<br />
riefen deshalb nach mehr Führung bzw. strengeren Führungsvorgaben. Sie
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
kritisierten, dass im Tagesgeschäft oftm<strong>als</strong> eine kurzfristige Denkweise<br />
dominiere und dass man ob der operativen Hektik leicht die übergeordneten<br />
Ziele aus den Augen verliere. 258<br />
<strong>Die</strong> oberen Führungskräfte hingegen konstatierten gerade das Gegenteil,<br />
nämlich Trägheit. „Bei Helvetia Patria muss alle Initiative <strong>von</strong> oben kommen,<br />
sonst passiert nichts. Von unten kommt nicht nichts, aber wenig. <strong>Die</strong> Trägheit<br />
des Systems ist frappant.“ 259 Daher riefen die Führungskräfte die<br />
Mitarbeitenden zur aktiven Nutzung ihres Handlungsspielraums auf. Sie<br />
forderten <strong>von</strong> den Mitarbeitenden eine „unternehmerische Verpflichtung:<br />
Unternehmertum statt Verteidigung und Tradition. Bereitschaft und Wille zu<br />
Neuem.“ 260 Mit mehr Eigenverantwortung sollte ein Kontrapunkt zur<br />
herrschenden Bürokratie geschaffen werden. 261<br />
<strong>Die</strong>se paradoxen, sich widersprechenden gegenseitigen Erwartungen haben<br />
die Lähmung des <strong>Handlungssystem</strong>s weiter aufrecht erhalten - auch dann<br />
noch, <strong>als</strong> die Lähmung des <strong>Handlungssystem</strong>s schon längst allen schmerzlich<br />
bewusst war. <strong>Die</strong> unterschiedlichen gegenseitigen Problemdefinitionen und<br />
Erwartungen haben nämlich einen weiteren, sich selbst stabilisierenden bzw.<br />
blockierenden Kreislauf im <strong>Handlungssystem</strong> ausgelöst: <strong>Die</strong> Mitarbeitenden<br />
suchten Sicherheit und Führung, wurden aber <strong>von</strong> den Führungskräften auf<br />
ihre Eigenverantwortung verwiesen. <strong>Die</strong> Führungskräfte forderten Eigeninitiative,<br />
aber die Mitarbeitenden vermissten nicht Handlungsspielraum,<br />
sondern genau das Gegenteil, nämlich Führung und die Orientierung an<br />
verbindlichen Zielen.<br />
Und so ist die Umsetzungsschwäche des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia<br />
Patria schliesslich im <strong>Handlungssystem</strong> selbst zu einer sich selbst erfüllenden<br />
Prophezeiung geworden, in der alle sich in ihrer Sicht der Dinge bestätigt<br />
fanden: <strong>Die</strong> Führungskräfte darin, dass es den Mitarbeitenden an<br />
Eigeninitiative fehlt (weil die Mitarbeitenden verharrten und auf mehr Führung<br />
warteten), und die Mitarbeitenden darin, dass es an Führung fehlt (weil die<br />
Führungskräfte nicht durchgriffen, sondern weniger Bürokratie und mehr<br />
258<br />
Vgl. Protokoll 11-15, Absatz 39.<br />
259<br />
Protokoll 32-05, Absatz 29.<br />
260<br />
Protokoll 22-04, Absatz 47.<br />
261<br />
Vgl. Protokoll 21-02, Absatz 35.<br />
232
233<br />
BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Eigenverantwortung forderten). Kein Wunder war jeweils eine der<br />
brennendsten Fragen der Interviewpersonen im Gespräch mit den<br />
Forscherinnen: „Wie bringen wir wirklich Dynamik ins Haus?“ 262<br />
Soweit die Selbstdiagnose der Umsetzungsschwäche, die <strong>von</strong> den Führungskräften<br />
und Mitarbeitenden <strong>von</strong> Helvetia Patria vorgenommen worden ist. Ein<br />
Blick auf die Dialectic of Control des <strong>Handlungssystem</strong>s lässt jedoch auch eine<br />
andere, völlig unterschiedliche Interpretation zu. <strong>Die</strong> Umsetzungsschwäche ist<br />
nicht ursächlich auf zuviel Bürokratie und zuwenig Eigeninitiative oder auf<br />
operative Hektik und fehlende Zielvorgaben zurückzuführen, 263 sondern ist<br />
vielmehr eine Schutzroutine des <strong>Handlungssystem</strong>s.<br />
<strong>Die</strong> sozialen Praktiken haben mit ihrer fehlenden Nachhaltigkeit den<br />
organisationalen Alltag davor bewahrt, Entscheide und Konzepte umsetzen zu<br />
müssen, die wegen der Schwächen in den interpretativen Schemata, den<br />
Normen, der Rationalisierungsfähigkeit und den politischen Prozessen des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s gar nicht anschlussfähig an den aktuellen organisationalen<br />
Alltag waren. Über die Umsetzungsschwäche hat sich das <strong>Handlungssystem</strong><br />
somit implizit vor störenden Irritationen abgeschirmt und sich funktionsfähig<br />
erhalten.<br />
Aus Sicht des <strong>Handlungssystem</strong>s macht die Umsetzungsschwäche somit<br />
durchaus Sinn und ist konstruktiv - auch wenn dies <strong>von</strong> aussen betrachtet<br />
unverständlich und nicht wünschenswert erscheinen mag. Das<br />
<strong>Handlungssystem</strong> der Helvetia Patria hat mit der Entwicklung seiner<br />
Umsetzungsschwäche Selbsterhaltungskraft und Systemrationalität bewiesen<br />
- und das muss paradoxerweise <strong>als</strong> eine positive Leistung des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
verstanden und gewürdigt werden. Es ist ein Beweis, dass das<br />
<strong>Handlungssystem</strong> über funktionierende Bewältigungsmechanismen verfügt.<br />
Aus übergeordneter Perspektive stellt sich selbstverständlich die Frage, wie es<br />
dazu gekommen ist, dass das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria diese<br />
Schutzroutinen entwickelt hat, und durch welche Massnahmen das<br />
<strong>Handlungssystem</strong> aus diesem unerwünschten Stabilitätszustand befreit<br />
werden kann. Kapitel 8.2 macht sich deshalb auf, die historischen Wurzeln der<br />
262<br />
Protokoll 11-04, Absatz 40.<br />
263<br />
Es ist klar, dass diese Faktoren mit eine Rolle gespielt haben. Doch <strong>als</strong> abschliessende <strong>Erklärung</strong><br />
greifen sie zu kurz.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
gegenwärtigen Evidenz des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria zu suchen,<br />
und stösst dabei auf zwei Meilensteine in der Entwicklung des <strong>Handlungssystem</strong>s:<br />
die beiden Projekte SABA und Tempo. In Kapitel 8.3 schliesslich<br />
wird eine gross angelegte Veränderungsintervention in das <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria beobachtet und dessen Veränderungsimpulse auf das<br />
<strong>Handlungssystem</strong> untersucht: das Projekt Dynamo.<br />
8.2 Historische Rekonstruktion<br />
des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
Helvetia Patria ist entstanden aus dem Zusammenschluss der Helvetia<br />
Versicherungen und der Patria Leben. <strong>Die</strong> beiden Gesellschaften sind im Jahr<br />
1992 eine strategische Allianz eingegangen (Projekt SABA) und haben im<br />
Jahr 1996 schliesslich den rechtlichen und organisatorischen Zusammenschluss<br />
vollzogen (Projekt Tempo). 264<br />
Wie können die Anfänge <strong>von</strong> Helvetia Patria eine <strong>Erklärung</strong> dafür sein, wie<br />
sich das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria bis zum Jahr 2000 entwickelt<br />
und stabilisiert hat?<br />
8.2.1 Das Projekt SABA<br />
Das Projekt SABA umfasst die Zeit der strategischen Allianz zwischen<br />
Helvetia Versicherungen und Patria Leben, <strong>als</strong>o die Jahre 1992 bis 1995. <strong>Die</strong><br />
formellen Hintergründe und die konkrete Abwicklung des Projekts sind in<br />
Kapitel 7.2.3.1 beschrieben. Hier in diesem Kapitel wird ein anderer Fokus<br />
eingestellt. Es wird dargestellt und interpretiert, wie das Projekt SABA <strong>von</strong> der<br />
<strong>Organisation</strong> wahrgenommen wurde und welche Anfänge das <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria dadurch genommen hat.<br />
8.2.1.1 Auslöser und Ziele<br />
Verschiedenste Faktoren haben dazu geführt, dass sich Helvetia Versicherungen<br />
und Patria Leben zu einer strategischen Allianz zusammenfanden. Natürlich<br />
spielten die wirtschaftlichen Veränderungen, ausgelöst durch die<br />
Deregulierung der Versicherungsbranche, eine wesentliche Rolle. 265 Beiden<br />
264<br />
Vgl. ausführlicher dazu das Firmenprofil <strong>von</strong> Helvetia Patria in Kapitel 7.2.<br />
265<br />
Zu den Hintergründen der Deregulierung vgl. Anhang D und Kapitel 7.1.<br />
234
HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Gesellschaften war bewusst, dass sie <strong>als</strong> reine Leben- bzw. Nichtleben-<br />
Versicherung längerfristig am deregulierten Markt nicht bestehen können.<br />
„Und irgendwo in dieser Ausgangssituation hat man wirklich generisch nur<br />
diese zwei Wege gehabt: Zurück in die Nische oder nach vorne.“ 266 „Helvetia<br />
Versicherungen hat einen starken Lebensversicherungspartner gesucht, ...<br />
und Patria Leben ... hat einen Nichtleben-Versicherer gesucht.“ 267<br />
Aber es gab in der Wahrnehmung der Führungskräfte und Mitarbeitenden eine<br />
Reihe weiterer Gründe, die ausschlaggebend für das strategische Zusammengehen<br />
<strong>von</strong> Helvetia und Patria waren. Zum Zeitpunkt des Eintritts in die<br />
strategische Allianz kämpften nämlich beide Gesellschaften mit Problemen.<br />
„Beide Firmen waren nicht in Bestform.“ 268<br />
• Probleme bei der Patria<br />
Patria kämpfte mit Führungsproblemen und war zur Zeit der<br />
Kooperationsverhandlungen ohne Geschäftsleiter. <strong>Die</strong> Geschäfte<br />
wurden ad-interim vom Finanzchef geführt. „Patria hat das Geld,<br />
aber sie haben ein Führungsproblem ... und Helvetia hat weniger<br />
Geld, aber die würden eigentlich noch eine gute Mannschaft<br />
bringen.“ 269 Ausserdem hatte Patria ein gescheitertes Auslandengagement<br />
in Deutschland hinter sich. Hinzu kam, dass die<br />
zehn Jahre zuvor gegründete Nichtleben-Tochter Patria<br />
Allgemeine wirtschaftlich nicht erfolgreich war.<br />
• Probleme bei der Helvetia<br />
Helvetia hatte bereits die Trennung <strong>von</strong> der Helvetia Unfall und<br />
eine Reihe gescheiterter Leben-Kooperationen hinter sich, bevor<br />
sie die strategische Allianz mit der Patria einging. „Man hat dann<br />
manchmal auch gewitzelt über die Helvetia, sie würde die<br />
Partner wechseln wie andere die Hemden.“ 270 Zur Zeit der<br />
Kooperationsverhandlungen war Helvetia ausserdem akut<br />
bedroht <strong>von</strong> einem unfreundlichen Übernahmeversuch der<br />
266<br />
Protokoll 13-09, Absatz 28.<br />
267<br />
Protokoll 13-11, Absatz 27.<br />
268<br />
Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />
269<br />
Protokoll 13-04, Absatz 29.<br />
270<br />
Protokoll 13-11, Absatz 27.<br />
235
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Winterthur Versicherungen. „... wir [waren] im Klammergriff <strong>von</strong><br />
der Winterthur ... doch das hätte sich niemand vorstellen können,<br />
dass wir mit der Winterthur...“ 271 „Und so hat quasi Patria<br />
geholfen, die Übernahme zu vereiteln.“ 272 Darum hat man dann<br />
auch bei der Patria über die Helvetia gesagt: „Heil Dir Helvetia,<br />
hast noch der Patria ja.“ 273<br />
In den Augen der Führungskräfte und Mitarbeitenden sind beide Gesellschaften<br />
somit nicht aus einer Position der Stärke in die Kooperation mit dem<br />
anderen Partner eingestiegen. Sie sahen in der strategischen Allianz vielmehr<br />
einen Rettungsring im Kampf ums Überleben.<br />
Insofern ist es nicht überraschend, dass die Erhaltung der Selbständigkeit<br />
explizit <strong>als</strong> eines <strong>von</strong> vier Zielen <strong>von</strong> SABA festgelegt worden ist. 274<br />
8.2.1.2 Prozess<br />
Das Vorgehen im Projekt SABA wurde bewusst offen gelassen. Man wollte<br />
sich Zeit nehmen, die Möglichkeiten der Kooperation auszuloten. 275 „Wir<br />
wissen überhaupt nicht, wo das eigentlich hingeht, wir haben einfach einen<br />
Kooperationsvertrag. .... Es könnte sein, dass man irgendwann mal eine<br />
Fusion - aber wir setzen jetzt erst einmal Arbeitsgruppen ein.“ 276<br />
Beide Partner legten ausserdem Wert auf ein gleichberechtigtes Vorgehen.<br />
Keiner sollte „unter die Räder“ 277 geraten oder „unter die Fuchtel des anderen<br />
kommen“. 278 „Also, das war dam<strong>als</strong> eine sehr wichtige Bedingung, dass man<br />
sich behutsam ... ausloten will, abtiefen, prüfen ... unter dem<br />
271 Protokoll 13-04, Absatz 29.<br />
272 Protokoll 13-12, Absatz 30.<br />
273 Protokoll 13-17, Absatz 36.<br />
274<br />
Vgl. Bericht zu SABA, S. 1. <strong>Die</strong> anderen drei SABA-Ziele waren: Verbesserung der langfristigen<br />
Marktstellung, Stärkung der Ertragskraft und Konzentration der Investitionen (vor allem im<br />
Informatik-Bereich).<br />
275<br />
Vgl. Editorial der Partner-News Nr. 1/1992<br />
276 Protokoll 13-04, Absatz 30.<br />
277 Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />
278 Protokoll 13-01, Absatz 26.<br />
236
HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Selbstverständnis, dass eben keiner letztlich Dominanz und Oberhand haben<br />
soll.“ 279<br />
Entsprechend wichtig war deshalb eine konsensorientierte Entscheidungsfindung.<br />
„Also, wir haben eigentlich in allen Fragen immer den Konsens<br />
gesucht. Man diskutierte so lange, bis alle die gleiche Meinung hatten. Also,<br />
da ist sehr viel Zeit investiert worden in das. Also nicht dass man - wie soll ich<br />
sagen - per Machtansprüchen am Schluss Entscheide gefällt hat, sondern es<br />
ist mit Überzeugung gearbeitet worden.“ 280<br />
Das Vorgehen in SABA war <strong>als</strong>o ausdrücklich so angelegt, dass fundiert<br />
Klarheit über die Vorteile und Ziele der Kooperation gewonnen werden konnte,<br />
und dass sich dabei keiner der beiden Partner übergangen bzw. <strong>als</strong> Verlierer<br />
fühlen musste. <strong>Die</strong> involvierten Führungskräfte und Mitarbeitenden haben das<br />
Vorgehen jedoch ganz anders erlebt. Ihre Erinnerungen zeichnen das<br />
Schattenbild <strong>von</strong> SABA. Das behutsame, paritätische und konsensorientierte<br />
Vorgehen hat letztlich völlig unerwartete und unbeabsichtigte Folgen<br />
hervorgerufen:<br />
• Offenheit vs. Ziellosigkeit<br />
Man hat sich in der strategischen Allianz nicht <strong>von</strong> vornherein<br />
fixe Ziele gesetzt, weil man unvoreingenommen und für alle<br />
Möglichkeiten offen bleiben wollte. Für die SABA-Teams ist<br />
diese Offenheit zur Belastung geworden. „Das waren unsägliche<br />
Übungen, weil die Vorgabe, die wir <strong>als</strong> Führungskräfte hatten, ...<br />
waren immer: Ihr könnt eigentlich alles machen, es darf nur<br />
nichts auseinander fallen. Mit solchen Aussagen kann man gar<br />
nichts machen.“ 281 „...man [hat] gleich in den Details angefangen<br />
zu arbeiten, eine Stufe zu tief, ohne dass die sich dort oben<br />
wirklich schon einig gewesen sind.“ 282 Den SABA-Teams haben<br />
vorgegebene Ziele und Werte gefehlt, an denen sie sich<br />
während ihrer Arbeit hätten orientieren können. Das stellte sie<br />
insbesondere deshalb vor Probleme, weil die paritätisch<br />
279<br />
Protokoll 13-01, Absatz 26.<br />
280<br />
Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />
281<br />
Protokoll 13-04, Absatz 28.<br />
282<br />
Protokoll 13-12, Absatz 31.<br />
237
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
gemischten SABA-Teams aufgrund der kulturellen Unterschiede<br />
(vgl. unten) selbst gar keine gemeinsam geteilten Ziele und<br />
Werte hatten bzw. schaffen konnten.<br />
• Konsens vs. Durchsetzungskraft<br />
<strong>Die</strong> Entscheidungsprozesse in SABA waren paritätisch und<br />
demokratisch - aber auch langwierig und unsicher. „<strong>Die</strong> [im<br />
Steuerungsausschuss] haben sich da mühsam zusammengerauft<br />
und sind dann mit ihren Ergebnissen wieder nach unten<br />
[in die jeweiligen Geschäftsleitungen] und dort ist dann die<br />
Diskussion wieder <strong>von</strong> neuem losgegangen.“ 283 „... es war<br />
überall ein Riesen-Hin-und-Her. So hat man wahnsinnig viel Zeit<br />
verloren.“ 284 Es fehlten routinisierte soziale Praktiken wie z.B.<br />
erprobte Entscheidungsprozedere für die teils schwierigen<br />
Fragen, die es zu lösen galt (z.B. bei der Bereinigung <strong>von</strong><br />
Doppelspurigkeiten). Auch fehlte der Wille, unpopuläre<br />
Entscheide zu treffen. „Immer so ein bisschen: Wir schauen<br />
dann morgen ... und: Wir wollen immer nur das Beste - das geht<br />
nicht.“ 285<br />
• Behutsamkeit vs. Fortschritt<br />
Das behutsame Vorgehen ist auf Kosten der erzielten Fortschritte<br />
erfolgt. <strong>Die</strong> Nutzung <strong>von</strong> Synergien insbesondere im<br />
Aussendienst war eher zufällig: „... war sehr Glückssache, wie<br />
die sich vor Ort verstanden haben: Wenn die sich gut verstanden<br />
haben, dann haben sie sehr gut zusammengearbeitet, wenn sie<br />
keine Lust hatten, dann ist überhaupt nichts gelaufen.“ 286 Man tat<br />
sich schwer, die erhofften Synergiepotenziale zu nutzen.<br />
Irgendwann einmal ist dann auch das ganze Projekt ins Stocken<br />
geraten: „Ich weiss nicht genau was alles abgelaufen ist - auf alle<br />
Fälle ist es nirgends mehr vorangegangen. Das hat auch bei den<br />
Leuten, die an den Projekten gearbeitet haben, ziemliche<br />
283<br />
Protokoll 13-12, Absatz 30.<br />
284<br />
Protokoll 13-12, Absatz 30.<br />
285<br />
Protokoll 13-04, Absatz 30.<br />
286<br />
Protokoll 13-12, Absatz 30.<br />
238
HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Frustrationen ausgelöst, und dann ist praktisch anderthalb Jahre<br />
lang Stillstand gewesen.“ 287<br />
• Komplementarität vs. Gegensätzlichkeit<br />
So sehr man sich geschäftlich <strong>als</strong> Leben- bzw. Nichtleben-<br />
Versicherer auch komplementär ergänzte - die kulturellen Unterschiede<br />
haben beide Partner überrascht und überfordert. „Aber<br />
es ist tatsächlich so, dass natürlich unterschiedliche Kulturen<br />
eigentlich in den verschiedenen Versicherungsbranchen drinnen<br />
stecken. Aber das hat man eigentlich erst im Nachhinein<br />
tatsächlich erkannt, dass halt eben eine Nichtleben-<strong>Organisation</strong><br />
ein anderes Verständnis hat, wie eine Versicherung verkauft<br />
wird, was Versicherung überhaupt ist.“ 288 Darauf war bei SABA<br />
niemand vorbereitet und man unterschätzte die Probleme, die<br />
das den SABA-Teams in ihrer Arbeit bereitete. „Der grösste<br />
Unterschied ist wahrscheinlich der - und der ist branchenspezifisch:<br />
Helvetia ist traditionell dezentral organisiert gewesen<br />
und ist das auch heute weitgehend noch. <strong>Eine</strong> Lebensversicherungsgesellschaft<br />
ist ebenso traditionell zentral<br />
organisiert. Und das hat ab und zu zu Verständnisproblemen<br />
289, 290<br />
geführt.“<br />
• paritätisches Vorgehen vs. Verlierer-Image<br />
Trotz des Bemühens um gleichberechtigtes, paritätisches<br />
Vorgehen hat sich am Ende bei Patria das Gefühl eingeschlichen,<br />
die Verliererin der Kooperation zu sein. Ausschlaggebend<br />
dafür waren verschiedene symbolträchtige Entscheidungen,<br />
die im Rahmen der Kooperation getroffen wurden. Da war<br />
zunächst einmal das neue Logo, das für den gemeinsamen<br />
Marktauftritt entworfen wurde. Es enthielt das Dreieck aus dem<br />
287<br />
Protokoll 13-12, Absatz 30.<br />
288<br />
Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />
289<br />
Protokoll 13-09, Absatz 28.<br />
290 <strong>Die</strong> Interviewpartner haben immer wieder auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die die kulturellen<br />
Unterschiede in der Zusammenarbeit bereitet haben. Sie bezogen sich häufig auf die zum Zeitpunkt<br />
der Interviews gerade laufende Integration der Swissair und Crossair zur neuen Fluggesellschaft<br />
Swiss und bemerkten, dass man dort wohl mit ähnlichen Problemen kämpfe wie sie<br />
dam<strong>als</strong> bei der Zusammenarbeit <strong>von</strong> Helvetia und Patria.<br />
239
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Logo der Helvetia Versicherungen. „Das war dann der nächste<br />
Aufschrei in Basel, <strong>als</strong> ihre grüne Autobahn verschwunden ist<br />
und <strong>als</strong> dann das Dreieck gekommen ist ... sie verlieren einen<br />
Teil ihrer Identität.“ 291 „Da habe ich Leute weinen sehen.“ 292 Ein<br />
weiteres Indiz für die Verlierer-Rolle <strong>von</strong> Patria war die Tatsache,<br />
dass mit Erich W<strong>als</strong>er ein Helvetianer den Vorsitz des<br />
Steuerungsausschusses und später der Holding übernahm. 293<br />
Und schliesslich hat eine wichtige Rolle gespielt, dass beim<br />
rechtlichen Zusammenschluss zwischen Helvetia und Patria das<br />
Umtauschverhältnis für Patria vermeintlich ungünstig war. 294<br />
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die strategische Allianz zwischen<br />
Helvetia und Patria in den Augen aller aus wirtschaftlichen Gründen Sinn<br />
gemacht hat. „Ich [muss] sagen, das ist eigentlich ein gutes Konstrukt, weil sie<br />
sind reines Leben und wir sind reine Sachversicherer - <strong>als</strong>o vom<br />
Zusammengehen her war das richtig.“ 295 „... auch die Komplementarität, dass<br />
man sich eigentlich nicht wehtut, mit dem auch nicht viel kaputt macht, das<br />
muss man sehen.“ 296<br />
Umso überraschender ist es, wie schwierig und schmerzhaft die Phase der<br />
Kooperation für Führungskräfte und Mitarbeitende war: „Darum ist es sicher<br />
nachher, trotz der Komplementarität vom Geschäft eigentlich, wo die intellektuelle<br />
Geschäftsidee stimmt, über die Menschen sicher erschwert worden und<br />
nicht vielleicht gerade begünstigt worden. Also in dem Sinne hat es viel<br />
Schweiss gekostet, das Zusammenführen.“ 297 „[<strong>Die</strong>jenigen,] die an der Front<br />
vorne diese Zusammenführung erlebt haben, die sind alle irgendwo<br />
angeschossen. Sei es jetzt in Basel oder in St. Gallen. Und das versucht man<br />
<strong>von</strong> mir aus fälschlicherweise immer wegzudenken. ... [D]as ist<br />
291<br />
Protokoll 13-04, Absatz 30<br />
292<br />
Protokoll 13-11, Absatz 28.<br />
293<br />
Vgl. Protokoll 13-21, Absatz 28.<br />
294<br />
Vgl. Protokoll 13-01, Absatz 27. Der Umtauschprospekt „Ein guter Tausch“ weist hingegen darauf<br />
hin (vgl. S. 5), dass das ermittelte Tauschverhältnis vermögensmässig „eine strikte<br />
Gleichbehandlung der Helvetia-Aktionäre und der Patria-Genossenschafter gewährleistet“.<br />
295 Protokoll 13-04, Absatz 29.<br />
296 Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />
297 Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />
240
HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
unauslöschlich.“ 298 „Ich sage heute, das würde ich nie, nie mehr machen, so in<br />
eine Allianz hinein, in der beide gleichberechtigte Partner sind, in der über fünf<br />
Jahre hinweg man sich die Messer jeden Monat einen Zentimeter tiefer<br />
hineingestossen hat.“ 299<br />
8.2.1.3 Schlussfolgerungen<br />
<strong>Die</strong> Ausgangslage zu Kooperationsbeginn und die unerwarteten und unbeabsichtigten<br />
Folgen des Projekts SABA waren ganz entscheidend dafür, wie die<br />
Anfänge des <strong>Handlungssystem</strong>s der späteren Helvetia Patria geprägt worden<br />
sind (vgl. Abbildung 72).<br />
interpretative Schemata Ressourcen<br />
Normen<br />
• keine Erarbeitung<br />
neuer Regeln der<br />
Signifikation<br />
(Re-)Konstruktion<br />
• Unerfahrenheit mit<br />
kulturellen Unterschieden<br />
• Konzentration auf die<br />
faktische Dimension<br />
der Zusammenarbeit<br />
Routinisierung<br />
241<br />
• keine Erarbeitung<br />
neuer Regeln der<br />
Legitimation<br />
kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />
• keine Initiierung<br />
kollektiver kognitiver<br />
Prozesse<br />
• Herausbildung<br />
sozialer Praktiken<br />
mit geringer<br />
Nachhaltigkeit<br />
• Arbeitsgruppen ohne<br />
strategische Leitplanken<br />
• paritätische,<br />
konsensorientierte<br />
Entscheidungsprozesse<br />
Rationalisierung<br />
• bewusster Verzicht<br />
auf Vorgaben<br />
Abbildung 72: <strong>Die</strong> Anfänge des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
298 Protokoll 13-04, Absatz 28.<br />
299 Protokoll 13-04, Absatz 28.
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Massgeblichen Einfluss gingen vor allem <strong>von</strong> folgenden drei Faktoren aus:<br />
• paradoxe Zielsetzung<br />
Das Ziel der Kooperation war in sich paradox: Seide Gesellschaften<br />
wollten ihr mittelfristiges wirtschaftliches Überleben<br />
sichern - und das taten sie, indem sie auf ihre Selbständigkeit<br />
(zumindest in Teilen) zugunsten einer Kooperation verzichteten.<br />
Das ist in der Tat ein Widerspruch: <strong>Die</strong> Sicherung der<br />
Selbständigkeit durch ihre (teilweise) Einschränkung! Man<br />
versuchte das Paradox dadurch aufzulösen, dass man zwar eine<br />
Kooperation einging, aber sich gleichzeitig unbewusst bemühte,<br />
den Verlust an Selbständigkeit so gering wie möglich zu halten.<br />
Das erklärt, wieso man sich im Projekt SABA durch ein<br />
(übermässig) paritätisches und konsensorientiertes Vorgehen<br />
beinahe selbst entscheidungs- und handlungsunfähig gemacht<br />
hat. So waren die sozialen Praktiken, die sich im Rahmen der<br />
Kooperation entwickelt hatten, im Grunde die Vorläufer der<br />
späteren sozialen Praktiken des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia<br />
Patria, die stark unter einer mangelnden Nachhaltigkeit litten.<br />
• fehlende Signifikations- und Legitimationsarbeit<br />
<strong>Die</strong> formelle, materielle Ausgestaltung der organisationalen<br />
Wirklichkeit bot beiden Partnern den vermeintlich gemeinsamen<br />
Berührungspunkt für ihre Kooperation. <strong>Die</strong> Arbeit in den SABA-<br />
Teilprojekten hat sich deshalb vorab auf die Strukturdimension<br />
Reifikation, das heisst auf die Schaffung gemeinsamer<br />
Ressourcen, gerichtet. <strong>Die</strong> Arbeit der SABA-Teams wurde<br />
jedoch dadurch erschwert, dass sie auf keine strategischen<br />
Leitplanken zurückgreifen konnten: Alles war offen. Es wurden<br />
bewusst keine Vorgaben gemacht. Ebenfalls war man nicht<br />
vorbereitet auf das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher<br />
Kulturen. Entsprechend fehlten alle Anstrengungen für eine<br />
kulturelle Integration der beiden Partner. Es wurden keine<br />
kollektiven kognitiven Prozesse angestossen und infolgedessen<br />
entwickelte sich keine gemeinsame Vorstellung darüber, was es<br />
heisst, ein Allbranchen-Versicherer zu sein, und was die neuen<br />
organisationalen Werte, Normen und Regeln sind. <strong>Die</strong><br />
Strukturdimensionen Signifikation und Legitimation blieben vom<br />
Projekt SABA unberührt. <strong>Die</strong> Partnerschaft schaffte zwar eine<br />
242
HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
neue faktische Ordnung, aber diese war in ein kognitives und<br />
normatives Vakuum eingebettet.<br />
• Ausklammerung politischer Prozesse<br />
Das paritätische und konsensorientierte Vorgehen sollte ein<br />
Ungleichgewicht zwischen den Partnern vermeiden, aber gleichzeitig<br />
neutralisierte es auch jegliche politischen Prozesse, die für<br />
eine erfolgreiche und verbindliche Koordination und Integration<br />
der organisationalen Wirklichkeit notwendig gewesen wären. So<br />
ist zu erklären, wieso das Projekt SABA im Laufe der Zeit ins<br />
Stocken geraten ist. Das Projekt hat sich quasi selber leer laufen<br />
lassen. Das betont konsensorientierte Vorgehen hat ausserdem<br />
den Keim gelegt für die spätere Konfliktunfähigkeit <strong>von</strong> Helvetia<br />
Patria, weil die Austragung <strong>von</strong> Konflikten schon zu Beginn der<br />
Partnerschaft vermieden worden war.<br />
<strong>Die</strong> Beschreibung des <strong>Handlungssystem</strong>s in Abbildung 72 zeigt deutlich auf,<br />
dass bereits im Projekt SABA das Fundament für das spätere <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria (vgl. Abbildung 66) gelegt wurde. Es stellt sich nun<br />
die Frage, wie das anschliessende Projekt Tempo die weitere Entwicklung des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s beeinflusst hat. Darauf geht das nun folgende Kapitel ein.<br />
8.2.2 Das Projekt Tempo<br />
Nach drei Jahren Partnerschaft beschlossen Helvetia Versicherungen und<br />
Patria Leben schliesslich im Jahr 1995, die beiden Firmen rechtlich und<br />
organisatorisch zusammenzulegen. Das Projekt Tempo wurde aufgesetzt, um<br />
die strategische und operative Integration der beiden bisher unabhängigen<br />
<strong>Organisation</strong>en zu planen und umzusetzen. <strong>Die</strong> neue Firma Helvetia Patria<br />
wurde ab dem 1.9.1996 aktiv. <strong>Die</strong> formellen Hintergründe und die konkrete<br />
Abwicklung des Projekts sind in Kapitel 7.2.3.2 beschrieben. Hier in diesem<br />
Kapitel wird ein anderer Fokus gesetzt. Es wird dargestellt und interpretiert,<br />
welchen Einfluss das Projekt auf das entstehende <strong>Handlungssystem</strong> der<br />
Helvetia Patria hatte.<br />
8.2.2.1 Auslöser und Ziele<br />
Auslöser für das Projekt Tempo war die Erkenntnis, dass man mit dem Projekt<br />
SABA an eine Grenze gelangt war. Wollte man vermehrt Synergien aus der<br />
Partnerschaft nutzen, dann mussten weitreichendere Massnahmen eingeleitet<br />
243
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
werden. „Man hat sehr schnell gemerkt, dass sich das nicht automatisch<br />
verschmelzt oder ergibt, sondern dass man was dazutun muss, und dann ist<br />
Tempo eigentlich gekommen.“ 300<br />
Das Projekt Tempo verfolgte drei Ziele:<br />
• Integrationsziel<br />
<strong>Die</strong> organisatorische und kulturelle Integration der bisher<br />
getrennten Leben- bzw. Nichtleben-Branche.<br />
• Wachstumsziel<br />
<strong>Eine</strong> gemeinsame Geschäftsstrategie, die auf Gesamtberatungsfähigkeit<br />
und Cross-Selling aufbaute.<br />
• Effizienzziel<br />
<strong>Die</strong> Realisierung <strong>von</strong> Synergien im Vertrieb und in der internen<br />
Abwicklung durch effiziente Strukturen und Prozesse. 301<br />
Mit dem Projekt Tempo haben Helvetia und Patria erstm<strong>als</strong> gemeinsam<br />
strategische Überlegungen angestellt. 302 Man suchte einen neuen Weg in eine<br />
gemeinsame, erfolgreiche Zukunft. „Also es ging nicht darum, das Bestehende<br />
zu bestätigen, aber auch nicht das Bestehende kaputt zu reden. Wir suchten<br />
einen neuen gemeinsamen Weg.“ 303<br />
Mit dem Projekt Tempo wurde die neu geschaffene Helvetia Patria strategisch<br />
komplett neu positioniert. <strong>Die</strong> neu eingeführte Ausrichtung der <strong>Organisation</strong> in<br />
die vier Kundenbereiche PG, U, A und VP (Segmentierung) war „sensationell“<br />
304 , die „modernste dam<strong>als</strong> im Markt“ 305 - aber auch mutig, denn man<br />
hatte damit „das heisseste Eisen angefasst, was es überhaupt gibt: Man hat<br />
den Vertrieb angefasst.“ 306 Man hatte nämlich den bisher nach Leben bzw.<br />
Nichtleben getrennten Vertrieb auf die beiden neuen Kundenbereiche PG und<br />
300<br />
Protokoll 13-06, Absatz 27.<br />
301<br />
Oder wie es ein Interviewpartner treffend formulierte: „Eins und eins darf nicht zwei ergeben, und<br />
schon gar nicht 1,9.“ (Protokoll 13-02, Absatz 40)<br />
302<br />
Vgl. Protokoll 13-02, Absatz 6. Das Vorgängerprojekt SABA hatte sich auf operative<br />
Fragestellungen beschränkt (vgl. Kapitel 8.2.1).<br />
303<br />
Protokoll 13-02, Absatz 6.<br />
304 Protokoll 13-17, Absatz 37.<br />
305 Protokoll 13-02, Absatz 21.<br />
306 Protokoll 13-18, Absatz 29.<br />
244
HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
U aufgeteilt. Der Vertrieb Leben und der Vertrieb Nichtleben waren fortan<br />
innerhalb der Kundenbereiche zusammengefasst, um die Gesamtberatungsfähigkeit<br />
und das Cross-Selling aktiv zu unterstützen. „Also, vorher hatte man<br />
307, 308<br />
zwei Unternehmen und nach der Fusion hatte man vier Segmente.“<br />
<strong>Die</strong> klare strategische Positionierung wurde nach der langen Ungewissheit <strong>von</strong><br />
SABA mit einem gewissen Aufatmen begrüsst. Man war froh, wieder zu<br />
wissen, wo es lang ging. „Tempo hat insofern über das Ganze einen roten<br />
Faden gelegt, dass jeder gewusst hat, in welche Richtung es geht.“ ... Man<br />
war eigentlich froh, dass man gewusst hat, wohin geht es.“ 309<br />
Dennoch lief die Umsetzung <strong>von</strong> Tempo nur harzig. Was waren die Gründe für<br />
diese Schwierigkeiten? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, muss der<br />
Umsetzungsprozess <strong>von</strong> Tempo näher untersucht werden (vgl. Kapitel<br />
8.2.2.2).<br />
8.2.2.2 Prozess<br />
<strong>Die</strong> Umsetzung <strong>von</strong> Tempo war eine enorme Leistung. Zwei bisher unabhängige<br />
Unternehmen aus zwei verschiedenen Branchen und mit unterschiedlichen<br />
Prozessen mussten operativ integriert werden. „Aber gar nichts passte<br />
zusammen. Wir hatten keine gemeinsame Kundendatenbank. Es war gar<br />
nichts kompatibel. Weder die Informatiksysteme, noch die gemeinsamen<br />
Anwendungen ... . Aber gar nichts. Also musste man ein riesiges Infrastrukturprojekt<br />
aufsetzen. Weil das war ja klar, diese Dinge musste man zusammenlegen.“<br />
310 Das Projekt Tempo war ein Wagnis für alle, denn niemand <strong>von</strong><br />
Helvetia oder Patria hatte Erfahrung mit einem solchen Projekt. 311<br />
Tempo ist <strong>von</strong> den Mitarbeitenden mit Skepsis und einer gewissen Zurückhaltung<br />
betrachtet worden, weil allen klar war, dass die Zusammenlegung der<br />
beiden Firmen einen Stellenabbau und Kündigungen zur Folge haben wird.<br />
Doch wie gut oder wie schlecht die Abwicklung <strong>von</strong> Tempo gelungen ist,<br />
darüber waren sich unsere Interviewpartner nicht einig: Für die einen hat man<br />
307<br />
Protokoll 13-19, Absatz 27.<br />
308<br />
Vgl. das Organigramm der Tempo-Struktur in Kapitel 7.2.3.2, Abbildung 56.<br />
309<br />
Protokoll 13-06, Absatz 34<br />
310<br />
Protokoll 13-02, Absatz 12.<br />
311<br />
Vgl. Protokoll 13-02, Absatz 55.<br />
245
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Tempo zu schnell durchgezogen, für die anderen hat man sich dafür zu viel<br />
Zeit gelassen. Für die einen war die Kommunikation und Information über und<br />
während Tempo vorbildlich, für die anderen war sie nicht ausreichend. Es war<br />
eben, wie das ein Interviewpartner formulierte, eine „ganz normale<br />
<strong>Organisation</strong>sveränderung brut<strong>als</strong>ter Art und Weise.“ 312<br />
In einem Punkt waren sich hingegen alle Interviewpartner einig: <strong>Die</strong> Integration<br />
<strong>von</strong> Leben und Nichtleben und die strategische Ausrichtung auf die vier neuen<br />
Kundenbereiche ist nicht geglückt. Es wurden die unterschiedlichsten Gründe<br />
für dieses Scheitern angeführt:<br />
• zu geringe Konzepttiefe<br />
<strong>Die</strong> strategischen Konzepte <strong>von</strong> Tempo waren intern zu wenig<br />
durchgedacht. Der externe Berater war „der grosse Treiber“ 313<br />
hinter Tempo und man hat seine Ideen „relativ unplugged“ 314<br />
übernommen. „Wenn man bei Tempo nur ein bisschen weiter<br />
runtergegangen wäre, dann [wäre] man bereits im Vorfeld ...<br />
automatisch draufgestossen [auf die Frage]: Ja, was heisst das<br />
jetzt, was hat das für Konsequenzen?“ 315 Aufgrund der geringen<br />
Konzepttiefe „haben noch so viele Ausgestaltungsfragen gefehlt,<br />
die sich dann in der faktischen Umsetzung in einer elenden<br />
Schlaufe manifestiert haben.“ 316 <strong>Die</strong> strategische Idee war zu<br />
abstrakt für eine direkte Umsetzung in den operativen Alltag. <strong>Die</strong><br />
Basis hat „ab und zu wieder mal diesen Leuten zuoberst oben<br />
signalisieren müssen: Euer Entscheid ist das eine, die<br />
Umsetzung ist das andere. Und so wie Ihr euch das vorstellt,<br />
geht das nicht.“ 317<br />
• zu wenig konsequente Umsetzung<br />
Obwohl die strategische Ausrichtung und die Segmentierung in<br />
vier Kundenbereiche deutlich formuliert und kommuniziert<br />
312<br />
Protokoll 13-18, Absatz 29.<br />
313<br />
Protokoll 13-02, Absatz 19.<br />
314<br />
Protokoll 13-13, Absatz 27.<br />
315<br />
Protokoll 13-13, Absatz 29.<br />
316<br />
Protokoll 13-13, Absatz 27.<br />
317<br />
Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />
246
HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
worden waren, hat man sich bei der Umsetzung nicht<br />
konsequent daran gehalten. „... überall dort, wo einer laut<br />
geschrieen hat, hat man sofort Konzessionen gemacht. ... Man<br />
hat zwar ein sauberes Modell gehabt, ... [aber] dann hat man<br />
irgendeine Konsenslösung getroffen. ... Überall, man hat überall<br />
Konsenslösungen getroffen.“ 318 So ist das Konzept stückweise<br />
durch „Insellösungen“ 319 „verwässert“ 320 worden. Für die<br />
strategische Vision <strong>von</strong> Tempo war das „verhängnisvoll. Weil die<br />
[Insellösungen] bleiben, und da können sie nachher kulturelle<br />
Massnahmen machen, ... das nützt alles nichts.“ 321<br />
• zu grosser Konflikt der Werte<br />
<strong>Die</strong> neuen strategischen Werte <strong>von</strong> Tempo konnten sich nicht<br />
erfolgreich gegen das bisherige, traditionelle Versicherungsdenken<br />
durchsetzen. „Es gab immer noch so Sachen aus der<br />
alten Welt, wie man es früher gemacht hat, die hat man nicht<br />
konsequent neu ausgerichtet.“ 322 Insbesondere das klassische<br />
Produktions-Denken konnte mit Tempo nicht überwunden<br />
werden und hat sogar direkt zu einer Aushöhlung des Tempo-<br />
Konzepts geführt. „... [jeder hat] einfach das aus Tempo<br />
genommen, was ihm gedient hat. ... [Und] wenn er eine gute<br />
Produktion hatte ... hat man sie halt gelassen.“ 323<br />
• zu anspruchsvoll<br />
„... die <strong>Organisation</strong>sform [ist] ziemlich komplex gewesen ...<br />
möglicherweise zu anspruchsvoll ... Man ist aus einer relativ ...<br />
traditionellen, konservativen <strong>Organisation</strong> herausgekommen und<br />
wollte auf einmal eine relativ moderne <strong>Organisation</strong>sform<br />
anwenden. Das war schwierig.“ 324 Das Tempo-Konzept war zwar<br />
strategisch richtig, aber für die Mitarbeitenden war es nicht<br />
318 Protokoll 13-04, Absatz 31.<br />
319 Protokoll 13-07, Absatz 31.<br />
320 Protokoll 13-11, Absatz 29.<br />
321 Protokoll 13-11, Absatz 29.<br />
322 Protokoll 13-04, Absatz 31.<br />
323 Protokoll 13-20, Absatz 27-28.<br />
324 Protokoll 13-03, Absatz 27.<br />
247
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
anschlussfähig. Sie verstanden nicht, wieso die traditionelle<br />
Versicherungsstruktur mit einem Mal nicht mehr richtig war.<br />
„Also, da hat man - organisatorisch und rein betriebswirtschaftlich<br />
gedacht - wahrscheinlich richtige Schritte gemacht. ... Für die<br />
Leute dam<strong>als</strong> war es aber schwer verständlich. Und zwar darum<br />
schwer verständlich, weil viele sich in ihren bisherigen<br />
Unternehmen stark eingebracht hatten, ... und da hat man sich<br />
gefragt: ... Ja, habe ich denn meine Aufgabe nicht richtig<br />
gemacht, dass jetzt plötzlich alles anders wird? Also, die Leute<br />
haben angefangen, an sich selber zu zweifeln.“ 325 Man wollte mit<br />
der Ausrichtung der <strong>Organisation</strong> auf die vier Kundenbereiche<br />
die Mitarbeitenden „zwingen in einen Prozess rein, sich<br />
strategische Gedanken zu machen“. 326 Doch die strategische<br />
Neuausrichtung <strong>von</strong> Tempo hat die Mitarbeitenden nicht in eine<br />
neue Zukunft einladen können, sondern hat - aus Sicht der<br />
Mitarbeitenden - die Vergangenheit in Frage gestellt. Damit hat<br />
Tempo nicht Klarheit und Orientierung für den Aufbruch in die<br />
Zukunft, sondern bloss Zweifel geschaffen.<br />
• zu geringe Veränderungstiefe<br />
<strong>Die</strong> Umsetzung der strategischen Neuausrichtung hat sich<br />
hauptsächlich auf die Implementierung struktureller<br />
Massnahmen beschränkt. „Kulturell hat man zwar immer wieder<br />
Signale gesetzt ... aber ich hatte den Eindruck, man hätte hier<br />
noch sehr viel mehr [machen] sollen ... .“ 327 <strong>Die</strong> strategischen<br />
Impulse und Veränderungen, die hinter den strukturellen<br />
Massnahmen <strong>von</strong> Tempo standen, sind denn auch nicht wirklich<br />
bis in den organisationalen Alltag vorgedrungen. Auf die Frage,<br />
welche Veränderung <strong>von</strong> Tempo am deutlichsten spürbar<br />
geworden sei im Tagesgeschäft, antwortete ein Interviewpartner:<br />
„Der [neue] Firmenname.“ 328 <strong>Eine</strong> erstaunliche Antwort, wenn<br />
325 Protokoll 13-11, Absatz 27.<br />
326 Protokoll 13-13, Absatz 27.<br />
327 Protokoll 13-11, Absatz 29.<br />
328 Protokoll 13-10, Absatz 29.<br />
248
HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
man bedenkt, was für umwälzende strategische Veränderungen<br />
Tempo gebracht hat.<br />
<strong>Die</strong> strategische Vision <strong>von</strong> Tempo hat sich <strong>als</strong>o - aus den verschiedensten<br />
vorgängig erwähnten Gründen - nicht erfolgreich umsetzen lassen. Dennoch<br />
ist das (teilweise) Scheitern <strong>von</strong> Tempo nie zu einem offenen Thema<br />
geworden. „Aber offiziell hat man das natürlich nie mitgekriegt, dass man dort<br />
einen Fehlentscheid getroffen hat.“ 329 <strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong> hat gelernt, sich zu<br />
arrangieren und mit den Problemen <strong>von</strong> Tempo zu leben.<br />
Es stellt sich die Frage, welches die Auswirkungen da<strong>von</strong> auf das <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria waren. <strong>Die</strong> Antwort darauf wird im folgenden<br />
Kapitel 8.2.2.3 gegeben.<br />
8.2.2.3 Schlussfolgerungen<br />
Das Projekt Tempo hat das <strong>Handlungssystem</strong>, das sich während der Partnerschaft<br />
zwischen Helvetia und Patria angefangen hat herauszubilden, unbewusst<br />
und ungewollt verstärkt und dadurch weiter verfestigt (vgl. Abbildung 73)<br />
und schliesslich geradewegs zu der beschriebenen empirischen Evidenz des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria geführt (vgl. Abbildung 66).<br />
<strong>Die</strong> Auswirkungen des Projekts Tempo auf die einzelnen Elemente des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s können wie folgt zusammengefasst werden:<br />
• Strukturmodalitäten<br />
Tempo konnte keine neuen interpretativen Schemata verankern,<br />
weil die strategische Vision <strong>von</strong> Tempo nicht anschlussfähig war<br />
an das frühere, traditionelle Versicherungsdenken. Ebenfalls ist<br />
es nicht gelungen, neue Normen der Legitimation einzuführen,<br />
weil die Entscheidungsprozesse <strong>von</strong> Tempo selbst immer wieder<br />
auf alte Normen (insbesondere das Primat der Prämien)<br />
zurückgegriffen haben. Hinderlich war sicherlich ebenfalls, dass<br />
die meisten Tempo-Massnahmen struktureller Natur waren, das<br />
heisst, sich auf die Dimension Reifikation beschränkten. Unterstützende<br />
Massnahmen in den Dimensionen Signifikation und<br />
Legitimation gab es zu wenig.<br />
329 Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />
249
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
interpretative Schemata Ressourcen<br />
Normen<br />
• strategische Vision<br />
nicht anschlussfähig<br />
an Vergangenheit<br />
(Re-)Konstruktion<br />
• Unerfahrenheit mit<br />
kulturellen Integrationsprozessen<br />
• Konzentration auf die<br />
strukturelle Dimension<br />
der Zusammenarbeit<br />
Routinisierung<br />
250<br />
• Primat der Prämien<br />
steht im Konflikt mit<br />
neuen strategischen<br />
Werten<br />
kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />
• ungenügende<br />
Initiierung kollektiver<br />
kognitver Prozesse<br />
• man lernt, sich mit<br />
den Problemen zu<br />
arrangieren<br />
• zu geringe Konzepttiefe<br />
• Ausnahmen, Insellösungen<br />
zu einmal<br />
getroffenen Entscheidungen<br />
Rationalisierung<br />
• zu abstrakte<br />
Zielvorgaben<br />
Abbildung 73: <strong>Die</strong> Verfestigung des <strong>Handlungssystem</strong>s durch Tempo<br />
• Bezugsfähigkeiten<br />
Im <strong>Handlungssystem</strong> sind durch das Projekt Tempo kaum<br />
Bezugsfähigkeiten geschaffen bzw. positiv verstärkt worden. Da<br />
das Projekt stark durch den externen Berater getrieben worden<br />
war, hat sich im <strong>Handlungssystem</strong> selbst wenig Erfahrung mit<br />
dem Umgang mit (Re-)Konstruktionsprozessen herausbilden<br />
können. Auch für die beiden anderen Bezugsfähigkeiten hatte<br />
Tempo keine Vorbildfunktion für das <strong>Handlungssystem</strong>: <strong>Die</strong><br />
Rationalisierungsfähigkeit wurde wegen zu wenig operativ<br />
fokussierten Zielvorgaben kaum gestärkt und wegen der zu<br />
geringen Konzepttiefe litt die Routinisierungsfähigkeit.<br />
• Verhandlungsprozess des Organisierens<br />
Tempo hat auf den Verhandlungsprozess des Organisierens<br />
ähnliche Signale gesendet wie bereits das Projekt SABA: <strong>Die</strong><br />
kollektiven kognitiven Prozesse wurden vernachlässigt und die<br />
politischen Prozesse hatten zuwenig Durchsetzungskraft. Alles in
INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
allem hat dies dazu geführt, dass sich im <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria soziale Praktiken des Sich-arrangierens herausgebildet<br />
haben, die naturgemäss eher oberflächlich und wenig<br />
nachhaltig wirkten.<br />
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass weder SABA noch Tempo<br />
ein <strong>Handlungssystem</strong> haben schaffen können, das eine einheitliche<br />
Ausrichtung hat. „... [es ist] nicht insgesamt gelungen, eine gemeinsame<br />
Ausrichtung zu schaffen, dass da wirklich alle am gleichen Strick ziehen.“ 330<br />
So erklärt sich die Ambivalenz und die Fragmentierung der interpretativen<br />
Schemata des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria und in der Folge die<br />
paradoxe Stabilisierung, die das <strong>Handlungssystem</strong> (re-)produzierte (vgl.<br />
Abbildung 70 und Abbildung 71).<br />
Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria befand sich nach Tempo gewissermassen<br />
in einem stabilisierten Spannungszustand. Jeder wusste, dass es so<br />
nicht weitergehen kann, dennoch konnten die Probleme nicht offiziell thematisiert<br />
werden, weil eine Kritik oder ein Hinterfragen der strategischen<br />
Ausrichtung nicht möglich war. <strong>Die</strong> Strategie bzw. die strategische<br />
Segmentierung der <strong>Organisation</strong> war tabu. Zwei Interviewpartner haben den<br />
temporären Spannungszustand des <strong>Handlungssystem</strong>s treffend wie folgt<br />
beschrieben: „Tempo ist für mich ein Zwischenkonstrukt gewesen.“ 331 „Darum<br />
hat man eigentlich wirklich nur darauf warten müssen, dass dieser Entscheid<br />
korrigiert wird.“ 332<br />
<strong>Die</strong> Intervention in das <strong>Handlungssystem</strong> und die Veränderungen, die damit<br />
ausgelöst wurden, werden im folgenden Kapitel 8.3 beschrieben.<br />
330 Protokoll 13-12, Absatz 31.<br />
331 Protokoll 13-04, Absatz 31.<br />
332 Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />
251
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
8.3 Intervention und Veränderung<br />
des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
Drei Jahre nach dem Projekt Tempo sah sich Helvetia Patria mit der<br />
Erkenntnis konfrontiert, dass es „Helvetia Patria nicht gelungen [ist], seit 1996<br />
einen grossen Schritt in die gewünschte Richtung zu machen.“ 333<br />
Helvetia Patria stand Ende 1999 vor zwei grossen Problemen: <strong>Die</strong> Kostensätze<br />
lagen sowohl im Bereich Leben wie im Bereich Nichtleben über dem<br />
Marktdurchschnitt. Das Marktwachstum <strong>von</strong> Helvetia Patria hingegen lag unter<br />
dem Marktdurchschnitt. Um dieser negativen Entwicklung „proaktiv zu begegnen“,<br />
334 wurde im April 2000 das Projekt Dynamo aufgesetzt.<br />
Das Projekt Dynamo hat relativ rasch aufgedeckt, dass die bestehende<br />
<strong>Organisation</strong>sstruktur nach Kundenbereichen mit je einem eigenen Aussendienst<br />
„die kritische Frage“ ist. 335 Das Kostenproblem war letztlich verursacht<br />
durch ein Strukturproblem. <strong>Die</strong> Kundenbereichs-Segmentierung aus dem<br />
Projekt Tempo wurde darum zugunsten einer branchenorientierten Struktur<br />
aufgegeben. <strong>Die</strong> zwei parallelen Vertriebsorganisationen des Kundenbereichs<br />
PG und des Kundenbereichs U wurden zum Bereich Vertriebsmanagement<br />
zusammengelegt. <strong>Die</strong> neue <strong>Organisation</strong>sstruktur gliedert sich nun in das<br />
Vertriebsmanagement (VM) sowie die vier Marktbereiche Vorsorge Unternehmen<br />
(MB VU), Vorsorge Privat (MB VP), Nichtleben (MB NL) und<br />
e-Business/Vertragspartner (MB e&VP). 336<br />
<strong>Die</strong> Abkehr <strong>von</strong> der Tempo-<strong>Organisation</strong>sstruktur war ein Eingeständnis, dass<br />
die Kundenbereichs-Segmentierung die <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria letztlich<br />
überfordert hat. „Wir ändern nun Dinge, die wir vor einigen Jahren<br />
eingeführt haben. <strong>Die</strong> Gründe hierfür liegen zum einen darin, dass wir nicht<br />
alles richtig erkannt und eingeschätzt haben, und zum anderen in einer zu<br />
wenig konsequenten Umsetzung.“ 337<br />
333 Protokoll 21-02, Absatz 29.<br />
334 Protokoll 22-27, Absatz 53.<br />
335 Protokoll 22-04, Absatz 49.<br />
336 Vgl. das Organigramm der Dynamo-Struktur in Abbildung 59 (Kapitel 7.2.3.3, Seite 194).<br />
337 Protokoll 22-04, Absatz 82.<br />
252
INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
8.3.1 Das Projekt Dynamo<br />
<strong>Die</strong> formellen Hintergründe und die konkrete Abwicklung des Projekts Dynamo<br />
sind in Kapitel 7.2.3.3 beschrieben. Hier in diesem Kapitel wird ein anderer<br />
Fokus gesetzt. Es wird dargestellt und interpretiert, welchen Änderungsimpuls<br />
das Projekt Dynamo auf das mittlerweile stabilisierte <strong>Handlungssystem</strong> der<br />
Helvetia Patria hatte.<br />
8.3.1.1 Auslöser und Ziele<br />
Auslöser für das Projekt Dynamo war das drängende Kostenproblem<br />
verbunden mit dem stagnierenden Wachstum. Bei der Ankündigung des<br />
Projekts Dynamo wurde jedoch grosses Gewicht auf die Betonung gelegt,<br />
dass Dynamo keine Notmassnahme, sondern proaktives unternehmerisches<br />
Handeln ist: „Das Projekt Dynamo wird mit einer offensiven Grundhaltung<br />
gestartet, aus einer Position der Stärke heraus. Jetzt, und nicht erst, wenn es<br />
zu spät ist.“ 338 „Dynamo ist eine Flucht nach vorne. Wir wollen bereit sein, <strong>als</strong>o<br />
müssen wir was tun.“ 339<br />
Ebenso wichtig war es klarzumachen, dass Dynamo keine Abkehr <strong>von</strong> der<br />
bisherigen Strategie der Helvetia Patria bedeutet. „Dynamo ist nicht mit einer<br />
neuen Strategie zu verwechseln.“ 340 Im Gegenteil: Dynamo ist die verstärkte<br />
Anstrengung, die bestehende Strategie 99-04 zu erreichen.<br />
Mit Dynamo hat man sich drei Ziele gesetzt: 341<br />
• Kostenziel<br />
Einsparung <strong>von</strong> 60 Mio. (15 % der Gesamtkosten)<br />
• Wachstumsziel<br />
Wachstumsimpulse zur Sicherung der Zielerreichung der<br />
Strategie 99-04<br />
• neuer Führungs- und Handlungsrahmen<br />
mehr unternehmerische Verpflichtung: strategischer Fokus statt<br />
338<br />
Protokoll 21-06, Absatz 36.<br />
339<br />
Protokoll 13-02, Absatz 50.<br />
340<br />
Protokoll 22-06, Absatz 28.<br />
341 Genau genommen waren es anfänglich nur zwei Ziele, nämlich das Kosten- und das Wachstumsziel.<br />
Der neue Führungs- und Handlungsrahmen ist erst im Laufe des Projekts <strong>als</strong> Notwendigkeit<br />
erkannt und daher <strong>als</strong> zusätzliches drittes Ziel aufgenommen worden (vgl. Kapitel 7.2.3.3).<br />
253
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Zersplitterung, dynamische Einheiten statt Machtdenken,<br />
effizienter Service statt Bürokratie<br />
Trotz dieser klaren und offenen Kommunikation über die Hintergründe und<br />
Ziele <strong>von</strong> Dynamo war in der Wahrnehmung der Mitarbeitenden <strong>von</strong> Helvetia<br />
Patria jedoch ein ganz anderer Grund <strong>als</strong> das Kostenproblem der Auslöser für<br />
Dynamo: Nämlich „die stille Einsicht, dass das Vorprojekt [Tempo] eigentlich<br />
nicht funktioniert hat.“ 342 „Und das [ist] nie auf den Tisch gekommen, dass das<br />
ein Hauptgrund gewesen ist, dass man relativ rassig wieder ein neues Projekt<br />
lanciert hat - sprich Dynamo - man hat das dann eben verpackt mit<br />
Kosteneinsparungen.“ 343<br />
Aus Sicht der <strong>Organisation</strong> musste <strong>als</strong>o Dynamo kommen, weil die <strong>Organisation</strong>sstruktur<br />
<strong>von</strong> Tempo (Segmentierung nach Kundenbereichen) nicht<br />
funktioniert hat. 344 „Weil die an der Front wussten, so kann es nicht weitergehen.“<br />
345<br />
Das offizielle Dynamo war schwerpunktmässig <strong>als</strong> Kostenprojekt aufgesetzt.<br />
„Also im Kopf war eigentlich nicht, die Strukturen zu überdenken, sondern die<br />
wachsende Sorge, ... bei den Kosten ins Offside [zu] laufen. Und unser Ziel<br />
war nicht, die Struktur zu vereinfachen. Unser Ziel war, das Kostenproblem zu<br />
lösen.“ 346 Im Laufe des Projekts, und insbesondere aufgrund der Abkehr <strong>von</strong><br />
der Kundenbereichs-Segmentierung, hat sich in der <strong>Organisation</strong> jedoch die<br />
inoffizielle Auffassung festgesetzt, dass Dynamo eine Korrektur <strong>von</strong> Tempo<br />
war. „Weil man ist ja im Endeffekt wieder zurück in die alte Struktur.“ 347<br />
<strong>Die</strong>se Umwidmung des Projekts war ganz entscheidend dafür, wie das Projekt<br />
in der <strong>Organisation</strong> aufgenommen und akzeptiert worden ist. Dynamo ist trotz<br />
342 Protokoll 13-15, Absatz 29.<br />
343 Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />
344<br />
Als <strong>Erklärung</strong> dafür, wieso die Kundenbereichs-Segmentierung nicht funktioniert hat, kursierten<br />
innerhalb der <strong>Organisation</strong> zwei Begründungen (vgl. Kapitel 8.1.2.3). <strong>Die</strong> einen waren der<br />
Meinung, dass es an der inkonsequenten Umsetzung lag, die anderen erklärten, dass die<br />
Segmentierung nicht funktionieren konnte, weil sie prinzipiell die Grundlogik des Versicherungsgeschäfts<br />
verletzte.<br />
345<br />
Protokoll 13-16, Absatz 28.<br />
346 Protokoll 13-02, Absatz 29.<br />
347 Protokoll 13-15, Absatz 29.<br />
254
INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
seiner Härten begrüsst worden. 348 „Dynamo ist aufgesogen worden - auch<br />
wenn es weh getan hat.“ 349<br />
8.3.1.2 Prozess und Ergebnisse<br />
Darüber, wie das Projekt Dynamo abgewickelt worden ist, ob z.B. die<br />
Information und Kommunikation über das und während dem Projekt gut war,<br />
und ob die Basis in die Erarbeitung <strong>von</strong> Dynamo genügend eingebunden war<br />
oder nicht - darüber herrschte unter unseren Interviewpartnern eine uneinheitliche<br />
Meinung. 350 Für die einen war Dynamo mustergültig, ein „Lehrstück<br />
für Projektmanagement“. 351 Für die anderen war es ein „Negativerlebnis“. 352<br />
Gemessen am Vorgängerprojekt Tempo war Dynamo jedoch - da waren sich<br />
alle Interviewpartner einig - das bessere und erfolgreichere Projekt. Insbesondere<br />
die folgenden Punkte haben zur positiven Gesamtbeurteilung <strong>von</strong><br />
Dynamo geführt:<br />
• Umsetzungskonsequenz<br />
Dynamo musste anfänglich um seine Glaubwürdigkeit kämpfen,<br />
anders zu sein <strong>als</strong> das Vorgängerprojekt Tempo: „Das war am<br />
Anfang sicher die grosse Herausforderung, die Glaubwürdigkeit<br />
zu kriegen, ... vor allem auch <strong>von</strong> der Ernsthaftigkeit, dass man<br />
umsetzt ... .“ 353 Das war ein Problem, denn viele glaubten nicht,<br />
„dass man die Härte an den Tag legen wird, um an das wirklich<br />
Eingemachte zu gehen.“ 354<br />
Doch Dynamo schaffte tatsächlich den Wechsel in der Gangart:<br />
Das Projekt wurde „sehr viel konsequenter durchgezogen. Sehr<br />
viel konsequenter.“ 355 „In Dynamo ist man <strong>von</strong> Anfang an - für<br />
Versicherungsverhältnisse und für Helvetia-Patria-Verhältnisse -<br />
348<br />
Das Projekt Dynamo hat zu einem Abbau <strong>von</strong> 440 Stellen und zu 260 Kündigungen geführt.<br />
349<br />
Protokoll 13-20, Absatz 29.<br />
350<br />
Das Gleiche war bereits beim Projekt Tempo der Fall (vgl. Kapitel 8.2.2.2).<br />
351<br />
Protokoll 13-16, Absatz 28.<br />
352<br />
Protokoll 13-08, Absatz 31.<br />
353<br />
Protokoll 13-14, Absatz 28.<br />
354<br />
Protokoll 11-09, Absatz 33.<br />
355<br />
Protokoll 13-11, Absatz 29.<br />
255
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
relativ dynamisch und hart darangegangen.“ 356 „Wir wollten nicht<br />
mehr hundert Ausnahmen - das ist eine Lehre, die wir aus<br />
357, 358<br />
Tempo gezogen haben.“<br />
Das schnelle und konsequente Vorgehen im Projekt Dynamo<br />
war in den Augen der Mitarbeitenden ausschlaggebend für den<br />
Erfolg <strong>von</strong> Dynamo. „Dynamo ist kurz und kräftig gewesen und<br />
hat jetzt auch den entsprechenden Erfolg vorzuweisen.“ 359 Das<br />
schlagkräftige Vorgehen <strong>von</strong> Dynamo mag ein wichtiger Erfolgsfaktor<br />
gewesen sein. Viel entscheidender - wenn auch weniger<br />
vordergründig - war der Umstand, dass Dynamo kulturell<br />
anschlussfähig war an das bestehende Versicherungsdenken<br />
(vgl. nächster Punkt).<br />
• Akzeptanz<br />
Dynamo wurde <strong>von</strong> der <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> richtig und notwendig<br />
akzeptiert. „... wir haben alle begriffen - und das hat man uns gar<br />
nicht gross zu kommunizieren oder erklären gebraucht - Dynamo<br />
muss sein.“ 360 Interessanterweise rührte diese Akzeptanz <strong>von</strong><br />
Dynamo jedoch nicht nur <strong>von</strong> den offiziellen Zielen <strong>von</strong> Dynamo,<br />
sondern mehrheitlich <strong>von</strong> der inoffiziellen Wahrnehmung, dass<br />
mit Dynamo Fehler aus dem Vorprojekt Tempo korrigiert werden.<br />
Darum war die Bereitschaft in der <strong>Organisation</strong> da, Dynamo mit<br />
all seinen Härten und Schwächen zu akzeptieren. „[Es sind] sehr<br />
harte Entscheide gefällt worden, aber die waren einleuchtend.<br />
Und da hat im Endeffekt jeder das Gefühl gehabt: Doch, das<br />
betrifft mich. Das tut mir weh - aber vom Grundsatz her ist es<br />
richtig.“ 361 „[Dynamo ist] viel weniger angezweifelt worden. ...<br />
Man ist sehr schnell zur Einsicht gekommen, dass das gut ist.<br />
356<br />
Protokoll 13-04, Absatz 32<br />
357<br />
Protokoll 22-08, Absatz 32.<br />
358<br />
Natürlich hat es bei Dynamo auch Rückfälle in das alte Verhalten gegeben, z.B. bei der<br />
Diskussion und Entscheidung der Frage, wie die neuen Kompetenz-Center zu nennen sind.<br />
359<br />
Protokoll 13-01, Absatz 28.<br />
360 Protokoll 13-20, Absatz 28.<br />
361 Protokoll 13-15, Absatz 28.<br />
256
INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Das Verständnis war grossmehrheitlich da. Nicht zu vergleichen<br />
mit der Unruhe, die im alten Projekt [Tempo] gewesen ist.“ 362<br />
<strong>Die</strong> Akzeptanz <strong>von</strong> Dynamo war der entscheidende Erfolgsfaktor<br />
für das gesamte Projekt. Daraus ist ein neuer, gemeinsamer<br />
Wille zum Erfolg entstanden. „... die Leute draussen [haben<br />
realisiert] jawohl, ich will das eigentlich auch. Also machen wir<br />
das zusammen. Wir alle <strong>von</strong> der Helvetia Patria. Das war früher<br />
irgendwie nicht so.“ 363 Dynamo hat der <strong>Organisation</strong> Stärke und<br />
einen neuen Zusammenhalt verliehen. Dank dieser neuen<br />
Dynamik war man im Rahmen <strong>von</strong> Dynamo dazu in der Lage,<br />
massive Probleme zu meistern, ohne dass sie eskaliert sind oder<br />
die positive Grundstimmung entscheidend beeinträchtigt<br />
haben. 364<br />
• neues Selbstbewusstsein<br />
Dynamo hat der ganzen <strong>Organisation</strong> ein neues Selbstbewusstsein<br />
vermittelt. Das Verlierer-Image <strong>von</strong> SABA und<br />
Tempo ist einem Gewinner-Image gewichen. In der <strong>Organisation</strong><br />
herrscht Aufbruchstimmung und Siegerlaune: 365 Mit Dynamo hat<br />
man ein ehrgeiziges Projekt erfolgreich durchgestanden und<br />
Ergebnisse erzielt, auf die man stolz ist. „Wir haben<br />
Umsetzungsstärke bewiesen. ... Wir sind mit dem Ergebnis<br />
zufrieden. ... Wir haben viel gelernt. Wir sind nicht mehr die<br />
gleichen Leute.“ 366 „Helvetia Patria ist fähiger, mit Transparenz<br />
umzugehen. Wir können nun Probleme lösen, ohne zuerst<br />
Rechtfertigungen vorbringen zu müssen oder in die Defensive zu<br />
362<br />
Protokoll 13-15, Absatz 29.<br />
363<br />
Protokoll 13-20, Absatz 27.<br />
364<br />
Dynamo war ein erfolgreiches Projekt, aber es hatte natürlich dennoch seine Probleme. Schwer<br />
zu schaffen machten in der Umsetzung <strong>von</strong> Dynamo hauptsächlich die folgenden drei Faktoren:<br />
Personalabbau ohne Anpassung der Prozessabläufe, Schwierigkeiten bei der Einführung <strong>von</strong><br />
Move (Aussendienstvergütungssystem), Schwierigkeiten bei der Einführung <strong>von</strong> BESY<br />
(Nichtleben-Abwicklungssystem).<br />
365 Es gibt vereinzelt auch kritische Stimmen, die an der Nachhaltigkeit dieses Aufbruchs zweifeln:<br />
„Für mich ist nicht der Ruck durch die Unternehmung. ... Es ist nicht Aufbruchstimmung ‚jetzt<br />
machen wir’, sondern ‚wir haben überlebt, jetzt wieder jeder für sich’.“ (Protokoll 13-04, Absatz<br />
31)<br />
366 Protokoll 22-27, Absatz 53.<br />
257
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
gehen.“ 367 „Wir haben Wachstumshebel und Kostentreiber<br />
identifiziert und wissen heute sehr viel mehr über unsere Firma.<br />
Wir sind selbstkritischer geworden. Wir glauben nicht mehr alles,<br />
was man uns sagt, sondern wollen Zahlen und Fakten sehen.“ 368<br />
<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong> steht vor einem „Neustart“. 369 „Wenn ich in<br />
meinem Umfeld schaue, die Stimmung ist eine ganz andere ...<br />
die Leute sind anders [am Arbeiten] <strong>als</strong> vorher.“ 370 <strong>Die</strong><br />
Voraussetzung für diesen Neustart ist in den Augen der<br />
Mitarbeitenden durch die neue Dynamo-Struktur geschaffen<br />
worden. „Auf jeden Fall, die Strukturen sind bedeutend besser<br />
gelegt. Von dem her hat das sicher Motivation, zum Teil sogar<br />
wirklich Begeisterung ausgelöst, dass man das Gefühl hat, jetzt<br />
können wir dann wirklich wieder aus dem Ganzen schöpfen,<br />
ohne dass man sich intern irgendwie zermürbt.“ 371, 372 „<strong>Die</strong><br />
Führungsbereiche, wie sie jetzt sind, in denen ... eine<br />
Fokussierung stattgefunden hat - nicht die völlige Integration <strong>von</strong><br />
allem mit allem - ... die fühlen sich jetzt auch wirklich zuständig<br />
für das Business.“ 373<br />
Dynamo hat auch das Führungsverständnis <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
erneuert. Man ist härter geworden, führt konsequenter und „ist<br />
einverstanden mit Verlusten“. 374 <strong>Eine</strong> konsensorientierte Führung<br />
„haben wir früher lange genug versucht, ohne Resultat. Wir<br />
haben in diesem Haus kaum Sanktionen für Fehlverhalten. Aber<br />
beim Belohnen sind wir Spitze. Wir haben eine ernorme<br />
Fehlertoleranz. Hier müssen wir noch einen Reifeprozess<br />
367<br />
Protokoll 22-27, Absatz 53.<br />
368<br />
Protokoll 22-27, Absatz 53.<br />
369<br />
Protokoll 13-13, Absatz 28.<br />
370<br />
Protokoll 13-14, Absatz 28.<br />
371<br />
Protokoll 13-07, Absatz 29.<br />
372<br />
Es gibt vereinzelt auch kritische Stimmen, die die Auflösung der Kundenbereiche bedauern:<br />
„Dynamo zerstört das, was man 3 ½ Jahre erfolgreich aufgebaut hat im Kundenbereich U. <strong>Die</strong><br />
Investitionen <strong>von</strong> 3 ½ Jahren gehen den Bach runter.“ (Protokoll 31-01, Absatz 28.)<br />
373<br />
Protokoll 13-09, Absatz 28.<br />
374 Protokoll 13-19, Absatz 28.<br />
258
INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
durchmachen.“ 375 „Dynamo endet <strong>als</strong> Projekt, aber es lebt weiter<br />
im Führungs- und Leistungsverhalten der gesamten Helvetia<br />
Patria.“ 376<br />
Trotz des gewachsenen Selbstvertrauens und der gestärkten<br />
Zuversicht, ist eine gewisse kritische Selbstreflexion nicht<br />
verloren gegangen. „Aber letztendlich muss es die Zeit zeigen,<br />
ob man den Atem durchhalten kann und die Kadenz.“ 377 Und es<br />
ist ob aller Freude und Stolz über das gelungene Projekt klar,<br />
dass Dynamo nur der Anfang war, nicht das Ende: „Wir haben<br />
jetzt auch noch eine grosse Pendenzenliste. Und die<br />
Hausaufgaben müssen wir weiterhin machen. Sonst haben wir in<br />
zwei drei Jahren wieder ein Dynamo.“ 378 „Wir haben erst einen<br />
kleinen Bruchteil der notwendigen Strukturbereinigung hinter<br />
uns. Was hintendurch an Bürokratie abläuft ist immer noch viel<br />
zu viel.“ 379<br />
Das Projekt Dynamo war ein erfolgreiches Ereignis in der Firmenentwicklung<br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria. Doch es stellt sich die Frage, was die Auswirkungen <strong>von</strong><br />
Dynamo auf das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria waren. <strong>Die</strong> Antwort<br />
darauf wird im folgenden Kapitel 8.3.1.3 gegeben.<br />
8.3.1.3 Schlussfolgerungen<br />
<strong>Die</strong> Auswirkungen <strong>von</strong> Dynamo auf das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
können nur angemessen gewürdigt werden, wenn das Projekt in den<br />
grösseren zeitlichen Zusammenhang mit dem Vorprojekt Tempo gestellt wird.<br />
Denn Dynamo hat sich in den Augen der <strong>Organisation</strong>smitglieder hauptsächlich<br />
deshalb legitimiert, weil es das Tabu der Kundenbereichs-Segmentierung<br />
gebrochen hat, das seit Tempo die <strong>Organisation</strong> blockiert hat. Weil die<br />
<strong>Organisation</strong>smitglieder Dynamo implizit <strong>als</strong> Antwort auf Tempo wahrgenommen<br />
haben, ist denn auch niemand in der <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> Dynamo<br />
375<br />
Protokoll 32-04, Absatz 34.<br />
376<br />
Protokoll 22-23, Absatz 41.<br />
377<br />
Protokoll 13-13, Absatz 28.<br />
378<br />
Protokoll 13-17, Absatz 38.<br />
379<br />
Protokoll 13-12, Absatz 32.<br />
259
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
überrascht worden: „... wenn man die Hausaufgaben im Tempo gelöst hätte,<br />
hätte es wahrscheinlich kein Dynamo gebraucht.“ 380<br />
Da ist eine interessante, logisch-kausale Sichtweise der <strong>Organisation</strong>spraxis<br />
auf Dynamo - aber wie sieht die theoretische Beurteilung aus? Kann aus<br />
theoretischer Sicht dieser Schlussfolgerung zugestimmt werden? Dazu muss<br />
zuerst die Frage beantwortet werden, ob die Hausaufgaben des Projekts<br />
Tempo für das damalige, im Aufbau befindliche gemeinsame <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Versicherungen und Patria Leben überhaupt lösbar<br />
gewesen wären. Und die theoretische Antwort lautet: Nein.<br />
Tempo hat nie gelingen können, weil das Projekt für das damalige <strong>Handlungssystem</strong><br />
eine Überforderung war. Das Projekt ist nicht gescheitert, weil man<br />
entscheidende Fehler im Projektmanagement oder Change Management<br />
gemacht hätte. 381 Tempo ist nicht geglückt, weil die Veränderungsinitiative <strong>von</strong><br />
Tempo insgesamt nicht anschlussfähig war an das damalige <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria. Und diese Nicht-Anschlussfähigkeit war ein<br />
Problem, das jenseits <strong>von</strong> allen Fragen des reinen Projekt- oder Change<br />
Managements lag. Es hatte direkt etwas zu tun mit der Dialectic of Control, die<br />
das damalige <strong>Handlungssystem</strong> prägte (vgl. Kapitel 8.2.2.3).<br />
Und umgekehrt war das Projekt Dynamo unabhängig <strong>von</strong> jeglichen Aspekten<br />
des Projektmanagements und Change Managements ein Erfolg, weil Dynamo<br />
anschlussfähig war an das damalige <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria.<br />
Dynamo hat den Nerv des <strong>Handlungssystem</strong>s getroffen und mit der neuen<br />
<strong>Organisation</strong>sstruktur den stabilisierten Spannungszustand <strong>von</strong> Tempo aufgelöst.<br />
Was waren nun die positiven Auswirkungen <strong>von</strong> Dynamo auf das <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria im einzelnen (vgl. Abbildung 74)?<br />
380 Protokoll 13-07, Absatz 31.<br />
381 Das Projektmanagement ist im Fall <strong>von</strong> Tempo ganz einfach kein massgeblicher Faktor gewesen<br />
- und zwar unabhängig da<strong>von</strong>, ob es nun tatsächlich gut oder weniger gut war. In den Interviews<br />
zu Tempo wurde das Projektmanagement ja ganz unterschiedlich beurteilt: Manche fanden es<br />
gut, andere schlecht. <strong>Die</strong> Hauptproblematik des Projekts Tempo - die Kundenbereichs-Segmentierung<br />
- hat alle möglichen Auswirkungen eines positiven oder negativen Projektmanagements<br />
überstrahlt. Das Gleiche gilt nochm<strong>als</strong> für das Projekt Dynamo. Auch dort war letztlich nicht die<br />
Frage entsheidend, ob das Projektmanagement <strong>von</strong> Dynamo gut oder schlecht war. Entscheidend<br />
bei Dynamo war, dass das Tabu der Segmentierung gebrochen wurde.<br />
260
• vertrautes Ordnungsmuster<br />
• Stärkung der Identität<br />
• Erfahrungskumulation<br />
• Lead behalten<br />
INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
interpretative Schemata Ressourcen<br />
Normen<br />
(Re-)Konstruktion<br />
• Einführung der<br />
Dynamo-Struktur<br />
Routinisierung<br />
261<br />
• Entstehung neuer<br />
Werte (Kosten,<br />
Führung, Leistung)<br />
kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />
• kollektive kognitive<br />
Prozesse sind in<br />
Gang gekommen<br />
?<br />
• Transparenz durch<br />
Umsetzungscontrolling<br />
• Befähigungsoffensive<br />
• härtere Entscheide<br />
• Bereitschaft zum<br />
Verzicht<br />
Rationalisierung<br />
• klar formulierte<br />
Erwartungen bzw.<br />
messbare Zielvorgaben<br />
Abbildung 74: Veränderungsimpulse <strong>von</strong> Dynamo auf das <strong>Handlungssystem</strong><br />
• Strukturmodalitäten<br />
Der grösste Impuls ging zweifelsfrei <strong>von</strong> der Strukturdimension<br />
Reifikation aus. <strong>Die</strong> Einführung der neuen <strong>Organisation</strong>sstruktur<br />
war das wichtigste Signal. Das Massnahmenpaket <strong>von</strong> Dynamo<br />
war zwar immer noch zu strukturlastig und zu einseitig auf die<br />
Dimension Reifikation ausgerichtet, aber Dynamo hat es<br />
geschafft, dass in diesen Strukturen anders gelebt wird <strong>als</strong><br />
vorher, weil <strong>von</strong> der Strukturdimension Reifikation wichtige<br />
Erneuerungsimpulse auf die beiden anderen Strukturdimensionen<br />
ausgingen.<br />
<strong>Die</strong> Dynamo-Struktur war spontan anschlussfähig an die interpretativen<br />
Schemata des <strong>Handlungssystem</strong>s, weil sie ein<br />
vertrautes Ordnungsmuster (Trennung Leben/Nichtleben und<br />
Trennung Fabrik/Vertrieb) zurückgebracht hat. Der Wiedererkennungseffekt<br />
hat die Identität (Wer sind wir? Wie können wir<br />
erfolgreich zusammenarbeiten?) und das Selbstbewusstsein der
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
<strong>Organisation</strong> gestärkt und dadurch einen Beitrag geleistet zur<br />
Überwindung der Ambivalenz und Fragmentierung der<br />
Dimension Signifikation. Letztlich ist damit Vertrauen und<br />
Zuversicht in die <strong>Organisation</strong> und in die Führung gewachsen.<br />
Dynamo hat aber auch neue Normen in das <strong>Handlungssystem</strong><br />
eingepflanzt. Bei Dynamo stand nicht mehr das Primat der<br />
Prämien im Vordergrund. <strong>Die</strong> Produktion <strong>als</strong> bisheriger Fokus<br />
des <strong>Handlungssystem</strong>s wurde abgelöst bzw. ergänzt durch die<br />
Richtgrössen Kosten, Rentabilität, Leistung und Führung.<br />
• Bezugsfähigkeiten<br />
Dynamo hat die Bezugsfähigkeiten des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
wachsen lassen. <strong>Die</strong> (Re-)Konstruktionsfähigkeit profitierte vom<br />
Erfahrungszuwachs. Dynamo war ja nach SABA und Tempo<br />
bereits das dritte Grossprojekt innerhalb einer relativ kurzen<br />
Zeitspanne. Man hat zwar die Unterstützung eines externen<br />
Beraters beigezogen, aber gezielt darauf geachtet, dass der<br />
Lead des Projekts bei Helvetia Patria verblieb. So konnten<br />
ungefiltert Erfahrungen gesammelt werden mit Veränderungs-<br />
und Entwicklungsinitiativen. 382<br />
Auch die Rationalisierungsfähigkeit ist stärker geworden. <strong>Die</strong><br />
Führungskommunikation hat nicht mehr den Charakter <strong>von</strong><br />
Aufrufen oder Appellen zum Handeln („Handlungsspielraum<br />
nutzen“), sondern besteht aus klar formulierten Erwartungen und<br />
(teilweise) messbaren Anforderungen an die zu erbringende<br />
Leistung der Mitarbeitenden. <strong>Die</strong> Führungsintensität hat zugenommen.<br />
<strong>Die</strong> Routinisierungsfähigkeit war wegen der wahrgenommenen<br />
Umsetzungsschwächen <strong>von</strong> Tempo besonders im Blickpunkt <strong>von</strong><br />
Dynamo. Ein striktes Umsetzungscontrolling hat die Routinisierungsfähigkeit<br />
während der Dynamo-Umsetzung unterstützt.<br />
382 Ein direkter Ausfluss aus diesem Erfahrungszuwachs ist zum Beispiel, dass dem Prozessmanagement<br />
eine grössere Bedeutung zugemessen wird: „Der Schlüssel zum Erfolg für<br />
Veränderungen ist daher ein kontinuierliches Prozessmanagement.“ (Protokoll 22-27, Absatz 49)<br />
Helvetia Patria hat diese Erfahrung gleich in die Tat umgesetzt und im Jahr 2002 ein grosses<br />
EFQM-Projekt gestartet.<br />
262
INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Längerfristige Wirkung auf die Routinisierungsfähigkeit wird die<br />
Befähigungsoffensive haben, die Helvetia Patria ab dem Jahr<br />
2001 gestartet hat. 383<br />
• Verhandlungsprozess des Organisierens<br />
Dynamo war für Helvetia Patria der Anlass zu einer<br />
Standortbestimmung, sich selbst kennen zu lernen und über sich<br />
selbst Gedanken zu machen. <strong>Die</strong> intensive Analysephase des<br />
Projekts hat einen neuen, kritischen Blick auf sich selbst<br />
ermöglicht und hat kollektive kognitive Prozesse über die<br />
Selbstwahrnehmung angestossen. 384<br />
Auch die politischen Prozesse sind <strong>von</strong> Dynamo nicht unberührt<br />
geblieben. <strong>Die</strong> Führungsintensität hat zugenommen, das heisst,<br />
die Entscheidungsprozesse sind expliziter und härter geworden.<br />
Dadurch ist in Dynamo Führung spürbar geworden. 385<br />
Am schwierigsten abzuschätzen ist die Wirkung <strong>von</strong> Dynamo auf<br />
die sozialen Praktiken. Haben sich bereits neue soziale Praktiken<br />
herausgebildet? Soziale Praktiken, die weniger pragmatisch<br />
und ad-hoc, dafür eher ziel- und prozessorientiert und<br />
selbstverpflichtend sind? <strong>Die</strong> Frage muss offen bleiben, bzw.<br />
wird im folgenden Kapitel 8.4 zu beantworten versucht.<br />
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es Dynamo gelungen ist,<br />
das Paradox Segmentierung zu sprengen und damit den inneren Spannungszustand<br />
der <strong>Organisation</strong> aufzulösen. Das <strong>Handlungssystem</strong> braucht nun<br />
keine Umsetzungsschwäche mehr, um sich selbst zu schützen. <strong>Die</strong> bisherigen<br />
383<br />
Auf die Frage, was die wichtigsten Massnahmen sind, die HPV für eine erfolgreiche Zukunft<br />
initiieren muss, lautete die Antwort: „Ausbildung, Ausbildung, Ausbildung.“ (Protokoll 13-02,<br />
Absatz 66.<br />
384<br />
Ein besonders einschneidendes Erlebnis war offenbar die Erkenntnis, wie ungenügend die<br />
Führungszahlen der Firma waren: „Wir sind erschrocken, über welch schlechtes Datenmaterial<br />
wir verfügen. ... Wenn zwei Zahlen übereingestimmt haben, sind wir erschrocken, das ist gar<br />
nicht möglich.“ (Protokoll 13-16, Absatz 28)<br />
385<br />
Vgl. dazu die folgende Einschätzung eines Interviewpartners, wie sich die Führungskultur<br />
verändert hat: „<strong>Eine</strong>rseits durch Entschlossenheit, auf der anderen Seite <strong>von</strong> mir aus gesehen mit<br />
einer - das meine ich positiv - pragmatischen, auch sehr harten Haltung. Hart nicht im Sinne <strong>von</strong><br />
brutal, sondern <strong>von</strong> konsequent. Er [der CEO] ist auch immer da vorne gestanden ... er hat klar<br />
Position bezogen. Es hat eigentlich nie Zweifel gegeben.“ (Protokoll 13-14, Absatz 28)<br />
263
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
Stabilisierungsprozesse und Schutzroutinen des Systems sind überflüssig<br />
geworden.<br />
Im <strong>Handlungssystem</strong> haben sich völlig neue Kräfte- und Abhängigkeitsverhältnisse<br />
gebildet und das wird zwangsläufig einen neuen Stabilisierungszyklus<br />
auslösen. Wie dieser selbstlenkende und -stabilisierende Prozess<br />
aussieht und durch welche Dialectic of Control er getrieben wird, kann hier<br />
nicht beantwortet werden. 386 Das Kapitel 8.4 versucht jedoch aufzuzeigen,<br />
welche Faktoren massgeblich bestimmen werden, welche Richtung das<br />
<strong>Handlungssystem</strong> nehmen wird.<br />
8.4 Zukünftige Entwicklung<br />
des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria hat in den vergangenen Jahren<br />
zweifelsfrei einen enormen Entwicklungs- und Reifeprozess durchgemacht.<br />
Auch in der <strong>Organisation</strong> selbst hat man wahrgenommen, dass sich Helvetia<br />
Patria vorwärts entwickelt hat: „Da hat die Firma meines Erachtens einen<br />
Riesensprung gemacht. Und zwar in dem Sinne, die guten Dinge, die es<br />
braucht <strong>von</strong> den hard facts her übernommen, und auf der anderen Seite nie<br />
vergessen, wo man herkommt und was eigentlich auch noch wichtig ist.“ 387<br />
Wie sich das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria nun nach dem Projekt<br />
Dynamo stabilisieren wird, lässt sich nicht vorhersagen. Entscheidenden<br />
Einfluss darauf, welche neue Dialectic of Control sich im <strong>Handlungssystem</strong><br />
herausbilden wird, werden aber mit Sicherheit die folgenden Faktoren<br />
ausüben:<br />
• neue Verankerung der strategischen Vision<br />
<strong>Die</strong> strategische Vision <strong>von</strong> Tempo hatte ausdrücklich auch noch<br />
unter Dynamo Gültigkeit (vgl. Kapitel 8.3.1.1). Es besteht jedoch<br />
die Gefahr, dass die Abkehr <strong>von</strong> der Tempo-Struktur implizit <strong>als</strong><br />
Bestätigung des traditionellen Versicherungsdenkens gewirkt<br />
386 Das ist aus zwei Gründen nicht möglich. Erstens reichen dafür die empirischen Daten des<br />
Forschungsprojekts nicht aus. Zweitens erschliesst sich eine Dialectic of Control immer nur durch<br />
eine ex-post Betrachtung. Ex-ante ist die Kontingenz des <strong>Handlungssystem</strong>s zu gross, <strong>als</strong> dass<br />
sich eine ganz bestimmte Dialectic of Control eineindeutig herauslesen lassen könnte.<br />
387 Protokoll 13-14, Absatz 27.<br />
264
ZUKÜNFTIGE ENTWICKLUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
haben könnte (vgl. auch nächster Punkt). Es wird daher entscheidend<br />
sein, die strategische Ausrichtung <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
möglichst rasch in der neuen Dynamo-Struktur spürbar und<br />
erlebbar zu machen. Doch dazu muss zuerst die Strategie <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria auf die neue <strong>Organisation</strong>sstruktur runtergebrochen<br />
werden. Sonst klafft eine Lücke zwischen Strategie<br />
und Struktur: „Für mich ist das das grosse Fragezeichen: Ist das<br />
[die bestehende Strategie 99-04] noch richtig mit dem, was wir<br />
hier haben [die neue Dynamo-Struktur]? Also zum Beispiel: <strong>Eine</strong><br />
Nichtleben-Strategie hat es gar nicht gegeben in diesem Sinn.<br />
Sondern es gab eine Nichtleben-U, Nichtleben-P, eine<br />
Nichtleben-G. ... Man hat gesagt, wir hatten überall Nichtleben<br />
drinnen, das brauchen wir jetzt im Prinzip nur aufzuaddieren, und<br />
dann haben wir wieder eine Gesamtstrategie. Für mich ist die<br />
Frage, ist das richtig?“ 388 Den <strong>Organisation</strong>smitgliedern muss<br />
vermittelt werden, wie der bestehenden Strategie auch im<br />
Rahmen der neuen Struktur nachgelebt werden kann. Gelingt<br />
dies nicht, wird der positive Impuls, den Dynamo in der<br />
Strukturdimension Signifikation ausgelöst hat, nicht nachhaltig<br />
wirken können. 389<br />
• Koordination Vertriebsmanagement und Marktbereiche<br />
<strong>Die</strong> neue Dynamo-Struktur hat völlig neue <strong>Organisation</strong>sbereiche<br />
geschaffen. <strong>Die</strong>se <strong>Organisation</strong>sbereiche liegen näher am<br />
traditionellen Versicherungsdenken und sind daher <strong>von</strong> den<br />
<strong>Organisation</strong>smitgliedern mehrheitlich begrüsst worden: „Und<br />
wegen dem bin ich eigentlich schon erleichtert, dass man dort<br />
das Rad wieder etwas zurückgedreht hat. Ich möchte ... sagen,<br />
es ist zurück zur Vernunft.“ 390 Doch auch die neue<br />
<strong>Organisation</strong>sstruktur hat ihre Tücken:<br />
Erstens besteht nun ein erhöhter Koordinationsbedarf zwischen<br />
den Marktbereichen („Fabrik“) und dem Vertriebsmanagement<br />
388<br />
Protokoll 13.03, Absatz 27.<br />
389<br />
Helvetia Patria hat diese Lücke zwischen Strategie und Struktur bereits geschlossen. Seit dem<br />
Herbst 2003 liegt die neu ausgearbeitete Strategie 04-06 vor.<br />
390<br />
Protokoll 13-09, Absatz 28.<br />
265
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
(Aussendienst). „Von mir aus gesehen gibt es nach Dynamo eine<br />
Trennung ... <strong>von</strong> Fabrik und Vertrieb. ... Man hat während Tempo<br />
diese Gräben zwischen den Segmenten heftig kritisiert, ... und<br />
jetzt sind wir wieder in einer Situation, in der Gräben entstehen.<br />
... Jetzt kommt der Fabrik-Mensch nicht unbedingt mehr viel in<br />
Kontakt mit dem Vertrieb.“ 391 <strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong> hat bereits<br />
erkannt, dass es die Herausforderung der kommenden Monate<br />
und Jahre sein wird, diese Schnittstelle zwischen Fabrik und<br />
Vertrieb reibungslos zu schliessen. „Hier liegen Synergieeffekte<br />
brach.“ 392 „Wenn uns das nicht gelingt, die drei Marktbereiche<br />
sauber zu koordinieren ... [punkto] ... Aussendienst, ... dann steht<br />
in ein paar Jahren das nächste Restrukturierungsprojekt an.“ 393<br />
Zweitens bedeutet die Dynamo-Struktur auch eine organisatorische<br />
Trennung zwischen Leben und Nichtleben. Das mag ein<br />
operativer Vorteil sein in der Koordination des Tagesgeschäfts.<br />
„Heute gibt es nicht mehr so viele Gemeinsamkeiten, darum ist<br />
nicht mehr soviel Absprache notwendig.“ 394 Aber kulturell und<br />
strategisch könnte das auf längere Sicht ein Nachteil sein für die<br />
Position <strong>von</strong> Helvetia Patria <strong>als</strong> Gesamtdienstleister in der<br />
Versicherungsbranche. „Also <strong>von</strong> dem her, <strong>von</strong> der Kultur, <strong>von</strong><br />
der Zusammenarbeit Helvetia Patria, um diese Kooperation zu<br />
leben, ist es für mich wieder sehr, sehr nachteilig.“ 395 Auch hier<br />
wird es entscheidend sein, neue Integrationsmechanismen zu<br />
finden, die ein Auseinanderdriften <strong>von</strong> Leben und Nichtleben<br />
verhindern, da sonst auf die Länge die strategische Vision <strong>von</strong><br />
Helvetia Patria gefährdet ist.<br />
• neuer Führungs- und Handlungsrahmen<br />
Dynamo hatte drei Ziele: Kosten senken, Wachstum ankurbeln<br />
und einen neuen Führungs- und Handlungsrahmen schaffen.<br />
Von diesen drei Zielen ist nur das erste Ziel, die<br />
391 Protokoll 13-19, Absatz 27.<br />
392 Protokoll 32-05, Absatz 29.<br />
393 Protokoll 13-13, Absatz 30.<br />
394 Protokoll 13-18, Absatz 28.<br />
395 Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />
266
ZUKÜNFTIGE ENTWICKLUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />
Kosteneinsparung, wirklich erreicht worden. <strong>Die</strong> Wachstumsinitiativen<br />
haben bis fast ein Jahr nach Ende <strong>von</strong> Dynamo keine<br />
sichtbaren Erfolge hervorbringen können. „Dynamo hatte zwei<br />
Ziele: Kosten sparen und Marktchancen erhöhen. Kosten haben<br />
wir eingespart. Wo wir das Gefühl haben, dass wir es nicht<br />
erreicht haben, sind die gesteigerten Marktchancen. Also wir<br />
sehen nicht, dass Dynamo eine Wirkung am Markt zeigt. Obwohl<br />
Dynamo jetzt schon fast ein Jahr abgeschlossen ist, sehen wir<br />
die Wirkung nicht.“ 396 Und wie das vorangehende Zitat zeigt, ist<br />
das dritte Dynamoziel, der neue Führungs- und Handlungsrahmen,<br />
überhaupt nicht ins Bewusstsein der <strong>Organisation</strong><br />
vorgedrungen. 397<br />
Für die Frage, welche neue Stabilisierungsroutine das<br />
<strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria herausbilden wird, ist es<br />
jedoch entscheidend, dass sich die durch Dynamo initiierten<br />
Veränderungen im Verhandlungsprozess des Organisierens<br />
dauerhaft verankern und formalisieren können. Es braucht einen<br />
neuen Führungs- und Handlungsrahmen, um das <strong>Handlungssystem</strong><br />
<strong>von</strong> Helvetia Patria nachhaltig verändern zu können.<br />
Doch hat das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria während<br />
Dynamo genügend dazu gelernt, um sich nun im Alltag und ohne<br />
den Support eines externen Beraters weiter in die eingeschlagene<br />
Richtung entwickeln zu können?<br />
Abschliessend kann gesagt werden, dass bei Helvetia Patria das Bewusststein<br />
da zu sein scheint, dass die positive Entwicklung, die die Firma durch Dynamo<br />
genommen hat, auch in Zukunft noch gepflegt und unterstützt sein muss. Im<br />
Anschluss an das Projekt Dynamo hat die Führungsspitze <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
eine Roadmap mit elf Bausteinen zusammengestellt, 398 mit denen sie<br />
strategisch wichtige Themenfelder bearbeitet und im Auge behält. 399<br />
396<br />
Protokoll 13-03, Absatz 28.<br />
397<br />
Das könnte etwas damit zu tun haben, dass das Ziel „neuer Führungs- und Handlungsrahmen“<br />
erst im Laufe des Projekts <strong>als</strong> drittes Ziel <strong>von</strong> Dynamo aufgenommen worden ist. Zum Projektstart<br />
standen nur die zwei Ziele Kosten und Wachstum auf der Agenda (vgl. Kapitel 7.2.3.3).<br />
398<br />
Vgl. Folien zum Erfahrungsbericht Projekt Dynamo.<br />
399 Dazu gehört z.B. eine umfassende Ausbildungs- und Befähigungsinitiative, ein EFQM-Projekt<br />
sowie ein Marktbearbeitungskonzept bis auf die Ebene Generalagenturen.<br />
267
DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />
<strong>Die</strong> Weichen in eine erfolgreiche Zukunft scheinen <strong>als</strong>o bei Helvetia Patria<br />
richtig gestellt.<br />
268
TEIL IV: SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR<br />
THEORIE UND PRAXIS<br />
Erwarten Sie <strong>von</strong> mir bitte keine Vorschriften,<br />
wie etwas zu machen sei.<br />
Das Beste, was ich für Sie tun kann,<br />
ist Ihnen dichte Beschreibungen der Welt anzubieten,<br />
sowie neue Möglichkeiten, sie zu sehen.<br />
269<br />
Henry Mintzberg<br />
In diesem letzten Teil der Dissertation werden die Überlegungen wieder<br />
zurück an ihren Ausgangspunkt geführt (vgl. Einleitung), nämlich zur Frage,<br />
was denn nun die Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en ausmacht. Es ist<br />
gleichzeitig der Versuch, die theoretische Komplexität, die in Teil II mit der<br />
Entwicklung des Konzepts <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einem <strong>Handlungssystem</strong><br />
bewusst aufgespannt worden ist, wieder zu reduzieren. <strong>Die</strong> theoretische<br />
Komplexität war wichtig, um dem Phänomen <strong>Organisation</strong> gerecht zu werden.<br />
Doch wenn die Theorie nicht nur Verständnis für das Phänomen <strong>Organisation</strong>,<br />
sondern darüber hinaus auch einen heuristischen Handlungsleitfaden für die<br />
Praxis liefern soll, dann muss es gelingen, komplexe Theorien in Alltagshandeln<br />
zu übersetzen. Sonst zielt Theorie letztlich an einer ihrer wichtigsten<br />
Bestimmungen vorbei: eine Theorie der Praxis zu sein.<br />
In Kapitel 9.1 werden zunächst Gedanken zur theoretischen Bedeutung des<br />
Modells für das Thema Erneuerungsfähigkeit angestellt, um in Kapitel 9.2<br />
schliesslich Empfehlungen für die Praxis zu formulieren, wie nach dem Modell<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> die Erneuerungsfähigkeit einer <strong>Organisation</strong><br />
am besten ermöglicht werden kann.<br />
Doch obwohl das Konzept <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> dabei hilft,<br />
ein Licht auf die Frage der Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en zu<br />
werfen, darf man sich da<strong>von</strong> kein Erfolgsrezept versprechen. Es kann auch mit<br />
dem Konzept <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> - oder vielleicht gerade<br />
deswegen - keine einfache Antworten geben. Das Konzept <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
<strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> entwirft nur ein „unordentliches Bild“ <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
(vgl. Kapitel 5.3), das keine objektiv-ursächlichen <strong>Erklärung</strong>en anbietet.
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM: SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />
Dennoch soll hier nun der Versuch gemacht werden, Schlussfolgerungen für<br />
Theorie und Praxis zu ziehen. Aus theoretischer Sicht liegt die Beantwortung<br />
der Frage nach der Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en letztlich in den<br />
Bezugsfähigkeiten des <strong>Handlungssystem</strong>s (vgl. Kapitel 9.1). <strong>Die</strong> Praxis steht<br />
demnach <strong>als</strong>o vor der Herausforderung, die Bezugsfähigkeiten des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s zu aktivieren und zu fördern. <strong>Eine</strong> Lösung dafür liegt darin,<br />
ein fliessendes Gleichgewicht zwischen machtvollen Strukturen und<br />
politischen Prozessen herbeizuführen (vgl. Kapitel 9.2).<br />
270
9 ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM:<br />
SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />
271<br />
THEORETISCHE BEDEUTUNG<br />
9.1 Theoretische Bedeutung<br />
Das Modell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> ist ein möglicher<br />
<strong>Erklärung</strong>sansatz <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Natürlich gibt es auch andere Modelle, die<br />
einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> genügen würden, so z.B. die Montage-<br />
Metapher <strong>von</strong> Weick (1995, S. 193ff). Der Vorteil des Modells <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> liegt darin, dass das <strong>Handlungssystem</strong> das<br />
Zusammenspiel <strong>von</strong> Zwang und Freiheit des Organisierens besser zum<br />
Ausdruck bringt und damit ein neues Licht auf die Frage der Erneuerung und<br />
Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en wirft.<br />
<strong>Die</strong> Erneuerung und die Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en lassen sich<br />
aus Sicht des Konzepts <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> beide auf den<br />
gleichen Ausgangspunkt zurückführen, nämlich die Dialectic of Control des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s. Erneuerung heisst in diesem Zusammenhang nichts<br />
anderes, <strong>als</strong> die Stabilisierungsroutinen des <strong>Handlungssystem</strong>s zu verändern.<br />
Erneuerungsfähigkeit meint nichts anderes <strong>als</strong> die Fähigkeit, diese<br />
stabilisierenden Routinen zu erkennen und verändern zu können.<br />
Da <strong>Organisation</strong> sich rekursiv aus sich selbst (re-)produziert (vgl. Abbildung<br />
31), kann Wandel in <strong>Organisation</strong>en auch nur aus der <strong>Organisation</strong> selbst<br />
bzw. mit den eigenen Mitteln der <strong>Organisation</strong> hervorgebracht werden.<br />
Erneuerung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>(en) kann <strong>als</strong>o zwingend nur über die Veränderung<br />
<strong>von</strong> Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und Verhandlungsprozess<br />
des Organisierens erfolgen. Und das einzige, was man dafür einsetzen kann,<br />
sind wiederum nur Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und der<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens.<br />
Vor diesem Hintergrund verliert das Change Management seine zentrale<br />
Stellung, wenn es um die Frage der Veränderung und Erneuerung <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong>en geht. 400 Ein professionelles Change Management mit einer gut<br />
orchestrierten Interventionsstrategie und -dramaturgie ist unbestritten eine<br />
400<br />
Vgl. dazu die Überlegungen zu den empirischen Fundstücken punkto Change Management in<br />
Kapitel 8.3.1.3.
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM: SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />
notwendige Voraussetzung für einen erfolgreichen Wandelprozess. 401 Aber<br />
der Umkehrschluss gilt nicht zwangsläufig: Gutes Change Management alleine<br />
ist noch kein hinreichender Garant für einen gelungenen Wandelprozess. 402<br />
Aus Sicht des <strong>Handlungssystem</strong>s müssen die Veränderungsinitiativen darüber<br />
hinaus eine doppelte Anforderung erfüllen: Sie müssen einerseits anschlussfähig<br />
sein an die aktuellen Stabilisierungsroutinen, damit sie vom <strong>Handlungssystem</strong><br />
überhaupt wahrgenommen und integriert werden. Andererseits<br />
müssen sie die aktuellen Stabilisierungsroutinen aber auch dazu nutzen<br />
können, um Veränderungsimpulse zu setzen und verstärken - sonst bleiben<br />
die Veränderungsinitiativen längerfristig wirkungslos.<br />
So gesehen gibt es keine einfache Antwort auf die Frage nach dem Wie der<br />
Erneuerung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en, wohl aber „idealtypische Herausforderungen“,<br />
wie Rüegg-Stürm (2000) sie herausgearbeitet hat. Seine Empfehlung,<br />
für die Rekonstruktion, die Legitimation, die Ermöglichung und die kritische<br />
Masse des angestrebten Wandels zu sorgen, kann <strong>als</strong> Aufforderung und<br />
heuristische Anleitung zur Umgestaltung der Elemente des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
interpretiert werden.<br />
Ebenso schwierig ist die Frage nach der Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en<br />
zu beantworten. <strong>Organisation</strong> braucht stabilisierende Kreisläufe, weil<br />
<strong>Organisation</strong> ja nicht ist, sondern immer wieder kontinuierlich wird.<br />
Erneuerungsfähige <strong>Organisation</strong>en sind daher nicht zwingend <strong>Organisation</strong>en<br />
mit weniger Steuerungs- und Kontrollmechanismen (vgl. Kapitel 4.1.1,<br />
Abschnitt a), sondern <strong>Organisation</strong>en, die diese Steuerungs- und Kontrollmechanismen<br />
widerspruchs- und änderungsfähig auszugestalten vermögen.<br />
Erneuerungsfähigkeit muss daher das Vermögen sein, eine bestehende<br />
Dialectic of Control kontinuierlich hinterfragen und verändern zu können, ohne<br />
dabei jedoch eine destabilisierende Wirkung zu haben. Mit anderen Worten ist<br />
eine erneuerungsfähige <strong>Organisation</strong> ein <strong>Handlungssystem</strong>, das sowohl lose<br />
401<br />
Vgl. dazu stellvertretend für die vielfältige Literatur zum Thema Change Management:<br />
Doppler/Lauterburg 1994; Doppler/Fuhrmann/et al. 2002; Harvard College 1991; Beer/Nohria<br />
2000; Lawler/Galbraith 1994; Levy 1986.<br />
402<br />
<strong>Die</strong>ser Meinung sind auch Dachler und Rüegg-Stürm (2000). <strong>Die</strong> Anforderungen an ein<br />
erfolgreiches Change Management umfassen eben weit mehr, <strong>als</strong> nur die Ausarbeitung einer<br />
ausgeklügelten Interventionsstrategie - das Change Management muss zur <strong>Organisation</strong> passen<br />
(vgl. dazu z.B. Barczak/Smith/et al. 1987; Lant/Mezias 1992; Blackler 1992/93; Kilduff/Dougherty<br />
2000).<br />
272
273<br />
THEORETISCHE BEDEUTUNG<br />
wie fest gekoppelt ist (vgl. Weick 1976, 1982, 1989a sowie Orton/Weick 1990<br />
und Ingersoll 1993).<br />
Doch alles was man hat, um die Dialectic of Control eines <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
zu hinterfragen und zu verändern, sind wie gesagt die Elemente eben dieses<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s: Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und Verhandlungsprozess<br />
des Organisierens. Besonders wichtig für die Erneuerungsfähigkeit<br />
sind dabei die Bezugsfähigkeiten, denn sie sind diejenigen kollektiven<br />
Handlungskompetenzen, über die das <strong>Handlungssystem</strong> gestaltet und gelenkt<br />
werden können. Sie sind die Fähigkeiten, mit denen der organisationale<br />
Möglichkeitsraum, der durch die Strukturmodalitäten aufgespannt wird, umgestaltet<br />
und erweitert werden kann.<br />
Erneuerungsfähigkeit kann somit <strong>als</strong> eine Kombination der drei Bezugsfähigkeiten<br />
verstanden werden. Sie setzt die Fähigkeit voraus, alternative organisationale<br />
Szenarien aufbauen ((Re-)Konstruktionsfähigkeit), neue Wirklichkeiten<br />
legitimieren (Rationalisierungsfähigkeit) und in eine unabhängige, dingliche<br />
Erscheinungsform packen (Routinisierungsfähigkeit) zu können.<br />
Leider sind es gerade die Bezugsfähigkeiten, die im Modell des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
theoretisch noch am wenigsten untersucht und erhellt worden sind.<br />
Wohl können zum besseren Verständnis <strong>von</strong> Bezugsfähigkeiten Vergleiche<br />
mit dem Konzept der Dynamic Capabilities angestellt werden (vgl. Fussnote<br />
134), aber Bezugsfähigkeiten sollten unbedingt im Rahmen des Konzepts <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong>s erforscht und theoretisiert werden, damit<br />
die Wechselwirkung zwischen Struktur und Handlung, zwischen Zwang und<br />
Freiheit, nicht aus der Betrachtung verloren geht. <strong>Die</strong>se Aspekte sind in der<br />
bisherigen Literatur zum Thema Capabilities nicht berücksichtigt worden.<br />
Hier tut sich ein Feld für die weitere theoretische Ausarbeitung des Konzepts<br />
<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> auf. Wie ist es möglich, den Begriff der<br />
Bezugsfähigkeiten theoretisch differenzierter auszuarbeiten und empirisch zu<br />
fundieren? <strong>Eine</strong> solche Ausarbeitung würde das Modell des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />
enorm anreichern und in der Praxis besser handhabbar machen.<br />
Das Modell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> hat natürlich auch<br />
Grenzen. <strong>Eine</strong> wichtige Beschränkung liegt gerade in der weiteren Ausdifferenzierung<br />
bzw. Abgrenzung der zentralen Begriffe. Je genauer versucht<br />
wird, die einzelnen Begriffe inhaltlich zu fassen (vgl. Glossar im Anhang A),<br />
desto stärker verschwimmen sie. Das dürfte auf die Dualität zurückzuführen<br />
sein, die dem Modell zugrunde liegt, und die letztlich besagt, dass die Begriffe
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM: SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />
jeweils nur mit gegenseitigem Bezug aufeinander erklärt werden können. Das<br />
lässt keine trennscharfe Unterscheidung der Begriffe zu - im Gegenteil: Jedes<br />
Bemühen um begriffliche Klarheit muss zwingend gerade zum Gegenteil<br />
führen, weil jeder Begriff im Endeffekt auf einen anderen verweist. Am<br />
deutlichsten kommt das wohl bei den beiden fundamentalen Begriffen <strong>von</strong><br />
Macht und Politik zum Vorschein. Macht und Politik <strong>als</strong> fundamentaler Aspekt<br />
jeden sozialen Handelns durchdringen das <strong>Handlungssystem</strong> derart gründlich,<br />
dass letztlich eine genaue Unterscheidung zwischen Macht und Politik einerseits<br />
und den Elementen des <strong>Handlungssystem</strong>s andererseits fast nicht mehr<br />
möglich ist. Es ist denkbar, dass deshalb eine weitere Ausarbeitung des<br />
Modells <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> nur empirisch machbar ist.<br />
<strong>Eine</strong> weitere Grenze hat das Modell vom <strong>Handlungssystem</strong> bei der <strong>Erklärung</strong><br />
der Entstehung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Das Modell ist besser dazu geeignet, das<br />
Bestehen <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, das heisst die kontinuierliche Stabilisierung und<br />
Reproduktion <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> zu erklären. Der Moment des Entstehens <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong>, das heisst der Anfang <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, lässt sich damit nicht<br />
erfassen. <strong>Die</strong> Frage, warum <strong>Organisation</strong> gerade jenen Anfang genommen<br />
hat, den sie genommen hat, kann mit dem Modell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong><br />
<strong>Handlungssystem</strong> nicht schlüssig beantwortet werden. Der Anfang kann<br />
jeweils nur beschrieben, aber nicht erklärt werden und bleibt im Dunkeln.<br />
9.2 Praktische Implikationen<br />
Welche praktische Bedeutung hat nun das Konzept <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong><br />
<strong>Handlungssystem</strong> für das Thema Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en?<br />
Erneuerungsfähig zu sein heisst für eine <strong>Organisation</strong>, eine widerspruchs- und<br />
änderungsfähige Dialectic of Control zu haben.<br />
<strong>Die</strong> Dialectic of Control eines <strong>Handlungssystem</strong>s, das heisst die aktuellen<br />
Stabilisierungsroutinen, entscheiden letztlich darüber, wie <strong>Organisation</strong> aus<br />
dem denkbaren Möglichkeitsraum zwischen Struktur und Handlung routinisiert<br />
aktualisiert wird. Jegliche Intervention in diese Stabilisierungsroutinen muss<br />
daher zuerst einmal anschlussfähig an diese Stabilisierungsroutinen sein, weil<br />
sie sonst keine Wirkung in der <strong>Organisation</strong> entfalten kann.<br />
Im Falle <strong>von</strong> Erneuerungsinitiativen ist das eine paradoxe Herausforderung:<br />
Wie kann das Neue anschlussfähig sein an das Alte, wenn das Neue ja<br />
gerade anders sein soll <strong>als</strong> das Alte? Das geht nur durch eine schrittweise<br />
274
275<br />
PRAKTISCHE IMPLIKATIONEN<br />
Annäherung <strong>von</strong> <strong>Handlungssystem</strong> und Wandel. <strong>Die</strong>se schrittweise<br />
Annäherung vollzieht sich im Verhandlungsprozess des Organisierens, dort<br />
wo Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten in kognitiven und politischen<br />
Prozessen kontinuierlich zu sozialen Praktiken verwoben werden. <strong>Die</strong>ser<br />
Prozess muss widerspruchs- und änderungsfähig ausgestaltet sein, so dass<br />
jederzeit die herrschende Dialectic of Control diskutiert und wenn nötig<br />
angepasst werden kann. 403 Er muss aber auch robust und routinisert ablaufen,<br />
um dem organisationalen Alltag eine gewisse Sicherheit und Berechenbarkeit<br />
zu verleihen.<br />
Hybride <strong>Organisation</strong>sformen, in denen Netzwerke mit traditionell hierarchischbürokratischen<br />
<strong>Organisation</strong>selementen kombiniert werden (vgl. Rüegg-<br />
Stürm/Young 2001), scheinen in der Praxis bereits eine Lösung für diese<br />
paradoxe Anforderung gefunden zu haben, wie <strong>Organisation</strong>en gleichzeitig<br />
widerspruchs- und änderungsfähig und stabil sein können, indem sie sich auf<br />
ein fliessendes Gleichgewicht zwischen machtvollen Strukturen und<br />
politischen Prozessen eingependelt haben (vgl. Abbildung 75).<br />
<strong>Die</strong> Netzwerke (lose, intraorganisationale Kommunikations- und Interaktionsgeflechte)<br />
sind die Träger der politischen Prozesse, die für die kontinuierliche<br />
Hinterfragung und Änderung der geltenden Ordnung sorgen. Gleichzeitig<br />
sichern machtvolle Strukturen (hierarchisch-bürokratische <strong>Organisation</strong>selemente<br />
wie z.B. Organigramm, Ziele, Aufgaben-, Funktions- und<br />
Prozessbeschreibungen, aber auch immaterielle Strukturen wie Werte und<br />
Normen) den fortlaufenden Bestand <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Das Wechselspiel<br />
zwischen politischen Prozessen und machtvollen Strukturen geschieht im<br />
Rahmen des Verhandlungsprozesses des Organisierens und wird vermittelt<br />
durch die Bezugsfähigkeiten des <strong>Handlungssystem</strong>s, <strong>als</strong>o denjenigen<br />
kollektiven Fähigkeiten, die organisationale Akteure entwickeln, um ihre<br />
Handlungsfreiheit im Einklang mit dem Zwang der Strukturen einzusetzen und<br />
auszuschöpfen.<br />
403 Es versteht sich, dass nicht direkt in die Dialectic of Control eingegriffen werden kann. <strong>Die</strong><br />
Dialectic of Control ist das Ergebnis einer bestimmten Konstellation des <strong>Handlungssystem</strong>s, einer<br />
bestimmten Verknüpfung <strong>von</strong> Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und dem Verhandlungsprozess<br />
des Organisierens. Wer die Dialectic of Control eines <strong>Handlungssystem</strong>s verändern will,<br />
der muss seine Massnahmen auf diese drei Elemente richten.
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM: SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />
276<br />
Netzwerke<br />
<strong>als</strong> organisationale Verkörperung<br />
der politischen Prozesse<br />
Bezugsfähigkeiten<br />
<strong>als</strong> kollektive Handlungskompetenz<br />
zur Gestaltung und Lenkung des<br />
Zusammenspiels zwischen<br />
Netzwerken und Hierarchie<br />
Hierarchie<br />
<strong>als</strong> organisationale Verkörperung<br />
machtvoller Strukturen<br />
Abbildung 75: Erneuerungsfähigkeit <strong>als</strong> Gleichgewicht zwischen<br />
politischen Prozessen und machtvollen Strukturen 404<br />
Was heisst das nun für die heutigen <strong>Organisation</strong>en? Zum einen muss der<br />
Alltag bestehender bürokratischer <strong>Organisation</strong>en um politische Prozesse<br />
ergänzt werden, denn die <strong>Organisation</strong>en stützen sich noch zu einseitig nur<br />
auf die ordnende Kraft machtvoller (formeller <strong>Organisation</strong>s-)Strukturen ab.<br />
<strong>Organisation</strong>en müssen politisiert werden! Nur politische <strong>Organisation</strong>en sind<br />
erneuerungsfähige <strong>Organisation</strong>en, denn in ihnen findet der kontinuierliche<br />
Diskurs über die Sinnhaftigkeit und Legitimation der herrschenden organisationalen<br />
Wirklichkeit statt. Letztlich geht es <strong>als</strong>o um die (kontrollierte)<br />
Einführung <strong>von</strong> Widerspruch und Konflikt in die <strong>Organisation</strong>. Zum anderen<br />
müssen die kollektiven Bezugsfähigkeiten der <strong>Organisation</strong> gestärkt werden,<br />
das heisst die Fähigkeit, kollektives Handeln im Rahmen der organisationalen<br />
Zwänge anschlussfähig zu gestalten und lenken.<br />
404 <strong>Die</strong> Grafik ist angelehnt an Rüegg-Stürm/Young 2001. Anders <strong>als</strong> bei Rüegg-Stürm und Young<br />
wird hier jedoch nicht <strong>von</strong> einem Vorrang des Netzwerks vor den formellen <strong>Organisation</strong>sstrukturen<br />
ausgegangen, sondern <strong>von</strong> einem gleichzeitigen Nebeneinander.
277<br />
PRAKTISCHE IMPLIKATIONEN<br />
Wie kann das geschehen? Folgende Massnahmen helfen in der Praxis dazu,<br />
politischen Prozessen innerhalb der <strong>Organisation</strong> Raum zu schaffen und die<br />
kollektiven Bezugsfähigkeiten zu fördern:<br />
• Erfahrungs- und Meinungsaustausch fördern<br />
Es müssen institutionalisierte Gelegenheiten geschaffen werden,<br />
damit diejenigen Mitarbeitenden der <strong>Organisation</strong>, die über eine<br />
Kette <strong>von</strong> Geschäftsprozessen miteinander verbunden sind, ihre<br />
Erfahrungen und Meinungen vergleichen, auswerten und beurteilen<br />
können. Solche Gelegenheiten können formell (Tagungen,<br />
Workshops) oder informell (Cafeteria, Kaffeepause) sein. Es<br />
geht <strong>als</strong>o um die Schaffung <strong>von</strong> Communities of Practice, 405 das<br />
heisst einer Gemeinschaft derer, die ihren gemeinsamen<br />
organisationalen Erfahrungshintergrund austauschen und<br />
reflektieren. <strong>Die</strong> Communities müssen ihren Freiraum zum<br />
Erfahrungsaustausch selber gestalten und nutzen können.<br />
<strong>Organisation</strong>ale Strukturen dürfen nur in Form <strong>von</strong> Ressourcen<br />
(Zeit, Raum, Finanzen) und allfälliger professioneller Unterstützung<br />
bei der Moderation des Erfahrungsaustauschs bereitgestellt<br />
werden. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass die<br />
Ergebnisse des Erfahrungsaustauschs wieder zurück in die<br />
formellen Strukturen der <strong>Organisation</strong> fliessen (z.B. dadurch,<br />
dass die Communities zwei- bis dreimal im Jahr Gehör an einer<br />
Geschäftsleitungssitzung finden).<br />
• Kommunikation und Information breit abstützen<br />
<strong>Die</strong> formellen Kommunikations- und Informationskanäle müssen<br />
die <strong>Organisation</strong> tief und breit durchdringen, das heisst, dass<br />
Kommunikation und Information nicht nur top-down, sondern<br />
auch bottom-up und seitwärts fliessen müssen. Neue Technologien<br />
(Intranet, Chatrooms, Peer-to-Peer-Lösungen) unterstützen<br />
die feine Verteilung <strong>von</strong> und den freien Zugang zu Kommunikation<br />
und Information. Gleichzeitig muss für die wirkliche<br />
Demokratisierung <strong>von</strong> Kommunikation und Information die<br />
Verantwortung und Handhabung der Informationstechnologien<br />
405 Vgl. dazu: Brown/Duguid 1991; Boland/Tenkasi 1995; Wenger 1998.
ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM: SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />
<strong>von</strong> der Informatikabteilung weg in die Hände der Linienabteilungen<br />
und der Communities gelegt werden. Neueste Entwicklungen<br />
in der Informationstechnologie ermöglichen diese Forderung.<br />
406<br />
• Status quo immer wieder neu legitimieren<br />
Der Status quo der <strong>Organisation</strong>, 407 der durch machtvolle<br />
Strukturen gestützt und geschützt wird, muss einem wiederholten<br />
Legitimationsdruck ausgesetzt werden, um seine Richtigkeit<br />
und Existenzberechtigung stets <strong>von</strong> neuem zu beweisen und<br />
transparent zu machen. Legitimation und Transparenz erhält der<br />
Status quo in der Praxis durch verschiedene Instrumente der<br />
Leistungsmessung und -bewertung auf persönlicher Ebene (z.B.<br />
Qualifikationsgespräche, 360-Grad-Feedback) und sachlicher<br />
Ebene (z.B. strategische Planung, Budgetierung, Controlling,<br />
Reporting).<br />
• Konfliktfähigkeit stärken<br />
Politische Prozesse funktionieren nur reibungslos, wenn die<br />
<strong>Organisation</strong> über eine belastbare Konfliktkultur verfügt. Massnahmen<br />
zur Erhöhung der Konfliktfähigkeit auf individueller<br />
Ebene (z.B. Befähigung zur Gestaltung <strong>von</strong> Kommunikations-<br />
und Konfliktlösungsprozessen, Coaching) und organisationaler<br />
Ebene (z.B. Klagemauer, Supervision) sind daher wichtig.<br />
Das sind vier Massnahmen, mit denen die etablierte Ordnung einer <strong>Organisation</strong><br />
einer kontinuierlichen Reflexion und Bewertung unterzogen wird. Mit ihnen<br />
hat man zwar keine Garantie, dass die <strong>Organisation</strong> jederzeit erneuerungsfähig<br />
ist und bleibt, aber aus Sicht <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> ist<br />
die Förderung politischer Prozesse und die Stärkung der Bezugsfähigkeiten<br />
die einzige Möglichkeit, die Bedingungen der Möglichkeit zu schaffen, dass es<br />
so sein kann.<br />
406<br />
Vgl. z.B. die Peer-to-Peer-Lösung Groove (www.groove.net), die ohne Vermittlung bzw.<br />
Unterstützung einer zentralen Informatik auskommt, oder die Internet-/Intranet-Lösung Windows<br />
SharePoint Services, die Anwendern mit ihren Web Parts vorkonfigurierte, aber flexibel<br />
handhabbare Web-Komponenten zur Verfügung stellt (beides eingetragene Produkte <strong>von</strong><br />
Microsoft, siehe www.microsoft.com).<br />
407<br />
Oder mit anderen Worten: die eingerastete Dialectic of Control bzw. die vorherrschenden<br />
Stabilisierungsroutinen des <strong>Handlungssystem</strong>s.<br />
278
ANHANG<br />
Anhang A: Glossar der theoretischen Begriffe<br />
Bezugsfähigkeiten<br />
(� vgl. auch: <strong>Handlungssystem</strong>; Rationalisierungsfähigkeit; (Re-)<br />
Konstruktionsfähigkeit; Routinisierungsfähigkeit) Bezugsfähigkeiten sind<br />
ein Element der Vermittlung zwischen Struktur und Handlung. Sie sind<br />
kollektive Handlungskompetenzen, die die Akteure entwickeln und<br />
erwerben, um kollektives Handeln anschlussfähig zu gestalten und zu<br />
lenken. Bezugsfähigkeiten sind die innovative und kreative kollektive<br />
Fähigkeit der Akteure, ihre Handlungsfreiheit im Einklang mit dem Zwang<br />
der Strukturen einzusetzen und auszuschöpfen. Kollektives Handeln ist<br />
<strong>als</strong>o stets auch ein Ausdruck der Bezugsfähigkeiten der involvierten<br />
Akteure. Bezugsfähigkeiten können (rein analytisch) unterschieden<br />
werden in eine (Re-)Konstruktionsfähigkeit, eine Rationalisierungsfähigkeit<br />
und eine Routinisierungsfähigkeit. (� vgl. insbesondere Kapitel<br />
4.2.3.1, Abschnitt d) und Kapitel 5.2.3)<br />
Dialectic of Control<br />
(� vgl. auch: <strong>Handlungssystem</strong>) <strong>Die</strong> Dialectic of Control meint die<br />
Dynamik und die Abhängigkeiten, die sich zwischen den Elementen eines<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s entwickelt. Sie untersteht keiner universellen<br />
Steuerungslogik. Sie ist historisch-situativ und einzigartig und zeigt sich in<br />
jeder <strong>Organisation</strong> neu und anders. Ihre Mechanismen können nur durch<br />
empirische Beobachtung und Schlussfolgerung erschlossen werden. <strong>Die</strong><br />
Dialectic of Control ist letztlich verantwortlich für die Stabilisierung des<br />
<strong>Handlungssystem</strong>s. (� vgl. Kapitel 5)<br />
Dualität, dual<br />
(� vgl. auch: Struktur(en)) Der Begriff der Dualität im engeren Sinn meint<br />
den doppelten Charakter der Konstitutionsbeziehung <strong>von</strong> Struktur und<br />
Handlung nach Giddens. In diesem Sinn ist Struktur zugleich Ergebnis<br />
und Mittel sowie Restriktion und Ermöglichung <strong>von</strong> Handeln. Hier wird der<br />
Begriff dual auch ganz allgemein verwendet für die Bezeichnung einer<br />
279
ANHANG<br />
gegenseitig konstituiv und konstituierend Beziehung. (� vgl.<br />
insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt a)<br />
<strong>Handlungssystem</strong><br />
(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten; Dialectic of Control; Ordnung;<br />
<strong>Organisation</strong>; Strukturmodalitäten; Verhandlungsprozess des Organisierens)<br />
Aus Sicht einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> ist jede<br />
<strong>Organisation</strong> rekursiv konstituiert aus Struktur und Handlung. Der Begriff<br />
des <strong>Handlungssystem</strong>s soll diesen <strong>duale</strong>n Charakter <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />
zum Ausdruck bringen. Dabei verweist Handlung darauf, dass<br />
<strong>Organisation</strong> etwas ist, das <strong>von</strong> strategiefähigen Akteuren geschaffen<br />
worden ist, und System ruft den Umstand in Erinnerung, dass die<br />
Handlungsautonomie der Akteure eingeschränkt ist durch den Zwang<br />
bestehender materialisierter Strukturen. Das <strong>Handlungssystem</strong> vermittelt<br />
<strong>als</strong>o zwischen Struktur und Handlung. Zwang und Freiheit, Macht und<br />
Konsens, Stabilität und Wandel sind in diesem <strong>Handlungssystem</strong> nicht<br />
mehr Gegenbegriffe, sondern wirken gleichzeitig auf die organisationalen<br />
Konstruktions- und Reifikationsprozesse und bedingen und konstituieren<br />
sich gegenseitig. Theoretisch beschrieben werden kann ein<br />
<strong>Handlungssystem</strong> durch seine Elemente (Strukturmodalitäten,<br />
Bezugsfähigkeiten und Verhandlungsprozess des Organisierens) sowie<br />
der Dynamik und Abhängigkeiten (Dialectic of Control), die sich daraus<br />
und dazwischen entwickeln. Durch die Dialectic of Control stabilisiert sich<br />
letztlich das <strong>Handlungssystem</strong> und es emergiert das Phänomen<br />
<strong>Organisation</strong>. (� vgl. insbesondere Kapitel 5)<br />
interpretative Schemata<br />
(� vgl. auch: Signifikation; Strukturdimensionen; Strukturmodalitäten)<br />
Interpretative Schemata gehören zu den Strukturmodalitäten. Sie sind die<br />
virtuelle Manifestation der Strukturdimension Signifikation. Interpretative<br />
Schemata geben der sozialen Wirklichkeit einen sinnhaften Rahmen, das<br />
heisst sie sorgen für die kognitive Ordnung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Sie regeln<br />
und lenken, wie die Wirklichkeit wahrgenommen wird und wie die<br />
herausgehobenen Ereignisse interpretiert, kategorisiert und strukturiert<br />
werden. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b) und Kapitel<br />
5.2.2 sowie Abbildung 28)<br />
280
281<br />
ANHANG<br />
Legitimation<br />
(� vgl. auch: Normen; Strukturdimensionen) In der Strukturdimension<br />
Legitimation fussen alle Struktur(en), die mit der Begründung und<br />
Rechtfertigung des kollektiven Handelns zusammenhängen. Sie stellt<br />
<strong>als</strong>o die normative Ordnung des Handelns bereit, in der alle Regeln<br />
enthalten sind, denen soziale Handlungen und Verhältnisse zu genügen<br />
haben. <strong>Die</strong> Strukturdimension Legitimation manifestiert sich im Handeln<br />
<strong>als</strong> Normen. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b)<br />
Macht<br />
(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten; Politik; Strukturmodalitäten;<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens) Macht ist die kollektive<br />
Fähigkeit, Konsequenzen hervorzubringen. Gemeint ist somit nicht eine<br />
Macht über irgendwen oder irgendwas, sondern die Macht-zu, das heisst<br />
die Macht etwas geschehen oder nicht geschehen zu machen bzw. zu<br />
lassen. Aus relational-konstruktivistischer Sicht spielt damit Macht einer<br />
ursächliche Rolle bei der Herstellung <strong>von</strong> sozialer Wirklichkeit. Macht ist<br />
hierbei die kollektive Fähigkeit, aus dem unstrukturierten Strom des<br />
täglichen Geschehens bestimmte Ereignisse, Entscheide, Regeln etc.<br />
herauszuheben und mit Sinn zu belegen, und so soziale Wirklichkeit<br />
überhaupt erst entstehen zu lassen. Macht ist <strong>als</strong>o eine Definitionsleistung,<br />
die soziale Wirklichkeit durch einen Akt der Wahrnehmung und<br />
Interpretation schafft und definiert. Macht hat demnach eine konstruktive,<br />
ermöglichende Wirkung. Macht ist keine Behinderung, sondern<br />
Grundvoraussetzung <strong>von</strong> Handeln, weil Macht überhaupt erst die<br />
Voraussetzung zu Handeln schafft. Macht entfaltet sich ausschliesslich in<br />
sozialen Prozessen (ist <strong>als</strong>o keine Eigenschaft <strong>von</strong> Personen oder<br />
Dingen) und manifestiert sich virtuell in Bezugsfähigkeiten und Strukturmodalitäten.<br />
(� vgl. insbesondere Kapitel 4.1.2.2 und 4.1.2.3 sowie<br />
Abbildung 12 und Abbildung 13)<br />
Normen<br />
(� vgl. auch: Legitimation; Strukturdimensionen; Strukturmodalitäten)<br />
Normen gehören zu den Strukturmodalitäten. Sie sind die virtuelle<br />
Manifestation der Strukturdimension Legitimation. Normen legen der<br />
sozialen Wirklichkeit eine normative Ordnung auf, indem sie die<br />
Geltungsansprüche der Wirklichkeit abstecken und dem kollektiven<br />
Handeln seine moralische Rechtfertigung und Gültigkeit liefern. Sie legen<br />
damit die Legitimationsbasis für jedes Tun oder Lassen im Rahmen <strong>von</strong>
ANHANG<br />
<strong>Organisation</strong>. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b) und<br />
Kapitel 5.2.2 sowie Abbildung 28)<br />
Ordnung<br />
(� vgl. auch: <strong>Organisation</strong>; Struktur(en); Strukturdimensionen;<br />
Strukturmodalitäten; Verhandlungsprozess des Organisierens) Ordnung<br />
ist das, was einer <strong>Organisation</strong> Stabilität, Kontinuität und Gewissheit<br />
verleiht. Ohne Ordnung keine <strong>Organisation</strong>. Ordnung entsteht durch<br />
Struktur(en). Ordnung ist immer eine Negotiated Order, das heisst ergibt<br />
sich nicht <strong>von</strong> selbst, sondern ist das Ergebnis eines kontinuierlichen<br />
Verhandlungsprozesses. Ordnung ist somit kein Zustand, sondern ein<br />
Tun.<br />
<strong>Organisation</strong><br />
(� vgl. auch: Ordnung) <strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong> (mit Artikel, Einzahl oder<br />
Mehrzahl) steht für das, was einem sofort in den Sinn kommt, wenn man<br />
das Wort liest: ein Unternehmen, eine Verwaltung, ein Verein. Kurz: ein<br />
Gebilde, eine handfeste Tatsache. Etwas, das wahrnehmbar ist <strong>als</strong><br />
eigenständiges Objekt, und <strong>Organisation</strong> genannt wird, weil es eine<br />
<strong>Organisation</strong> hat. <strong>Organisation</strong> (ohne Artikel, stets in Einzahl) steht für<br />
das, was sich hinter der <strong>Organisation</strong> verbirgt. Es ist ein Geschehen, ein<br />
Prozess, und hat keine objektive Existenz ausserhalb dieses<br />
Geschehens. <strong>Organisation</strong> entsteht und besteht nur im kontinuierlichen<br />
Vollzug, <strong>Organisation</strong> wird.<br />
Politik<br />
(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten; Macht; Strukturmodalitäten;<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens) Politik ist die kollektive<br />
Fähigkeit zur laufenden Verständigung und Vergewisserung über die<br />
aktuelle Gültigkeit der kontingenten sozialen Wirklichkeit. Sie ist eine<br />
Verhandlungsleistung, die die unterschiedlichsten Vorstellungen der<br />
sozialen Wirklichkeit aufeinander abstimmt, koordiniert und integriert.<br />
Politik spielt neben Macht die zweite zentrale und regulierende Rolle bei<br />
der Herstellung <strong>von</strong> sozialer Wirklichkeit und bei der Ermöglichung<br />
kollektiven Handelns. Politik entfaltet sich ausschliesslich in sozialen<br />
Prozessen und manifestiert sich virtuell in Bezugsfähigkeiten und<br />
Strukturmodalitäten. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.1.2.1 und 4.1.2.3<br />
sowie Abbildung 11 und Abbildung 13)<br />
282
283<br />
ANHANG<br />
Prozesse<br />
(� vgl. auch: Dualität; Prozesse; soziale Praktiken; Verhandlungsprozess<br />
des Organisierens) Der hier verwendete Prozessbegriff hat keinen<br />
organisatorischen Aspekt (Ablauforganisation, Business Process<br />
Reengineering), sondern einen zeitlichen. Mit dem Begriff Prozess sind<br />
temporalisierte soziale Ereignissequenzen gemeint, das heisst die<br />
historische Abfolge <strong>von</strong> Ereignissen, Kommunikationen und Interaktionen<br />
im kontinuierlichen Alltagsstrom der organisationalen Wirklichkeit.<br />
Rationalisierungsfähigkeit<br />
(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten) <strong>Die</strong> Rationalisierungsfähigkeit ist eine<br />
Ausprägung der Bezugsfähigkeiten. Sie ist eine selektive Fähigkeit, die<br />
auf Restriktion basiert. Rationalisierung ist die Fähigkeit, soziale<br />
Wirklichkeit auszuwählen und einzugrenzen. Sie reduziert die Komplexität<br />
und Optionenvielfalt. Aus dem Bereich dessen, was möglich und denkbar<br />
ist, vermag die Rationalisierungsfähigkeit das hervorzuheben, was<br />
(scheinbar objektiv) machbar und richtig ist. Dadurch schafft sie Klarheit,<br />
Ziele und Identität und sie sichert Gewissheit, Konsens und Kontinuität.<br />
Kollektives Handeln wird der Zufälligkeit entrissen dadurch, dass ihm<br />
Intentionen und Kausalitäten unterstellt werden. Rationalisierungsfähigkeit<br />
ist demnach <strong>als</strong>o das Vermögen, Ursachen zu verursachen.<br />
Kollektives Handeln wird dadurch planbar und kann (muss sogar)<br />
jederzeit argumentativ gerechtfertigt werden. Kollektives Handeln wird<br />
dadurch überhaupt erst anschlussfähig an anderes kollektives Handeln.<br />
(� vgl. insbesondere Kapitel 5.2.3, Abschnitt b) und Abbildung 29)<br />
Reifikation<br />
(� vgl. auch: Ressourcen; Strukturdimensionen) <strong>Die</strong> Strukturdimension<br />
Reifikation umfasst alle Struktur(en), die für die Verdinglichung der<br />
sozialen Wirklichkeit sorgen. Sie stellt damit die faktische Ordnung für<br />
das kollektive Handeln bereit. <strong>Die</strong> Strukturdimension Reifikation<br />
manifestiert sich im Handeln <strong>als</strong> allokative und autoritative Ressourcen.<br />
(� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b)<br />
(Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />
(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten) <strong>Die</strong> (Re-)Konstruktionsfähigkeit ist eine<br />
Ausprägung der Bezugsfähigkeiten. Sie ist eine generative Fähigkeit, das<br />
heisst die Fähigkeit, in der sozialen Wirklichkeit neue bzw. bestehende<br />
Bedeutungen, Zusammenhänge und Perspektiven zu schaffen bzw. zu
ANHANG<br />
bestätigen. Zur (Re-)Konstruktionsfähigkeit gehört das Vermögen, mit<br />
Komplexität und Mehrdeutigkeit umzugehen. Dazu gehört es, dass<br />
multiple Zukunftsszenarien entwickelt und unterschiedliche Handlungsstränge<br />
parallel verfolgt werden können. Vergangenes wird lose mit<br />
Zukünftigem verknüpft. Es wird spielerisch ausprobiert. <strong>Die</strong> (Re-)<br />
Konstruktionsfähigkeit ist die Kunst, Optionen zu schaffen und offen zu<br />
halten, Möglichkeiten zu erkennen und sich anzupassen, in Bewegung zu<br />
bleiben ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. (� vgl. insbesondere<br />
Kapitel 5.2.3, Abschnitt a) und Abbildung 29)<br />
Ressourcen<br />
(� vgl. auch: Reifikation; Strukturdimensionen; Strukturmodalitäten)<br />
Ressourcen gehören zu den Strukturmodalitäten. Sie sind die materiellen<br />
und virtuellen Manifestationen der Strukturdimension Reifikation.<br />
Allokative und autoritative Ressourcen verleihen der sozialen Wirklichkeit<br />
einen dinglichen Ausdruck und gestalten somit die faktische Ordnung <strong>von</strong><br />
<strong>Organisation</strong>. Dadurch, dass soziale Wirklichkeit in eine physische<br />
Erscheinungsform verpackt wird, wird sie auch beherrschbar gemacht,<br />
das heisst eröffnet sich gleichzeitig die Möglichkeit der faktischen<br />
Verfügungsgewalt über die sozial geschaffene Wirklichkeit. (� vgl.<br />
insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b) und Kapitel 5.2.2 sowie<br />
Abbildung 28)<br />
Routinisierungsfähigkeit<br />
(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten) <strong>Die</strong> Routinisierungsfähigkeit ist eine<br />
Ausprägung der Bezugsfähigkeiten. Gemeint ist die Fähigkeit, sowohl<br />
formale und technische wie auch soziale Prozesse im weitesten Sinn zu<br />
formalisieren und zu standardisieren. Es handelt sich <strong>als</strong>o um eine<br />
gestalterische Fähigkeit. Sie sichert den Bestand und den kontinuierlichen<br />
Vollzug der sozialen Wirklichkeit, indem sie dieser Wirklichkeit eine<br />
gegenständliche Form zu geben vermag. <strong>Die</strong> Routinisierungsfähigkeit<br />
setzt Referenzpunkte der Gültigkeit und dadurch erübrigt sich die<br />
Notwendigkeit der laufenden Vergewisserung und Bestätigung dessen,<br />
was gilt und richtig ist. Sie hat damit eine entlastende Funktion für den<br />
organisationalen Alltag. (� vgl. insbesondere Kapitel 5.2.3, Abschnitt c)<br />
und Abbildung 29)<br />
284
285<br />
ANHANG<br />
Signifikation<br />
(� vgl. auch: interpretative Schemata; Strukturdimensionen) <strong>Die</strong><br />
Strukturdimension Signifikation meint alle Struktur(en), die mit der<br />
Wahrnehmung und (Be-)Deutung der sozialen Welt zusammenhängen.<br />
Sie repräsentiert <strong>als</strong>o die kognitive Ordnung des kollektiven Handelns.<br />
<strong>Die</strong> Strukturdimension Signifikation manifestiert sich im Handeln <strong>als</strong><br />
interpretative Schemata. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt<br />
b))<br />
soziale Praktiken<br />
(� vgl. auch: Verhandlungsprozess des Organisierens) Soziale Praktiken<br />
sind routinisierte kollektive Handlungen, das heisst stabilisierte<br />
Kommunikations- und Interaktionsformen. Man muss sie sich nicht <strong>als</strong><br />
einzelne, isolierbare Handlungen vorstellen, sondern eher <strong>als</strong> einen<br />
kontinuierlichen Fluss. Obwohl soziale Praktiken routinisiert sind, sind sie<br />
nichts Selbstverständliches. Soziale Akteure müssen sich der Gültigkeit<br />
ihres routinisierten Handelns immer wieder vergewissern, damit sie ihre<br />
Handlungsfähigkeit aufrecht erhalten können. Soziale Praktiken sind das<br />
relativ stabile Ergebnis des kontinuierlichen Verhandlungsprozesses des<br />
Organisierens. Sie konstituieren sich rekursiv aus kognitiven und<br />
politischen Prozessen. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt c)<br />
und Kapitel 5.2.1)<br />
Struktur(en)<br />
(� vgl. auch: Dualität; Ordnung; Strukturdimensionen; Strukturmodalitäten)<br />
Struktur bezeichnet den Möglichkeitsraum <strong>von</strong> Ordnung.<br />
Demnach sind Strukturen alles das, was Stabilität, Kontinuität und<br />
Gewissheit gewährleistet. Über den Begriff der Dualität sind Struktur(en)<br />
mit Handlung <strong>als</strong> sich zwei gegenseitig konstituierende Phänomene eng<br />
verknüpft. Daraus folgt, dass Struktur(en) keine objektive, vom Handeln<br />
unabhängige Existenz zukommt, sondern dass sie sich erst im Handeln<br />
verwirklicht bzw. materialisiert. Im Handeln manifestieren sich Struktur-<br />
(en) in Form <strong>von</strong> Strukturmodalitäten. Um das Wesen <strong>von</strong> Struktur(en)<br />
analytisch besser fassen zu können, werden sie in die Dimensionen<br />
Signifikation, Legitimation und Reifikation unterteilt. (� vgl. insbesondere<br />
Kapitel 4.1.1 und 4.2.1.1)
ANHANG<br />
Strukturdimensionen<br />
(� vgl. auch: Struktur(en); Strukturmodalitäten; Legitimation; Reifikation;<br />
Signifikation) Um das Phänomen Struktur(en) besser fassen zu können,<br />
werden (rein analytisch) drei Dimensionen <strong>von</strong> Struktur(en)<br />
unterschieden, nämlich Legitimation, Reifikation und Signifikation. (� vgl.<br />
insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b))<br />
Strukturmodalitäten<br />
(� vgl. auch: <strong>Handlungssystem</strong>; Struktur(en); Strukturdimensionen;<br />
interpretative Schemata; Normen; Ressourcen) Strukturmodalitäten sind<br />
ein Element der Vermittlung zwischen Struktur und Handlung. Es sind<br />
Spuren vergangener Prozesse des Organisierens, die sich <strong>als</strong> Sedimente<br />
<strong>von</strong> Struktur manifestieren. Sie stecken den Rahmen ab, das heisst den<br />
Möglichkeitsraum des Phänomens <strong>Organisation</strong>. Strukturmodalitäten<br />
haben jedoch immer nur eine virtuelle Kraft bzw. Wirkung. Den<br />
vermeintlichen Zwang, den sie auf kollektives Handeln ausüben, können<br />
sie nur deshalb entfalten, weil ihre Existenz und Gültigkeit in den<br />
Verhandlungsprozessen des Organisierens ungefragt generalisiert und<br />
vorausgesetzt werden. Strukturmodalitäten lassen sich nach den drei<br />
Strukturdimensionen (rein analytisch) einteilen in interpretative Schemata,<br />
Normen und Ressourcen. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt<br />
b) und Kapitel 5.2.2 sowie Abbildung 28)<br />
Verhandlungsprozess des Organisierens<br />
(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten; Macht; Politik; soziale Praktiken;<br />
Strukturmodalitäten) Der Verhandlungsprozess des Organisierens ist ein<br />
Element der Vermittlung zwischen Struktur und Handlung. Er ist der<br />
Nukleus des Phänomens <strong>Organisation</strong> und somit der eigentliche<br />
kollektive Prozess, in dem die organisationale Wirklichkeit konstruiert und<br />
reifiziert wird und die Bedingungen und Möglichkeiten des kollektiven<br />
organisationalen Handelns ausgehandelt und festgelegt werden. Er<br />
verknüpft und verwebt Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten zu<br />
einer lokalen Form <strong>von</strong> Ordnung. Im Verhandlungsprozess des<br />
Organisierens sind kognitive und politische Elemente aufs Engste<br />
miteinander verwoben. Als Ergebnis dieses Prozesses bilden sich soziale<br />
Praktiken heraus, das heisst routinisierte (bzw. stabilisierte) Kommunikations-<br />
und Interaktionsformen der <strong>Organisation</strong>. Politik und Macht sind die<br />
ermöglichenden Grundlagen des Verhandlungsprozesses des Organisie-<br />
286
287<br />
ANHANG<br />
rens. Ohne sie wären erfolgreiche kognitive und politische Prozesse<br />
undenkbar. (� vgl. insbesondere Kapitel 5.2.1)
Anhang B: Liste der analysierten Dokumente <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />
289<br />
ANHANG<br />
Im Rahmen der Dokumentenanalyse der Phase 3 (vgl. Abbildung 35) sind<br />
folgende Dokumente ausgewertet worden:<br />
Dokument Verfügbarkeit 408<br />
Unser Leitbild (Leitbild der Helvetia Patria Gruppe) extern<br />
Kurzportraits 1996, 1997, 1998, 1999, 2000, 2001 extern<br />
Portrait 2001 (CD-ROM) extern<br />
Geschäftsberichte 1996, 1997, 1998, 1999, 2000, 2001 extern<br />
<strong>Die</strong> Strategie 1999-2004 (Informationen zu zentralen Strategieinhalten) extern<br />
<strong>Die</strong> Strategie 2004-2006 (Informationen zu zentralen Strategieinhalten) extern<br />
Foliensätze zur Strategie 1999-2004 intern<br />
Projektmanagementgrundsätze intern<br />
Projektmanagementhandbuch intern<br />
Faltblatt zum Projektmanagement intern<br />
Controllinghandbuch intern<br />
Medienorientierung vom 30.9.1992 zur Partnerschaft Helvetia und Patria extern<br />
Ein guter Tausch (Informationen zum Umtauschangebot vom 10.06.1996) extern<br />
Partner-News Nr. 1/1992 (Informationsmagazin zur Partnerschaft) intern<br />
Berichte zum Projekt SABA intern<br />
Tandem Jhg. 1993, 1994, 1995, 1996, 1997, 2000, 2001 (Hauszeitung) intern<br />
Tempo & Trends Nr. 7/96, 9/96, 12/96 (Informationen zum Projekt Tempo) intern<br />
Foliensätze zum Projekt Tempo intern<br />
Medienorientierung vom 16.09.2000 zum Start des Projekts Dynamo extern<br />
Dynamo-News Nr. 2, 3, 4, 6, 7, 8 (Informationen zum Projekt Dynamo) intern<br />
Foliensätze zum Projekt Dynamo intern<br />
Erfahrungsbericht zum Projekt Dynamo (Foliensatz) extern<br />
408 <strong>Die</strong> Spalte Verfügbarkeit verweist darauf, ob es sich um ein internes Firmendokument oder um<br />
eine frei verfügbare Firmenpublikation (extern) handelt.
Anhang C: Liste der Forschungsaktivitäten bei Helvetia Patria<br />
291<br />
ANHANG<br />
Anhang C listet alle Forschungsaktivitäten auf, die das Forschungsteam<br />
während der Dauer des Forschungsprojekts geplant und durchgeführt hat. <strong>Die</strong><br />
Forschungsaktivitäten sind nach den drei Forschungsphasen (vgl. Kapitel<br />
6.1.3) unterteilt. Für jede Phase ist Datum, Untersuchungsfokus und<br />
Forschungstechnik der einzelnen Forschungsaktivität angegeben. Je nach<br />
Forschungsphase werden zu den Forschungsaktivitäten zudem weitere<br />
Angaben gemacht:<br />
• Phase 1<br />
<strong>Organisation</strong>s- bzw. Kundenbereich, in dem die Forschungsaktivität<br />
stattgefunden hat.<br />
• Phase 2<br />
Interaktionsdichte 409 der Forschungsaktivität.<br />
• Phase 3<br />
<strong>Die</strong>nstalter des interviewten <strong>Organisation</strong>smitglieds.<br />
Jede Forschungsaktivität wurde in einem separaten Forschungsprotokoll<br />
protokolliert (vgl. Kapitel 6.1.5). <strong>Die</strong>se Forschungsprotokolle bildeten<br />
zusammen mit den Dokumenten gemäss Anhang B das empirische Material<br />
der Dissertation. Wenn im Rahmen der Dissertation auf diese Protokolle<br />
verwiesen wird, dann erfolgt das zur Wahrung der Anonymität der<br />
Forschungskontakte (vgl. Kapitel 6.1.4) in verschlüsselter Form, so dass<br />
weder die zitierte Person noch der genaue Kontext (Forschungsaktivität)<br />
identifiziert werden können.<br />
409<br />
<strong>Die</strong> Interaktionsdichte gibt die Anzahl der <strong>Organisation</strong>smitglieder an, die während der jeweiligen<br />
Forschungsaktivität anwesend waren.
ANHANG<br />
Phase 1<br />
Datum Untersuchungsfokus Bereich<br />
27.01.00 Kick-Off-Meeting (Sponsor/Gatekeeper) HPV X<br />
292<br />
Forschungstechnik<br />
Interview Beobachtung Feedback<br />
04.02.00 Rekonstruktion Strategie HPV X<br />
15.02.00 Rekonstruktion Strategie PG X<br />
23.02.00 Rekonstruktion Strategie PG X<br />
01.03.00 Begleitung Generalagentur U X<br />
02.03.00 Begleitung Generalagentur PG X<br />
07.03.00 Begleitung Generalagentur U X<br />
09.03.00 Ergänzendes Interview Informatik X<br />
20.03.00 Rekonstruktion Strategie PG X<br />
29.03.00 Rekonstruktion Strategie PG X<br />
04.04.00 Rekonstruktion Strategie VP X<br />
12.04.00 Rekonstruktion Strategie A X<br />
17.04.00 Ergänzendes Interview Stab X<br />
25.04.00 Tagungsteilnahme HPV X<br />
27.04.00 Ergänzendes Interview PG X<br />
03.05.00 Tagungsteilnahme PG X<br />
05.05.00 Tagungsteilnahme PG X<br />
10.05.00 Ergänzendes Interview Stab X<br />
11.05.00 Ergänzendes Interview PG X<br />
18.05.00 Tagungsteilnahme U X<br />
19.05.00 Begleitung Generalagentur U X<br />
26.05.00 Begleitung Generalagentur U X<br />
09.06.00 Begleitung Generalagentur U X<br />
16.06.00 Begleitung Generalagentur U X<br />
16.06.00 Begleitung Generalagentur U X<br />
03.07.00 Ergänzendes Interview U X<br />
03.07.00 Tagungsteilnahme U X<br />
12.07.00 Zwischenbericht (Sponsor/Gatekeeper) HPV X<br />
07.11.00 Begleitung Generalagentur U X
Phase 2<br />
Datum Untersuchungsfokus Dichte<br />
07.08.00 Ergänzendes Interview 1 X<br />
293<br />
Forschungstechnik<br />
ANHANG<br />
Interview Beobachtung Feedback<br />
16.08.00 Tagungsteilnahme 17 X<br />
13.09.00 Tagungsteilnahme 200 X<br />
15.09.00 Tagungsteilnahme 180 X<br />
28./29.09.00 Tagungsteilnahme 40 X<br />
19.10.00 Tagungsteilnahme 40 X<br />
10.11.00 Ebene Bereichsleitung 1 X<br />
23.11.00 Ebene Bereichsleitung 8 X<br />
12.12.00 Ebene Bereichsleitung 11 X<br />
21.12.00 Ebene Regionen 2 X<br />
21.12.00 Ebene Bereichsleitung 9 X<br />
03.01.01 Ebene Bereichsleitung 6 X<br />
08.01.01 Ebene Regionen 1 X<br />
09.01.01 Ebene Regionen 1 X<br />
09.01.01 Ebene Bereichsleitung 12 X<br />
24.01.01 Tagungsteilnahme 100 X<br />
25.01.01 Ebene Regionen 15 X<br />
26.01.01 Ebene Regionen 14 X<br />
29.01.01 Ebene Generalagentur 1 X<br />
31.01.01 Ebene Bereichsleitung 12 X<br />
07.02.01 Ebene Bereichsleitung 14 X<br />
14.02.01 Ebene Generalagentur 1 X<br />
21.02.01 Ebene Bereichsleitung 13 X<br />
22.02.01 Ebene Generalagentur 5 X<br />
01.03.01 Ebene Regionen 13 X<br />
09.03.01 Ebene Bereichsleitung - X<br />
14.03.01 Ebene Generalagentur 1 X<br />
14.03.01 Ebene Generalagentur 5 X<br />
20.03.01 Ebene Generalagentur 3 X<br />
22.03.01 Tagungsteilnahme 45 X<br />
23.03.01 Ebene Generalagentur 11 X<br />
28.03.01 Tagungsteilnahme 65 X<br />
03.04.01 Ebene Generalagentur 9 X<br />
06.04.01 Tagungsteilnahme 50 X<br />
10.04.01 Ebene Generalagentur 20 X<br />
17.04.01 Tagungsteilnahme 130 X<br />
19.04.01 Ebene Generalagentur 5 X<br />
19.04.01 Ebene Generalagentur 24 X<br />
25.04.01 Zwischenbericht (Sponsor/Gatekeeper) - X<br />
25.04.01 Ebene Bereichsleitung 1 X<br />
02.05.01 Ebene Regionen 200 X<br />
10.05.01 Ebene Regionen 19 X
ANHANG<br />
Phase 2 (Forts.)<br />
Datum Untersuchungsfokus Dichte<br />
294<br />
Forschungstechnik<br />
Interview Beobachtung Feedback<br />
14.05.01 Ebene Generalagentur 26 X<br />
16.05.01 Ebene Generalagentur 7 X<br />
07.06.01 Ebene Regionen 15 X<br />
15.06.01 Ebene Generalagentur - X<br />
19.06.01 Ebene Generalagentur - X<br />
09.07.01 Tagungsteilnahme - X<br />
14.09.01 Ebene Bereichsleitung - X<br />
21.11.01 Ebene Bereichsleitung - X<br />
Phase 3<br />
Datum Untersuchungsfokus<br />
<strong>Die</strong>nstalter<br />
Forschungstechnik<br />
Interview Beobachtung Feedback<br />
11./12.09.01 Tagungsteilnahme - X<br />
19.09.01 Tagungsteilnahme - X<br />
17.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 6 X<br />
18,10.01 Tagungsteilnahme - X<br />
19.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 24 X<br />
23.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 12 X<br />
25.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 21 X<br />
25.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 21 X<br />
26.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 13 X<br />
05.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 4 X<br />
05.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 11 X<br />
06.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 10 X<br />
06.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 24 X<br />
07.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 25 X<br />
08.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 9 X<br />
08.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 10 X<br />
15.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 24 X<br />
15.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 6 X<br />
16.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 15 X<br />
16.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 4 X<br />
19.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 18 X<br />
22.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 1 X<br />
22.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 4 X<br />
23.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 18 X<br />
29.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 10 X<br />
07.12.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung - X<br />
10.12.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung - X<br />
13.12.01 Abschlussbericht (Sponsor/Gatekeeper) - X
Anhang D: Exkurs zur Versicherungsbranche 410<br />
295<br />
ANHANG<br />
Als Versicherungsunternehmen wird Helvetia Patria unmittelbar beeinflusst<br />
<strong>von</strong> den spezifischen Eigenheiten und der Entwicklung der Versicherungsbranche.<br />
Anhang D gibt einen vertieften Einblick in die Entwicklung der gesamten<br />
Versicherungsbranche und ist <strong>als</strong> Ergänzung zu den Ausführungen in Kapitel<br />
zu verstehen. Ausgehend <strong>von</strong> der Definition der Versicherung <strong>als</strong> einer <strong>Die</strong>nstleistung<br />
wird ein Überblick über die aktuellen Entwicklungen im europäischen<br />
und schweizerischen Versicherungsmarkt gegeben. 411<br />
D.1 Versicherung <strong>als</strong> integrierte <strong>Die</strong>nstleistung<br />
„<strong>Die</strong> Versicherungsdienstleistung ist nicht einfach nur Hardware, sondern ein<br />
Produkt <strong>von</strong> Deckung und angegliederter Servicefunktionen unterschiedlichster<br />
Art.“ (Haller 1990, S. 59) Das verlangt eine Erweiterung der<br />
unternehmerischen Anstrengung über den Zeitpunkt des eigentlichen Verkaufs<br />
hinweg. Jeder Kontakt mit den Kunden wird entscheidend, und die<br />
Versicherungs-<strong>Die</strong>nstleistung avanciert zu einem hochkommunikativem<br />
Produkt (vgl. Haller 1990, S. 63). <strong>Die</strong> herkömmliche Vorstellung des Vertriebs<br />
in der Assekuranz muss deshalb eine Veränderung erfahren. Der Vertrieb in<br />
der <strong>Die</strong>nstleistungsbranche umfasst nicht mehr nur Kontaktanbahnung,<br />
Produktberatung und Abschlusstätigkeiten, sondern ebenfalls eine Reihe <strong>von</strong><br />
kommunikativen und interaktiven Aufgaben und Funktionen wie z.B.<br />
Imageträger-, Service-, Individualisierungs-, Betreuungs- und letztlich<br />
Vertrauensfunktion. 412 Der Vertrieb „wird zum eigentlichen Produkt- und<br />
Leistungsbestandteil“. (Lehmann 1990, S.5)<br />
Das Produkt Versicherung umfasst daher nicht mehr nur bloss den<br />
technischen Aspekt der Risikodeckung bzw. des Risikotransfers, 413 sondern<br />
besteht immer aus Deckung und Servicefunktionen (vgl. Abbildung 76).<br />
410<br />
Anhang D stützt sich auf ein Arbeitspapier des Forschungsprojekts Learning Dynamics<br />
(Mühlbach/Schütz 2001).<br />
411<br />
Im Folgenden wird der Begriff der Versicherung für die Bezeichnung der <strong>Die</strong>nstleistung, und der<br />
Begriff der Assekuranz für die Bezeichnung der Versicherungsbranche benutzt.<br />
412<br />
Mitarbeitende im Aussendienst wurden früher zutreffend <strong>als</strong> „Vertrauensmänner“ bezeichnet.<br />
413<br />
Vgl. I.VW-HSG 1999c für Ausführungen zum Deckungscharakter einer Versicherungsdienstleistung.
ANHANG<br />
1<br />
Soziale/psychologische Dimension<br />
Technische/ökonomische Dimension<br />
Kernprodukt<br />
Ebene 1<br />
2<br />
Kernmarktleistung<br />
296<br />
3<br />
Ebene 2<br />
Erweiterte<br />
Funktionen<br />
Ebene 3<br />
Abbildung 76: Das Drei-Ebenen-Konzept des Versicherungsprodukts 414<br />
• Ebene 1 (Kernprodukt)<br />
Hier wird der eigentliche Versicherungsschutz, das heisst die<br />
materielle und immaterielle Deckung, generiert. Das Zusammenspiel<br />
der sozialen und technisch/finanziellen Dimension der<br />
Deckung äussert sich beim Versicherungsnehmer in Form des<br />
subjektiven Gefühls der Deckung.<br />
• Ebene 2 (Kernmarktleistung)<br />
Hier findet die eigentliche Marktleistung statt, das heisst die<br />
Kombination <strong>von</strong> Kernprodukt und unmittelbarem Service. Im<br />
Vordergrund stehen Gesamtberatung, Schadenbearbeitung und<br />
Convenience-Leistungen wie z.B. Einfachheit, Schnelligkeit und<br />
Verfügbarkeit. Kurz gesagt, es geht um Design und Verpackung<br />
des Kernprodukts.<br />
• Ebene 3 (Erweiterte Leistungsfunktionen)<br />
Hier wird die reine Versicherungsdimension verlassen und das<br />
Kernprodukt mit fachfremden <strong>Die</strong>nstleistungen angereichert.<br />
Dabei handelt es sich entweder um die Ergänzung <strong>von</strong><br />
414 In Anlehnung an Haller (1988, S. 563) sowie Haller und Ackermann (1992, S. 11ff).
297<br />
ANHANG<br />
allgemeinen Finanzdienstleistungen (horizontale Sortimentspolitik)<br />
oder um die Vertiefung herkömmlicher Leistungen<br />
(vertikale Sortimentspolitik).<br />
Nach Haller muss die Gesamtleistung einer Versicherung auf dem Markt alle<br />
drei Ebenen umfassen. Das verlangt <strong>von</strong> den Versicherungsgesellschaften die<br />
Entwicklung weg vom reinen Produktdenken hin zur umfassenden Problemlösung<br />
für die Kunden. Bedürfnis- und funktionsorientierte Leistungsangebote<br />
müssen den blossen Versicherungsschutz ergänzen. In Zukunft werden sich<br />
Versicherungsgesellschaften vor allem auf der Ebene der erweiterten<br />
Leistungsfunktionen (Ebene 3) <strong>von</strong> ihrer Konkurrenz differenzieren. Der<br />
zusätzliche Service durch versicherungsfremde Produkte und <strong>Die</strong>nste wird<br />
ausschlaggebend für den Kaufentscheid des Versicherungsnehmers werden<br />
(vgl. Kapitel D.2.3).<br />
D.2 Versicherungsbranche im Wandel<br />
Historisch gesehen erfüllte die Assekuranz ein gesellschaftliches Sicherheitsbedürfnis<br />
415 und wurde einem besonderen politischen und rechtlichen Schutz<br />
unterstellt. Hauptargument für die staatliche Regulierung des Versicherungsmarktes<br />
war die Bewahrung der Solvenz der Versicherungsunternehmen und<br />
der Schutz der Versicherungsnehmer. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts<br />
fanden sich deshalb die Versicherungsgesellschaften <strong>als</strong> fast „parastaatliche<br />
Institutionen“ (Haller 1996, S. 14) durch eine Vielzahl <strong>von</strong> Gesetzen und<br />
Vorschriften reguliert.<br />
Inzwischen befindet sich der europäische und vor allem der deutschsprachige<br />
Versicherungsmarkt in einem fundamentalen Strukturwandel. Neben der<br />
einsetzenden Deregulierung spielen auch Veränderungen auf der Nachfrageseite<br />
(Wertewandel in Arbeitswelt und Gesellschaft) wie der Angebotsseite<br />
(Veränderung der Wettbewerbssituation) eine Rolle. <strong>Eine</strong>n Einfluss haben<br />
zudem die Möglichkeiten der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie.<br />
415 Vgl. dazu Kapitel 7.1.1.
ANHANG<br />
D.2.1 Deregulierung <strong>als</strong> Treiber des Wandels 416<br />
D.2.1.1 Deregulierung auf europäischer Ebene<br />
Ausgangspunkt für die europäischen Integrationsbestrebungen der<br />
Assekuranz sind die „Römer Verträge“ des Jahres 1957 zur Gründung einer<br />
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).<br />
<strong>Die</strong>s löste auf der Ebene der Versicherungswirtschaft die Harmonisierung<br />
einer Vielzahl <strong>von</strong> nationalen Aufsichts- und Versicherungsvertrags-Gesetzen<br />
aus. Getrieben <strong>von</strong> der Annahme, dass ein möglichst liberaler Wettbewerb die<br />
Wirtschaftlichkeit der Versicherungsmärkte erhöhen würde, stand die<br />
Deregulierung der Aufsicht und die Liberalisierung des Marktzuganges im<br />
Mittelpunkt der Bestrebungen. <strong>Die</strong> Umsetzung dieser Liberalisierungs- und<br />
Deregulierungstendenzen in Europa erfolgte über einen Zeitraum <strong>von</strong> dreissig<br />
Jahren in drei Etappen (vgl. Abbildung 77).<br />
• Niederlassungsfreiheit (erste Richtlinien-Generation)<br />
<strong>Die</strong> Niederlassungsfreiheit gewährte jedem Versicherungsunternehmen<br />
mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat, sich in jedem<br />
anderen Mitgliedstaat <strong>als</strong> Versicherer niederzulassen. Zulassung<br />
und laufende Aufsicht unterlagen jedoch den Behörden des<br />
Gastlandes (Host Country Control), so dass die angestrebte<br />
Integrationswirkung gering blieb. Zugleich fand mit der ersten<br />
Richtlinien-Generation eine Harmonisierung der finanziellen<br />
Aufsicht statt, indem ein einheitlicher Solvenzbegriff geschaffen<br />
wurde.<br />
• <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit (zweite Richtlinien-Generation)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit ermöglichte es jedem Versicherungsunternehmen<br />
mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat, in jedem<br />
anderen Mitgliedstaat Versicherungsdienstleistungen zu<br />
erbringen, ohne in diesem Staat eine eigene Niederlassung oder<br />
Agentur zu unterhalten. Dabei galt für das Unternehmensgeschäft<br />
die Home Country Control (Sitzland-Kontrolle) und für<br />
das Privatkundengeschäft die Host Country Control (Gastland-<br />
416 <strong>Die</strong> folgenden Ausführungen zur Deregulierung stützen sich auf Ehrler (1999), Haller (1991),<br />
Haller und Ackermann (1992) sowie die Publikation I.VW-HSG 1999a.<br />
298
299<br />
ANHANG<br />
Kontrolle). <strong>Die</strong>se Einteilung des Versicherungsgeschäfts in die<br />
zwei Kategorien Industrie- bzw. Grossrisiken (mittlere und grosse<br />
Unternehmen sowie Versicherungsnehmer in bestimmten<br />
Versicherungszweigen) und Massenrisiken (alle übrigen<br />
Versicherungsnehmer) veränderte den Versicherungsmarkt<br />
nachhaltig. Im Unternehmensgeschäft resultierte eine weitreichenden<br />
Dynamisierungswelle, wohingegen das Massengeschäft<br />
des Privatkundenbereichs weiterhin durch die<br />
nationalen Märkte abgeschottet und weitest gehend unberührt<br />
blieb.<br />
Niederlassungsfreiheit<br />
• Rückversicherung (1964, inkl. <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit)<br />
• Nicht-Lebensversicherung (1973)<br />
• Lebensversicherung (1979)<br />
<strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit<br />
• Grossrisiken (1988)<br />
• Nicht-Leben ohne MF (1988)<br />
• Motorfahrzeugversicherung (1990)<br />
• Passive Lebensversicherung (1990)<br />
Einheitslizenz und Aufsichtsderegulierung<br />
• EU-Einheitslizenz (1994)<br />
• Home Country Control (1994)<br />
• Freigabe der Versicherungspreise und -bedingungen (1994)<br />
Abbildung 77: Drei Etappen auf dem Weg zum EU-Versicherungsbinnenmarkt 417<br />
417 Vgl. Swiss Re 1996.
ANHANG<br />
• Einheitslizenz und Aufsichtsderegulierung (dritte Richtlinien-<br />
Generation)<br />
<strong>Die</strong> dritte Richtlinien-Generation leitete schliesslich den tiefst<br />
greifenden Deregulierungsschub ein. Im Mittelpunkt standen die<br />
EU-Einheitslizenz (allgemeine <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit), die<br />
generelle Einführung des Prinzips der Home Country Control<br />
(Sitzland-Kontrolle) und die Abschaffung der materiellen<br />
Versicherungsaufsicht. <strong>Die</strong> Abschaffung der präventiven<br />
Produkt- und Tarifkontrolle hatte zur Folge, dass die<br />
Versicherungsunternehmen weit gehend frei in der Gestaltung<br />
ihrer Produkte, Bedingungen und Preise wurden.<br />
Trotz der positiven Entwicklung der vergangenen Jahre bestehen allerdings<br />
nach wie vor regulatorische Defizite, die eine radikale Marktöffnung in der<br />
europäischen Assekuranz verhindern. 418 Gleichzeitig gibt es in der EU<br />
inzwischen bereits wieder Ansätze zu einer Re-Regulierung: „<strong>Die</strong> nationalen<br />
Aufsichtsbehörden befürchten, dass ihnen die Fäden angesichts der den<br />
Versicherungsgesellschaften eingeräumten Freiräumen entgleiten werden.“<br />
(Kuhn 1996, S. 128) Vor allem fehlende Transparenz in Bezug auf komplexe<br />
Versicherungs- und Bankenkonglomerate haben Befürchtungen <strong>von</strong><br />
Missbrauch entstehen lassen. Elemente des Re-Regulierungstrends sind<br />
daher unter anderem eine verstärkte Aufsicht über Versicherungsgruppen und<br />
Finanzunternehmen. 419<br />
D.2.1.2 Deregulierung auf Schweizer Ebene 420<br />
Auch in der Schweiz war der Versicherungsmarkt zum Schutze des<br />
Versicherungsnehmers staatlich reguliert. <strong>Die</strong> Versicherungsaufsicht umfasste<br />
die gesamte Geschäftstätigkeit einer Versicherungsgesellschaft vom Zeitpunkt<br />
der Gründung bis zur Aufgabe des Geschäfts. <strong>Die</strong> Durchführung der Aufsicht<br />
418<br />
So verhindern z.B. Unterschiede in den nationalen Steuersystemen eine fehlende<br />
Harmonisierung des Versicherungsvertrags-Gesetzes und Inkompatibilitäten der verschieden<br />
ausgestalteten Sozialversicherungssysteme eine umfassende Marktöffnung (vgl. I.VW-HSG<br />
1999a, S. 4, und Kuhn 1996, S. 119).<br />
419<br />
So liegt z.B. in der Schweiz die Empfehlung einer Expertenkommission vor, die Versicherungsund<br />
Bankenaufsicht in eine integrierte Finanzmarkt-Aufsichtsbehörde zusammenzulegen (vgl.<br />
SVV 2001a, S. 12f).<br />
420<br />
<strong>Die</strong> Ausführungen zur Deregulierung der Schweizer Assekuranz stützen sich vorrangig auf Kuhn<br />
(1992, 1996) und Pfund (1991, 1992b ,1992a).<br />
300
301<br />
ANHANG<br />
oblag dem Bundesamt für Privatversicherungswesen (BPV). <strong>Die</strong> Aufsicht<br />
beruhte auf drei Pfeilern:<br />
• Berichterstattung<br />
<strong>Die</strong> Versicherungsgesellschaften hatten jährlich einen<br />
technischen Rechenschaftsbericht abzugeben, welcher die<br />
wichtigste Grundlage für die Beurteilung der Solvenz einer<br />
Gesellschaft war.<br />
• Inspektionen<br />
Das Aufsichtsamt führte bei den Versicherungsgesellschaften<br />
stichprobenweise Inspektionen durch, um zu überprüfen, ob der<br />
vom BPV genehmigte Geschäftsplan eingehalten wird.<br />
• präventive Produkt- und Tarifgenehmigung<br />
<strong>Die</strong> präventive Produkt- und Materialgenehmigung war der<br />
wichtigste Pfeiler der Aufsicht. Alle Produkte, Tarife und<br />
Versicherungsbedingungen bedurften der vorgängigen<br />
Genehmigung des BPV.<br />
Neben dieser strengen materiellen Aufsicht zeichnete sich die Regulierung der<br />
Schweizer Assekuranz durch eine Vielzahl <strong>von</strong> privatrechtlichen Kartellen aus.<br />
Erst die Revision des Kartellgesetzes im Jahre 1985 brachte Bewegung in die<br />
Kartellierung des Schweizer Versicherungsmarkts. So waren es schliesslich<br />
die Empfehlungen der Kartellkommission, welche in der Schweiz die<br />
Deregulierung des Versicherungsmarkts einläuteten. Abbildung 78 fasst die<br />
wichtigsten Meilensteine der Deregulierungs- und Liberalisierungsprozesse<br />
des Schweizer Versicherungsgeschäfts zusammen:<br />
• Aufhebung des Sachversicherungskartells<br />
Ausgelöst durch die Kritik der Kartellkommission am mangelnden<br />
Wettbewerb im Sachbereich wurden 1989 die präventive<br />
Tarifgenehmigung für die Risiken <strong>von</strong> Industrie, Gewerbe und<br />
Handel (Gross- bzw. Industrierisiken) aufgehoben sowie Preisabsprachen<br />
im Privatkundengeschäft untersagt. <strong>Eine</strong>r<br />
Untersuchung des Lebensversicherungsmarkts durch die<br />
Kartellkommission beugte die Schweizer Vereinigung privater<br />
Lebensversicherer proaktiv vor, indem sie die Tarife in der<br />
Einzelversicherung ab 1993 grundsätzlich freigab. Im Kollektivleben-Bereich,<br />
dem <strong>von</strong> Gesetzes wegen gewisse Werte
ANHANG<br />
vorgegeben sind, empfahl die Kartellkommission dem<br />
Bundesamt für Privatversicherungswesen, keine einheitlichen<br />
Tarife mehr zuzulassen. Ein unverbindlicher Mustertarif, der sich<br />
auf gemeinsam erarbeitete Risikogrundlagen und auf einen<br />
einheitlichen technischen Zinsfuss stützte, wurde 1996 in Kraft<br />
gesetzt. 421<br />
Aufhebung des Sachversicherungskartells<br />
• Deregulierung im Industriemarkt (1989)<br />
• Keine Preisabsprachen im Privatkundengeschäft (1989)<br />
Versicherungsabkommen Schweiz - EWG<br />
• Niederlassungsfreiheit für Nicht-Lebensversicherungen (1993)<br />
• Einheitliche Solvabilitätsspanne (1993)<br />
• Trennung in Unternehmens- und Massengeschäft (1993)<br />
• Abschaffung der präventiven Produktekontrolle (1993)<br />
Swisslex I<br />
• Niederlassungsfreiheit für Lebensversicherungen (1993)<br />
• <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit mit Reziprozitätsvorbehalten (1993)<br />
Abbildung 78: Deregulierungsschritte in der Schweizer Assekuranz<br />
• Versicherungsabkommen Schweiz - EU<br />
1993 wurde das Versicherungsabkommen mit der EU verabschiedet.<br />
Gegenstand des Abkommens war ausschliesslich die<br />
direkte Nichtleben-Vversicherung. Es enthielt die<br />
niederlassungsrechtliche Vereinbarung auf dem Gebiet der<br />
421 <strong>Die</strong>ser technische Mindestzinssatz im Kollektivleben führte ab 2002 zu Problemen für die<br />
Versicherungsgesellschaften: Der Renditeeinbruch auf den Finanzmärkten bewirkte, dass die<br />
Versicherer den fixierten Mindestzinssatz nicht mehr erwirtschaften konnten und das<br />
Kollektivleben-Geschäft für sie somit defizitär wurde. Der Mindestzinssatz musste deshalb im<br />
Laufe des Jahres 2003 <strong>von</strong> den staatlichen Behörden gesenkt werden.<br />
302
303<br />
ANHANG<br />
Direktversicherung für Nichtleben-Versicherungsgesellschaften.<br />
Auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit räumte die Schweiz<br />
jeder Versicherungsgesellschaft mit Sitz in einem EU-<br />
Mitgliedsstaat ein, sich in der Schweiz niederlassen zu dürfen.<br />
Damit übertrug dieses Abkommen die erste EU-Richtlinien-<br />
Generation auf Nichtlebens-Versicherer. Weitere Elemente des<br />
Abkommens waren die Anerkennung der europaweit einheitlichen<br />
Solvabilitätsspanne, die Übernahme der Grossrisiko-Regel<br />
(Unterscheidung in Industrie- und Massenrisiken) 422 und die<br />
Abschaffung der präventiven Produkt- und Tarifkontrolle. 423<br />
• Swisslex I<br />
Ziel dieses Programms war es, auf freiwilliger Basis die zweite<br />
Etappe der europäischen Deregulierung auf die Schweizer<br />
Gesetzgebung zu übertragen. So wurde ab 1993 die zweite EU-<br />
Richtlinien-Generation sowohl für Leben- <strong>als</strong> auch für<br />
Nichtleben-Versicherungen in Kraft gesetzt, sowie die erste<br />
Richtlinien-Generation - welche bis dato nur für Nichtleben-<br />
Versicherungen galt - auch auf Lebensversicherungen<br />
übertragen.<br />
Derzeit sind weitere Bestrebungen im Gang, die Deregulierung in der<br />
Schweizer Assekuranz voranzutreiben. Im Jahre 1995 wurden unter dem Titel<br />
„Swisslex II“ die drei Arbeitsgruppen „Versicherungstechnik“, „Konsumenteninformation“<br />
und „Vermittler“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel der Anpassung<br />
an die dritte Richtlinien-Generation der EU. Auf der Basis der Schlussberichte<br />
dieser Arbeitsgruppen erarbeitete ab 1997 die Gruppe „Swisslex II/Straffung“<br />
Vorschläge zur Neugliederung und Vereinfachung der heutigen<br />
Aufsichtsgesetzgebung. <strong>Die</strong> Weiterbearbeitung einer Gesetzesvorlage kam im<br />
Jahre 1999 wegen der personellen Neubesetzung im zuständigen Justiz- und<br />
Polizeidepartement vorläufig zum Stillstand (vgl. SVV 2000, S. 12f).<br />
422 Vgl. zweite EU-Richtlinien-Generation (Abbildung 77).<br />
423 <strong>Die</strong> obligatorische präventive Kontrolle beschränkt sich seither lediglich auf die Lebens- und<br />
Krankenversicherung und auf Elementarschaden-Risiken.
ANHANG<br />
D.2.2 Konsequenzen der Deregulierung<br />
Was sind nun die Konsequenzen der Deregulierung? Nach Ackermann (I.VW-<br />
HSG 1999a) lassen sich die Folgen der Deregulierung für die<br />
Versicherungsunternehmen in vier Faktoren einteilen (vgl. Abbildung 79), die<br />
sich alle wechselseitig beeinflussen.<br />
Verminderung<br />
der Markttransparenz<br />
Zunahme<br />
der Wettbewerbsintensität<br />
Spürbare<br />
Marktanteilsverschiebungen<br />
304<br />
Abnahme der<br />
Branchenrentabilität<br />
Abbildung 79: Konsequenzen der Deregulierung 424<br />
• Zunahme der Wettbewerbsintensität<br />
<strong>Eine</strong>rseits bringt die Deregulierung die Chance einer gezielten<br />
Produkt- und Unternehmensprofilierung im Versicherungsmarkt<br />
mit sich. Andererseits folgt aus der Deregulierung eine Zunahme<br />
des Preiswettbewerbs. Beides führt zu einer Verstärkung der<br />
Wettbewerbsintensität.<br />
• Verminderung der Markttransparenz<br />
Der intensive Preis- und Bedingungswettbewerb geht zu Lasten<br />
der Übersichtlichkeit und Transparenz des Versicherungsmarkts.<br />
<strong>Die</strong> Komplexität des Versicherungsmarkts verlangt vom<br />
Versicherer eine besondere Kommunikationsfähigkeit im Dialog<br />
mit den Kunden. Nach Frei (1993) mangelt es der<br />
Versicherungsbranche jedoch noch an einer passenden<br />
Kommunikationskultur, um den Konsumenten im veränderten<br />
424 In Anlehnung an Ackermann (I.VW-HSG 1999a).
305<br />
ANHANG<br />
Versicherungsmarkt die für sie relevanten Botschaften zu<br />
übermitteln. 425<br />
• Abnahme der Branchenrentabilität<br />
<strong>Die</strong> erhöhte Wettbewerbsintensität drückt sowohl auf die Preise<br />
<strong>als</strong> auch auf die Margen. <strong>Die</strong> Versicherer müssen ihre<br />
gewachsenen Kostenstrukturen häufig mittels radikaler<br />
Umstrukturierungs- und Kostensenkungsprogrammen anpassen,<br />
um im Wettbewerb bestehen zu können. Positive technische<br />
Ergebnisse, das heisst die Abdeckung der Schäden und Kosten<br />
durch die Einnahme der Prämien, werden immer seltener. Das<br />
Kapitalanlage-Management gewinnt deshalb an Bedeutung.<br />
• Spürbare Marktanteilsverschiebungen<br />
Es wird zu einer strukturellen Verdichtung und einer<br />
fundamentalen Veränderung der bis anhin stabilen Marktstruktur<br />
kommen. Kostensenkungspotenziale aufgrund <strong>von</strong> Skalen- und<br />
Synergieeffekten sowie potenzielle Mindestgrössenansprüche<br />
sind bereits zu einer treibenden Kraft für zahlreiche Übernahmen,<br />
Fusionen und Konzentrationen geworden. 426<br />
D.2.3 Blick in die Zukunft<br />
D.2.3.1 Entwicklung des Versicherungsmarkts<br />
<strong>Die</strong> zukünftige Entwicklung der Versicherungswirtschaft wird vor allem durch<br />
die gesetzlichen Rahmenbedingungen, den ökonomischen und gesellschaftlichen<br />
Perspektiven, den weiteren Einsatzmöglichkeiten der Informationstechnologie<br />
und der demographischen Entwicklung geprägt sein.<br />
Eher trübe Zukunftsaussichten für den europäischen Versicherungsmarkt<br />
umriss im Jahre 1993 eine Studie des Beratungsunternehmens McKinsey (vgl.<br />
Muth 1993, insbesondere S. 82):<br />
425 Vgl. hierzu Frei (1993) und Maas (1996). Beide Autoren weisen auf die Notwendigkeit eines<br />
neuen Kommunikationsverständnisses <strong>von</strong> Versicherungsunternehmen hin, wobei<br />
Kommunikation nicht mehr lediglich mit Information gleichzusetzen ist, sondern Sinn<br />
hervorbringen muss.<br />
426 Inwiefern die Unternehmensgrösse in der Assekuranz zu Wettbewerbsvorteilen führt, ist<br />
umstritten (vgl. dazu Ehrler 1999, S. 100 und I.VW-HSG 1999b, S.7).
ANHANG<br />
• Von den im Jahre 1994 tätigen 2’000 Versicherungsgesellschaften<br />
wird nur die Hälfte überleben.<br />
• Von den 150 europaweit aktiven Industrieversicherern werden<br />
nach den Anpassungsprozessen nur noch zehn existieren.<br />
• Der Abbau der Überkapazitäten wird zu einem Personalabbau<br />
<strong>von</strong> ca. 30 %, das heisst <strong>von</strong> 300’000 Mitarbeitenden, führen.<br />
• Marktanteile und Rentabilität der traditionellen Versicherungsgesellschaften<br />
werden weiter fallen.<br />
D.2.3.2 Entwicklung der Versicherungsleistung<br />
Der Wettbewerb wird sich zusehends auf die dritte Ebene der<br />
Versicherungsleistung verlagern (vgl. Abbildung 76). Der kritische Erfolgsfaktor<br />
im deregulierten Versicherungsmarkt der Zukunft wird deshalb der<br />
Kundenzugang über erweiterte Leistungsfunktionen sein. <strong>Die</strong> Qualität des<br />
Vertriebs und der Kundenkommunikation wird zum entscheidenden<br />
Differenzierungsmerkmal der Zukunft.<br />
In Anlehnung an das Institut für Versicherungswirtschaft lassen sich vier<br />
strategische Bereiche identifizieren, die für die Versicherungsunternehmen der<br />
Zukunft <strong>von</strong> entscheidender Bedeutung sein werden (vgl. Abbildung 80). 427<br />
Integriertes<br />
Risiko-Management<br />
Trend zur<br />
Allfinanz<br />
Ausdifferenziertes<br />
Vertriebsnetzwerk<br />
306<br />
Umfassende<br />
Marktleistung<br />
„Care“<br />
Abbildung 80: Blick in die Zukunft der Assekuranz<br />
427 Vgl. für die folgenden Ausführungen I.VW-HSG 1999b.
307<br />
ANHANG<br />
• Trend zur Allfinanz<br />
Der Trend zur Branchendurchmischung bezieht sich auf bislang<br />
weit gehend getrennt operierende Wirtschaftsbranchen wie z.B.<br />
Banken und Versicherungen oder auch Steuer- und<br />
Versicherungsberatungen. Ziel ist die Erschliessung <strong>von</strong><br />
ergänzenden finanzwirtschaftlichen Funktionen. Da es<br />
Versicherungen gemäss dem Versicherungsaufsichtsgesetz<br />
(VAG) nicht gestattet ist, versicherungsfremde Produkte<br />
anzubieten, kann nur über eine Kooperation mit Banken das<br />
Kundenbedürfnis nach einer umfassenden finanziellen Beratung<br />
und Sicherung erfüllt werden. Synergiepotenziale in der<br />
Produktion sowie durch die gegenseitigen Nutzung <strong>von</strong> Kundenstämmen<br />
und Vertriebskanälen sind offensichtlich. 428<br />
• Integriertes Risiko-Management<br />
<strong>Die</strong> Kernmarktleistung des Versicherungsschutzes wird um<br />
Elemente der Risikoberatung ergänzt. Im Zentrum steht dabei<br />
ein integrierter Beratungsansatz vor allem für kleine und mittlere<br />
Unternehmen.<br />
• Umfassende Marktleistung („Care“)<br />
Das Versicherungs-Kernprodukt wird mit zusätzlichen<br />
Servicebestandteilen angereichert. <strong>Die</strong> Rede ist hier z.B. <strong>von</strong><br />
Assistance-Leistungen oder Hotlines, welche eine Differenzierung<br />
auf der dritten Ebene der Versicherungsleistung<br />
ermöglichen. <strong>Eine</strong> derartige Ausweitung der Serviceleistungen<br />
setzt jedoch häufig Investitionen auf Seiten der Versicherer<br />
voraus, wie z.B. Mitarbeiterqualifikation, flexible <strong>Organisation</strong>sstrukturen<br />
und -abläufe oder eine effiziente Informatiklösung.<br />
428 Es ist anzumerken, dass sich seit den 90er-Jahren die Begeisterung für Allfinanz-Konzepte<br />
merklich abgekühlt hat, weil sich die Realisierung der Synergiepotenziale nicht so reibungslos<br />
gestaltete wie erwartet (vgl. z.B. Bernet 2003). Dennoch ist das Thema Allfinanz nicht vom Tisch:<br />
„<strong>Die</strong> nächste Phase der Allfinanz muss zu einer neuen <strong>Die</strong>nstleistungskultur führen. Das<br />
lösungsorientierte Denken wird hier im Mittelpunkt stehen. Das bedingt in vielen<br />
Finanzinstitutionen ... ein fundamentales Umdenken und einen eigentlichen Umbau der<br />
Finanzdienstleistungskultur.“ (Bernet 2003, S. 20)
ANHANG<br />
• Ausdifferenziertes Vertriebsnetzwerk<br />
<strong>Die</strong> Verminderung der Markttransparenz aufgrund der<br />
zunehmenden Produktevielfalt und -komplexität erfordert einen<br />
differenzierten Zugang zu den Kunden. Im Vordergrund steht<br />
dabei nicht die Aufspaltung des Marktes in High-Price/High-<br />
Service und Low-Price/Low-Service-Segmente bzw. die<br />
Polarisierung in traditionellen Aussendienst versus alternative<br />
Vertriebskanäle. 429 Vielmehr geht es um eine Differenzierung<br />
und eine klare Rollen- und Aufgabenteilung der vielfältigen<br />
Vertriebskanäle im Sinne eines Vertriebsverfahrens- und<br />
Vertriebswege-Mix (vgl. dazu Luig 2001b und 2001a).<br />
429<br />
Vgl. Lehmann (1993, S. 250f) für einen Überblick zum unterschiedlichen Verständnis des<br />
Vertriebs in der Assekuranz.<br />
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Administrative Science Quarterly, Jahrgang 26, Nummer 3, Seiten 470-<br />
474.<br />
Willmott, Hugh (1997). Management and Organization Studies as Science? In:<br />
Organization, Jahrgang 4, Nummer 3, Seiten 309-344.<br />
Witzel, Andreas (1996). Auswertung problemzentrierter Interviews:<br />
Grundlagen und Erfahrungen. In: Rainer Strobl und Andreas Böttger<br />
(Hrsg.). Wahre Geschichten? Zu Theorie und Praxis qualitativer<br />
Interviews. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. Seiten 49-75.<br />
Wuketits, Franz M. (1981). Biologie und Kausalität. Verlag Paul Parey, Berlin.<br />
Yin, Robert K. (1984). Case Study Research. Sage Publications, Beverly Hills.<br />
Young, Monika (2003). Zur Interdependenz <strong>von</strong> Kommunikation und<br />
organisationaler Erneuerung in dezentralen Unternehmen.<br />
Systemtheoretische Analyse am Beispiel einer Genossenschaft.<br />
Dissertation der Universität St. Gallen, St. Gallen.
LEBENSLAUF<br />
Persönliche Angaben<br />
Geburtsdatum: 15.09.1960<br />
Kontaktadresse: judith.schuetz@alumni.unisg.ch<br />
Studium<br />
1999 - 2003 Doktorstudium an der Universität St. Gallen<br />
Mitarbeit im Forschungsprojekt Learning Dynamics<br />
des Instituts für Betriebswirtschaft IfB unter der<br />
Leitung <strong>von</strong> Prof. Dr. Johannes Rüegg-Stürm<br />
1981 - 1986 Studium der Betriebswirtschaft an der Universität<br />
St. Gallen, Vertiefungsrichtung Revision und Treuhand<br />
1976 - 1981 Wirtschaftsgymnasium, Biel<br />
Berufserfahrung<br />
seit 2002 Open System Network AG, Zürich<br />
Senior Consultant<br />
1990 - 1999 Schütz & Bossler Consulting & Coaching, St. Gallen<br />
Selbständige Unternehmensberaterin<br />
1987 - 1989 Griesser AG, Aadorf<br />
Projektleiterin Rechnungswesen/IT