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Die duale Erklärung von Organisation als Handlungssystem - Eine ...

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<strong>Die</strong> <strong>duale</strong> <strong>Erklärung</strong> <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong><br />

- <strong>Eine</strong> theoretische und empirische Spurensuche<br />

D I S S E R T A T I O N<br />

der Universität St. Gallen,<br />

Hochschule für Wirtschafts-,<br />

Rechts- und Sozialwissenschaften (HSG)<br />

zur Erlangung der Würde einer<br />

Doktorin der Wirtschaftswissenschaften<br />

vorgelegt <strong>von</strong><br />

Judith Schütz<br />

<strong>von</strong><br />

Sumiswald (Bern)<br />

Genehmigt auf Antrag der Herren<br />

Prof. Dr. Kuno Schedler<br />

und<br />

Prof. Dr. Johannes Rüegg-Stürm<br />

Dissertation Nr. 2916<br />

Difo-Druck GmbH, Bamberg 2004


<strong>Die</strong> Universität St. Gallen, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften<br />

(HSG) gestattet hiermit die Drucklegung der vorliegenden<br />

Dissertation, ohne damit zu den darin ausgesprochenen Anschauungen<br />

Stellung zu nehmen.<br />

St. Gallen, den 4. Mai 2004<br />

Der Rektor:<br />

Prof. Dr. Peter Gomez


Ihr in neuer Verwirrung Eures Verständnisses.<br />

Ich in neuem Verständnis meiner Verwirrung.<br />

nach Robert Graves


VORWORT<br />

<strong>Die</strong>se Dissertation ist die Geschichte einer zweifachen Entdeckung. Zum<br />

Ersten war es die Entdeckung der Praxis. Am Anfang des Forschungsprojekts<br />

hatte ich nur eine vage Vorstellung da<strong>von</strong>, was ich „da draussen“ im<br />

Forschungsfeld vorfinden werde. Doch Schritt für Schritt hat sich mir diese<br />

Praxis geöffnet und ist (be-)greifbar geworden. <strong>Die</strong> zweite Entdeckung fand<br />

während des Schreibens der Dissertation statt. Dabei ging es um die Frage,<br />

ob und wie ich das gesammelte Material „da drinnen“ in meiner<br />

Forschungsdatenbank zu einer sinnvollen theoretischen Arbeit verdichten<br />

kann. Das war die zweite Entdeckung, die Entdeckung der Theorie.<br />

Doch eigentlich gab es keine Entdeckungen, sondern immer nur mehr oder<br />

weniger sinnvolle und akzeptable Unterstellungen: Erstens unterstellte ich,<br />

dass ich mit einer geeigneten Forschungsmethode Zugang zu der Praxis des<br />

Forschungspartners erhalten kann. Zweitens unterstellte ich dieser erlebten<br />

Praxis theoretische Konzepte. So ist die vorliegende Dissertation denn<br />

eigentlich die Chronik <strong>von</strong> Entdeckungen, die in meinen Unterstellungen im<br />

Grunde bereits vorweggenommen worden waren.<br />

Natürlich sind es nicht allein meine Entdeckungen und meine Unterstellungen.<br />

Vielmehr sind es Materialisierungen eines kollektiven Prozesses, an dem eine<br />

Vielzahl <strong>von</strong> Menschen Teil hatten. Und diesen Menschen möchte ich danken<br />

für ihren Beitrag zu dem, was hier nun in Form meiner Dissertation vorliegt.<br />

Zunächst einmal sind da die Menschen im Forschungsfeld. Ohne ihre Neugier,<br />

Offenheit und Bereitschaft hätten meine Unterstellungen keine Projektionsfläche<br />

gefunden. Mein Dank geht an sie alle, namentlich unseren Sponsor<br />

Herrn Paul Müller und unsere Gatekeeperin Frau Léontine Steens.<br />

<strong>Die</strong> beiden Referenten, Prof. Dr. Kuno Schedler und Prof. Dr. Johannes<br />

Rüegg-Stürm, wussten stets treffsicher, wann und wo sie mir ihre Kritik, aber<br />

auch ihre Unterstützung anzubieten hatten. Für ihre fordernde und fördernde<br />

Begleitung meiner theoretischen und empirischen Entdeckungsreise bin ich<br />

ihnen dankbar.<br />

v


In den Entdeckungszusammenhang dieser Dissertation gehören ferner:<br />

Alexandra Baudenbacher, Daniel Beyeler, Udo Fischer, Anna Heydenreich,<br />

Judith Mühlbach, Anita Rüegsegger, Regula Ruflin, Esther Wyss, Barbara<br />

Zutter Baumer und ganz besonders Achim Bossler. Sie alle waren mir<br />

während meiner Forschungs- und Dissertationszeit wichtige Weggefährten.<br />

Danke, dass ihr es mit mir ausgehalten habt!<br />

St. Gallen, im Juli 2004 Judith Schütz<br />

vi


INHALTSVERZEICHNIS<br />

EINLEITUNG..................................................................................................... 1<br />

TEIL I: EINE THEORIE DER THEORIE...................................................... 5<br />

1 Wissenschaft nach der pluralistischen Wende................. 7<br />

1.1 Paradigmen in der Wissenschaft ........................................... 7<br />

1.2 Prämissen des relational-konstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramms.................................................... 11<br />

1.2.1 Grundannahmen ...................................................... 12<br />

1.2.2 Gütekriterien............................................................. 18<br />

1.3 Zusammenfassung: <strong>Eine</strong> Theorie der Theorie..................... 22<br />

2 Forschungsmethodik......................................................... 25<br />

2.1 Forschungsmethodische Implikationen................................ 25<br />

2.2 Longitudinale Prozessforschung.......................................... 28<br />

2.2.1 Beschreibung der longitudinalen<br />

Prozessforschung..................................................... 29<br />

2.2.2 Verwandte Forschungsmethoden ............................ 31<br />

2.2.2.1 Case Study Research ................................................31<br />

2.2.2.2 Ethnographie..............................................................33<br />

2.2.2.3 Aktionsforschung........................................................36<br />

2.3 Zusammenfassung: Vorgehensheuristik.............................. 39<br />

TEIL II: EINE THEORIE DER PRAXIS....................................................... 41<br />

3 <strong>Organisation</strong>stheorie <strong>als</strong> eine Theorie der Praxis .......... 42<br />

3.1 <strong>Organisation</strong>stheorie: <strong>Eine</strong> Bestandesaufnahme................. 43<br />

3.2 Postmoderne Entwicklung der <strong>Organisation</strong>stheorie ........... 46<br />

3.2.1 Postmodern? <strong>Eine</strong> Begriffsklärung........................... 46<br />

3.2.2 Postmodernes <strong>Organisation</strong>sverständnis ................ 47<br />

3.3 Zusammenfassung: Der Verlust der Gewissheit.................. 57<br />

vii


4 Konturen einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> .......... 61<br />

4.1 Kernbegriffe einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> ........... 62<br />

4.1.1 Strukturen und Prozesse.......................................... 62<br />

4.1.2 Politik und Macht...................................................... 67<br />

4.1.2.1 Politik..........................................................................69<br />

4.1.2.2 Macht .........................................................................74<br />

4.1.2.3 Politik und Macht:<br />

<strong>Eine</strong> relational-konstruktivistische (Re-)Definition......79<br />

4.1.3 Zusammenfassung: Das Grundgerüst<br />

einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> .................... 83<br />

4.2 Bausteine einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>............... 86<br />

4.2.1 <strong>Die</strong> Theorie der Strukturierung <strong>von</strong> Giddens............ 87<br />

4.2.1.1 Kernaussagen der Theorie der Strukturierung...........88<br />

4.2.1.2 Relational-konstruktivistische Würdigung<br />

der Theorie der Strukturierung ...................................96<br />

4.2.2 <strong>Die</strong> Sozialpsychologie des Organisierens<br />

<strong>von</strong> Hosking und Morley......................................... 101<br />

4.2.2.1 Kernaussagen der Sozialpsychologie des<br />

Organisierens...........................................................102<br />

4.2.2.2 Relational-konstruktivistische Würdigung<br />

der Sozialpsychologie des Organisierens ................106<br />

4.2.3 <strong>Die</strong> Zwänge kollektiven Handelns<br />

<strong>von</strong> Crozier und Friedberg ..................................... 108<br />

4.2.3.1 Kernaussagen des Spiel-Konzepts..........................111<br />

4.2.3.2 Relational-konstruktivistische Würdigung<br />

des Spiel-Konzepts ..................................................119<br />

5 <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong>............................... 124<br />

5.1 Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> Konzept<br />

einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>.............................. 124<br />

5.2 Kernelemente des <strong>Handlungssystem</strong>s .............................. 129<br />

5.2.1 Verhandlungsprozess des Organisierens .............. 129<br />

5.2.2 Strukturmodalitäten des Organisierens.................. 131<br />

5.2.3 Bezugsfähigkeiten des Organisierens.................... 133<br />

5.3 Zusammenfassung:<br />

<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> ................................... 138<br />

viii


TEIL III: SPUREN DER THEORIE IN DER PRAXIS................................. 143<br />

6 <strong>Die</strong> Erforschung der Praxis............................................. 145<br />

6.1 Forschungsdesign und -prozess<br />

des Dissertationsprojekts................................................... 145<br />

6.1.1 Forschungsziel, Forschungsfragen,<br />

Forschungsteam..................................................... 145<br />

6.1.2 Forschungsort und zeitlicher Bezugsrahmen......... 147<br />

6.1.3 Forschungsprozess................................................ 148<br />

6.1.4 Feldbeziehungen und Forschungstechniken ......... 155<br />

6.1.5 Dokumentation ....................................................... 158<br />

6.1.6 Ausarbeitung und Plausibilisierung ........................ 162<br />

6.2 Fragen an die Praxis.......................................................... 165<br />

7 Der Kontext <strong>von</strong> Helvetia Patria ..................................... 170<br />

7.1 Externer Kontext: <strong>Die</strong> Versicherungsbranche.................... 170<br />

7.1.1 Versicherungen <strong>als</strong> Gefahrengemeinschaft ........... 170<br />

7.1.2 Auf der Suche nach einem neuen<br />

Selbstverständnis................................................... 171<br />

7.2 Interner Kontext: Firmenprofil <strong>von</strong> Helvetia Patria ............. 173<br />

7.2.1 Zahlenmässige Eckwerte ....................................... 175<br />

7.2.1.1 Eckwerte des Schweizer Versicherungsmarkts .......175<br />

7.2.1.2 Eckwerte der Helvetia Patria Gruppe.......................177<br />

7.2.1.3 Eckwerte der Helvetia Patria Schweiz .....................178<br />

7.2.2 Leitbild und Strategie.............................................. 179<br />

7.2.3 Chronologie der Firmenentwicklung....................... 182<br />

7.2.3.1 Das Projekt SABA....................................................184<br />

7.2.3.2 Das Projekt Tempo ..................................................186<br />

7.2.3.3 Das Projekt Dynamo ................................................191<br />

8 Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria ................... 196<br />

8.1 Beschreibung des <strong>Handlungssystem</strong>s............................... 197<br />

8.1.1 Externer Kontext..................................................... 199<br />

8.1.2 Strukturmodalitäten ................................................ 202<br />

8.1.2.1 Interpretative Schemata...........................................202<br />

8.1.2.2 Normen ....................................................................206<br />

ix


8.1.2.3 Ressourcen..............................................................208<br />

8.1.2.4 Zusammenfassung...................................................211<br />

8.1.3 Bezugsfähigkeiten.................................................. 212<br />

8.1.3.1 (Re-)Konstruktionsfähigkeit......................................212<br />

8.1.3.2 Rationalisierungsfähigkeit ........................................215<br />

8.1.3.3 Routinisierungsfähigkeit...........................................216<br />

8.1.3.4 Zusammenfassung...................................................218<br />

8.1.4 Verhandlungsprozess des Organisierens .............. 219<br />

8.1.4.1 Kognitive Prozesse ..................................................219<br />

8.1.4.2 Politische Prozesse..................................................221<br />

8.1.4.3 Soziale Praktiken .....................................................222<br />

8.1.4.4 Zusammenfassung...................................................223<br />

8.1.5 Dialectic of Control ................................................. 224<br />

8.1.5.1 Abhängigkeiten im <strong>Handlungssystem</strong>......................225<br />

8.1.5.2 Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s .....................229<br />

8.2 Historische Rekonstruktion des <strong>Handlungssystem</strong>s .......... 234<br />

8.2.1 Das Projekt SABA .................................................. 234<br />

8.2.1.1 Auslöser und Ziele ...................................................234<br />

8.2.1.2 Prozess ....................................................................236<br />

8.2.1.3 Schlussfolgerungen..................................................241<br />

8.2.2 Das Projekt Tempo................................................. 243<br />

8.2.2.1 Auslöser und Ziele ...................................................243<br />

8.2.2.2 Prozess ....................................................................245<br />

8.2.2.3 Schlussfolgerungen..................................................249<br />

8.3 Intervention und Veränderung des <strong>Handlungssystem</strong>s ..... 252<br />

8.3.1 Das Projekt Dynamo .............................................. 253<br />

8.3.1.1 Auslöser und Ziele ...................................................253<br />

8.3.1.2 Prozess und Ergebnisse ..........................................255<br />

8.3.1.3 Schlussfolgerungen..................................................259<br />

8.4 Zukünftige Entwicklung des <strong>Handlungssystem</strong>s................ 264<br />

TEIL IV: SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR THEORIE UND PRAXIS ....... 269<br />

9 <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong>:<br />

Schlussfolgerungen......................................................... 271<br />

9.1 Theoretische Bedeutung.................................................... 271<br />

9.2 Praktische Implikationen .................................................... 274<br />

x


ANHANG ..................................................................................................... 279<br />

Anhang A: Glossar der theoretischen Begriffe .................... 279<br />

Anhang B: Liste der analysierten Dokumente<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria ............................................... 289<br />

Anhang C: Liste der Forschungsaktivitäten<br />

bei Helvetia Patria ................................................ 291<br />

Anhang D: Exkurs zur Versicherungsbranche..................... 295<br />

D.1 Versicherung <strong>als</strong> integrierte <strong>Die</strong>nstleistung........................ 295<br />

D.2 Versicherungsbranche im Wandel ..................................... 297<br />

D.2.1 Deregulierung <strong>als</strong> Treiber des Wandels................. 298<br />

D.2.1.1 Deregulierung auf europäischer Ebene ...................298<br />

D.2.1.2 Deregulierung auf Schweizer Ebene........................300<br />

D.2.2 Konsequenzen der Deregulierung ......................... 304<br />

D.2.3 Blick in die Zukunft ................................................. 305<br />

D.2.3.1 Entwicklung des Versicherungsmarkts ....................305<br />

D.2.3.2 Entwicklung der Versicherungsleistung ...................306<br />

LITERATURVERZEICHNIS .......................................................................... 309<br />

xi


ABBILDUNGSVERZEICHNIS<br />

Abbildung 1: Aufbau der Dissertation ........................................................... 3<br />

Abbildung 2: Einheit in der Wissenschaft.................................................... 10<br />

Abbildung 3: Grundannahmen des relational-konstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramms...................................................... 13<br />

Abbildung 4: Gütekriterien der interpretativen Wissenschaftstheorie ......... 19<br />

Abbildung 5: Plausibilisierungsmatrix ......................................................... 20<br />

Abbildung 6: Eckpunkte der relational-konstruktivistischen<br />

Forschungsmethodik.............................................................. 25<br />

Abbildung 7: Perspektiven der longitudinalen Prozessforschung............... 29<br />

Abbildung 8: Vorgehensheuristik der Prozessforschung ............................ 39<br />

Abbildung 9: Überblick über traditionelle <strong>Organisation</strong>stheorien ................ 44<br />

Abbildung 10: Eckpfeiler eines postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnisses<br />

....................................................................... 49<br />

Abbildung 11: Vergleich <strong>von</strong> verschiedenen Politik-Begriffen....................... 70<br />

Abbildung 12: Vergleich <strong>von</strong> verschiedenen Macht-Begriffen ...................... 76<br />

Abbildung 13: Politik und Macht <strong>als</strong> soziale Fähigkeiten .............................. 79<br />

Abbildung 14: Zusammenhang <strong>von</strong> Politik, Macht und Herrschaft ............... 81<br />

Abbildung 15: Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>............. 83<br />

Abbildung 16: Dualität <strong>von</strong> Struktur .............................................................. 89<br />

Abbildung 17: Dimensionen <strong>von</strong> Struktur...................................................... 91<br />

Abbildung 18: Relational-konstruktivistische Überarbeitung der<br />

Dimensionen und Dualität <strong>von</strong> Struktur ................................. 98<br />

Abbildung 19: Vermittlungsfunktion der Strukturmodalitäten...................... 100<br />

Abbildung 20: <strong>Die</strong> drei Elemente des Verhandlungsprozesses des<br />

Organisierens....................................................................... 104<br />

Abbildung 21: Verhandlungsprozess des Organisierens <strong>als</strong><br />

Vermittler zwischen Struktur und Handlung......................... 107<br />

Abbildung 22: Das Spiel <strong>als</strong> Mechanismus sozialer Organisierung............ 116<br />

Abbildung 23: Ermöglichende und einschränkende Funktion der<br />

Bezugsfähigkeiten................................................................ 118<br />

xiii


Abbildung 24: Bezugsfähigkeiten <strong>als</strong> weiteres Element der<br />

Vermittlung zwischen Struktur und Handlung ...................... 120<br />

Abbildung 25: Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> Konzept einer<br />

<strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>......................................... 127<br />

Abbildung 26: Macht und Politik <strong>als</strong> Grundlage des Vermittlungsprozesses<br />

zwischen Struktur und Handlung im<br />

<strong>Handlungssystem</strong>................................................................. 128<br />

Abbildung 27: Verhandlungsprozess des Organisierens............................ 130<br />

Abbildung 28: <strong>Die</strong> drei Dimensionen <strong>von</strong> Strukturmodalitäten.................... 132<br />

Abbildung 29: <strong>Die</strong> drei Dimensionen <strong>von</strong> Bezugsfähigkeiten ..................... 134<br />

Abbildung 30: Mix und Zusammenspiel der Bezugsfähigkeiten ................. 135<br />

Abbildung 31: Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> rekursive Erzeugung<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>.................................................................. 141<br />

Abbildung 32: <strong>Organisation</strong> des Forschungsprojekts ................................. 146<br />

Abbildung 33: Zeitplan des Forschungsprojekts ......................................... 149<br />

Abbildung 34: Forschungsphasen und Forschungsfokus des<br />

Forschungsprojekts.............................................................. 150<br />

Abbildung 35: Forschungsaktivitäten je Forschungsphase......................... 152<br />

Abbildung 36: Forschungstechniken je Phase............................................ 157<br />

Abbildung 37: Struktur des Forschungsprotokolls ...................................... 159<br />

Abbildung 38: Eintrag in der Forschungsdatenbank ................................... 161<br />

Abbildung 39: Fragenraster zum theoretischen Bezugsrahmen................. 167<br />

Abbildung 40: Fragenraster zu relevanten Themen und Ereignissen......... 168<br />

Abbildung 41: Codierschema zur Auswertung des<br />

empirischen Materi<strong>als</strong> .......................................................... 168<br />

Abbildung 42: Versicherungslogik versus Wirtschaftslogik......................... 172<br />

Abbildung 43: Rechtsstruktur der Helvetia Patria Gruppe .......................... 174<br />

Abbildung 44: Prämien nach Hauptbranchen<br />

Versicherungsmarkt Schweiz............................................... 176<br />

Abbildung 45: Konzentration im Schweizer Versicherungsmarkt ............... 176<br />

Abbildung 46: Entwicklung Prämienvolumen Helvetia Patria<br />

Gruppe und Schweiz............................................................ 177<br />

Abbildung 47: Entwicklung Beschäftigungszahlen Helvetia Patria<br />

Gruppe und Schweiz............................................................ 178<br />

xiv


Abbildung 48: Prämien nach Hauptbranchen Helvetia Patria Schweiz ...... 178<br />

Abbildung 49: Verteilung Leben-Prämien Helvetia Patria Schweiz ............ 179<br />

Abbildung 50: Verteilung der Nichtleben-Prämien<br />

Helvetia Patria Schweiz ....................................................... 179<br />

Abbildung 51: Strategische Erfolgspotenziale Helvetia Patria Schweiz...... 181<br />

Abbildung 52: Strategische Stossrichtung der Helvetia Patria Schweiz ..... 181<br />

Abbildung 53: Von der Partnerschaft zur Holding....................................... 183<br />

Abbildung 54: Projektziele <strong>von</strong> Tempo ....................................................... 187<br />

Abbildung 55: <strong>Die</strong> drei Handlungsfelder <strong>von</strong> Tempo .................................. 188<br />

Abbildung 56: <strong>Organisation</strong>sstruktur nach Tempo...................................... 190<br />

Abbildung 57: Ziele des Projekts Dynamo .................................................. 191<br />

Abbildung 58: <strong>Die</strong> 12 Dynamo-Programme ................................................ 193<br />

Abbildung 59: <strong>Organisation</strong>sstruktur nach Dynamo.................................... 194<br />

Abbildung 60: Rekonstruktion und Interpretation<br />

des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria......................... 197<br />

Abbildung 61: Erkundung des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria ...... 198<br />

Abbildung 62: Kontext des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria ........... 201<br />

Abbildung 63: Strukturmodalitäten des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria............................................................... 211<br />

Abbildung 64: Bezugsfähigkeiten des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria............................................................... 219<br />

Abbildung 65: Verhandlungsprozesse des Organisierens<br />

des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria......................... 224<br />

Abbildung 66: Empirische Evidenz des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria............................................................... 225<br />

Abbildung 67: Einfluss der Strukturmodalitäten .......................................... 226<br />

Abbildung 68: Einfluss der Bezugsfähigkeiten............................................ 227<br />

Abbildung 69: Einfluss des Verhandlungsprozesses des Organisierens.... 228<br />

Abbildung 70: Entwicklungstendenz des <strong>Handlungssystem</strong>s ..................... 230<br />

Abbildung 71: Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria.. 231<br />

Abbildung 72: <strong>Die</strong> Anfänge des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria.... 241<br />

Abbildung 73: <strong>Die</strong> Verfestigung des <strong>Handlungssystem</strong>s durch Tempo...... 250<br />

Abbildung 74: Veränderungsimpulse <strong>von</strong> Dynamo auf<br />

das <strong>Handlungssystem</strong>.......................................................... 261<br />

xv


Abbildung 75: Erneuerungsfähigkeit <strong>als</strong> Gleichgewicht zwischen<br />

politischen Prozessen und machtvollen Strukturen ............. 276<br />

Abbildung 76: Das 3-Ebenen-Konzept des Versicherungsprodukts........... 296<br />

Abbildung 77: Drei Etappen auf dem Weg zum EU-<br />

Versicherungsbinnenmarkt .................................................. 299<br />

Abbildung 78: Deregulierungsschritte in der Schweizer Assekuranz.......... 302<br />

Abbildung 79: Konsequenzen der Deregulierung ....................................... 304<br />

Abbildung 80: Blick in die Zukunft der Assekuranz..................................... 306<br />

xvi


ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS<br />

A Kundenbereich Anlage<br />

AD Aussendienst<br />

CH Schweiz<br />

CHF Schweizer Franken<br />

EU Europäische Union<br />

e&VP Marktbereich e-Business/Vertragspartner<br />

GA Generalagentur<br />

HPV Helvetia Patria Versicherungen<br />

HS Hauptsitz<br />

ID Innendienst<br />

KB Kundenbereich<br />

L Leben<br />

MB Marktbereich<br />

NL Nichtleben<br />

Marktbereich Nichtleben<br />

PG Kundenbereich Privatpersonen/Gewerbe<br />

U Kundenbereich Unternehmen<br />

VM Vertriebsmanagement<br />

VP Kundenbereich Vertragspartner<br />

Marktbereich Vorsorge Privat<br />

VU Marktbereich Vorsorge Unternehmen<br />

xvii


ANMERKUNG<br />

<strong>Die</strong> vorliegende Dissertation handelt <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Nicht <strong>von</strong> der<br />

<strong>Organisation</strong> oder <strong>von</strong> den <strong>Organisation</strong>en, sondern <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> - auch<br />

wenn sie manchmal <strong>von</strong> der oder <strong>von</strong> den <strong>Organisation</strong>en spricht.<br />

Das ist ein feiner, aber weit reichender Unterschied.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong>(en) (mit Artikel, Einzahl oder Mehrzahl) steht für das, was<br />

einem üblicherweise in den Sinn kommt, wenn man das Wort liest: ein<br />

Unternehmen, eine Verwaltung, ein Verein. Kurz: ein Gebilde, eine handfeste<br />

Tatsache. Etwas, das wahrnehmbar ist <strong>als</strong> eigenständiges Objekt und<br />

<strong>Organisation</strong> genannt wird, weil es eine <strong>Organisation</strong> hat.<br />

<strong>Organisation</strong> (ohne Artikel, stets in Einzahl) steht für das, was sich hinter der<br />

<strong>Organisation</strong> verbirgt. Es ist ein Geschehen, ein Prozess und hat keine<br />

objektive Existenz ausserhalb dieses Geschehens. <strong>Organisation</strong> besteht nur<br />

im kontinuierlichen Vollzug, <strong>Organisation</strong> wird.<br />

<strong>Die</strong>ser kontinuierliche Vollzug <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> geschieht in organisationalen<br />

Prozessen. Damit sind nicht die Geschäftsprozesse des Business Process<br />

Reengineering gemeint. Der hier verwendete Prozessbegriff hat keinen<br />

organisatorischen Aspekt (Ablauforganisation), sondern einen zeitlichen. Mit<br />

dem Begriff Prozess sind temporalisierte soziale Ereignissequenzen gemeint,<br />

das heisst die historische Abfolge <strong>von</strong> Ereignissen, Kommunikationen und<br />

Interaktionen im kontinuierlichen Alltagsstrom der organisationalen Wirklichkeit<br />

(vgl. dazu den Prozessbegriff <strong>von</strong> Van de Ven 1992, S. 170).<br />

Soweit zu der grundlegenden Betrachtungsperspektive der vorliegenden<br />

Dissertation. Weitere theoretische Begriffsbestimmungen finden sich im<br />

Glossar in Anhang A.<br />

xix


EINLEITUNG<br />

<strong>Die</strong>se Dissertation ist Teil des Forschungsprojekts Learning Dynamics 1 , das<br />

unter der Leitung <strong>von</strong> Prof. Dr. Johannes Rüegg-Stürm vom Herbst 1998 bis<br />

Ende 2001 am Institut für Betriebswirtschaft der Universität St. Gallen geplant<br />

und durchgeführt worden ist.<br />

Das Ziel des Forschungsprojekts war es, eine Antwort auf die Frage zu finden,<br />

was <strong>Organisation</strong>en erneuerungsfähig macht, denn in Zeiten der „hypercompetition“<br />

ist die fortlaufende dynamische Erneuerung zu einem zentralen<br />

Faktor für den Erfolg und den längerfristigen Bestand jeder <strong>Organisation</strong><br />

geworden (Ilinitch/D'Aveni/et al. 1996).<br />

Aus dem Forschungsprojekt sind insgesamt fünf Dissertationen entstanden,<br />

die sich aus je einer anderen Perspektive mit der Beantwortung dieser Frage<br />

befasst haben. 2 <strong>Die</strong> vorliegende Dissertation hat sich auf die Suche nach den<br />

Wurzeln <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> gemacht. Denn um die Frage zu beantworten, was<br />

<strong>Organisation</strong>en erneuerungsfähig macht, muss zuerst mal geklärt werden, wie<br />

<strong>Organisation</strong> überhaupt entsteht und wie sie sich reproduziert bzw. erneuert.<br />

Aus diesem gewonnenen Verständnis können dann Hinweise darauf abgeleitet<br />

werden, was <strong>Organisation</strong>en erneuerungsfähig macht.<br />

Aus einer relational-konstruktivistischen Perspektive ist dabei <strong>von</strong> zwei<br />

grundlegenden Annahmen auszugehen: Erstens, dass <strong>Organisation</strong>en nicht<br />

gemacht werden, sondern sich selber machen. Zweitens, dass <strong>Organisation</strong>en<br />

nicht einfach sind, sondern kontinuierlich werden. 3 Es braucht demnach eine<br />

<strong>Erklärung</strong>, die <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> rekursives Phänomen organisierten Handelns<br />

deutet. <strong>Die</strong> theoretische Suche richtet sich somit auf die realitätsschaffenden<br />

und realitätserhaltenden Prozesse des Organisierens. Dabei müssen strukturdeterministische<br />

und handlungsvoluntaristische Elemente berücksichtigt und in<br />

einem integrierten theoretischen Ansatz miteinander verwoben werden. Das<br />

Ergebnis wird eine <strong>duale</strong> Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> sein, die sowohl die<br />

1 Für eine allgemeine Beschreibung des Forschungsprojekts vgl. Learning Dynamics 1999.<br />

2<br />

Neben der vorliegenden Dissertation sind das: Fischer 2002, Mühlbach 2003, Schumacher 2003<br />

und Young 2003.<br />

3<br />

Vgl. dazu die Ausführungen zum verwendeten <strong>Organisation</strong>sbegriff in der Anmerkung auf Seite<br />

xix oder im Glossar in Anhang A.<br />

1


EINLEITUNG<br />

Kontingenz <strong>als</strong> auch die Zwangsläufigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> beschreibt und<br />

erklärt.<br />

<strong>Die</strong> Lösung, die die vorliegende Dissertation vorschlägt, liegt darin,<br />

<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> zu verfassen. Kernstück dieses theoretischen<br />

Denkmodells ist der kontinuierliche, rekursive Vermittlungsprozess<br />

zwischen Struktur und Handlung. In dem Zwischenraum zwischen Struktur<br />

und Handlung entfaltet sich der gesamte organisationale Möglichkeitsraum.<br />

<strong>Die</strong> Strukturierung und Strukturiertheit dieses Möglichkeitsraums setzen die<br />

Bedingungen für das Entstehen und Bestehen und letztlich auch für die<br />

Erneuerung und Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Das Konzept des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s bietet eine <strong>Erklärung</strong> dafür an, wie diese Strukturierung<br />

und Strukturiertheit des organisationalen Möglichkeitsraums theoretisch gedacht<br />

werden kann. Jenseits aller Patentrezepte erhält man so ein tiefer<br />

gehendes Verständnis dafür, wie <strong>Organisation</strong>en funktionieren und gewinnt<br />

neue Einsichten zur Frage, was die Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en<br />

ausmacht.<br />

<strong>Die</strong> Dissertation ist wie folgt aufgebaut (vgl. Abbildung 1):<br />

• Teil I<br />

Beschreibung der wissenschaftstheoretischen und forschungsmethodischen<br />

Grundlagen.<br />

• Teil II<br />

Entwicklung einer theoretischen Skizze <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong><br />

<strong>Handlungssystem</strong>, die erklärt, wie <strong>Organisation</strong> rekursiv aus dem<br />

Vermittlungsprozess zwischen Struktur und Handlung entsteht<br />

und besteht.<br />

• Teil III<br />

Beschreibung der empirischen Suche nach Spuren eines<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s und Präsentation der Ergebnisse.<br />

• Teil IV<br />

Theoretische und praktische Schlussfolgerungen für die<br />

Erneuerung und Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en.<br />

2


Teil / Kapitel<br />

Einleitung<br />

Teil I:<br />

1<br />

<strong>Eine</strong><br />

Theorie der<br />

Theorie 2<br />

Teil II:<br />

<strong>Eine</strong><br />

Theorie der<br />

Praxis<br />

Teil III:<br />

Spuren der<br />

Theorie in<br />

der Praxis<br />

Teil IV:<br />

Schlussfolgerungen<br />

Anhang<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

Forschungs-<br />

methodik<br />

Forschungsmethodische<br />

Grundlagen<br />

Forschungsdesign<br />

Verzeichnis der<br />

Dokumente und<br />

Forschungsaktivitäten<br />

Wissenschafts-<br />

theorie<br />

3<br />

<strong>Organisation</strong>s-<br />

theorie<br />

Ziel und Aufbau der Dissertation<br />

Wissenschaftstheoretische<br />

Ausrichtung<br />

<strong>Organisation</strong>stheoretische<br />

Fundierung<br />

<strong>Organisation</strong><br />

<strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong><br />

Theoretische<br />

Bedeutung<br />

Glossar der<br />

theoretischen<br />

Begriffe<br />

Abbildung 1: Gliederung und Inhalt der Dissertation<br />

EINLEITUNG<br />

<strong>Organisation</strong>spraxis<br />

Das <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong><br />

Helvetia Patria<br />

Praktische<br />

Implikationen<br />

Exkurs zur<br />

Versicherungsbranche


EINLEITUNG<br />

Lesern und Leserinnen, die eher ein praxisorientiertes und weniger ein<br />

wissenschaftliches Interesse haben, werden folgende Kapitel empfohlen:<br />

Kapitel 5, 7, 8 und 9.2. Unter Zuhilfenahme des theoretischen Glossars in<br />

Anhang A sollte es ihnen möglich sein, sich auch ohne die vorgängige Lektüre<br />

der einleitenden wissenschafts- und organisationstheoretischen Kapitel im<br />

Konzept des <strong>Handlungssystem</strong>s zurecht zu finden.<br />

Kommentare und Feedback erreichen die Autorin dieser Dissertation per E-<br />

Mail unter folgender Adresse: judith.schuetz@alumni.unisg.ch.<br />

4


TEIL I: EINE THEORIE DER THEORIE<br />

<strong>Die</strong> Zukunft der Geisteswissenschaften liegt<br />

in einer neuen Form <strong>von</strong> Transdisziplinarität,<br />

deren Gegenstand die kulturelle Form der Welt<br />

und die Anstrengung sind,<br />

sich dieser Form wissenschaftlich zu vergewissern.<br />

5<br />

Jürgen Mittelstrass<br />

Wissenschaft ist keine Einheit und demzufolge gibt es auch keine<br />

Einheitswissenschaft (Spinner 1974; Primas 1992; Mittelstrass 1998; Küppers<br />

2000). Das heisst, dass sich Wissenschaft nicht einheitlich und linearkumulativ<br />

entwickelt, sondern in Brüchen und entlang verschiedenster<br />

Paradigmen (Kuhn 1962). Der Entscheid für eines dieser wissenschaftstheoretischen<br />

Paradigmen ist eine originäre Wahl, für die es keine<br />

Letztbegründung geben kann (Lakatos 1974).<br />

Das bedeutet jedoch nicht, dass „anything goes“ 4 ! Jedes wissenschaftstheoretische<br />

Paradigma 5 ist ein mehr oder weniger geschlossenes Set <strong>von</strong><br />

aufmerksamkeits- und handlungsleitenden Grundsätzen, die dem wissenschaftlichen<br />

Arbeiten einen gewissen Entwicklungskorridor abstecken (vgl.<br />

z.B. Dachler 1997a). Theorien können nur im Rahmen dieses Entwicklungskorridors<br />

konsistent erarbeitet werden und jegliche Forschungsmethode kann<br />

4<br />

Feyerabend (1975), auf den diese Aussage zurückgeht, wollte damit zum Ausdruck bringen, dass<br />

es keine privilegierte (Wissenschafts-)Theorie gibt, sondern nur die Wissenschafterin oder die<br />

Praktikerin alleine in ihrer konkreten Situation entscheiden kann, welche theoretischen Bezüge<br />

geeignet sind, ihr Denken und Handeln zu leiten.<br />

5<br />

Der Begriff Paradigma war in den letzten Jahren einem inflationären Gebrauch unterworfen, ohne<br />

dass er dabei gleichzeitig eine inhaltliche Klärung erfahren hat (vgl. Aretz 1990, S. 81f). Im<br />

Rahmen dieser Dissertation wird unter Paradigma folgendes verstanden: „… the basic belief<br />

system or worldview that guides the investigator, not only in choices of method but in<br />

ontologically and epistemologically fundamental ways.“ (Guba/Lincoln 1998, S. 195)


WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />

sich nur mit Bezug auf die zugrunde liegenden wissenschaftstheoretischen<br />

Grundlagen rechtfertigen. 6 Wissenschaft ist demnach kontextabhängig.<br />

Aufgabe des Teil I ist es, den wissenschaftstheoretischen Kontext der<br />

Dissertation einzugrenzen und zu beschreiben. Es wird <strong>als</strong>o gewissermassen<br />

die Theorie der Theorie diskutiert. Das in Teil I dargelegte wissenschaftstheoretische<br />

Paradigma bildet das Grundgerüst, auf dem in der Folge die<br />

Theorieentwicklung des Teils II und die empirische Forschungsarbeit des Teils<br />

III aufbauen.<br />

6 <strong>Die</strong>se Zusammenhänge zwischen wissenschaftstheoretischen Grundannahmen und Forschungsmethode<br />

zeigen verschiedene Autoren anschaulich auf, so z.B. Arbnor/Bjerke 1997 oder<br />

Slife/Williams 1995.<br />

6


1 WISSENSCHAFT NACH DER<br />

PLURALISTISCHEN WENDE<br />

7<br />

PARADIGMEN IN DER WISSENSCHAFT<br />

In diesem Kapitel geht es darum, die grundlegenden Perspektiven und<br />

Fragestellungen eines relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms<br />

einzuführen.<br />

1.1 Paradigmen in der Wissenschaft<br />

Marquard (2000) postuliert, dass es einen „Pluralismus der Wissenschaftskulturen“<br />

7 geben muss, denn jede Wissenschaftskultur hat zwangsläufig blinde<br />

Flecken, die zu Problemverlusten führen. Ein Pluralismus der Wissenschaftskulturen<br />

hilft, diese blinden Flecken durch einen Perspektivenwechsel zu<br />

erhellen. <strong>Die</strong> Reduktionskultur (der exakten Naturwissenschaften) ruft eine<br />

Kontinuitätskultur (der Sozial- und Geisteswissenschaften) auf den Plan, um<br />

das wieder in die Wissenschaft einzuschliessen, was durch die<br />

Reduktionskultur ausgeklammert worden ist: 8 „[W]as in der Laborwelt ausgeklammert<br />

werden muss, um zu messen und zu experimentieren, nämlich die<br />

Traditionen und Geschichten, halten die Geisteswissenschaften fest: durch die<br />

Kontinuitätskultur, indem sie jene Geschichten - Sensibilisierungsgeschichten,<br />

Bewahrungsgeschichten, Orientierungsgeschichten - erzählen, ohne die die<br />

Menschen austauschbare Erfahrungsobjekte statt ganze Menschen sind:<br />

Kittelträger in der Laborwelt statt Geschichtenbetroffene in der Lebenswelt.“<br />

(Marquard 2000, S. 63)<br />

7<br />

Der Begriff der Wissenschaftskulturen geht zurück auf Charles P. Snow, The Two Cultures and a<br />

Second Look. An Expanded Version of the Two Cultures and the Scientific Revolution.<br />

Cambridge 1964. Im Rahmen dieser Dissertation wird der Begriff der Wissenschaftskulturen<br />

gleich gesetzt mit dem Begriff des Wissenschaftsparadigma (vgl. Fussnote 5).<br />

8<br />

Mittelstrass (1982) macht Marquard den Vorwurf, den engstirnigen Monismus der <strong>von</strong> den<br />

Naturwissenschaften dominierten Wissenschaft in einen naiven Dualismus übergeführt zu haben,<br />

in denen die Geistes- und Sozialwissenschaften ihren Platz nicht mit eigenem Recht, sondern<br />

lediglich <strong>als</strong> kompensierendes Komplement zu den Naturwissenschaften einnehmen. Im weiteren<br />

kritisiert Mittelstrass, dass die übliche Zweiteilung der Wissenschaft (hier die<br />

Naturwissenschaften mit ihrem positiven Verfügungswissen, dort die Geistes- und<br />

Sozialwissenschaften mit ihrem regulativen Orientierungswissen) so nicht haltbar ist und<br />

höchstens analytisch begründet werden kann. Ich folge Mittelstrass mit beiden Kritikpunkten.<br />

Dennoch sind die (provokanten) Thesen Marquards interessant, vor allem wenn sie weniger unter<br />

dem Gesichtspunkt einer Kompensationstheorie der Geistes- und Sozialwissenschaften<br />

betrachtet, sondern mehr <strong>als</strong> Aufruf zu einer Multiperspektive in den Wissenschaften ganz<br />

allgemein verstanden werden.


WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />

Ist nun aber Geschichten erzählen Wissenschaft? Marquard ist der Meinung:<br />

Ja 9 . Und wenn es Stimmen gibt, die dagegen reden, so spricht das nach<br />

Marquard nicht gegen das Erzählen, sondern gegen ein derart eng gefasstes<br />

Wissenschaftsverständnis. Wissenschaftspluralismus ist notwendig, damit die<br />

Wissenschaft der Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit der Natur- und Lebenswelten<br />

angemessen begegnen kann.<br />

Das Auftauchen und die Verbreitung dieses neuen Wissenschaftsverständnisses<br />

(vgl. Kuhn 1962; Feyerabend 1975) hat eine pluralistische<br />

Wende 10 in der Wissenschaftstheorie eingeläutet. In der wissenschaftlichen<br />

Landschaft des 21. Jahrhunderts herrscht ein Paradigmen-Pluralismus. <strong>Die</strong><br />

übliche Einteilung der Wissenschaftskulturen in eine positivistische und eine<br />

interpretative Wissenschaftstheorie 11 hat dabei höchstens analytischen<br />

Charakter. Allein unter dem Begriff der interpretativen Wissenschaftstheorie<br />

(die hier im Rahmen dieser Dissertation interessiert) sind eine Vielzahl <strong>von</strong><br />

untereinander sehr unterschiedlichen Paradigmen zusammengefasst (vgl. z.B.<br />

Guba/Lincoln 1998).<br />

Wer heute wissenschaftlich arbeitet oder Ergebnisse wissenschaftlicher<br />

Arbeiten verwendet, tut gut daran sich bewusst zu machen, innerhalb <strong>von</strong><br />

welchem Wissenschaftsparadigma er oder sie sich bewegt - denn das<br />

Paradigma hat entscheidende Auswirkungen darauf, wie Wissenschaft sich<br />

selbst und ihre Ergebnisse versteht. „These ideas have the most profound<br />

implications for the way we view and conduct science, for they emphasize that<br />

science is basically a process of interaction, or better still, of engagement.<br />

9<br />

Und mit ihm viele andere Autoren, so z.B. Kubicek 1977; Morgan 1980; Geertz 1983; Tsoukas<br />

1989; Weick 1989b; Whetten 1989; Astley/Zammuto 1992; Tuchman 1994; Watson 1994; Van<br />

Maanen 1995b; Arbnor/Bjerke 1997; Kieser 1997.<br />

10<br />

In diesem Zusammenhang wird häufig auch <strong>von</strong> der erkenntnistheoretischen Wende, der<br />

interpretativen Wende, der postmodernen Wende oder dem linguistic turn gesprochen. Ich ziehe<br />

jedoch den Begriff der pluralistischen Wende vor, weil dadurch deutlich wird, dass es sich nicht<br />

bloss um einen Wechsel <strong>von</strong> einem wissenschaftlichen Monismus hin zu einem Dualismus<br />

handelt. Es haben sich nämlich unter dem Oberbegriff der positivistischen bzw. der<br />

interpretativen Wissenschaftstheorie nicht nur zwei, sondern eine Vielzahl <strong>von</strong> neuen<br />

wissenschaftstheoretischen Prämissen entwickelt (vgl. z.B. alleine die unterschiedlichen Formen<br />

des Konstruktivismus, dargestellt in Kieser 1999a, oder die unterschiedlichen Radikalität des<br />

postmodernen Verständnisses, dargestellt in Kilduff/Mehra 1997).<br />

11<br />

<strong>Die</strong> beiden Wissenschaftstheorien werden üblicherweise wie folgt charakterisiert (vgl. z.B.<br />

Putman 1983; Lamnek 1988; Schwandt 1998):<br />

positivistische Wissenschaftstheorie: objektivistisch, nomothetisch, ahistorisch, experimentell<br />

interpretative Wissenschaftstheorie: konstruktivistisch, idiographisch, historisierend,<br />

ethnographisch<br />

8


9<br />

PARADIGMEN IN DER WISSENSCHAFT<br />

Scientists engage a subject of study by interacting with it through means of a<br />

particular frame of reference, and what is observed and discovered in the<br />

object (i.e. its objectivity) is as much a product of this interaction and the<br />

protocol and technique through which it is operationalized as it is of the object<br />

itself. Moreover, since it is possible to engage an object of study in different<br />

ways - just as we might engage an apple by looking at it, feeling it, or eating it -<br />

we can see that the same object is capable of yielding many different kinds of<br />

knowledge. This leads us to see knowledge as a potentiality resting in an<br />

object of investigation and to see science as being concerned with the<br />

realization of potentialities - of possible knowledges.” (Morgan 1983, S. 13)<br />

Sich und anderen darüber Rechenschaft abzulegen, im Rahmen <strong>von</strong> welchem<br />

Wissenschaftsparadigma gearbeitet wird, ist deshalb eine Grundvoraussetzung<br />

dafür, um erstens überhaupt in einen wissenschaftlichen Dialog<br />

eintreten zu können und zweitens die wissenschaftlichen Aussagen und<br />

Ergebnisse angemessen beurteilen zu können.<br />

<strong>Die</strong> verschiedenen Wissenschaftsparadigmen sind untereinander jedoch<br />

häufig widersprüchlich bis unvereinbar. 12 Kuhn (1962) spricht <strong>von</strong> der<br />

Inkommensurabilität der Paradigmen. Für den Fall, dass zwei<br />

inkommensurable Paradigmen miteinander in Konkurrenz stehen, gibt es nach<br />

Kuhn keine Kriterien, mit denen die Vorzüge des einen Paradigmas gegenüber<br />

dem anderen objektiv gemessen oder begründet werden könnten. Lakatos<br />

(1974) spricht vom „harten Kern“ eines Wissenschaftsparadigmas, dessen<br />

theoretische Prämissen nicht in Frage gestellt werden können. <strong>Die</strong> Wahl eines<br />

Wissenschaftsparadigmas kann demnach nicht durch ein systematisches<br />

Entscheidungsverfahren erfolgen, sondern ist ein originärer Entscheid der<br />

Wissenschafterin. Für diesen Entscheid gibt es keine Letztbegründung, nur<br />

„gute, evidente und nachvollziehbare Gründe“ (Rüegg-Stürm 2001, S. 16).<br />

Jede wissenschaftliche Arbeit muss daher immer mit einer „reflexiven<br />

Selbstbeschreibung“ (vgl. Chia 1996b) anfangen, das heisst der detaillierten<br />

12 Vgl. z.B. die unvereinbaren Paradigmen des radikalen und des relationalen Konstruktivismus, die<br />

jedoch beide unter die interpretative Wissenschaftstheorie fallen. Während der radikale<br />

Konstruktivismus <strong>von</strong> einer individualistisch-kognitiven Konstruktion der sozialen Welt ausgeht<br />

(vgl. z.B. <strong>von</strong> Glasersfeld 1995), betont der relationale Konstruktivismus im Gegenteil gerade ihre<br />

kollektiv-soziale Dimension (vgl. z.B. Burr 1995; Gergen 2002). Im Englischen haben sich daher<br />

für den Begriff Konstruktivismus zwei unterschiedliche Bezeichnungen herausgebildet:<br />

constructivism für seine individualistisch-kognitive Erscheinungsform und constructionism für<br />

seine kollektiv-soziale Erscheinungsform.


WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />

und begründeten Darlegung des verfolgten Wissenschaftsprogramms. Über<br />

die Wahl und die guten Gründe der wissenschaftstheoretischen Prämissen der<br />

vorliegenden Dissertation wird das folgende Kapitel 1.2 Auskunft geben.<br />

Auch wenn es mittlerweile offensichtlich geworden sein muss, dass es keine<br />

Einheitswissenschaft (mehr) gibt, so gibt es doch eine Einheit in der<br />

Wissenschaft. Mittelstrass nennt sie die „methodische Einheit“ (1998, S. 35ff).<br />

Das heisst, dass jedes Wissenschaftsparadigma in sich eine Einheit ist.<br />

Wissenschaftstheoretische Prämissen, theoretischer Bezugsrahmen und<br />

Forschungsmethodik eines Wissenschaftsparadigmas bauen aufeinander auf<br />

und bilden ein mehr oder weniger geschlossenes Wissenschaftsprogramm<br />

(vgl. Abbildung 2). In diesem Sinne verstanden formt jedes Wissenschaftsparadigma<br />

je eine methodische Einheit der Wissenschaft. Wir können <strong>als</strong>o<br />

genau genommen nicht <strong>von</strong> der Einheit der Wissenschaft reden, sondern nur<br />

<strong>von</strong> den Einheiten.<br />

Wissenschaftsprogramm<br />

A<br />

Forschungsmethodik<br />

(Prozess und<br />

Techniken)<br />

Theoretischer<br />

Bezugsrahmen<br />

(anwendungsorientierte<br />

Theorien, Konzepte<br />

oder Modelle)<br />

Wissenschaftstheoretische Prämissen<br />

(Epistemologie, Ontologie)<br />

Abbildung 2: Einheit in der Wissenschaft<br />

10<br />

Wissenschaftsprogramm<br />

X<br />

In den meisten wissenschaftlichen Methodenwerken ist dieser Zusammenhang<br />

kurz andiskutiert, doch nicht immer wird der Tragweite dieser<br />

Verschränkung - insbesondere zwischen Wissenschaftstheorie und<br />

Forschungsmethodik - in voller Konsequenz Rechnung getragen. 13<br />

13<br />

Vgl. dazu exemplarisch den Austausch <strong>von</strong> Eisenhardt (1989, 1991) mit Dyer und Wilkins (1991)<br />

zum Thema Case Study Research.


PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />

Für die vorliegende Dissertation soll die Einheit des gewählten relationalkonstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramms wie folgt dargelegt und<br />

eingehalten werden:<br />

• Wissenschaftstheoretische Prämissen<br />

Sie sind die ontologischen und epistemologischen Grundannahmen<br />

wissenschaftlichen Arbeitens. 14 <strong>Die</strong> wissenschaftstheoretischen<br />

Prämissen der vorliegenden Dissertation werden<br />

in Kapitel 1.2 offen gelegt.<br />

• Theoretischer Bezugsrahmen<br />

Er umfasst die anwendungsorientierten Theorien und Konzepte<br />

und konkretisiert die wissenschaftstheoretischen Prämissen<br />

hinsichtlich ihrer Bedeutung für praktische Phänomene des<br />

Alltags. Der organisationstheoretische Bezugsrahmen der vorliegenden<br />

Dissertation wird in Teil II hergeleitet.<br />

• Forschungsmethodik<br />

Sie umfasst alle im Rahmen der wissenschafts- und<br />

anwendungstheoretischen Prämissen und Konzepte legitimen<br />

und akzeptierten Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten der<br />

Forschung sowie die dabei einsetzbaren Instrumente. <strong>Die</strong><br />

forschungsmethodischen Grundlagen der vorliegenden<br />

Dissertation werden in Kapitel 2 und das konkrete Vorgehen in<br />

Kapitel 6 beschrieben.<br />

1.2 Prämissen des relationalkonstruktivistischenWissenschaftsprogramms<br />

Der Pluralismus der Wissenschaftsparadigmen bedeutet Freiraum und Zwang<br />

zugleich für die Wissenschafterin. Freiraum, weil der Pluralismus ihr die Wahl<br />

des Wissenschaftsprogramms offen lässt. Zwang, weil die Wissenschafterin<br />

sich für ein Wissenschaftsprogramm entscheiden muss, um überhaupt<br />

14 Ontologie ist die Lehre <strong>von</strong> dem, wie die Realität ist, <strong>als</strong>o vom Sein. Was in der Ontologie<br />

interessiert, sind die Zustände und die beschreibenden Attribute der Wirklichkeit. Epistemologie<br />

ist die Lehre <strong>von</strong> der Entstehung <strong>von</strong> Erkenntnis, <strong>als</strong>o vom Werden. Was in der Epistemologie<br />

interessiert, sind die Prozesse und die benutzten Unterscheidungen, aus denen Wissen sich<br />

formt.<br />

11


WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />

arbeitsfähig zu sein. „It is only when commitments are made to a given<br />

theoretical perspective … that research can be mounted and methods<br />

selected.” (Gergen/Thatchenkery 1996, S. 363)<br />

<strong>Die</strong> vorliegende Dissertation reiht sich ein in die Tradition der Universität<br />

St. Gallen, <strong>Organisation</strong>en <strong>als</strong> soziale Systeme zu verstehen und unter dieser<br />

Prämisse zu forschen. Daraus erwachsen zwei fundamentale Konsequenzen:<br />

Erstens verlangt der systemische Ansatz, eine strikt relationale Perspektive<br />

einzunehmen, das heisst <strong>Organisation</strong>en <strong>als</strong> Abfolge <strong>von</strong> sozialen Prozessen<br />

zu betrachten, und nicht <strong>als</strong> formale Struktur, konstituiert durch<br />

Organigramme, Aufgabenbeschreibungen, Prozesshandbücher und ähnliches.<br />

Zweitens folgt daraus, <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> sozial konstruiert zu betrachten, das<br />

heisst <strong>als</strong> ein Phänomen, das keine objektive, unabhängige Bedeutung hat<br />

ausserhalb des Kontexts der sozialen Prozesse, die das Phänomen<br />

<strong>Organisation</strong> begründen und reproduzieren. <strong>Die</strong>se beiden Prämissen bilden<br />

die wissenschaftstheoretischen Eckpunkte der vorliegenden Dissertation. Das<br />

Wissenschaftsprogramm der Dissertation wird deshalb relationalkonstruktivistisches<br />

Wissenschaftsprogramm genannt. Im folgenden Kapitel<br />

1.2.1 werden die wissenschaftstheoretischen Grundannahmen dieses<br />

relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms 15 genauer vorgestellt.<br />

1.2.1 Grundannahmen<br />

<strong>Die</strong> Inhalte des relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms<br />

lassen sich am besten anhand der Gegenüberstellung und Diskussion<br />

verschiedener Begriffspaare deutlich machen (vgl. Abbildung 3). <strong>Die</strong>se<br />

Grundannahmen stellen den „harten Kern“ (Lakatos 1974) des relationalkonstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramms dar. Sie können nicht anhand<br />

<strong>von</strong> externen, objektiven Kriterien begründet, sondern nur plausibel und<br />

nachvollziehbar dargelegt werden.<br />

15 Es versteht sich aufgrund der vorangehenden Ausführungen, dass das relationalkonstruktivistische<br />

Wissenschaftsprogramm unter den Oberbegriff der ‚interpretativen<br />

Wissenschaftstheorie’ fällt.<br />

12


PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />

Epistemologie<br />

Bedeutung<br />

Relationen<br />

Reflexivität<br />

Rekursivität<br />

... statt ...<br />

13<br />

Ontologie<br />

Fakten<br />

Entitäten<br />

Rationalität<br />

Kausalität<br />

Abbildung 3: Grundannahmen des relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms<br />

Epistemologie statt Ontologie<br />

<strong>Die</strong> wohl grundlegendste Entscheidung bzw. Unterscheidung, die ein<br />

Wissenschaftsprogramm charakterisiert, ist diejenige, worauf sich das<br />

Erkenntnisinteresse des Wissenschaftsprogramms richtet, bzw. welche<br />

Qualität dem Gegenstand des Erkenntnisinteresses zugeschrieben wird.<br />

Das relational-konstruktivistische Wissenschaftsprogramm nimmt in dieser<br />

Frage eine Position ein, die Luhmann <strong>als</strong> „De-ontologisierung der Realität“<br />

beschreibt (1990a, S. 37). 16 Ontologische Vorstellungen und Betrachtungen<br />

sind demnach völlig uninteressant, weil die ontologische Unterscheidung<br />

Sein/Nichtsein ins Leere greift: In einer Welt, die sozial konstruiert ist, und<br />

deren Phänomene nur eingebettet in sozialen Prozessen eine Bedeutung<br />

gewinnen, sind keine eindeutigen ontologischen Aussagen über eben diese<br />

Phänomene möglich.<br />

Nach Vaassen (1996) wird in einem relational-konstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramm die ontologische Frage nach dem „So-Sein“ der<br />

Wirklichkeit abgelöst durch die epistemologische Frage nach den Prozessen<br />

des Konstruierens der Wirklichkeit. Im Zentrum steht <strong>als</strong>o nicht mehr das Was<br />

der Erkenntnis, sondern das Wie des Erkennens - oder wie Bardmann (1997,<br />

S. 9) es formuliert: Wissenschaft wendet ihren Blick auf den „Erzeugungs-,<br />

Hervorbringungs- und Härtungsprozess individueller wie sozialer<br />

Wirklichkeiten“.<br />

16 Für eine kurze Definition der beiden Begriffe Epistemologie und Ontologie vgl. Fussnote 14.


WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />

Als Schlussfolgerung heisst das, dass das relational-konstruktivistische<br />

Wissenschaftsprogramm die traditionelle Trennung zwischen Subjekt und<br />

Objekt, zwischen Mensch und Welt, zwischen Wissen und Wirklichkeit aufgibt.<br />

In Umkehrung <strong>von</strong> Popper (1973) gilt im relational-konstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramm vielmehr: es gibt kein Wissen ohne wissendes<br />

Subjekt.<br />

<strong>Die</strong>se Haltung hat weitreichende Konsequenzen, die in den nachfolgenden<br />

vier Begriffspaaren näher erläutert werden.<br />

Bedeutung statt Fakten<br />

Sobald <strong>von</strong> der Vorstellung abgerückt wird, dass Wissen objektive Gültigkeit<br />

hat und haben kann, erscheint Wissenschaft in einem völlig neuen Licht. <strong>Die</strong><br />

traditionelle wissenschaftliche Maxime, dass stringente Methoden pure Daten<br />

erzeugen und aus puren Daten objektives Wissen erwächst, gilt nicht mehr.<br />

Daten haben keine Faktizität und daher kann Wahrheit nicht methodologisch<br />

begründet werden. Jede Beobachtung <strong>von</strong> Fakten ist zwangsläufig „theorieimprägniert“<br />

(Chalmers 1994, S. 38f). Theorien entstehen nicht nur aus<br />

Beobachtungen, sondern gehen ihnen auch voraus. Vermeintliche Fakten sind<br />

daher immer schon geladen mit Theorie bzw. Bedeutung. 17<br />

Bardmann macht deutlich, dass es verkürzt wäre, aufgrund der<br />

Theoriegeleitetheit <strong>von</strong> Wahrnehmung und Beobachtung nun einfach darauf<br />

zu schliessen, dass Fakten nicht objektiv, sondern subjektiv sind. <strong>Eine</strong> solche<br />

Vorstellung würde geradewegs in einen methodologischen Individualismus<br />

münden. „<strong>Die</strong> Wirklichkeit ist damit nicht einfach nur subjekt- oder<br />

beobachterabhängig, sie ist beobachtungsabhängig, das meint abhängig <strong>von</strong><br />

den jeweils hier und jetzt aktuell benutzten Unterscheidungen und<br />

Bezeichnungen!“ (Bardmann 1997, S. 10) Fakten entstehen demnach nicht<br />

individualistisch-kognitiv, sondern in sozialen Prozessen der Interpretation,<br />

und sind damit Symbole kollektiv geteilter Bedeutungsinhalte. Sie können nicht<br />

verdinglicht und subjektiviert werden, sondern haben einen inhärent prozess-<br />

17 <strong>Die</strong> reine Vorstellung einer „Grounded Theory“ (Glaser/Strauss 1967), einer Forschungsmethodik,<br />

die regelmässig mit der interpretativen Wissenschaftstheorie in Verbindung gebracht<br />

wird, ist demzufolge nicht haltbar. Grounded Theory ermöglicht nicht wie gemeinhin behauptet<br />

die Überwindung der objektivistischen Engführung der positivistischen Wissenschaftsprogramme,<br />

sondern perpetuiert sie sogar noch, weil die Grounded Theory implizit <strong>von</strong> einem <strong>von</strong> objektiven<br />

Fakten getriebenen Erkenntnisinteresse ausgeht.<br />

14


PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />

und kontexthaften Charakter. 18 Ein relational-konstruktivistisches Wissenschaftsverständnis<br />

ist daher nicht an Fakten an sich interessiert, sondern an<br />

den Bedeutungsinhalten, die diesen Fakten in sozialen Prozessen der<br />

Interpretation zugeschrieben werden.<br />

Relationen statt Entitäten<br />

Das bisher Gesagte legt nahe, endgültig Abschied zu nehmen <strong>von</strong> einer<br />

materiellen Vorstellung <strong>von</strong> Wirklichkeit und <strong>von</strong> einer subjektzentrierten<br />

Vorstellung <strong>von</strong> Erkenntnis. Nicht Entitäten (Objekt, Subjekt) sind<br />

massgebend, sondern deren Einbettung in den kollektiven Weltentwurf: „Wenn<br />

Zeit und Raum Koordinaten oder Ordnungsprinzipien unseres Erlebens sind,<br />

dann können wir uns Dinge jenseits der Erlebenswelt überhaupt nicht<br />

vorstellen, denn Form, Struktur, Ablauf <strong>von</strong> Vorgängen und Anordnung<br />

irgendwelcher Art sind ohne dieses Koordinatensystem im wahrsten Sinne des<br />

Wortes undenkbar." (<strong>von</strong> Glasersfeld 1991, S. 23). Wirklichkeit spannt sich<br />

<strong>als</strong>o auf in einem Koordinatensystem <strong>von</strong> Raum und Zeit und nimmt Form an<br />

durch jeweils spezifische, temporäre Raum-Zeit-Konstellationen (Relationen).<br />

<strong>Die</strong>se Relationen sind offen, das heisst nicht determiniert. Sie entstehen erst<br />

durch die sozialen Prozesse der Interpretation und sie sind vergänglich, das<br />

heisst haben nur Bestand, solange sie in kontinuierlichen Prozessen der<br />

kollektiven Vergewisserung laufend reproduziert werden. Aber dennoch ist die<br />

Wirklichkeit, die daraus entsteht, nicht beliebig. „<strong>Die</strong> konstruierte Wirklichkeit<br />

ist kohärent, weil sie <strong>als</strong> eine bezogene, zusammenhängende Wirklichkeit<br />

konstruiert wird, in der Isoliertes nicht existiert und nicht existieren kann.<br />

Unsere Erfahrungswelt enthält keine Lücken oder weisse Flecken. Immer ist<br />

sie bereits vollständig, kohärent und sinnvoll. Sinn und Bedeutung sind<br />

unteilbar. Menschliches Konstruieren schafft die Welt <strong>als</strong> ein Netz <strong>von</strong><br />

Beziehungen." (Vaassen 1996, S. 65)<br />

18 Im Zusammenhang mit der Symbolhaftigkeit und Interpretationsbedürftigkeit <strong>von</strong> Fakten weisen<br />

Vaassen (1996, S. 25) und <strong>von</strong> Foerster (1997) beide auf eine sonst selten erwähnte, aber im<br />

Rahmen dieser Dissertation äusserst interessante Schlussfolgerung hin: wenn Fakten keine<br />

objektive Geltung haben, dann kann <strong>von</strong> ihnen auch kein Zwang ausgehen und man kann ihnen<br />

daher auch nicht unterworfen sein. Im Gegenteil, der Mensch ist „verdammt dazu frei zu sein“<br />

und selbst verantwortlich für die Weltentwürfe, die sich in den sozialen Prozessen der<br />

Interpretation entfalten. <strong>Die</strong>se Erkenntnis wird an späterer Stelle <strong>von</strong> Bedeutung werden, wenn es<br />

darum geht, die Vorstellung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einem <strong>Handlungssystem</strong> konzeptionell auszuarbeiten<br />

(vgl. Kapitel 4 und 5).<br />

15


WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />

Ein relational-konstruktivistisches Wissenschaftsprogramm ist daher weniger<br />

an einzelnen Akteuren oder Ereignissen der Wirklichkeit interessiert, <strong>als</strong><br />

vielmehr an den kontextuellen und historischen Zusammenhängen (Raum-<br />

Zeit-Konstellationen), die in kollektiven Prozessen der Interpretation um diese<br />

Akteure oder Ereignisse gewoben werden, und die sie dadurch aus dem Fluss<br />

der Wirklichkeit überhaupt erst hervorheben und entstehen lassen.<br />

Reflexivität statt Rationalität<br />

Das bisher Gesagte hat deutlich gemacht, dass Interpretationsprozesse eine<br />

zentrale Rolle einnehmen im Verständnis des relational-konstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramms. Daher muss die Frage interessieren, wonach sich<br />

diese Interpretationsprozesse richten. Was steuert sie und nach welchen<br />

Kriterien?<br />

Im positivistischen Wissenschaftsverständnis regiert die Rationalität. Nach<br />

dieser Vorstellung gibt es den einen besten Weg sowie allgemeingültige,<br />

ahistorische Kriterien, diesen Weg zu finden. Auch wenn der Rationalitätsbegriff<br />

über die Zeit hinweg mehreren Revisionen unterworfen wurde, die<br />

implizite Vorstellung <strong>von</strong> Rationalität <strong>als</strong> einem externen (Wert-)Massstab<br />

wurde dabei nie vollständig aufgegeben (vgl. Becker/Küpper/et al. 1992). <strong>Die</strong><br />

Angst, den Verzicht auf den Rationalitätsbegriff mit unkontrollierbarer<br />

Beliebigkeit und Narretei zu bezahlen, sitzt offenbar tief.<br />

Da Rationalität stets objektivistisch gedacht wird und direkt oder indirekt die<br />

Trennung zwischen Subjekt und Objekt voraussetzt, kann das relationalkonstruktivistische<br />

Wissenschaftsprogramm nicht auf den Rationalitätsbegriff -<br />

revidiert oder nicht - zurückgreifen. Was bietet sich an seiner Stelle an?<br />

<strong>Die</strong> einzige Weise, wie der Mensch im relational-konstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramm Wirklichkeit erfahren und somit auch gestalten kann,<br />

ist stets nur in Relation zu sich selbst und zu anderen. „Konstruieren bringt<br />

eine Welt hervor, zu der wir Stellung nehmen [müssen].“ (Vaassen 1996,<br />

S. 67) Mit diesem Im-Konstruieren-Stellung-nehmen ist die Reflexivität<br />

gemeint. Sie löst im relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramm<br />

die Rationalität ab.<br />

Nach Giddens (1997, S. 36) ist die Reflexivität mit dem Strom des Alltagslebens<br />

verwoben und somit untrennbar verbunden mit jeder Form <strong>von</strong> sozialen<br />

Prozessen. Wo der Rationalitätsbegriff jedoch aufgrund seiner<br />

objektivistischen Belegung zwingend immer nur eine manifeste, diskursive<br />

16


PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />

Form annehmen kann, ist der Reflexivitätsbegriff nicht auf die diskursive<br />

Ebene beschränkt. „Was die Handelnden über ihr Handeln und die<br />

entsprechenden Handlungsgründe wissen - ihre Bewusstheit<br />

(knowledgeability) <strong>als</strong> Handelnde - ist ihnen weitgehend in der Form des<br />

praktischen Bewusstseins präsent. 19 <strong>Die</strong>ses praktische Bewusstsein (practical<br />

consciousness) umfasst all das, was Handelnde stillschweigend darüber<br />

wissen, wie in den Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu verfahren ist,<br />

ohne dass sie in der Lage sein müssten, all dem einen direkten, diskursiven<br />

Ausdruck zu verleihen.“ (Giddens 1997, S. 36)<br />

Kohärenz und Kontinuität entspringt im relational-konstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramm <strong>als</strong>o der Reflexivität der sozialen Prozesse. Ordnung<br />

und Stabilität der sozial konstruierten Wirklichkeit entstehen dadurch, ohne<br />

dass auf den objektivistischen Rationalitätsbegriff zurückgegriffen werden<br />

muss.<br />

Rekursivität statt Kausalität<br />

Fasst man die Kernaussagen der vier voranstehenden Begriffspaare<br />

zusammen, so folgt daraus, dass sich Wirklichkeit und Erkenntnis zirkulär<br />

selbstbegründen (vgl. Bardmann 1997). Für eine weitere zentrale Denkfigur<br />

des positivistischen Wissenschaftsverständnisses ist damit kein Platz mehr im<br />

relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramm: die Kausalität. „Das<br />

Gefüge der Relationen, das unsere Wirklichkeit ausmacht, lässt sich weder<br />

aufknüpfen, analytisch zerlegen in (primär sinnlose) Fragmente, noch lässt<br />

sich ein zeitlicher oder räumlicher Ursprung ausmachen." (Vaassen 1996,<br />

S. 65) Das Kausalitätsdenken, 20 das einen Zusammenhang zwischen Ursache<br />

und Wirkung postuliert, kommt in der Zirkularität und Gleichzeitigkeit (vgl.<br />

Nowotny 1992; Luhmann 1990b) der sozial konstruierten Wirklichkeit nicht<br />

zurecht.<br />

An seine Stelle tritt die Rekursivität. Rekursiv bezeichnet einen Prozess, der<br />

seine Ergebnisse <strong>als</strong> Grundlage für das weitere Prozessieren verwendet. 21<br />

19<br />

Vgl. dazu auch die Unterscheidung zwischen knowledge und knowing, die Cook und Brown<br />

(1999) vorgenommen haben.<br />

20<br />

Wie der Rationalitätsbegriff hat auch der Kausalitätsbegriff im Laufe der Zeit mehrere Revisionen<br />

erfahren (vgl. Wuketits 1981). Über den Verursachungsgedanken ist der Kausalitätsbegriff auch<br />

in seinen revidierten Formen jedoch nie hinausgewachsen.<br />

21<br />

<strong>Eine</strong>n äusserst lesenswerten Artikel zum Thema Rekursivität hat Ortmann (1995b) verfasst.<br />

17


WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />

Das bedeutet nicht nur, dass dieser Prozess seine eigenen Outputs <strong>als</strong> Inputs<br />

verwendet, sondern - und das ist wesentlich entscheidender - dass dieser<br />

Prozess auch die Bedingungen seines Prozessierens selbst erzeugt. Für<br />

soziale Prozesse folgt daraus, dass in und durch ihre Handlungen die<br />

Handelnden die Bedingungen, die ihr Handeln ermöglichen, selbst<br />

(re-)produzieren (vgl. Giddens 1997, S. 52).<br />

Für das relational-konstruktivistische Wissenschaftsprogramm heisst das,<br />

dass mit der Abkehr vom Kausalitätsdenken und somit <strong>von</strong> einem<br />

objektivistischen Handlungsdeterminismus nicht umstandslos in einen<br />

subjektivistischen Handlungsvoluntarismus verfallen werden darf. <strong>Die</strong><br />

Rekursivität sozialer Prozesse umfasst eben beides: Sie sind insofern<br />

determiniert, <strong>als</strong> dass sie auf gewisse Bedingungen der Möglichkeit<br />

angewiesen sind; sie sind jedoch ebenso auch voluntaristisch, indem sie in<br />

ihrem Prozessieren die eigenen Bedingungen der Möglichkeit überhaupt erst<br />

schaffen.<br />

1.2.2 Gütekriterien<br />

<strong>Die</strong> Beschreibung der wissenschaftstheoretischen Grundannahmen im vorangehenden<br />

Kapitel 1.2.1 hat deutlich gemacht, dass Wissenschaft ein völlig<br />

neues Gesicht erhalten hat. Bardmann (1997, S. 7f) sagt dazu:<br />

„Es geht nicht mehr um raum-, zeit- und beobachterunabhängige<br />

Erkenntnisse, sondern ganz im Gegenteil um die Raum-, Zeit- und<br />

Beobachterabhängigkeit allen Erkennens. Das bisher hierarchisch und linear<br />

gedachte Verhältnis zwischen Beobachtungssubjekt und Beobachtungsobjekt<br />

gerät in Bewegung und wird in Richtung Heterarchie und Zirkularität<br />

verschoben. Erkenntnisse gelten nunmehr lokal, nicht mehr global, situativ,<br />

nicht mehr zeitüberdauernd oder gar ewig, operativ, und nicht mehr objektiv<br />

oder gar transzendental.“<br />

Es liegt auf der Hand, dass sich diese grundlegende Perspektivenverschiebung<br />

des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses auch auf die<br />

wissenschaftlichen Gütekriterien auswirkt. <strong>Die</strong> Unterscheidung Wahrheit/Irrtum<br />

des positivistischen Wissenschaftsverständnisses spielt in der interpretativen<br />

Wissenschaftstheorie keine bedeutende Rolle (vgl. Mittelstrass 1998).<br />

Mittelstrass sieht das <strong>als</strong> Vorteil: Da wissenschaftliche Erkenntnis nicht mehr<br />

länger exklusiv an die Kategorien <strong>von</strong> Wahrheit und Irrtum gebunden ist,<br />

machen auch methodologische Einschränkungen, die auf diesen Kriterien<br />

18


PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />

basieren, keinen Sinn und können im Rahmen der interpretativen<br />

Wissenschaftstheorie zu Gunsten eines anderen Regelwerks fallen gelassen<br />

werden. <strong>Die</strong>ses Regelwerk richtet sich nicht mehr nach Wahrheit und Irrtum,<br />

sondern nach neuen Kriterien wie Plausibilität, Authentizität und dem Potenzial<br />

zur kritischen (Selbst-)Reflexion (vgl. Lamnek 1988; Weick 1989b; Mayring<br />

1990; Golden-Biddle/Locke 1993). 22<br />

So formuliert Mayring (1990, S. 104f) sechs Gütekriterien zur Plausibilisierung<br />

der interpretativen Wissenschaft und Forschung (vgl. Abbildung 4):<br />

1) Verfahrensdokumentation<br />

2) Argumentative Interpretationsabsicherung<br />

3) Regelgeleitetheit<br />

4) Nähe zum Gegenstand<br />

5) Kommunikative Plausibilisierung<br />

6) Triangulation<br />

Abbildung 4: Gütekriterien der interpretativen Wissenschaftstheorie<br />

Auf eine Diskussion der sechs Gütekriterien wird an dieser Stelle verzichtet. 23<br />

Statt dessen soll kurz auf ein interessantes Plausibilisierungskonzept <strong>von</strong><br />

Arbnor und Bjerke (1997) eingegangen werden. Ihr Plausibilisierungskonzept<br />

ist insbesondere für ein relational-konstruktivistisches Wissenschaftsprogramm<br />

<strong>von</strong> Bedeutung, weil es dem Prozesscharakter und dem<br />

Alltagsbezug der Forschung Rechnung trägt. Arbnor und Bjerke (1997,<br />

S. 234f) verlangen sozusagen eine vierfache Plausibilisierung. Zum einen<br />

muss sich Wissenschaft nicht nur über ihre Ergebnisse, sondern ebenso über<br />

ihren Prozess bewähren. Zum andern muss Wissenschaft nicht nur in der<br />

22<br />

Entsprechend wird in der interpretativen Wissenschaftstheorie auch nicht mehr <strong>von</strong> der<br />

Validierung der Forschung (einem Kernbegriff der positivistischen Wissenschaftstheorie),<br />

sondern vielmehr <strong>von</strong> der Plausibilisierung gesprochen.<br />

23<br />

In Kapitel 1 wird anhand der Beschreibung des dieser Dissertation zugrunde liegenden<br />

Forschungsprojekts konkret aufgezeigt, wie diese Gütekriterien in ein Forschungsdesign<br />

eingebaut werden können.<br />

19


WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />

wissenschaftlichen Community, sondern ebenso auch im Praxisfeld<br />

Anerkennung finden.<br />

Auf diesen Gedanken aufbauend kann eine Plausibilisierungsmatrix erstellt<br />

werden (vgl. Abbildung 5). Alle vier Plausibilisierungskriterien müssen gleichzeitig<br />

erfüllt sein, wobei jedoch den Plausibilisierungskriterien des Forschungsprozesses<br />

und der Praxisorientierung ein Vorrang zukommt. <strong>Eine</strong> wissenschaftliche<br />

Plausibilisierung ist nur unter dem Vorbehalt erfolgreich, dass<br />

gleichzeitig auch die praxisorientierte Plausibilisierung gelingt. Und eine<br />

Plausibilisierung der Forschungsergebnisse ist nur unter dem Vorbehalt erfolgreich,<br />

dass gleichzeitig auch die Plausibilisierung des Forschungsprozesses<br />

gelingt.<br />

Prozess<br />

Ergebnisse<br />

<strong>Die</strong> praxisorientierte Prozess-<br />

Plausibilisierung erfolgt durch ständigen<br />

sozialen Feedback seitens der Akteure<br />

im Forschungsfeld:<br />

- die Interaktion mit den Forschenden<br />

wird nicht abgebrochen sondern<br />

ausgebaut, und es zeigt sich<br />

- ein zunehmendes Interesse<br />

<strong>Die</strong> praxisorientierte Ergebnis-<br />

Plausibilisierung liegt im Potenzial der<br />

präsentierten Ergebnisse, bei den<br />

Akteuren im Forschungsfeld:<br />

- einen kontroversen, emotionalen<br />

Diskurs auszulösen und in Gang zu<br />

halten, sowie<br />

- Aktionen/Massnahmen zu initiieren<br />

praxisorientiert wissenschaftlich<br />

Abbildung 5: Plausibilisierungsmatrix 24<br />

20<br />

<strong>Die</strong> wissenschaftliche Prozess-<br />

Plausibilisierung verlangt <strong>von</strong> den<br />

Forschenden eine Offenlegung der<br />

Vorgehensweise, der gemachten<br />

Interpretationen und der zeitlichen und<br />

inhaltlichen Entwicklung der Forschungsprozesse<br />

und der Ergebnisse.<br />

<strong>Die</strong> wissenschaftliche Ergebnis-<br />

Plausibilisierung verlangt <strong>von</strong> den<br />

Forschenden, dass sie aufzeigen, in<br />

welcher Art und Weise sich ihre<br />

Erkenntnisse an bereits vorhandenes<br />

Wissen anschliessen bzw. dieses<br />

Wissen erweitern.<br />

Besonders erwähnenswert in dieser Matrix ist das Feld praxisorientierte<br />

Plausibilisierung der Ergebnisse (links unten). Es fällt auf, dass nicht etwa die<br />

24 Nach dem Konzept <strong>von</strong> Arbnor und Bjerke (1997).


PRÄMISSEN DES RELATIONAL-KONSTRUKTIVISTISCHEN WISSENSCHAFTSPROGRAMMS<br />

explizite Zustimmung zu den Ergebnissen bzw. die konkrete Umsetzung der<br />

Ergebnisse in Handlungen <strong>als</strong> Plausibilisierungskriterium gelten, sondern ganz<br />

allgemein ein kontroverser, emotionaler Diskurs. Damit ist die Möglichkeit<br />

eröffnet, dass eine emotional gefärbte Ablehnung der Ergebnisse diese<br />

Ergebnisse nicht etwa zwingend verwirft, sondern im Gegenteil gerade<br />

dadurch plausibilisiert.<br />

Auf den ersten Blick scheint das paradox zu sein. <strong>Die</strong> dahinter stehende<br />

Annahme kann jedoch konsistent auf eine Prämisse des relationalkonstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramms zurückgeführt werden.<br />

Menschen haben, wie im Kapitel 1.2.1 dargelegt, ein praktisches Bewusstsein<br />

über die Welt, in der sie sich bewegen. <strong>Die</strong>ses praktische Bewusstsein äussert<br />

sich nicht in expliziten Regeln oder Handlungsanweisungen, sondern eher in<br />

Form <strong>von</strong> implizitem Orientierungswissen, <strong>von</strong> „lokalen Theorien“ (Baitsch<br />

1993). Nach Weick (1989b, S. 526) stellen Forschungsergebnisse, die diesem<br />

praktischen Bewusstsein widersprechen, zuerst einmal eine Störung und<br />

Bedrohung der Ordnung des Alltags dar, die durch die lokalen Theorien<br />

fortlaufend erzeugt wird. Daher wird tendenziell versucht werden, solche<br />

Ergebnisse abzuwehren. Je plausibler und überzeugender die<br />

Forschungsergebnisse im Vergleich zu der bisherigen lokalen Theorie sind,<br />

desto stärker ist die Bedrohung, die da<strong>von</strong> für die Ordnung des Alltags<br />

ausgeht, und desto heftiger wird demnach wahrscheinlich die spontane<br />

emotionale Abwehr der Ergebnisse ausfallen. Daher kann tatsächlich eine<br />

emotional gefärbte Ablehnung ein Hinweis für eine erfolgreiche<br />

Plausibilisierung der Forschungsergebnisse sein. In diesem Fall wird jedoch<br />

der argumentativen Interpretationsabsicherung dieser Ergebnisse (vgl.<br />

Gütekriterien <strong>von</strong> Mayring, Abbildung 4) besondere Sorgfalt und Beachtung<br />

geschenkt werden müssen.<br />

Weitere Überlegungen zur Plausibilisierung werden in Kapitel 6.1.6 angestellt,<br />

wenn das Forschungsdesign des dieser Dissertation zugrunde liegenden<br />

Forschungsprojekts beschrieben wird.<br />

Das Ende des Kapitels 1 ist im Sinn einer Schlussfolgerung nun der Frage<br />

gewidmet, in welcher Form sich - ausgehend <strong>von</strong> den dargelegten<br />

wissenschaftstheoretischen Grundannahmen und Gütekriterien - eine<br />

relational-konstruktivistische Theorie der <strong>Organisation</strong> überhaupt präsentieren<br />

kann. Darauf wird dann in Teil II der Dissertation zurückzugreifen sein.<br />

21


WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />

1.3 Zusammenfassung:<br />

<strong>Eine</strong> Theorie der Theorie<br />

<strong>Die</strong> in Kapitel 1.2.1 eingeführten wissenschaftstheoretischen Grundannahmen<br />

führen zu einer ganz bestimmten Sichtweise, wie die Wirklichkeit <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong>en <strong>als</strong> soziale Systeme im Rahmen wissenschaftlichen Arbeitens<br />

vorausgesetzt werden darf: <strong>Organisation</strong>en <strong>als</strong> soziale Systeme sind<br />

kontingent, 25 aber sie navigieren nicht „am Rande des Chaos“ (vgl. z.B. Marion<br />

1999). Sie zeigen Kontinuität, Kohärenz und Struktur, aber nicht aufgrund<br />

irgendwelcher objektiver Eigenschaften, Kausalitäten oder Determinanten,<br />

sondern <strong>als</strong> Ergebnis ihres selbstreferenzierenden, rekursiven Konstruktionsprozesses.<br />

Es stellt sich nun die Frage, wie in einer solchen Wirklichkeit, die offensichtlich<br />

jeglichen privilegierten Zugang zu sich selbst verwehrt, wissenschaftliche<br />

Theoriebildung überhaupt noch denkbar ist. So kann es nicht verwundern,<br />

wenn vielerorts Unbehagen und Unzufriedenheit über den Stand und den<br />

Nutzen der <strong>Organisation</strong>stheorie laut wird. Für Van Maanen ist es klar, dass<br />

der Stand der heutigen <strong>Organisation</strong>stheorie „is not a symptom of the<br />

problems the field faces but is a cause of such problems." (1995b, S. 139)<br />

Für Astley und Zammuto (1992) kann dieser nicht zufrieden stellende Zustand<br />

nur dadurch überwunden werden, dass die Aufgabe der <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

grundlegend überdacht wird. Der Ruf nach Anwendungsorientierung der<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie darf nicht derart ausgelegt werden, dass die<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie empirisch erarbeitete Lösungen und Instrumente für<br />

spezielle Fragestellungen anbietet, sondern dass die <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

„provides conceptual language that shapes managers’ perceptions and<br />

thoughts, thereby enhancing their problem-solving capabilities.“<br />

(Astley/Zammuto 1992, S. 455)<br />

<strong>Die</strong> Aufgabe der <strong>Organisation</strong>stheorie kann es demnach nicht sein, allgemeingültiges<br />

Wissen und konkrete Handlungsanleitungen zu vermitteln, sondern<br />

das Verständnis für den organisationalen Alltag dadurch zu erhöhen, dass<br />

diesem Alltag eine neue Perspektive bzw. einen neuen Sinn und Bedeutung<br />

25 Kontingent heisst „auch-anders-möglich-sein“, weder notwendig noch unmöglich sein.<br />

<strong>Organisation</strong>en sind genau in diesem doppelten Sinn ebenso ungewiss (nicht notwendig) wie<br />

abhängig (nicht unmöglich). Ungewiss, weil sie weder deterministisch noch voluntaristisch<br />

‚gemacht’ werden können, und abhängig, weil sie nur in Bezug auf ihren Kontext überhaupt einen<br />

Ausdruck bzw. eine Identität finden.<br />

22


ZUSAMMENFASSUNG: EINE THEORIE DER THEORIE<br />

verliehen wird. Theoriebildung ist ein kreativer Akt im wahrsten Sinn des<br />

Wortes: Theorie kreiert Sinn, ist „sensemaking“ (Weick 1989b). <strong>Die</strong> Bausteine<br />

einer derart verstandenen <strong>Organisation</strong>stheorie sind Worte, nicht Zahlen (vgl.<br />

Daft/Wiginton 1979). Und die Ergebnisse präsentieren sich <strong>als</strong> „storytelling“<br />

(Daft 1983), „thick descriptions“ (Geertz 1983), „language game“<br />

(Astley/Zammuto 1992) oder „style“ (Van Maanen 1995b), nicht <strong>als</strong><br />

mathematische Modelle und Wahrscheinlichkeiten. 26<br />

Es ist nicht überraschend, dass diese Art <strong>Organisation</strong>stheorie nicht den<br />

klassischen Regeln der Theoriebildung (vgl. z.B. Whetten 1989) folgt. Sie<br />

bedient sich Bildern und Metaphern (Morgan 1980; Weick 1989b; Kieser<br />

1997). Sie ergibt sich nicht linear aus rigoros verfolgten Methoden, sondern<br />

gewinnt zirkulär Form durch „disciplined imagination“ (Weick 1989b). Und sie<br />

zeichnet sich nicht durch ihre Sparsamkeit (parsimony) an theoretischen<br />

Konzepten und Bezügen aus. Ganz im Gegenteil gewinnt sie an Gehalt durch<br />

die Verknüpfung vieler, auch heterogener Ideen. <strong>Eine</strong> allfällig daraus<br />

resultierende Ambiguität der Aussagen spricht nicht etwa gegen die Theorie,<br />

sondern erhöht die Möglichkeiten ihrer Anwendung in verschiedensten<br />

Kontexten (Astley/Zammuto 1992). Kein Wunder verlangt Bardmann (1997,<br />

S. 11) „die Zulassung bisher verfemter zirkulärer, tautologischer und<br />

paradoxer Aussageformen“ und verorten Kray und Pfeiffer (1991) die<br />

theoretische Qualität <strong>von</strong> Wissenschaft in ihrer „paradoxen Substanz“. 27<br />

Wie ist der praktische Nutzen einer derartigen <strong>Organisation</strong>stheorie zu<br />

veranschlagen? Astley und Zammuto (1992, S. 453) sind der Ansicht, dass<br />

<strong>Organisation</strong>stheorien nicht neues Wissen vermitteln können und sollen,<br />

sondern dass ihr Beitrag darin liegt, dass sie „intelligibility for what is already<br />

26<br />

<strong>Eine</strong> solche Radikalisierung des Theoriebegriffs ist natürlich nicht ohne Widerspruch möglich. In<br />

führenden wissenschaftlichen Zeitschriften kommt es deshalb hin und wieder zu einem<br />

angeheizten verbalen Schlagabtausch (vgl. die folgenden Literaturhinweise):<br />

- storytelling: Eisenhardt 1989, 1991(contra); Dyer/Wilkins 1991 (pro)<br />

- language game: Astley/Zammuto 1992 und Mauws/Phillips 1995 (pro); Donaldson 1992 und<br />

Beyer 1992 (contra)<br />

- style: Pfeffer 1993, 1995 (contra); Van Maanen 1995a, 1995b (pro)<br />

27<br />

Burrell (1997) hat beispielsweise versucht, diesem neuen Verständnis <strong>von</strong> Theorie dadurch<br />

Rechnung zu tragen, dass er die traditionelle Darreichungsform <strong>von</strong> Theorie <strong>als</strong> Buch<br />

aufgebrochen hat. Das Ergebnis besticht zwar nicht durch eine leichte Lesbarkeit, aber macht<br />

dafür die zirkulären Bezüge <strong>von</strong> Theorie umso anschaulicher.<br />

23


WISSENSCHAFT NACH DER PLURALISTISCHEN WENDE<br />

known“ schaffen. 28 <strong>Eine</strong> gute <strong>Organisation</strong>stheorie erkennt man deshalb<br />

gemäss Weick (1989b) nicht daran, dass sie wahr ist, sondern dass sie<br />

Interesse weckt („that’s interesting!“). Entsprechend ist Gergen (1992, S. 210)<br />

der Meinung, dass Theorie nicht stimmen, sondern passen muss, das heisst,<br />

dass Theorie die Praxis nicht abbilden, sondern der Praxis neue (Handlungs)-<br />

Impulse verleihen muss. <strong>Die</strong> wichtigste Funktion der Theorie liegt daher in der<br />

Orientierungsleistung für die Praxis, das heisst in der Klärung der Frage „what<br />

‚the world’ really is and what it consists of“ (Knorr-Cetina 1983, S. 136), denn<br />

nur wer die Welt - bzw. das Phänomen <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> rekursives Element<br />

dieser Welt - versteht, kann sich darin zurechtfinden.<br />

Der theoretische Ausbruch aus dem engen Korsett methodischer Regeln und<br />

Strenge hat jedoch auch seinen Preis: Aufgrund ihrer Raum-, Zeit- und<br />

Beobachtungsabhängigkeit haben derart formulierte <strong>Organisation</strong>stheorien<br />

nurmehr eine begrenzte Reichweite. Sie sind lediglich noch beschränkt übertragbar<br />

und generalisierbar. 29<br />

Soweit an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit organisationstheoretischen<br />

Gedanken. Sie werden wieder aufgenommen, wenn es in Teil II<br />

um die Skizzierung eines postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnisses und der<br />

Herleitung einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> geht.<br />

In einem nächsten Schritt wird im folgenden Kapitel 2 nun die<br />

Forschungsmethodik des relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms<br />

diskutiert.<br />

28<br />

Wird der Begrifflichkeit <strong>von</strong> Mittelstrass (1982) gefolgt, dann heisst das, dass <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

in erster Linie Orientierungswissen statt Verfügungswissen schaffen soll.<br />

29<br />

Da es aus relational-konstruktivistischer Perspektive aber im Grunde genommen gar keine<br />

andere <strong>als</strong> eine raum-, zeit- und beobachtungsabhängige Theorie geben kann, ist das nicht<br />

wirklich ein Nachteil.<br />

24


2 FORSCHUNGSMETHODIK<br />

FORSCHUNGSMETHODISCHE IMPLIKATIONEN<br />

Das im vorangehenden Kapitel skizzierte Bild eines relationalkonstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramms kann wegen der methodischen<br />

Einheit der Wissenschaft (vgl. Abbildung 2) nicht ohne Folgen für die<br />

Forschungsmethodik bleiben. In einem ersten Schritt werden deshalb in<br />

Kapitel 2.1 thesenartig die Eckpunkte einer relational-konstruktivistischen<br />

Forschungsmethodik dargestellt. Es gibt selbstverständlich eine Reihe <strong>von</strong><br />

Forschungsstrategien, die diesen relational-konstruktivistischen Prämissen<br />

genügen (vgl. z.B. Morgan 1983; Bradbury/Bergmann-Lichtenstein 2000). In<br />

Kapitel 2.2 folgt daher die Beschreibung einer ausgewählten relationalkonstruktivistischen<br />

Forschungsmethode, der longitudinalen Prozessforschung,<br />

die die methodische Grundlage des Forschungsprojekts abgibt, auf<br />

dem diese Dissertation aufbaut (vgl. Kapitel 1).<br />

2.1 Forschungsmethodische Implikationen<br />

Jede einzelne wissenschaftstheoretische Prämisse des relationalkonstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramms (vgl. Abbildung 3) hat selbstverständlich<br />

direkte Folgen für das Design eines diesen Prämissen folgenden<br />

Forschungsprogramms. Analog den wissenschaftstheoretischen Prämissen<br />

werden deshalb in diesem Kapitel die forschungsmethodischen Prämissen<br />

eines relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms beschrieben<br />

(vgl. Abbildung 6).<br />

Rekonstruktion<br />

Rekonstruktion<br />

Prozess<br />

Prozess<br />

Dialog<br />

Dialog<br />

Kontext<br />

Kontext<br />

Nähe<br />

Nähe<br />

... ... statt ... ...<br />

25<br />

Beweis<br />

Beweis<br />

Hypothesen<br />

Hypothesen<br />

Instrumente<br />

Instrumente<br />

Ereignisse Ereignisse<br />

Distanz<br />

Distanz<br />

Abbildung 6: Eckpunkte der relational-konstruktivistischen Forschungsmethodik


FORSCHUNGSMETHODIK<br />

Rekonstruktion statt Beweis<br />

Da epistemologische Prozesse statt ontologischer Realitäten das<br />

Erkenntnisinteresse des relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramms<br />

sind, kann es in der Forschung nicht mehr um unanfechtbare<br />

Beweise, sondern nur noch um die Sinnhaftigkeit der sozialen Prozesse gehen<br />

(vgl. Kubicek 1977). Forschungsmethodisch steht deshalb die <strong>von</strong><br />

theoretischen Absichten geleitete, ganzheitliche Rekonstruktion des<br />

Forschungsobjekts 30 im Vordergrund. <strong>Die</strong>se Rekonstruktion soll weniger den<br />

Zuwachs an gesichertem, ontologischem Wissen gewährleisten, <strong>als</strong> vielmehr<br />

zu einem vertieften und differenzierten Verständnis der sozialen Prozesse im<br />

Forschungsfeld führen. Das so gewonnene Erfahrungswissen erschliesst neue<br />

Sichtweisen bzw. Sinndeutungen über die sozial konstruierte Wirklichkeit des<br />

Forschungsobjekts und erweitert dadurch das kollektive Handlungsvermögen<br />

in eben dieser Wirklichkeit.<br />

Der relational-konstruktivistische Forschungsprozess greift <strong>als</strong>o nicht auf eine<br />

positivistische „Begründungsmethodologie“ (Kubicek 1977) zurück, sondern<br />

operiert mit einer eigenen „Rekonstruktionsmethodologie“. <strong>Die</strong> vier wichtigsten<br />

Merkmale dieser Rekonstruktionsmethodologie werden nachstehend<br />

beschrieben.<br />

Prozess statt Hypothesen<br />

Im Zentrum der Rekonstruktionsmethodologie steht nicht der Test irgendwelcher<br />

a-priori-Hypothesen, sondern ein explorativer Lernprozess (vgl.<br />

Kubicek 1977; Arbnor/Bjerke 1997; Gill/Johnson 1997). <strong>Die</strong> Rekonstruktionsmethodologie<br />

geht da<strong>von</strong> aus, dass die Forschenden das Objekt ihrer<br />

Forschung (noch) nicht kennen, sondern zuerst einmal durch gezielte<br />

Erfahrungsgewinnung selbst kennen lernen müssen. In einer „iterativen<br />

Heuristik“ (Kubicek 1977) werden deshalb theoriegeleitete Fragen an das<br />

30 Der Begriff „Forschungsobjekt“ ist für ein relational-konstruktivistisches Forschungsprogramm<br />

natürlich völlig unzulänglich. Der englische Begriff der „unit of analysis“ lässt sich leider nicht<br />

angemessen übersetzen. Mangels einer besseren Alternative bleibt nichts anderes übrig, <strong>als</strong> den<br />

Begriff Forschungsobjekt weiterhin zu verwenden. Objekt darf jedoch nicht in einem<br />

positivistischen Sinn verstanden werden, sondern so, wie Glanville (1997, S. 152) das vorschlägt:<br />

„Wenn ich z.B. daran denke, hier ein Objekt zu haben, dann ist es mein ‚subject of attention’, <strong>als</strong>o<br />

der Gegenstand meiner Aufmerksamkeit. Objekte sind insofern immer auch subjektiv. ... Objekte<br />

werden dadurch hergestellt, dass wir mit, vielleicht besser ‚in’ dem Ding sind, uns mit ihm<br />

beschäftigen.“<br />

26


FORSCHUNGSMETHODISCHE IMPLIKATIONEN<br />

Objekt der Forschung gestellt. Durch die Verarbeitung des dabei gewonnenen<br />

Erfahrungswissens wird der theoretische Bezugsrahmen in einem zirkulären<br />

Prozess laufend novelliert und erweitert sowie neue theoriegeleitete Fragen<br />

ausgearbeitet. Daraus entsteht eine kontinuierlich ausdifferenzierte<br />

Rekonstruktion des Forschungsobjekts, die schliesslich die kreative<br />

Umsetzung verdichteter Aussagen in eine erfahrungsgestützte Theorie<br />

ermöglicht.<br />

Heuristisch vorgehen heisst, dass nicht nur die Forschungsfragen, sondern<br />

auch die einzelnen Forschungsaktivitäten nicht im Voraus exakt planbar sind.<br />

Vielmehr ist der Forschungsprozess eine kontinuierliche Re-Evaluation der<br />

ursprünglich formulierten Forschungsfragen und der geplanten Forschungsaktivitäten<br />

in Abstimmung mit dem Fortschritt und den bisherigen Ergebnissen<br />

der Forschung (vgl. Watson 1994).<br />

Dialog statt Instrumente<br />

Der Forschungsprozess wird getrieben <strong>von</strong> Fragen. Doch wie fragt man, wenn<br />

„you know that you don’t know“ (Arbnor/Bjerke 1997)? <strong>Eine</strong><br />

Forschungsmethodik, die Forschung <strong>als</strong> Lernprozess versteht, kann nicht auf<br />

vorstrukturierte Methoden und geschlossene Instrumente zurückgreifen. <strong>Die</strong><br />

sinnhaften Konstruktionsprozesse sozialer Wirklichkeit lassen sich nur durch<br />

ein hermeneutisches, situatives Fragen und durch dialogische Methoden wie<br />

z.B. dem narrativen Interview (vgl. z.B. Froschauer/Lueger 1992) erschliessen.<br />

Der Dialog zwischen den Forschenden und den Menschen im Forschungsfeld<br />

findet <strong>als</strong> doppelter sensemaking-Prozess 31 statt (Weick 1989b): die<br />

Forschenden rekonstruieren im Gespräch die soziale Konstruktion der<br />

Wirklichkeit ihrer Gesprächspartner. Sprache ist demnach sowohl Medium<br />

(sozial konstruierte Wirklichkeit beschreiben bzw. erfragen) wie Ergebnis<br />

(sozial konstruierte Wirklichkeit schaffen bzw. rekonstruieren) der Forschung<br />

(vgl. Burr 1995; Weik 1996) und wird ein zentraler Aspekt des Forschungsprozesses.<br />

Forschung muss sich folglich mit Sprache bzw. Sprechen<br />

befassen. 32<br />

31<br />

Giddens (1984b) spricht in diesem Zusammenhang <strong>von</strong> „double hermeneutics“ und die modernen<br />

Systemtheoretiker nennen das eine „Beobachtung 2. Ordnung“ (vgl. Luhmann 1990a).<br />

32<br />

Zur Bedeutung <strong>von</strong> Sprache für die Forschung findet sich eine dichte sprachtheoretische<br />

Zusammenfassung in Rüegg-Stürm (2001, S. 33ff).<br />

27


FORSCHUNGSMETHODIK<br />

Kontext statt Ereignisse<br />

Soziale Wirklichkeit konstruiert sich nicht voraussetzungslos. Immer wird dabei<br />

auf das Bezug genommen, was bereits ist (vgl. Kieser 1998). <strong>Die</strong> Konstruktion<br />

sozialer Wirklichkeit vollzieht sich somit durch kontinuierliche „Vergewisserung“<br />

dessen, was bisher und weiterhin <strong>als</strong> wirklich und gültig zu betrachten ist<br />

(Rüegg-Stürm 2001, S. 42).<br />

Einzelne Ereignisse der sozialen Wirklichkeit werden dabei nur deshalb zu<br />

Ereignissen, weil sie in diesem Vergewisserungsprozess aus dem stetigen<br />

Strom an sozialem Geschehen herausgehoben und in einen speziellen Sinnzusammenhang<br />

gestellt werden.<br />

<strong>Die</strong>ser Sinnzusammenhang, das heisst der raum-, zeit- und beobachtungsabhängige<br />

Kontext, ist für die relational-konstruktivistische Forschung daher<br />

massgebender <strong>als</strong> einzelne Ereignisse (vgl. Dachler 1992).<br />

Nähe statt Distanz<br />

Wenn sich soziale Wirklichkeit in einem kommunikativen Prozess der<br />

laufenden Vergewisserung vollzieht, so ist eine Rekonstruktion dieser sozial<br />

konstruierten Wirklichkeit nur möglich durch eine Teilhabe an eben diesen<br />

Konstruktions- und Vergewisserungsprozessen. Forschung setzt <strong>als</strong>o Nähe<br />

zum Forschungsobjekt voraus.<br />

Während Nähe in einem positivistischen Forschungsprogramm <strong>als</strong> methodologischer<br />

Verstoss gilt, ist das im relational-konstruktivistischen Forschungsprogramm<br />

eine Voraussetzung der Forschung (Dachler 1997a). Das relationalkonstruktivistische<br />

Wissenschaftsprogramm greift daher auf ethnomethodologische<br />

Forschungsmethoden zurück (Garfinkel 1967; Gellner/Hirsch 2001).<br />

Soweit die Eckpunkte einer relational-konstruktivistischen Forschungsmethodik.<br />

Im Folgenden wird mit der longitudinalen Prozessforschung eine<br />

Forschungsmethode vorgestellt, die diese Prämissen in die Praxis umsetzt.<br />

2.2 Longitudinale Prozessforschung<br />

Wie im vorangehenden Kapitel dargelegt, impliziert das relationalkonstruktivistische<br />

Wissenschaftsprogramm grundsätzlich die Unmöglichkeit,<br />

den Forschungsprozess im Vornherein genau zu strukturieren. Dennoch muss<br />

28


29<br />

LONGITUDINALE PROZESSFORSCHUNG<br />

sich der Forschungsprozess an gewissen Vorgaben orientieren, damit er sich<br />

nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit aussetzt. 33<br />

Pettigrew (1985, 1990, 1992, 1997) hat mit der longitudinalen Prozessforschung<br />

eine Forschungsmethode entwickelt, die ideal zum relationalkonstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramm passt. <strong>Die</strong> konkrete<br />

Ausgestaltung des empirischen Forschungsprojekts, das in Kapitel 1<br />

beschrieben wird, lehnt sich an diese longitudinale Prozessforschung an.<br />

Nachfolgend sollen daher kurz ihre Grundprinzipien skizziert werden. 34<br />

2.2.1 Beschreibung der longitudinalen<br />

Prozessforschung<br />

<strong>Die</strong> longitudinale Prozessforschung ist eine Forschungsmethode zur<br />

Exploration organisationstheoretischer Fragestellungen. Sie gründet in der<br />

Einsicht, dass „theoretically sound and practically useful research ... should<br />

explore the contexts, content, and process ... together with their<br />

interconnections through time.“ (Pettigrew 1990, S. 268)<br />

Kontext<br />

Inhalt<br />

Prozess<br />

Abbildung 7: Perspektiven der longitudinalen Prozessforschung<br />

33 Vgl. das Gütekriterium Regelgeleitetheit in Abbildung 4.<br />

34 <strong>Die</strong> Ausführungen des Kapitels 2.2 stützen sich auf ein Arbeitspapier des Forschungsprojekts<br />

Learning Dynamics (Schütz/Mühlbach 2001).


FORSCHUNGSMETHODIK<br />

Inhalt bezieht sich hier auf das Thema der Forschung im engeren Sinn, das<br />

heisst die eigentliche Forschungsfrage. Um die Forschungsfrage überhaupt<br />

angemessen verstehen und beantworten zu können, müssen neben dem<br />

fachlich-inhaltlichen Aspekt stets auch Kontext und Prozess mit in die<br />

Untersuchung einbezogen werden.<br />

Den Kontext einer <strong>Organisation</strong> einzubeziehen heisst, in einer Mehrebenenanalyse<br />

nicht nur die <strong>Organisation</strong> selbst, sondern auch mögliche<br />

Einwirkungen der organisationalen Umwelt (Wirtschaftspolitik, Branche,<br />

Wettbewerb) bzw. einzelner Teilbereiche der <strong>Organisation</strong> (<strong>Organisation</strong>sstruktur,<br />

Machtverteilung, Entscheidungsprozesse) auf die <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong><br />

Ganzes zu untersuchen.<br />

Den Prozess einer <strong>Organisation</strong> zu berücksichtigen heisst, die historische<br />

Pfadabhängigkeit einer <strong>Organisation</strong> aufzuzeigen, indem organisationale<br />

Ereignisse oder Handlungen in ihrer zeitlichen Abfolge dargestellt und<br />

miteinander verknüpft werden.<br />

Pettigrew betont, dass die longitudinale Prozessforschung keine vorgefertigte<br />

Vorgehensweise ist: „... the real challenge lies in applying this theory of<br />

method. In this kind of research there is no ideal set of procedures, steps, or<br />

rules of application ...“ (1997, S. 342). Er gibt jedoch Hinweise auf<br />

verschiedene Punkte, die bei der Gestaltung des Forschungsprozesses zu<br />

beachten sind (1990, S. 271ff):<br />

a) Wahl des Forschungsorts<br />

<strong>Die</strong> Wahl des Forschungsorts hängt mindestens ebenso <strong>von</strong> sorgfältiger<br />

Planung und bewusster Wahl wie <strong>von</strong> sich zufällig ergebenden Möglichkeiten<br />

und Opportunismus ab. Besonders zu empfehlen sind extreme Situationen<br />

oder kritische Ereignisse, weil sich dort wahrscheinlich besonders dichte<br />

Episoden beobachten lassen. Ebenfalls soll auf Schlüsselorte geachtet<br />

werden, das heisst Forschungsorte, bei denen ein direkter und intensiver<br />

Zugang möglich ist. Ist dieser Erstzugang einmal etabliert, kann <strong>von</strong> dort aus<br />

ein Beziehungsnetzwerk zu der gesamte <strong>Organisation</strong> aufgebaut und der<br />

Forschungsort kontinuierlich ausgedehnt werden.<br />

b) Berücksichtigung <strong>von</strong> Zeit<br />

Zeit ist ein wichtiger Aspekt in der Prozessforschung, denn der gewählte<br />

Zeitabschnitt bzw. die gewählte Forschungsepisode bestimmt automatisch die<br />

30


31<br />

LONGITUDINALE PROZESSFORSCHUNG<br />

Forschungsperspektive. Zeit setzt somit einen Bezugsrahmen, der steuert,<br />

was die Forschenden sehen und wie sie das Gesehene interpretieren. <strong>Die</strong><br />

Definition <strong>von</strong> Anfang und Ende der zu erforschenden Episode ist deshalb <strong>von</strong><br />

grösster Bedeutung.<br />

c) Forschungstechnik und Plausibilisierung<br />

<strong>Die</strong> Prozessforschung arbeitet mit verschiedenen Forschungstechniken<br />

(„triangulated methodology“, Pettigrew 1990, S. 277), wie zum Beispiel<br />

narrativen Interviews, Dokumentenanalyse und teilnehmender Beobachtung.<br />

Zusätzlich finden im Rahmen der Prozessforschung so genannte<br />

Aktionsforschungsworkshops statt. In diesen Workshops präsentieren die<br />

Forschenden den aktuellen (Zwischen-)Stand ihrer Forschungsergebnisse und<br />

machen so die Resultate ihrer Forschung den Menschen im Forschungsfeld<br />

zugänglich. Ausserdem sind diese Aktionsforschungsworkshops ein probates<br />

Mittel zur Plausibilisierung der (vorläufigen) Forschungsergebnisse.<br />

Abschliessend muss festgestellt werden, dass trotz verschiedenster<br />

Publikationen und Konkretisierungen die longitudinale Prozessforschung ein<br />

eher offenes Konzept bleibt. <strong>Die</strong> zukünftige Prozessforscherin tut daher gut<br />

daran, sich neben der Prozessforschung auch noch an anderen, ähnlichen<br />

Forschungsmethoden zu orientieren. Im folgenden Kapitel werden darum drei<br />

Forschungsmethoden beschrieben, die einen vergleichbaren Ansatz haben<br />

wie die longitudinale Prozessforschung und sich ebenfalls gut in das relationalkonstruktivistische<br />

Wissenschaftsprogramm einfügen lassen. Für jede der drei<br />

Forschungsmethoden wird untersucht, was die longitudinale Prozessforschung<br />

<strong>von</strong> der jeweiligen Forschungsmethode lernen kann.<br />

2.2.2 Verwandte Forschungsmethoden<br />

Es gibt drei Forschungsmethoden, die eine enge Verwandtschaft zur<br />

longitudinalen Prozessforschung aufweisen, und daher <strong>als</strong> Ergänzung in<br />

Frage kommen: die Case Study Research, die Ethnographie und die<br />

Aktionsforschung.<br />

2.2.2.1 Case Study Research<br />

<strong>Die</strong> Case Study Research ist eine Forschungsmethode, die in der Literatur<br />

breit behandelt worden ist (vgl. z.B. Yin 1984; Eisenhardt 1989, 1991). Nach<br />

Eisenhardt (1989, S. 534) ist die Case Study Research „a research strategy


FORSCHUNGSMETHODIK<br />

which focuses on understanding the dynamics present within single settings.“<br />

Sie verfolgt <strong>als</strong>o ähnliche Ziele wie die longitudinale Prozessforschung (vgl.<br />

Pettigrew 1990). Es erstaunt deshalb nicht, dass die Case Study Research<br />

über weite Teile hinweg ähnliche Merkmale wie die longitudinale Prozessforschung<br />

aufweist. <strong>Die</strong> Ähnlichkeit zwischen longitudinaler Prozessforschung<br />

und der Case Study Research ist so gross, dass die longitudinale<br />

Prozessforschung häufig selbst der Case Study Research zugeordnet wird<br />

(vgl. Eisenhardt 1989).<br />

Ein direkter Vergleich zwischen der Case Study Research und der<br />

longitudinalen Prozessforschung deckt jedoch einen entscheidenden<br />

Unterschied zwischen diesen beiden Forschungsmethoden auf. Obwohl sich<br />

beide Methoden auf die interpretative Wissenschaftstheorie stützen, gehen sie<br />

<strong>von</strong> unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Prämissen aus: die Case<br />

Study Research verfolgt ein eher ontologisches Erkenntnisinteresse, während<br />

die Prozessforschung deutlich einem epistemologischen Erkenntnisinteresse<br />

verpflichtet ist. 35<br />

<strong>Die</strong>ser Unterschied legt es nahe, die longitudinale Prozessforschung nicht<br />

unter der Case Study Research zu subsumieren, sondern <strong>als</strong> eigenständige<br />

Forschungsmethode zu verstehen. Dennoch sind insbesondere zwei Punkte<br />

aus der Literatur über die Case Study Research auch für die longitudinale<br />

Prozessforschung aufschlussreich:<br />

a) Hinweise für eine Einzelfallstudie<br />

Auch im Rahmen einer Einzelfallstudie darf nicht auf eine komparative<br />

Analyse verzichtet werden. Im Gegensatz zu einer Cross Case Analysis findet<br />

die komparative Analyse bei einer Einzelfallstudie jedoch nicht zwischen zwei<br />

oder mehreren Fallstudien statt, sondern innerhalb desselben Falls, indem<br />

verschiedene Episoden oder Ebenen innerhalb der Einzelfallstudie<br />

miteinander verglichen werden. Eisenhardt nennt dies die “embedded single<br />

case study” (1991, S. 622).<br />

35 Vgl. dazu die Literaturhinweise in Fussnote 13.<br />

32


33<br />

LONGITUDINALE PROZESSFORSCHUNG<br />

b) Hinweise zu Feldnotizen<br />

Nützlich sind auch die Hinweise zum Thema Feldnotizen bei Yin (1984,<br />

S. 98ff):<br />

• Trennen <strong>von</strong> Beobachtung und Interpretation<br />

In den Feldnotizen ist stets auf eine klare Trennung <strong>von</strong><br />

Ursprungsdaten (Beobachtung) und Forschungsergebnissen<br />

(Interpretation) zu achten.<br />

• Führen einer Forschungsdatenbank<br />

Sämtliche Forschungsaktivitäten sind in einer (elektronischen)<br />

Datenbank zu dokumentieren, mit Hilfe derer jederzeit direkt auf<br />

die Feldnotizen zurückgegriffen werden kann. Idealerweise<br />

unterstützt die Datenbank Querweise zwischen den einzelnen<br />

Einträgen, so dass ein roter Faden durch die Datenbank gelegt<br />

werden kann.<br />

• Kategorisieren und Beschlagworten<br />

Feldnotizen sind zu kategorisieren und beschlagworten. Das hilft,<br />

selbst bei grosser Datenmenge einen Überblick über die<br />

Feldnotizen zu erhalten, und unterstützt den gezielten Zugriff auf<br />

Feldnotizen auch in einer späteren Phase bzw. während des<br />

Schreibens der Fallstudie.<br />

• Zwischenergebnisse dokumentieren<br />

Auch allfällige Zwischenergebnisse sind zu dokumentieren und<br />

zu archivieren, damit die Entwicklung der endgültigen<br />

Forschungsergebnisse jederzeit nachvollzogen werden kann.<br />

2.2.2.2 Ethnographie<br />

<strong>Eine</strong> Beziehung zwischen der longitudinalen Prozessforschung und der<br />

Ethnographie herzustellen bietet sich an, weil die Prozessforschung selbst auf<br />

ethnographische Forschungsmethoden (wie z.B. teilnehmende Beobachtung)<br />

zurückgreift.<br />

Ethnographie und Prozessforschung stammen aus zwei völlig<br />

unterschiedlichen Kontexten (Anthropologie einerseits und <strong>Organisation</strong>sforschung<br />

andererseits). Allerdings ist Ethnographie im Rahmen der<br />

<strong>Organisation</strong>sforschung kein neues Thema. Es gibt eine Reihe hervorragender<br />

und viel beachteter Beispiele ethnographischer Forschung in der Organisa-


FORSCHUNGSMETHODIK<br />

tionsliteratur (vgl. z.B. Dalton 1959; Kanter 1977; Barley 1983; Bartunek 1984;<br />

Orr 1996).<br />

<strong>Die</strong> Ethnographie will aus dem sozialen und kulturellen Leben <strong>von</strong><br />

Gemeinschaften und <strong>Organisation</strong>en lernen. 36 „Ethnography generates or<br />

builds theories of cultures - or explanations of how people think, believe, and<br />

behave - that are situated in local time and space.“ (LeCompte/Schensul 1999,<br />

S. 8) Typisch für die ethnographische Forschung ist, dass sie nicht in einer<br />

kontrollierten Laborsituation stattfindet, sondern die Forschenden Gast sind im<br />

Alltag des Forschungsfelds. Mit anderen Worten: Ethnographisch Forschende<br />

haben keine Kontrolle über das, was im Forschungsfeld abläuft. Gleichzeitig<br />

sind sie selbst das wichtigste Forschungsinstrument, das sie einsetzen<br />

können: „The basic tools of ethnography use the researcher’s eyes and ears<br />

as the primary modes for data collection. ... [E]thnographic researchers learn<br />

through systematic observation in the field by interviewing and carefully<br />

recording what they see and hear, as well as how things are done, while<br />

learning the meanings that people attribute to what they make and do.“<br />

(LeCompte/Schensul 1999, S. 2)<br />

Was kann die longitudinale Prozessforschung <strong>von</strong> der Ethnographie lernen?<br />

Vor allem zwei in der Literatur zur ethnographischen Methode diskutierte<br />

Themen können fruchtbar auf die Prozessforschung übertragen werden:<br />

a) Aufbau und Pflege <strong>von</strong> Feldbeziehungen<br />

<strong>Die</strong> Gestaltung <strong>von</strong> Feldbeziehungen ist ein zentrales Thema. Jorgensen<br />

(1989) widmet in seinem Buch ein ganzes Kapitel der Frage, wie Feldbeziehungen<br />

aufgebaut und gepflegt werden können. Dabei verweist er auf<br />

zwei Aspekte der Feldbeziehung:<br />

• Vertrauen und Zusammenarbeit<br />

Vertrauen und Zusammenarbeit sind die Grundlage jeder<br />

Feldbeziehung. Doch wie gewinnt man sie? Jorgensen rät den<br />

Forschenden, stets zu betonen, dass die Zusammenarbeit<br />

freiwillig ist, die Identität aller Personen anonym bleiben wird,<br />

und dass jede Information vertraulich behandelt wird. Im<br />

36 Allerdings haben sich die Vorstellungen darüber, was genau ethnographische Forschung ist,<br />

ziemlich unterschiedlich entwickelt (vgl. dazu Hammersley/Atkinson 1983).<br />

34


35<br />

LONGITUDINALE PROZESSFORSCHUNG<br />

Weiteren sollen die Forschenden darauf achten, sich im Feld<br />

möglichst unauffällig zu verhalten, z.B. dadurch, dass sie sich<br />

gleich kleiden oder gleiche Dinge tun wie die anderen Menschen<br />

im Feld.<br />

• Reziprozität und Austausch<br />

„What do you have to offer people in exchange for trust,<br />

cooperation, information, ...?“ fragt Jorgensen (1989, S. 71). Am<br />

direktesten können die Forschenden Reziprozität im Geben und<br />

Nehmen der Feldbeziehung dadurch sicherstellen, dass sie den<br />

Menschen im Feld mit Respekt und echtem Interesse begegnen<br />

und sie an den Ergebnissen der Forschung teilhaben lassen.<br />

b) Schreiben <strong>von</strong> Forschungsberichten<br />

<strong>Die</strong> Frage der Aufbereitung ethnographischer Daten ist intensiv diskutiert<br />

worden (vgl. z.B. Van Maanen 1983, 1995b). Golden-Biddle und Locke (1993)<br />

haben in ihrer Untersuchung aufgezeigt, dass es beim Schreiben <strong>von</strong><br />

ethnographischen Texten auf drei Punkte ankommt: Sie überzeugen durch<br />

ihre Authentizität, durch ihre Plausibilität und durch ihre Fähigkeit, bei den<br />

Lesenden eine kritische Reflexion auszulösen („criticality“).<br />

• Authentizität<br />

Authentizität verlangt die wahrheitsgetreue Schilderung des<br />

Forschungsfelds und wird im Text durch zwei Faktoren vermittelt:<br />

Zum einen muss der Text durch seinen Kenntnisreichtum<br />

vermitteln, dass die Forschenden wirklich dort im Feld waren<br />

(„having been there“, Golden-Biddle/Locke 1993, S. 599); zum<br />

andern muss der Text auch glaubhaft machen, dass die<br />

Beschreibungen die Eigenheiten des Feldes so wiedergeben,<br />

wie sie <strong>von</strong> den Menschen im Feld selbst (und nicht <strong>von</strong> den<br />

Forschenden) wahrgenommen werden.<br />

• Plausibilität<br />

Plausibilität heisst, dass die Lesenden einen Bezug zum Thema<br />

finden und der Text einen Beitrag zum besseren Verständnis<br />

leistet. <strong>Die</strong>ses Ziel wird dadurch erreicht, dass der Text eine<br />

gewisse Asymmetrie zu den Lesenden hat. Der Text muss<br />

genügend bekannte Aussagen enthalten, damit die Lesenden<br />

den Anschluss daran finden können, er muss jedoch auch


FORSCHUNGSMETHODIK<br />

genügend neue Informationen beinhalten, damit der Text für die<br />

Lesenden nicht zu trivial und banal wird. Der Text muss <strong>als</strong>o<br />

einen „pragmatischen Neuigkeitswert“ haben (<strong>von</strong> Weizsäcker<br />

1987).<br />

• kritische Reflexion<br />

Der Text muss die Fähigkeit haben, die Lesenden zum Denken<br />

zu bringen und sie dazu anzuregen, ihre eigenen Vorstellungen<br />

und Glaubenssätze zu hinterfragen. <strong>Die</strong>se Fähigkeit erlangt ein<br />

Text nicht nur durch seinen Inhalt, sondern vor allem auch<br />

dadurch, in welcher Form dieser Inhalt präsentiert wird (vgl. Van<br />

Maanen 1995b).<br />

2.2.2.3 Aktionsforschung<br />

<strong>Die</strong> longitudinale Prozessforschung sieht Aktionsforschungsworkshops vor,<br />

geht jedoch nicht näher darauf ein, wie solche Workshops forschungsmethodisch<br />

zu gestalten sind. Es ist daher sicherlich empfehlenswert, sich <strong>als</strong><br />

dritte und letzte Forschungsmethode mit der Aktionsforschung näher<br />

auseinanderzusetzen.<br />

Aktionsforschung ist eine Forschungsstrategie, die ebenso alt wie umstritten<br />

ist. 37 Aktionsforschung soll Wissen im <strong>Die</strong>nst der Praxis generieren, und dazu<br />

werden Forschen, Handeln und Lernen gezielt zusammengebracht. In dieser<br />

Nähe <strong>von</strong> Forschung und Praxis liegt die Stärke der Aktionsforschung <strong>als</strong><br />

„enabling science” (Susman/Evered 1978).<br />

Aus der Literatur zur Aktionsforschung können zwei wichtige Erkenntnisse für<br />

die Prozessforschung gewonnen werden:<br />

a) Der Forschungskontrakt<br />

Aktionsforschung setzt das Einverständnis der betroffenen Menschen im<br />

Forschungsfeld voraus. Bruce und Wyman (1998) empfehlen deshalb, eine Art<br />

37 Vgl. z.B. Rapoport 1970, Susman/Evered 1978 oder König 1983.<br />

Ausserdem ist zu sagen, dass es so etwas wie die Aktionsforschung gar nicht gibt. Vielmehr<br />

unterteilt sich die Aktionsforschung in einzelne Schulen. Zu nennen wären insbesondere die<br />

Action Science <strong>von</strong> Argyris, Putnam und McLain-Smith (1985), die Participatory Action Research<br />

<strong>von</strong> Whyte (1991), die deutsche Form der Aktionsforschung (dargestellt z.B. bei Moser 1975)<br />

oder der Actors Approach <strong>von</strong> Arbnor und Bjerke (1997).<br />

36


37<br />

LONGITUDINALE PROZESSFORSCHUNG<br />

<strong>von</strong> „memorandum of understanding“ gemeinsam mit den Menschen im Feld<br />

zu erarbeiten. <strong>Die</strong>ses „memorandum of understanding“ ist nicht zu<br />

verwechseln mit dem juristischen Forschungsvertrag, der die rechtlichen<br />

Aspekte des Forschungsprojekts regelt. Der Forschungskontrakt im Sinne<br />

eines „memorandum of understanding“ regelt die Beziehungsaspekte der<br />

Forschungszusammenarbeit. Dabei ist auf Folgendes zu achten:<br />

• Form<br />

Der Forschungskontrakt kann schriftlich sein, muss aber nicht. Er<br />

kann beispielsweise auch die Form eines psychologischen<br />

Vertrags annehmen. Er wird in der Regel nicht für die Dauer des<br />

gesamten Forschungsprojekts fest abgeschlossen, sondern<br />

bleibt in ständiger Ausarbeitung und Konkretisierung. Mit Beginn<br />

jeder neuen Phase des Forschungsprojekts wird das<br />

„memorandum of understanding“ erneuert und wenn notwendig<br />

angepasst. <strong>Die</strong>s kann durchaus stillschweigend erfolgen.<br />

• Inhalt<br />

<strong>Die</strong> Vereinbarung sollte das gemeinsame Verständnis und<br />

Einverständnis hinsichtlich der folgenden Punkte schaffen und<br />

verbindlich machen:<br />

− thematischer Fokus: um was geht es bei der Forschung, worin<br />

besteht der Erkenntnisgewinn?<br />

− Rolle der Forschenden: was tun die Forschenden im Feld und<br />

wie verhalten sie sich dabei?<br />

− Ressourcen: welche Ressourcen muss das Feld bereitstellen,<br />

mit wem arbeiten die Forschenden im Feld zusammen, wie<br />

erfolgt diese Zusammenarbeit, auf welche vorhandenen<br />

unternehmensinternen Unterlagen und Dokumente können die<br />

Forschenden zugreifen?<br />

− Zeitrahmen: wie lange dauert das Forschungsprojekt, wie<br />

intensiv sind die Forschenden während dieser Zeit im Feld<br />

präsent?<br />

− Berichterstattung: wie informieren die Forschenden die<br />

Menschen im Feld über ihre Forschungsarbeit und deren<br />

Erkenntnisse?


FORSCHUNGSMETHODIK<br />

• Vertragspartner<br />

<strong>Die</strong> Forschenden müssen den Forschungskontrakt nicht nur mit<br />

dem verantwortlichen Management der <strong>Organisation</strong> abschliessen,<br />

sondern während des gesamten Forschungsprojekts auch<br />

laufend mit all denjenigen Personen, die in die Forschungsaktivitäten<br />

der Forschenden unmittelbar involviert werden.<br />

b) Gestaltung eines Aktionsforschungsworkshops<br />

Aktionsforschungsworkshops sollen einen Rahmen schaffen, in dem die<br />

Menschen im Feld über ihr Wissen und ihr Handeln nachdenken können. „...<br />

the point is to slow down the action so that actors can reflect on the tacit<br />

understandings embedded in action.“ (Argyris/Putnam/et al. 1985, S. 60) <strong>Die</strong><br />

Interventionen der Aktionsforschung sind demnach keine direkten, steuernden<br />

Eingriffe in den organisationalen Alltag. Vielmehr sollen sie einen diskursiven<br />

Rahmen schaffen und den Dialog im Feld stärken, so dass die Menschen im<br />

Feld dazu angeregt werden, sich über ihren organisationalen Alltag Gedanken<br />

zu machen. Damit dieser Reflexionsprozess aktiv unterstützt wird, empfehlen<br />

Argyris und Schön (1996, S. 154f), einen Aktionsforschungsworkshop wie folgt<br />

<strong>als</strong> Feedbackprozess zu gestalten:<br />

• Beschreibung der Elemente<br />

In einem ersten Schritt soll das gesammelte Material so<br />

verdichtet und beschrieben werden, dass es einen Überblick gibt<br />

über die typischen Interaktionen der Menschen im Feld.<br />

• Verknüpfung der Elemente<br />

In einem zweiten Schritt sollen die einzelnen Elemente<br />

zueinander in Verbindung gesetzt werden, so dass sich ein<br />

umfassendes Interaktionsmuster ergibt, das die vergangene und<br />

gegenwärtige Dynamik im Forschungsfeld beschreiben und<br />

erklären kann.<br />

• Interpretation der Elemente<br />

Zusammenfassend sollen die gesamten Ergebnisse visualisiert<br />

und interpretiert werden. Das soll den Menschen im<br />

Forschungsfeld ein möglichst umfassendes Verständnis ihres<br />

gegenwärtigen organisationalen Alltags ermöglichen und sie<br />

ausserdem dabei unterstützen, ihre Erkenntnisse in einem<br />

38


ZUSAMMENFASSUNG: VORGEHENSHEURISTIK<br />

reflexiven Transfer für eine kontinuierliche Verbesserung des<br />

organisationalen Alltags zu nutzen.<br />

2.3 Zusammenfassung: Vorgehensheuristik<br />

Prozessforschung kennt keine Punkt-für-Punkt-Anleitung für das Vorgehen im<br />

Feld. Als einziger Orientierungsrahmen kann aus dem Kapitel 2.2 ein<br />

heuristischer Leitfaden zur kontinuierlichen Gestaltung und Ausdifferenzierung<br />

des Forschungsprozesses abgeleitet werden. <strong>Die</strong>ser Leitfaden, der die<br />

Prozessforschung mit Erkenntnissen aus der der Case Study Research, der<br />

Ethnographie und der Aktionsforschung verbindet, nennt sechs iterative und<br />

rekursive Schritte, denen die Forschenden im Sinne einer Handlungsempfehlung<br />

folgen können (vgl. Abbildung 8).<br />

Definition des Forschungsziels<br />

Formulierung <strong>von</strong> Forschungsfragen<br />

Wahl des Forschungsorts und<br />

des zeitlichen Bezugsrahmens<br />

Planung des Forschungsprozesses<br />

und Gestaltung der Feldbeziehungen<br />

Dokumentation der Forschungsaktivitäten<br />

und der Ursprungsdaten<br />

Ausarbeitung der Forschungsergebnisse<br />

und Schreiben des Forschungsberichts<br />

Präsentation des Forschungsberichts und<br />

Plausibilisierung der Forschungsergebnisse<br />

Abbildung 8: Vorgehensheuristik der Prozessforschung<br />

39


FORSCHUNGSMETHODIK<br />

In Kapitel 6.1 <strong>von</strong> Teil III wird beschrieben, wie das der Dissertation zugrunde<br />

liegende Forschungsprojekt gestützt auf diese Vorgehensheuristik organisiert<br />

und durchgeführt worden ist. Als nächstes folgt nun in Teil II die Darstellung<br />

des organisationstheoretischen Bezugsrahmens des gewählten relationalkonstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramms (vgl. Abbildung 2).<br />

40


TEIL II: EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

41<br />

Was wir brauchen,<br />

sind nicht neue Patentrezepte,<br />

sondern ein tiefer gehendes Verständnis,<br />

wie Unternehmen jenseits <strong>von</strong><br />

Bürokratie und Hierarchie funktionieren.<br />

Stefan Kühl<br />

<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong>stheorie ist eine Theorie über die Praxis der <strong>Organisation</strong>.<br />

Inwieweit sie auch eine Theorie für die <strong>Organisation</strong>spraxis sein soll - das<br />

heisst Handlungsempfehlungen und Instrumente für eine erfolgreiche<br />

<strong>Organisation</strong>spraxis liefern muss bzw. kann - ist eine der grossen<br />

Diskussionen in der <strong>Organisation</strong>stheorie selbst. 38<br />

Wie in dieser Diskussion argumentiert wird, ist nicht zufällig. Das hängt<br />

einerseits da<strong>von</strong> ab, welches Verständnis <strong>von</strong> Theorie zugrunde liegt (vgl.<br />

Kapitel 1.3). Andererseits ist entscheidend, <strong>von</strong> welchen (impliziten)<br />

Vorstellungen darüber ausgegangen wird, was eine <strong>Organisation</strong> ist und wie<br />

sie funktioniert.<br />

Ziel des Teils II ist es, genau diese zweite Frage zu beantworten. Ausgehend<br />

vom aktuellen Stand der <strong>Organisation</strong>stheorie wird ein postmodernes Bild des<br />

Phänomens <strong>Organisation</strong> entwickelt (Kapitel 3) und der Versuch gemacht, mit<br />

Rückgriff auf verschiedene theoretische Bausteine (Kapitel 4) dieses<br />

<strong>Organisation</strong>sverständnis in einen angemessenen Rahmen zu fassen (Kapitel<br />

5).<br />

<strong>Die</strong> Einheit der Wissenschaft verlangt, dass dabei den eigenen wissenschaftstheoretischen<br />

Ansprüchen zu genügen ist. Insbesondere bedeutet das, sich<br />

stets bewusst zu sein, dass Theoriebildung ein selbstreflexiver Prozess ist, in<br />

dem „the researcher/theorist plays an active role in constructing the very<br />

reality he/she is attempting to investigate.“ (Chia 1996b, S. 42)<br />

38 Vgl. dazu z.B. die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der <strong>Organisation</strong>stheorie in<br />

der Zeitschrift Organization Studies (Hinings/Clegg/et al. 1988).


ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

3 ORGANISATIONSTHEORIE ALS<br />

EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

„[<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong>stheorie] dient dem Zweck, das Entstehen, das Bestehen<br />

und die Funktionsweise <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en zu erklären bzw. zu verstehen.<br />

Sie dient damit (implizit oder explizit) der Verbesserung der<br />

<strong>Organisation</strong>spraxis.“ (Scherer 1999, S. 1)<br />

Auf diesen einen Satz verdichtet, scheint <strong>Organisation</strong>stheorie eine ziemlich<br />

klare und unproblematische Sache zu sein. Ein Blick auf die Geschichte 39 und<br />

auf den Meta-Diskurs 40 der <strong>Organisation</strong>stheorie lässt dieses friedliche Bild<br />

jedoch rasch verfliegen. <strong>Die</strong> pluralistische Wende in der Wissenschaftstheorie<br />

ist an der <strong>Organisation</strong>stheorie nicht spurlos vorbeigegangen (vgl. Kapitel 3.1).<br />

<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong>stheorie präsentiert sich <strong>als</strong> fragmentierte Disziplin und die<br />

Grenzen der Verwissenschaftlichung organisationaler Praxis sind spürbar<br />

geworden: „Zu wissen, dass man grundsätzlich über reiche Erfahrungen im<br />

Umgang mit <strong>Organisation</strong>en verfügt, ist eine Sache; eine ganz andere aber,<br />

beschreiben zu können, wie im einzelnen reagiert und agiert wurde, welche<br />

Emotionen, Wissensbestände dabei ins Spiel kamen, und was sie bewirkten."<br />

(Walter-Busch 1996, S. 2)<br />

Es sollte eigentlich nicht überraschen, dass alle Versuche, die<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie mit einer Metatheorie zu bändigen, gescheitert sind (vgl.<br />

Chia 1996b, S. 41f). Wenn es keine Einheit in der Wissenschaftstheorie mehr<br />

gibt (vgl. Kapitel 1.1), wie könnte es dann noch eine einheitliche<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie geben?<br />

Daher dient das Kapitel 3 dazu, ausgehend <strong>von</strong> den im Kapitel 1.2.1<br />

dargelegten wissenschaftstheoretischen Prämissen die Eckpunkte eines dazu<br />

kompatiblen <strong>Organisation</strong>sverständnisses darzulegen. <strong>Die</strong>se postmoderne 41<br />

Skizze erfährt anschliessend in den Kapiteln 4 und 5 ihre theoretische<br />

Ausarbeitung.<br />

39<br />

Z.B. in Kieser 1999b oder Walter-Busch 1996.<br />

40<br />

Z.B. Burrell/Morgan 1979; Daft 1978; Astley/Van de Ven 1983; Gioia/Pitre 1990; Astley/Zammuto<br />

1992; Koza/Thoenig 1995; Kieser 1995; Clegg/Hardy 1996; Willmott 1997; Kieser 1997.<br />

41<br />

Zur Klärung des Begriffs postmodern vgl. Kapitel 3.2.1. In der Literatur sind bereits Ansätze zu<br />

erkennen, die postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorie durch neuere, noch radikalere Konzepte<br />

abzulösen. Gehandelt werden z.B. ultramoderne <strong>Organisation</strong>stheorien (Heinl 1996) oder die<br />

retro-organization-Theorie (Burrell 1997).<br />

42


ORGANISATIONSTHEORIE: EINE BESTANDESAUFNAHME<br />

3.1 <strong>Organisation</strong>stheorie:<br />

<strong>Eine</strong> Bestandesaufnahme<br />

<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong>stheorie war bereits vor der pluralistischen Wende keine<br />

Einheitstheorie. Es gab immer eine Vielzahl theoretischer Konzepte, die teils<br />

nacheinander, teils nebeneinander das Feld der <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

beherrschten. In der Literatur wurde eine Reihe <strong>von</strong> Versuchen unternommen,<br />

der Vielfalt der <strong>Organisation</strong>stheorien mit einer Meta-Perspektive<br />

beizukommen. 42<br />

Chia weist zurecht darauf hin, wie beliebig diese Klassifikationen sind (1996b,<br />

S. 41f). Im Hinblick auf die spätere Entwicklung eines organisationstheoretischen<br />

Bezugsrahmens (vgl. Kapitel 3.2.2) soll hier dennoch das Feld<br />

der <strong>Organisation</strong>stheorie nach einem solchen Metaraster eingeteilt werden<br />

(vgl. Abbildung 9). 43<br />

<strong>Die</strong>ser Metaraster ist nicht zufällig gewählt, sondern nimmt zwei der<br />

Hauptkritikpunkte postmoderner <strong>Organisation</strong>stheorien an den traditionellen<br />

<strong>Organisation</strong>stheorien vorweg: das Denken in Entitäten (Struktur/Individuum)<br />

und das Denken in Zuständen (Stabilität/Wandel). 44<br />

In den traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien wird das Phänomen <strong>Organisation</strong><br />

<strong>als</strong> eine diskrete Einheit konzeptualisiert, die unabhängig <strong>von</strong> den<br />

Betrachtenden (Forscherin oder Praktikerin, Führungskraft oder Mitarbeitende)<br />

besteht. „The object of orthodox organizational analysis is the organization: a<br />

bounded social system, with specific structures and go<strong>als</strong> which acts more or<br />

less rationally and more or less coherently.” (Cooper/Burrell 1988, S. 102) Der<br />

Stoff, aus dem <strong>Organisation</strong>en sind, variiert je nach organisations-<br />

42<br />

Beispielhaft:<br />

- nach wissenschaftstheoretischem Paradigma: Burrell/Morgan 1979, Gioia/Pitre 1990<br />

- nach methodischem Forschungsfokus: Astley/Van de Ven 1983<br />

- nach fachwissenschaftlichem Hintergrund: Walter-Busch 1996, S. 60ff<br />

- nach theoretischem Erkenntnisinteresse: Willmott 1997<br />

43<br />

Auf eine Beschreibung der einzelnen traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien wird an dieser Stelle<br />

verzichtet. Sie sind anderen Ortes ausführlich dargestellt (z.B. in Kieser 1999b oder Walter-Busch<br />

1996). Hier geht es darum, das gemeinsame Denkgerüst herauszuarbeiten, das allen diesen<br />

theoretischen <strong>Organisation</strong>sansätzen eigen ist.<br />

44<br />

Vgl. dazu z.B. Cooper/Burrell 1988; Gergen 1992; Holtbrügge 2000. <strong>Die</strong> postmoderne<br />

Beurteilung der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorie ist natürlich nicht ohne Widerspruch geblieben<br />

(vgl. Donaldson 1985 und Hinings/Clegg/et al. 1988), und es wurden (bisher erfolglose) Versuche<br />

unternommen, die postmoderne Perspektive in dem Forschungsprogramm der traditionellen<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie aufgehen zu lassen (vgl. Reed 1993) bzw. die Unmöglichkeit der<br />

postmodernen Perspektive nachzuweisen (vgl. Thompson 1993).<br />

43


ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

theoretischem Ansatz. Entweder steht die Gestaltung mehr oder weniger<br />

dauerhafter instrumenteller Strukturen oder aber das Verstehen kognitiver<br />

Interpretations- und Entscheidungsprozesse im Vordergrund. Aber egal<br />

welcher Perspektive der Vorrang gegeben wird, Struktur oder Individuum<br />

werden gleichermassen <strong>als</strong> eine exogene und begrenzbare Entität behandelt,<br />

der bestimmte funktionale Eigenschaften zugeordnet werden können.<br />

Stabilität<br />

Wandel<br />

Scientific<br />

Management<br />

Struktur Individuum<br />

kontingenztheoretische<br />

Ansätze<br />

Neue Institutionenökonomie<br />

soziotechnischer<br />

Systemansatz<br />

populationsökologische<br />

und<br />

evolutionstheoretische<br />

Ansätze<br />

44<br />

Human Relations<br />

Ansätze<br />

netzwerktheoretische<br />

Ansätze<br />

entscheidungstheoretische<br />

Ansätze<br />

prozessorientierte<br />

und interpretative<br />

Ansätze<br />

Abbildung 9: Überblick über traditionelle <strong>Organisation</strong>stheorien<br />

Eng verknüpft mit dem Denken in Entitäten ist in den traditionellen<br />

<strong>Organisation</strong>stheorien das Denken in Zuständen. <strong>Organisation</strong>en werden<br />

entweder <strong>als</strong> inhärent stabil und geordnet oder aber <strong>als</strong> in permanentem<br />

Wandel und Anpassung gedacht. <strong>Die</strong> ordnende Gestaltung und Veränderung<br />

dieses organisationalen Urzustands ist ein vordringliches Interesse und<br />

wichtige Aufgabe traditioneller <strong>Organisation</strong>stheorien. In ersterem Fall wird<br />

versucht, etwas mehr Flexibilität und Dynamik in die Geordnetheit einzubauen,<br />

um die <strong>Organisation</strong> aus dem Würgegriff der Trägheit zu befreien. Im zweiten<br />

Fall ist es das Ziel, Muster der Geordnetheit im Chaos zu identifizieren, die die<br />

<strong>Organisation</strong> dabei unterstützen, sich in der Dynamik und der Diskontinuität<br />

des permanenten Wandels zu orientieren.


ORGANISATIONSTHEORIE: EINE BESTANDESAUFNAHME<br />

In direkter Konsequenz dieses Denkens in Entitäten und Zuständen herrscht in<br />

den traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien die Idee der Gestaltbarkeit und<br />

Machbarkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. „[E]s wird da<strong>von</strong> ausgegangen, dass es den<br />

Gestaltern grundsätzlich möglich ist, ihren Intentionen entsprechende<br />

Koordinationsmechanismen hervorzubringen.“ (Sandner/Meyer 1994, S. 186)<br />

Postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorien stellen diese Grundannahmen<br />

traditioneller <strong>Organisation</strong>stheorien in Frage. Aus ihrer Sicht kann<br />

<strong>Organisation</strong> nicht mehr <strong>als</strong> selbständiges und begrenzbares Objekt der realen<br />

Welt gefasst werden, das der theoretischen Analyse und direkten Intervention<br />

einer unabhängigen Beobachterin offen steht (vgl. Kapitel 1.3). Vielmehr sind<br />

Theorie und Praxis untrennbar miteinander verknüpft (vgl. Gergen 1992) und<br />

„organizational scientists ‚make’ organizations as much as they study them“.<br />

(Calás/Smircich 1992, S. 223)<br />

Bevor die postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorien <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> ihr<br />

Forschungsobjekt ins Auge fassen können, müssen sie sich daher zuerst<br />

darüber klar werden, wie sie sich das Phänomen <strong>Organisation</strong> in der Theorie<br />

denken, denn „[t]he organization of these objects of knowledge is …<br />

inextricably interwoven with any knowledge generated about the object (in this<br />

case ‚organizations’) itself. Knowledge about organizations and the<br />

organization of knowledge, therefore, implicate and explicate each other and<br />

are thereby irretrievably intertwined.“ (Chia 1997, S. 692)<br />

Damit in den folgenden Kapiteln 4 und 5 mit der Entwicklung eines angemessenen<br />

organisationstheoretischen Bezugsrahmens begonnen werden kann,<br />

müssen daher im Kapitel 3.2 zuerst die Grundzüge des postmodernen<br />

<strong>Organisation</strong>sverständnisses dargelegt werden.<br />

45


ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

3.2 Postmoderne Entwicklung der<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie<br />

3.2.1 Postmodern? <strong>Eine</strong> Begriffsklärung<br />

Das Kapitel muss sinnvollerweise mit einer Klärung des Worts postmodern<br />

beginnen, denn innerhalb der <strong>Organisation</strong>stheorie wird dieser Begriff<br />

unterschiedlich verwendet bzw. interpretiert. 45<br />

Es wird zwischen “postmodernity” bzw. „post-modern“ auf der einen Seite und<br />

„postmodernism“ bzw. „postmodern“ auf der anderen Seite unterschieden.<br />

Postmodernity entspricht der so genannten „epochalen“ Perspektive der<br />

Postmoderne, während postmodernism für die so genannte<br />

„epistemologische“ Perspektive steht (vgl. Hassard 1993).<br />

In der epochalen Perspektive bezeichnet der Begriff postmodern „emergent<br />

features of contemporary societies“ (Parker 1992, S. 2). <strong>Die</strong> Gesellschaft ist im<br />

Umbruch und mit ihr die <strong>Organisation</strong>en, die ein wesentliches Element dieser<br />

Gesellschaft sind. <strong>Die</strong> post-modernen <strong>Organisation</strong>stheorien beschäftigen sich<br />

mit der Frage, wie sich <strong>Organisation</strong>en in dem zunehmend turbulenten und<br />

komplexen Umfeld behaupten können (vgl. Clegg 1990). Zentrale Aussage der<br />

post-modernen <strong>Organisation</strong>stheorien ist, dass das „bureaucratic regime of<br />

rules, hierarchies, predictability and centralization [is] to be replaced by<br />

decentralized, self-regulating, fluid and flexible structures.” (Thompson 1993,<br />

S. 185) <strong>Die</strong> post-modernen <strong>Organisation</strong>stheorien sind <strong>als</strong>o im Wesentlichen<br />

eine Fortschreibung der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien, die lediglich den<br />

sich ändernden Anforderungen des gesellschaftlichen und technologischen<br />

Umfelds angepasst worden sind. Das Phänomen <strong>Organisation</strong> wird <strong>von</strong> den<br />

post-modernen <strong>Organisation</strong>stheorien unverändert entitativ gedacht und<br />

entsprechend ist das Hauptanliegen immer noch „to produce prescriptions for<br />

a scientifically designed organization.“ (Parker 1992, S. 5)<br />

In der epistemologischen Perspektive bezieht sich der Begriff postmodern<br />

nicht auf eine neue Form der <strong>Organisation</strong>, sondern auf eine neue Form des<br />

Wissens, und stellt so „important questions about the epistemological status of<br />

45 <strong>Die</strong> Ursprünge des postmodernen Denkens gehen zurück auf Lyotard (1979). Wesentliche<br />

Beiträge dazu beigesteuert haben ausserdem Michel Foucault und Jacques Derrida. Zur unterschiedlichen<br />

Rezeption der Postmoderne in der <strong>Organisation</strong>stheorie vgl. z.B. Parker 1992;<br />

Hassard 1993; Thompson 1993; Weik 1996; Kilduff/Mehra 1997.<br />

46


POSTMODERNE ENTWICKLUNG DER ORGANISATIONSTHEORIE<br />

our knowledge of organization and the ideological character of such ‚truth’<br />

claims.“ (Chia 1996b, S. 32) Der epistemologische Postmodernismus<br />

begründet somit ein gegenüber den traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien neues<br />

und eigenständiges wissenschaftstheoretisches Programm. <strong>Die</strong> Grundzüge<br />

dieses wissenschaftstheoretischen Programms 46 sind deutlich relationalkonstruktiv<br />

(vgl. mit Abbildung 3). Ein postmodernes <strong>Organisation</strong>sverständnis<br />

bildet <strong>als</strong>o den idealen theoretischen Bezugsrahmen (vgl. Abbildung 2) für das<br />

relational-konstruktivistische Wissenschaftsprogramm, das in Kapitel 1.2<br />

vorgestellt worden ist. Wenn daher im Rahmen dieser Dissertation der Begriff<br />

postmodern verwendet wird, dann ist er damit immer in seiner<br />

epistemologischen Bedeutung gemeint, denn nur diese ist anschlussfähig und<br />

konsistent mit dem verfolgten relational-konstruktivistischen Wissenschaftsprogramm.<br />

47<br />

Im folgenden Abschnitt werden nun die typischen Merkmale des postmodernen,<br />

epistemologischen <strong>Organisation</strong>sverständnisses vorgestellt, denn<br />

darauf wird bei der Entwicklung eines organisationstheoretischen Bezugsrahmens<br />

in Kapitel 4 und 5 zurückzugreifen sein.<br />

3.2.2 Postmodernes <strong>Organisation</strong>sverständnis<br />

<strong>Die</strong> „grossen argumentativen Schlachten um den einzig richtigen<br />

systemischen Zugang zu dem Phänomen <strong>Organisation</strong>“ (Bardmann/Groth<br />

2001, S. 12) sind geschlagen, aber noch hat sich daraus keine neue<br />

einheitliche Beschreibung des Phänomens <strong>Organisation</strong> herausgebildet.<br />

Über die post-moderne <strong>Organisation</strong> ist viel geschrieben worden, 48 Literatur<br />

über postmoderne <strong>Organisation</strong> bzw. über das postmoderne Verständnis <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> liegt jedoch erst in Fragmenten vor. <strong>Die</strong> Elemente einer<br />

postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorie sind zwar bekannt, werden aber je nach<br />

46<br />

Vgl. z.B. Chia 1996b, 1997; Cooper/Burrell 1988; Gergen 1992; Gergen/Thatchenkery 1996;<br />

Hassard/Parker 1993; Parker 1992; Linstead 1993; Jeffcutt 1994; Weik 1996.<br />

47<br />

Da die beiden Begriffe postmodern und relational-konstruktivistisch im epistemologischen Sinn<br />

deckungsgleich sind, werden sie im Rahmen dieser Dissertation auch synonym verwendet, das<br />

heisst postmodern meint immer auch relational-konstruktivistisch und umgekehrt.<br />

48<br />

Vgl. z.B. Miles/Snow 1986; Senge 1990; Daft/Lewin 1993; Nadler/Gerstein/et al. 1994; Deiser<br />

1995; Ilinitch/D'Aveni/et al. 1996; Volberda 1996; Bahrami 1996; Mohrman/Galbraith/et al. 1998;<br />

Schreyögg 1999; Nadler/Tushman 1999; Rüegg-Stürm/Achtenhagen 2000; Hitt 2000;<br />

Dess/Picken 2000; Rüegg-Stürm/Young 2001; Galbraith 2002.<br />

47


ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

Autorin bzw. Autor anders zusammengestellt oder gewichtet. 49 <strong>Die</strong> Umrisse<br />

einer postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorie muss man sich aufgrund dieser<br />

Fragmente vorerst noch selbst zusammenreimen. <strong>Eine</strong> eigentliche neue<br />

postmoderne „Theory of the Firm“ gibt es (noch) nicht. 50<br />

Sogar in erklärtermassen konstruktivistischen Vorstellungen <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

schimmert häufig noch die alte, entitative und auf Zustände ausgerichtete<br />

Denkweise durch (vgl. z.B. Wagner/Beenken/et al. 1995).<br />

Was es an postmoderner Literatur gibt (vgl. Fussnote 49), ist häufig eine<br />

Beschreibung des postmodernen Forschungszugangs zur <strong>Organisation</strong>, nicht<br />

der <strong>Organisation</strong> selbst. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn eine<br />

Beschreibung der <strong>Organisation</strong> kann im postmodernen Sinn nur noch eine<br />

Prozessbeschreibung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> sein, und keine Zustandsbeschreibung<br />

mehr im Sinn eines organisationalen Designs. <strong>Eine</strong> Prozessbeschreibung ist<br />

ohne Empirie jedoch nicht denkbar. Da liegt es auf der Hand, sich dem<br />

Phänomen <strong>Organisation</strong> über den Forschungsprozess zu nähern.<br />

<strong>Die</strong> Grundlagen für den forschungsmethodischen Zugang zum Phänomen<br />

<strong>Organisation</strong> sind in Kapitel 2 bereits ausgearbeitet worden. Im Folgenden soll<br />

nun der Versuch unternommen werden, aus den vorhandenen Materialien<br />

(vgl. Fussnote 49) die Eckpfeiler eines postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnisses<br />

herauszuarbeiten (vgl. Abbildung 10). Damit wird der<br />

Empfehlung <strong>von</strong> Heinl (1996, S. 64) gefolgt, statt den erfolglosen Versuch<br />

einer Definition des Begriffs <strong>Organisation</strong> zu unternehmen, die wichtigsten<br />

Eckpunkte der Verfasstheit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> zu beschreiben. <strong>Die</strong>se Eckpfeiler<br />

bilden die Leitplanken, entlang derer in den folgenden Kapiteln 4 und 5 dann<br />

49<br />

Postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorie nimmt Bezug auf verschiedene Metatheorien. Im Wesentlichen<br />

sind das die neuere Systemtheorie (vgl. z.B. Willke 2000, 1996, 1998; Probst 1987;<br />

Baecker 1999, Baecker 1999; Kasper 1990; Kolbeck/Nicolai 1996; Heinl 1996), der<br />

Konstruktivismus (in allen seinen Spielformen; vgl. z.B. Kieser 1999a; Burr 1995; Gergen 2002;<br />

Bardmann 1994) und der Dekonstruktivismus (vgl. z.B. Derrida 1974, 1976; Chia 1996a; Weik<br />

1996). Mehr oder weniger ausformulierte Fragmente dieser postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

finden sich z.B. in Weick 1995; Baecker 1993; Bardmann 1994; Bauer 1996; Kieser 1998; Kühl<br />

1998; Rüegg-Stürm 1998, 2000, 2001; Schreyögg 1999; Holtbrügge 2001. <strong>Eine</strong> gute Darstellung<br />

der Entwicklung des <strong>Organisation</strong>sverständnisses <strong>von</strong> einer traditionellen hin zu einer<br />

postmodernen Sichtweise findet sich z.B. bei Bardmann/Groth 2001; Hosking 1991.<br />

50<br />

Ob es eine solche postmoderne Theory of the Firm überhaupt je geben wird, ist fraglich. Das<br />

relational-konstruktivistische Wissenschaftsverständnis steht einer solchen „grand theory“<br />

skeptisch gegenüber (vgl. Kapitel 1.3). Zu erwarten sind eher „analytically structured narratives”<br />

(Reed 1993, S. 180f).<br />

48


POSTMODERNE ENTWICKLUNG DER ORGANISATIONSTHEORIE<br />

die theoretische Konzeptualisierung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> - im Sinne einer<br />

Prozessbeschreibung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> - entwickelt wird.<br />

soziale Konstruktion<br />

relationaler Prozess<br />

emergente Ordnung<br />

politisches Gefüge<br />

... statt ...<br />

49<br />

rationales Objekt<br />

formalisierte Struktur<br />

geschaffene Ordnung<br />

unitaristisches Instrument<br />

Abbildung 10: Eckpfeiler eines postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnisses<br />

soziale Konstruktion statt rationales Objekt<br />

In der traditionellen Vorstellung ist die <strong>Organisation</strong> ein Mittel, um ein<br />

definiertes Ziel zu erreichen. <strong>Die</strong> theoretische und praktische Herausforderung<br />

liegt darin, dafür die effizienteste und effektivste <strong>Organisation</strong>sform (im Sinne<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>sstrukturen und -kulturen sowie Geschäftsprozessen) zu<br />

finden und zu implementieren. So verstanden ist <strong>Organisation</strong> „... a social tool<br />

and an extension of the human agent“. (Cooper/Burrell 1988, S. 102)<br />

Aus postmoderner Perspektive kann dieses geschlossene Bild der<br />

<strong>Organisation</strong> nicht länger aufrechterhalten werden. <strong>Eine</strong>rseits ist mit dem<br />

Einzug der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie 51 das rationale<br />

Bild der <strong>Organisation</strong> in seinen Grundfesten erschüttert worden, andererseits<br />

wird zunehmend deutlich, dass das Phänomen <strong>Organisation</strong> nicht unabhängig<br />

<strong>von</strong> seiner Beobachtung existiert (vgl. Reed/Hughes 1992) bzw. keine<br />

Existenz ausserhalb der Praxis, des tagtäglichen Vollzugs, hat (vgl.<br />

Brown/Duguid 1991). So erstaunt es nicht, dass Weick (1985, S. 109) zum<br />

Schluss kommt: „There is less to rationality than meets the eye.”<br />

Wenn das Kontrollmodell der <strong>Organisation</strong> nicht mehr eine adäquate Metapher<br />

ist - wie kann die <strong>Organisation</strong> sonst konzeptualisiert werden? Das Angebot in<br />

51<br />

Vgl. dazu die Arbeiten <strong>von</strong> Simon (1948), March und Simon (1959) sowie Cyert und March<br />

(1965).


ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

der Literatur ist ebenso vielfältig wie uneinheitlich. <strong>Organisation</strong>en werden<br />

sinnbildlich beschrieben <strong>als</strong> „garbage can“ (Cohen/March/et al. 1972), „loosely<br />

coupled system“ (Weick 1976), „interpretation systems“ (Daft/Weick 1984),<br />

„organisms“, „brains“, „cultures“, „political systems“, „psychic prisons“, „flux<br />

and transformation“ oder „instruments of domination“ (Morgan 1986),<br />

„communities-of-practice“ (Brown/Duguid 1991), „paradox“, „otherness“<br />

„seduction“ oder „discourse“ (Linstead 1993), „Erfindungen“ (Bardmann 1994,<br />

S. 334), „distributed knowledge system“ (Tsoukas 1996) oder <strong>als</strong> ein<br />

„strukturierter Strom <strong>von</strong> Ereignissen“ (Rüegg-Stürm 1998). Egal welcher der<br />

angebotenen neuen Metaphern man folgt, gemeinsam ist ihnen allen, dass<br />

das Prozesshafte des Phänomens <strong>Organisation</strong> betont wird.<br />

<strong>Organisation</strong> ist <strong>als</strong>o „... first and fundamentally a process of ‚worldmaking’“.<br />

(Chia 1997, S. 685) <strong>Organisation</strong> ist nicht einfach, sie passiert („occur“,<br />

Cooper/Burrell 1988, S. 108). Und wenn in der Theorie oder der Praxis<br />

<strong>Organisation</strong> und ihre vermeintlichen Eigenschaften <strong>als</strong> diskrete Einheit<br />

wahrgenommen werden, so nur zu dem Preis, dass die Beobachterin den<br />

dynamischen Fluss der organisationalen Realitäts- und Selbst-Konstruktion<br />

zeitweilig anhält und verdinglicht. 52<br />

Der organisationale Konstruktionsprozess ist jedoch nicht das Ergebnis<br />

individueller kognitiver Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse und<br />

-muster. <strong>Organisation</strong> findet eben gerade nicht „in den Köpfen der<br />

<strong>Organisation</strong>smitglieder“ (wie das Kieser 1998, S. 46, formuliert) statt.<br />

Vielmehr ist <strong>Organisation</strong> ein sozialer Prozess, der in der Interaktion zwischen<br />

den <strong>Organisation</strong>smitgliedern stattfindet (vgl. Bradbury/Bergmann-Lichtenstein<br />

2000), und kann daher nicht ursächlich auf einzelne Individuen oder<br />

Interventionen zurückgeführt werden.<br />

<strong>Organisation</strong> kann nicht nur nicht auf einzelne <strong>Organisation</strong>smitglieder oder<br />

Gestaltungsmassnahmen zurückgeführt werden, sie steht ausserdem auch<br />

ausserhalb der Einflusssphäre einzelner Personen und deren Interventionen,<br />

denn die soziale Konstruktion <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> erfolgt in einem autopoietischen<br />

Prozess ausschliesslich mit Rückgriff auf sich selbst.<br />

<strong>Organisation</strong>en liegen dadurch „jenseits der Machbarkeit“ (Rüegg-Stürm<br />

2000).<br />

50


POSTMODERNE ENTWICKLUNG DER ORGANISATIONSTHEORIE<br />

Obwohl sich <strong>Organisation</strong> nur in Prozessen konstituiert, bilden sich paradoxerweise<br />

im Laufe dieser Prozesse objektive Realitäten, das heisst, es<br />

sedimentieren bzw. kristallisieren sich materielle und immaterielle Strukturen<br />

(vgl. Rüegg-Stürm 1998). <strong>Organisation</strong> wird <strong>als</strong>o nicht nur laufend „verfertigt“<br />

(Kieser 1998), sondern auch allmählich verfestigt. Daher kommt Chia (1997,<br />

S. 699) zum Schluss: „Organizing as this active and dynamic process of<br />

identity-construction and reality-configuration is, therefore, an ontological<br />

activity.” 53<br />

Damit hat <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> soziales Konstrukt eine inhärent paradoxe Natur.<br />

<strong>Eine</strong>rseits ist die organisationale Realität das Ergebnis menschlicher Interaktion,<br />

das heisst <strong>von</strong> Menschen selbst geschaffen, andererseits wird das<br />

Produkt <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> eben diesen Menschen <strong>als</strong> objektive Faktizität und<br />

Einschränkung erfahren: „However, these representational abstractions, as we<br />

have seen, quickly become more ‚solidified’ with increased familiarity and<br />

usage and begin to take on an independent life.“ (Chia 1996b, S. 49) <strong>Die</strong><br />

Prozesse der sozialen Konstruktion schaffen <strong>als</strong>o Ergebnisse bzw.<br />

Materialisierungen, die später <strong>als</strong> Bedingung bzw. Einschränkung auf eben<br />

diese Prozesse zurückwirken (vgl. Rüegg-Stürm 1998).<br />

<strong>Die</strong>ses organisationale Dilemma rückt die sozialen Konstruktions- und<br />

Reifikationsprozesse der <strong>Organisation</strong> ins Zentrum des theoretischen<br />

Interesses. <strong>Die</strong> postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorie fragt nicht mehr nach dem<br />

Was, sondern nach dem Wie dieser sozialen Konstruktions- und<br />

Reifikationsprozesse. Weick schlägt darum vor: „If you want to improve<br />

organizational theory, quit studying organizations [im Sinn <strong>von</strong> Entitäten].”<br />

(1974, S. 487)<br />

relationaler Prozess statt formalisierte Struktur<br />

<strong>Die</strong> postmoderne Perspektive <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einem sozialen Konstrukt<br />

favorisiert eine Prozesssicht <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. „... the emphasis is on the<br />

primacy of process, interaction and relatedness.“ (Chia 1997, S. 696) <strong>Die</strong><br />

52<br />

Und dadurch vielleicht die Essenz dessen gerade verliert, wonach die Beobachterin eigentlich auf<br />

der Suche ist.<br />

53<br />

So erhalten Entitäten über die Hintertüre wieder einen Platz in der postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

- aber nicht mehr <strong>als</strong> externe, objektive Grösse, sondern <strong>als</strong> sozial verfertigte Konstrukte,<br />

das heisst <strong>als</strong> kollektive „taken-for-granteds“ (vgl. Hosking/Bass 1998) bzw. „Erwartungsgeneralisierungen“<br />

(Lueger 1992b, S. 174).<br />

51


ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

Vorstellung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einer formalisierten Struktur wird<br />

aufgegeben, denn aus postmoderner Sicht verstellt die <strong>Organisation</strong> den Blick<br />

auf <strong>Organisation</strong> (im Sinne <strong>von</strong> emergenter Ordnung, vgl. nächster Abschnitt) -<br />

oder mit den Worten <strong>von</strong> Weick (1995, S. 129):<br />

„Das Wort <strong>Organisation</strong> ist ein Substantiv, und es ist ausserdem ein Mythos.<br />

Wenn Sie nach einer <strong>Organisation</strong> suchen, werden Sie sie nicht finden. Was<br />

Sie finden werden, ist, dass miteinander verbundene Ereignisse vorliegen, die<br />

durch Betonwände hindurchsickern; und diese Sequenzen, ihre Pfade und ihre<br />

zeitliche Ordnung sind die Formen, die wir fälschlich in Inhalte verwandeln,<br />

wenn wir <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en reden.“<br />

Aus einer Prozesssicht <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> interessiert hauptsächlich die Frage,<br />

wie <strong>Organisation</strong> entsteht und besteht, denn das Werden bestimmt das Sein<br />

(vgl. Chia 1996b, S. 33). Auch Weick (1979) hat schon früh vorgeschlagen,<br />

dass der Fokus der <strong>Organisation</strong>stheorie besser auf den Prozessen des<br />

Organisierens statt auf den Strukturen der <strong>Organisation</strong> liegen sollte. 54 Um<br />

dem entitativen Denken in der <strong>Organisation</strong>stheorie entgegenzuwirken hat<br />

Weick (1995, S. 67) sogar vorgeschlagen, alle „Substantive einzustampfen“.<br />

54<br />

In der bisherigen postmodernen Entwicklung der <strong>Organisation</strong>stheorie haben sich zwei<br />

unterschiedliche Auffassungen bzw. Interpretationen über die Natur dieser Prozesse des<br />

Organisierens herausgebildet.<br />

<strong>Die</strong> eine Richtung wird der „skeptische Ansatz“ (Kilduff/Mehra 1997 bzw. die „linguistic<br />

constructionist“ Perspektive (Heinl 1996, S. 410ff) genannt. Vertreter der skeptischen bzw.<br />

linguistischen Richtung sind z.B. Cooper und Burrell (Cooper/Burrell 1988; Cooper 1990) oder<br />

Weik (1996). Sie stützen sich auf Derridas Theorie der Dekonstruktion, die die Sprache ins<br />

Zentrum stellt, und gehen da<strong>von</strong> aus, dass <strong>Organisation</strong> über die Dekonstruktion der Sprache<br />

bzw. des Sprachgebrauchs erschlossen werden kann.<br />

<strong>Die</strong> andere Richtung wird der „affirmative Ansatz“ bzw. die „social constructionist“ Perspektive<br />

genannt. Vertreter der affirmativen bzw. sozialen Richtung sind z.B. Gergen (1992, 1996) oder<br />

Dachler (1992, 2000). Sie stützen sich auf den relationalen Konstruktivismus, der die sozialen<br />

Interaktionsprozesse ins Zentrum stellt, und gehen da<strong>von</strong> aus, dass <strong>Organisation</strong> über die<br />

Rekonstruktion dieser relationalen Prozesse erschlossen werden kann.<br />

Aus Sicht der social-constructionist-Perspektive muss sich die linguistic-constructionist-<br />

Perspektive den Vorwurf gefallen lassen, Sprache zu entitativ zu behandeln. <strong>Die</strong> socialconstructionist-Perspektive<br />

ist so gesehen radikaler in ihrem Versuch, das Phänomen<br />

<strong>Organisation</strong> prozesshaft zu erfassen. Interessanterweise sind die Rollen genau umgekehrt,<br />

wenn es um die Einschätzung geht, das Phänomen <strong>Organisation</strong> theoretisch zu fassen. <strong>Die</strong><br />

linguistic-constructionist-Perspektive betont eher die Unmöglichkeit <strong>von</strong> Theorie (daher auch<br />

skeptischer Ansatz genannt), während die social-constructionist-Perspektive die Möglichkeit <strong>von</strong><br />

Theorie zwar einschränkt, aber nicht ausschliesst (daher auch affirmativer Ansatz genannt).<br />

Im Rahmen der vorliegenden Dissertation wird der social-constructionist-Interpretation <strong>von</strong><br />

Organisieren gefolgt, weil sie sich besser mit den Prämissen des relational-konstruktivistischen<br />

Wissenschaftsprogramms deckt (vgl. Kapitel 1.2.1).<br />

52


POSTMODERNE ENTWICKLUNG DER ORGANISATIONSTHEORIE<br />

<strong>Die</strong> Prozesse des Organisierens sind realitäts- und sinnstiftend. Sie heben aus<br />

dem Strom des täglichen Geschehens jene Ereignisse, Entscheide, Regeln<br />

etc. hervor, die aus dem lockeren Geschehen überhaupt erst ein sinnhaftes<br />

Ganzes - eben <strong>Organisation</strong> - entstehen lassen. „It is this active process of<br />

singling out and putting together certain aspects of our experiences whilst<br />

ignoring others that brings about the socially constructed reality that we find so<br />

immediate and self-evident.“ (Chia 1997, S. 698; vgl. dazu auch Rüegg-Stürm<br />

2001, S. 162ff).<br />

<strong>Die</strong>se Prozesse, die <strong>Organisation</strong> kontinuierlich konstituieren und (re-)<br />

konstruieren, entziehen sich jedoch jeglichen Versuchen der direkten,<br />

absichtsvollen Einflussnahme, denn sie verlaufen operationell geschlossen,<br />

das heisst definieren für sich selbst und unter Bezugnahme auf sich selbst die<br />

eigenen Regeln, nach denen sie prozessieren.<br />

<strong>Die</strong>se Regeln sind kontingent, das heisst sie sind wie sie sind, könnten aber<br />

auch anders sein - aber sie sind keinesfalls beliebig. <strong>Die</strong> Prozesse des<br />

Organisierens, die gleichzeitig auch die Regeln ihres Prozessierens schaffen,<br />

erfolgen nämlich relational. 55 Das bedeutet, dass die Prozesse zwar<br />

operationell geschlossen verlaufen, aber dass sie eingebettet sind in einen<br />

ganz bestimmten Kontext, und dass die Prozesse des Organisierens immer in<br />

Bezug auf diesen Kontext, das heisst dem historischen, sozialen und<br />

technologischen Umfeld, prozessieren. <strong>Organisation</strong> ist demnach sowohl<br />

autonom (operationell geschlossen) <strong>als</strong> auch kontext- und pfadabhängig<br />

(relational).<br />

<strong>Die</strong>ses sowohl-<strong>als</strong>-auch ist typisch für das postmoderne <strong>Organisation</strong>sverständnis:<br />

<strong>Organisation</strong> ist Ergebnis und Vorgabe (vgl. vorherigen Abschnitt)<br />

und ist ebenso autonom wie abhängig. In dieser Doppel- und Mehrdeutigkeit<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> liegt eine grosse Herausforderung für jeden postmodernen<br />

Versuch, das Phänomen <strong>Organisation</strong> theoretisch zu fassen. Postmoderne<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie darf die organisationale Paradoxie nicht glätten oder gar<br />

55 <strong>Die</strong> Verwendung des Begriffs relational erfolgt hier weit gefasst. In diesem Sinn ist relational nicht<br />

nur ein Synonym für sozial, sondern steht umfassend für das Eingebettet-Sein in einen lokalen<br />

Gesamtkontext.<br />

53


ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

ausschliessen, sondern muss sie in ihrem <strong>Erklärung</strong>sansatz berücksichtigen<br />

und explizit einbauen. 56<br />

Das postmoderne <strong>Organisation</strong>sverständnis schliesst wie gesagt formalisierte<br />

Strukturen <strong>als</strong> (alleiniges) konstitutives Element <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> aus: „If we<br />

are to look at organization (as a verb) in this way, we must continually<br />

recognize the impossibility of the formal structure.“ (Parker 1992, S. 10) Doch<br />

wenn nicht formalisierte Strukturen Ordnung und somit <strong>Organisation</strong> schaffen -<br />

wer oder was dann?<br />

emergente Ordnung statt geschaffene Ordnung<br />

Aus postmoderner Sicht ist Ordnung sozial und nicht technisch-instrumentell<br />

konstituiert. Im Vergleich zur traditionellen Vorstellung ist diese Ordnung eher<br />

eine Ordnung im Werden, denn eine Ordnung im Sein. Sie wird nicht durch<br />

den formalisierten Einsatz <strong>von</strong> Strukturen, Entscheiden, Werten etc.<br />

absichtsvoll geschaffen, sondern erwächst rekursiv aus den sozialen<br />

Konstruktionsprozessen des Organisierens. Sie muss nicht extra geschaffen<br />

werden, weil sie sich selbst konstituiert. Wie bereits erwähnt, bilden sich<br />

nämlich in den Prozessen der sozialen Konstruktion Ergebnisse bzw.<br />

Materialisierungen heraus, die später <strong>als</strong> Bedingung bzw. Einschränkung auf<br />

eben diese Prozesse zurückwirken. Durch dieses Zurückwirken entfaltet sich<br />

eine stabilisierende Wirkung auf die Prozesse des Organisierens. Ordnung ist<br />

in diesem Sinn ein Strom <strong>von</strong> sich selbst stabilisierenden Ereignissen.<br />

Trotzdem ist diese Ordnung nie selbstverständlich und unangefochten. Da sie<br />

aus kontingenten, relationalen Prozessen (vgl. vorhergehenden Abschnitt)<br />

entspringt, ist Ordnung stets ein immanent prekäres und gefährdetes<br />

Phänomen.<br />

Wenn wir den kontinuierlichen Strom <strong>von</strong> täglichem Geschehen betrachten,<br />

aus dem die Prozesse des Organisierens diejenigen Ereignisse hervorheben,<br />

die schliesslich <strong>Organisation</strong> entstehen lassen, dann ergeben sich daraus<br />

folgende Fragen: Wie und nach welchen Regeln erfolgt dieses Hervorheben<br />

und wie entsteht aus der routinisierten Anwendung bewährter Regeln<br />

schliesslich Ordnung und im weiteren Verlauf letztlich <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> ein <strong>von</strong><br />

diesen Regeln unabhängiges, externes Phänomen? „From this we might begin<br />

56 Vgl. z.B. Denzin 1983; Astley/Van de Ven 1983; Quinn/Cameron 1988; Poole/Van de Ven 1989;<br />

Gioia/Pitre 1990; Leonard-Barton 1992; Handy 1994; Eisenhardt 2000.<br />

54


POSTMODERNE ENTWICKLUNG DER ORGANISATIONSTHEORIE<br />

to ask how it is that some kinds of interaction become recursive and appear to<br />

‚succeed’ in stabilizing and reproducing themselves, generating patterned<br />

effects such as organizations, whilst others disappear completely.” (Chia<br />

1996b, S. 53)<br />

Es ist bekannt, dass routinisiertes Wissen eine wesentliche Rolle in diesem<br />

Prozess <strong>von</strong> Entstehen <strong>von</strong> Ordnung spielt. Solches routinisiertes Wissen ist<br />

beispielsweise beschrieben worden <strong>als</strong>: „Alltagswissen“ (Berger/Luckmann<br />

1969), „cause maps“ oder „cognitive maps“ (Weick 1979, 1986), „praktisches<br />

Bewusstsein“ (Giddens 1997), „dominant logic“ (Prahalad/Bettis 1986),<br />

„scripts“ (Sims/Gioia 1986; Gioia/Poole 1984), „lokale Theorien“ (Baitsch 1993,<br />

oder „taken-for-granteds“ (Hosking/Bass 1998). Kollektive Handlungsfähigkeit<br />

basiert darauf, dass sich dieses Wissen bzw. diese Gewissheit gegenseitig<br />

unterstellt wird. <strong>Organisation</strong> kann <strong>als</strong>o verstanden werden <strong>als</strong> Prozess der<br />

laufenden Vergewisserung, dass dieses unterstellte routinisierte Wissen noch<br />

gilt (vgl. Rüegg-Stürm 2001).<br />

Mit Blick auf die relational-konstruktivistischen wissenschaftstheoretischen<br />

Prämissen (vgl. Abbildung 3) gilt es aber zu betonen, dass dieses routinisierte<br />

Wissen nicht (allein) eine kognitive Fähigkeit einzelner Individuen ist. Vor<br />

allem ist es ein Merkmal und Ergebnis der sozialen Interaktionen dieser<br />

Individuen und kann daher nicht eindeutig und ursächlich auf einzelne<br />

Individuen zurückgeführt werden, sondern immer nur im Zusammenhang mit<br />

den sozialen Interaktionen verstanden werden, an denen die Individuen<br />

beteiligt sind. „The conditions of order and tightness in organizations exist as<br />

much in the mind as they do in the field of action.“ (Weick 1985, S. 128)<br />

<strong>Eine</strong> postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorie, die am Phänomen <strong>Organisation</strong><br />

interessiert ist, muss <strong>als</strong>o letztlich die Ordnungsmuster untersuchen, die aus<br />

routinisierten sozialen Interaktionen erwachsen. „Organization theory conceived<br />

thus takes on a different complexion, one in which organization now<br />

refers to the fundamental socially structured process of punctuating,<br />

abstracting and ordering and hence arresting the flow of human experiences in<br />

order to create a coherent, stabilized, and livable world. Instead of an<br />

organization theory concerned with organized states, this generalized<br />

economy of organization takes it upon itself to elaborate the emergence,<br />

endurance and sustenance of such organized states.” (Chia 1997, S. 700)<br />

Obwohl Ordnung ein vorrangiges Forschungsinteresse ist, ist sie aus postmoderner<br />

Sicht im Gegensatz zur traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorie nicht<br />

55


ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

zwingend ein erstrebenswertes organisationales Ziel. Gergen (1992) macht<br />

darauf aufmerksam, dass Ordnung immer auch den Ausschluss <strong>von</strong><br />

Möglichkeiten bedeutet und damit letztlich die Handlungsfähigkeit und<br />

Entwicklungsfähigkeit der <strong>Organisation</strong> einschränkt und gefährdet. Aus diesem<br />

Grund sagt er: „[B]luntly, if everything is running smoothly the organization is in<br />

trouble.“ (Gergen 1992, S. 223)<br />

<strong>Die</strong>ser Ausschluss <strong>von</strong> Möglichkeiten - oder umgekehrt formuliert - das Sich-<br />

Durchsetzen bestimmter Möglichkeiten des Organisierens ist ein interessanter<br />

Aspekt des postmodernen Verständnisses <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, denn es verweist<br />

darauf, dass Ordnung untrennbar verbunden ist mit politischen Prozessen.<br />

politisches Gefüge statt unitaristisches Instrument<br />

Aus postmoderner Sicht sind <strong>Organisation</strong>en nicht ein zweckrationales,<br />

objektiv-verselbständigtes Instrument, sondern ein heterogenes und<br />

pluralistisches soziales Interaktionssystem. An Stelle einer unitaristischen, das<br />

heisst einer einheitlichen und zentral geregelten organisationalen Rationalität<br />

und Zielhierarchie treten verteilte Rationalitäten und Ziele, die miteinander in<br />

einem laufenden Wettbewerb stehen. „Politikorientierte Ansätze fassen<br />

<strong>Organisation</strong>en nicht <strong>als</strong> durch die vermeintliche Zweckrationalität eines<br />

<strong>Organisation</strong>sherren bestimmte Strukturen auf, sondern <strong>als</strong> ‚Arena’<br />

interessengeleiteter Interventionen, Aushandlungen, Konflikte mit jeweils nur<br />

temporären Problemlösungen.“ (Türk 1989, S. 122)<br />

<strong>Organisation</strong>en <strong>als</strong> politisches Gefüge zu sehen hat <strong>als</strong>o letztlich zur<br />

Konsequenz, dass man Abschied nehmen muss <strong>von</strong> einem unitaristischen<br />

<strong>Organisation</strong>sbegriff, das heisst der Vorstellung einer zentral gelenkten<br />

Ordnung. <strong>Organisation</strong>ale Kohäsion, Kohärenz und Integration sind aus<br />

postmoderner Sicht zutiefst problematisch, weil sie nicht exogen durch objektiv<br />

verbindliche Ziele und Strukturen abgesichert werden können. „Nichts spricht<br />

dafür, dass der Rationalität die Bedeutung zukommt, die ihr in klassischen<br />

Bürokratiemodellen beigemessen wurde. Weder gibt es Ziele und Zwecke vor<br />

aller <strong>Organisation</strong>, so dass sich die <strong>Organisation</strong> schlicht <strong>als</strong> rationales Mittel<br />

zum Zweck begreifen könnte. Noch dürfen wir annehmen, dass alles, was eine<br />

<strong>Organisation</strong> tut, zumindest in seinen wichtigsten Bestandteilen konsistent ist,<br />

dass die <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong>o rational mit sich selbst übereinstimmt.“ (Baecker<br />

1994, S. 92)<br />

56


ZUSAMMENFASSUNG: DER VERLUST DER GEWISSHEIT<br />

Der Prozess des Organisierens ist somit immer auch ein mehr oder weniger<br />

expliziter Aushandlungsprozess zwischen unterschiedlichsten Rationalitäten<br />

und damit inhärent politisch. Im Gegensatz zu dem traditionellen<br />

<strong>Organisation</strong>sverständnis, bei dem Macht und Politik hierarchisch geregelt und<br />

zurückgebunden bzw. in den Bereich des Informellen abgedrängt werden,<br />

anerkennen postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorien daher politische Prozesse <strong>als</strong><br />

konstitutiver Bestandteil <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> (vgl. z.B. Gergen 1992;<br />

Cooper/Burrell 1988). Macht und der Einsatz <strong>von</strong> Macht werden zu einem<br />

wichtigen Forschungsfokus.<br />

Das Thema Macht und Politik in <strong>Organisation</strong>en ist schon aus unterschiedlichen<br />

Blickwinkeln untersucht worden, 57 aber es gibt mit nur wenigen<br />

Ausnahmen (vgl. z.B. Gergen 1995; Hosking 1995) kaum eine Auseinandersetzung<br />

mit dem Thema aus einer relational-konstruktivistischen Sicht. 58 <strong>Die</strong>s<br />

ist eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass <strong>von</strong> vielen Autoren auf die<br />

zentrale Stellung <strong>von</strong> Macht in der postmodernen <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

hingewiesen wird (z.B. bei Cooper/Burrell 1988). In Kapitel 4.1.2 wird jedoch<br />

ein Versuch gemacht, diese Lücke zu füllen und die Bedeutung und Funktion<br />

<strong>von</strong> Macht und Politik in den Prozessen des Organisierens aus relationalkonstruktivistischer<br />

Sicht zu interpretieren.<br />

3.3 Zusammenfassung:<br />

Der Verlust der Gewissheit<br />

<strong>Die</strong> postmoderne Entwicklung hat Unsicherheit in die <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

gebracht. „Gone is the certainty, if it ever existed, about what organizations<br />

are; gone, too, is the certainty about how they should be studied, the place of<br />

the researcher, the role of methodology, the nature of theory.” (Clegg/Hardy<br />

1996, S. 3) Altervertrautes wird radikal neu gedacht, Selbstverständliches wird<br />

in Frage gestellt.<br />

57<br />

Vgl. z.B. Burns 1962; Pettigrew 1973; Clegg 1979, 1989; Crozier/Friedberg 1993/1979;<br />

Bacharach/Lawler 1980; Pfeffer 1981, 1992; Mintzberg 1983; March 1988a; Empter 1988;<br />

Sandner 1990, 1992; Küpper/Ortmann 1992; Ortmann 1995a; Friedberg 1995; Neuberger 1995.<br />

58<br />

<strong>Die</strong>se Aussage gilt genau genommen nur für den social-constructionist-Ansatz der postmodernen<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie (vgl. Definition in Fussnote 54). Der linguistic-constructionist-Ansatz hat sich<br />

mit dem Thema Macht und Politik in <strong>Organisation</strong>en schon stärker auseinandergesetzt (vgl. Weik<br />

1996, S. 392f).<br />

57


ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

Postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorien wählen einen neuen Ausgangspunkt für<br />

ihr Theoretisieren: Sie gehen <strong>von</strong> Prozessen und nicht mehr <strong>von</strong> Entitäten<br />

aus, <strong>von</strong> Interaktion und Abhängigkeit statt <strong>von</strong> objektiven Strukturen oder<br />

rational und autonom handelnden Individuen. Solche Entitäten sind aus<br />

postmoderner Sicht nicht exogen gegeben, sondern das Ergebnis <strong>von</strong> sie<br />

konstituierenden Prozessen des Organisierens. Aus diesem Grund können<br />

und dürfen sie nicht <strong>als</strong> Ausgangspunkt für eine Theorie der <strong>Organisation</strong><br />

gewählt werden.<br />

Das heisst aber nicht, dass postmoderne <strong>Organisation</strong>stheorien Entitäten<br />

völlig aus ihrem Untersuchungsfeld verbannen. Sie weisen ihnen lediglich<br />

einen anderen Platz zu. Entitäten sind aus relational-konstruktivistischer Sicht<br />

kollektive Errungenschaften, die <strong>als</strong> „Erwartungsgeneralisierungen“ (Lueger<br />

1992b, S. 174) in den Prozess des Organisierens eingehen, und so<br />

paradoxerweise die Bedingungen ihres eigenen Entstehens beeinflussen,<br />

allenfalls sogar verändern.<br />

Organisieren wird so <strong>von</strong> einem linearen zu einem zirkulären Prozess und<br />

<strong>Organisation</strong> avanciert <strong>von</strong> einer Gewissheit zu einem Problem. „Aus den<br />

ehem<strong>als</strong> berechenbaren Maschinen sind im Laufe der Zeit immer<br />

unberechenbarere, fast schon anarchische Gebilde geworden, die nur noch<br />

ihren organisierten Einredungen folgen. Aus fremdorganisierten Systemen, die<br />

vorgegebene Probleme effizient zu bearbeiten hatten, sind selbstorganisierte<br />

Systeme geworden, die passende Probleme zu ihren Lösungswegen suchen.<br />

Aus Managern und Beratern, die anfangs mit überlegenem Fachwissen allein<br />

zu überzeugen wussten, sind Paradoxiekünstler geworden, die im Wissen um<br />

das unwahrscheinliche Gelingen ihres Tuns, irritierend auf die Systeme<br />

einwirken.“ (Bardmann/Groth 2001, S. 10) Da ist es nicht erstaunlich, wenn<br />

Baecker sich fragt (1997, S. 21): „Wie kann das gut gehen?“<br />

<strong>Organisation</strong> hat aus postmoderner Sicht ihre Unschuld verloren, und sie steht<br />

daher unter dem Zwang, ihre Existenz zu erklären und zu begründen. Es muss<br />

gezeigt werden, wie sich organisiertes Handeln konstituiert bzw. wie<br />

organisationale Ordnung entsteht und besteht. Das ist keine leichte Aufgabe<br />

angesichts des paradoxen Charakters <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>: „From an<br />

organizational analysis standpoint, the idea of organization as an ontological<br />

reality-creating process involving the ongoing relational configuring of material<br />

elements, which are themselves continuously changing and generating<br />

58


ZUSAMMENFASSUNG: DER VERLUST DER GEWISSHEIT<br />

themselves recursively, implies that organization is both at once a medium and<br />

an outcome.” (Chia 1996b, S. 52f)<br />

Es braucht demnach eine <strong>Organisation</strong>stheorie, die diesen paradoxen<br />

Charakter der <strong>Organisation</strong> erklären kann - eine Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. 59<br />

Theorien, die <strong>Organisation</strong> einseitig mit Rückgriff auf objektive Struktur- oder<br />

autonome Handlungselemente erklären, genügen diesen Anforderungen nicht<br />

mehr. Gesucht ist eine <strong>duale</strong> Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, die <strong>Organisation</strong> im<br />

Lichte organisierten Handelns deutet, und dabei strukturdeterministische und<br />

handlungsvoluntaristische Elemente in einem einheitlichen <strong>Erklärung</strong>sansatz<br />

miteinander verwebt. Der theoretische Fokus dieser <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> richtet sich auf die realitätsschaffenden und realitätserhaltenden<br />

sozialen Praktiken des Organisierens, die sowohl die Kontingenz <strong>als</strong> auch die<br />

Zwangsläufigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> hervorbringen. Das Entstehen und<br />

Bestehen <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> wird zum eigentlichen Thema der <strong>duale</strong>n Theorie<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> und somit zur relevanten Forschungsfrage. 60<br />

Das verlangt nach einer theoretischen Brille, die die latenten Strukturen <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> sichtbar macht. <strong>Die</strong> Theorie muss deontologisieren, damit sie die<br />

ontologisierende Leistung der Praxis kenntlich machen und würdigen kann.<br />

Was sind die theoretischen Bausteine einer solchen <strong>duale</strong>n Sichtweise? <strong>Die</strong>se<br />

Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil selbstverständlich nicht auf die gut<br />

fundierten theoretischen Elemente der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

59 Es wird daher ab sofort nicht mehr <strong>von</strong> einer Theorie der <strong>Organisation</strong>, sondern <strong>von</strong> einer Theorie<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> gesprochen (vgl. dazu auch die Anmerkung zur Verwendung des Begriffs<br />

<strong>Organisation</strong> auf Seite xix).<br />

60 Einige <strong>Organisation</strong>stheoretiker weisen darauf hin, dass dies eigentlich eine Wiederentdeckung<br />

der <strong>Organisation</strong> und eine Rückkehr an die Weberschen Wurzeln der (traditionellen)<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie bedeutet - wenn auch mit neuem, relational-konstruktivistischem<br />

Vorzeichen (vgl. Cooper/Burrell 1988; Reed 1993; Chia 1997). „In other words, Weber made us<br />

see modern organization as a process which emblemized the rationalization and objectification of<br />

social life, and it is to this process that the current debate returns us, but with a fresh twist…”<br />

(Cooper/Burrell 1988, S. 92<br />

Das deckt sich mit Bardmann (1994, S. 277ff), der darauf hinweist, dass Webers Bürokratieansatz<br />

<strong>von</strong> der <strong>Organisation</strong>stheorie nicht richtig rezipiert worden ist. „Weber wollte weder<br />

normative Vorschriften und Empfehlungen für die vorbildliche, nachahmungswerte, rationale<br />

<strong>Organisation</strong>sgestaltung liefern, ... noch sollte sein Verwaltungsmodell <strong>als</strong> Beschreibung des<br />

tatsächlichen Verhaltens in <strong>Organisation</strong>en dienen. Vielmehr sollte es helfen, sich in historisch<br />

vergleichenden Analysen gesellschaftlicher Ordnungs- und Herrschaftsformen einer solchen<br />

Beschreibung anzunähern, indem man die Wirklichkeit gerade an den Abweichungen vom ‚reinen<br />

Typus’ herausarbeitete. Nur vor diesem Hintergrund sind Webers Ausführungen angemessen zu<br />

verstehen.“<br />

59


ORGANISATIONSTHEORIE ALS EINE THEORIE DER PRAXIS<br />

zurückgegriffen werden kann. „So, if we do not base theories on conceptions<br />

of rationality, motivation, emotion and the like, where do we turn?“ (Gergen<br />

1992, S. 217) Es ist denkbar, dass es keine singuläre Theorie mehr geben<br />

wird, die es vermag, das Phänomen <strong>Organisation</strong> umfassend zu erklären.<br />

Vielleicht liegt die Zukunft der <strong>Organisation</strong>stheorie nicht in einer einzigen<br />

„grand theory“ sondern in einer Vielzahl <strong>von</strong> „analytically structured<br />

narratives”.<br />

Das folgende Kapitel 4 stellt mögliche Bausteine einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> vor, die dann in Kapitel 5 zu einem <strong>duale</strong>n <strong>Erklärung</strong>sansatz <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> zusammengefügt werden.<br />

60


4 KONTUREN EINER DUALEN<br />

THEORIE VON ORGANISATION<br />

ZUSAMMENFASSUNG: DER VERLUST DER GEWISSHEIT<br />

Heinl (1996, S. 63ff) hält fest, dass die Entwicklung einer Theorie immer auch<br />

mit einer Änderung des theoretisches Gehalts zentraler Begriffe einhergeht.<br />

Bei der Entwicklung einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> gilt das in<br />

besonderem Masse für die Begriffe <strong>von</strong> Struktur und Ordnung. In den<br />

traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien wurde Ordnung bislang immer mit<br />

formalen Strukturen in Zusammenhang gebracht. <strong>Die</strong> zentrale Aufgabe dieser<br />

formalen Strukturen war es, das kollektive Handeln in der <strong>Organisation</strong> zu<br />

koordinieren und dadurch die wirtschaftliche Erreichung bzw. Erfüllung der<br />

organisationalen Ziele bzw. Aufgaben sicherzustellen.<br />

Aus einem solchen Verständnis heraus macht es Sinn zu fragen, „wieviel<br />

<strong>Organisation</strong> die <strong>Organisation</strong> braucht“ (vgl. Baecker 1997). Der Ansatz der<br />

Kontingenztheorie hat versucht, auf diese Frage eine schlüssige Antwort zu<br />

finden - ihr Erfolg ist aber nicht unumstritten. 61 Aus postmoderner Sicht liegt es<br />

auf der Hand, dass die Kontingenztheorie ihr Versprechen nicht einlösen<br />

konnte, weil formelle Mittel eben nicht der (einzige) Weg zur <strong>Erklärung</strong> <strong>von</strong><br />

organisationaler Ordnung sind (vgl. Schütz/Mühlbach/et al. 2001). Baecker<br />

(1997, S. 19) macht deutlich, dass es in eine theoretische Sackgasse führt,<br />

wenn man Ordnung mit formellen Strukturen gleichsetzt: „<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong><br />

braucht viel <strong>Organisation</strong>. Und: <strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong> braucht wenig <strong>Organisation</strong>.<br />

... Ich behaupte, dass man jede <strong>Organisation</strong> sowohl überdeterminieren <strong>als</strong><br />

auch unterdeterminieren kann und dass sie trotzdem und in beiden Fällen<br />

arbeitsfähig ist.“ Das scheint eine paradoxe Aussage zu sein - aber nur<br />

solange, <strong>als</strong> man Ordnung ursächlich mit formellen Strukturen in Verbindung<br />

bringt. Löst man diese vermeintliche Einheit zwischen Ordnung und formellen<br />

Strukturen auf, dann verweist das Zitat <strong>von</strong> Baecker darauf, dass es eine<br />

Ordnung gibt, die jenseits <strong>von</strong> formellen organisatorischen Mitteln liegt.<br />

Sich diese Ordnung in dem Bezugsrahmen einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> vorzustellen ist eine Herausforderung, denn man kann dafür auf<br />

nichts anderes mehr zurückgreifen <strong>als</strong> auf Prozesse und „Beziehungszustände“<br />

(Heinl 1996, S. 67). So erstaunt es nicht, dass Kühl (1998, S. 16)<br />

61 Vgl. dazu die Diskussion der Kontingenztheorie (Situativer Ansatz) z.B. in Kieser 1999b.<br />

61


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

noch eine gewisse „theoretische Sprachlosigkeit“ konstatiert, wenn es darum<br />

geht, das Phänomen Ordnung in eine neue Sprache zu fassen.<br />

Es ist deshalb wohl ebenso notwendig wie sinnvoll, zur Entwicklung einer<br />

<strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> zunächst einmal <strong>von</strong> denjenigen Begriffen<br />

auszugehen, die den Kern des postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnisses<br />

ausmachen und schrittweise zu versuchen, diese Kernbegriffe in einer <strong>duale</strong>n<br />

Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> neu zu fassen.<br />

4.1 Kernbegriffe einer <strong>duale</strong>n Theorie<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

Aus der Diskussion der postmodernen Entwicklung der <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

(vgl. Kapitel 3.2) lassen sich für die Erarbeitung einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> zwei zentrale Themenkomplexe ableiten:<br />

• die Re-Definition <strong>von</strong> Strukturen <strong>als</strong> Materialisierungen des<br />

Sozialen im weitesten Sinne und die Wirkungsweise dieser<br />

Strukturen in den Prozessen des Organisierens, sowie<br />

• die Rolle <strong>von</strong> Politik und Macht bei der Entstehung<br />

organisationaler Strukturen und der Entfaltung organisationaler<br />

Prozesse.<br />

<strong>Die</strong> Begriffe Strukturen, Prozesse, Politik und Macht sind zwar alt vertraut,<br />

aber die Bedeutung und die Interpretation, die ihnen in den traditionellen<br />

<strong>Organisation</strong>stheorien zugeteilt worden sind, können in einem postmodernen<br />

Verständnis nicht mehr genügen. Daher müssen die Begriffe aus ihrem<br />

bisherigen theoretischen Zusammenhang herausgelöst und neu positioniert<br />

werden. Das soll in den folgenden Kapiteln erfolgen.<br />

4.1.1 Strukturen und Prozesse<br />

Strukturen sind eines der klassischen Themen der traditionellen<br />

<strong>Organisation</strong>sliteratur. Darunter wurde das relativ stabile „Beziehungs- oder<br />

Anordnungsmuster zwischen den Personen und Maschinen einer<br />

<strong>Organisation</strong>“ (Scharfenkamp 1987, S. 20) verstanden. Der Fokus lag auf den<br />

formellen Mitteln, mit denen dieses Muster zu gestalten ist: Aufgabenteilung<br />

62


KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

(Differenzierung, Spezialisierung), (De-)Zentralisierung, Formalisierung. 62<br />

<strong>Die</strong>se Erscheinungsform <strong>von</strong> organisierter Ordnung wurde unter den Stichworten<br />

Hierarchie und Bürokratie zusammengefasst. Ordnung, Strukturen,<br />

Hierarchie und Bürokratie werden somit in den traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien<br />

in der Regel <strong>als</strong> kausal verknüpft gedacht und verwendet. 63<br />

Das Versagen bürokratischer Strukturen ist in der <strong>Organisation</strong>sliteratur<br />

vielstimmig beklagt worden. 64 Es gibt Autoren, die den Grund des Versagens<br />

in der mangelhaften Umsetzung des bürokratischen Konzepts verorten und<br />

dafür plädieren, die bürokratischen Strukturen in der Praxis besser zu<br />

implementieren (vgl. z.B. Jacques 1990). Hier soll die leidende Ordnung durch<br />

nachgebesserte Strukturen gerettet werden. <strong>Eine</strong>n neuen Beitrag zum Thema<br />

Strukturen leisten diese Autoren damit nicht - sie schlagen lediglich mehr vom<br />

selben vor.<br />

Andere Autoren unterziehen das Bürokratie-Modell einer kritischen Analyse<br />

und stellen nicht nur Implementierungsmängel, sondern inhärente Schwächen<br />

und Grenzen des bürokratischen Ansatzes fest, und entwerfen darum ein<br />

Gegenmodell zur bürokratischen Struktur (vgl. z.B. Heckscher 1994).<br />

<strong>Eine</strong> dritte Gruppe <strong>von</strong> Autoren kritisiert die Bürokratie-Kritik <strong>als</strong> zu eng, weil<br />

sie die eigentliche Funktionsweise bürokratischer Mechanismen übersehe<br />

bzw. das Funktionieren hierarchischer Strukturen trivialisiere (vgl. z.B.<br />

Thompson 1993). <strong>Die</strong>se Autoren verwerfen Bürokratie <strong>als</strong> <strong>Organisation</strong>sform<br />

nicht a priori, sondern rufen dazu auf, ein differenzierteres Verständnis für das<br />

Funktionieren der bürokratischen Strukturen zu entwickeln.<br />

Auf diese beiden letzteren Strömungen soll nun kurz eingegangen werden.<br />

62<br />

<strong>Die</strong>ses Ordnungsverständnis wird stets auf Weber zurückgeführt. Allerdings gibt es neuerdings<br />

auch Tendenzen, Weber anders zu interpretieren <strong>als</strong> auf diese traditionelle und tradierte Art und<br />

Weise (vgl. Fussnote 60).<br />

63<br />

Im Rahmen dieser Dissertation werden die Begriffe Hierarchie und Bürokratie nicht weiter<br />

differenziert. Damit lehnt sich die Dissertation an den amerikanischen Sprachgebrauch an, in<br />

dem Bürokratie die neutrale Bezeichnung einer hierarchisch strukturierten <strong>Organisation</strong> ist, ohne<br />

abwertenden Beiton, wie das im deutschen Sprachgebrauch häufig der Fall ist.<br />

64<br />

Vgl. z.B. Daft 1982; Drazin/Van de Ven 1985; Kurke 1988; Bartlett/Ghoshal 1993;<br />

Heckscher/Donnellon 1994; Adler/Borys 1996; Kanter 1996; Kilman 1996; Bower 1997; Iverson<br />

1998.<br />

63


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

a) Entwicklung neuer <strong>Organisation</strong>smodelle<br />

Nohira und Berkley (1994) sehen in den neu auftauchenden organisationalen<br />

Konzepten die Ablösung der Weberschen Bürokratie: <strong>Die</strong> Bürokratie war der<br />

Versuch, Information und Wissen durch hierarchische Strukturen zu<br />

koordinieren und verfügbar zu machen. Mit den neuen technologischen<br />

Möglichkeiten, Information und Wissen elektronisch verfügbar zu machen, ist<br />

die Notwendigkeit für diese bürokratischen Strukturen nunmehr entfallen. „In<br />

its purest sense, this project has to do with the implosion of our older<br />

structures of coordination and control. … The idea of organizational structure<br />

is in many ways a legacy of the bureaucratic era, one that has decreased<br />

relevance in the ‚immaterial’ world of the virtual organization.“ (Nohria/Berkley<br />

1994, S. 116/119)<br />

Momentan steht die Rückbesinnung auf kleine Einheiten wie autonome<br />

Arbeitsgruppen, temporäre Projektgruppen, lose Netzwerke und ähnliche<br />

Formationen hoch im Kurs (vgl. z. B. Heintel/Krainz 1988). Dahinter steht die<br />

Überzeugung, dass überschaubare Einheiten auf eine bürokratische Struktur<br />

verzichten können und dadurch an Flexibilität und Dynamik gewinnen.<br />

<strong>Die</strong>ser Drang nach einer „grenzenlosen“, „fraktalen“, „fluiden“, „interaktiven“<br />

oder „virtuellen“ <strong>Organisation</strong> 65 hängt in der Regel eng zusammen mit einem<br />

ungenügenden Verständnis der Wirkungsweise <strong>von</strong> (bürokratischen)<br />

Strukturen (vgl. Abschnitt unten). Das vermeintlich einengende Korsett<br />

bürokratischer Strukturen wird abgeschafft, und inspiriert <strong>von</strong> den<br />

anspruchsvollen Autopoiesis-Konzepten der modernen Systemtheorie werden<br />

neue Vorstellungen darüber entwickelt, wie organisatorische Einheiten<br />

gestaltet und gesteuert werden können. „[T]he design of the organization itself<br />

has emerged as a new strategic variable.“ (Daft/Lewin 1993, S. ii)<br />

Das Zauberwort, mit dem das möglich sein soll, heisst Selbstorganisation statt<br />

Fremdorganisation durch bürokratische Strukturen (vgl. z.B. Schmidt 1993).<br />

Man verspricht sich da<strong>von</strong> eine <strong>Organisation</strong>sform, die zwar Freiräume und<br />

Flexibilität schafft, aber Führung und Kontrolle dennoch nicht ganz verhindert.<br />

65 Vgl. Picot/Reichwald/et al. 1996; Warnecke 1992, 1995; Weber 1996; Heckscher 1994;<br />

Cooper/Rousseau 1999). <strong>Die</strong> fantasievollen Bezeichnungen für die neuen <strong>Organisation</strong>sformen<br />

vermögen nicht darüber hinweg zu täuschen, dass sich trotz neuer Begriffe hinsichtlich des<br />

Verständnisses des Phänomens <strong>Organisation</strong> wenig geändert hat. Keine dieser Veröffentlichungen<br />

geht am Anfang ihrer Überlegungen auf die Frage ein, was (eine) <strong>Organisation</strong> ist und<br />

wie sie entsteht und besteht. <strong>Organisation</strong> wird nach wie vor unproblematisch vorausgesetzt.<br />

64


KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

„Leadership in these new organizations seems to reflect a shift from<br />

maintaining rational control to leadership without control, at least in the<br />

traditional sense.“ (Daft/Lewin 1993, S. ii) Was dabei herauskommt sind in der<br />

Regel mehr oder weniger direkte Ansätze <strong>von</strong> Kultur- und Mindset-<br />

Management (vgl. z.B. Lessem 1990). 66<br />

Doch es zeigt sich, dass der Transfer des hoch abstrakten Gedankenguts der<br />

Autopoiesis-Konzepte in die Niederungen des organisationalen Alltags nicht<br />

ohne Tücken ist (vgl. Kühl 1998). <strong>Die</strong> Probleme, die die Praxis mit den neuen<br />

<strong>Organisation</strong>sformen hat, haben damit zu tun, dass die traditionelle<br />

Vorstellung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> und Ordnung auch den Umgang mit den neuen<br />

<strong>Organisation</strong>sformen weiterhin implizit bestimmt. So wird Selbstorganisation in<br />

der Regel auf die Frage des Designs flexibler <strong>Organisation</strong>sstrukturen verkürzt<br />

und umstandslos auf ein unverändert gebliebenes Verständnis <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> entitative Einheit aufgepfropft. Ulrich (1990, S. 291f)<br />

konstatiert denn auch, dass trotz neuer Führungs- und <strong>Organisation</strong>sformen<br />

kein Paradigmenwechsel stattgefunden hat: „Da<strong>von</strong> kann schon deshalb nicht<br />

die Rede sein, weil der eigentliche Mythos des wissenschaftlichen<br />

Managements, die Verkürzung <strong>von</strong> rationaler Kooperationspraxis auf<br />

Sozialtechnologie (das heisst der Umgang mit Subjekten nach dem Muster der<br />

technischen Verfügung und Kontrolle über Objekte, <strong>als</strong> ob Mitarbeiter bloss<br />

Objekte des Managements wären), <strong>als</strong> solche noch überhaupt nicht reflektiert<br />

wird.“<br />

Was passiert, wenn Fremdorganisation durch Selbstorganisation abgelöst<br />

wird, ist nämlich nicht wie erhofft ein Abbau bzw. Verschwinden <strong>von</strong><br />

Steuerungs- und Kontrollmechanismen (vgl. Hastings 1993), sondern lediglich<br />

eine Verschiebung. <strong>Die</strong> Steuerungs- und Kontrollmechanismen der<br />

Fremdorganisation werden nämlich ganz einfach ersetzt durch diejenigen der<br />

Selbstorganisation. Es geht daher nicht um Fremdorganisation versus<br />

Selbstorganisation, sondern ganz allgemein darum, die Prozesse des<br />

Organisierens zu verstehen, zu erkennen wie sich <strong>Organisation</strong> im wahrsten<br />

Sinn des Wortes (selbst) organisiert. Das heisst: Wir brauchen ein neues<br />

Struktur- und Ordnungsverständnis.<br />

66 Nach dem Konzept des Business Process Reengineering (Hammer/Champy 1993) geht es nun<br />

an das Engineering der soft factors, vgl. z.B. die 4. Dimension der Balanced Score Card<br />

(Kaplan/Norton 1996).<br />

65


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

b) Entwicklung eines neuen Struktur- und Prozessverständnisses<br />

Angesichts des durchwegs auch positiven Leistungsausweises bürokratisch<br />

strukturierter <strong>Organisation</strong>en warnt Baecker (1994, S. 30) davor, hierarchische<br />

Strukturen leichtfertig über Bord zu werfen: „Aber es kommt darauf an zu<br />

verstehen, dass jeder Versuch, Unternehmensorganisation nichthierarchisch<br />

aufzubauen, aus guten Gründen die gesamte Managementtradition gegen sich<br />

hat, deren Leistungsfähigkeit in den westlichen Industrieländern auf eben<br />

dieser Hierarchie beruht. Alle Managementformen, die besser sind <strong>als</strong><br />

Hierarchie, müssen mindestens so gut sein wie: Hierarchie.“<br />

Es kommt <strong>als</strong>o darauf an, besser zu verstehen, was Strukturen eigentlich sind<br />

und wie sie wirken. <strong>Organisation</strong>ale Strukturen sind bereits unter den<br />

verschiedensten Aspekten untersucht worden. 67 Blau (1963) und Weick (1979)<br />

waren jedoch die ersten <strong>Organisation</strong>stheoretiker, die angefangen haben, das<br />

Thema Struktur aus einer prozessorientierten Perspektive zu betrachten. Sie<br />

hatten die Erkenntnis, dass die Funktionsweise <strong>von</strong> Strukturen erst dann<br />

verstanden werden kann, wenn Strukturen <strong>als</strong> Prozess betrachtet werden,<br />

oder mit den Worten <strong>von</strong> Denzin (1983, S. 135) <strong>als</strong> „forms of interaction,<br />

whose contents must be filled in by the interactions, intentions, and<br />

experiences of individu<strong>als</strong>.“<br />

Strukturen <strong>als</strong> Prozess zu betrachten heisst aber nicht, einfach den Fokus weg<br />

<strong>von</strong> formellen Gegebenheiten auf zwischenmenschliche Interaktionen zu<br />

lenken. Law (1994, S. 2) macht deutlich, dass soziale Ordnung eine sehr<br />

diverse Erscheinungsform besitzt: „Rather, I argue, what we call the social is<br />

materially heterogeneous: talk, bodies, texts, machines, architectures, all of<br />

these and many more are implicated in and perform the ‚social’.“ Das<br />

Phänomen Ordnung kann <strong>als</strong>o weder auf exogene, formelle Strukturen noch<br />

auf soziale Prozesse reduziert werden. Vielmehr ist Ordnung eine komplexe<br />

Materialisierung ganz bestimmter, sich wiederholender Raum-Zeit-<br />

Konstellationen. Strukturen und Prozesse fallen zusammen in „reified,<br />

patterned regularities of thought and action that find their realization in the<br />

interactional and phenomenological situational streams that bind persons to<br />

one another.“ (Denzin 1983, S. 135)<br />

67 Vgl. z.B. Meyer/Rowan 1977; Ranson/Hinings/et al. 1980; Miller 1981; Brief/Downey 1983;<br />

Drazin/Sandelands 1989; Miller 1992; Greenwood/Hinings 1993; Weick 1993; Sandner/Meyer<br />

1994; Hinings/Thibault/et al. 1996.<br />

66


KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Strukturen und Prozesse sind auf das Engste miteinander verwoben und ein<br />

Ausdruck des spezifischen Ordnungsmusters einer <strong>Organisation</strong>. Bauer (1996,<br />

S. 258) spricht da<strong>von</strong>, dass Strukturen „Eigenwerte“ der <strong>Organisation</strong> sind. Sie<br />

weisen eine „interne Konsistenz“ auf, die nicht auf externe Gestaltungsmassnahmen<br />

allein zurückgeführt werden kann. So sagt Baecker (1999, S. 202f):<br />

„Man hält ‚<strong>Organisation</strong>’ und ‚Hierarchie’ für Konstanten sozialer Ordnung und<br />

übersieht vollständig, wie sehr die internen Konditionierungen, wenn sie sich<br />

auf unterschiedliche Anforderungen der Koordination <strong>von</strong> Arbeit beziehen,<br />

auch ganz unterschiedliche <strong>Organisation</strong>en und unterschiedliche Hierarchien<br />

hervorbringen.“<br />

Zwischen der Auffassung <strong>von</strong> Strukturen <strong>als</strong> exogene Gestaltungsfaktoren<br />

bzw. <strong>als</strong> spezifisches Charakteristika einer <strong>Organisation</strong> liegt ein radikaler<br />

Perspektivenwechsel. Mit einem Mal sind hierarchische Strukturen nicht mehr<br />

etwas, das der <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> aussen aufgesetzt, sondern <strong>von</strong> der<br />

<strong>Organisation</strong> in den Prozessen des Organisierens selbst hervorgebracht wird.<br />

Für Weick sind daher Strukturen eine „enacted stability“ (1993, S. 368) und er<br />

verweist damit darauf, dass Strukturen nicht etwas sind, was eine<br />

<strong>Organisation</strong> hat, sondern tut (1990, S. 218). Zwischen dem Begriff der<br />

Strukturen und dem Begriff der organisationalen Prozesse gibt es <strong>als</strong>o letztlich<br />

keine Trennschärfe mehr.<br />

<strong>Eine</strong> derartige (Re-)Definition des Struktur- und des Prozessbegriffs ruft nach<br />

einer neuen theoretischen Sprache, mit der Strukturen und der gegenseitige<br />

enge Zusammenhang zwischen Strukturen und Prozessen erhellt und erklärt<br />

werden können. <strong>Die</strong> Bausteine dieser neuen theoretischen Fundierung werden<br />

in Kapitel 4.2 eingeführt. Doch zunächst wird noch das zweite zentrale<br />

Begriffspaar einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> näher vorgestellt: Politik<br />

und Macht.<br />

4.1.2 Politik und Macht<br />

Im traditionellen organisationstheoretischen Verständnis wurden Politik und<br />

Macht <strong>als</strong> unerwünschte Nebenerscheinungen, <strong>als</strong> ausserhalb der legitimen<br />

<strong>Organisation</strong> betrachtet. Gerade mit Hilfe der bürokratischen Strukturen wollte<br />

man Macht und politische Prozesse zurückbinden und in den <strong>Die</strong>nst der<br />

formellen <strong>Organisation</strong> stellen. „The art of ‚leadership’ in a bureaucracy is<br />

largely a matter of understanding these subterranean processes - ‚how things<br />

67


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

really work around here’ - and turn them toward support of collective go<strong>als</strong>.“<br />

(Heckscher 1994, S. 22)<br />

Allgemein wird angenommen, dass mit dem Abbau formeller Strukturen und<br />

der Vergrösserung des organisationalen Freiraums Macht und politische<br />

Prozesse in der <strong>Organisation</strong> zunehmen werden und postbürokratische<br />

<strong>Organisation</strong>en darum einer immanenten „Politisierungsgefahr“ ausgesetzt<br />

sind (Kühl 1998, S. 83; ebenso Heckscher 1994; Baecker 1999; Gordon<br />

1994). 68 Doch mit dem Thema Macht und Politik hat sich die<br />

<strong>Organisation</strong>sliteratur dennoch bisher nur vereinzelt auseinandergesetzt, 69 und<br />

bis heute hat sich keine einheitliche Theorie der Macht herausgebildet (vgl.<br />

Bacharach/Lawler 1998). 70<br />

Ausserdem wird dort, wo Macht und Politik in <strong>Organisation</strong>en thematisiert wird<br />

(vgl. z.B. Heckscher 1994), das mit einem sehr traditionellen, entitativen<br />

Verständnis <strong>von</strong> politischen Prozessen und Macht unternommen, das sich nur<br />

schwer in ein postmodernes Verständnis <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> einfügen lässt. In<br />

der ganzen Literatur (vgl. Fussnote 69) gibt es nur gerade zwei Artikel, die sich<br />

ausführlich und aus relational-konstruktivistischer Sicht mit dem Thema Politik<br />

und Macht befassen: Gergen (1995) und Hosking (1995), wobei letzterer eine<br />

Replik auf ersteren ist.<br />

Somit eröffnet sich eine neue Herausforderung für die Entwicklung einer<br />

<strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>: Wie können die Phänomene Politik und<br />

Macht in <strong>Organisation</strong>en passend zu einem postmodernen <strong>Organisation</strong>sverständnis<br />

konzeptualisiert werden und welche Rolle spielen politische<br />

Prozesse und Macht in diesem <strong>Organisation</strong>sverständnis?<br />

68<br />

Vereinzelt lässt sich aber auch die gegenteilige Behauptung finden, nämlich dass durch die<br />

Einführung <strong>von</strong> Selbstorganisation den bürokratischen Machtprozessen ihre Basis entzogen wird,<br />

so z.B. bei Schmidt (1993, S. 132): „Mit diesem Konzept fällt, summa summarum, eine Reihe <strong>von</strong><br />

‚heiligen Kühen’: <strong>Die</strong> traditionellen Führungskonzepte veralten genauso wie Karrieremuster und<br />

-ansprüche, Kontrollverfahren und Absicherungsstrategien, bürokratische Schwerfälligkeiten und<br />

verschlungene Mitentscheidungsprozesse. Sie alle lassen sich aus der jetzt möglichen Distanz<br />

<strong>als</strong> kunstvolle Varianten <strong>von</strong> Machtprozessen erkennen.“<br />

69<br />

Vgl. z.B. Hall 1973; Burns 1962; Pettigrew 1973, 1977; March/Olsen 1976; Clegg 1979, 1989;<br />

Bacharach/Lawler 1980; Pfeffer 1981, 1992; March 1988a; Empter 1988; Türk 1989; Sandner<br />

1990, 1992; Vogel 1990; Küpper/Ortmann 1992; Neuberger 1995; Gergen 1995; Hosking 1995;<br />

Ortmann 1995a; Kramer/Neale 1998; Schirmer 2000.<br />

70<br />

Interessanterweise wird auch der Begriff <strong>Organisation</strong> ähnlich bemängelt (vgl. Kapitel 3.1).<br />

68


KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

4.1.2.1 Politik<br />

Der Begriff des Politischen ist durch Burns (1962) in die <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

eingeführt worden. Er hat in seinem grundlegenden Artikel ursprünglich den<br />

engen Zusammenhang zwischen Politik und Wandel in <strong>Organisation</strong>en<br />

aufgezeigt. Im Laufe der Zeit sind den Begriffen Politik bzw. politisches<br />

Handeln jedoch noch unzählige andere Bedeutungen zugemessen worden<br />

(vgl. z.B. Elsik 1999, S. 78): zweckgerichtete Beeinflussung, Einsatz bzw.<br />

taktischer Gebrauch <strong>von</strong> Macht, Machtkunst, Kampf um Herrschaft,<br />

Erweiterung des persönlichen Handlungsspielraums, Herstellung und<br />

Wahrung <strong>von</strong> Ordnungsvorstelllungen, Ausgleich und Koordination<br />

rivalisierender Interessen - das alles und mehr wird heutzutage in der<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie unter dem Begriff des Politischen subsumiert.<br />

Im Rahmen dieser Entwicklung seit Burns hat der Begriff des Politischen seine<br />

Wertung verändert. Burns hat dam<strong>als</strong> noch ausdrücklich festgehalten, dass<br />

Politik bzw. politisches Handeln funktional sind für die <strong>Organisation</strong>. Weit<br />

häufiger steht heute jedoch die dysfunktionale Wirkung politischen Handelns<br />

im Vordergrund der organisationstheoretischen Auseinandersetzungen. Erst in<br />

jüngster Zeit machen sich wieder Bemühungen breit, den konstruktiven<br />

Beitrag politischen Handelns zu untersuchen (vgl. Küpper/Ortmann 1992).<br />

Aus organisationstheoretischer Sicht lassen sich drei Interpretationen <strong>von</strong><br />

Politik unterscheiden: Politik <strong>als</strong> unternehmerische Aufgabe, Politik <strong>als</strong><br />

persönliche Interessenverfolgung und Politik <strong>als</strong> Konstitutionsprozess <strong>von</strong><br />

Ordnung (vgl. Abbildung 11).<br />

<strong>Die</strong>se drei Politikbegriffe werden im Folgenden kurz vorgestellt und auf ihre<br />

Verwendbarkeit im relational-konstruktivistischen Kontext einer <strong>duale</strong>n Theorie<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> geprüft.<br />

69


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Konzeptionelle Zuordnung<br />

Fokus<br />

Definition<br />

Beschreibung<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie<br />

Soziologie 71<br />

Politikwissenschaft<br />

Bewertung<br />

Unternehmerische<br />

Aufgabe bzw. Funktion<br />

Zweckrationale<br />

Strukturgestaltung und<br />

Entscheidungsfindung<br />

strukturorientiert<br />

top-down<br />

stabil<br />

Kontinuität<br />

formell<br />

entitativ<br />

Politik ist ...<br />

Verfolgung <strong>von</strong> Eigen-<br />

interesse bzw. -nutzen<br />

Interessengeleitete<br />

Machtausübung und<br />

Sicherungshandeln<br />

handlungsorientiert<br />

bottom-up<br />

dynamisch<br />

Wandel<br />

informell<br />

entitativ<br />

70<br />

Konstitution <strong>von</strong><br />

Ordnung<br />

Kontinuierliche<br />

(Re-)Produktion der<br />

<strong>Organisation</strong><br />

dual<br />

überall<br />

emergent<br />

Regulation<br />

konstitutiv<br />

relational<br />

Unternehmenspolitik Mikropolitik Spiele<br />

Herrschaft Macht<br />

Wechselbeziehung <strong>von</strong><br />

Herrschaft und Macht<br />

policy politics polity<br />

Politik <strong>als</strong> Aufgabe bzw.<br />

Funktion ist das formelle<br />

Privileg der <strong>Organisation</strong>sspitze.<br />

Politisches Handeln<br />

ist per Definition Handeln<br />

ohne formelle Autorität und<br />

Legitimation und ist<br />

deshalb prinzipiell<br />

schädlich und<br />

unerwünscht.<br />

Politik bzw. politisches<br />

Handeln ist zwar eigennützig,<br />

wirkt jedoch <strong>als</strong><br />

(notwendige) Korrektur<br />

der Starrheit organisationaler<br />

Strukturen und ist<br />

daher durchaus auch im<br />

Interesse der<br />

<strong>Organisation</strong>.<br />

Abbildung 11: Vergleich <strong>von</strong> verschiedenen Politik-Begriffen<br />

Jedes Handeln ist<br />

zwangsläufig auch<br />

politisch. Man kann<br />

nicht nicht politisch<br />

handeln. Politische<br />

Prozesse sind<br />

konstitutiv und<br />

konstituierend zugleich<br />

für die <strong>Organisation</strong>.<br />

71 Interessanterweise hat in der Soziologie der Begriff Politik keine eigenständige Bedeutung. In<br />

jedem der konsultierten Handbücher bzw. Wörterbücher bzw. Lexika der Soziologie wird Politik<br />

bzw. politisches Handeln nicht <strong>als</strong> eigener Begriff, sondern immer nur in Bezug auf Staat (Politikwissenschaft)<br />

erklärt. Soziologisch steht eher das Ergebnis politischen Handelns, das heisst<br />

Macht und Herrschaft im Vordergrund - diese beiden Begriffe werden im Gegensatz zu Politik<br />

jeweils sehr ausführlich behandelt.


KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

a) Politik <strong>als</strong> unternehmerische Aufgabe<br />

Politik wird in diesem Sinn in der <strong>Organisation</strong>sliteratur verstanden <strong>als</strong><br />

Unternehmenspolitik, das heisst <strong>als</strong> die Festlegung grundsätzlicher Ziele und<br />

Strategien der <strong>Organisation</strong>. Politik ist demnach eine Aufgabe und das<br />

formelle Privileg einiger Weniger, die Kraft der Autorität ihrer Funktion bzw.<br />

hierarchischen Position zur Ausübung dieser Aufgabe legitimiert sind. <strong>Die</strong><br />

Erarbeitung und Durchsetzung der Unternehmenspolitik gilt nicht <strong>als</strong><br />

politisches, sondern <strong>als</strong> unternehmerisches Handeln, weil es der Wahrung der<br />

organisationalen Interessen dient. Unter politischem Handeln hingegen wird<br />

die Verfolgung persönlicher Interessen verstanden. Politisches Handeln<br />

befindet sich daher per Definition stets im Widerspruch zu unternehmerischem<br />

Handeln, weil <strong>von</strong> einem Konflikt zwischen organisationalen und persönlichen<br />

Zielen und Interessen ausgegangen wird. Politisches Handeln ist somit aus<br />

Sicht der <strong>Organisation</strong> stets illegitim, potenziell schädlich und infolgedessen<br />

unerwünscht bzw. zu verhindern.<br />

Politik <strong>als</strong> Unternehmenspolitik beruht auf der formellen Hierarchie und betont<br />

damit den struktur- und stabilitätsorientierten Aspekt <strong>von</strong> Politik. Sie ist<br />

Führungsaufgabe und entfaltet sich entsprechend top-down. <strong>Die</strong>se Vorstellung<br />

<strong>von</strong> Politik ist stark entitativ geprägt, das heisst Politik ist eine Sache, die<br />

gemacht wird. Eng verwandt mit dem organisationstheoretischen Begriff <strong>von</strong><br />

Politik <strong>als</strong> Unternehmenspolitik sind die Konzepte <strong>von</strong> „Herrschaft“ 72<br />

(Soziologie) und „policy“ (Politikwissenschaft).<br />

Es liegt auf der Hand, dass sich ein derart entitativer und strukturorientierter<br />

Politikbegriff nicht in einen relational-konstruktivistischen Kontext einpassen<br />

lässt und daher für die weiteren Überlegungen nicht relevant ist.<br />

b) Politik <strong>als</strong> persönliche Interessenverfolgung<br />

Politik <strong>als</strong> persönliche Interessenverfolgung hat unter dem Begriff „Mikropolitik“<br />

Eingang in die <strong>Organisation</strong>sliteratur gefunden. 73<br />

Im Gegensatz zum versachlichten Politikbegriff der Unternehmenspolitik, der<br />

politischem Handeln jede Legitimation abspricht, verstehen mikropolitische<br />

72<br />

Vgl. dazu Kapitel 4.1.2.3.<br />

73<br />

Vgl. Bosetzky 1977; Bacharach/Lawler 1980; Türk 1989; Küpper/Ortmann 1992; Neuberger 1995;<br />

Kramer/Neale 1998.<br />

71


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Ansätze politisches Handeln <strong>als</strong> untrennbar verknüpft mit unternehmerischem<br />

Handeln bzw. Handeln in <strong>Organisation</strong>en ganz allgemein. „Organizational<br />

politics, therefore, are at the center of organizational processes and a principal<br />

way that ‚people get things done’ in organizations rather than being limited to<br />

the unsanctioned or nonrational domains.“ (Bacharach/Lawler 1998, S. 69)<br />

Man kann demnach „nicht nicht politisch handeln“. (Neuberger 1995, S. 3)<br />

Politik <strong>als</strong> Interessensverfolgung beruht auf intentional handelnden Individuen,<br />

die neben den organisationalen Zielen auch einen Eigennutzen verfolgen, und<br />

betont dadurch den handlungsorientierten Aspekt <strong>von</strong> Politik. Mikropolitik wird<br />

<strong>als</strong> Korrekturfaktor für die starren organisationalen Strukturen gewertet, der<br />

Dynamik und Wandel in den sonst trägen organisationalen Alltag bringt.<br />

Insofern ist Mikropolitik zwar problematisch, aber nicht unwillkommen in<br />

<strong>Organisation</strong>en, weil politisches Handeln die organisationale Flexibilität und<br />

Handlungsfähigkeit sicherstellt (vgl. Schirmer 2000, S. 27).<br />

Da politisches Handeln <strong>von</strong> Individuen ausgeht, die im Rahmen bestehender<br />

organisationaler Strukturen agieren, entfaltet sich Mikropolitik eher bottom-up.<br />

Politisches Handeln ist hier insofern informell, <strong>als</strong> formelle Mittel und Wege<br />

entweder bewusst umgangen oder aber taktisch gezielt (und nicht zwingend<br />

regelkonform) eingesetzt werden. Eng verwandt mit dem organisationstheoretischen<br />

Begriff <strong>von</strong> Politik <strong>als</strong> Mikropolitik sind die Konzepte <strong>von</strong><br />

„Macht“ 74 (Soziologie) und „politics“ (Politikwissenschaft).<br />

Das Konzept Mikropolitik neigt zum Handlungsvoluntarismus (vgl.<br />

insbesondere Bosetzky 1977) und gerät dadurch immer wieder in Gefahr,<br />

Politik bzw. politisches Handeln allzu entitativ zu fassen. Der aus relationalkonstruktivistischer<br />

Sicht heikle Punkt im Konzept der Mikropolitik liegt in<br />

seiner Unterstellung <strong>von</strong> Intentionalität. Politisches Handeln wird stets mit<br />

bewusstem Willen und gezieltem, berechnetem Handeln gleichgesetzt. Es<br />

geht um die Verfolgung und Erreichung <strong>von</strong> Nutzen, Interessen, Einfluss,<br />

Zielen, Strategien, Vorteilen etc. Politik bzw. politisches Handeln richtet sich<br />

demnach auf etwas, das diesem Handeln äusserlich ist. Dahinter steht in der<br />

Regel immer die implizite Annahme einer Kausalität des Handelns.<br />

Damit ist klar, dass sich der Politikbegriff, verstanden <strong>als</strong> Mikropolitik, ebenfalls<br />

nicht in einen relational-konstruktivistischen Kontext passt. Dennoch sind<br />

74 Vgl. dazu Kapitel 4.1.2.2.<br />

72


KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

mikropolitische Ansätze nicht uninteressant. Sie verweisen auf die<br />

Verschränkung zwischen politischen Prozessen und dem Prozess des<br />

Organisierens und verstehen politisches Handeln geradezu <strong>als</strong> Grundvoraussetzung<br />

zur Erhaltung der organisationalen Handlungsfähigkeit. <strong>Die</strong><br />

einseitige Fixierung auf nahezu beliebig handelnde Individuen und die<br />

Verankerung des Handlungsbegriffs in der Intentionalität des Individuums<br />

schränken aus relational-konstruktivistischer Sicht jedoch seinen<br />

organisationstheoretischen Nutzen ein. In jüngerer Zeit gibt es allerdings<br />

mikropolitische Ansätze, die genau an diesen zwei Kritikpunkten ansetzen.<br />

<strong>Die</strong>se neueren Konzepte ebnen den Weg zum Verständnis <strong>von</strong> Politik <strong>als</strong><br />

Konstitutionsprozess <strong>von</strong> Ordnung.<br />

c) Politik <strong>als</strong> Konstitutionsprozess <strong>von</strong> Ordnung<br />

<strong>Die</strong> neueren mikropolitischen Ansätze betonen ein radikal anderes Verständnis<br />

<strong>von</strong> Politik und politischem Handeln. „Mikropolitik - das meint gerade nicht,<br />

dass sich die Perspektive auf einen innerorganisationalen Kleinkrieg <strong>von</strong><br />

Macchiavellisten à la Bosetzky richtet, sondern dass es um eine mikroskopische<br />

Analyse der wechselseitigen Konstitution <strong>von</strong> organisationalem<br />

Handeln und (<strong>Organisation</strong>s-)Strukturen geht.“ (Ortmann 1995a, S. 48)<br />

Auch der neuere mikropolitische Ansatz versteht politisches Handeln <strong>als</strong><br />

zwangsläufiges Phänomen eines jeden organisierten Handelns. Der einseitige<br />

Fokus auf das (voluntaristisch) handelnde Individuum wird jedoch zugunsten<br />

einer <strong>duale</strong>n Perspektive aufgegeben. <strong>Die</strong>se <strong>duale</strong> Perspektive vereint<br />

struktur- und handlungsorientierte Aspekte des politischen Handelns in einem<br />

rekursiven Prozess. Für diesen Prozess hat sich in der <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

der Begriff der „Spiele“ eingebürgert. 75<br />

Politik <strong>als</strong> Spiele betont die konstitutive und konstituierende Natur der<br />

politischen Prozesse. Politik ist nicht mehr eine Gefährdung oder ein<br />

Korrekturfaktor <strong>von</strong> Ordnung, sondern im Gegenteil eine notwendige Voraussetzung<br />

für ihr Entstehen. Politische Prozesse sind somit das zentrale<br />

regulierende Element einer <strong>Organisation</strong>. Eng verwandt mit diesem Begriff <strong>von</strong><br />

Politik <strong>als</strong> Konstitutionsprozess ist das Konzept <strong>von</strong> „polity“ (Politikwissenschaft).<br />

Da der Begriff „Politik“ soziologisch gewissermassen<br />

75 Vgl. dazu Kapitel 4.2.3.<br />

73


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

unterdefiniert ist (vgl. Fussnote 71), gibt es keinen Begriff in der Soziologie,<br />

der dem Verständnis <strong>von</strong> Politik <strong>als</strong> Konstitutionsprozess <strong>von</strong> Ordnung bzw.<br />

<strong>Organisation</strong> entspricht. Am ehesten könnte man es noch <strong>als</strong> eine<br />

Wechselbeziehung zwischen Herrschaft und Macht beschreiben (vgl. Lueger<br />

1992a).<br />

Wenn sich politische Prozesse weder an Strukturen noch an Individuen und<br />

deren Intentionen zurückbinden lassen, dann können sie sich auch nicht topdown<br />

entlang der Befehlskette oder bottom-up <strong>als</strong> Abfolge individualistischer<br />

Winkelzüge entfalten, sondern sie sind emergent und überall. Damit werden<br />

politische Prozesse mächtiger bzw. durchdringender, gleichzeitig aber auch<br />

unklarer und schwerer zu fassen <strong>als</strong> im traditionellen unternehmenspolitischen<br />

bzw. mikropolitischen Verständnis.<br />

Neuere Definitionen <strong>von</strong> politischen Prozessen in <strong>Organisation</strong>en betonen<br />

denn auch die kollektive Errungenschaft des Politischen: Bacharach und<br />

Lawler (1998) verstehen Politik <strong>als</strong> kollektive Erwartungen bezüglich gemeinsamer<br />

Handlungen. Lueger (1992a, S. 185) sagt, dass politische Prozesse die<br />

„kollektiv verbindliche Festlegung sozialen Handelns hinsichtlich einer Unzahl<br />

möglicher Entscheidungsalternativen“ bedeuten. Und für Sandner und Meyer<br />

(1994) drehen sich politische Prozesse um die Wirklichkeitsverständigung in<br />

<strong>Organisation</strong>en.<br />

<strong>Die</strong> Wortwahl der oben zitierten Definitionen macht deutlich, dass das<br />

Verständnis <strong>von</strong> Politik <strong>als</strong> Konstitutionsprozess <strong>von</strong> Ordnung ideal in einen<br />

relational-konstruktivistischen Kontext passt. In Kapitel 4.1.2.3 wird daher auf<br />

Basis dieses Politik-Verständnisses eine relational-konstruktivistische Definition<br />

<strong>von</strong> Politik bzw. politischem Handeln formuliert. Doch zunächst muss der<br />

Machtbegriff noch näher untersucht werden, denn zwischen Politik und Macht<br />

besteht ein enger inhaltlicher Zusammenhang.<br />

4.1.2.2 Macht<br />

„Macht wird überreichlich und in einer grossen Vielfalt <strong>von</strong> Bedeutungen<br />

gebraucht.“ (Boudon/Bourricaud 1992, S. 302) Es ist damit nicht einfach, zu<br />

einer handhabbaren Definition <strong>von</strong> Macht zu kommen - zumal es eine<br />

relational-konstruktivistische Definition sein muss!<br />

74


KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Wie das Zitat <strong>von</strong> Boudon und Bourricaud vermuten lässt, sind unterschiedlichste<br />

Theorien <strong>von</strong> Macht entwickelt worden, 76 doch prinzipiell kann<br />

unterschieden werden zwischen einem traditionellen und einem modernen<br />

Machtbegriff (vgl. Abbildung 12).<br />

Der traditionelle Machtbegriff definiert Macht <strong>als</strong> die Beschränkung des<br />

Freiraums anderer, sei es durch den Zwang <strong>von</strong> Strukturen (strukturelle<br />

Macht) oder durch die Handlungen einzelner, machtvoller Individuen (interaktionelle<br />

Macht). Damit wird die Nähe <strong>von</strong> Macht und Politik unmittelbar<br />

deutlich (vgl. Kapitel 4.1.2.3): Politik <strong>als</strong> unternehmerische Aufgabe stützt sich<br />

auf einen strukturellen Machtbegriff, auch Herrschaft genannt. 77 Politik <strong>als</strong><br />

persönliche Interessenverfolgung stützt sich hingegen auf einen<br />

interaktionellen Machtbegriff bzw. Macht(ausübung) i.e.S.<br />

Macht verstanden <strong>als</strong> Beschränkung des Freiraums anderer ist immer eine<br />

Macht über andere. Macht ist etwas, das dem Handeln äusserlich ist, aber auf<br />

das beim Handeln zurückgegriffen werden kann. Es liegt auf der Hand, dass<br />

der traditionelle Machtbegriff (analog den entsprechenden Politikbegriffen, vgl.<br />

Kapitel 4.1.2.1) sich auf ein entitatives Verständnis <strong>von</strong> Strukturen und<br />

handelnden Individuen stützt. Obwohl sich nahezu die gesamten Theorien und<br />

Literatur zum Thema Macht auf diesen traditionellen Machtbegriff stützen, wird<br />

er hier nicht weiter verfolgt, weil er <strong>als</strong> Begriff in einem relationalkonstruktivistischen<br />

Kontext nicht geeignet ist.<br />

Es gibt jedoch neuere Entwicklungen in der Machttheorie, die aus relationalkonstruktivistischer<br />

Sicht viel versprechend sind. <strong>Die</strong>ser neue, moderne<br />

Machtbegriff geht zurück auf Lukes (1974) und Foucault (1976, 1978).<br />

Danach ist Macht die Fähigkeit, Konsequenzen hervorzubringen, 78 <strong>als</strong>o nicht<br />

eine Macht über irgendwen oder irgendwas, sondern die Macht zu, das heisst<br />

die Macht etwas geschehen oder nicht geschehen zu machen bzw. zu lassen.<br />

76<br />

Vgl. die Diskussion der verschiedenen Machttheorien z.B. in: Pfeffer 1981; Empter 1988; Clegg<br />

1989; Sandner 1990; Neuberger 1995; Heinl 1996; Hardy/Clegg 1996; Schirmer 2000.<br />

77<br />

Zum Verhältnis zwischen Macht und Herrschaft (<strong>als</strong> institutionalisierter Macht) vgl. Lueger 1992a.<br />

78 „Konsequenzen hervorbringen“ ist bewusst allgemein und unbestimmt formuliert, denn darunter<br />

fällt alles, was <strong>als</strong> Ergebnis sozialer Beziehungen denkbar ist, das heisst nicht nur die<br />

Veränderung sondern auch der Erhalt des Status quo.<br />

75


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Konzeptionelle Zuordnung<br />

Definition<br />

Fokus<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie<br />

Soziologie<br />

Machttheorien<br />

Bewertung<br />

Macht ist ...<br />

Beschränkung des Freiraums anderer<br />

Zwang der Strukturen<br />

(Macht-über)<br />

politisch handelnde<br />

Individuen<br />

76<br />

Fähigkeit,<br />

Konsequenzen<br />

hervorzubringen<br />

(Macht-zu)<br />

Zusammenwirken <strong>von</strong><br />

Zwängen der Strukturen<br />

und politischen<br />

Prozessen<br />

Unternehmenspolitik Mikropolitik Spiele<br />

Herrschaft Macht i.e.S.<br />

Macht <strong>als</strong> Besitz<br />

oder Einsatz <strong>von</strong><br />

Ressourcen<br />

(z.B. Dahl)<br />

Ressourcenorientierte Theorien<br />

Macht ist an eine Sache<br />

gebunden. Wer die Sache<br />

hat bzw. einsetzt, hat<br />

Macht. <strong>Die</strong> Ausübung <strong>von</strong><br />

Macht ist ein Ein-Weg-Akt<br />

und wirkt kausal. Entitatives<br />

Machtverständnis.<br />

Machtbasen-<br />

Modelle (z.B.<br />

French/Raven)<br />

Dependenz-<br />

Modelle nach<br />

Emerson<br />

(z.B. Pfeffer)<br />

Macht ist vieles:<br />

Ressourcen, Strukturen,<br />

Personen, Immaterielles.<br />

Machtausübung wirkt<br />

kausal, aber ist in einem<br />

gewissen Umfang dependent<br />

vom Kontext. Trotz<br />

Berücksichtigung <strong>von</strong><br />

Dependenz immer noch<br />

ein entitatives Machtverständnis.<br />

Abbildung 12: Vergleich <strong>von</strong> verschiedenen Macht-Begriffen<br />

Wechselbeziehung <strong>von</strong><br />

Herrschaft und Macht<br />

Verhandlungsorientierte<br />

Theorien<br />

(im Entstehen) 79<br />

Macht ist ein Artefakt,<br />

das routinisierten<br />

sozialen Praktiken<br />

entspringt. Macht ist<br />

eine relationale Beziehung<br />

und nie kausal.<br />

Machtausübung ist nicht<br />

Zwang, sondern<br />

Konsens. Relationales<br />

Machtverständnis.<br />

79 Es bestehen noch kaum Theorien der Macht, die nicht nur einen Dependenz-Ansatz, sondern<br />

einen eigentlichen Interdependenz-Ansatz verfolgen, das heisst tatsächlich relational und ohne<br />

Restkausalität sind. Ich nenne diese erst im Entstehen begriffenen Machtmodelle verhandlungsorientierte<br />

Theorien, um sie gegen das Austauschkonzept der Dependenz-Modelle (was gibst du<br />

mir, wenn ich dir gebe?) abzugrenzen. Erste Ansätze zu einer solchen echten relationalen<br />

Verhandlungstheorie <strong>von</strong> Macht finden sich bei Sandner (1990) und bei Gergen (1995). Aber<br />

auch die Machtbegriffe <strong>von</strong> Giddens (1997) und Crozier und Friedberg (1993/1979) können <strong>als</strong><br />

verhandlungsorientierte Machtmodelle interpretiert werden (vgl. dazu die Kapitel 4.2.1 und 4.2.3).


KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Ausgangspunkt der neuen Machtdefinition ist der Gedanke, dass jeder<br />

Handelnde zwar innerhalb gewisser struktureller oder interaktioneller<br />

Einschränkungen agiert, jedoch stets über eine nicht wegbedingbare relative<br />

Autonomie bzw. (Entscheidungs- und Handlungs-)Spielraum verfügt. <strong>Die</strong><br />

Existenz <strong>von</strong> strukturellen oder interaktionellen Zwängen wird <strong>als</strong>o nicht<br />

negiert, doch es wird die Möglichkeit betont, dass jeder Handelnde immer<br />

auch die Möglichkeit hat, anders oder nicht zu handeln.<br />

Macht entfaltet <strong>als</strong>o keinen absoluten Zwang mehr - im Gegenteil: Macht <strong>als</strong><br />

Macht-zu betont den ermöglichenden Charakter <strong>von</strong> Macht, im Gegensatz zu<br />

Macht-über, das die einschränkende Wirkung <strong>von</strong> Macht unterstreicht. Macht<br />

ist keine Behinderung, sondern Grundvoraussetzung <strong>von</strong> Handeln, weil Macht<br />

überhaupt erst die Voraussetzung bzw. Fähigkeit zu kollektivem Handeln<br />

schafft.<br />

<strong>Die</strong> Ausübung <strong>von</strong> Macht kann daher nicht die Beschränkung der Handlungsfähigkeit<br />

anderer zum Ziel haben, im Gegenteil: Sie ist gerade auf die<br />

Handlungsfähigkeit der anderen angewiesen, um die gewünschten<br />

Konsequenzen kollektiv hervorbringen zu können. Damit sind nicht mehr<br />

Gewalt und Konflikt die inhärenten Begleiter <strong>von</strong> Macht, sondern Macht ist<br />

paradoxerweise die Erreichung <strong>von</strong> Konsens zwischen relativ autonom<br />

Handelnden. 80 Macht ist damit ent-moralisiert, das heisst hat ihre negative<br />

Konnotation verloren.<br />

Typisch für den neuen Machtbegriff ist ausserdem, dass Macht weder in<br />

Strukturen noch bei Individuen, sondern in gelebten Beziehungen verortet<br />

wird. Macht ist das, womit Individuen in erfolgreichen Handlungen aufeinander<br />

einwirken. Damit überwindet der moderne Machtbegriff den Gegensatz bzw.<br />

die Trennung zwischen struktureller und interaktioneller Macht und wächst<br />

über den einfachen Dependenzansatz der bisherigen Machttheorien hinaus.<br />

Macht wird nicht via Beziehungen ausgeübt, sondern Beziehungen sind<br />

Macht. 81 Macht wird ein wahrhaft relationales Phänomen. Macht ist somit nicht<br />

mehr ein Privileg <strong>von</strong> ein paar Wenigen, sondern verteilt und in allen sozialen<br />

Beziehungen eingelagert. Jeder und jede hat Macht-zu. Macht wird zu einem<br />

80<br />

Damit soll nicht die „dunkle Seite der Macht“ (vgl. Bies/Tripp 1998) ausgeblendet werden. Doch<br />

bevor über negative Auswirkungen <strong>von</strong> Macht diskutiert werden kann, muss zuerst eine<br />

angemessene Theorie <strong>von</strong> der Entstehung und Stabilisierung <strong>von</strong> Macht erarbeitet werden.<br />

81<br />

Das weiss der Volksmund schon längst und spricht darum vom Vitamin B(eziehungen).<br />

77


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

alltäglichen Phänomen, und ist nicht mehr ein rares Gut, sondern im Überfluss<br />

vorhanden.<br />

Weil Macht ein Alltagsgut ist, wird Macht bzw. die Ausübung <strong>von</strong> Macht häufig<br />

gar nicht wahrgenommen (vgl. Burr 1995, S. 62ff). Macht wird mit Realität<br />

verwechselt. Wir sind machtblind. 82 Macht entfaltet sich nämlich nicht nur in<br />

Unsicherheitszonen, in denen den Beteiligten mehr <strong>als</strong> eine einzige<br />

Handlungsalternative zur Disposition steht und daher über das weitere<br />

kollektive Handeln entschieden werden muss, so wie das Lueger (1992a,<br />

S. 186) festhält. Macht findet auch in Nicht-Entscheidungssituationen statt, in<br />

denen mögliche Alternativen gar nicht erst zur Auswahl stehen. Es ist dieses<br />

„zweite Gesicht der Macht“ (vgl. Bachrach/Baratz 1962), für das wir in der<br />

Regel blind sind.<br />

Auch wenn Macht in Beziehungen ruht, sedimentieren sich im Laufe der Zeit<br />

die Produkte dieser (Macht-)Beziehungen 83 <strong>als</strong> Materialisierungen des<br />

Sozialen und entfalten eine eigene, <strong>von</strong> der ursprünglichen (Macht-)Beziehung<br />

unabhängige Macht, die wiederum auf die (Macht-)Beziehungen zurückwirkt.<br />

Macht konstituiert sich <strong>als</strong>o rekursiv. 84 <strong>Die</strong>ses Zurückwirken <strong>von</strong> sedimentierten<br />

(Macht-)Beziehungen wird dann <strong>als</strong> Zwang wahrgenommen. Aus<br />

Macht-zu ist plötzlich Macht-über geworden. <strong>Organisation</strong>stheoretisch wird<br />

dieses Wechselspiel <strong>von</strong> Macht-zu und Macht-über <strong>als</strong> organisationale Spiele<br />

bezeichnet (vgl. Kapitel 4.2.3). Damit wird deutlich, dass ein enger<br />

Zusammenhang zwischen der Macht-zu und dem Verständnis <strong>von</strong> Politik <strong>als</strong><br />

Konstitutionsprozess <strong>von</strong> Ordnung (vgl. Abbildung 11) besteht und der<br />

begriffliche Bogen <strong>von</strong> Politik über Macht zurück wieder zu Politik ist<br />

geschlossen.<br />

Abschliessend werden nun die beiden Begriffe Politik und Macht aus einer<br />

relational-konstruktivistischen Sicht redefiniert und zusammengefasst.<br />

82<br />

<strong>Die</strong>se Machtblindheit und ihre Auswirkungen auf die Definition <strong>von</strong> Geschlecht und in der Folge<br />

auf die Gestaltung unserer Gesellschaft und unsere alltäglichen Interaktionen ist ein Kernanliegen<br />

der feministischen Theorie (vgl. Hughes 2002).<br />

83<br />

Es ist eigentlich ein Pleonasmus, <strong>von</strong> Macht-Beziehungen zu reden: Beziehungen sind ja Macht,<br />

<strong>als</strong>o sind keine anderen Beziehungen denkbar <strong>als</strong> Macht-Beziehungen.<br />

84<br />

Vgl. Lueger (1992a), der die rekursive Konstitution <strong>von</strong> Macht <strong>als</strong> Wechselbeziehung zwischen<br />

Herrschaft und Macht konzeptualisiert.<br />

78


KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

4.1.2.3 Politik und Macht: <strong>Eine</strong> relationalkonstruktivistische<br />

(Re-)Definition<br />

Aus relational-konstruktivistischer Sicht muss zusammenfassend betont<br />

werden, dass Politik und Macht fundamentale Elemente eines jeden<br />

kollektiven Handelns sind. Sie können <strong>als</strong> soziale Fähigkeiten begriffen<br />

werden, in denen kollektives Handeln gründet, und <strong>als</strong> solche sind sie<br />

konstituierend für die Entstehung <strong>von</strong> Ordnung. Politik und Macht stellen<br />

sozusagen den Motor dar, der den sozialen Konstruktions- und<br />

Reifikationsprozess der organisationalen Wirklichkeit antreibt (vgl. Abbildung<br />

13):<br />

Definitionsleistung<br />

Macht<br />

Konstruktions- und<br />

Reifikationsprozess<br />

der sozialen Wirklichkeit<br />

Politik<br />

Verhandlungsleistung<br />

Abbildung 13: Politik und Macht <strong>als</strong> soziale Fähigkeiten<br />

• Macht<br />

Macht ist in diesem Sinn die Fähigkeit, aus dem unstrukturierten<br />

Strom des täglichen Geschehens bestimmte Ereignisse,<br />

Entscheide, Regeln etc. hervorzuheben und in einen speziellen<br />

Sinnzusammenhang zu stellen und so das Phänomen Ordnung<br />

bzw. <strong>Organisation</strong> überhaupt erst entstehen zu lassen. Aus dem<br />

Bereich des denkbar Möglichen wählt Macht dasjenige aus, was<br />

ist und gilt. Erst dadurch erhält kollektives Handeln einen<br />

gemeinsamen Fokus und wird überhaupt möglich. Macht hat<br />

demnach eine konstruktive, ermöglichende Wirkung, die<br />

paradoxerweise auf Selektion bzw. Restriktion beruht. Macht<br />

79


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

ermöglicht, weil Macht durch Restriktion bisher Unstrukturiertes<br />

und Desorganisiertes in Struktur und <strong>Organisation</strong> transformiert<br />

und dadurch die Voraussetzungen und Anschlussmöglichkeiten<br />

für kollektives Handeln schafft.<br />

Macht ist <strong>als</strong>o eine Definitionsleistung, die soziale Wirklichkeit<br />

durch einen definitorischen Akt schafft. Burr (1995, S. 64) sagt:<br />

„To define the world ... is to exercise power.“ In Abgrenzung zum<br />

strukturellen und interaktionellen Machtbegriff der traditionellen<br />

Machttheorien kann der relational-konstruktivistische Machtbegriff<br />

daher <strong>als</strong> ontologische Macht bezeichnet werden. Als<br />

soziale Fähigkeit sorgt Macht für das „sensegiving“ im Prozess<br />

der organisationalen Wirklichkeitskonstruktion (vgl.<br />

Gioia/Chittipeddi 1991).<br />

• Politik<br />

<strong>Die</strong> voranstehend beschriebene ontologische Macht existiert<br />

jedoch nicht einfach, sondern sie verwirklicht sich nur in sozialen<br />

Beziehungen. Macht muss <strong>als</strong>o, um erfolgreich zu sein, Diskurse<br />

und Praktiken erzeugen, die in eine jeweilige bestimmte<br />

Wirklichkeitsdefinition einladen (vgl. Gergen 2002, S. 257ff).<br />

Politik ist die Fähigkeit, im Rahmen dieser Diskurse und<br />

Praktiken unterschiedlichste Vorstellungen der sozialen Wirklichkeit<br />

miteinander abzustimmen, zu koordinieren und zu<br />

integrieren. Weick (1995, S. 16) sagt dazu: „Mitglieder <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong>en verbringen beträchtlich viel Zeit damit,<br />

untereinander eine annehmbare Darstellung dessen, was vor<br />

sich geht, auszuhandeln.“ In politischen Prozessen vergewissern<br />

sich <strong>als</strong>o die Mitglieder <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en laufend der aktuellen<br />

Gültigkeit der kontingenten organisationalen Wirklichkeit - und<br />

(re-)produzieren sie gerade dadurch immer wieder neu.<br />

Wenn Macht eine Definitionsleistung ist, dann ist Politik eine<br />

Verhandlungsleistung. Der Zweck dieser Verhandlungen<br />

„besteht in der Herstellung oder Veränderung verbindlicher<br />

Situationsdefinitionen“ (Sandner 1990, S. 143). Politik sorgt für<br />

das „sensemaking“ im Prozess der organisationalen<br />

Wirklichkeitskonstruktion (vgl. Gioia/Chittipeddi 1991).<br />

Verhandlungen dienen somit dem kontinuierlichen kollektiven<br />

80


KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Bemühen, organisationale Ordnungsmuster festzulegen, zu<br />

bestätigen oder zu ändern. 85 In Verhandlungen wird die<br />

Mehrdeutigkeit und Kontingenz der sozialen Realität verarbeitet<br />

und die Bedingungen des Seins der organisationalen Wirklichkeit<br />

ausgehandelt. Verhandlungen bzw. ihre Ergebnisse entfalten<br />

dadurch eine ontologische Wirkung.<br />

Selbstverständlich sind Macht und Politik nicht unabhängig <strong>von</strong>einander.<br />

Macht <strong>als</strong> Definitionsakt beeinflusst Politik <strong>als</strong> Verhandlungsleistung und<br />

umgekehrt. Macht ist erfolgreiches politisches Handeln und politisches<br />

Handeln ist der Einsatz <strong>von</strong> Macht. Damit dürfte klar sein, dass Politik und<br />

Macht sich rekursiv konstituieren (vgl. Abbildung 14).<br />

politisches Handeln<br />

Macht<br />

Herrschaft<br />

81<br />

+/-<br />

+/- +/-<br />

Abbildung 14: Zusammenhang <strong>von</strong> Politik, Macht und Herrschaft<br />

In politischem Handeln verwirklicht sich Macht (↓), Macht ist aber auch eine<br />

Voraussetzung für erfolgreiches politisches Handeln (↑). Macht ist somit<br />

Ergebnis und Mittel politischen Handelns zugleich. Macht ermöglicht aber<br />

politisches Handeln nicht nur (+), sondern schränkt es auch ein (-).<br />

Und um das Bild abzurunden, kann es noch mit dem Begriff der Herrschaft<br />

ergänzt werden. Herrschaft ist Sediment der Macht bzw. das geronnene<br />

Produkt erfolgreicher politischer Handlungen (↓). Herrschaft ermöglicht ihrer-<br />

85 Der hier verwendete Verhandlungsbegriff grenzt sich somit vom deutlich <strong>von</strong> den klassischen<br />

Verhandlungstheorien ab, die Verhandlung primär <strong>als</strong> Verteilungsproblem (Kampf um<br />

Ressourcen) betrachten (vgl. Sandner 1990, S. 136ff).


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

seits jedoch wiederum aktuelle und zukünftige Macht(ausübung) und<br />

politisches Handeln (↑). Herrschaft ist somit Ergebnis und Mittel <strong>von</strong> Macht<br />

zugleich. Insofern wirkt Herrschaft stabilisierend und entlastet <strong>von</strong> dauernden<br />

(Macht)Verhandlungen. Herrschaft ermöglicht aber Macht(ausübung) nicht nur<br />

(+), sondern schränkt sie auch ein (-).<br />

Mit anderen Worten: <strong>Die</strong> ontologische Bestimmung der organisationalen<br />

Wirklichkeit mag ihren Ursprung vielleicht in der definitorischen Macht<br />

einzelner Individuen haben, zur sozial gültigen Wirklichkeitsordnung wird sie<br />

jedoch nur im Rahmen <strong>von</strong> laufenden kollektiven Verhandlungen und<br />

Auseinandersetzungen mit diesem ontologischen Bestimmungsakt. Was <strong>als</strong><br />

Ergebnis aus diesen kollektiven Verhandlungsprozessen herauskommt, lässt<br />

sich dann nicht mehr einer individuellen Definitionsleistung zuordnen, sondern<br />

ist eine kollektive Errungenschaft. Gegenwärtige und zukünftige ontologische<br />

Definitionsleistungen stützen sich auf und hängen wiederum ab <strong>von</strong> diesen<br />

kollektiven Ergebnissen früherer Verhandlungsleistungen. <strong>Die</strong> organisationale<br />

Wirklichkeit ist demnach das Ergebnis eines kontinuierlichen politischen<br />

Verhandlungsprozesses, in dem soziale Wirklichkeit nicht nur kollektiv<br />

verfertigt, sondern allmählich auch verfestigt wird.<br />

Wenn Politik und Macht <strong>als</strong> soziale Fähigkeiten begriffen werden, die<br />

konstitutiv und konstituierend zugleich sind für die Entstehung <strong>von</strong> Ordnung,<br />

dann erlaubt das auch, den Politikbegriff (und in der Folge ebenfalls den<br />

Handlungsbegriff) ziemlich umstandslos vom lästigen (weil entitativ belasteten)<br />

Begriff der Intentionalität zu befreien. Politisches Handeln braucht nicht mehr<br />

in einer Intention verankert zu werden, weil politisches Handeln keine<br />

spezielle, intentionale Rechtfertigung mehr braucht. Denn aus relationalkonstruktivistischer<br />

Sicht ist jedes Handeln politisches Handeln, und Handeln<br />

ist für soziale Akteure eine existenzielle Notwendigkeit - im wahrsten Sinn des<br />

Wortes: Soziale Akteure geben in ihrem (politischen) Handeln sich selbst, den<br />

anderen und der Welt überhaupt erst Existenz. Nur durch die Beziehung<br />

zueinander verschaffen sich soziale Akteure die notwendige ontologische<br />

Sicherheit zu sich selbst, zu den anderen und zu der Welt und werden so<br />

überhaupt erst handlungsfähig. Somit ist Handeln eine konstitutive und<br />

konstituierende Bedingung des Sozialen und braucht daher nicht noch<br />

intentional begründet zu werden. Wenn überhaupt noch <strong>von</strong> der Intentionalität<br />

des Handelns gesprochen werden kann, dann höchstens noch in dem Sinn,<br />

dass die Intention das Bedürfnis nach ontologischer Sicherheit ist.<br />

82


KERNBEGRIFFE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Soweit zu der relational-konstruktivistischen Re-Definition <strong>von</strong> Politik und<br />

Macht. Was nun fehlt, ist ein theoretisches Gerüst, das das skizzierte<br />

postmoderne Verständnis <strong>von</strong> Strukturen, Prozessen, Politik und Macht zu<br />

einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> zusammenfügt.<br />

Zum Abschluss des Kapitels 4.1 werden daher die bisherigen Erkenntnisse<br />

aus der theoretischen Exploration der Kernbegriffe einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> zu einem vorläufigen Gesamtbild zusammengefügt (vgl.<br />

Abbildung 15). Im folgenden Kapitel 4.2 werden dann drei theoretische<br />

Bausteine vorgestellt, mit denen dieses vorläufige Gesamtbild theoretisch<br />

fundiert und schliesslich in Kapitel 5 zum Denkmodell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong><br />

<strong>Handlungssystem</strong> verdichtet wird.<br />

4.1.3 Zusammenfassung: Das Grundgerüst<br />

einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

Strukturen, Prozesse, Politik und Macht können <strong>als</strong> Grundbegriffe einer <strong>duale</strong>n<br />

Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> gelten. Sie sind jedoch nicht isoliert zu betrachten,<br />

sondern stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis (vgl.<br />

Abbildung 15).<br />

aktualisierte Ordnung<br />

(<strong>Organisation</strong>)<br />

Macht<br />

Strukturen<br />

Prozesse<br />

83<br />

Politik<br />

Abbildung 15: Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

potenzielle<br />

Ordnung<br />

Strukturen, Prozesse, Politik und Macht sind sich gegenseitig konstituierende<br />

Phänomene, die zwischen sich einen Raum aufspannen, der eine potenzielle


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Ordnung darstellt. In diesem Raum <strong>von</strong> potenzieller Ordnung etablieren sich<br />

im Laufe der Zeit durch bevorzugte, sich wiederholende Prozesse des<br />

Organisierens bestimmte Struktur-Prozess-Politik-Macht-Konstellationen, die<br />

<strong>als</strong> typische Ordnungsmuster - <strong>als</strong> aktualisierte Ordnung bzw. <strong>Organisation</strong> -<br />

erkannt werden können.<br />

Der Umstand, dass Prozesse und Strukturen gleichzeitig Elemente des<br />

Grundgerüsts sind, verhindert, dass zur <strong>Erklärung</strong> <strong>von</strong> organisationaler<br />

Ordnung vereinfachend auf einen verkürzten Handlungs- oder Strukturdeterminismus<br />

zurückgegriffen wird. <strong>Die</strong> Gleichzeitigkeit <strong>von</strong> Prozessen und<br />

Strukturen sorgt dafür, dass jeder <strong>Erklärung</strong>sansatz <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

zwingend ein Sowohl-<strong>als</strong>-auch beinhalten muss.<br />

Der Begriff der Strukturen umfasst mehr <strong>als</strong> nur die traditionellen bürokratischen<br />

Strukturen. Strukturen sind „materially heterogeneous“ und können<br />

unterschiedlichste Erscheinungsformen haben. Ausserdem dürfen Strukturen<br />

nicht isoliert betrachtet werden, denn sie sind immer das Ergebnis <strong>von</strong> ihnen<br />

vorangehenden Prozessen des Organisierens. „I believe we need to include all<br />

materi<strong>als</strong> in sociological analysis if we want to make sense of social ordering,<br />

but, symmetrically, I <strong>als</strong>o take it that materi<strong>als</strong> are better treated as products or<br />

effects rather than as having properties that are given in the order of things.”<br />

(Law 1994, S. 24)<br />

Der Begriff der Prozesse bringt zum Ausdruck, dass organisationale Ordnung<br />

nie das isolierte Ergebnis autarker Massnahmen einzelner Individuen ist,<br />

sondern sich stets aus einem kontinuierlichen Strom <strong>von</strong> vergangenen und<br />

zukünftigen Handlungen und Ereignissen entfaltet. 86 Wie sich dabei aus<br />

potenzieller Ordnung aktualisierte Ordnung materialisiert, ist offen. <strong>Die</strong><br />

Geschichte kann zwar erklären, was gegenwärtig möglich ist, aber daraus<br />

kann in keiner Weise darauf geschlossen werden, was in Zukunft möglich sein<br />

wird. „Man ist der Gefangene seiner vergangenen Entscheidungen, ohne<br />

daraus auch nur eine einzige künftige Entscheidung ableiten zu können.“<br />

(Baecker 1994, S. 14)<br />

86 Daher wird der Begriff der Prozesse dem sonst eher üblichen Begriff der Handlungen vorgezogen,<br />

weil damit besser zum Ausdruck zu bringen ist, dass nicht ein einzelner Akteur <strong>als</strong><br />

‚Urheber’ identifiziert werden kann, auch wenn aus dem Ereignisstrom Entitäten ausgeflaggt<br />

werden, die traditionellerweise <strong>als</strong> Handlungen eines Individuums bezeichnet werden.<br />

84


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Aktualisierte Ordnung ist <strong>als</strong>o stets ein kontingenter Zustand, aber es wäre<br />

f<strong>als</strong>ch, daraus zu schliessen, dass Ordnung deshalb zufällig ist. Denn hier<br />

kommen nämlich die zwei anderen Grundelemente ins Spiel: Politik und<br />

Macht. Politische Prozesse und Macht bestimmen, was sich aus dem weiten<br />

Feld potenzieller Ordnung <strong>als</strong> lokal gültige Ordnung aktualisiert. Politik und<br />

Macht ent-scheiden im wahrsten Sinn des Wortes, indem sie Aktualität <strong>von</strong><br />

Potenzialität scheiden. Politik und Macht sind damit - entgegen dem<br />

traditionellen Verständnis <strong>von</strong> Politik und Macht - im doppelten Sinn des<br />

Wortes konstruktiv.<br />

Politik und Macht werden im Rahmen einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

<strong>als</strong> eine realitätsschaffende und -erhaltende Kraft verstanden. Politik und<br />

Macht helfen dabei, das Grundproblem des Organisierens zu lösen, nämlich<br />

die zur Herstellung <strong>von</strong> Ordnung zwingend notwendige Bewältigung der<br />

Mehrdeutigkeit im Ereignisstrom <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en (vgl. Weick 1995). Politik<br />

und Macht tragen dazu bei, Wirklichkeit einzuklammern und<br />

Handlungsfähigkeit herzustellen.<br />

Wenn Politik und Macht die Fähigkeit ist, den Konstruktions- und<br />

Reifikationsprozess des Organisierens in Gang zu setzen und zu beeinflussen,<br />

dann wird auch unmittelbar klar, dass Politik und Macht keinen bestimmbaren<br />

Platz mehr haben. Politik und Macht residieren sowohl in Prozessen wie in<br />

Strukturen, denn beide haben realitätsschaffende und -erhaltende Qualitäten.<br />

Ferner können dem Politik- bzw. Machtbegriff auch keine Intentionen und<br />

keinen Nutzen mehr vorangestellt werden, denn dies sind Begriffe, die erst<br />

innerhalb einer fixierten Realität Sinn machen - aber hier wird vorgeschlagen,<br />

dass Politik und Macht an der (Entstehungs-)Grenze zur Realität operieren.<br />

Soweit das Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, das jedoch<br />

noch theoretisch fundiert und ausgearbeitet werden muss. <strong>Die</strong>s ist die<br />

Aufgabe des folgenden Kapitels 4.2.<br />

85


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

4.2 Bausteine einer <strong>duale</strong>n Theorie<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

Das Phänomen <strong>Organisation</strong> zu verstehen heisst erklären zu können, „wie es<br />

<strong>Organisation</strong>en gelingt, in der Haltlosigkeit Halt zu finden, mehr noch: in die<br />

nur <strong>als</strong> sinnlos zu denkende ‚letzte Realität’ eine Welt mit ‚heiligen Ordnungen’<br />

(Hierarchien) zu projizieren und sie so mit zwingenden Notwendigkeiten<br />

(Plänen, Programmen, Terminen, Zielen, Zielerreichungsstrategien und<br />

Erfolgsfeiern) auszustaffieren, dass man machen kann, was man macht und<br />

immer wieder weitermachen kann mit dem, was man macht, obwohl man<br />

wissen könnte, dass es im Grunde höchst unwahrscheinlich, fast ‚unmöglich’<br />

ist, was man da recht problemlos tagtäglich bewerkstelligt.“ (Bardmann 1994,<br />

S. 380)<br />

Ausgehend vom im Kapitel 4.1.3 beschriebenen Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n<br />

Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> werden in der Folge drei theoretische Bausteine<br />

vorgestellt, die ein theoretisches Licht darauf werfen, wieso die<br />

Unwahrscheinlichkeit des Gelingens des Phänomens <strong>Organisation</strong> eben doch<br />

nicht so unwahrscheinlich ist, wie das Bardmann im oben stehenden Zitat so<br />

pointiert formuliert hat.<br />

<strong>Die</strong> drei theoretischen Bausteine stammen nicht aus der <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

im engeren Sinn, sondern aus verwandten Wissenschaftsgebieten, nämlich<br />

der Soziologie (Theorie der Strukturierung), der Sozialpsychologie (Sozialpsychologie<br />

des Organisierens) und der <strong>Organisation</strong>ssoziologie (Zwänge des<br />

kollektiven Handelns).<br />

Wieso sind es gerade diese drei Theorien? <strong>Die</strong> Antwort ist einfach: Erstens<br />

sind alle drei Theorien anschlussfähig an das postmoderne <strong>Organisation</strong>sverständnis,<br />

wie es in Kapitel 3.2.2 skizziert worden ist - was natürlich eine<br />

zwingende Grundvoraussetzung ist. Zweitens leisten alle drei Theorien einen<br />

Beitrag zur Integration der in der <strong>Organisation</strong>stheorie bisher getrennt<br />

behandelten Begriffe Struktur und Prozesse (bzw. Handlung). Das ist<br />

entscheidend, denn die Integration bzw. Gleichzeitigkeit <strong>von</strong> Strukturen und<br />

Prozessen ist das zentrale Anliegen der hier gesuchten <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> (vgl. Kapitel 4.1.3). Und drittens sind Politik und Macht in allen<br />

drei Theorien integrale Bestandteile. Damit räumen sie diesen beiden<br />

Begriffen die gleiche zentrale Bedeutung ein, die sie auch im bisher hier<br />

86


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

beschriebenen Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> haben<br />

(vgl. Kapitel 4.1.3).<br />

<strong>Die</strong> drei Theorien haben sich <strong>als</strong>o dadurch empfohlen, dass sie einerseits<br />

passen 87 und andererseits das bisher aufbereitete Grundgerüst einer <strong>duale</strong>n<br />

Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> (vgl. Abbildung 15) theoretisch zu fundieren<br />

vermögen.<br />

4.2.1 <strong>Die</strong> Theorie der Strukturierung<br />

<strong>von</strong> Giddens<br />

Wenn organisationale Ordnung aus kollektiven Definitions- und Verhandlungsleistungen<br />

entspringt, dann bedeutet das, dass diese Leistungen eine gewisse<br />

Regelmässigkeit bzw. Struktur aufweisen müssen, um ein einigermassen<br />

konstantes Ergebnis im Sinne <strong>von</strong> Ordnung hervorbringen zu können. Es stellt<br />

sich dann die Frage, woher diese Regelmässigkeit stammt und wie sie zu<br />

erklären ist.<br />

Darauf gibt die Theorie der Strukturierung 88 <strong>von</strong> Giddens eine Antwort. Sie<br />

geht aus <strong>von</strong> der Fragestellung, wie soziale Praktiken über Zeit und Raum<br />

geregelt sind, und führt <strong>als</strong> <strong>Erklärung</strong> dafür das Konzept der Dualität <strong>von</strong><br />

Struktur ein. Das Konzept der Dualität versteht Giddens <strong>als</strong> Antwort auf die<br />

einseitig entweder strukturfunktionalistische oder handlungsvoluntaristische<br />

Orientierung der Sozialwissenschaften. Giddens verwirft beide traditionellen<br />

Positionen und schlägt eine neue, integrative - eben <strong>duale</strong> - Sichtweise vor:<br />

„<strong>Erklärung</strong>en setzen unbedingt einen zumindest impliziten Bezug auf das<br />

zweckgerichtete, vernünftige Verhalten <strong>von</strong> Akteuren sowie auf dessen<br />

Verknüpfung mit den ermöglichenden und einschränkenden Aspekten der<br />

sozialen und materiellen Kontexte, in denen dieses Verhalten stattfindet,<br />

voraus.“ (Giddens 1997, S. 232f)<br />

Handlung und Struktur sind in der Theorie der Strukturierung somit nicht mehr<br />

Gegenbegriffe, sondern zwei Dimensionen ein und derselben sozialen<br />

Wirklichkeit, die nur analytisch zu trennen sind. Schirmer bezeichnet die<br />

87 Damit erfüllen sie ein wichtiges wissenschaftstheoretisches Kriterium (vgl. Kapitel 1.3).<br />

88 Anstatt des Begriffs Theorie der Strukturierung wird häufig auch die Bezeichnung Strukturationstheorie<br />

verwendet. Hier wird dem Begriff der Strukturierung den Vorzug gegeben, weil dadurch<br />

der prozesshafte Charakter des Giddensschen Strukturbegriffs besser zum Ausdruck kommt.<br />

87


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Theorie der Strukturierung daher auch <strong>als</strong> „Brückentheorie“ (Schirmer 2000, S.<br />

187).<br />

Giddens hat seine Theorie der Strukturierung in verschiedenen Publikationen<br />

entwickelt, wo<strong>von</strong> die beiden wichtigsten Werke „Central Problems in Social<br />

Theory. Action, structure and contradiction in social analysis.“ (1979) und „The<br />

Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration.“ (1984a,<br />

deutsch 1997) sind. <strong>Die</strong> Arbeit <strong>von</strong> Giddens ist aber auch <strong>von</strong> vielen anderen<br />

Autoren aufgenommen und diskutiert worden, 89 so dass zur Theorie der<br />

Strukturierung eine umfangreiche Sekundärliteratur existiert, die den Zugang<br />

zu den Gedanken Giddens erheblich vereinfacht.<br />

In die <strong>Organisation</strong>stheorie ist Giddens eingeführt worden durch den Artikel<br />

<strong>von</strong> Ranson et al. (1980) und die Replik <strong>von</strong> Willmott (1981). Seither ist<br />

strukturationstheoretisches Gedankengut <strong>von</strong> vielen anderen Autoren<br />

aufgenommen und verarbeitet worden, und es existiert mittlerweile eine<br />

ziemlich repräsentative Auswahl an organisationstheoretischen Veröffentlichungen.<br />

90<br />

Im Folgenden wird die Theorie der Strukturierung anhand der drei Kernkonzepte<br />

Dualität und Virtualität <strong>von</strong> Struktur, Dimensionen und Modalitäten<br />

<strong>von</strong> Struktur sowie soziale Praktiken erläutert (vgl. Kapitel 4.2.1.1) und<br />

anschliessend im Hinblick auf ihren Beitrag zu einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> zusammenfassend gewürdigt (vgl. Kapitel 4.2.1.2).<br />

4.2.1.1 Kernaussagen der Theorie der Strukturierung<br />

a) Dualität und Virtualität <strong>von</strong> Struktur<br />

<strong>Die</strong> Regelmässigkeit der sozialen Praktiken ergibt sich für Giddens aus der<br />

Dualität der Struktur, die dem Handeln zugrunde liegt und auf die sich das<br />

Handeln bezieht. Dualität heisst, dass zwischen Struktur und Handlung eine<br />

wechselseitige Konstitutionsbeziehung besteht. Sie gehen auseinander hervor<br />

und (re-)produzieren sich gegenseitig (vgl. Abbildung 16). <strong>Die</strong>ser rekursive<br />

89<br />

Vgl. z.B. Empter 1988; Ortmann 1995a; Neuberger 1995; Becker 1996; Ortmann/Sydow/et al.<br />

1997; Reckwitz 1997; Walgenbach 1999; Rüegg-Stürm 2001. Daneben gibt es die nicht<br />

unbedeutende englische Sekundärliteratur zu Giddens, die hier jedoch nicht berücksichtigt<br />

worden ist.<br />

90<br />

Für eine Übersicht der strukturationstheoretischen Publikationen in der <strong>Organisation</strong>sliteratur vgl.<br />

die Zusammenstellung in Ortmann/Sydow/et al. 1997, S. 341ff.<br />

88


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Zusammenhang erklärt „Zustandekommen und Wirkung ‚objektiver’ Strukturen<br />

..., die zwar durch menschliches Handeln erzeugt sind, den Subjekten aber <strong>als</strong><br />

fremder Zwang gegenübertreten und ihr Handeln bestimmen“ (Neuberger<br />

1995, S. 286) - und so für Kontinuität des Handelns sorgen.<br />

Handeln<br />

Struktur<br />

89<br />

+/-<br />

Ergebnis Mittel<br />

Abbildung 16: Dualität <strong>von</strong> Struktur<br />

<strong>Eine</strong>rseits wird Struktur durch Handeln geschaffen (↓), andererseits ist<br />

Struktur aber auch die Grundlage für Handeln (↑). Und <strong>als</strong> Grundlage für das<br />

Handeln haben Strukturen eine zweifache Wirkung: „So gut wie sie bestimmte<br />

Handlungsmöglichkeiten einschränken oder negieren [(-)], dienen sie dazu,<br />

andere zu eröffnen [(+)].“ (Giddens 1997, S 227) <strong>Die</strong>sen doppelten Charakter<br />

der Konstitutionsbeziehung <strong>von</strong> Struktur und Handlung meint Giddens, wenn<br />

er <strong>von</strong> der Dualität <strong>von</strong> Struktur spricht. Struktur ist zugleich Ergebnis und<br />

Mittel sowie Restriktion und Ermöglichung <strong>von</strong> Handeln.<br />

Dadurch, dass Struktur und Handlung ein rekursiver Konstitutionszusammenhang<br />

unterstellt wird, rückt der Entstehungsprozess <strong>von</strong> Struktur,<br />

die Strukturbildung, ins Zentrum des Interesses. Somit stellt sich die Frage<br />

nach den „Bedingungen, die die Kontinuität oder Veränderung <strong>von</strong> Strukturen<br />

... bestimmen.“ (Giddens 1997, S. 77) Aus dem Grundsatz der Dualität <strong>von</strong><br />

Struktur lassen sich zwei entscheidende Rückschlüsse darauf ziehen, wie der<br />

Strukturbegriff zu verstehen ist: 91<br />

91 An dieser Stelle muss der Hinweis erfolgen, dass Giddens zwischen Struktur und Strukturen<br />

unterscheidet. Unter Strukturen versteht Giddens ein Strukturgefüge, das heisst ein ganz<br />

bestimmtes Set an Regeln und Ressourcen, die eine bestimmte, aktuell gültige lokale Ordnung<br />

bilden. Unter Struktur versteht Giddens die Struktur der Strukturen, oder mit anderen Worten die<br />

Strukturiertheit dieser lokalen Ordnung. Es ist nicht immer einfach, diese Trennung aufrecht zu<br />

[Forts.]


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

• Wenn Struktur und Handlung sich rekursiv konstituieren, dann<br />

heisst das erstens, dass Struktur dem Handeln nicht äusserlich<br />

ist, sondern eine Ausdrucksform <strong>von</strong> Handeln ist.<br />

• Daraus muss zweitens gefolgert werden, dass Struktur keine<br />

objektive, vom Handeln unabhängige Existenz zukommt,<br />

sondern dass sie sich erst im Handeln verwirklicht bzw.<br />

materialisiert.<br />

Struktur entsteht und vergeht im Handeln und überdauert nur <strong>als</strong><br />

„Erinnerungsspuren, die das Verhalten bewusst handelnder Subjekte<br />

orientieren.“ (Giddens 1997, S. 69) Daher hat Struktur für Giddens nur eine<br />

virtuelle Qualität. Um die Virtualität <strong>von</strong> Strukturen zu betonen, führt Giddens<br />

den Begriff der Strukturmomente ein: „Wenn da<strong>von</strong> die Rede ist, dass Struktur<br />

eine ‚virtuelle Ordnung’ ... darstellt, dann heisst das, dass soziale Systeme ...<br />

weniger ‚Strukturen’ haben, <strong>als</strong> dass sie vielmehr ‚Strukturmomente’<br />

aufweisen“. (Giddens 1997, S. 69)<br />

Der Begriff der Strukturmomente weist darauf hin, dass Struktur nur in<br />

Momenten der Einklammerung <strong>von</strong> Zeit <strong>als</strong> objektive Strukturen erkennbar<br />

werden. In allen anderen Fällen ist Struktur nicht fixiert sondern wird<br />

kontinuierlich (re-)produziert und muss deshalb „<strong>als</strong> Prozess“ (Neuberger<br />

1995, S. 306) verstanden werden.<br />

In Anbetracht dessen, wie radikal Giddens den Strukturbegriff verflüssigt bzw.<br />

temporalisiert, erstaunt es nicht, dass Giddens unter Strukturen etwas anderes<br />

und weit mehr versteht, <strong>als</strong> in der traditionellen <strong>Organisation</strong>sliteratur<br />

gemeinhin unter dem Begriff der (formalen) Strukturen subsumiert wird.<br />

erhalten, weil wichtige Begriffe der Theorie der Strukturierung, wie z.B. die Dualität und Virtualität<br />

<strong>von</strong> Struktur und die Dimensionen <strong>von</strong> Struktur auf beide Strukturbegriffe gleichermassen<br />

zutreffen. <strong>Die</strong> beiden Begriffe laufen auch bei Giddens häufig ineinander und es ist da<strong>von</strong><br />

auszugehen, dass die Dualität <strong>von</strong> Struktur sich genau genommen nicht nur über zwei<br />

(Struktur/Handlung), sondern über drei Ebenen erstreckt, nämlich <strong>von</strong> Struktur über Strukturen zu<br />

Handlung und wieder zurück. In der nachfolgenden Darstellung der Theorie der Strukturierung<br />

wird der Unterscheidung zwischen Struktur und Strukturen weiter keine Beachtung geschenkt -<br />

wie das übrigens auch in der Mehrzahl der (deutschen) Sekundärliteratur der Fall ist (eine<br />

Ausnahme bildet Rüegg-Stürm 2001).<br />

90


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

b) Dimensionen und Modalitäten <strong>von</strong> Struktur<br />

Struktur ist für Giddens das, was verantwortlich ist dafür, dass es so abläuft,<br />

wie es abläuft. Um das soziale Geschehen erklären zu können, unterscheidet<br />

er daher drei Dimensionen <strong>von</strong> Struktur, die alle drei über die Dualität der<br />

Struktur mit Handlung rekursiv verknüpft sind (vgl. Abbildung 17). Wirksam<br />

werden diese drei Dimensionen über den komplexen Zusammenhang <strong>von</strong> je<br />

Strukturdimension typischen Regeln oder Ressourcen.<br />

Struktur<br />

Modalität<br />

Handlung<br />

Signifikation Herrschaft Legitimation<br />

interpretative<br />

Schemata<br />

Kommunikation<br />

• Signifikation<br />

91<br />

Machtmittel Normen<br />

Macht<br />

Abbildung 17: Dimensionen <strong>von</strong> Struktur 92<br />

Sanktion<br />

<strong>Die</strong> Dimension Signifikation bzw. die ihr zugehörenden Regeln 93<br />

der Sinnkonstitution steuern 94 die Erinnerungsspuren, die mit der<br />

(Be-)Deutung der sozialen Welt <strong>als</strong> Grundlage des Handelns<br />

zusammenhängen. Sie stellt <strong>als</strong>o die kognitive Ordnung des<br />

92 Abbildung leicht modifiziert übernommen aus Giddens (1997, S. 81).<br />

93 Wie schon beim Strukturbegriff verwendet Giddens auch einen ganz eigenen Regelbegriff. Das,<br />

was traditionellerweise unter dem Begriff Regeln (<strong>als</strong> schriftlich festgehaltene Anweisungen) verstanden<br />

wird, sind für Giddens lediglich „kodifizierte Interpretationen <strong>von</strong> Regeln“. Mit seinem<br />

Regelbegriff meint Giddens jedoch „Verfahrensweisen des Handelns“, das heisst „verallgemeinerbare<br />

Verfahren, die in der Reproduktion sozialer Praktiken angewendet werden.“ (Giddens<br />

1997, S. 73) Regeln im Giddensschen Sinn sind <strong>als</strong>o eher <strong>als</strong> Regelmässigkeiten des Handelns<br />

zu interpretieren.<br />

94 Mit „steuern“ ist nicht ein aktiver Prozess gemeint, sondern das Ergebnis des praktischen<br />

Bewusstseins der Handelnden (vgl. dazu Punkt c).


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

sozialen Handelns bereit. „Wie die Welt zu sehen ist, ist nicht ins<br />

Belieben der einzelnen Subjekte gestellt oder deren individuelle<br />

Leistung; sie sind vielmehr in ihren jeweiligen kulturellen und<br />

sozialen Kontexten und ganz bestimmten Welt-Anschauungen,<br />

kognitiven Ordnungen oder Deutungsschemata aufgewachsen,<br />

die ihnen zur sprichwörtlichen ‚zweiten Wirklichkeit’ geworden<br />

sind und damit zu einer normalerweise nicht hinterfragten<br />

Selbstverständlichkeit.“ (Neuberger 1995, S. 307f)<br />

• Herrschaft<br />

<strong>Die</strong> Dimension Herrschaft bzw. die ihr zugehörenden allokativen<br />

und autoritativen Ressourcen 95 stellen die faktische 96 Ordnung<br />

des Handelns bereit. Damit kommt die Struktur-Dimension<br />

Herrschaft dem traditionellen Strukturbegriff am nächsten. Für<br />

Giddens geht es bei dieser Struktur-Dimension um das<br />

Vermögen bzw. die Fähigkeit der Handelnden, in die soziale<br />

Welt verändernd eingreifen zu können.<br />

• Legitimation<br />

In der Dimension Legitimation bzw. den ihr zugehörenden<br />

Regeln der Sanktionierung <strong>von</strong> Handeln fussen die Erinnerungsspuren,<br />

die mit der Begründung und Rechtfertigung des<br />

Handelns zusammenhängen. Sie stellt <strong>als</strong>o die normative<br />

Ordnung des sozialen Handelns bereit, „in der die Prinzipien<br />

oder Geltungsansprüche enthalten sind, denen soziale<br />

Handlungen und Verhältnisse zu genügen haben. Wer diesen<br />

vorgegebenen Prinzipien folgt, entlastet sich <strong>von</strong> allfälliger<br />

Begründungsarbeit.“ (Neuberger 1995, S. 308)<br />

Es ist offensichtlich, dass die drei Strukturdimensionen nicht unabhängig<br />

<strong>von</strong>einander sind. Beispielsweise müssen sich Legitimation und Signifikation<br />

95<br />

Unter allokativen Ressourcen ist die Kontrolle materieller Aspekte der sozialen Welt zu verstehen,<br />

wie z.B. Rohstoffe, Technik oder Geld. Mit autoritativen Ressourcen ist die Kontrolle über<br />

und Koordination <strong>von</strong> Menschen und Ereignissen gemeint, wie z.B. Arbeitsorganisation oder<br />

Planungsinstrumente.<br />

96<br />

Der Begriff faktisch ist hier nicht in Zusammenhang mit dem Wort Fakt (<strong>als</strong>o: objektive Tatsache,<br />

Wahrheit) zu sehen, sondern soll auf die Artefakte der faktischen Ordnung verweisen (vgl.<br />

Fussnote 100).<br />

92


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

auf Herrschaft stützen können, um Erfolg zu haben. Umgekehrt ist Herrschaft<br />

aber ebenso auf Legitimation und Signifikation angewiesen, um Bestand zu<br />

haben. Giddens weist darum verschiedentlich darauf hin, dass diese drei<br />

Strukturdimensionen nur analytisch trennbar sind.<br />

<strong>Die</strong> drei Dimensionen <strong>von</strong> Struktur sind wie bereits erwähnt über die Dualität<br />

der Struktur rekursiv verknüpft mit Handlung, das heisst, jede Strukturdimension<br />

findet auf der Ebene der Handlung ihre Entsprechung im Handeln<br />

sozialer Akteure. Signifikation erhält ihren Ausdruck in kommunikativem<br />

Handeln, Herrschaft zeigt sich im machtvollen Eingreifen in den fortlaufenden<br />

Gang der Ereignisse und Legitimation verwirklicht sich in sanktionierenden<br />

Massnahmen.<br />

Zur Verdeutlichung dieser wechselseitigen Beziehung führt Giddens den<br />

Begriff der Modalitäten ein. „Es geht darum, die Bewusstheit der Akteure mit<br />

den strukturellen Momenten sozialer Systeme zu vermitteln. Akteure beziehen<br />

sich auf diese Modalitäten in der Reproduktion der Interaktionssysteme, und<br />

im selben Zug rekonstruieren sie deren Strukturmomente.“ (Giddens 1997,<br />

S. 81) Modalitäten nehmen <strong>als</strong>o eine Vermittlungsfunktion zwischen Struktur<br />

und Handlung ein. Beispiele solcher Modalitäten sind verwendete Interpretationsschemata<br />

(Wahrnehmungsmuster, Sprachmuster), eingesetzte<br />

Machtmittel (<strong>Organisation</strong>sinstrumente, Infrastruktur, Rohstoffe, Geld) und<br />

gelebte Normen (organisatorische Regeln, juristische Festlegungen).<br />

<strong>Die</strong> Modalitäten selbst sind wiederum rekursiv mit dem Handeln verknüpft. Sie<br />

werden nicht nur durch Handeln hervorgebracht, sondern sie sind auch das<br />

Vehikel, mit denen sich die Handelnden ausdrücken. In und durch ihre<br />

Handlungen reproduzieren die Handelnden demnach die Bedingungen, die ihr<br />

Handeln ermöglichen. <strong>Die</strong>ser selbstreferenzielle Bezug ist die Quelle der<br />

Stabilität und Kontinuität des Handelns und die Voraussetzung dafür, dass<br />

sich aus dem Handeln sich wiederholende soziale Praktiken herausbilden<br />

können, wodurch die soziale Welt Ordnung annimmt.<br />

Damit ist nochm<strong>als</strong> der virtuelle Charakter <strong>von</strong> Struktur betont, dass heisst die<br />

Unmöglichkeit allein durch (Erinnerungsspuren <strong>von</strong>) Strukturen Ordnung in<br />

einem sozialen System zu schaffen und zu erhalten. Vielmehr braucht es dazu<br />

das Zusammenspiel dreier Elemente: „(a) knowledge - as memory traces - of<br />

‚how things are to be done’ (said, written), on the part of social actors; (b)<br />

social practices organised through the recursive mobilisation of that<br />

93


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

knowledge; (c) capabilities that the production of those practices<br />

presupposes.“ (Giddens 1979, S. 64)<br />

Der Begriff der Struktur verweist <strong>als</strong>o - wegen der Dualität <strong>von</strong> Struktur -<br />

geradewegs auf den Begriff der Handlung bzw. im weiteren Sinn auf den<br />

Begriff <strong>von</strong> sozialen Praktiken.<br />

c) soziale Praktiken <strong>als</strong> Verwirklichung <strong>von</strong> Struktur<br />

Soziale Praktiken sind routinisierte Handlungen (vgl. Giddens 1979, S. 56).<br />

Nach Giddens liegen sie der Konstitution <strong>von</strong> Subjekt und sozialem Objekt<br />

zugrunde (vgl. Giddens 1997, S. 35) - das heisst in sozialen Praktiken<br />

schaffen wir uns, die anderen und die Welt. „Ohne menschliches Handeln<br />

gäbe es ... soziale Systeme überhaupt nicht. Das heisst aber nicht, dass<br />

Handelnde soziale Systeme erschaffen: Sie reproduzieren und verändern sie,<br />

indem sie immer wieder neu schaffen, was in der Kontinuität <strong>von</strong> Praxis<br />

bereits existiert.“ (Giddens 1997, S. 224)<br />

Soziale Praktiken muss man sich demnach nicht <strong>als</strong> einzelne, isolierbare<br />

Handlungen vorstellen, sondern eher <strong>als</strong> ein „continuous flow of conduct“<br />

(Giddens 1979, S. 55) Sie sind direkt eingebettet in den Ereignisstrom des<br />

täglichen Lebens und <strong>von</strong> ihm nicht unabhängig.<br />

Drei Merkmale zeichnen den Handlungsbegriff <strong>von</strong> Giddens speziell aus:<br />

Handeln beruht auf „knowledgeabilty“, auf „accountability“ und auf<br />

„capability“. 97<br />

Erstens räumt Giddens jedem Handelnden eine Handlungsautonomie ein in<br />

dem Sinn, dass der Handelnde „in jeder Phase einer gegebenen<br />

Verhaltenssequenz anders hätte handeln können.“ (Giddens 1997, S. 60) Das<br />

setzt voraus, dass die Handelnden über einen gewissen handlungsrelevanten<br />

Wissensbestand verfügen (knowledgeability). Der grösste Teil dieses<br />

Wissensbestands ist jedoch nicht in einem diskursiven Bewusstsein verfügbar,<br />

97 Es gibt in der Theorie der Strukturierung noch zwei weitere Elemente, die für den Handlungsbegriff<br />

wichtig sind, auf die aber hier nicht eingegangen wird: <strong>Die</strong> unerkannten Handlungsbedingungen<br />

und die unbeabsichtigten Handlungsfolgen. Mit diesen beiden Begriffen erklärt<br />

Giddens den Umstand, dass Handeln nicht immer rational ist bzw. erscheint. <strong>Die</strong>se beiden<br />

Begriffe stehen meines Erachtens in einem seltsamen Verhältnis zur restlichen Handlungstheorie<br />

<strong>von</strong> Giddens, wenn man berücksichtigt, dass Giddens seinen Handlungsbegriff <strong>von</strong> demjenigen<br />

der Intentionalität trennt und fest im praktischen Bewusstsein verankert. Dort muten diskursive<br />

Begriffe wie Handlungsbedingungen und Handlungsfolgen (tendenziell) fremd an.<br />

94


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

sondern liegt im praktischem Bewusstsein der Handelnden. Das heisst, sie<br />

greifen nicht bewusst, sondern routinisiert auf diesen Wissensbestand zu. Das<br />

praktische Bewusstsein „umfasst all das, was Handelnde stillschweigend<br />

darüber wissen, wie in den Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu<br />

verfahren ist, ohne dass sie in der Lage sein müssten, all dem einen direkten<br />

diskursiven Ausdruck zu verleihen.“ (Giddens 1997, S. 36)<br />

Zweitens handeln Akteure - obwohl das meiste Handeln dem praktischen<br />

Bewusstsein entspringt - nicht marionettenhaft sondern sind strategiefähig,<br />

das heisst sind in der Lage dazu, vergangene Erfahrungen und zukünftige<br />

Erwartungen in ihr Handeln miteinzubeziehen. Giddens nennt das die reflexive<br />

Handlungssteuerung. <strong>Die</strong>se reflexive Handlungssteuerung befähigt die<br />

Akteure dazu, „zu verstehen, was sie tun, während sie es tun.“ (Giddens 1997,<br />

S. 36) Handelnde unterziehen ihr Handeln und das anderer <strong>als</strong>o einer<br />

kontinuierlichen Beobachtung und sind deshalb dazu in der Lage, ihr eigenes<br />

Handeln korrekt an dasjenige anderer Akteure anzuschliessen und bei Bedarf<br />

eine kohärente Darstellung ihrer Handlungen und ihrer Beweggründe zu<br />

geben (accountability).<br />

Drittens ruht für Giddens Handeln nicht in den „Intentionen, die Menschen<br />

beim Tun <strong>von</strong> Dingen haben, sondern auf ihr Vermögen, solche Dinge<br />

überhaupt zu tun“ (capability). (Giddens 1997, S. 60) Damit ist der<br />

Giddenssche Handlungsbegriff untrennbar verknüpft mit Macht, denn Macht<br />

bedeutet für Giddens „das Mittel der Ausführung <strong>von</strong> Dingen und kommt <strong>als</strong><br />

solches unmittelbar in menschlichem Handeln zur Geltung“. (Giddens 1997,<br />

S. 337) Macht ist somit ein konstitutiver Bestandteil <strong>von</strong> Handeln und damit<br />

niem<strong>als</strong> nur Zwang, sondern immer auch Ermöglichung, weil in Macht das<br />

Vermögen der Akteure gründet, beabsichtigte Handlungsergebnisse<br />

hervorzubringen. Macht geht demnach dem Handeln voraus und ist nicht - wie<br />

im traditionellen Verständnis - eine Wirkung <strong>von</strong> Handeln.<br />

So eng Giddens seinen Handlungsbegriff mit demjenigen der Macht verknüpft,<br />

so deutlich trennt er ihn vom Begriff der Intentionalität. <strong>Eine</strong> intentionale<br />

Ausrichtung erhält Handeln sozusagen erst ex-post, wenn es diskursiv<br />

begründet werden muss. Vorher wird es nicht durch Intentionen, sondern<br />

durch die reflexive Handlungssteuerung geleitet (vgl. Giddens 1997, S. 13).<br />

Das heisst, dass Handlungen typischerweise nicht intentional, sondern<br />

routinisiert sind.<br />

95


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

<strong>Die</strong>se gewohnheitsmässigen, Tag für Tag in gleicher Weise vollzogenen<br />

Handlungen - sprich sozialen Praktiken - sind jedoch keine Selbstverständlichkeit.<br />

Giddens weist darauf hin, dass „der Routinecharakter der meisten<br />

sozialen Aktivitäten etwas ist, ‚woran’ diejenigen, die diese Aktivitäten in ihrem<br />

Alltagsverhalten immer wieder produzieren, andauernd ‚arbeiten’ müssen.“<br />

(Giddens 1997, S. 140) Handelnde müssen sich <strong>als</strong>o der Gültigkeit ihres<br />

routinisierten Handelns immer wieder vergewissern, damit sie ihre<br />

Handlungsfähigkeit aufrecht erhalten können (vgl. Giddens 1997, S. 36f).<br />

<strong>Die</strong>se Vergewisserung ist stets auch eine Überprüfung der Struktur, die den<br />

sozialen Praktiken - aufgrund der Dualität <strong>von</strong> Struktur - zugrunde liegt. Damit<br />

verwirklichen und bekräftigen soziale Praktiken fortlaufend die Struktur,<br />

aufgrund der sie überhaupt erst möglich geworden sind. Für Giddens sind<br />

deshalb soziale Praktiken der wichtigste Ausdruck der Struktur, die für die<br />

Kontinuität bzw. die Ordnung sozialer Systeme sorgt (vgl. Giddens 1997,<br />

S. 336).<br />

4.2.1.2 Relational-konstruktivistische Würdigung der<br />

Theorie der Strukturierung<br />

<strong>Die</strong> Strukturationstheorie sensibilisiert „für die strukturell verankerte<br />

Dauerhaftigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en, ohne dabei den Handlungsaspekt aus<br />

den Augen zu verlieren.“ (Schirmer 2000, S. 186f) Sie erreicht das durch eine<br />

komplexe Argumentationskette, die wie folgt zusammengefasst werden<br />

könnte:<br />

Ordnung entsteht aus der Kontinuität sozialer Praktiken. <strong>Die</strong> Kontinuität<br />

sozialer Praktiken entspringt der Struktur, die den sozialen Praktiken zugrunde<br />

liegt und auf die sich die sozialen Praktiken beziehen, wobei die Struktur nur in<br />

ihrer Verwirklichung in den sozialen Praktiken auch tatsächlich eine ordnende<br />

Wirkung entfalten kann. <strong>Die</strong> ordnende Wirkung <strong>von</strong> Struktur verwirklicht sich<br />

über Modalitäten, die in den sozialen Praktiken zur Anwendung gelangen, das<br />

heisst in den Regeln und Ressourcen des Handelns, die jedoch ihrerseits<br />

wiederum rekursiv eingebettet sind in das Handeln.<br />

Giddens leistet damit eine ziemlich radikale Redefinition des Strukturbegriffs.<br />

Sie hilft, den Eckpunkt Strukturen des bisherigen theoretischen Grundgerüsts<br />

(vgl. Abbildung 15) besser zu verstehen. <strong>Die</strong> drei Strukturdimensionen<br />

betonen den sozialen Charakter <strong>von</strong> Struktur und machen begreiflich, was<br />

darunter zu verstehen ist, wenn gesagt wird, dass Strukturen<br />

96


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Materialisierungen des Sozialen sind. <strong>Die</strong> Dualität und Virtualität <strong>von</strong> Struktur<br />

veranschaulichen die Wirkungsweise der Strukturen. Insgesamt stellt die<br />

Theorie der Strukturierung <strong>als</strong>o einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis<br />

der strukturellen Bedingungen, der Strukturiertheit <strong>von</strong> Ordnung bzw.<br />

<strong>Organisation</strong> dar.<br />

Dennoch gibt es auch Lücken in der Theorie der Strukturierung. Wenig zu<br />

sagen hat Giddens nämlich dazu, wie sich Strukturen materialisieren, das<br />

heisst wie aus der Fülle denkbarer Modalitäten jeweils ein ganz bestimmtes<br />

Set an Regeln und Ressourcen in sozialen Praktiken ausgewählt und<br />

routinisiert wird. Das ist darauf zurückzuführen, dass Giddens in seiner<br />

Theorie der Strukturierung zwar auf die beiden Begriffe Macht und Politik<br />

abstützt, sie aber nicht konsequent genug eingebunden hat.<br />

Sein Machtbegriff entspricht zwar dem modernen Machtbegriff <strong>von</strong> Macht-zu. 98<br />

Aber obwohl Giddens Macht in jegliches Handeln „logisch einschliesst“<br />

(Giddens 1997, S. 66), sagt er nichts Näheres dazu, wie sich diese Macht in<br />

den sozialen Praktiken politisch durchsetzt. Das ist unbefriedigend. Denn<br />

wenn Macht integraler Bestandteil des Handelns ist, heisst das, dass jeder<br />

Handelnde Macht hat, und dass es daher zwangsläufig zu Verhandlungssituationen<br />

kommen muss, wenn die Macht verschiedener Akteure aufeinander<br />

trifft.<br />

Das Thema Politik und Macht ist aus relational-konstruktivistischer Sicht <strong>als</strong>o<br />

die Schwachstelle in der Theorie der Strukturierung, und hier setzen denn<br />

auch die zwei relational-konstruktivistischen Hauptkritikpunkte an der Theorie<br />

der Strukturierung an. Sie betreffen erstens die Frage, wie Giddens Macht in<br />

sein Modell eingebettet hat, und zweitens wie sich diese Macht entfaltet.<br />

a) Einbettung <strong>von</strong> Macht<br />

Giddens verknüpft in seinem Modell Macht mit dem Einsatz <strong>von</strong> Machtmitteln<br />

und Herrschaft mit der Kontrolle über allokative und autoritative Ressourcen<br />

(vgl. Abbildung 17). Dagegen sind zwei Einwände zu erheben: 99 Erstens<br />

widerspricht Giddens mit dieser Anbindung <strong>von</strong> Macht an einen einzigen<br />

98<br />

Was nicht weiter erstaunlich ist, bezieht sich Giddens doch in seinen Ausführung ausdrücklich<br />

(wenn auch nicht ohne Vorbehalte) auf Foucault.<br />

99<br />

Zu dieser Kritik sind auch Ortmann et al. (1990) gelangt und haben eine ähnliche Änderung am<br />

Modell der Struktur-Dimensionen vorgenommen, wie hier vorgeschlagen.<br />

97


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Aspekt <strong>von</strong> Handlung im Grunde seiner eigenen Machtdefinition, die besagt,<br />

dass Macht die Grundlage und Voraussetzung jeglichen Handelns ist - <strong>als</strong>o<br />

auch des kommunikativen und sanktionierenden Handelns. Zweitens wird<br />

Herrschaft, wenn mit dem Einsatz <strong>von</strong> Ressourcen gleichgesetzt, zu eng an<br />

das Prinzip der faktischen Ordnung gebunden. Herrschaft zeigt sich aber nicht<br />

nur in Form <strong>von</strong> faktischer Ordnung, sondern ebenso durch kognitive und/oder<br />

normative Ordnung.<br />

Macht bzw. Herrschaft dürfen <strong>als</strong>o nicht exklusiv einer einzigen Handlungs-<br />

bzw. Strukturdimension zugeordnet werden, sondern müssen sich <strong>als</strong><br />

konstitutive Grundlage quer durch alle Handlungs- bzw. Strukturdimensionen<br />

ziehen (vgl. Abbildung 18). Damit stellt sich aber die Frage, womit der<br />

bisherige Platz <strong>von</strong> Macht bzw. Herrschaft im Modell gefüllt werden kann.<br />

Struktur<br />

Modalitäten<br />

Handlung<br />

Signifikation<br />

(kognitive Ordnung)<br />

interpretative<br />

Schemata<br />

Herrschaft<br />

Reifikation Legitimation<br />

(faktische Ordnung) (normative Ordnung)<br />

Ressourcen<br />

Normen<br />

Kommunikation Artefakte<br />

Sanktionen<br />

Macht<br />

Abbildung 18: Relational-konstruktivistische Überarbeitung<br />

der Dimensionen und Dualität <strong>von</strong> Struktur<br />

98<br />

Potenzialität<br />

Aktualisierung<br />

lokale<br />

Ordnung


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Aus relational-konstruktivistischer Sicht bietet es sich an, die bisherige<br />

Strukturdimension Herrschaft mit den ihr zugeordneten autoritativen und<br />

allokativen Ressourcen umzubenennen in Reifikation. Damit ist das Vermögen<br />

der sozialen Praktiken angesprochen, im Laufe der Zeit <strong>als</strong> Folge ihrer<br />

Routinisierung Materialisierungen in Form <strong>von</strong> autoritativen und allokativen<br />

Ressourcen zu sedimentieren, das heisst zu reifizieren, und dadurch eine<br />

faktische Ordnung bereit zu stellen. Entsprechend kann das Gegenstück auf<br />

der Handlungs-Ebene Artefakte 100 genannt werden. Damit wären dann die<br />

Materialisierungen in ihrer tatsächlichen physischen Erscheinungsform<br />

gemeint, das heisst die formellen Strukturen, Prozesse und (Hilfs-)Mittel, auf<br />

die Handeln zurückgreift bzw. einsetzt.<br />

Auf der Ebene der Modalitäten sind dann die einzelnen autoritativen und<br />

allokativen Ressourcen angesiedelt, die zwischen der Ebene der Reifikation<br />

und der Ebene der Artefakte vermitteln.<br />

Aus relational-konstruktivistischer Sicht eröffnet sich zudem ein spezieller<br />

Zusammenhang der drei Ebenen Struktur, Modalitäten und Handlung. <strong>Die</strong><br />

Struktur-Ebene kann verstanden werden <strong>als</strong> Raum der potenziellen Ordnung,<br />

<strong>als</strong> Summe dessen, was denkbar wäre. Aus diesem Raum werden über die<br />

Vermittlungsfunktion der Modalitäten ganz bestimmte Regel- und Ressourcen-<br />

Komplexe aktualisiert, die sich dann in der routinisierten Wiederholung der<br />

sozialen Praktiken <strong>als</strong> lokal gültige Ordnung niederschlagen.<br />

b) Entfaltung <strong>von</strong> Macht<br />

Giddens bietet keine <strong>Erklärung</strong> der Wirkungsweise <strong>von</strong> Macht <strong>als</strong> Phänomen<br />

<strong>von</strong> Handlung. 101 Er erwähnt lediglich, dass sich Macht im Rahmen der<br />

Herrschaftsstrukturen „sanft fliessend“ entfaltet (1997, S. 314), ohne jedoch zu<br />

konkretisieren, wie Macht <strong>als</strong> das Eingreifen in den fortlaufenden Gang der<br />

Ereignisse <strong>von</strong> den einzelnen Akteuren kunstvoll eingesetzt wird. Man muss<br />

sich vergegenwärtigen, dass jeder Akteur per Definition über Macht verfügt,<br />

denn dann wird unmittelbar klar, dass hier eine grosse Lücke klafft: Was<br />

passiert, wenn in einer sozialen Situation multiple Akteure gleichzeitig<br />

machtvoll handeln und interagieren?<br />

100<br />

Den Begriff der Artefakte entlehne ich bei Schein (1992, S. 17), der darunter „visible<br />

organizational structures and processes“ versteht.<br />

101<br />

<strong>Die</strong>se Kritik erheben auch Neuberger (1995) und Schirmer (2000).<br />

99


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Empter (1988, S. 143f) hat darauf hingewiesen, dass der Begriff <strong>von</strong> Macht-zu<br />

(wie ihn Giddens vertritt) „solange ‚amorph’ [bleibt], <strong>als</strong> nicht die Umstände<br />

und Bedingungen spezifiziert werden, unter denen Macht sich entfalten kann.<br />

<strong>Eine</strong> solche Fähigkeit gewinnt nämlich erst in einer konkreten sozialen<br />

Interaktion bzw. in einer interdependenten sozialen Beziehung zwischen<br />

sozialen Akteuren, in welcher alle Beteiligten in ihren Handlungsfähigkeiten<br />

aufeinander angewiesen sind, ihren Sinn.“<br />

Aus dem Modell der Strukturdimensionen wird ersichtlich, dass die Ebene der<br />

Modalitäten eine wichtige Rolle spielen muss bei der Frage, wie sich Macht<br />

entfaltet (vgl. Abbildung 19).<br />

Signifikation Reifikation<br />

interpretative<br />

Schemata<br />

Vermittlungsfunktion<br />

der Strukturmodalitäten<br />

Kommunikation Artefakte<br />

100<br />

Legitimation<br />

Ressourcen Normen<br />

Sanktionen<br />

Abbildung 19: Vermittlungsfunktion der Strukturmodalitäten 102<br />

<strong>Die</strong> Modalitäten vermitteln zwischen potenzieller und aktueller Ordnung. Dort<br />

wird <strong>als</strong>o entschieden, welche der denkbaren Ordnungen des Sozialen<br />

aktualisiert und demnach Wirklichkeit wird. Doch ausgerechnet auch über die<br />

102 Giddens bringt die Dualität <strong>von</strong> Struktur und Handlung mit Doppelpfeilen zum Ausdruck (vgl.<br />

Abbildung 17). Hier und in allen weiteren Abbildungen wird eine andere Darstellungsform<br />

gewählt. <strong>Die</strong> Dualität <strong>von</strong> Struktur und Handlung wird mit den gestrichelten Rechtecken zum<br />

Ausdruck gebracht, die die Struktur- und Handlungsdimensionen verbinden.<br />

der Modalitäten


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

nähere Funktionsweise der Vermittlungsfunktion der Modalitäten schweigt sich<br />

Giddens in seiner Theorie der Strukturierung aus. 103<br />

Giddens hilft zwar, die Strukturiertheit <strong>von</strong> Ordnung bzw. <strong>Organisation</strong>en zu<br />

verstehen, aber gerade die Frage des Entstehungsprozesses, der Strukturierung<br />

<strong>von</strong> Ordnung, vermag die Theorie der Strukturierung demnach nicht<br />

restlos zu beantworten. Es gibt jedoch eine Theorie, die zu genau diesem<br />

Punkt eine wertvolle Ergänzung liefern kann: die Sozialpsychologie des<br />

Organisierens <strong>von</strong> Hosking und Morley.<br />

4.2.2 <strong>Die</strong> Sozialpsychologie des Organisierens<br />

<strong>von</strong> Hosking und Morley<br />

Hosking und Morley wollen mit ihrer Sozialpsychologie des Organisierens<br />

einen Beitrag zur Überwindung der theoretischen Trennung zwischen<br />

Individuum und <strong>Organisation</strong> der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorien leisten.<br />

Für sie besteht ein enger Zusammenhang zwischen Individuum und<br />

<strong>Organisation</strong> in dem Sinn, dass „actors, to some degree, make their contexts<br />

whilst at the same time being made by them“ (1991, S. 60)<br />

Dem theoretischen Verständnis <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> Hosking und Morley<br />

liegt die Vorstellung einer fundamentalen Relationalität aller Phänomene der<br />

sozialen Wirklichkeit zugrunde. <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> soziale Tatsache entsteht aus<br />

relationalen Prozessen und ist das Ergebnis der Konstruktions- und<br />

Koordinationsleistungen multipler Akteure. „The processes through which<br />

actors make contexts and contexts make actors is, in a very fundamental<br />

sense, a matter of negotiation: both social order, and individu<strong>als</strong>, arise in and<br />

through a process of ongoing negotiation about who shall be whom, and what<br />

order shall pertain.“ (Hosking/Morley 1991, S. 146) Für Hosking und Morley<br />

muss daher das Verständnis für die kontinuierlichen Verhandlungsprozesse<br />

der sozialen Akteure das zentrale Element einer jeden <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

bilden.<br />

<strong>Die</strong> Sozialpsychologie des Organisierens ist in einem Buch umfassend<br />

dargestellt (Hosking/Morley 1991). Daneben gibt es eine Reihe kürzerer<br />

103 <strong>Die</strong> gleiche Kritik erhebt auch Neuberger (1995, S. 321).<br />

101


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Publikationen, die einen guten Einstieg in das theoretische Modell anbieten<br />

(Hosking 1988; Hosking/Fineman 1990; Hosking/Bass 1998; Hosking 2000). 104<br />

Im Folgenden wird die Sozialpsychologie des Organisierens anhand ihrer<br />

Kernbegriffe und Kernaussagen erläutert (vgl. Kapitel 4.2.2.1) und<br />

anschliessend im Hinblick auf ihren Beitrag zu einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> zusammenfassend gewürdigt (vgl. Kapitel 4.2.2.2).<br />

4.2.2.1 Kernaussagen der Sozialpsychologie des<br />

Organisierens<br />

a) Relationalität <strong>von</strong> Individuum und <strong>Organisation</strong><br />

Relationalität bedeutet die konstitutive Interdependenz zwischen dem Selbst,<br />

den Anderen und der Welt. Nur in und durch die relationalen Prozesse der<br />

gegenseitigen Bezugnahme finden Handelnde zu ihrem Selbst und die Welt zu<br />

ihrer sozialen Ordnung. Das Ich ist für sein Ich-Sein auf das Du angewiesen<br />

(vgl. Mead 1968; Buber 1973; Gergen 2002, S. 164f).<br />

Relationale Prozesse umfassen jedoch nicht nur die Relationen zwischen<br />

einzelnen Individuen, sondern ebenso auch diejenigen zwischen den<br />

Individuen und den Objekten der Welt. Mit den relationalen Prozessen sind<br />

<strong>als</strong>o die kollektiven Konstruktionsprozesse gemeint, die aus dem<br />

kontinuierlichen Fluss <strong>von</strong> Ereignissen Dinge, Personen etc. hervorheben und<br />

ihnen faktische Qualität verleihen. „These relational processes importantly are<br />

characterized by what we shall call the activities of sense-making [and worldmaking].”<br />

(Hosking/Morley 1991, S. xi) Soziale Ordnung bzw. das, was<br />

<strong>Organisation</strong> genannt wird, ist somit das Ergebnis dieser relationalen<br />

Prozesse.<br />

Drei Anmerkungen sind dazu zu machen:<br />

• Erstens sind relationale Prozesse immer kollektiv. Soziale<br />

Konstruktionsprozesse (und ihre entitativen Materialisierungen)<br />

können nicht den Konstruktionsleistungen eines einzelnen<br />

Akteurs zugeordnet werden. Relationale Prozesse sind zwingend<br />

auf Kooperation angewiesen. „What is most fundamental about<br />

104 Ebenfalls aufschlussreich ist die Homepage <strong>von</strong> Hosking. Dort stehen eine Reihe <strong>von</strong> online-<br />

Texten und Artikeln zum Herunterladen bereit (http://www.geocities.com/dian_marie_hosking).<br />

102


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

relational processes is that they are grounded in helping. All<br />

actors need the help of others in constructing their identities and<br />

their sense of social order, and need the help of others in order<br />

to act in relation to them.” (Hosking/Morley 1991, S. 239)<br />

Individuen brauchen für ihre Handlungen demnach keine Motive<br />

und keine Intentionen. Sie handeln, weil das der einzige Weg ist,<br />

wie sie sein können und wie sie wissen können. 105<br />

• Zweitens entfalten sich relationale Prozesse nicht unabhängig<br />

vom Kontext, in dem sie stattfinden. <strong>Die</strong> soziale Wirklichkeit, die<br />

aus relationalen Prozessen entsteht, wirkt auf diese relationalen<br />

Prozesse wieder zurück, in dem sie die Bedingungen der<br />

Möglichkeit dessen schafft, was in Zukunft sein könnte und sein<br />

wird. Kontext und Selbst bzw. <strong>Organisation</strong> und Individuum<br />

konstituieren und definieren sich gegenseitig. „It appears that, in<br />

a very real sense, who people are, and how they act very much<br />

depends on who they are with, and why they are there.“<br />

(Hosking/Fineman 1990, S. 588) <strong>Die</strong> soziale Wirklichkeit, die aus<br />

den relationalen Prozessen entsteht, ist <strong>als</strong>o stets ebenso<br />

kontingent wie lokal.<br />

• Drittens sind relationale Prozesse stets auch politische<br />

Prozesse. Aus jedem relationalen Prozess entspringen eine<br />

Vielfalt <strong>von</strong> sozialen Konstrukten, die sich manchmal gegenseitig<br />

zu einer kohärenten sozialen Ordnung ergänzen, aber ebenso<br />

oft auch in Konkurrenz zueinander stehen. Soziale Akteure<br />

müssen daher permanent um ein gemeinsames Verständnis<br />

ringen um kollektiv handlungsfähig zu sein. Relationale Prozesse<br />

sind deshalb nicht nur Konstruktionsprozesse, sondern<br />

gleichzeitig auch Verhandlungsprozesse, in denen um die<br />

Bedeutung und die Akzeptanz der sozialen Konstrukte gerungen<br />

wird. „These are processes in which actors negotiate their own<br />

descriptions of issues ... and seek to influence the descriptions<br />

and actions of others … They are symbolic processes,<br />

105 Hosking und Morley sprechen daher nicht <strong>von</strong> Motiven, Zielen oder Aufgaben, die Akteure in<br />

ihrem Handeln verfolgen, sondern <strong>von</strong> „projects“: „... one way of looking at a project is to see it as<br />

a set of conversations which commit people to some future action.“ (Hosking/Morley 1991, S. 93)<br />

103


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

processes of influence, negotiation, and exchange; they are<br />

processes in which joint action is made possible; they are<br />

processes in which the valuations and interests of some actors<br />

are better protected and promoted than the valuations and<br />

interests of others.” (Hosking/Morley 1991, S. 86)<br />

b) Verhandlungsprozesse des Organisierens<br />

Im Kern ist der Prozess des Organisierens <strong>als</strong>o ein kollektiver<br />

Verhandlungsprozess über die Signifikation und die Legitimation der sozial<br />

konstruierten organisationalen Wirklichkeit, um die gemeinsame Basis für<br />

gegenwärtige und zukünftige organisationale Handlungen zu schaffen.<br />

<strong>Die</strong>ser Verhandlungsprozess besteht aus kognitiven und politischen<br />

Prozessen, die sich in sozialen Praktiken des Organisierens materialisieren<br />

(vgl. Abbildung 20). Soziale Praktiken gehen <strong>als</strong>o aus kognitiven und<br />

politischen Prozessen hervor, sie sind aber gleichzeitig auch das Mittel, mit<br />

dem sich die kognitiven und politischen Prozesse entfalten. Soziale Praktiken,<br />

kognitive Prozesse und politische Prozesse sind <strong>als</strong>o ineinander verschränkt<br />

und nur analytisch trennbar.<br />

kognitive<br />

Prozesse<br />

soziale<br />

Praktiken<br />

104<br />

politische<br />

Prozesse<br />

Abbildung 20: <strong>Die</strong> drei Elemente des Verhandlungsprozesses des Organisierens<br />

Kognitive Prozesse sind Prozesse des Verstehens. In kollektiven kognitiven<br />

Prozessen 106 gelangen die organisationalen Akteure zu einem gemeinsamen<br />

106 Es ist wichtig, an dieser Stelle nochm<strong>als</strong> die Kollektivität der kognitiven Prozesse zu betonen.<br />

Kognition wird in der (<strong>Organisation</strong>s-)Theorie traditionell <strong>als</strong> individuelle Fähigkeit und Leistung<br />

unabhängiger Akteure konzipiert (vgl. Dachler 1997b). Hier werden kognitive Prozesse jedoch <strong>als</strong><br />

relationales Phänomen verstanden, das nur kollektiv erreicht werden kann (vgl. Punkt a).


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Verständnis dessen was ist, was war und was zukünftig sein könnte. „We see<br />

cognitive [processes] as something that goes on all the time: activity which,<br />

when oriented to the present, is so in relation to possible futures and<br />

constructions of the past.” (Hosking/Morley 1991, S. xxi) So entsteht ein<br />

geteiltes Vorverständnis (“taken-for-granteds”) einer bestimmten lokalen<br />

Wirklichkeit. Kognitive Prozesse projizieren eine soziale Ordnung in den<br />

kontinuierlichen Fluss des Alltagsgeschehens und vermitteln bestimmte<br />

Perspektiven, Ansichten und Meinungen auf und über diese konstruierte<br />

soziale Wirklichkeit.<br />

<strong>Die</strong>se konstruierte soziale Wirklichkeit ist nie völlig eindeutig und klar. Es<br />

können verschiedene Interpretationen dieser sozialen Wirklichkeit entstehen<br />

oder gar völlig andere Wirklichkeiten konstruiert werden. Hand in Hand mit<br />

dem kognitiven Prozess der Wirklichkeitskonstruktion geht daher immer ein<br />

politischer Prozess der Wirklichkeitskoordination, in dem die verschiedenen<br />

konkurrierenden Wirklichkeitskonstruktionen gegenseitig abgestimmt und<br />

koordiniert werden müssen, um eine gemeinsame Basis für das<br />

organisationale Handeln zu schaffen. Politische Prozesse sind Prozesse der<br />

Einflussnahme, in denen organisationale Akteure versuchen „to influence the<br />

description and actions of interdependent others who are committed to<br />

different descriptions and actions.“ (Hosking/Morley 1991, S. 127) Politische<br />

Prozesse sind aber auch Prozesse der Macht, weil die einzelnen Akteure sich<br />

in ihrer Fähigkeit unterscheiden, Unterstützung für ihre jeweilige Interpretation<br />

der sozialen Wirklichkeit zu mobilisieren.<br />

Organisieren ist <strong>als</strong>o ein Verhandlungsprozess der Wirklichkeitskonstruktion<br />

und -koordination. <strong>Die</strong>ser Verhandlungsprozess ist nicht völlig frei, sondern<br />

auch vorstrukturiert vom Ergebnis früher Verhandlungsprozesse, das heisst<br />

<strong>von</strong> aktuellen sozialen Praktiken: „As we have already remarked, negotiations<br />

are not conducted de novo, but are temporally located in relation to<br />

constructions of the past and the future. From past activities and interactions,<br />

emerge patternings of resources, value, and commitments. These are<br />

reflected, and to some extent are reproduced, through ongoing negotiations.<br />

Further, contemporary negotiations are performed in anticipation of future<br />

negotiations, so that, for example, relationships between the actors are<br />

preserved, thus enabling future negotiations.” (Hosking/Morley 1991, S. 146f)<br />

105


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

4.2.2.2 Relational-konstruktivistische Würdigung der<br />

Sozialpsychologie des Organisierens<br />

<strong>Die</strong> Sozialpsychologie des Organisierens liefert zwei wichtige theoretische<br />

Beiträge, die den Eckpunkt Prozesse des bisherigen theoretischen<br />

Grundgerüst (vgl. Abbildung 15) näher beleuchten. Erstens legt sie eine<br />

konsequent relationale Fundierung des Prozesses des Organisierens und<br />

befreit <strong>Organisation</strong> dadurch <strong>von</strong> jeglichen objektivistischen und entitativen<br />

Kurzschlüssen. Zweitens erhellt sie die Emergenz <strong>von</strong> sozialer Ordnung <strong>als</strong><br />

Ergebnis eines kollektiven Verhandlungsprozesses („negotiated social<br />

order“ 107 ) und beschreibt diesen Verhandlungsprozess <strong>als</strong> die Integration und<br />

Abfolge der zwei miteinander auf das Engste verwobenen kollektiven<br />

Prozesse des Verstehens (kognitiv) und der Einflussnahme (politisch), die sich<br />

in sozialen Praktiken des Organisierens materialisieren.<br />

<strong>Die</strong> häufig zitierte Selbstorganisation der <strong>Organisation</strong> erscheint plötzlich in<br />

einen völlig neuen Licht: <strong>Die</strong>se passiert eben nicht sozusagen zufällig, wie <strong>von</strong><br />

selbst, sondern ist gemacht in einem kollektiven Verhandlungsprozess, der<br />

nichts anderes ist <strong>als</strong> ein ebenso kunstvoller wie komplexer Prozess der<br />

kollektiven Wirklichkeitskonstruktion und -koordination.<br />

Das Prozessverständnis der Sozialpsychologie des Organisierens verträgt<br />

sich auch problemlos mit dem Strukturverständnis der Theorie der<br />

Strukturierung <strong>von</strong> Giddens - mehr noch: <strong>Die</strong> beiden Begriffe ergänzen und<br />

erhellen sich gegenseitig. In der Theorie der Strukturierung gewinnt die<br />

Wirkungsweise der Vermittlungsfunktion der Modalitäten an Konkretheit und<br />

Klarheit, wenn der Verhandlungsprozess des Organisierens unterlegt wird.<br />

Und umgekehrt gewinnt die Sozialpsychologie des Organisierens an<br />

theoretischer Substanz, wenn im Verhandlungsprozess des Organisierens die<br />

Strukturiertheit (Strukturdimensionen <strong>von</strong> Giddens) des Prozesses<br />

berücksichtigt wird (vgl. Abbildung 21).<br />

107 Der Begriff der „negotiated social order“ geht auf Strauss (1978) zurück.<br />

106


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Signifikation Reifikation Legitimation<br />

kognitive<br />

Prozesse<br />

Vermittlungsfunktion<br />

soziale<br />

Praktiken<br />

der Verhandlungsprozesse des Organisierens<br />

Kommunikation Artefakte<br />

107<br />

politische<br />

Prozesse<br />

Sanktionen<br />

Abbildung 21: Verhandlungsprozess des Organisierens <strong>als</strong> Vermittler<br />

zwischen Struktur und Handlung<br />

Es sind allerdings auch ein paar kritische Anmerkungen zur Sozialpsychologie<br />

des Organisierens zu machen:<br />

a) Status der sozialen Prozesse<br />

Hosking und Morley erwähnen neben den kognitiven und politischen<br />

Prozessen <strong>als</strong> Drittes auch soziale Prozesse. <strong>Die</strong>se Prozesse gewinnen aber<br />

nie ein selbständiges Profil. Manchmal ist damit die grundlegende<br />

Relationalität der Prozesse gemeint: „Rather, we view social processes as<br />

processes in which participants (in organizing) construct a sense of who they<br />

are (identity) in relation to a context, which consists importantly of other people<br />

and their constructions.“ (Hosking/Morley 1991, S. xi) Soziale Prozesse sind in<br />

diesem Fall einfach eine andere Bezeichnung für relationale Prozesse. An<br />

anderer Stelle rücken soziale Prozesse in die Nähe kognitiver Prozesse:<br />

„Through their social relations they construct descriptions (valuations) of social<br />

order including descriptions of the contributions that each actor will make, and<br />

the consequences of their participation.“ (Hosking/Morley 1991, S. 66) <strong>Eine</strong><br />

Lösung, die sich anbietet (und die in Punkt b oben auch verfolgt worden ist),<br />

liegt darin, sich die erwähnten sozialen Prozesse <strong>als</strong> soziale Praktiken des


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Organisierens zu denken, das heisst <strong>als</strong> Materialisierungen der kognitiven und<br />

politischen Prozesse, aus denen sie sich konstituieren.<br />

b) Verwendeter Machtbegriff<br />

Obwohl Hosking und Morley Macht <strong>als</strong> interdependentes Phänomen<br />

beschreiben, schimmert immer wieder durch, dass sie sich Macht eher <strong>als</strong><br />

Macht-über und nicht so sehr <strong>als</strong> Macht-zu denken. Vollends unvereinbar mit<br />

ihrem eigenen relational-konstruktivistischen Gedankengut werden die<br />

Überlegung <strong>von</strong> Hosking und Morley zum Thema Macht, wenn sie zur<br />

Konkretisierung <strong>von</strong> Macht auf die Machtbasen-Theorie <strong>von</strong> French/Raven<br />

zurückgreifen (vgl. Hosking/Morley 1991, S. 139ff). Auch wenn sie kritisch<br />

anmerken, dass die traditionellen Machttheorien ungenügend sind, verfehlen<br />

sie es doch, eine eigene, relational-konstruktivistisch kohärente Definition <strong>von</strong><br />

Macht auszuarbeiten. Den Kernaussagen der Sozialpsychologie des<br />

Organisierens tut dies zum Glück jedoch keinen Abbruch, und der<br />

ungenügende Machtbegriff <strong>von</strong> Hosking und Morley kann ohne weiteres<br />

gedanklich durch die relational-konstruktivistische Machtdefinition ersetzt<br />

werden, die in Kapitel 4.1.2.3 erarbeitet worden ist.<br />

4.2.3 <strong>Die</strong> Zwänge kollektiven Handelns<br />

<strong>von</strong> Crozier und Friedberg<br />

Crozier und Friedberg haben keine eigentliche Theorie geschaffen. Ihr Werk<br />

„<strong>Die</strong> Zwänge kollektiven Handelns. Über Macht und <strong>Organisation</strong>.“<br />

(1993/1979) ist eher <strong>als</strong> theoretisches Fazit einer langjährigen empirischen<br />

Studie zu verstehen - und gilt daher ebenso <strong>als</strong> ein theoretischer<br />

108, 109<br />

<strong>Erklärung</strong>sansatz wie ein methodologischer Forschungsansatz.<br />

108<br />

Crozier und Friedberg wollen ihren Beitrag auch so verstanden wissen: „Its perspective is above<br />

all heuristic. It tries to formulate a mode of reasoning for the empirical analysis of these<br />

[organizing] processes, rather than a substantive theory on the emergence, the diffusion and/or<br />

the elimination of distinct organizational forms.” (Crozier/Friedberg 1995, S. 75)<br />

109<br />

<strong>Die</strong> nachfolgende Darstellung des Spiel-Konzepts <strong>von</strong> Crozier und Friedberg beschränkt sich auf<br />

den theoretischen <strong>Erklärung</strong>sansatz. Auf die forschungsmethodischen Teile, insbesondere die<br />

Begriffe des strategischen Denkens und des systemischen Denkens wird nicht eingegangen. Es<br />

sei nur soviel erwähnt, dass die forschungsmethodische Unterteilung in eine Analyse des<br />

strategischen Denkens und eine Analyse des systemischen Denkens derjenigen entspricht, die<br />

auch Giddens (1997) macht. Giddens nennt sie die strategische Analyse und die institutionelle<br />

Analyse.<br />

108


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Ihre Forschungsarbeit stellte das organisierte kollektive Handeln bzw. die<br />

Integrationsmechanismen dieses kollektiven Handelns im Rahmen eines<br />

strukturierten Handlungsfelds - z.B. einer <strong>Organisation</strong> - in den Mittelpunkt. Für<br />

Crozier und Friedberg sind dabei die beiden Begriffe <strong>Organisation</strong> und<br />

kollektives Handeln komplementär: „Sie sind die beiden untrennbaren Seiten<br />

ein- und desselben Problems, nämlich der Strukturierung der Handlungsfelder,<br />

innerhalb derer menschliches Handeln sich entwickelt.“ (Crozier/Friedberg<br />

1993/1979, S. 10)<br />

In ihrem Ansatz geht es Crozier und Friedberg darum, die einseitigen<br />

<strong>Erklärung</strong>sansätze der strukturdeterminierten Theorien einerseits bzw. der<br />

handlungsvoluntaristischen Theorien andererseits mit einer integrierten<br />

Perspektive zu überwinden, die „sich mit der Erforschung der Entwicklungsbedingungen<br />

des organisierten Handelns <strong>von</strong> Menschen und den diesem<br />

Handeln eigenen Zwängen“ befasst (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 66). Sie<br />

wollen ihren theoretischen Beitrag denn auch nicht <strong>als</strong> <strong>Organisation</strong>ssoziologie,<br />

sondern <strong>als</strong> eine Soziologie organisierten Handelns verstanden<br />

wissen (vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 66).<br />

Nach Crozier und Friedberg setzen kollektive Handlungsformen ein<br />

bestimmtes Mass an Strukturierung der sozialen Handlungsfelder voraus und<br />

richten eine solche aber zugleich auch ein. <strong>Eine</strong> zentrale Rolle spielt dabei der<br />

politische Charakter jedes organisierten Handelns bzw. jeder <strong>Organisation</strong>.<br />

Für Crozier und Friedberg stellt sich „jede Struktur kollektiven Handelns <strong>als</strong><br />

Machtsystem dar. Sie ist ein Machtphänomen, das <strong>als</strong> solches zugleich<br />

Auswirkung und Ausübung <strong>von</strong> Macht beinhaltet. Als menschliches Konstrukt<br />

ordnet, regularisiert, ‚zähmt’ und schafft sie Macht, um den Menschen ihre<br />

Zusammenarbeit in kollektiven Vorhaben zu ermöglichen. Jede ernst zu<br />

nehmende Analyse kollektiven Handelns muss <strong>als</strong>o Macht in das Zentrum<br />

ihrer Überlegungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts<br />

anderes <strong>als</strong> tagtägliche Politik.“ 110 (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 14)<br />

<strong>Die</strong>se tagtägliche Politik entfaltet sich nach Crozier und Friedberg in der Form<br />

eines organisationalen Spiels. Das Spiel ist „ein konkreter Mechanismus, mit<br />

dessen Hilfe die Menschen ihre Machtbeziehungen strukturieren und<br />

110 Aufgrund der zentralen Bedeutung <strong>von</strong> Macht und Politik im theoretischen Modell <strong>von</strong> Crozier<br />

und Friedberg wird ihr Beitrag häufig auch <strong>als</strong> „Politologie organisierter Systeme“ bezeichnet (vgl.<br />

Empter 1988).<br />

109


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

regulieren und sich doch dabei Freiheit lassen. ... Es ist das wesentliche<br />

Instrument organisierten Handelns. Es vereint Freiheit und Zwang.“<br />

(Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 68) Wie eine <strong>Organisation</strong> funktioniert bzw.<br />

wie organisationale Ordnung entsteht und besteht, ist demzufolge stets das<br />

Resultat verschiedener, ineinander verschränkter, kontingenter organisationaler<br />

Spiele.<br />

Ihr Konzept der organisationalen Spiele <strong>als</strong> zentraler Koordinations- und<br />

Integrationsmechanismus kollektiven Handelns haben Crozier und Friedberg<br />

erstm<strong>als</strong> 1977 (deutsch: 1979) veröffentlicht. 1993 ist das vergriffene deutsche<br />

Buch (allerdings mit verändertem Titel) neu herausgegeben worden. 111 Ihr<br />

Werk ist sowohl <strong>von</strong> der amerikanischen wie der europäischen akademischen<br />

Welt lange ignoriert bzw. abgelehnt worden (vgl. Crozier/Friedberg 1995).<br />

Heute nimmt vor allem Ortmann (Ortmann/Windeler/et al. 1990; Ortmann<br />

1995a; Küpper/Ortmann 1992) in seiner organisationstheoretischen Arbeit<br />

Bezug auf Crozier und Friedberg. Beliebt ist auch die Verknüpfung des<br />

Gedankenguts <strong>von</strong> Crozier und Friedberg mit der Theorie der Strukturierung<br />

<strong>von</strong> Giddens (vgl. Empter 1988; Ortmann 1992a, 1995a; Neuberger 1995;<br />

Elsik 1999; Küpper/Felsch 2000; Schirmer 2000; Holtbrügge 2001). Und zum<br />

Abschluss sei noch die ausgezeichnete Rezeption des Spiel-Konzepts <strong>von</strong><br />

Brentel (1999) erwähnt. 112<br />

Im Folgenden wird das Spiel-Konzept <strong>von</strong> Crozier und Friedberg anhand<br />

einiger Kernbegriffe näher erläutert (vgl. Kapitel 4.2.3.1) und anschliessend im<br />

Hinblick auf dessen Beitrag zu einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

zusammenfassend gewürdigt (vgl. Kapitel 4.2.3.2).<br />

111<br />

Weitere Veröffentlichungen <strong>von</strong> Crozier und Friedberg zum Spiel-Konzept: Crozier/Friedberg<br />

1995; Friedberg 1992; Friedberg 1995.<br />

112<br />

<strong>Die</strong> Rezeption <strong>von</strong> Brentel hebt sich vor allem dadurch ab, dass Brentel auf das <strong>von</strong> Crozier und<br />

Friedberg eingeführte Konzept der Bezugsfähigkeit eingeht, das in der übrigen Sekundärliteratur<br />

völlig unerwähnt bleibt. Wie in Kapitel 4.2.3.2 zu zeigen sein wird, liegt jedoch gerade in diesem<br />

Konzept der (aus relational-konstruktivistischer Sicht) besondere Reiz des Spiel-Konzepts <strong>von</strong><br />

Crozier und Friedberg.<br />

110


4.2.3.1 Kernaussagen des Spiel-Konzepts<br />

BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

a) Freiheit des Handelns<br />

Crozier und Friedberg statten in ihrem Konzept die sozialen Akteure mit einer<br />

prinzipiellen (Handlungs- bzw. Entscheidungs-)Freiheit aus - und sei sie auch<br />

noch so klein. Handeln „ist immer Ausdruck und Verwirklichung einer wenn<br />

auch noch so geringen Freiheit. Das Verhalten ist Ergebnis einer Wahl,<br />

mithilfe derer der Akteur die Gelegenheiten ‚am Schopfe ergreift’, die sich ihm<br />

im Rahmen der ihn einschränkenden Zwänge bieten. Es ist daher niem<strong>als</strong><br />

völlig voraussehbar, denn es ist nicht determiniert, sondern im Gegenteil<br />

immer kontingent.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 27)<br />

Mit dieser Definition <strong>von</strong> Handeln gelingt es Crozier und Friedberg, das<br />

Handeln sozialer Akteure doppelt zu verankern: einerseits in der Freiheit der<br />

Akteure und andererseits im Zwang des Systems. Damit kann das Handeln<br />

der Akteure immer nur in Bezug auf den Handlungskontext verstanden werden<br />

(vgl. Punkt b), ohne dass dieser Handlungskontext aber je die Handlungen der<br />

Akteure direkt bestimmen könnte.<br />

Das Handeln der Akteure reflektiert <strong>als</strong>o immer eine durch sie gemachte Wahl.<br />

<strong>Die</strong>se Wahl ist Ausdruck ihrer Handlungsstrategie. Doch diese Strategie darf<br />

nicht gedacht werden <strong>als</strong> eine bewusste Intentionalität der Handelnden. Für<br />

Crozier und Friedberg ist Strategie „nichts anderes <strong>als</strong> die ex post gefolgerte<br />

Grundlage der empirisch beobachteten Verhaltensregelmässigkeiten. Daraus<br />

folgt, dass eine solche ‚Strategie’ keineswegs mit dem Willen identisch ist, und<br />

dass sie auch nicht notwendig bewusst zu sein braucht.“ (Crozier/Friedberg<br />

1993/1979, S. 34)<br />

Trotz dieser Einschränkung ist Handeln für Crozier und Friedberg immer<br />

rational, denn Akteure handeln stets in und mit Bezug auf den erlebten<br />

organisationalen Kontext. <strong>Die</strong> Rationalität der Akteure ist <strong>als</strong>o <strong>als</strong> eine<br />

strategisch-systemische zu verstehen. 113 Sie bemisst sich an dem, was - in<br />

einem zweifachen Sinn - machbar ist: machbar im Sinne einer<br />

durchsetzungsfähigen Strategie des Akteurs (strategische Rationalität),<br />

machbar aber auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den Zwängen des<br />

vorstrukturierten Handlungsfelds (systemische Rationalität).<br />

111


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Allfällige irrationale oder dysfunktionale Ergebnisse des Handelns sind daher<br />

nicht den Handelnden bzw. ihren Handlungen zuzurechnen, sondern dem<br />

Handlungskontext, auf den sich die Handelnden in ihren Handlungen<br />

beziehen 114 - und es stellt sich dann die Frage, wie das Handlungsfeld<br />

strukturiert ist, um diese irrationale Handlung möglich zu machen (vgl.<br />

Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 111).<br />

<strong>Die</strong> grundlegende, niem<strong>als</strong> völlig einschränkbare Freiheit der Akteure,<br />

entstammt der Macht, die eine „unausweichliche, nicht aus der Welt zu<br />

schaffende Dimension des sozialen Handelns überhaupt“ ist.<br />

(Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 15) Macht ist für Crozier und Friedberg die<br />

Grundlage und zwingende Voraussetzung eines jeden Handelns. Friedberg<br />

sagt sogar, dass die Möglichkeit <strong>von</strong> Existenz Macht voraussetzt (vgl. 1992).<br />

Macht definieren Crozier und Friedberg <strong>als</strong> die Möglichkeit, auf andere<br />

einzuwirken. Damit sind zwei Dinge gesagt: Erstens ist Macht ein<br />

Beziehungsphänomen, und zweitens ist Macht „unlösbar an Verhandlungen<br />

gebunden“. (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 40) Was in diesen<br />

Verhandlungsbeziehungen ausgehandelt wird, sind jedoch nicht „Kräfte“<br />

(Macht-über), sondern „Handlungsmöglichkeiten“ (Macht-zu) (vgl.<br />

Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 41) <strong>Die</strong> Macht eines Akteurs hängt da<strong>von</strong> ab,<br />

in welchem Umfang er in der Lage dazu ist, die Handlungsmöglichkeiten<br />

anderer zu kontrollieren bzw. einzuschränken, währenddem er gleichzeitig<br />

sein eigenes Handlungsvermögen möglichst offen hält. <strong>Die</strong>se Kontrolle bzw.<br />

Einschränkung erfolgt wegen der Handlungsfreiheit der Akteure jedoch nie<br />

direkt, <strong>als</strong> Macht-über, sondern immer nur indirekt über die Kontrolle <strong>von</strong> für<br />

das Handeln relevanten Ungewissheitszonen (vgl. Crozier/Friedberg<br />

1993/1979, S. 43; Friedberg 1992, S. 42).<br />

Je besser es einem Akteur gelingt, die relevanten Ungewissheitszonen des<br />

kollektiven Handelns zu kontrollieren, desto mächtiger ist der Akteur. Kontrolle<br />

<strong>von</strong> Ungewissheitszonen heisst aber nicht deren Elimination, sondern im<br />

Gegenteil, deren gezielte Aufrechterhaltung in der Beziehung zu den anderen.<br />

113<br />

Mit March (1988b, S. 259) könnte man sagen, dass Rationalität in diesem Sinn verstanden<br />

werden kann <strong>als</strong> „sensible foolishness“.<br />

114<br />

Hier unterscheidet sich der Handlungsbegriff <strong>von</strong> Crozier und Friedberg <strong>von</strong> demjenigen <strong>von</strong><br />

Giddens. Während Crozier und Friedberg Irrationalität dem System bzw. der spezifischen Form<br />

seiner Strukturierung zurechnen, greift Giddens zur <strong>Erklärung</strong> auf unerkannte Handlungsbedingungen<br />

und unbeabsichtigte Handlungsfolgen zurück (vgl. Fussnote 97).<br />

112


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Je grösser nämlich die Ungewissheitszone, desto unberechenbarer ist das<br />

Handeln des Akteurs für die anderen und desto grösser bzw. vielfältiger ist in<br />

der Folge seine Macht bzw. sein Handlungsvermögen. <strong>Die</strong>s führt zu der<br />

paradoxen Situation, dass man Macht definieren kann „<strong>als</strong> die gleichzeitige<br />

Fähigkeit, (a) für die anderen relevante Probleme an ihrer Stelle zu lösen, das<br />

heisst für sie relevante Ungewissheiten an ihrer Stelle zu kontrollieren, und (b)<br />

die Bereitschaft zu eben dieser Problemlösung zu verweigern.“ (Friedberg<br />

1992, S. 42f)<br />

Obwohl Macht eine grundlegende Dimension des Handelns ist, kann sie<br />

dennoch nie voraussetzungslos mobilisiert werden, denn Akteure handeln<br />

immer in einem bereits vorstrukturierten Handlungsfeld. Macht ist <strong>als</strong>o nicht<br />

nur an Handeln, sondern immer auch an eine Struktur gebunden (vgl.<br />

Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 17). 115 Um diese Strukturen geht es im<br />

folgenden Punkt b.<br />

b) Zwang der Strukturen<br />

Nach Crozier und Friedberg gibt es kein nicht-strukturiertes Handlungsfeld<br />

(vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 18). Jedes Handeln sozialer Akteure<br />

findet stets in einem vorstrukturierten Kontext statt. Der Akteur „steht einem<br />

<strong>Handlungssystem</strong> gegenüber, das zwar ein menschliches Konstrukt und keine<br />

Notwendigkeit ist, sich aber vor und ausser ihm gebildet hat.“<br />

(Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 254) Daraus darf aber nicht der Schluss<br />

gezogen werden, dass die Strukturiertheit des Handlungsfelds, z.B. einer<br />

<strong>Organisation</strong>, einen universellen, objektiven Charakter hat. Vielmehr handelt<br />

es sich bei diesen Strukturen „um immer spezifische Lösungen, die die<br />

Menschen mit ihren jeweiligen Ressourcen und Fähigkeiten erfunden haben,<br />

um ihre Interaktion zwecks Lösung ihrer gemeinsamen Probleme zu regeln.<br />

Und <strong>als</strong> solche sind sie auch immer widerrufbar.“ (Crozier/Friedberg<br />

1993/1979, S. 18)<br />

<strong>Die</strong> Struktur eines Handlungsfelds ist <strong>als</strong>o stets kontingent und lokal. Sie ist<br />

aber auch äusserst real, indem sie die Bedingungen schafft, unter denen die<br />

Akteure miteinander interagieren können, sich die (Macht-)Beziehungen der<br />

115 Mit Lueger (1992a) könnte man sagen, dass Macht an Herrschaft gebunden ist.<br />

113


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Akteure untereinander entwickeln können. <strong>Die</strong> Struktur bildet „die Zwänge, die<br />

allen Teilnehmern auferlegt sind.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 47) 116<br />

Unter der Struktur eines Handlungsfelds verstehen Crozier und Friedberg zwar<br />

auch die formale Struktur, doch ihr wird kein unabhängiger Stellenwert<br />

beigemessen. Sie ist in den Augen <strong>von</strong> Crozier und Friedberg „nichts anderes<br />

<strong>als</strong> eine ebenso provisorische, ebenso kontingente und vor allem immer<br />

partielle Kodifizierung (Formalisierung) der Spielregeln, die sich in dem der<br />

<strong>Organisation</strong> zugrunde liegenden <strong>Handlungssystem</strong> durchgesetzt haben.“ 117<br />

(Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 65)<br />

In erster Linie geht es Crozier und Friedberg um die soziale Struktur des<br />

Handlungsfelds, das heisst um die Interaktionsstruktur. Und da Macht die<br />

Grundlage jeden Handelns ist, heisst das, dass es in der Konsequenz um die<br />

Struktur der Machtbeziehungen geht. <strong>Die</strong> Machtstruktur ist „das wirkliche<br />

Organigramm der <strong>Organisation</strong>“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 55) und der<br />

fundamentale Mechanismus der Stabilisierung menschlichen Handelns.<br />

Handeln und Struktur lassen sich <strong>als</strong>o auf ein und denselben Nenner<br />

zurückführen: Macht. Darin liegen auch die zwei widersprüchlichen Aspekte<br />

<strong>von</strong> Macht im Konzept <strong>von</strong> Crozier und Friedberg begründet. Als Strukturmacht<br />

bzw. Machtstruktur bildet sie die Zwänge des Systems, denen alle<br />

Akteure unterworfen sind, auch diejenigen aus deren Handlungen das<br />

Handlungsfeld ursprünglich entstanden ist. Als Handlungsmacht bzw. <strong>als</strong><br />

machtvolles Handeln bildet sie aber gleichzeitig auch die Grundlage der<br />

Freiheit menschlichen Handelns. Mit anderen Worten: Macht ist Zwang und<br />

Ermöglichung gleichzeitig und somit verantwortlich für den „sozial<br />

konstruierten und sozial aufrechterhaltenden Charakter jeder Struktur<br />

kollektiven Handelns, dessen Regeln zwar die Entscheidungen der Individuen<br />

steuern, dessen Erhaltung aber wiederum durch diese Entscheidungen<br />

bedingt wird.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 73)<br />

116<br />

Nach dem so genannten Thomas-Theorem ist ‚real’ keine natürliche (das heisst physische)<br />

Eigenschaft, sondern eine soziale: „If men define situations as real, they are real in their<br />

consequences“.<br />

117<br />

In einem ähnlichen Sinn bezeichnet ja auch Giddens formale organisationale Regeln auch nicht<br />

<strong>als</strong> Regeln im eigentlichen Sinn, sondern nur <strong>als</strong> „kodifizierte Interpretationen <strong>von</strong> Regeln“ (vgl.<br />

Fussnote 93).<br />

114


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Der Mechanismus, mit dem ein Handlungsfeld strukturiert und reguliert und<br />

das kollektive Handeln koordiniert und integriert wird, ohne dass die Akteure<br />

darob jedoch ihre Handlungsfreiheit verlieren, nennen Crozier und Friedberg<br />

das Spiel.<br />

c) <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> Spiel<br />

Spiele 118, 119 dienen der Koordination und Integration kollektiver Handlungen<br />

im Rahmen vorstrukturierter Handlungsfelder, so genannter <strong>Handlungssystem</strong>e.<br />

120 Sie sind „Mechanismen sozialer Organisierung“ (Empter 1988, S.<br />

187) und <strong>als</strong> solche verantwortlich bzw. konstituierend für das Entstehen und<br />

Bestehen <strong>von</strong> Ordnung. So gesehen hat eine <strong>Organisation</strong> keine Spiele,<br />

sondern sie ist ein Spiel - das sich selbst wiederum zusammensetzt aus<br />

ineinander verschränkten anderen Spielen. Wie eine <strong>Organisation</strong> funktioniert,<br />

ist letztlich das Ergebnis dieser verschachtelten Spiele.<br />

Im Spiel trifft die Freiheit der Akteure mit den Zwängen des Systems<br />

zusammen. Spiele definieren daher keine Verhaltensvorschriften im Sinne <strong>von</strong><br />

wenn ..., dann ..., sondern lediglich Spielräume (vgl. Crozier/Friedberg<br />

1993/1979, S. 66ff). <strong>Die</strong>se Spielräume sind abgesteckt durch die<br />

Beschaffenheit des Spiels (vgl. Abbildung 22), das heisst seiner Struktur. <strong>Die</strong><br />

Struktur des Spiels bestimmt sich neben den formellen organisationalen<br />

Regeln (Kodifizierungen) insbesondere aus der Gesamtheit aller impliziten<br />

Regeln, die der spezifischen Machtstruktur eines Handlungsfelds entstammen,<br />

118<br />

Der hier verwendete Spielbegriff hat nichts mit der (mathematischen) Spieltheorie zu tun, bei der<br />

es um die Lösung strategischer Optimierungsprobleme in Entscheidungssituationen geht.<br />

119<br />

Es wird auch kritisiert, dass dem Wort Spiel etwas abschätziges anhaftet, und daher dem<br />

theoretischen Gehalt des Begriffs eigentlich nicht genügt. Zumindest an einer Stelle ihres Werks<br />

verwenden Crozier und Friedberg (1993/1979, S. 248) denn auch nicht den Begriff <strong>von</strong> Spiel,<br />

sondern reden <strong>von</strong> „sozialer Praxis“. Das baut eine Brücke dazu, sich Spiele <strong>als</strong> soziale Praktiken<br />

zu denken. Damit würde der Beitrag <strong>von</strong> Crozier und Friedberg noch näher an die Theorie der<br />

Strukturierung bzw. die Sozialpsychologie des Organisierens zu rücken, in denen der Begriff der<br />

sozialen Praktiken ein zentrales Element ist (vgl. Kapitel 4.2.1.1, Punkt c und Kapitel 4.2.2.1,<br />

Punkt b).<br />

120<br />

Handlungsfelder, in denen sich das Vorhandensein und die Regulierungsweise <strong>von</strong> Spielen<br />

empirisch nachweisen lassen - <strong>als</strong>o z.B. <strong>Organisation</strong>en - nennen Crozier und Friedberg<br />

„konkrete <strong>Handlungssystem</strong>e“. <strong>Handlungssystem</strong>e können demnach definiert werden <strong>als</strong> „ein<br />

strukturiertes menschliches Gebilde, das die Handlungen seiner Angehörigen durch relativ stabile<br />

Spielmechanismen koordiniert, und seine Struktur, das heisst die Stabilität seiner Spiele und der<br />

Beziehungen zwischen diesen, durch die Regulierungsmechanismen aufrechterhält, die<br />

wiederum andere Spiele darstellen.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 172)<br />

115


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

und die Crozier und Friedberg ganz allgemein <strong>als</strong> Kultur bezeichnen (vgl.<br />

Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 111ff). 121<br />

Zwang<br />

Struktur<br />

des Systems<br />

Spielräume<br />

Handlung<br />

der Akteure<br />

116<br />

Freiheit<br />

Spiel<br />

Abbildung 22: Das Spiel <strong>als</strong> Mechanismus sozialer Organisierung<br />

<strong>Die</strong> durch die Struktur des Spiels abgegrenzten Spielräume lassen eine<br />

begrenzte Anzahl <strong>von</strong> spielbaren Handlungsstrategien zu. Unter diesen<br />

können und müssen die Akteure ihre eigene Strategie auswählen. Der Zwang<br />

des Spiels ist <strong>als</strong>o kein Zwang zu einem bestimmten Verhalten, sondern es ist<br />

der Zwang zur Wahl. Das Spiel zwingt zu wählen aus einem Set vorgegebener<br />

Möglichkeiten.<br />

Den Akteuren verbleibt stets ein Freiheitsgrad in der Form einer aktiven Wahl<br />

zwischen mehreren möglichen Strategien. Der Zwang, dem sie unterliegen, ist<br />

indirekt. Er beruht auf der Tatsache, dass - wenn sie weiterhin mitspielen<br />

wollen - sie sich den Regeln des <strong>von</strong> ihnen gespielten Spiels beugen müssen,<br />

das heisst nicht irgendeine Strategie wählen können, sondern eine, die<br />

121 Crozier und Friedberg betonen jedoch, dass sie mit dem Begriff Kultur nicht „jenes Universum<br />

fleischlos gewordener und unberührbarer Werte und Normen [meinen], die letzten Endes die<br />

beobachteten Verhaltensweisen leiten, ordnen und <strong>als</strong>o erklären. Bestehend aus einer Reihe <strong>von</strong><br />

Elementen des psychischen und geistigen Lebens, mit seinen affektiven, kognitiven,<br />

intellektuellen, relationellen Komponenten, ist sie Instrument, Fähigkeit, die die Individuen<br />

erwerben, benutzen und umformen, indem sie ihre Beziehungen und ihre Tauschverhältnisse mit<br />

den anderen ausbauen und leben. Werte, Normen und Einstellungen gehören zu dieser<br />

Gesamtheit, aber ihr Status ändert sich. Sie sind hier nur Elemente, die die Fähigkeiten <strong>von</strong><br />

Individuen und Gruppen strukturieren und <strong>von</strong> daher die individuellen und kollektiven Strategien<br />

zwar bedingen, aber nie bestimmen.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 118)


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

innerhalb des Spielraums liegt (vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 69). Denn<br />

die Möglichkeit zu kollektivem Handeln (mitspielen) ist <strong>von</strong> der Existenz und<br />

vom Fortbestand eines Handlungsfelds abhängig, und daher muss die<br />

Handlungsstrategie der Akteure stets auch einen Beitrag zum Erhalt des<br />

Handlungsfelds beinhalten - das heisst innerhalb des Spielraums liegen. Mit<br />

anderen Worten: <strong>Die</strong> Handlungen der Akteure müssen anschlussfähig an bzw.<br />

integrierbar in das Handlungsfeld sein, und so - ob sie es wollen oder nicht -<br />

zur Erhaltung der Strukturen des Systems und den Regeln des Spiels beitragen.<br />

122<br />

Aufgrund des verbleibenden Freiheitsgrads der Akteure ist das Ergebnis des<br />

Spiels, das heisst die erreichte Koordination des kollektiven Handelns bzw. die<br />

organisationale Ordnung, stets kontingent. 123 <strong>Die</strong> Spiele sind zwar immer<br />

Machtspiele, 124 aber ihre konkreten Ergebnisse sind nicht normativ ableitbar,<br />

sondern nur empirisch beobachtbar.<br />

d) Gestaltung des Spiels <strong>als</strong> kulturelle Fähigkeit<br />

<strong>Die</strong> Fähigkeit, aus dem Spielraum der Möglichkeiten eine ganz bestimmte<br />

erfolgsversprechende Handlungsstrategie zu erkennen und zu verfolgen,<br />

verstehen Crozier und Friedberg <strong>als</strong> eine „kulturelle Fähigkeit“, <strong>als</strong> so<br />

genannte „Bezugsfähigkeit“ (vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 111ff).<br />

Bezugsfähigkeiten sind jene kollektiven Kompetenzen, die die Akteure im und<br />

für das Spiel entwickeln und erwerben, um kollektives Handeln zu<br />

ermöglichen. Kollektives Handeln ist eben nicht nur Ausdruck der<br />

122<br />

Der Zwang zum Mitspielen gilt in besonderem Masse auch dann, wenn die Akteure das<br />

bestehende Spiel eigentlich gar nicht mehr mitspielen, sondern ändern wollen (z.B. in einem<br />

Wandelprojekt). Das neue Spiel kann sich nämlich nur auf der Grundlage des alten entwickeln,<br />

denn dieses stellt die einzig verfügbare Möglichkeit zu kollektivem Handeln dar. Somit ist klar,<br />

dass Wandel stets das Ergebnis eines kollektiven Prozess ist, durch den auf der Grundlage des<br />

alten Spiels die notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen für den Aufbau neuer Spiele<br />

geschaffen werden. (vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 235ff)<br />

123<br />

Durch das Vorhandensein einer Ordnung - wenn auch einer kontingenten - grenzt sich das Spiel-<br />

Konzept explizit gegen zu relativistische Konzepte ab, wie z.B. das „garbage can model“ <strong>von</strong><br />

Cohen et al. (1972).<br />

124<br />

Ortmann (1992b, S. 23f) macht darauf aufmerksam, dass es allerdings nicht nur Spiele gibt, die<br />

Machtbeziehungen darstellen, sondern auch Spiele, die „gleichsam das Negativ <strong>von</strong><br />

Machtspielen“ (mimicry) sind. In solchen Spielen wird Macht gezielt überspielt bzw. umgangen.<br />

Im Endeffekt ist aber auch das Umgehen <strong>von</strong> Macht eine indirekte Anerkennung bzw.<br />

Bestätigung und (Re-)Produktion der Machtbeziehungen. Somit hat diese Unterscheidung im<br />

konkreten Fall keine Relevanz.<br />

117


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Beschaffenheit des Systems, sondern stets auch ein Ausdruck der<br />

Bezugsfähigkeiten der involvierten Akteure. Daher sind <strong>Organisation</strong>en<br />

„Spielkonstrukte, die [nur] im Zusammenhang mit den Bezugsfähigkeiten ihrer<br />

Mitglieder fortbestehen“. (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 111f)<br />

<strong>Die</strong>se Bezugsfähigkeit basiert auf zwei Kompetenzen (vgl. Crozier/Friedberg<br />

1993/1979, S. 119): Erstens der Fähigkeit der Akteure, die sich eröffnenden<br />

strategischen Handlungsmöglichkeiten eines abgesteckten Spielraums zu<br />

entdecken, und zweitens die Fähigkeit der Akteure, die Ungewissheit, Risiken<br />

und Schwierigkeiten auf sich zu nehmen und zu ertragen, die jede Wahl einer<br />

bestimmten Handlungsstrategie aus der Menge der Möglichkeiten mit sich<br />

bringt. 125<br />

Crozier und Friedberg betonen explizit den kollektiven Charakter dieser<br />

Bezugsfähigkeit und warnen davor, Bezugsfähigkeiten zu psychologisieren<br />

und auf einzelne Individuen zu reduzieren. „<strong>Die</strong>se Fähigkeiten, die im Handeln<br />

und für es erworben und entwickelt wurden, sind untrennbar <strong>von</strong> den<br />

Strukturen, innerhalb derer sich das soziale Handeln <strong>von</strong> Individuen abspielen<br />

muss. Beide Elemente bedingen sich gegenseitig und bilden ein System.“<br />

(Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 121) Mit anderen Worten: <strong>Die</strong> Struktur<br />

bestimmt die Bezugsfähigkeiten und die Bezugsfähigkeiten bestimmen die<br />

Struktur (vgl. Abbildung 23).<br />

+/-<br />

Struktur<br />

Bezugsfähigkeiten<br />

Handlungsstrategien<br />

118<br />

+/-<br />

Spiel<br />

Abbildung 23: Ermöglichende und einschränkende Funktion der Bezugsfähigkeiten<br />

125<br />

Man könnte <strong>als</strong>o sagen, dass die Bezugsfähigkeit aus einer kognitiven und einer affektiven<br />

Fähigkeit besteht.


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Das gesagte verdeutlicht auch die doppelte Funktion der Bezugsfähigkeiten<br />

einerseits <strong>als</strong> ermöglichende, andererseits <strong>als</strong> einschränkende Funktion in<br />

einer <strong>Organisation</strong>: Im Hinblick auf die Handlungsebene ermöglichen sie<br />

einerseits die Koordination und Integration der unterschiedlichen<br />

Handlungsstrategien und so das Entstehen <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> (+), andererseits<br />

legen sie dem kollektiven Handeln Restriktionen auf (-), indem sie indirekt<br />

festlegen, was machbar ist. Im Hinblick auf die Strukturebene gewährleisten<br />

sie den Bestand bestimmter Strukturen und so die Ordnung der <strong>Organisation</strong><br />

(+), andererseits verhindern sie dadurch indirekt die Weiterentwicklung der<br />

bestehenden Strukturen bzw. die Entwicklung neuer Strukturen (-) und<br />

gefährden dadurch unter Umständen den zukünftigen Bestand der<br />

<strong>Organisation</strong> (vgl. Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 124).<br />

4.2.3.2 Relational-konstruktivistische Würdigung des<br />

Spiel-Konzepts<br />

<strong>Eine</strong> einfache und konzise Beschreibung des Spiel-Konzepts <strong>von</strong> Crozier und<br />

Friedberg zu fertigen ist nicht einfach. Neuberger (1992, S. 64) hält zu Recht<br />

fest, dass Crozier und Friedberg ein „geistreiches, aber essayistischunstrukturiertes<br />

Buch“ geschrieben haben. So ist es das Einfachste, zur<br />

abschliessenden Zusammenfassung des Spiel-Konzepts nochm<strong>als</strong> die<br />

Autoren selbst zu Wort kommen zu lassen:<br />

„Das Spiel ist das Instrument, das die Menschen entwickelt haben, um ihre<br />

Zusammenarbeit zu regeln. Es ist das wesentliche Instrument organisierten<br />

Handelns. Es vereint Freiheit und Zwang. Der Spieler bleibt frei, muss aber,<br />

wenn er gewinnen will, eine rationale Strategie verfolgen, die der Beschaffenheit<br />

des Spiels entspricht, und muss dessen Regeln beachten. Das heisst,<br />

dass er zur Durchsetzung seiner Interessen die ihm auferlegten Zwänge<br />

zumindest zeitweilig akzeptieren muss.“ (Crozier/Friedberg 1993/1979, S. 68)<br />

Mit dem Spielkonzept werfen Crozier und Friedberg ein interessantes Licht auf<br />

den Vermittlungsprozess zwischen Zwang und Freiheit bzw. zwischen Struktur<br />

und Handlung. Ohne den Zwang der Strukturen ausser Acht zu lassen, gelingt<br />

es ihnen mit dem Verweis auf die Bezugsfähigkeiten der Akteure, die<br />

Mechanismen der Vermittlung zwischen Struktur und Handlung <strong>als</strong> kollektive<br />

kulturelle Fähigkeit und Errungenschaft zu beschreiben (vgl. Abbildung 24).<br />

Ordnung ist somit kein Zustand, sondern eine Fähigkeit.<br />

119


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Signifikation Reifikation<br />

Vermittlungsfunktion<br />

Bezugsfähigkeiten<br />

der Bezugsfähigkeiten<br />

Kommunikation Artefakte<br />

120<br />

Legitimation<br />

Sanktionen<br />

Abbildung 24: Bezugsfähigkeiten <strong>als</strong> weiteres Element der Vermittlung<br />

zwischen Struktur und Handlung<br />

Das Spiel-Konzept <strong>von</strong> Crozier und Friedberg weist neben diesem zentralen,<br />

konstruktiven Beitrag aber auch ein paar Schwachstellen auf. Glücklicherweise<br />

betreffen diese Mängel alles Punkte, die mit Rückgriff auf die Theorie<br />

der Strukturierung <strong>von</strong> Giddens (vgl. Kapitel 4.2.1) bzw. die Sozialpsychologie<br />

des Organisierens <strong>von</strong> Hosking und Morley (vgl. Kapitel 4.2.2) kompensiert<br />

werden können.<br />

Nachstehend werden nun die zwei wichtigsten relational-konstruktivistischen<br />

Kritikpunkte an dem Spiel-Konzept <strong>von</strong> Crozier und Friedberg sowie ihre<br />

Behebung durch Bezüge auf die Theorie der Strukturierung bzw. die<br />

Sozialpsychologie des Organisierens besprochen.<br />

a) Quellen bzw. Struktur der Macht<br />

Crozier und Friedberg führen die Fähigkeit, Macht in sozialen Beziehungen<br />

erfolgreich mobilisieren zu können, auf die Kontrolle <strong>von</strong> vier Ungewissheitsquellen<br />

zurück (vgl. 1993/1979, S. 49ff): Verfügung über Expertenwissen,<br />

Pflege <strong>von</strong> Beziehungen zu anderen Handlungsfeldern, Kontrolle der<br />

Kommunikations- und Informationsflüsse innerhalb des Handlungsfelds,<br />

Gestaltung <strong>von</strong> organisatorischen Regeln.<br />

der Modalitäten


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Aus Sicht eines relational-konstruktivistischen Machtbegriffs, der Macht <strong>als</strong><br />

Macht-zu versteht, das heisst <strong>als</strong> die Fähigkeit, den sozialen Konstruktions-<br />

und Reifikationsprozess der organisationalen Realität zu beeinflussen, haben<br />

Crozier und Friedberg mit der Aufzählung dieser vier Quellen eindeutig zu kurz<br />

gegriffen. 126 Macht entwickelt sich nämlich nicht nur in Ungewissheitszonen,<br />

wie das Crozier und Friedberg meinen, sondern auch in Zonen der<br />

Gewissheit, so genannten Nicht-Entscheidungssituationen (vgl. Ausführungen<br />

zum Thema Macht in Kapitel 4.1.2.2, insbesondere Seite 78).<br />

Ein Vergleich mit der Theorie der Strukturierung zeigt, dass Giddens dort <strong>von</strong><br />

dem gleichen Machtbegriff ausgeht, den auch Crozier und Friedberg<br />

verwenden, jedoch zu einer viel umfassenderen Definition <strong>von</strong> Machtquellen<br />

(im Sinn <strong>von</strong> Herrschaft) gelangt, indem er die Quellen <strong>von</strong> Macht in drei<br />

Strukturdimensionen (Signifikation, Reifikation, Legitimation) 127 verortet. Im<br />

Hinblick auf diese drei Dimensionen wird deutlich, dass es noch viele andere<br />

Machtquellen geben muss, <strong>als</strong> nur gerade die vier faktischen Machtquellen,<br />

die Crozier und Friedberg aufgezählt haben. Insbesondere fehlen jegliche<br />

Machtquellen, die der Strukturdimension Signifikation oder Legitimation<br />

entspringen, das heisst definitorische Machtquellen (vgl. Kapitel 4.1.2.3).<br />

Mit dem Rückgriff auf die Strukturdimensionen <strong>von</strong> Giddens erledigt sich<br />

gleich noch eine andere Kritik an Crozier und Friedberg, nämlich diejenige,<br />

dass das Spiel-Konzept keinen präzisen Strukturbegriff habe (vgl. Ortmann<br />

1992a). <strong>Die</strong> Generalklausel, Struktur mit Machtstruktur gleichzusetzen,<br />

vermag in der Tat nicht restlos zu befriedigen. <strong>Die</strong> drei Strukturdimensionen<br />

<strong>von</strong> Giddens vermitteln eine bei weitem differenziertere Vorstellung der<br />

Struktur des Sozialen.<br />

Es stellt sich allerdings die Frage, ob es prinzipiell vertretbar ist, dem Spielkonzept<br />

<strong>von</strong> Crozier und Friedberg so einfach die Strukturdimensionen <strong>von</strong><br />

Giddens überzustülpen. Doch wenn man vergleicht, ist ja letztlich die Lösung,<br />

die Giddens respektive Crozier und Friedberg für das Problem der Vermittlung<br />

zwischen Struktur und Handlung finden, eine sehr ähnliche - obwohl sie<br />

126<br />

<strong>Eine</strong> ähnliche Kritik formulierten ebenfalls Ortmann (1995a, S. 54f), Brentel (1999, S. 276f) und<br />

Schirmer (2000, S. 197).<br />

127<br />

<strong>Die</strong> Benennung der drei Dimensionen beziehen sich nicht auf das Original <strong>von</strong> Giddens, sondern<br />

auf das in dieser Dissertation überarbeitete Konzept (vgl. Kapitel 4.2.1.2, Punkt a).<br />

121


KONTUREN EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

unterschiedliche Strukturbegriffe zugrunde legen: 128 Giddens verknüpft die<br />

beiden Begriffe in seinem Konzept der Dualität, während Crozier und<br />

Friedberg dasselbe tun mit ihrem Konzept des Spiels. Vor diesem Hintergrund<br />

scheint die vorgeschlagene Lösung vertretbar zu sein.<br />

b) Relationalität des Spiel-Konzepts<br />

Crozier und Friedberg führen die beiden Begriffe (Handlungs-)Strategie und<br />

Macht des Individuums <strong>als</strong> <strong>von</strong> Beziehungen dependente Konzepte ein, die<br />

nur in der konkreten menschlichen Interaktion Gestalt gewinnen. Beide<br />

Begriffe verlieren jedoch durch die Art und Weise, wie Crozier und Friedberg<br />

im Laufe der Beschreibung ihres Spiel-Konzepts darauf Bezug nehmen,<br />

deutlich an Relationalität (vgl. insbesondere bei Friedberg 1992).<br />

Macht wird an die Kontrolle faktischer Machtquellen gebunden und nimmt<br />

dadurch implizit die Form <strong>von</strong> Macht-über an. Strategie wird auf die Verfolgung<br />

<strong>von</strong> Eigennutzen reduziert, was eine vorgelagerte Intentionalität impliziert (und<br />

nicht erst eine ex post, wie das Crozier und Friedberg ursprünglich<br />

festgehalten haben).<br />

Es ist zu vermuten, dass Crozier und Friedberg diese Inkonsistenzen<br />

unterlaufen sind, weil sie nicht durchwegs <strong>von</strong> einer relationalen Fundierung<br />

des Individuums ausgehen, wie das aus relational-konstruktivistischer Sicht<br />

eigentlich notwendig wäre (vgl. Kapitel 4.2.2.1, Punkt a). Der Aspekt der<br />

Relationalität „<strong>als</strong> Quelle und Grundlage der Identität eines Individuums und<br />

<strong>als</strong>o seiner Fähigkeit und Möglichkeit zu existieren“ wird <strong>von</strong> Crozier und<br />

Friedberg zwar an einer Stelle erwähnt (1993/1979, S. 119), aber ist in ihrem<br />

gesamten Spiel-Konzept nicht wirklich konsequent umgesetzt, was wie gesagt<br />

am spürbarsten wird bei den beiden Begriffen Strategie und<br />

(Handlungs-)Macht.<br />

Wenn man sich die fundamentale gegenseitige Abhängigkeit der relationalen<br />

Akteure vor Augen hält, so wie sie Hosking und Morley dargelegt haben (vgl.<br />

Kapitel 4.2.2.1, Punkt a), dann muss man sofort zu einem weiteren relationalkonstruktivistischen<br />

Kritikpunkt am Spiel-Konzept <strong>von</strong> Crozier und Friedberg<br />

kommen: Er betrifft die Kontrolle der Ungewissheitszonen, über die der Akteur<br />

128<br />

Auf die Ähnlichkeit <strong>von</strong> Dualität und Spiel weisen auch Neuberger (1995, S. 215) und Empter<br />

(1988, S. 63f) hin.<br />

122


BAUSTEINE EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

seine Macht entfaltet bzw. Strategie verfolgt. Aus relational-konstruktivistischer<br />

Sicht macht es keinen Sinn, Ungewissheitszonen offen zu halten, weil die<br />

Voraussetzung des kollektiven Handelns ein gemeinsames Vorverständnis ist,<br />

das nur durch die Beseitigung der relevanten Ungewissheitszonen entstehen<br />

kann. Alle Akteure sind zur Erhaltung ihrer Handlungsfähigkeit auf die<br />

Reduktion <strong>von</strong> Mehrdeutigkeit und Ungewissheit angewiesen. 129 Aus<br />

relational-konstruktivistischer Sicht muss daher gerade der Umkehrschluss<br />

gezogen werden: Macht hat derjenige Akteur, der erfolgreich<br />

Ungewissheitszonen reduzieren kann und einer bestimmten sozialen Situation<br />

bzw. einem Problem ontologische Sicherheit verleihen kann.<br />

In den voranstehenden Kapiteln 4.2.1 bis 4.2.3 sind die drei Bausteine<br />

vorgestellt und diskutiert worden, die die theoretische Grundlage zu einer<br />

<strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> liefern. Was nun noch fehlt, ist der letzte<br />

Schritt, nämlich diese drei Bausteine zu einem Gesamtmodell zu verdichten.<br />

Das ist Aufgabe des folgenden Kapitels 5.<br />

129 Damit soll nicht gesagt sein, dass Akteure nicht auch in mikropolitischen Ränkespielen à la<br />

Bosetzky (vgl. Zitat <strong>von</strong> Ortmann Seite 73) gezielt Informationen zurückhalten, um sich so einen<br />

Vorteil zu verschaffen. Doch diese Form <strong>von</strong> Ungewissheitszone ist hier nicht gemeint.<br />

123


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

5 ORGANISATION ALS<br />

HANDLUNGSSYSTEM<br />

Aus den in Kapitel 4 diskutierten Kernbegriffen und Bausteinen soll nun in<br />

Kapitel 5 das Konzept einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> ausgearbeitet<br />

werden. Es wird zu zeigen sein, dass sich die verschiedenen theoretischen<br />

Bausteine zu einem „eleganten <strong>Erklärung</strong>sinstrument“ des Phänomens<br />

<strong>Organisation</strong> zusammenfügen lassen. Ob dieses <strong>Erklärung</strong>sinstrument auch<br />

zutrifft, ist - mit den Worten <strong>von</strong> Luhmann - „natürlich eine andere Frage.“ 130<br />

<strong>Die</strong>se wird in Teil III zu beantworten sein.<br />

5.1 Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> Konzept<br />

einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

Der zentrale Fokus einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> muss auf der<br />

Beschreibung und <strong>Erklärung</strong> der Vermittlung zwischen Struktur und Handlung<br />

liegen (vgl. Kapitel 4.1.3). Zur <strong>Erklärung</strong> und Beschreibung dieses<br />

Vermittlungsprozesses bieten alle drei in den voranstehenden Kapiteln 4.2.1<br />

bis 4.2.3 diskutierten theoretischen Bausteine eine schlüssige <strong>Erklärung</strong>. <strong>Die</strong><br />

Bausteine stammen zwar aus unterschiedlichen Wissensgebieten, sie sind<br />

jedoch untereinander kompatibel und ergänzen sich gegenseitig. Ihre<br />

Kompatibilität liegt darin begründet, dass jede der drei Theorien einen <strong>duale</strong>n<br />

Ansatz vertritt, das heisst eine integrierte <strong>Erklärung</strong> für den handlungsprägenden<br />

Charakter <strong>von</strong> Struktur und den strukturprägenden Charakter <strong>von</strong><br />

Handlung anbietet. Ausserdem ergänzen sie sich gegenseitig, weil die<br />

diskutierten Schwachstellen in der Argumentation der einen Theorie durch<br />

Bezüge aus einer anderen Theorie ausgeglichen werden können, so dass ein<br />

insgesamt kohärentes <strong>Erklärung</strong>smodell für das Phänomen <strong>Organisation</strong><br />

entsteht.<br />

130 Das Zitat ist eine Anspielung auf Luhmann, der über seine Systemtheorie einmal gesagt haben<br />

soll: „<strong>Die</strong> Theorie funktionaler Systemdifferenzierung ist ein weitreichendes, elegantes,<br />

ökonomisches <strong>Erklärung</strong>sinstrument für positive und negative Aspekte der modernen<br />

Gesellschaft. Ob sie auch zutrifft, ist natürlich eine andere Frage.“ (zitiert in: Staub-Bernasconi<br />

2000, S. 225) Genau in diesem Sinn soll in den folgenden Kapiteln das Modell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

<strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> entwickelt werden, bevor es sich dann in Teil III empirisch zu bewähren<br />

hat.<br />

124


DAS HANDLUNGSSYSTEM ALS KONZEPT EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Der Vermittlungsprozess zwischen Struktur und Handlung bzw. <strong>Organisation</strong><br />

und Individuum - das Dazwischen - wird <strong>von</strong> den in Kapitel 4.2 vorgestellten<br />

theoretischen Bausteinen unterschiedlich benannt und beschrieben. Aber<br />

dennoch ist die Ähnlichkeit dieser verschiedenen vermittelnden Dazwischen<br />

unverkennbar:<br />

• Giddens bezeichnet das Dazwischen <strong>als</strong> Strukturmodalitäten und<br />

hält fest, dass diese Strukturmodalitäten eine Vermittlungsfunktion<br />

zwischen Struktur und Handlung ausüben (vgl.<br />

Abbildung 19).<br />

• Hosking und Morley verweisen darauf, dass der Raum zwischen<br />

Individuum und <strong>Organisation</strong> durch einen kontinuierlichen<br />

Verhandlungsprozess gefüllt wird, der aus interagierenden<br />

Schlaufen <strong>von</strong> kognitiven und politischen Prozessen besteht und<br />

dessen materialisierte Ergebnisse <strong>als</strong> soziale Praktiken sicht-<br />

und beobachtbar werden (vgl. Abbildung 21).<br />

• Crozier und Friedberg nennen den Koordinations- und<br />

Integrationsprozess zwischen <strong>Organisation</strong> und Individuum bzw.<br />

zwischen Zwang und Autonomie ein Spiel, das im Rahmen der<br />

Bezugsfähigkeiten der Akteure gestaltet und entwickelt werden<br />

kann (vgl. Abbildung 24).<br />

Das Konzept einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> kann Bezüge <strong>von</strong> allen<br />

drei Vorstellungen Gewinn bringend integrieren:<br />

• <strong>Die</strong> Giddensschen Strukturmodalitäten bieten eine sinnvolle und<br />

tragfähige Konzeptualisierung dafür an, wie sich die virtuelle<br />

Kraft <strong>von</strong> Struktur in den Prozessen des Organisierens entfaltet.<br />

Sie sind das Element, das die Strukturdimension bzw. den<br />

Zwang der Strukturen in dem Prozess des Organisierens<br />

verankert.<br />

• In den Bezugsfähigkeiten der Akteure, auf die Crozier und<br />

Friedberg hinweisen, kommt die kollektive Handlungskompetenz<br />

der Akteure zum Ausdruck, das heisst das Vermögen, gestaltend<br />

und lenkend in die Prozesse des Organisierens einzugreifen. Sie<br />

sind das Element, das die Handlungsdimension bzw. die Freiheit<br />

der Akteure in dem Prozess des Organisierens verankert.<br />

125


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

• Der Verhandlungsprozess des Organisierens, so wie ihn Hosking<br />

und Morley darstellen, stellt dann letztlich die Mikro-Integration<br />

<strong>von</strong> Struktur und Handlung sicher. Im Verhandlungsprozess des<br />

Organisierens werden Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten<br />

in kollektiven kognitiven und politischen Prozessen<br />

verwoben und zu einem kontinuierlichen Strom sozialer<br />

Praktiken materialisiert.<br />

Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und Verhandlungsprozess des<br />

Organisierens sind <strong>als</strong>o die Elemente, mit denen in einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> ein theoretisch differenziertes Verständnis der Funktionsweise<br />

des Dazwischens zwischen Struktur und Handlung ausgearbeitet werden<br />

kann. Sie prägen den <strong>duale</strong>n Charakter <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einem<br />

<strong>Handlungssystem</strong> 131 (vgl. Abbildung 25).<br />

Struktur und Handlung, Zwang und Freiheit, Macht und Konsens, Stabilität und<br />

Wandel sind in diesem <strong>Handlungssystem</strong> nicht mehr Gegenbegriffe. Sie<br />

wirken vielmehr in einer „dialectic of control“ (Giddens 1997, S. 67) gleichzeitig<br />

auf die organisationalen Konstruktions- und Reifikationsprozesse und<br />

bedingen und konstituieren sich gegenseitig. Durch diese Dialectic of Control<br />

stabilisiert sich letztlich das <strong>Handlungssystem</strong> und es emergiert das<br />

Phänomen <strong>Organisation</strong>.<br />

Im Zentrum des <strong>Handlungssystem</strong>s steht der Verhandlungsprozess des<br />

Organisierens. In diesem Verhandlungsprozess werden die Bedingungen und<br />

Möglichkeiten der organisationalen Wirklichkeit ausgehandelt und materialisiert.<br />

Doch dieser Verhandlungsprozess des Organisierens entfaltet sich nicht<br />

voraussetzungslos. Er stützt sich immer ab auf das, was an Ergebnissen aus<br />

früheren Verhandlungsprozessen bereits seine Spuren hinterlassen hat. <strong>Die</strong>se<br />

Spuren werden sichtbar in den Strukturmodalitäten, auf die der Verhandlungsprozess<br />

Bezug nimmt und die in diesem Prozess aktualisiert und<br />

(re-)produziert werden. Der Verhandlungsprozess bzw. die Ergebnisse hängen<br />

jedoch auch <strong>von</strong> den Fähigkeiten der Akteure ab, diesen Prozess zu gestalten.<br />

Dabei sind diese so genannten Bezugsfähigkeiten immer <strong>als</strong> kollektive<br />

131 Der Begriff des <strong>Handlungssystem</strong>s soll diesen <strong>duale</strong>n Charakter <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> zum Ausdruck<br />

bringen. Dabei soll Handlung darauf verweisen, dass <strong>Organisation</strong> etwas ist, das <strong>von</strong> strategiefähigen<br />

Akteuren geschaffen worden ist, und System den Umstand in Erinnerung rufen, dass die<br />

Handlungsautonomie der Akteure eingeschränkt ist durch den Zwang bestehender materialisierter<br />

Strukturen.<br />

126


DAS HANDLUNGSSYSTEM ALS KONZEPT EINER DUALEN THEORIE VON ORGANISATION<br />

Errungenschaften zu verstehen, das heisst <strong>als</strong> die kulturelle Fähigkeit der<br />

Akteure, in den Verhandlungsprozess des Organisierens gestaltend und<br />

lenkend einzugreifen.<br />

Struktur<br />

Vermittlungsfunktionen<br />

Handlung Handlung Handlung<br />

Signifikation Reifikation Legitimation<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens<br />

kognitive<br />

Prozesse<br />

<strong>Handlungssystem</strong><br />

Strukturmodalitäten<br />

soziale<br />

Praktiken<br />

Bezugsfähigkeiten<br />

Kommunikation Artefakte<br />

Sanktionen<br />

127<br />

politische<br />

Prozesse<br />

Abbildung 25: Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> Konzept einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

Macht und Politik <strong>als</strong> konstitutive Elemente eines jeden sozialen Handelns<br />

(vgl. Kapitel 4.1.2.3) treten im <strong>Handlungssystem</strong> in mehrfacher Weise auf: Sie<br />

manifestieren sich virtuell in den Strukturmodalitäten und den Bezugsfähigkeiten,<br />

indem sich Macht und Politik rekursiv (re-)produzieren durch Bezugnahme<br />

auf eben diese Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten. In den<br />

kognitiven und politischen Prozessen des Verhandlungsprozess des<br />

Organisierens wirken Macht und Politik <strong>als</strong> Restriktion und Ermöglichung<br />

zugleich bei der Herstellung und Koordination der organisationalen Wirklich-<br />

Struktur Vermittlungsfunktionen<br />

Handlung


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

keit. Macht und Politik sind demnach sowohl <strong>als</strong> Mittel wie <strong>als</strong> Ergebnis einer<br />

<strong>duale</strong>n Verfertigung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> anzusehen. Sie sind die Grundlage, auf<br />

dem das <strong>Handlungssystem</strong> ruht (vgl. Abbildung 26). <strong>Organisation</strong>en sind<br />

demnach letztlich immer <strong>als</strong> machtvolle, politische Phänomene zu verstehen<br />

und auch entsprechend zu gestalten und lenken (vgl. Schlussfolgerungen und<br />

Implikationen in Kapitel 9).<br />

Macht<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens<br />

kognitive<br />

Prozesse<br />

Strukturmodalitäten<br />

soziale<br />

Praktiken<br />

Bezugsfähigkeiten<br />

128<br />

politische<br />

Prozesse<br />

Politik<br />

Abbildung 26: Macht und Politik <strong>als</strong> Grundlage des Vermittlungsprozesses zwischen<br />

Struktur und Handlung im <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>Die</strong> drei Elemente des <strong>Handlungssystem</strong>s (Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten<br />

und Verhandlungsprozess des Organisierens) werden in den<br />

folgenden Kapiteln nun näher beschrieben.


5.2 Kernelemente des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s<br />

129<br />

KERNELEMENTE DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

5.2.1 Verhandlungsprozess des Organisierens<br />

Der Verhandlungsprozess des Organisierens ist der Nukleus des Phänomens<br />

<strong>Organisation</strong> und somit der eigentliche Konstruktions- und Reifikationsprozess<br />

der organisationalen Wirklichkeit. In ihm und durch ihn werden die<br />

Bedingungen und Möglichkeiten des organisationalen Seins ausgehandelt und<br />

nimmt die organisationale Wirklichkeit ihre Form an. 132<br />

Der Verhandlungsprozess des Organisierens ist ein kollektiver Prozess. 133 Er<br />

läuft jedoch in den seltensten Fällen bewusst und explizit ab. In der Regel ist<br />

der Verhandlungsprozess ein impliziter, stummer Parallelprozess jeden<br />

kollektiven Handelns. Mehr noch: Der Verhandlungsprozess ist im Grunde<br />

konstitutiv für jedes kollektive Handeln, denn kollektives Handeln setzt einen<br />

erfolgreichen Verhandlungsprozess voraus.<br />

Im Verhandlungsprozess des Organisierens sind kollektive kognitive und<br />

politische Elemente aufs Engste miteinander verwoben. Dadurch wird die<br />

Mehrdeutigkeit der organisationalen Wirklichkeit unentwegt in eine lokale Form<br />

<strong>von</strong> Ordnung und Gewissheit transformiert, die koordiniertes Handeln<br />

überhaupt erst möglich macht (vgl. Abbildung 27).<br />

In kollektiven kognitiven Prozessen werden aus dem kontinuierlichen Strom<br />

der täglichen Ereignisse einzelne Elemente hervorgehoben. Durch ihre<br />

Wahrnehmung (sei es im praktischen oder diskursiven Bewusstsein) werden<br />

sie wahr, werden sie Teil der organisationalen Wirklichkeit. Doch die<br />

kollektiven kognitiven Prozesse generieren laufend Ausschnitte der<br />

organisationalen Wirklichkeit, die untereinander nicht zwingend konsistent sein<br />

müssen. Damit kollektives Handeln in der selbst geschaffenen organisationa-<br />

132<br />

Der Vorschlag, dass Verhandlungsprozesse das Kernelement des Organisierens sind, ist nicht<br />

neu. Strauss (1978) hat diesen Gedanken in die <strong>Organisation</strong>stheorie eingeführt. Für ihn war jede<br />

Form <strong>von</strong> sozialer Ordnung zwingend immer auch eine „negotiated order“. Aus relationalkonstruktivistischen<br />

Optik gewinnen seine Überlegungen einen neuen Gehalt und eine aktuelle<br />

Bedeutung.<br />

133<br />

<strong>Die</strong> Kollektivität gilt für alle Elemente des Verhandlungsprozesses, insbesondere auch für die<br />

kognitiven Prozesse. Kognition darf in einem relational-konstruktivistischen Bezugsrahmen nicht<br />

auf einzelne Individuen zurückgebunden werden (vgl. auch Fussnote 106).


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

len Wirklichkeit überhaupt möglich ist, müssen diese Ausschnitte darum in<br />

kollektiven politischen Prozessen fortdauernd koordiniert und integriert<br />

werden.<br />

Macht<br />

kognitive<br />

Prozesse<br />

soziale<br />

Praktiken<br />

130<br />

politische<br />

Prozesse<br />

Abbildung 27: Verhandlungsprozess des Organisierens<br />

Politik<br />

Es versteht sich, dass Politik und Macht integrale Bestandteile des<br />

Verhandlungsprozesses des Organisierens sind. Ohne sie wären erfolgreiche<br />

kognitive und politische Prozesse undenkbar. Macht, bzw. die Fähigkeit zur<br />

sozialen Wirklichkeitsdefinition, steht am Anfang aller kognitiven Prozesse.<br />

Ohne Macht wären wir nicht dazu in der Lage, aus dem kontinuierlichen Fluss<br />

der Alltagsereignisse spezifische Elemente hervorzuheben und ins Bewusstsein<br />

zu bringen. Politik, bzw. die Fähigkeit zur sozialen Koordination und<br />

Integration, ist die Grundvoraussetzung für erfolgreiche politische Prozesse.<br />

Ohne Politik gäbe es keinen Konsens über die lokale Ordnung und somit keine<br />

kollektive Wirklichkeit.<br />

Der Verhandlungsprozess des Organisierens ist ein rekursiver Prozess. Was<br />

in den kollektiven kognitiven Prozessen hervorgehoben wird, ist nicht zufällig,<br />

sondern hängt immer auch <strong>von</strong> den Koordinations- und Integrationsergebnissen<br />

früherer politischer Prozesse ab. Umgekehrt können in den<br />

politischen Prozessen nur diejenigen Elemente organisationaler Wirklichkeit<br />

verarbeitet werden, die in kollektiven kognitiven Prozessen zuvor ins<br />

(praktische oder diskursive) organisationale Bewusstsein gelangt sind.<br />

Kognitive und politische Prozesse bedingen sich <strong>als</strong>o gegenseitig. Man sollte<br />

sie deshalb besser nur <strong>als</strong> analytisch zu unterscheidende denn <strong>als</strong> zwei<br />

getrennte, unterschiedliche Prozesse verstehen.<br />

Als Ergebnis der kognitiven und politischen Prozesse werden soziale<br />

Praktiken der <strong>Organisation</strong> herausgebildet, das heisst routinisierte (bzw.


131<br />

KERNELEMENTE DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

stabilisierte) Kommunikations- und Interaktionsformen. <strong>Die</strong> sozialen Praktiken<br />

sind aber nicht nur das sichtbare, materialisierte Ergebnis des Verhandlungsprozesses<br />

des Organisierens - sie sind ebenfalls Mittel und Treiber der<br />

kollektiven kognitiven und politischen Prozesse. Daher wirken herrschende<br />

soziale Praktiken ermöglichend, aber auch einschränkend, auf den<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens. Als Ergebnis früherer Verhandlungsprozesse<br />

engen sie den Möglichkeitsraum des Organisierens ein, sind aber<br />

zugleich auch (einziges) Mittel und Treiber für jegliche zukünftige<br />

Verhandlungsprozesse des Organisierens.<br />

Der Verhandlungsprozess des Organisierens entfaltet sich nie<br />

voraussetzungslos. Er stützt sich stets ab auf bereits vorhandene Strukturen,<br />

die in Form <strong>von</strong> Strukturmodalitäten den Verhandlungsprozess ebenso<br />

ermöglichen wie einschränken.<br />

5.2.2 Strukturmodalitäten des Organisierens<br />

<strong>Die</strong> Strukturmodalitäten sind Sedimente vergangener erfolgreicher<br />

Verhandlungsprozesse des Organisierens und stecken den Rahmen, das<br />

heisst den Möglichkeitsraum des Phänomens <strong>Organisation</strong>, ab. Der<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens läuft innerhalb dieses Möglichkeitsraums<br />

ab und greift gleichzeitig auf die Struktur zurück, die die<br />

Strukturmodalitäten diesem Raum bieten. So sind die Strukturmodalitäten des<br />

Organisierens Ermöglichung und Zwang zugleich.<br />

<strong>Die</strong> Strukturmodalitäten lassen sich gemäss den drei Strukturdimensionen<br />

Signifikation, Reifikation und Legitimation unterscheiden in interpretative<br />

Schemata, Ressourcen und Normen (vgl. Abbildung 28):<br />

• interpretative Schemata<br />

Interpretatiave Schemata schaffen eine kognitive Ordnung<br />

(Signifikation) im Verhandlungsprozess des Organisierens. Sie<br />

regeln, wie die Welt üblicherweise wahrgenommen und die<br />

hevorgehobenen Ereignisse interpretiert werden.<br />

• Ressourcen<br />

Allokative und autoritative Ressourcen gestalten die faktische<br />

Ordnung (Reifikation) im Verhandlungsprozess des<br />

Organisierens. Durch sie wird die soziale Wirklichkeit in eine<br />

physische Erscheinungsform verpackt und dadurch beherrschbar<br />

gemacht.


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

• Normen<br />

Normen regeln die normative Ordnung (Legitimation) des<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens. Sie stecken die<br />

Geltungsansprüche der organisationalen Wirklichkeit ab und<br />

lieferen dem kollektiven Handeln seine objektivierte normative<br />

Rechtfertigung.<br />

Signifikation Reifikation<br />

interpretative<br />

Schemata<br />

Ressourcen<br />

132<br />

Legitimation<br />

Normen<br />

kognitive Ordnung faktische Ordnung<br />

normative Ordnung<br />

• Wahrnehmungsmuster<br />

• <strong>Organisation</strong>svokabular<br />

• Visionen und Leitbilder<br />

Interpretative Schemata<br />

legen der Wirklichkeit eine<br />

sinnhafte Ordnung auf. Sie<br />

lenken, wie Wirklichkeit<br />

wahrgenommen, kategorisiert<br />

und strukturiert wird.<br />

• Aufbau- und Ablauforganisation<br />

• Planungs- und<br />

Entscheidungsrichtlinien<br />

• Ausstattung des Arbeitsplatzes<br />

(Infrastruktur,<br />

räumliche Gestaltung)<br />

• Finanzen<br />

• Technik<br />

• Rohstoffe und Materialien<br />

Ressourcen verleihen der<br />

Wirklichkeit einen dinglichen<br />

Ausdruck und ermöglichen<br />

gleichzeitig die Kontrolle und<br />

Verfügungsgewalt über die<br />

derart geschaffene Wirklichkeit.<br />

• organisationale Regeln<br />

• gesellschaftliche Werte<br />

• rechtliche Normen<br />

Normen unterlegen der<br />

Wirklichkeit eine moralische<br />

Wertung und liefern damit<br />

die Legitimationsbasis für<br />

jedes Tun oder Lassen im<br />

Rahmen dieser Wirklichkeit.<br />

Abbildung 28: <strong>Die</strong> drei Dimensionen <strong>von</strong> Strukturmodalitäten<br />

<strong>Die</strong> Einteilung der Strukturmodalitäten in eine kognitive, normative und<br />

faktische Dimension ist jedoch rein analytisch und keinesfalls trennscharf. <strong>Die</strong><br />

drei Dimensionen bedingen sich auch gegenseitig. So wirkt beispielsweise die<br />

faktische Ordnung aufmerksamkeitslenkend für die interpretativen Schemata<br />

der kognitiven Ordnung. Und die normative Ordnung legt der faktischen<br />

Ordnung klare Regeln und Grenzen auf.<br />

Strukturmodalitäten schaffen aber nicht nur die kognitive, normative und<br />

faktische Ordnung, nach denen sich der Verhandlungsprozess des


133<br />

KERNELEMENTE DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Organisierens organisiert, sie werden auch laufend durch diesen<br />

Verhandlungsprozess bestätigt und erneuert. Demnach haben<br />

Strukturmodalitäten immer nur eine virtuelle Kraft bzw. Wirkung. Den<br />

vermeintlichen Zwang, den sie ausüben, können sie nur deshalb entfalten,<br />

weil die Existenz und Gültigkeit der Modalitäten in den Verhandlungsprozessen<br />

des Organisierens ungefragt vorausgesetzt werden. <strong>Die</strong> Strukturmodalitäten<br />

sind die „taken-for-granteds“ des Verhandlungsprozesses des<br />

Organisierens, das heisst sie stellen die Erwartungsgeneralisierungen der<br />

sozialen Akteure dar.<br />

<strong>Die</strong> Strukturmodalitäten sind alle immer gleichzeitig und überall präsent im<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens. Es wäre viel zu verkürzt,<br />

interpretative Schemata nur dem kognitiven Prozess, Normen nur dem<br />

politischen Prozess und die faktische Ordnung nur den sozialen Praktiken zu<br />

unterlegen. In jeder Phase und in jedem Moment des Verhandlungsprozesses<br />

des Organisierens wirken alle drei Strukturmodalitäten gleichzeitig und<br />

gleichwertig.<br />

<strong>Die</strong> Strukturmodalitäten üben aber keinen absoluten Zwang aus. Sie lassen<br />

immer einen Spielraum offen, der <strong>von</strong> den sozialen Akteuren genutzt werden<br />

kann. Wie dieser Spielraum genutzt wird, hängt im Wesentlichen <strong>von</strong> der<br />

kollektiven Handlungskompetenz, den so genannten Bezugsfähigkeiten, der<br />

Akteure ab.<br />

5.2.3 Bezugsfähigkeiten des Organisierens<br />

Crozier und Friedberg (1993/1979) haben darauf aufmerksam gemacht, dass<br />

Bezugsfähigkeiten wichtige Elemente des Prozess des Organisierens sind. 134<br />

Sie haben damit die Vermittlung zwischen Struktur und Handlung um eine<br />

weitere und zentrale Facette erweitert: Neben den Strukturmodalitäten spielen<br />

nun auch kollektive Fähigkeiten, Bezugsfähigkeiten genannt, eine wichtige<br />

Rolle.<br />

134 Der Begriff der Fähigkeiten lässt an den Capabilities-Diskurs der Resource-Based-View der<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie denken (vgl. z.B. Ulrich/Lake 1991; Collis 1994; Teece/Pisano/et al. 1997;<br />

Eisenhardt/Martin 2000; Leonard-Barton 1992). In der Tat sind Bezugsfähigkeiten diesen<br />

dynamic capabilities verwandt. Beides sind kollektive Fähigkeiten und umfassen jeweils ein<br />

ganzes Set <strong>von</strong> Fähigkeiten, wobei es dabei ebenso auf die einzelnen Fähigkeiten wie auf deren<br />

Zusammenspiel und die situative Einbettung bzw. historische Entwicklung ankommt.


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

Ausser der ausdrücklichen Betonung, dass Bezugsfähigkeiten kollektive<br />

kulturelle Fähigkeiten sind, haben Crozier und Friedberg dieses entscheidende<br />

Element im Verhandlungsprozess des Organisierens nicht näher konkretisiert.<br />

Wir können uns darunter eine Form <strong>von</strong> kollektiver Handlungskompetenz<br />

vorstellen.<br />

<strong>Die</strong> drei Handlungsdimensionen Kommunikation, Artefakte und Sanktionen<br />

liefern einen geeigneten Raster, entlang dem die Bezugsfähigkeiten <strong>von</strong><br />

Crozier und Friedberg weiter ausgearbeitet werden können. So wie die drei<br />

Strukturdimensionen zu drei Kategorien <strong>von</strong> Strukturmodalitäten führen (vgl.<br />

Abbildung 28), müssen sich aus den drei Handlungsdimensionen auch drei<br />

unterschiedliche Kategorien <strong>von</strong> Bezugsfähigkeiten ableiten lassen (vgl.<br />

Abbildung 29).<br />

Kommunikation Artefakte<br />

(Re-)Konstruktion<br />

Routinisierung<br />

134<br />

Sanktionen<br />

Rationalisierung<br />

generative Fähigkeit gestalterische Fähigkeit<br />

selektive Fähigkeit<br />

• Vernetzung<br />

• Vielfalt, Optionen<br />

• Mehrdeutigkeit<br />

• multiple Szenarien<br />

• multiple Auffassungen<br />

• Komplexität erhalten<br />

• verzetteln<br />

• Ziellosigkeit<br />

<strong>Die</strong> Fähigkeit zur (Re-)<br />

Konstruktion zeigt sich in:<br />

• diskursiven Praktiken<br />

• Diskussionsplattformen<br />

• Begegnungsstätten<br />

• Verdinglichung<br />

• Vergewisserung<br />

• Kontinuität<br />

• Kontrolle und Zwang<br />

• Schutz und Entlastung<br />

• Referenzpunkt<br />

• repetitiv<br />

• sinnentleert<br />

<strong>Die</strong> Fähigkeit zur<br />

Routinisierung zeigt sich in:<br />

• Geschäftsprozessen<br />

• Verfahren<br />

• Instrumenten/Tools<br />

• Grenzen ziehen<br />

• Identität<br />

• Integration<br />

• Gewissheit<br />

• Verbindlichkeit<br />

• Komplexität reduzieren<br />

• Rigidität<br />

• festgefahren<br />

<strong>Die</strong> Fähigkeit zur<br />

Rationalisierung zeigt sich in:<br />

• Führungsprozessen<br />

• Entscheidungsprozessen<br />

• Planungsprozessen<br />

Abbildung 29: <strong>Die</strong> drei Dimensionen <strong>von</strong> Bezugsfähigkeiten<br />

<strong>Die</strong> drei Bezugsfähigkeiten werden in den folgenden Abschnitten einzeln kurz<br />

beschrieben. Insgesamt müssen folgende Anmerkungen vorausgeschickt<br />

werden: Bezugsfähigkeiten repräsentieren die Handlungskompetenz der


135<br />

KERNELEMENTE DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Akteure. Sie stellen die Anschlussfähigkeit des kollektiven Handelns sicher.<br />

<strong>Die</strong> drei Bezugsfähigkeiten gehören zusammen und sind nur analytisch<br />

trennbar. Sie ergänzen und stabilisieren sich gegenseitig (vgl. Abbildung 30).<br />

Im Verhandlungsprozess des Organisierens sind immer alle drei<br />

Bezugsfähigkeiten gleichzeitig und gleichwertig am Werk - wenn auch<br />

vielleicht nicht stets gleichgewichtig. Das heisst, es kann Momente oder<br />

Phasen im Verhandlungsprozess des Organisierens geben, in denen<br />

bestimmte Bezugsfähigkeiten eine grössere Rolle spielen <strong>als</strong> andere.<br />

Routinisierung<br />

umsetzen, in den Alltag<br />

integrieren, automatisieren<br />

(Re-)Konstruktion<br />

Mix und Zusammenspiel<br />

der Bezugsfähigkeiten<br />

entscheiden, planen<br />

Ressourcen bereitstellen<br />

innovative Ideen,<br />

Zukunftschancen,<br />

Handlungsmöglichkeiten<br />

Rationalisierung<br />

Abbildung 30: Mix und Zusammenspiel der Bezugsfähigkeiten<br />

Daraus kann aber keinesfalls geschlossen werden, dass diese Bezugsfähigkeiten<br />

wichtiger sind <strong>als</strong> andere. Es kommt auf die Zusammensetzung an.<br />

Nur ein ausgewogener Mix aller drei Bezugsfähigkeiten vermag die ebenfalls<br />

vorhandenen negativen Seiten der einzelnen Bezugsfähigkeiten aufzuwiegen.<br />

Es gibt aber auch kein Optimum der Zusammensetzung. Was <strong>als</strong> ausgewogen<br />

gilt, ist nur situativ zu beurteilen. Ebenso wichtig wie der ausgewogene Mix ist<br />

nämlich auch das spontane, fliessende Zusammenspiel 135 der drei<br />

Bezugsfähigkeiten (vgl. Abbildung 30).<br />

135 Damit könnte die Gefahr bestehen, dass Bezugsfähigkeiten genau wie die dynamic capabilites in<br />

den Verdacht einer endlosen Regression gelangen (vgl. Collis 1994): Da die Bezugsfähigkeiten<br />

alleine nicht genügen, braucht es auch eine Fähigkeit, die das Zusammenspiel der Bezugsfähig-<br />

[Forts.]


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

a) (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />

Im Lichte der Handlungsdimension Kommunikation ist mit Bezugsfähigkeit die<br />

Fähigkeit zur diskursiven (Re-)Konstruktion gemeint. Das ist eine generative<br />

Fähigkeit, das heisst die Fähigkeit, in der sozialen Wirklichkeit durch<br />

diskursive Praktiken neue bzw. bestehende Bedeutungen, Zusammenhänge<br />

und Perspektiven zu schaffen bzw. zu bestätigen. Zur (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />

gehört das diskursive Vermögen, mit Komplexität und Mehrdeutigkeit<br />

umzugehen - mehr noch: Komplexität und Vieldeutigkeit überhaupt erst zu<br />

generieren. Vergangene Ereignisse erhalten neue, ungewohnte Interpretationen,<br />

zukünftige Entwicklungspfade öffnen sich, alternative Handlungsmöglichkeiten<br />

rücken ins Blickfeld. (Re-)Konstruktionsfähigkeit zeichnet sich<br />

ferner dadurch aus, dass multiple Zukunftsszenarien entwickelt und<br />

unterschiedliche Handlungsstränge parallel verfolgt werden können.<br />

Vergangenes wird lose mit Zukünftigem verknüpft. Es wird spielerisch<br />

ausprobiert. <strong>Die</strong> (Re-)Konstruktionsfähigkeit ist die Kunst, Optionen zu<br />

schaffen und offen zu halten, Möglichkeiten zu erkennen und sich anzupassen,<br />

in Bewegung zu bleiben, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren.<br />

<strong>Die</strong>se generative Fähigkeit kann natürlich auch negative Auswirkungen haben.<br />

Man kann sich in der Fülle der Möglichkeiten verlieren. Man kann alles in der<br />

Schwebe halten und nie zum abschliessenden Entscheid kommen. Man kann<br />

seine eigenen Gedanken mit immer neuen eigenen Gedanken hinterfragen<br />

und so nie Klarheit finden.<br />

<strong>Die</strong> (Re-)Konstruktionsfähigkeit lebt vom Diskurs, vom sozialen Austausch.<br />

Überall, wo kollektives sensemaking abläuft, da lässt sich<br />

(Re-)Konstruktionsfähigkeit entdecken, z.B. in Diskussionsrunden, Kaffeepausen,<br />

Brainstorming-Sequenzen, Grossgruppen-Veranstaltungen oder<br />

Sitzungen.<br />

keiten regelt. Doch diese Fähigkeit ist selbst auch situativ und dynamisch. Deswegen braucht es<br />

eine Fähigkeit, die die Fähigkeit zum Zusammenspiel regelt. <strong>Die</strong>se Fähigkeit muss selbstverständlich<br />

ihrerseits wiederum situativ und dynamisch sein, deswegen... <strong>Die</strong>ser endlose<br />

Regress kann nur gebrochen werden, wenn auf die implizite Kausalität verzichtet wird, die hinter<br />

dieser Argumentation liegt. Es gibt keine ‚Ur-Suppe’, aus der die Bezugsfähigkeiten ihren Anfang<br />

nehmen und sich entwickeln. Es gibt keine Fähigkeit, die das Zusammenspiel der Bezugsfähigkeiten<br />

regelt. Das Zusammenspiel sind die Bezugsfähigkeiten selbst. Bezugsfähigkeiten sind<br />

selbstreferenzierende Fähigkeiten. Sie beziehen sich nur auf sich selbst und nicht auf irgendwelche<br />

Meta-Fähigkeiten. Das Zusammenspiel der Bezugsfähigkeiten ist stets kontingent und<br />

ebenso ein zufälliges wie vorstrukturiertes Ergebnis. Damit erübrigt sich die Suche nach der<br />

endgültigen Meta-Fähigkeit, die tatsächlich nur in einem endlosen Regress münden kann.<br />

136


137<br />

KERNELEMENTE DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

b) Routinisierungsfähigkeit<br />

In der Perspektive der Handlungsdimension Artefakte entsprechen die<br />

Bezugsfähigkeiten der Routinisierungsfähigkeit. Damit ist die Fähigkeit<br />

gemeint, (soziale) Prozesse, Verfahren und Instrumente zu routinisieren, das<br />

heisst zu formalisieren und zu standardisieren. Es handelt sich <strong>als</strong>o um eine<br />

gestalterische Fähigkeit. Sie sichert den Bestand und den kontinuierlichen<br />

Vollzug der sozialen Wirklichkeit, indem sie dieser Wirklichkeit eine<br />

gegenständliche Form gibt. <strong>Die</strong> Routinisierung setzt Referenzpunkte der<br />

Gültigkeit und dadurch erübrigt sich die Notwendigkeit der laufenden<br />

Vergewisserung und Bestätigung dessen, was gilt und richtig ist. Sie hat damit<br />

eine entlastende Funktion für den sozialen Alltag. Gleichzeitig schaffen<br />

Referenzpunkte auch eine Kontrollmöglichkeit und einen gewissen Zwang, der<br />

die Koordination und Integration der sozialen Wirklichkeit erleichtert.<br />

<strong>Die</strong> negative Seite der Routinisierungsfähigkeit kommt in sinnentleerten,<br />

veralteten Abläufen und Verfahren zum Ausdruck, die schon längst in keinem<br />

Zusammenhang mehr mit der aktuellen sozialen Wirklichkeit stehen. Sie kann<br />

sich aber auch in Widerstand gegen Neues, gegen Veränderung äussern.<br />

<strong>Die</strong> Fähigkeit zur Routinisierung kommt überall dort zum Tragen, wo es um die<br />

repetitive Koordination und Integration <strong>von</strong> sozialen Prozessen geht: bei der<br />

Gestaltung <strong>von</strong> Geschäftsprozessen, in Verfahren und Instrumenten oder in<br />

Sitzungen.<br />

c) Rationalisierungsfähigkeit 136<br />

Aus der Sicht der Handlungsdimension Sanktionen nehmen die Bezugsfähigkeiten<br />

die Form <strong>von</strong> Rationalisierungsfähigkeiten an. Das ist eine<br />

selektive Fähigkeit, die auf Restriktion basiert. <strong>Die</strong> Rationalisierungsfähigkeit<br />

wählt soziale Wirklichkeit aus und grenzt sie ein. Sie reduziert die Komplexität<br />

und Optionenvielfalt. Aus dem Bereich dessen, was möglich und denkbar ist,<br />

hebt die Rationalisierungsfähigkeit das hervor, was (scheinbar objektiv)<br />

machbar und richtig ist. Dadurch schafft sie Klarheit, Ziele und Identität, und<br />

sie sichert Gewissheit, Konsens und Kontinuität. Kollektives Handeln wird der<br />

136 Rationalisierung ist hier nicht im betriebswirtschaftlichen Sinn (Effizienzsteigerung), sondern in<br />

einem kognitiven Sinn gemeint. Rationalisierung will zum Ausdruck bringen, dass es hier um die<br />

kollektive Verfertigung <strong>von</strong> guten Gründen und um die soziale Entstehung <strong>von</strong> Normen und<br />

Werten geht.


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

Zufälligkeit entrissen dadurch, dass ihm Intentionen und Kausalitäten<br />

unterstellt werden. Rationalisierungsfähigkeit ist demnach <strong>als</strong>o die<br />

„Verursachung <strong>von</strong> Ursachen“ (Ridder 1979, S. 20). Kollektives Handeln wird<br />

dadurch planbar und kann - ja muss sogar - jederzeit argumentativ<br />

gerechtfertigt werden. Das ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Handeln<br />

überhaupt eine Gewissheit und Kontinuität erhält und dadurch einforderbar<br />

und sanktionierbar wird.<br />

Aber auch die Rationalisierungsfähigkeit hat negative Seiten. Was einmal das<br />

(zufällige) Ergebnis einer Wahl war, wird zum voraussetzungslosen Objekt,<br />

das raum- und zeitunabhängige Gültigkeit hat. Doch die Sicherheit und<br />

Kontinuität, die die Rationalisierungsfähigkeit schafft, ist eine trügerische, denn<br />

andere Wirklichkeiten werden zwar ausgeblendet, sind deshalb aber nicht<br />

unmöglich. Es kann jederzeit und überraschend anders sein oder kommen.<br />

<strong>Die</strong> Rationalisierung gelingt ausserdem nur auf Kosten <strong>von</strong> Komplexität und<br />

Flexibilität, denn sie schränkt die Möglichkeiten ein, kontinuierlich neue<br />

Möglichkeiten auszuwählen bzw. auszuschliessen.<br />

Rationalisierungsfähigkeit kommt überall dort zum Tragen, wo es um Ziele,<br />

Beurteilungen und Entscheide geht. Resultate, Ereignisse, Schlussfolgerungen<br />

etc. sind alles Ergebnisse der Rationalisierungsfähigkeit und ohne sie<br />

nicht denkbar.<br />

5.3 Zusammenfassung:<br />

<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong><br />

Der Ruf nach einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> ist aus der Notwendigkeit<br />

entstanden, ein theoretisches Konzept zu finden, das dazu in der Lage ist, das<br />

Phänomen <strong>Organisation</strong> zu beschreiben und zu erklären, ohne dabei auf die<br />

althergebrachten Entweder-oder-Konzepte der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

zurückzugreifen (vgl. Einleitung zu Kapitel 4). Sie sucht eine Antwort<br />

auf die Frage, wie gleichzeitig und gleichwertig sowohl die Strukturiertheit <strong>als</strong><br />

auch die Strukturierung des Phänomens <strong>Organisation</strong> theoretisch<br />

angemessen gefasst werden können.<br />

<strong>Die</strong> Antwort, die die vorliegende Dissertation vorschlägt, liegt darin, sich auf<br />

den Zwischenraum zu konzentrieren, der zwischen Struktur und Handlung,<br />

zwischen Freiheit und Zwang, zwischen Macht und Konsens, zwischen<br />

Stabilität und Wandel liegt. <strong>Die</strong>ses Dazwischen wird in der Metapher <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> zum Ausdruck gebracht. Der Begriff<br />

138


ZUSAMMENFASSUNG: ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

<strong>Handlungssystem</strong> vereint in sich die beiden wichtigsten (Gegen-)Positionen<br />

der traditionellen <strong>Organisation</strong>stheorie (vgl. Fussnote 131) und verleiht ihnen<br />

einen neuen Sinngehalt. <strong>Die</strong> Aufmerksamkeit liegt nicht mehr auf den<br />

entgegengesetzten Polen, sondern auf dem Zwischenraum, der sich zwischen<br />

ihnen aufspannt.<br />

In diesem Zwischenraum entfaltet sich der gesamte organisationale<br />

Möglichkeitsraum. Das bedeutet, dass sich <strong>Organisation</strong> nicht vorhersagbar<br />

entlang einem (mehr oder weniger breiten) Entwicklungspfad bewegt.<br />

Vielmehr lassen sich im Möglichkeitsraum immer eine Vielzahl möglicher<br />

Pfade einschlagen. Manche da<strong>von</strong> mögen wahrscheinlicher sein <strong>als</strong> andere,<br />

aber denkbar sind alle.<br />

<strong>Organisation</strong> kann inmitten dieser Vielfalt an Möglichkeiten ihre Handlungsfähigkeit<br />

nur dadurch erhalten, dass sie die Vielfalt an Möglichkeiten<br />

einschränkt. Auf diesen Umstand ist in der neueren <strong>Organisation</strong>stheorie<br />

verschiedentlich hingewiesen worden, so zum Beispiel <strong>von</strong> Baecker (1994, S.<br />

13; 1999, S. 69), der da<strong>von</strong> spricht, dass <strong>Organisation</strong>en hochselektiv sein<br />

müssen, um handlungsfähig zu sein. Auch Crozier und Friedberg (1993/1979,<br />

S. 20) haben genau darauf abgezielt, wenn sie im Vorwort ihres Buch darauf<br />

hinweisen, dass die „zur Erweiterung der Freiräume, der Autonomie und der<br />

Initiativemöglichkeiten der Individuen notwendige Veränderung unserer<br />

kollektiven Handlungsweisen keineswegs weniger, sondern im Gegenteil mehr<br />

Organisierung im Sinne <strong>von</strong> bewusster Strukturierung der Handlungsfelder<br />

voraussetzt.“<br />

<strong>Die</strong> Strukturierung der organisationalen Handlungsfelder, die Crozier und<br />

Friedberg verlangen, hängt nicht zwingend <strong>von</strong> kunstvollen formellen<br />

<strong>Organisation</strong>sstrukturen ab, denn sie ist immer schon da. Der organisationale<br />

Möglichkeitsraum ist nämlich nicht leer und unstrukturiert, sondern gefüllt und<br />

vorstrukturiert durch Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten, die in<br />

kontinuierlichen Verhandlungsprozessen des Organisierens miteinander<br />

verwoben und (re-)produziert werden und so den Möglichkeitsraum fortlaufend<br />

neu strukturieren.<br />

<strong>Die</strong>se kontinuierliche Strukturierung und Strukturiertheit des Möglichkeitsraumes<br />

ist jedoch nicht ein rein zufälliges Ergebnis, sondern folgt einer<br />

eigenen Logik, einer eigenen Dynamik. <strong>Die</strong> Dynamik, die sich in diesem<br />

Prozess der Strukturierung und Strukturiertheit entfaltet, wird getrieben <strong>von</strong><br />

einer Dialectic of Control - einer gegenseitigen Beeinflussung und Abhängig-<br />

139


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

keit - die sich zwischen Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens auftut. <strong>Die</strong>se Dialectic of Control hat<br />

keine universelle Steuerungslogik, und sei sie auch noch so ausgeklügelt und<br />

differenziert. Sie ist historisch-situativ und einzigartig und zeigt sich in jeder<br />

<strong>Organisation</strong> neu und anders. Dennoch produziert sie organisationale<br />

Wiederholungsmuster. Weick (1995, S. 255) nennt das eine „Gewohnheitsvermaschung“<br />

und Ortmann (1995a, S. 40) spricht vom „Schneeball-Effekt“<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>: <strong>Organisation</strong> kann sich (fast) nur in vorgezeichneten<br />

Bahnen bewegen, es gibt (fast) keinen Weg zurück und (fast) keine<br />

Möglichkeit zu stoppen. Um <strong>Organisation</strong> zu verstehen empfiehlt Ortmann<br />

(1995a, S. 69) deshalb: „cherchez la structure!“, das heisst die strukturellen<br />

Handlungsbedingungen der Prozesse des Organisierens.<br />

Das Konzept <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einem <strong>Handlungssystem</strong> liefert genau eine<br />

solche Beschreibung und <strong>Erklärung</strong> dieser strukturellen Handlungsbedingungen<br />

und ihrer rekursiven Wirkungsweise. Das <strong>Handlungssystem</strong> ist<br />

die in Kapitel 3.3 geforderte theoretische Brille, mit denen die latenten<br />

Strukturen <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> sichtbar gemacht werden können.<br />

<strong>Die</strong> Handlungsbedingungen sind eine Mischung aus Strukturmodalitäten<br />

(Erwartungsgeneralisierungen) und Bezugsfähigkeiten (kollektive Handlungskompetenz),<br />

die sowohl Mittel wie Ergebnis des Verhandlungsprozesses des<br />

Organisierens sind. <strong>Die</strong> Wirkungsweisen <strong>von</strong> Strukturmodalitäten und<br />

Bezugsfähigkeiten können jedoch nicht aus einem statischen Blickwinkel<br />

heraus verstanden werden. Nur wenn sie aus der Bewegung des<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens heraus beobachtet und erklärt<br />

werden, kann man sich daraus einen Reim machen. Das <strong>Handlungssystem</strong> ist<br />

eben kein Strukturmodell, sondern eine Prozessbeschreibung <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong>. <strong>Die</strong>se Prozessbeschreibung verfertigt ein rekursives Bild <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong>, in dem <strong>Organisation</strong> sowohl das Mittel wie das Ergebnis der<br />

Prozesse des Organisierens ist (vgl. Abbildung 31).<br />

140


Macht<br />

so ist die Welt ... das können wir tun ...<br />

<strong>Organisation</strong><br />

ZUSAMMENFASSUNG: ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

Signifikation Reifikation<br />

interpretative<br />

Schemata<br />

Ressourcen Normen<br />

Mittel kognitive soziale politische Ergebnis<br />

Prozesse Praktiken Prozesse<br />

(Re-)Konstruktion Routinisierung Rationalisierung<br />

Kommunikation Artefakte<br />

141<br />

Legitimation<br />

Sanktionen<br />

Abbildung 31: Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong> rekursive Erzeugung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

so ist die Welt ...<br />

<strong>Organisation</strong><br />

das können wir tun ...<br />

Politik<br />

Aufgrund dieser Rekursivität <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> kann das Konzept des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s nie eine detailscharfe Repräsentation <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

vermitteln, sondern immer nur ein „unordentliches Bild“ (Ortmann 1995a,<br />

S. 35). Damit ist auch gesagt, dass es im Phänomen <strong>Organisation</strong> keine (exante)-Gewissheit,<br />

sondern nur eine (ex-post)-Erfahrungskumulation gibt. Wohl<br />

wirkt sich die Routinisierung und Reifikation der Prozesse des Organisierens<br />

im Sinne materialisierter, repetitiver sozialer Praktiken, Verfahren und<br />

Instrumente in einer gewissen Beständigkeit aus - aber diese Stabilität ist<br />

eben nur eine vermeintliche. Man kann zwar durch Erfahrung wissen, was<br />

man in etwa zu erwarten hat, aber man darf sich nicht restlos und unreflektiert<br />

darauf verlassen.<br />

Doch gerade dieses unordentliche Bild vermittelt ein angemessenes<br />

Verständnis <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, weil es in <strong>Organisation</strong>en trotz allem Ringen um<br />

Ordnung eben immer einen Restteil Unordnung geben wird - oder wie Clauss<br />

sagt: „Der moderne Plan, eine übersichtliche und damit sichere Welt zu


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM<br />

gestalten, kann niem<strong>als</strong> vollendet werden: das ‚Unfertige’ ist Dauerzustand,<br />

und damit erweist sich die Herstellung <strong>von</strong> Ordnung <strong>als</strong> Illusion.“ (1997, S.<br />

131) <strong>Eine</strong> Illusion, die sich in der Praxis jedoch bisher recht gut bewährt hat,<br />

ist man versucht anzufügen.<br />

<strong>Die</strong> in diesem Kapitel 5 vorgestellte Konkretisierung einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> ist selbstverständlich nur eine theoretische<br />

Skizze. Dennoch hat sie sich in der Praxis zu bewähren, wenn sie ihre<br />

theoretischen Ansprüche verteidigen will. Das bedeutet dreierlei:<br />

• Erstens müssen die konzeptionellen Elemente und die sie<br />

verbindende Dialectic of Control in der Praxis erkennbar sein.<br />

• Zweitens muss sich mit ihnen eine konkrete empirische Praxis<br />

beschreiben und erklären lassen.<br />

• Und drittens müssen sich für diese konkrete empirische Praxis<br />

gestützt auf die konzeptionellen Mechanismen der <strong>duale</strong>n<br />

<strong>Organisation</strong>stheorie konkrete Handlungsempfehlungen ableiten<br />

lassen.<br />

Mit anderen Worten: Um eine wirkungsvolle Theorie der Praxis zu sein, muss<br />

sich das bisher ausgearbeitete Denkmodell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong><br />

nicht nur in der Theorie, sondern vor allem auch in der Praxis<br />

bewähren. In diesem Sinn ist der folgende Teil III der Dissertation <strong>als</strong> die<br />

praktische Bewährungsprobe für das im Kapitel 5 erarbeitete Konzept <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> zu verstehen.<br />

142


TEIL III: SPUREN DER THEORIE IN DER<br />

PRAXIS<br />

143<br />

May you live<br />

in interesting times.<br />

Chinesische Verwünschung<br />

Das Ziel in diesem Teil III ist es, aus der Perspektive einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> nach Spuren eines <strong>Handlungssystem</strong>s in der Praxis zu suchen.<br />

Solche Spuren werden nicht in den formellen Strukturen der<br />

<strong>Organisation</strong>spraxis zu finden sein, sondern sich nur über die Beobachtung<br />

der organisationalen Prozesse, des <strong>Organisation</strong>salltags, erschliessen.<br />

Das, was - hoffentlich - zu finden ist, wird sich ebenso nicht in Form eines<br />

klaren, selbsterklärenden Bildes präsentieren oder sich wie <strong>von</strong> selbst<br />

aufdrängen. Es wird eher das Ergebnis eines intuitiven Spurenlesens, eines<br />

schrittweise verfertigten Interpretationsprozesses sein. Insofern gleichen sich<br />

<strong>Organisation</strong>spraxis und <strong>Organisation</strong>stheorie: Beides sind kunstvolle<br />

Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion und -interpretation. Darum sagt Law<br />

(1994, S. 48) treffend über die <strong>Organisation</strong>sforschung: „[T]he business of<br />

labelling a discovery as a discovery takes time, effort and negotiation.“<br />

<strong>Die</strong> Fundstücke organisationaler Wirklichkeit werden sich auch kaum zu einem<br />

kohärenten und eindeutigen Ergebnis zusammenfügen lassen, sondern wohl<br />

eher einem Mosaik ähneln, mit Lücken und Ungewissheiten. Selbst das<br />

Mosaik wird kein treffendes Gesamtbild abgeben, sondern eher ein zaghafter<br />

Interpretationsversuch des Phänomens <strong>Organisation</strong> sein, mit dem lediglich<br />

der Kontingenz des organisationalen Alltags eine mögliche Form <strong>von</strong><br />

Interpretation, <strong>von</strong> Ordnung, abgerungen worden ist. So warnen denn auch<br />

Hosking, Dachler et al. (1995, S. xii) vor zu grossen Erwartungen an die<br />

<strong>Organisation</strong>sforschung: „To be sure, we may not pursue such inquiry<br />

because it will result in an accurate picture of organizations as they are.”<br />

<strong>Die</strong>se Einschränkungen und Vorbehalte stets im Bewusstsein, kann die<br />

empirische Suche nach dem <strong>Handlungssystem</strong> in der <strong>Organisation</strong>spraxis in<br />

Angriff genommen werden.


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

<strong>Die</strong> hier verarbeiteten empirischen Daten stammen aus einem zweijährigen<br />

Forschungsprojekt der Universität St. Gallen, das die Autorin der Dissertation<br />

zusammen mit einer Teamkollegin bei Helvetia Patria, einer mittelgrossen<br />

schweizerischen Versicherung, durchgeführt hat. 137 Es ist natürlich der<br />

Wunsch und die Hoffnung einer jeden Forscherin, eine möglichst interessante,<br />

das heisst ereignisreiche Zeit im Feld zu verbringen. Und ganz im Sinne des<br />

doppeldeutigen chinesischen Wunsches können interessante Zeiten eben<br />

nicht nur angenehm spannend und (theoretisch) anregend sein, sondern<br />

ebenfalls auch hektisch, ungewiss und anstrengend - und zwar nicht nur für<br />

die Forscherinnen, sondern auch für die Menschen im Forschungsfeld.<br />

Im Rückblick auf die zwei Jahre Feldforschung kann daher im doppelten Sinn<br />

gesagt werden: Wir haben - zum Glück, aber manchmal auch leider - eine<br />

interessante Zeit im Feld verbracht.<br />

Teil III beschreibt diese zwei Jahre Feldforschung und präsentiert die daraus<br />

erwachsenen Forschungsergebnisse. In Kapitel 6.1 wird das Forschungsdesign<br />

und der Forschungsprozess aufgerollt. In Kapitel 6.2 werden die<br />

Forschungsfragen offen gelegt, mit denen das empirische Material am Ende<br />

der zweijährigen Feldforschung aufbereitet worden ist. Kapitel 7 beschreibt<br />

den Forschungspartner Helvetia Patria samt dem wirtschaftlich relevanten<br />

Kontext. Und in Kapitel 8 schliesslich werden die Ergebnisse des<br />

Forschungsprojekts vorgestellt, indem das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia<br />

Patria schrittweise rekonstruiert und interpretiert wird.<br />

137 Vgl. den Projektbeschrieb des Forschungsprojekts in Learning Dynamics 1999.<br />

144


FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />

6 DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS 138<br />

6.1 Forschungsdesign und -prozess des<br />

Dissertationsprojekts<br />

Das Kapitel 2 hat die forschungsmethodischen Grundlagen und Leitlinien<br />

beschrieben, nach welchen das Dissertationsprojekt gestaltet und kontinuierlich<br />

entwickelt worden ist. In diesem Kapitel wird nun dargestellt, wie das<br />

Dissertationsprojekt konkret organisiert und durchgeführt worden ist. <strong>Die</strong><br />

Beschreibung folgt der Vorgehensheuristik der longitudinalen Prozessforschung<br />

(vgl. Abbildung 8). 139<br />

6.1.1 Forschungsziel, Forschungsfragen,<br />

Forschungsteam<br />

a) Forschungsziel<br />

Das Dissertationsprojekt ist Teil des Forschungsprojekts Learning<br />

Dynamics, 140 das vom Herbst 1998 bis Ende 2001 am Institut für<br />

Betriebswirtschaft der Universität St. Gallen unter der Leitung <strong>von</strong> Prof. Dr.<br />

Johannes Rüegg-Stürm durchgeführt worden ist. Forschungsinteresse dieses<br />

Projekts war die Frage, was die Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en<br />

ausmacht. Über einen Zeitraum <strong>von</strong> zwei Jahren wurde diesen Fragen bei<br />

ausgewählten Forschungspartnern empirisch nachgegangen.<br />

b) Forschungsfragen<br />

Im Rahmen <strong>von</strong> Learning Dynamics hat sich jedes Teammitglied auf einen<br />

individuell gewählten Ausschnitt zum Thema der organisationalen<br />

Erneuerungsfähigkeit konzentriert und damit einen Beitrag zur Klärung und<br />

Beantwortung der übergreifenden Forschungsfrage geleistet. 141 Das<br />

138<br />

Kapitel 6 beschränkt sich auf die methodische Vorstellung des Forschungsprojekts. Der<br />

Forschungspartner Helvetia Patria wird in Kapitel 7 vorgestellt.<br />

139<br />

<strong>Die</strong> Ausführungen des Kapitels 6.1 stützen sich auf ein Arbeitspapier des Forschungsprojekts<br />

Learning Dynamics (Schütz/Mühlbach 2001).<br />

140<br />

Das Forschungsprojekt ist ausführlich beschrieben worden in Learning Dynamics 1999.<br />

141 An dieser Stelle sei nochm<strong>als</strong> auf die Dissertationen der anderen Teammitglieder verwiesen:<br />

Fischer 2002, Mühlbach 2003, Schumacher 2003 und Young 2003.<br />

145


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

theoretische Interesse und der gewählte Ausschnitt des vorliegenden<br />

Dissertationsprojekts sind in der Einleitung der Dissertation beschrieben<br />

worden. <strong>Die</strong> operationalisierten Forschungsfragen finden sich in Kapitel 6.2.<br />

c) Forschungsteam<br />

Das Forschungsteam bestand aus fünf Doktorierenden, die in zwei Zweierund<br />

einer <strong>Eine</strong>rgruppe bei insgesamt drei Forschungspartnern geforscht<br />

haben (vgl. Abbildung 32).<br />

Dissertation<br />

Partnerorganisation<br />

Doktorandin Doktorandin<br />

Dissertation<br />

Partnerorganisation<br />

Doktorandin<br />

Dissertation<br />

146<br />

Partnerorganisation<br />

Doktorand Doktorand<br />

Dissertation<br />

Dissertation<br />

Abbildung 32: <strong>Organisation</strong> des Forschungsprojekts<br />

Forschungspartner<br />

Forschungsteamteam<br />

Forschungsergebnisse<br />

Dass in der Regel in Zweiergruppen gearbeitet und geforscht worden ist, steht<br />

in einem direkten Zusammenhang mit dem relational-konstruktivistischen<br />

Forschungsverständnis (vgl. Kapitel 2). Danach ist Forschung nicht der<br />

Einsatz einer stringenten Methode, sondern ein sozialer Konstruktions- und<br />

Interpretationsprozess, und kann sich gegenüber dem zu erforschenden<br />

<strong>Organisation</strong>salltag auf keine privilegierte Beobachtungsposition berufen. <strong>Die</strong><br />

Teamarbeit ist der gezielte Versuch, Diversität in den Forschungsprozess<br />

einzubauen, um damit der Pluralität und Kontingenz des organisationalen<br />

Alltags angemessen begegnen zu können.


FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />

6.1.2 Forschungsort und zeitlicher<br />

Bezugsrahmen<br />

a) Forschungsort<br />

Forschungsort sollte der organisationale Alltag ausgewählter Forschungspartner<br />

sein. <strong>Die</strong> Wahl der Forschungspartner richtete sich nach den<br />

folgenden Kriterien:<br />

• <strong>Organisation</strong> im Wandel<br />

Um die Erneuerung und Erneuerungsfähigkeit tatsächlich auch<br />

empirisch beobachten zu können, musste der Forschungspartner<br />

vor oder mitten in der Herausforderung eines strategischen<br />

Wandels stehen.<br />

• Grösse<br />

Um das Phänomen der Erneuerung und Erneuerungsfähigkeit<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en in einer angemessenen Komplexität<br />

empirisch beobachten zu können, wurde eine Mindestgrösse <strong>von</strong><br />

600 Mitarbeitenden festgelegt. 142<br />

• Interesse und Offenheit<br />

<strong>Die</strong> gewählten Forschungstechniken (vgl. Kapitel 6.1.4) setzten<br />

weitgehende Zugangsmöglichkeiten zum Feld voraus. Daher war<br />

das Interesse und die Offenheit des Forschungspartners<br />

gegenüber unserem Forschungsprojekt ein weiteres wichtiges<br />

Selektionskriterium, um die Forschungs- und Bewegungsfreiheit<br />

während der Dauer des Forschungsprojekts bestmöglichst zu<br />

garantieren.<br />

• Finanzierung<br />

<strong>Die</strong> Partnerorganisation musste bereit sein, unsere Forschung<br />

mit einem finanziellen Beitrag zu unterstützen.<br />

Nach einer Such- und Akquisitionsphase <strong>von</strong> über zwölf Monaten standen<br />

Ende 1999 alle drei Forschungspartner fest. <strong>Die</strong> Autorin der Dissertation hat<br />

während zwei Jahren zusammen mit einer Teamkollegin bei Helvetia Patria,<br />

einer mittelgrossen schweizerischen Versicherungsgesellschaft (vgl. Firmen-<br />

142 In der Schweiz entspricht das einem Mittel- bis Grossbetrieb.<br />

147


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

profil in Kapitel 7.2), geforscht. <strong>Die</strong> wirtschaftliche Dynamik der Versicherungsbranche<br />

(vgl. Kapitel 7.1 und Anhang D) bot den idealen Kontext, um das<br />

Thema organisationale Erneuerung und Erneuerungsfähigkeit zu untersuchen.<br />

b) Zeitlicher Bezugsrahmen<br />

Zu Beginn des Forschungsprojekts stand fest, dass die Forscherinnen den<br />

organisationalen Alltag des Forschungspartners über einen Zeitraum <strong>von</strong> zwei<br />

Jahren hinweg begleiten werden. Im konkreten Fall <strong>von</strong> Helvetia Patria hat es<br />

sich während des Forschungsprozesses ergeben, dass eine historische<br />

Rekonstruktion der Firmengeschichte der letzten zehn Jahre sinnvoll erschien<br />

(vgl. Kapitel 6.1.3). Somit umfassten die Forschungsaktivitäten letztlich den<br />

Zeitraum <strong>von</strong> 1992-2001. <strong>Die</strong> Jahre 1992-1999 wurden in einer Interviewserie<br />

historisch rekonstruiert, während die Jahre 2000-2001 <strong>von</strong> den Forscherinnen<br />

mittels teilnehmender Beobachtung persönlich erlebt wurden.<br />

6.1.3 Forschungsprozess<br />

a) Zeitplan<br />

<strong>Die</strong> Arbeit im Forschungsprojekt richtete sich nach einem allgemeinen Zeitplan<br />

(vgl. Abbildung 33), der <strong>von</strong> einer Vorbereitungszeit <strong>von</strong> rund 15 Monaten und<br />

einer Feldforschungsphase <strong>von</strong> zwei Jahren ausging. Für die Erarbeitung der<br />

individuellen Dissertationen wurde abschliessend ein bis zwei Jahre eingeplant.<br />

Das konkrete Vorgehen in der Phase der Feldforschung wurde in diesem<br />

Zeitplan nicht näher bestimmt. Der allgemeine Zeitplan des Forschungsprojekts<br />

ging lediglich da<strong>von</strong> aus, dass die Feldforschung wahrscheinlich in<br />

drei aufeinander aufbauenden Phasen ablaufen wird:<br />

• Phase 1<br />

Exploration, erstes Kennenlernen<br />

• Phase 2<br />

Vertiefung, Weiterführung der ersten Erkenntnisse<br />

• Phase 3<br />

Konsolidierung, Abrunden der bisherigen Erkenntnisse<br />

148


Aktivitäten<br />

Aktivitäten<br />

Herbst 98<br />

Formierung des Forschungsteams<br />

FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />

Erarbeitung der forschungsmethodischen<br />

und theoretischen Grundlagen<br />

1.1.99<br />

Suche der<br />

Forschungspartner<br />

Feldforschung<br />

Phase 1 Phase 2 Phase 3<br />

t<br />

1.1.00 1.1.01 1.1.02<br />

31.12.03<br />

Abbildung 33: Zeitplan des Forschungsprojekts<br />

149<br />

Ausarbeitung der<br />

Dissertationen<br />

<strong>Die</strong> Feldforschung konkret zu planen und durchzuführen war Aufgabe der<br />

jeweiligen Zweier- bzw. <strong>Eine</strong>rgruppen und gestaltete sich je nach<br />

Forschungspartner unterschiedlich.<br />

b) Forschungsphasen und Forschungsfokus<br />

<strong>Die</strong> Feldforschung bei Helvetia Patria dauerte vom Januar 2000 bis Dezember<br />

2001, und lief in drei verschiedenen Phasen ab (vgl. Abbildung 34). <strong>Die</strong><br />

Ergebnisse jeder Phase lieferten die Grundlage und die Hinweise für das<br />

Vorgehen in der nächsten Phase. So hat sich die Forschungsarbeit und der<br />

Forschungsfokus in einem inkrementalen Prozess <strong>von</strong> Phase zu Phase<br />

konkretisiert.


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

Umfeld<br />

(Branche)<br />

��<br />

150<br />

��<br />

Helvetia Patria<br />

��<br />

Abbildung 34: Forschungsphasen und Forschungsfokus des Forschungsprojekts<br />

� In der Explorationsphase haben die Forscherinnen einen Längsschnitt<br />

entlang der Hierarchie durch die <strong>Organisation</strong> gelegt (top-down / bottomup),<br />

um Helvetia Patria in ihrer spezifischen Denk- und Handlungsweise<br />

insgesamt kennen zu lernen.<br />

� In der Vertiefungsphase haben die Forscherinnen einen Querschnitt entlang<br />

der funktionalen Gliederung durch die <strong>Organisation</strong> gelegt, um den<br />

vielfältigen organisationalen Alltag zu verfolgen.<br />

� In der Konsolidierungsphase haben die Forscherinnen einen Längsschnitt<br />

entlang der Zeitachse durch die <strong>Organisation</strong> gelegt, um prägende<br />

wiederkehrende Muster in der Denk- und Handlungsweise der<br />

<strong>Organisation</strong> zu erkennen.<br />

c) Forschungsaktivitäten<br />

Der genaue Ablauf der Feldforschung ist in Abbildung 35 dargestellt und wird<br />

nachstehend beschrieben. 143<br />

143 <strong>Eine</strong> detaillierte Liste aller Forschungsaktivitäten findet sich in Anhang B.<br />

t


FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />

Erstkontakt<br />

Nach mehreren informativen Gesprächen im Laufe des Jahres, fand am<br />

14.12.1999 eine formelle Präsentation des Forschungsprojekts Learning<br />

Dynamics vor der Geschäftsleitung <strong>von</strong> Helvetia Patria statt. Ziel der<br />

Präsentation war es, zu einer definitiven Entscheidung über eine<br />

Zusammenarbeit im Forschungsprojekt zu kommen. Aus Sicht des<br />

Forschungsprojekts wurde deshalb bei der Präsentation und in der<br />

anschliessenden Diskussion insbesondere Wert auf die Klärung folgender<br />

Punkte gelegt (momorandum of understanding):<br />

• Thematischer Fokus<br />

Worum geht es genau bei diesem Forschungsprojekt<br />

(Forschungsfrage)? Welchen Nutzen kann Helvetia Patria<br />

daraus ziehen (praktische Implikationen)?<br />

• Rolle und Aufgabe des Forschungsteams<br />

Wie geht das Forschungsteam vor (grober Zeitplan,<br />

Forschungstechniken) und wie verhält sich das Forschungsteam<br />

im Feld (Forschungstechniken, Code of Conduct)?<br />

• Materielle und zeitliche Ressourcen<br />

Zu welchen Bereichen/Themen braucht/erhält das Forschungsteam<br />

Zugang (Forschungsfreiheit)? Wer sind die internen<br />

Ansprechpersonen für das Forschungsteam (Sponsor und<br />

Gatekeeper)? Wie hoch ist der Beitrag zur Finanzierung des<br />

Forschungsprojekts?<br />

• Rechtliche Regelungen<br />

Was gilt z.B. bezüglich Geheimhaltung, Konkurrenzschutz und<br />

Publikation der Forschungsergebnisse (Forschungsvertrag)?<br />

Nachdem alle Fragen geklärt werden konnten und der formelle Forschungsvertrag<br />

unterschrieben war, konnte im Januar 2000 die Feldforschung<br />

beginnen.<br />

151


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

Aktivitäten<br />

1/00<br />

Phase 1<br />

Rekonstruktion<br />

Strategie 99-04<br />

Begleitung einer<br />

Generalagentur<br />

Teilnahme an<br />

Tagungen<br />

1x<br />

1x<br />

Phase 2<br />

Vertriebsmanagement<br />

(Generalagenturen)<br />

Vertriebsmanagement<br />

(Bereich/Regionen)<br />

Teilnahme an<br />

Tagungen<br />

152<br />

Phase 3<br />

= Zwischenbericht<br />

und Feedback<br />

= Feedback<br />

Dokumentenanalyse<br />

Rekonstruktion<br />

Firmengeschichte<br />

Teilnahme an<br />

Tagungen<br />

7/00 1/01 4/01<br />

7/01<br />

12/01<br />

Abbildung 35: Forschungsaktivitäten je Forschungsphase<br />

Phase 1: Exploration<br />

<strong>Die</strong> Explorationsphase dauerte <strong>von</strong> Januar 2000 bis Juli 2000. Ziel der<br />

Explorationsphase war es, ein erstes Bild <strong>von</strong> Helvetia Patria zu erhalten und<br />

die <strong>Organisation</strong> insgesamt in ihrer spezifischen Denk- und Handlungsweise<br />

kennen zu lernen.<br />

Zu diesem Zweck haben die Forscherinnen einen zweifachen Zugang zur<br />

<strong>Organisation</strong> gewählt (Mehrebenenanalyse):<br />

• top-down über die Rekonstruktion der Arbeit der Projektgruppe,<br />

welche im Jahr 1999 die Strategie 1999-2004 überarbeitet hatte,<br />

und<br />

• bottom-up über die Begleitung des Alltags einer Generalagentur.<br />

Ergänzt wurden diese Forschungsaktivitäten mit der teilnehmenden<br />

Beobachtung <strong>von</strong> Führungskonferenzen (halbjährliche Tagung der Führungskräfte)<br />

und Tagungen des Vertriebs (jährliche Aussendienstkonferenzen)<br />

3x<br />

2x<br />

1x<br />

2x<br />

t


FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />

sowie narrativen Interviews mit Personen aus verschiedenen <strong>Organisation</strong>sbereichen<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria.<br />

Insgesamt wurden in dieser Phase sechzehn Interviews geführt, ergänzt durch<br />

zehn teilnehmende Beobachtungen. Zudem fanden zwei Feedbackveranstaltungen<br />

zusammen mit den in dieser Phase beteiligten Mitgliedern der<br />

<strong>Organisation</strong> statt. <strong>Die</strong> Explorationsphase wurde am 12.07.2000 mit einem<br />

Zwischenbericht und einer Feedbackveranstaltung für den Sponsor und den<br />

Gatekeeper abgeschlossen.<br />

Phase 2: Vertiefung<br />

<strong>Die</strong> Vertiefungsphase dauerte bis Juni 2001. Ziel dieser Phase war es, die<br />

durch das im Frühjahr 2000 gestartete Projekt Dynamo (vgl. Kapitel 7.2.3.3)<br />

ausgelösten Veränderungen in der <strong>Organisation</strong> aus der Optik einer einzelnen<br />

<strong>Organisation</strong>seinheit heraus zu beobachten. <strong>Die</strong> Wahl fiel auf den Bereich<br />

Vertriebsmanagement. Der Bereich Vertriebsmanagement ist im Rahmen <strong>von</strong><br />

Dynamo neu geschaffen worden und eignete sich <strong>als</strong> zentraler Schnittstellenbereich<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria ideal, um einen repräsentativen Querschnitt des<br />

gesamten, vielfältigen organisationalen Alltags zu verfolgen.<br />

Das Forschungsteam untersuchte den Alltag des neuen Bereichs Vertriebsmanagement<br />

aus drei Blickwinkeln (Mehrebenenanalyse):<br />

• erstens über die teilnehmende Beobachtung auf Ebene Bereich<br />

(Teilnahme an den regelmässigen Sitzungen der Bereichsleitung),<br />

• zweitens über die teilnehmende Beobachtung auf Ebene Region<br />

(Teilnahme an regionalen Tagungen des Aussendienstes) und<br />

• drittens über die teilnehmende Beobachtung auf Ebene Generalagentur<br />

(Teilnahme an Kader- und Aussendienstsitzungen sowie<br />

Wochenrapporten <strong>von</strong> zwei Generalagenturen).<br />

Insgesamt fanden in dieser Zeit neun Interviews und fünfunddreissig<br />

teilnehmende Beobachtungen statt. In sechs Feedbackveranstaltungen<br />

wurden die Erkenntnisse aus dieser Phase mit den Direktbetroffenen<br />

diskutiert. Erste Zwischenergebnisse dieser Phase wurden am 25.4.2001 an<br />

einer Feedbackveranstaltung dem Sponsor und dem Gatekeeper präsentiert.<br />

153


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

Standortbestimmung<br />

In der Zeit vom Juli 2001 bis August 2001 haben sich die Forscherinnen aus<br />

dem Feld zurückgezogen, um eine erste theoretische Auswertung vorzunehmen.<br />

Gestützt auf die Erkenntnisse dieser Standortbestimmung haben die<br />

Forscherinnen anschliessend die dritte und letzte Phase der Feldforschung in<br />

Angriff genommen.<br />

Phase 3: Konsolidierung<br />

Phase 3 dauerte <strong>von</strong> Oktober 2001 bis Dezember 2001. Sie war die letzte<br />

Phase des Forschungsprojekts und sollte deshalb einerseits die bisherigen<br />

Forschungsergebnisse möglichst gut ergänzen und bereichern, und<br />

andererseits das Forschungsprojekt <strong>als</strong> Ganzes abrunden und für die<br />

beteiligten Personen im Forschungsfeld zufrieden stellend abschliessen.<br />

Im Lichte der bisherigen Ergebnisse erschien eine historische Rekonstruktion<br />

der Firmenentwicklung der letzten zehn Jahre ideal, um die<br />

Forschungserkenntnisse abzurunden. Ziel der Konsolidierungsphase war es<br />

deshalb, einen zeitlichen Längsschnitt durch die <strong>Organisation</strong> zu legen, um die<br />

Entwicklungsgeschichte <strong>von</strong> Helvetia Patria kennen zu lernen, und darüber<br />

prägende Muster in der Denk- und Handlungsweise der <strong>Organisation</strong> zu<br />

entdecken (Analyse der Pfadabhängigkeit).<br />

<strong>Die</strong> Rekonstruktion des zeitlichen Längsschnitts <strong>von</strong> Helvetia Patria wurde<br />

anhand einer Interviewserie aufgebaut. Bei der Selektion der Interviewpartner<br />

hat das Forschungsteam gezielt den verschiedenen Sichtweisen innerhalb der<br />

<strong>Organisation</strong> Rechnung getragen (z.B. alte/neue <strong>Organisation</strong>sstruktur,<br />

Leben/Nicht-Leben, Hauptsitz/Generalagenturen). Insgesamt fanden in dieser<br />

letzten Phase zweiundzwanzig Interviews, drei teilnehmende Beobachtungen<br />

und zwei Feedbackveranstaltungen mit direktbeteiligten <strong>Organisation</strong>smitgliedern<br />

statt. Ergänzt wurden diese Aktivitäten mit einer Analyse wichtiger<br />

Firmenunterlagen zu vergangenen Schlüsselereignissen. <strong>Die</strong> Phase wurde am<br />

13.12.2001 mit einem Schlussbericht und einer Feedbackveranstaltung für<br />

den Sponsor und den Gatekeeper abgeschlossen. <strong>Die</strong> Präsentation dieses<br />

Berichts war gleichzeitig der formelle Abschluss des Forschungsprojekts und<br />

beendete die zweijährige Forschungszusammenarbeit des Forschungsteams<br />

mit Helvetia Patria.<br />

154


6.1.4 Feldbeziehungen und<br />

Forschungstechniken<br />

FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />

a) Feldbeziehungen<br />

Solide und vertrauensvolle Feldbeziehungen sind ein entscheidender Erfolgsfaktor<br />

in jedem Forschungsprojekt. Sie wurden durch verschiedene Massnahmen<br />

aufgebaut und gepflegt:<br />

• Memorandum of Understanding<br />

<strong>Die</strong> wichtigsten Punkte Forschungskontrakts sind in einem<br />

schriftlichen Dokument (Code of Conduct) festgelegt worden.<br />

<strong>Die</strong>s unterstützte die Erwartungs- und Rollenklärung und brachte<br />

Transparenz in die Arbeit der Forscherinnen. Ausserdem haben<br />

die Forscherinnen zu Beginn jeder neuen Forschungsphase ein<br />

Antrittsgespräch mit den neuen Kontaktpersonen im Forschungsfeld<br />

geführt, um den Forschungskontrakt auch lokal zu<br />

verankern.<br />

• Freiwilligkeit und Anonymität<br />

Für alle Kontaktpersonen war die Zusammenarbeit mit den<br />

Forscherinnen freiwillig. Zudem garantierten die Forscherinnen<br />

die Vertraulichkeit und Anonymität der Forschungsbeziehung,<br />

und zwar sowohl nach aussen (gegenüber der Konkurrenz) <strong>als</strong><br />

auch nach innen (gegenüber Vorgesetzten und Mitarbeitenden).<br />

• Neutralität und Unvoreingenommenheit<br />

Damit die Forscherinnen gegenüber allen Kontaktpersonen ihre<br />

Neutralität und Unvoreingenommenheit sichtbar machen<br />

konnten, verkehrten sie unabhängig <strong>von</strong> Hierarchiestufe,<br />

Aufgabenbereich oder Dauer des Forschungskontakts mit allen<br />

Kontaktpersonen nur in der Sie-Form.<br />

• Zwiebelschalen-Prinzip<br />

Forschungsergebnisse wurden ohne Ausnahme immer zuerst<br />

derjenigen Personengruppe präsentiert, <strong>von</strong> welcher die<br />

Forscherinnen durch Interviews oder teilnehmende<br />

Beobachtungen das Ausgangsmaterial erhoben hatten. <strong>Die</strong>s<br />

stellte die Reziprozität der Forschungsbeziehung sicher und gab<br />

den Kontaktpersonen ausserdem die Möglichkeit, eine<br />

abweichende Meinung zu den <strong>von</strong> den Forscherinnen<br />

155


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

präsentierten Ergebnissen zu äussern und zu begründen. Erst in<br />

einem zweiten Schritt wurden die derart plausibilisierten<br />

Forschungsergebnisse in Form eines zusammenfassenden<br />

Zwischenberichts dem Sponsor und dem Gatekeeper des<br />

Forschungsprojekts präsentiert.<br />

b) Forschungstechniken<br />

Im Laufe der zweijährigen Feldforschung wurden <strong>von</strong> den Forscherinnen<br />

verschiedene Forschungstechniken 144 angewendet (Triangulation):<br />

• qualitative, teilstrukturierte Interviews<br />

zur Exploration organisationaler Interpretationsmuster<br />

• teilnehmende Beobachtung<br />

zur Analyse organisationaler sozialer Praktiken<br />

• Aktionsforschungsworkshops (Feedback)<br />

zur Präsentation, Diskussion und Plausibilisierung <strong>von</strong><br />

Forschungsergebnissen 145<br />

• qualitative Dokumentenanalyse<br />

zur punktuellen Abrundung und Ergänzung des gesammelten<br />

Datenmateri<strong>als</strong><br />

In der Explorationsphase wollte das Forschungsteam einerseits schnell und<br />

gezielt einen Einblick in Helvetia Patria erhalten, andererseits jedoch dem Feld<br />

möglichst offen entgegentreten, um diejenigen Themen und Fragestellungen<br />

aufzuspüren, die im Forschungsfeld unabhängig vom Forschungsprojekt im<br />

Moment gerade aktuell waren. <strong>Die</strong>sem doppelten Anliegen wurde dadurch<br />

Rechnung getragen, dass in der Phase 1 ein ausgewogener Mix zwischen<br />

Interviews (Themen/Fragen gezielt ansprechen können) und teilnehmender<br />

144<br />

Es wird an dieser Stelle auf eine detaillierte forschungsmethodische Beschreibung und<br />

Diskussion dieser Forschungstechniken verzichtet. Interessierten wird folgende Literatur<br />

empfohlen:<br />

- teilnehmende Beobachtung: Lamnek 1989; Jorgensen 1989; Spradley 1980<br />

- qualitative Interviews: Lamnek 1989; Froschauer/Lueger 1992; Spradley 1979<br />

- Aktionsforschungsworkshops: Argyris/Putnam/et al. 1985; Bruce/Wyman 1998; Whyte 1991<br />

145<br />

<strong>Die</strong> Aktionsforschungs-Workshops wurden strikt nach dem Zwiebelschalenprinzip durchgeführt.<br />

Ausserdem wurde stets die Anonymität der Forschungskontakte geschützt.<br />

156


FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />

Beobachtung (aktuelle Themen/Fragen offen aufnehmen) gewählt worden ist<br />

(vgl. Abbildung 36). Drei Aktionsforschungsworkshops (zwei Feedbackveranstaltungen<br />

im Feld, eine Präsentation des Zwischenberichts an<br />

Gatekeeper/Sponsor) dienten in dieser Phase der Plausibilisierung der ersten<br />

Zwischenergebnisse.<br />

Anzahl<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

16<br />

10<br />

3<br />

9<br />

35<br />

7<br />

157<br />

22<br />

3<br />

1 2<br />

Forschungsphase<br />

3<br />

Abbildung 36: Forschungstechniken je Phase<br />

3<br />

Interviews<br />

Beobachtungen<br />

Workshops<br />

In der Vertiefungsphase lag das Interesse in der Beobachtung, wie in Helvetia<br />

Patria nach dem Projekt Dynamo die neue organisationale Realität aufgebaut<br />

wird. Daher lag in der Phase 2 der Feldforschung das Schwergewicht auf<br />

teilnehmenden Beobachtungen. <strong>Die</strong> Ergebnisse der Vertiefungsphase wurden<br />

in sieben Aktionsforschungsworkshops präsentiert und plausibilisiert (sechs<br />

Feedbackveranstaltungen im Feld, eine Präsentation des Zwischenberichts an<br />

Gatekeeper/Sponsor).<br />

<strong>Die</strong> Konsolidierungsphase diente der historischen Rekonstruktion der Firmengeschichte.<br />

Qualitative, teilstrukturierte Interviews waren zu diesem Zweck die<br />

geeignete Forschungstechnik. <strong>Die</strong> Ergebnisse der Phase 3 wurden in zwei<br />

Aktionsforschungsworkshops (Feedbackveranstaltungen im Feld)<br />

plausibilisiert. Ein dritter und letzter Aktionsforschungsworkshop (Präsentation


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

des Schlussberichts an Gatekeeper/Sponsor) diente dem Abschluss der<br />

Forschungszusammenarbeit und der Präsentation der kumulierten<br />

Forschungsergebnisse aller drei Phasen.<br />

6.1.5 Dokumentation<br />

In einem zweijährigen Forschungsprojekt fallen eine Unmenge Forschungsdaten<br />

an. Es war für das Forschungsteam daher erfolgskritisch, vor Beginn der<br />

empirischen Feldforschung die Grundlagen dafür zu schaffen, dass das<br />

anfallende Material strukturiert protokolliert und archiviert werden konnte.<br />

a) Forschungsprotokoll<br />

Das Forschungsprotokoll diente dem Zweck, eine einzelne Forschungsaktivität<br />

im Detail festzuhalten und zu beschreiben (vgl. Abbildung 37).<br />

Für jede Forschungsaktivität (Interview, teilnehmende Bebachtung,<br />

Aktionsforschungsworkshop) wurde ein separates Protokoll geschrieben. <strong>Die</strong><br />

laufenden Beobachtungen und Eindrücke wurden während den Forschungsaktivitäten<br />

in handschriftlichen Notizen festgehalten. Im Anschluss daran<br />

wurden sie in das Forschungsprotokoll übertragen und bereits mit ersten<br />

Interpretationen bzw. Hypothesen angereichert. Wenn ein Interview auf<br />

Tonband aufgenommen worden war, so wurde in Abschnitt 3 des Protokolls<br />

zusätzlich das Transkript der Tonbandaufnahme eingefügt.<br />

<strong>Die</strong> in den Forschungsprotokollen festgehaltenen Beobachtungen, Eindrücke<br />

und ersten Interpretationen waren jedoch nicht bereits das Endergebnis,<br />

sondern dienten den Forscherinnen lediglich <strong>als</strong> Ausgangsmaterial für die<br />

anschliessende Datenauswertung. Kapitel 6.1.6 beschreibt diesen<br />

Interpretationsprozess und die Ausarbeitung der Forschungsergebnisse.<br />

158


FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />

1. Eckpunkte des Forschungsereignisses<br />

Kurzer Steckbrief des Forschungsereignisses:<br />

• Kurzbezeichnung<br />

• Datum, Zeit und Ort<br />

• Name der anwesenden Personen<br />

• Name der anwesenden Forscherinnen<br />

2. Allgemeine Eindrücke/Beobachtungen<br />

Erwähnenswerte Einzelheiten, die jedoch nicht direkt mit den<br />

besprochenen Themen in Zusammenhang stehen, wie z.B.:<br />

• Kontext (Besonderheiten der Situation)<br />

• Milieu (Raum, Sitzordung)<br />

• Gesprächsdynamik (Redeanteile, Redezeiten)<br />

3. Besprochenen Themen<br />

<strong>Die</strong> besprochenen Themen wurden wie folgt protokolliert:<br />

• Inhaltliche Wiedergabe<br />

Transkript der Tonbandaufnahme. Wo keine Aufnahme möglich<br />

war, steht hier die Niederschrift der eigenen Notizen, aus der die<br />

Struktur bzw. Abfolge der Aussagen ersichtlich bleibt. Wichtige<br />

Aussagen werden möglichst im Originalwortlaut wiedergegeben.<br />

• Gemachte Beobachtungen<br />

Z.B. Interaktionen unter den <strong>Organisation</strong>smitgliedern, Emotionen,<br />

nonverbale Kommunikation etc.<br />

• Erste Interpretation<br />

Abgehoben in einer separater Textspalte bzw. in Kursivschrift, um<br />

den Interpretationsprozess transparent zu machen.<br />

4. Wichtige Erkenntnisse/Interpretationen<br />

Hier erfolgt eine erste ad-hoc-Auswertung des Forschungsereignisses:<br />

• Zusammenfassung der wichtigen Erkenntnisse bzw.<br />

Interpretationen.<br />

• Hinweise/Ideen für das weitere Vorgehen im Forschungsprozess.<br />

Abbildung 37: Struktur des Forschungsprotokolls<br />

b) Forschungsdatenbank<br />

<strong>Die</strong> Forschungsprotokolle sind ein wichtiges Element, um Struktur und<br />

Systematik in das Forschungsmaterial zu bekommen. Sie alleine genügen<br />

jedoch nicht, um während eines zweijährigen Forschungsprojekts den<br />

Überblick über den Stand und den Fortschritt des Forschungsprojekts zu<br />

behalten.<br />

159


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

Daher wurde im Rahmen des Forschungsprojekts Learning Dynamics eine<br />

Forschungsdatenbank entwickelt, in der im Sinne eines Tagebuchs genau<br />

Buch geführt wurde, wann und wo welche Forschungsaktivitäten stattgefunden<br />

haben. Für jede einzelne Forschungsaktivität gab es einen Eintrag, der das<br />

Ereignis in einem kurzen Steckbrief mit verschiedenen Merkmalen und<br />

Schlagworten skizzierte (vgl. Abbildung 38).<br />

<strong>Die</strong> oben beschriebenen Forschungsprotokolle waren selbstverständlich Teil<br />

dieser Forschungsdatenbank. Mittels Querverweisen konnten zudem die<br />

einzelnen Datenbankeinträge miteinander verknüpft werden. Umfangreiche<br />

Suchfunktionen erleichterten ausserdem den Zugriff auf die Einträge<br />

vergangener Forschungsaktivitäten.<br />

160


FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />

Abbildung 38: Eintrag in der Forschungsdatenbank<br />

161


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

6.1.6 Ausarbeitung und Plausibilisierung<br />

a) Im Rahmen des Forschungsprojekts<br />

Das Ausarbeiten der Forschungsergebnisse ist ein interpretativer Prozess. Um<br />

in diesem Prozess eine möglichst grosse Gedankenvielfalt und Interpretationsreichtum<br />

zu ermöglichen, fanden alle Forschungsaktivitäten im Forschungsfeld<br />

und die anschliessenden interpretativen Auswertungen immer zu zweit statt.<br />

<strong>Die</strong> wichtigste Herausforderung bei der Ausarbeitung der Forschungsergebnisse<br />

war es, Beobachtung und Interpretation zwar stets getrennt zu<br />

halten, aber dennoch einen Zusammenhang zwischen Beobachtung und<br />

Interpretation herzustellen, so dass jede Interpretation stets wieder<br />

zurückverfolgt werden konnte auf die Ursprungsbeobachtung. Das erleichterte<br />

nicht nur die Ausarbeitung konsistenter und transparenter Forschungsergebnisse,<br />

sondern auch deren Präsentation und Plausibilisierung im<br />

Rahmen der Aktionsforschungsworkshops.<br />

Der Interpretationsprozess im Forschungsteam entwickelte sich in drei<br />

Schlaufen:<br />

• <strong>Eine</strong> erste Interpretation erfolgte unmittelbar im Anschluss an<br />

jede Forschungsaktivität. <strong>Die</strong> Forscherinnen setzten sich<br />

zusammen und liessen in einem offenen, assoziativen Gespräch<br />

ihren Gedanken freien Lauf. Erste Eindrücke wurden verglichen<br />

und mögliche Interpretationen erwogen.<br />

• <strong>Die</strong> zweite Interpretationsschlaufe wurde beim Schreiben des<br />

Forschungsprotokolls durchlaufen. Das Schreiben eines<br />

Forschungsprotokolls nahm durchschnittlich vier bis sieben<br />

Stunden in Anspruch und ergab jeweils zehn bis fünfzehn Seiten.<br />

Während des Schreibens des Forschungsprotokolls fand eine<br />

intensive gedankliche Auseinandersetzung mit den handschriftlichen<br />

Forschungsnotizen (gegebenenfalls dem Transkript) statt.<br />

Dabei wurden erstm<strong>als</strong> theoretische Schlussfolgerungen<br />

schriftlich festgehalten (Abschnitt 4 des Protokolls). Das Protokoll<br />

wurde jeweils <strong>von</strong> der einen Forscherin erstellt und<br />

anschliessend <strong>von</strong> der anderen Forscherin ergänzt. Bei divergierenden<br />

Beobachtungen oder Interpretationen galten beide<br />

Aussagen gleichwertig und blieben mit einem kurzen Hinweis auf<br />

die Differenz nebeneinander im Protokoll stehen.<br />

162


FORSCHUNGSDESIGN UND -PROZESS DES DISSERTATIONSPROJEKTS<br />

• <strong>Eine</strong> dritte Interpretationsschlaufe wurde bei der Vorbereitung<br />

der Aktionsforschungsworkshops durchlaufen - die natürlich<br />

ihrerseits wiederum Ursprungsdaten für den Interpretationsprozess<br />

lieferten. Alle Berichte oder Workshops wurden <strong>von</strong><br />

beiden Forscherinnen gemeinsam vorbereitet und durchgeführt.<br />

<strong>Die</strong> Präsentation der Forschungsergebnisse erfolgte in jeder Phase laufend<br />

durch mehrere so genannte Feedbackveranstaltungen (vgl. Abbildung 35).<br />

Feedbackveranstaltungen waren Aktionsforschungsworkshops, an denen die<br />

vorläufigen Zwischenergebnisse denjenigen Personen im Forschungsfeld<br />

präsentiert wurden, mit denen die Forscherinnen zu diesem Zeitpunkt in<br />

Kontakt standen. <strong>Die</strong> Forschungsergebnisse wurden in den Feedbackveranstaltungen<br />

<strong>als</strong>o sozusagen an ihren Ursprung zurückgespiegelt.<br />

<strong>Eine</strong> Feedbackveranstaltung bestand in der Regel aus drei Teilen:<br />

• Präsentation der Beobachtungen (analytisch)<br />

• Präsentation der Interpretationen (diagnostisch)<br />

• Vergleich, Diskussion<br />

<strong>Die</strong> an die Präsentation anschliessende Diskussion diente einem doppelten<br />

Zweck. <strong>Eine</strong>rseits lieferte sie den Forscherinnen die mitlaufende<br />

Plausibilisierung der vorgestellten Forschungsergebnisse 146 , andererseits<br />

ermöglichte die diskursive Auseinandersetzung den Personen im<br />

Forschungsfeld eine kritische Reflexion ihres eigenen organisationalen Alltags<br />

und ihres eigenen Wissens und Handelns.<br />

Aufgrund des Zwiebelschalen-Prinzips der Präsentation der Ergebnisse stellte<br />

die Authentizität der präsentierten Beobachtungen und Interpretationen nie ein<br />

Problem dar. <strong>Die</strong> Personen im Feld hatten die Arbeit der Forscherinnen<br />

unmittelbar erlebt. <strong>Die</strong>s sicherte eine hohe Akzeptanz der präsentierten<br />

Ergebnisse - nicht im Sinne <strong>von</strong> Zustimmung, sondern im Sinne <strong>von</strong><br />

Bereitschaft, sich mit den Ergebnissen diskursiv auseinanderzusetzen.<br />

Pro Phase wurden die aufgearbeiteten und in den Feedbackveranstaltungen<br />

bereits plausibilisierten Forschungsergebnisse in einem Bericht zusammengefasst<br />

und verdichtet. <strong>Die</strong>ser Bericht wurde in einer Präsentation dem<br />

146 Zum Konzept der Plausibilisierung vgl. Abbildung 5.<br />

163


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

Sponsor und dem Gatekeeper des Forschungsprojekts vorgestellt und<br />

anschliessend ebenfalls diskutiert. <strong>Die</strong>se Diskussion stellte eine zweite,<br />

parallele Plausibilisierung der Forschungsergebnisse aus einem alternativen<br />

Blickwinkel sicher.<br />

<strong>Die</strong>se Berichte bildeten ausserdem die Grundlage für die inhaltliche und<br />

methodische Planung der nächsten Phase der Feldforschung.<br />

b) Im Rahmen der Dissertation<br />

<strong>Eine</strong> weitere umfangreiche und intensive Auseinandersetzung mit dem<br />

Forschungsmaterial erfolgte dann im Rahmen der Ausarbeitung der<br />

Dissertation. <strong>Die</strong>sen Interpretationsprozess hat jede Forscherin im Anschluss<br />

an das Forschungsprojekt selbständig durchlaufen. 147<br />

In dieser Phase der Auswertung ist das gesammelte empirische Material (vgl.<br />

Anhang B und C) am theoretischen Bezugsrahmen der Dissertation (vgl.<br />

Kapitel 5) gespiegelt worden. <strong>Die</strong> empirischen Daten wurden dahingehend<br />

untersucht, ob sich erstens in ihnen das Modell eines <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

erkennen lässt und zweitens, ob dieses empirisch konkretisierte Modell eine<br />

plausible <strong>Erklärung</strong> des in den zwei Forschungsjahren erlebten <strong>Organisation</strong>salltags<br />

zu leisten vermag. <strong>Die</strong> Ergebnisse dieses Auswertungs- und<br />

Interpretationsprozesses sind im folgenden Kapitel 7 dargestellt.<br />

<strong>Die</strong> Auswertung des empirischen Materi<strong>als</strong> ist mit Hilfe <strong>von</strong> MAXqda erfolgt,<br />

einer Software zur professionellen Analyse qualitativer Forschungsdaten. 148<br />

Sämtliche Forschungsprotokolle sind in MAXqda importiert und nach<br />

relevanten Stellen durchforstet worden. Zutreffende Fundstellen sind markiert<br />

und mit einem Verweis auf einen oder mehreren Codes aus einem eigens<br />

entwickelten Codierungsschema (vgl. Kapitel 6.2) gekennzeichnet worden. 149<br />

Daraus hat sich eine Fülle <strong>von</strong> Material ergeben (ca. 1'500 Fundstellen, inkl.<br />

Mehrfachnennungen), die anschliessend die Grundlage für die Ausarbeitung<br />

147 Das Promotionsreglement verlangt, dass die Dissertation eine selbständige wissenschaftliche<br />

Leistung ist. Aus diesem Grund wurde in der Phase der Erarbeitung der Dissertation die<br />

Teamzusammenarbeit aufgegeben.<br />

148 Bei MAXqda handelt es sich um eines der bekanntesten und am weitesten verbreiteten<br />

Programme zur qualitativen Datenanalyse im deutschsprachigen Raum. Weitere Informationen<br />

zu MAXqda sind auf der Homepage des Anbieters erhältlich: www.maxqda.de.<br />

149<br />

Zum Einsatz <strong>von</strong> Programmen zur qualitativen Datenanalyse vgl. die Einführung <strong>von</strong> Kuckartz<br />

(1999).<br />

164


165<br />

FRAGEN AN DIE PRAXIS<br />

und Interpretation des konkreten empirischen <strong>Handlungssystem</strong>s in Kapitel 8<br />

ergeben haben.<br />

Methodologisch ging es bei diesem Verarbeitungsschritt um das Erkennen <strong>von</strong><br />

Mustern bzw. sozialen Regelhaftigkeiten in den vorliegenden empirischen<br />

Daten. Doch auch wenn der Einsatz des Programms MAXqda eine grosse<br />

Unterstützung und Erleichterung für die methodisch kontrollierte Auswertung<br />

des Forschungsmateri<strong>als</strong> bedeutet, ist es letztlich immer noch die Forscherin,<br />

die die Daten analysiert und interpretiert. Der Vorgang ist eine interpretative<br />

Codierung und keine automatische, maschinelle Verarbeitung. 150<br />

<strong>Die</strong> Ergebnisse aus dieser Auswertungsphase sind wiederum zweifach<br />

plausibilisiert worden. 151 Erstens sind die Ergebnisse laufend mit dem<br />

theoretischen Bezugsrahmen (vgl. Kapitel 5) verglichen und auf Konsistenz<br />

und theoretische Plausibilität überprüft worden (theoretische Plausibilisierung).<br />

Zweitens sind die Ergebnisse dem Forschungspartner vorgelegt worden, der<br />

dazu in einem Gespräch nochm<strong>als</strong> Stellung nehmen konnte und letztlich der<br />

Veröffentlichung der Forschungsergebnisse im Rahmen der Dissertation<br />

zustimmte (praktische Plausibilisierung).<br />

6.2 Fragen an die Praxis<br />

Um die Spuren eines <strong>Handlungssystem</strong>s in der <strong>Organisation</strong>spraxis zu<br />

entdecken, braucht es Fragen, die die theoretische Suchbewegung durch<br />

diese Praxis lenken.<br />

Abgeleitet aus dem theoretischen Bezugsrahmen der Dissertation (vgl. Kapitel<br />

5) ist ein Fragenraster entwickelt worden (vgl. Abbildung 39), mit dem das<br />

gesamte empirische Material (vgl. Anhang B und C) durchforstet worden ist.<br />

Zusätzlich zu diesen Fragen wurde das empirische Material auch nach<br />

Aussagen zu folgenden zwei Bereichen untersucht (vgl. Abbildung 40):<br />

• relevante Themen im <strong>Organisation</strong>salltag<br />

• relevante Ereignisse im <strong>Organisation</strong>salltag<br />

150 Zu der Systematik der Auswertung qualitativer Interviews vgl. die Ausführungen <strong>von</strong> Witzel 1996.<br />

151 Vgl. die Plausibilisierungsmatrix in Abbildung 5.


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

Gestützt auf die beiden Fragenraster (vgl. Abbildung 39 und Abbildung 40)<br />

wurde ausserdem ein Codierungsschema entwickelt, mit dem die zutreffenden<br />

Fundstellen im empirischen Material gekennzeichnet werden konnten (vgl.<br />

Abbildung 41). Während des Codierungsprozesses ist das Codierungsschema<br />

induktiv überarbeitet worden, das heisst die Codes sind nach Bedarf ergänzt<br />

und/oder differenziert worden.<br />

166


Suche nach Strukturmodalitäten<br />

167<br />

FRAGEN AN DIE PRAXIS<br />

• Gibt es interpretative Schematas, auf die typischerweise immer wieder und in<br />

unterschiedlichsten Situationen Bezug genommen wird?<br />

• Gibt es Normen, auf die typischerweise immer wieder und in unterschiedlichsten<br />

Situationen Bezug genommen wird?<br />

• Gibt es Ressourcen, die typischerweise immer wieder und in<br />

unterschiedlichsten Situationen eingesetzt werden?<br />

• Welche ermöglichenden Wirkungen der Strukturmodalitäten sind erkennbar?<br />

• Welche restringierenden Wirkungen der Strukturmodalitäten sind erkennbar?<br />

Suche nach Bezugsfähigkeiten<br />

• Sind (Re-)Konstruktionsfähigkeiten erkennbar, die typischerweise immer<br />

wieder und in unterschiedlichsten Situationen eingesetzt werden?<br />

• Sind Routinisierungsfähigkeiten erkennbar, die typischerweise immer wieder<br />

und in unterschiedlichsten Situationen eingesetzt werden?<br />

• Sind Rationalisierungsfähigkeiten erkennbar, die typischerweise immer wieder<br />

und in unterschiedlichsten Situationen eingesetzt werden?<br />

• Welche positiven Wirkungen der Bezugsfähigkeiten sind erkennbar?<br />

• Welche negativen Wirkungen der Bezugsfähigkeiten sind erkennbar?<br />

Suche nach Verhandlungsprozessen<br />

• Gibt es erkennbare, typischerweise immer wieder nach dem gleichen Muster<br />

ablaufende Sensemaking-Zyklen (kognitive Prozesse)?<br />

• Gibt es erkennbare, typischerweise immer wieder nach dem gleichen Muster<br />

ablaufende Sensegiving-Zyklen (politische Prozesse)?<br />

• Gibt es soziale Praktiken, die sich typischerweise im <strong>Organisation</strong>salltag in den<br />

unterschiedlichsten Situationen immer wieder wiederholen?<br />

Dialectic of Control des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

• Welche Dynamiken bzw. Spannungen sind erkennbar im <strong>Handlungssystem</strong>?<br />

• In welchen Kreisläufen stabilisiert sich das <strong>Handlungssystem</strong>?<br />

Entwicklung des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

• Sind Veränderungen bzw. Entwicklungstendenzen des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

erkennbar?<br />

• Welche Ereignisse bzw. Interventionen haben diese Veränderungen initiiert?<br />

Abbildung 39: Fragenraster zum theoretischen Bezugsrahmen


DIE ERFORSCHUNG DER PRAXIS<br />

Relevante Themen<br />

• Gibt es Themen, die in der sozialen Kommunikation und Interaktion innerhalb<br />

der <strong>Organisation</strong> immer wieder auftauchen? Wie nehmen die <strong>Organisation</strong>smitglieder<br />

darauf Bezug?<br />

• Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Themen? Wie nehmen die<br />

<strong>Organisation</strong>smitglieder diesen wahr?<br />

Relevante Ereignisse<br />

• Welches sind gegenwärtig die wichtigsten Ereignisse bzw. Projekte im<br />

<strong>Organisation</strong>salltag <strong>von</strong> Helvetia Patria? Wie nehmen die <strong>Organisation</strong>smitglieder<br />

darauf Bezug?<br />

• Welches sind die wichtigsten Ereignisse bzw. Projekte in der Vergangenheit<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria? Wie nehmen die <strong>Organisation</strong>smitglieder darauf Bezug?<br />

• Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen bzw. Projekten?<br />

Wie nehmen die <strong>Organisation</strong>smitglieder diesen wahr?<br />

Abbildung 40: Fragenraster zu relevanten Themen und Ereignissen<br />

Abbildung 41: Codierschema zur Auswertung des empirischen Materi<strong>als</strong><br />

168


169<br />

FRAGEN AN DIE PRAXIS<br />

<strong>Eine</strong> relevante Fundstelle konnte beliebig vielen einzelnen Codes aus dem<br />

Codierungsschema zugeordnet werden. Nach der vollständigen Auswertung<br />

des empirischen Material ergab sich eine Menge <strong>von</strong> rund 1'500 Fundstellen<br />

(inkl. Mehrfachnennungen). <strong>Die</strong>se Textpassagen bildeten dann die Grundlage<br />

für die Ausarbeitung und Interpretation der theoretischen Erkenntnisse (vgl.<br />

Kapitel 8).


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

7 DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

Bevor im folgenden Kapitel 8 das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

beschrieben werden kann, muss hier im Kapitel 7 zuerst der externe und<br />

interne Kontext dieses <strong>Handlungssystem</strong>s vorgestellt werden, denn die<br />

Entstehung und Entwicklung eines <strong>Handlungssystem</strong>s kann nicht unabhängig<br />

<strong>von</strong> dessen Kontext verstanden werden.<br />

7.1 Externer Kontext:<br />

<strong>Die</strong> Versicherungsbranche 152<br />

<strong>Die</strong> Versicherungsbranche ist der relevante externe Kontext <strong>von</strong> Helvetia<br />

Patria. <strong>Die</strong> Branche war in den letzten Jahrzehnten aufgrund der rechtlichen<br />

Deregulierung einer markanten Veränderungsdynamik ausgesetzt. 153 <strong>Die</strong><br />

Deregulierung betrifft jedoch nicht nur die wirtschaftlichen Faktoren des<br />

Versicherungsmarkts. Auch das Selbstverständnis der Versicherer ist unter<br />

dem Einfluss der Deregulierung in Bewegung gekommen. Das traditionelle<br />

Bild der sozialen Gefahrengemeinschaft verblasst zunehmend. <strong>Eine</strong> neue<br />

Versicherungsidentität entsteht.<br />

7.1.1 Versicherungen <strong>als</strong> Gefahrengemeinschaft<br />

Bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts basierten Versicherungen auf dem<br />

Konzept der Gefahrengemeinschaft, das heisst einem persönlichen<br />

Beziehungsgeflecht zwischen Versicherten und darauf aufbauend<br />

unmittelbarer, gegenseitiger Unterstützung. 154 <strong>Die</strong>ser solidarische Grundzug<br />

bzw. ethische Wert <strong>von</strong> Versicherungen wies ihnen eine besondere Stellung in<br />

der Gesellschaft zu. <strong>Die</strong> Gefahrengemeinschaft galt <strong>als</strong> „normative Ordnung<br />

dessen, was man sich gegenseitig schuldig ist“. (Haller/Petin 1994, S. 116)<br />

Versicherungsgesellschaften galten deshalb für den Staat <strong>als</strong> schützenswerte<br />

Institution und er regulierte den Versicherungsmarkt weitestgehend (vgl.<br />

152<br />

Kapitel 7.1 stützt sich auf ein Arbeitspapier des Forschungsprojekts Learning Dynamics<br />

(Mühlbach/Schütz 2001).<br />

153<br />

<strong>Die</strong> Details zur Deregulierung der Versicherungsbranche finden sich in Anhang D. Dort werden<br />

die kulturellen Veränderungen beschrieben, die mit der Deregulierung einhergegangen sind.<br />

154<br />

Für eine ausführliche Auseinandersetzung zum Thema der Gefahrengemeinschaft siehe<br />

Pachlatko (1984, 1988).<br />

170


EXTERNER KONTEXT: DIE VERSICHERUNGSBRANCHE<br />

Anhang D, Kapitel D.2). Der Versicherungsmarkt zeichnete sich allerdings<br />

nicht nur durch eine strenge Fremdregulierung aus, sondern auch durch eine<br />

umfassende Selbstregulierung durch Kartelle und kartellähnliche <strong>Organisation</strong>en.<br />

<strong>Die</strong>se strenge Fremd- und Selbstreglementierung verlieh der<br />

Assekuranz eine Sonderstellung, was zu einer weitgehenden Abkoppelung der<br />

Assekuranz <strong>von</strong> der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung führte.<br />

<strong>Die</strong> Versicherer selbst sahen sich „nicht <strong>als</strong> Unternehmer und Gestalter <strong>von</strong><br />

Leistungen für den Markt, sondern eher <strong>als</strong> jene Instanz, welche mit<br />

<strong>Organisation</strong> und Verwaltung der Gefahren- und Risikogemeinschaft<br />

beauftragt ist“. (Haller 1988, S. 561) <strong>Die</strong>ses Selbstverständnis spiegelte sich in<br />

den Denkmustern der Versicherungsbranche wider, welche durch eine starke<br />

Innensicht, Sicherheitsgedanken und Vergangenheitsorientierung geprägt<br />

waren. Aus dieser Denkhaltung entstanden <strong>Organisation</strong>sstrukturen, welche<br />

„hierarchisch, zentralistisch, spartenorientiert, mit der Machtverteilung<br />

zwischen Vertriebs- und Sparten-‚Fürsten‘, stabil, langfristig angelegt und<br />

integriert“ (vgl. Köhne/Koch 1999, S. 32) waren. Denken und Handeln in der<br />

Assekuranz waren vorrangig auf Hierarchien und Organigramme beschränkt.<br />

<strong>Die</strong> Regulierung und Kartellierung des Versicherungsmarkts hat die<br />

Handlungsfreiheit der einzelnen Versicherungsgesellschaft aber nicht nur<br />

eingeschränkt, sondern auch erhöht. Zwar verzichteten die Versicherer auf<br />

eine autarke Preis- und Produktpolitik - aber dafür konnte im Schosse des<br />

Kartells „jede noch so kleine Gesellschaft überall alles anbieten“. (Frei 1993,<br />

S. 473)<br />

7.1.2 Auf der Suche nach einem neuen<br />

Selbstverständnis<br />

<strong>Die</strong> Deregulierung - in Verbindung mit einem enormen Wachstumsschub 155 -<br />

hat eine „säkulare“ (Haller/Maas 1997, S. 292) Entwicklung in der Assekuranz<br />

ausgelöst, die sich stark auf das ursprüngliche Sinnbild der Gefahrengemeinschaft<br />

der Assekuranz ausgewirkt:<br />

155<br />

Vgl. hierzu die Zahlen zur Prämien-Entwicklung im Versicherungsmarkt Schweiz in Kapitel<br />

7.2.1.1.<br />

171


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

• <strong>Die</strong> Versicherung hat sich vom Instrument des solidarischen<br />

Ausgleichs <strong>von</strong> Existenzrisiken zum Instrument der individuellen<br />

Wohlstandssicherung gewandelt.<br />

• <strong>Die</strong> soziale Gefahrengemeinschaft hat sich allmählich aufgelöst<br />

und ist durch einen nüchternen Geschäftsprozess der Risikotransformation<br />

ersetzt worden.<br />

• Das traditionelle Produktverständnis der Assekuranz ist überholt<br />

(vgl. Anhang D, Kapitel D.1), und mit dem Trend zur Allfinanz<br />

verschwimmen die Branchengrenzen zwischen Versicherungen<br />

und Banken zunehmend.<br />

<strong>Die</strong> traditionelle Branchenlogik der Assekuranz, die sich im Schutze der<br />

Regulierung und Kartellierung entwickelt hat, ist darob in Bewegung geraten.<br />

Immer mehr verabschiedet sich die Assekuranz <strong>von</strong> der für sie typisch<br />

gewordenen Versicherungslogik und nähert sich der Marktlogik unregulierter<br />

Wirtschaftszweige (vgl. Abbildung 42).<br />

Versicherungslogik<br />

Versicherung <strong>als</strong> etwas Besonderes<br />

Orientierung am Kartell/Verband<br />

Verwalter<br />

Fachkenntnisse<br />

Ethische Grundkomponente<br />

Statisch<br />

Frieden<br />

Wachstum/Produktion<br />

Solidarisch-Integrierend<br />

Identifikation mit der Branche<br />

Sachorientierung<br />

Kontinuität<br />

Sicherheit<br />

Rücksicht<br />

156 Vgl. Haller/Maas 1995.<br />

172<br />

Wirtschaftslogik<br />

Versicherung <strong>als</strong> Wirtschaftsunternehmen<br />

Orientierung an Kosten/Nutzen<br />

Unternehmer<br />

Führungskenntnisse<br />

Wirtschaftliches Interesse<br />

Dynamisch<br />

Kampf<br />

ROE/Gewinn<br />

Differenzierend<br />

Identifikation mit dem Unternehmen<br />

Machtorientierung<br />

Innovation<br />

Unternehmer-Risiko<br />

Handeln „Do it!“<br />

Abbildung 42: Versicherungslogik versus Wirtschaftslogik 156


INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

<strong>Die</strong>ser Prozess hat eben erst angefangen und wird selbstverständlich noch<br />

einige Jahre dauern. Doch es ist klar, dass dieser Prozess einen<br />

fundamentalen Wandel im Selbstverständnis der Assekuranz impliziert. <strong>Die</strong><br />

eigene Rolle des Versicherungsunternehmens am Markt muss neu gefunden<br />

und definiert werden.<br />

Für das Management einer Versicherung bedeutet dies, dass eine<br />

strategische Neuausrichtung und Positionierung am Markt unabdingbar ist, um<br />

den gezielten Ressourceneinsatz und eine klare Marktorientierung sicher zu<br />

stellen. Das verlangt eine „Neuausrichtung der strategischen Tools<br />

(Kernkompetenzen), der organisatorischen Koppelungsmuster (Prozesse,<br />

Netzwerke) und der kulturellen Orientierung (Identitätsstiftung)“. (Maas 1996,<br />

S. 155)<br />

<strong>Die</strong> aktuellen und zukünftigen Veränderungen stellen für die Versicherungsgesellschaften<br />

eine grosse Herausforderung nicht nur inhaltlicher, sondern vor<br />

allem auch führungsmässiger Natur dar. Es liegt auf der Hand, dass die<br />

Versicherer aufgrund der starken Selbst- und Fremdregulierung in der<br />

Vergangenheit wenig Erfahrungen mit dem erfolgreichen Umgang mit<br />

Veränderungsprozessen sammeln konnten (vgl. Haller/Maas 1995). Zugleich<br />

hat sich der Versicherungsmarkt aufgrund der Deregulierung und Wachstumsdynamik<br />

in einem derartigen Ausmass beschleunigt, dass die Unternehmen im<br />

Inneren mit dieser äusseren Entwicklung kaum Schritt halten konnten.<br />

Solange dieses Ungleichgewicht besteht, werden jegliche Veränderungsprozesse<br />

zu einem unternehmerischen Risiko, zu einer Bedrohung für die<br />

Ausgewogenheit und Stabilität des Unternehmens und der Branche.<br />

7.2 Interner Kontext:<br />

Firmenprofil <strong>von</strong> Helvetia Patria 157<br />

<strong>Die</strong> Helvetia Patria Schweiz hat ihren Sitz in Basel und betreibt das<br />

Versicherungsgeschäft auf dem Heimmarkt der international tätigen Helvetia<br />

Patria Gruppe mit Sitz in St. Gallen. <strong>Die</strong>se Gruppe entstand 1992 aus dem<br />

schrittweisen Zusammenschluss der Lebens-Versicherungsgesellschaft Patria<br />

157<br />

Kapitel 7.2 stützt sich auf ein Arbeitspapier des Forschungsprojekts Learning Dynamics<br />

(Mühlbach/Schütz 2001).<br />

173


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

mit Sitz in Basel und der Nichtlebens-Versicherungsgesellschaft Helvetia mit<br />

Sitz in St. Gallen (vgl. Kapitel 7.2.3). 158<br />

Seit 1996 ist die Helvetia Patria Gruppe in einer Holdinggesellschaft<br />

organisiert (vgl. Abbildung 43). Der Dachgesellschaft Helvetia Patria Holding<br />

gehören direkt und indirekt die beiden Aktiengesellschaften Patria und<br />

Helvetia. <strong>Die</strong> Holding-Namenaktien sind seit dem 5. Juli 1996 an der<br />

Schweizer Börse kotiert. Grösste Einzelaktionärin der Versicherungsgruppe ist<br />

die Patria Genossenschaft mit einem Anteil <strong>von</strong> 38,9 Prozent (Stand Ende<br />

2001).<br />

Patria<br />

Genossenschaft<br />

Patria<br />

Leben AG<br />

39 % 61 %<br />

Helvetia Patria<br />

Holding<br />

100 % 75 %<br />

25 %<br />

174<br />

übrige<br />

Aktionäre<br />

Helvetia<br />

Versicherungen AG<br />

Abbildung 43: Rechtsstruktur der Helvetia Patria Gruppe<br />

<strong>Die</strong> Helvetia Patria Schweiz besitzt selbst keine eigenständige juristische<br />

Rechtspersönlichkeit, sondern ist der führungsmässige und organisatorische<br />

Zusammenschluss der beiden Gesellschaften Patria Leben AG und Helvetia<br />

Versicherungen AG.<br />

Im Folgenden werden die zahlenmässigen Eckwerte des Schweizer<br />

Versicherungsmarkts, der Helvetia Patria Gruppe und der Helvetia Patria<br />

Schweiz aufgezeigt, gefolgt <strong>von</strong> der Darstellung der strategischen Ausrichtung<br />

der Helvetia Patria Schweiz. Abschliessend wird die Firmenchronologie der<br />

Helvetia Patria Schweiz anhand der wichtigsten Ereignisse beschrieben.<br />

158 Sofern in der vorliegenden Dissertation <strong>von</strong> Helvetia Patria die Rede ist, so ist damit Helvetia<br />

Patria Schweiz gemeint. Sofern auf die Helvetia Patria Gruppe Bezug genommen wird, so wird<br />

das explizit verdeutlicht.


7.2.1 Zahlenmässige Eckwerte<br />

INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

7.2.1.1 Eckwerte des Schweizer<br />

Versicherungsmarkts<br />

<strong>Die</strong> Schweiz besitzt im internationalen Vergleich die höchste<br />

Versicherungsdichte. 159 Weiter ist typisch für die Schweiz, dass die<br />

Versicherungssparten Leben und Nichtleben gemäss dem Versicherungsaufsichtsgesetz<br />

(VAG) in getrennten Rechtspersönlichkeiten zu halten sind. Es ist<br />

somit aus rechtlichen Gründen in der Schweiz nicht möglich, eine Allbranchen-<br />

Versicherungsgesellschaft zu gründen. <strong>Die</strong>ser Umstand führt dazu, dass in der<br />

Schweiz die Versicherungsgesellschaften häufig in einer Holding-Struktur<br />

organisiert sind, die es der Versicherungsgesellschaft erlaubt, <strong>als</strong> Allbranchenversicherer<br />

am Markt aufzutreten (vgl. Abbildung 43). 160<br />

Das Total des Prämienaufkommens im Schweizer Versicherungsmarkt hat<br />

sich zwischen 1970 und 1995 um 760 % erhöht, 161 und ist bis 2000 nochm<strong>als</strong><br />

um 23 % <strong>von</strong> 37,8 Mrd. CHF auf 46,6 Mrd. CHF angestiegen. 162 Der Vergleich<br />

mit dem Bruttoinlandprodukt (BIP), das sich im Zeitraum <strong>von</strong> 1970 bis 1995<br />

um knapp 300 % erhöhte, zeigt die enorme und weitaus überdurchschnittliche<br />

Wachstumsdynamik des Versicherungsmarkts in den letzten drei Jahrzehnten.<br />

163<br />

Im Jahr 2000 verteilte sich das Prämienaufkommen im Schweizer Markt auf<br />

folgende Hauptbranchen (vgl. Abbildung 44):<br />

159 <strong>Die</strong> Versicherungsdichte beschreibt den Betrag, der pro Einwohner und Land für Versicherungsprämien<br />

ausgegeben wird. In der Schweiz belief sich dieser Betrag im Jahre 1999 auf USD<br />

4’643. 62 % da<strong>von</strong> wurden für Lebensversicherungen aufgewendet. Gefolgt wird die Schweiz im<br />

internationalen Vergleich der Versicherungsdichte <strong>von</strong> Japan (USD 3’909 mit 79% Anteil<br />

Lebensversicherungen), Grossbritannien (USD 3’244 mit 77% Anteil Lebensversicherungen) und<br />

den USA (USD 2’921 mit 50% Anteil Lebensversicherungen) (vgl. SVV 2001b, S. 11).<br />

160<br />

Vgl. Kuhn (1999) für Ausführungen über verschiedene Rechtsformen zur Betreibung <strong>von</strong> Allfinanz<br />

in der Schweiz.<br />

161<br />

Nicht eingerechnet ist hierbei die Teuerung, welche im Zeitraum 1970-1995 160% betrug.<br />

162 Vgl. SVV 2001a, S. 63 und SVV 2001b, S. 5.<br />

163 Vgl. Bär 1997, S. 378f.<br />

175


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

Hauptbranchen<br />

176<br />

Jahr 2000<br />

in Mrd. CHF in %<br />

Leben 32,1 66,3<br />

Nichtleben 14,5 30,0<br />

Rückversicherung 1,8 3,7<br />

Total 48,4 100,0<br />

Abbildung 44: Prämien nach Hauptbranchen Versicherungsmarkt Schweiz 164<br />

Beobachtet über einen Zeitraum <strong>von</strong> 25 Jahren lässt sich im Prämienaufkommen<br />

eine Verschiebung innerhalb der Hauptbranchen vom Nichtleben-<br />

hin zum Lebengeschäft verzeichnen. Belief sich der Anteil Lebengeschäft am<br />

Prämientotal 1975 noch auf 44 %, so stieg er 1983 auf 51 % und betrug im<br />

Jahr 2000 schliesslich 66 %. 165<br />

Nicht nur die Wachstumsdynamik, auch der Konzentrationsprozess fällt für<br />

Leben- und Nichtlebengeschäft unterschiedlich aus (vgl. Abbildung 45)<br />

Marktkonzentration 1970 1995<br />

Leben<br />

Marktanteil Top Drei 56 % 60 %<br />

Marktanteil Top Sechs<br />

Nichtleben<br />

80 % 81 %<br />

Marktanteil Top Drei 42 % 52 %<br />

Marktanteil Top Sechs 65 % 78 %<br />

Abbildung 45: Konzentration im Schweizer Versicherungsmarkt<br />

Im Vergleich zum Nichtlebengeschäft läuft der Konzentrationsprozess im<br />

Lebengeschäft langsamer ab. 166 Mit einem Konzentrationsgrad im Leben-<br />

164 Vgl. SVV 2001b, S. 5.<br />

165 Vgl. Bär 1997, S. 379f.<br />

166 Es gilt jedoch zu betonen, dass der Konzentrationsgrad im Lebengeschäft bereits vor 25 Jahren<br />

im Vergleich zu den grossen europäischen Versicherungsländern sehr hoch war.


INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

geschäft <strong>von</strong> 81 % und im Nichtlebengeschäft <strong>von</strong> 78 % nimmt die Schweiz<br />

europaweit einen Spitzenrang ein. 167<br />

7.2.1.2 Eckwerte der Helvetia Patria Gruppe<br />

<strong>Die</strong> Helvetia Patria Gruppe konzentriert ihre geographische Präsenz auf drei<br />

Kernmärkte (Schweiz, Deutschland und Österreich), zwei Aufbaumärkte<br />

(Italien und Spanien), sowie auf die beiden Spezialgeschäfte<br />

Transportversicherungen (Frankreich) und aktive Rückversicherung (weltweit).<br />

Das Prämienvolumen der Helvetia Patria Gruppe hat in den letzten Jahren um<br />

22 % zugenommen (vgl. Abbildung 46) und liegt damit knapp unter dem<br />

durchschnittlichen Wachstum des Schweizer Markts.<br />

Mit einem Anteil am Gesamtprämienvolumen <strong>von</strong> knapp 59 % im Jahr 2001 ist<br />

die Schweiz grösster Ländermarkt der Helvetia Patria Gruppe. <strong>Die</strong>ser Anteil<br />

hat sich seit 1997 stetig verringert. 2001 hat die Schweiz jedoch erstm<strong>als</strong><br />

wieder einen Anteilszuwachs verzeichnen können. 168<br />

Prämienvolumen<br />

(in Mio. CHF)<br />

1997 1998 1999 2000 2001<br />

Gruppe 3 768,5 4 032,6 4 112,8 4 351,8 4 606,3<br />

Schweiz 2 260,4 2 329,0 2 349,9 2 430,6 2 704,7<br />

Anteil Schweiz in % 60,0 57,8 57,1 55,8 58,7<br />

Abbildung 46: Entwicklung Prämienvolumen Helvetia Patria Gruppe und Schweiz<br />

In der Helvetia Patria Gruppe waren im Jahre 2001 insgesamt 4'789<br />

Mitarbeitende beschäftigt (vgl. Abbildung 47). Über die vergangenen fünf<br />

Jahre ist die Anzahl der Beschäftigten weitgehend konstant geblieben. Der<br />

Anteil der Mitarbeitenden im Markt Schweiz hat sich hingegen absolut und<br />

prozentual seit 1997 verringert.<br />

167 Vgl. Bär 1997, S. 286.<br />

168 Mit knapp 59 % ist der Anteil des Schweizer Geschäfts am Gruppenumsatz relativ hoch. Im<br />

nationalen Vergleich beträgt bei den Versicherungsgruppen der Anteil des Schweizer Geschäfts<br />

durchschnittlich nur 33 %.<br />

177


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

Beschäftigte 1997 1998 1999 2000 2001<br />

Gruppe 4 693 4 809 4 819 5 022 4 789<br />

Schweiz 2 669 2 528 2 535 2 416 2 202<br />

Anteil Schweiz in % 48,0 52,6 52,6 48,1 46,0<br />

Abbildung 47: Entwicklung Beschäftigungszahlen Helvetia Patria Gruppe und Schweiz<br />

7.2.1.3 Eckwerte der Helvetia Patria Schweiz<br />

Das Prämienvolumen der Helvetia Patria Schweiz hat über einen Zeitraum <strong>von</strong><br />

fünf Jahren knapp 20 % zugenommen und liegt damit unterhalb des<br />

durchschnittlichen Marktwachstum in diesem Zeitraum (vgl. Kapitel 7.2.1.1).<br />

Das Prämienvolumen der Schweiz verteilt sich auf die beiden Hauptbranchen<br />

Leben und Nichtleben (vgl. Abbildung 48). <strong>Die</strong> Lebenquote der Helvetia Patria<br />

Schweiz hat über die vergangenen fünf Jahr kontinuierlich zugenommen und<br />

liegt nun mit rund 80 % deutlich über dem Marktdurchschnitt <strong>von</strong> 66,3%.<br />

Prämienvolumen<br />

in Mio. CHF (bzw. in %)<br />

1997 1998 1999 2000 2001<br />

Leben 1 703,0 (75) 1 786,9 (77) 1 822,4 (78) 1 900,9 (78) 2 171,0 (80)<br />

Nichtleben 557,4 (25) 542,1 (23) 527,5 (22) 529,7 (22) 533,7 (20)<br />

Total 2 260,4 2 329,0 2 349,9 2 430,6 2 704,7<br />

Abbildung 48: Prämien nach Hauptbranchen Helvetia Patria Schweiz<br />

Das Leben-Geschäft teilt sich in der Helvetia Patria Schweiz in die drei<br />

Bereiche Einzelleben, Kollektivleben und Anteilsgebundene Lebensversicherungen<br />

auf, wobei der Anteil Kollektivleben in den letzten Jahren<br />

kontinuierlich zugenommen hat (vgl. Abbildung 49).<br />

Das Nichtleben-Geschäft der Helvetia Paria Schweiz teilt sich in die Branchen<br />

Sach, Transport, Motorfahrzeug und Haftpflicht auf (vgl. Abbildung 50). Das<br />

Unfall/Krankengeschäft wurde Ende 1997 an die Helsana Krankenkasse<br />

abgetreten. <strong>Die</strong> Aufteilung des Prämienvolumens auf die übrigen Branchen ist<br />

in den vergangen Jahren relativ stabil geblieben. Das Nichtleben-Prämienvolumen<br />

insgesamt hat über den aufgezeigten Zeitraum jedoch einen<br />

Rückgang <strong>von</strong> 4,3 % zu verbuchen.<br />

178


Prämienvolumen Leben<br />

in Mio. CHF ( bzw. in %)<br />

INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

1997 1998 1999 2000 2001<br />

Einzelleben 734,8 (43) 800,7 (45) 630,1 (35) 568,5 (30) 689,3 (32)<br />

Kollektivleben 968,2 (57) 986,2 (55) 1 116,2 (61) 1 245,8 (66) 1 387,4 (64)<br />

Anteilgebunden 0 (0) 0 (0) 76,1 (4) 86,6 (4) 94,3 (4)<br />

Total 1 703,0 1 786,9 1 822,4 1 900,9 2 171,0<br />

Abbildung 49: Verteilung Leben-Prämien Helvetia Patria Schweiz<br />

Prämienvolumen Nichtleben<br />

in Mio. CHF (bzw. in %)<br />

1997 1998 1999 2000 2001<br />

Sach 346,9 (62) 335,7 (62) 325,7 (62) 315,8 (60) 314,8 (59)<br />

Transport 30,3 (5) 26,3 (5) 22,9 (4) 24,2 (5) 24,2 (5)<br />

Motorfahrzeug 121,3 (22) 124,1 (23) 122,3 (23) 129,1 (24) 130,5 (24)<br />

Haftpflicht 55,0 (10) 56,0 (10) 56,6 (11) 60,6 (11) 64,2 (12)<br />

Unfall/Kranken 3,9 (1) 0,0 (0) 0,0 (0) 0,0 (0) 0,0 (0)<br />

Total 557,4 542,1 527,5 529,7 533,7<br />

Abbildung 50: Verteilung der Nichtleben-Prämien Helvetia Patria Schweiz<br />

7.2.2 Leitbild und Strategie<br />

<strong>Die</strong> Vision der Helvetia Patria Gruppe lautet: „Gemeinsam erfolgreich!“.<br />

Oberste strategische Richtschnur für die gesamte Tätigkeit <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

Schweiz ist das Leitbild der Gruppe, in welchem die wichtigsten unternehmerischen<br />

Leitmotive festgehalten sind. Es wurde 1995 entwickelt und umfasst<br />

zentrale Geschäftsaussagen zu den vier Anspruchsgruppen Kunden,<br />

Kapitalgeber, Mitarbeitende und Umwelt.<br />

<strong>Die</strong> strategische Zielsetzung wird im Leitbild wie folgt umschrieben:<br />

• „Wir wollen <strong>als</strong> dynamischer Anbieter <strong>von</strong> erstklassigen<br />

Versicherungs- und Finanzdienstleistungen gelten.“<br />

• „Wir wollen bekannt sein für hohe Qualität und persönlichen<br />

Service.“<br />

179


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

• „Wir wollen die Bedürfnisse unserer Kunden nach Wertzuwachs,<br />

Werterhalt und Risikoschutz einwandfrei, rasch und innovativ<br />

befriedigen.“<br />

• „Wir wollen langfristig den <strong>Die</strong>nstleistungswert für unsere<br />

Kunden steigern, den Substanz- und Ertragswert für unsere<br />

Kapitalgeber mehren und den Stellenwert für unsere<br />

Mitarbeitenden erhöhen.“<br />

<strong>Die</strong> strategischen Ziele sollen gemäss Leitbild erreicht werden durch die<br />

Orientierung an fünf Schlüsselqualifikationen, welche zum gemeinsamen<br />

Erfolg beitragen:<br />

• „Persönlichkeit:<br />

Wir handeln ehrlich, fair, beharrlich und verlässlich.“<br />

• „Power:<br />

Wir sind dynamisch, innovativ und wettbewerbsbewusst.“<br />

• „Führung:<br />

Wir fördern Kreativität und Eigeninitiative und arbeiten<br />

gemeinsam auf ein Ziel hin.“<br />

• „Kommunikation:<br />

Wir sind offen für Veränderungen, können zuhören und uns für<br />

gute Lösungen begeistern.“<br />

• „Handwerk:<br />

Wir führen unsere Aufgaben unkompliziert, schnell und sachkundig<br />

aus.“<br />

Auf der Basis des Leitbilds und strategischer Eckwerte der Gruppe wird die<br />

Strategie der Helvetia Patria Schweiz entwickelt. <strong>Die</strong> strategische Planung<br />

erfolgt dabei jährlich rollierend auf fünf Jahre hinaus. <strong>Die</strong> erste Strategie der<br />

neu formierten Helvetia Patria Schweiz wurde 1995/96 entwickelt und reichte<br />

bis in das Jahr 2001. 169 <strong>Die</strong> während des zweijährigen Forschungsprojekts<br />

gültige Strategie reichte <strong>von</strong> 1999 bis 2004. 170 Ihr zentraler Leitsatz lautet: „Wir<br />

169<br />

<strong>Die</strong>se Strategie wird <strong>von</strong> den Mitarbeitenden gelegentlich <strong>als</strong> „Tempo-Strategie“ bezeichnet, in<br />

Anlehnung an den Namen des Fusionsprojekts (vgl. Kapitel 7.2.3).<br />

170<br />

Genannt Strategie 99-04.<br />

180


INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

denken und handeln unkompliziert, beweglich, fortschrittlich, denn: Wir sind<br />

die clevere Alternative.“<br />

Als strategische Erfolgspotenziale werden in der Strategie 99-04 die folgenden<br />

Punkte aufgezählt (vgl. Abbildung 51):<br />

• fachliche und soziale Kompetenz<br />

der Mitarbeitenden<br />

• Marktkenntnisse<br />

• Kunden-informationen<br />

• zielgerichtete Produkt- und<br />

<strong>Die</strong>nstleistungsentwicklung<br />

• Kundenbindung<br />

181<br />

• ertragsorientierter<br />

Ressourceneinsatz<br />

• effiziente Prozesse<br />

• neue Technologien<br />

• mehrere Marktzugänge<br />

• Kooperationen<br />

• Kapitalkraft und Kapitalerträge<br />

Abbildung 51: Strategische Erfolgspotenziale Helvetia Patria Schweiz<br />

Im Strategiezyklus 99-04 hat sich Helvetia Patria Schweiz die folgenden<br />

strategischen Ziele gesetzt (vgl. Abbildung 52): 171<br />

Marktanteil Ertrag<br />

Kollektivleben � �<br />

Einzelleben � �<br />

Nichtleben Privatkunden � �<br />

Nichtleben Grosskunden � �<br />

Abbildung 52: Strategische Stossrichtung der Helvetia Patria Schweiz<br />

171<br />

Dabei steht ein nach oben zeigender Pfeil für Marktanteil bzw. Ertrag erhöhen, ein waagrechter<br />

Pfeil für Ertrag halten.


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

<strong>Die</strong> strategische Zielerreichung wird durch die Setzung folgender<br />

Investitionsschwerpunkte unterstützt: Personalentwicklung, technologische<br />

Entwicklung, Einstieg ins e-Business und Kooperationspartner.<br />

7.2.3 Chronologie der Firmenentwicklung<br />

Als strategische Antwort auf die Deregulierung und die Verschärfung des<br />

Wettbewerbs gaben am 6. April 1992 die Helvetia Versicherungen (Aktiengesellschaft)<br />

und die Patria Leben (Genossenschaft) ihre Absicht zur Bildung<br />

einer strategischen Allianz bekannt. Ziel dieser Allianz war es, mit zwei sich<br />

ideal ergänzenden Gesellschaften (Helvetia im Nichtleben- und Patria im<br />

Lebenbereich) eine Verstärkung der gemeinsamen Wettbewerbsposition zu<br />

erreichen, verbunden mit einer entscheidenden Senkung der Kosten. Noch im<br />

gleichen Jahr, am 30. September 1992, kam es zur Unterzeichnung des<br />

Kooperationsvertrags.<br />

Ab dem 1. Januar 1993 arbeiteten die beiden Partner eng zusammen. Jede<br />

Gesellschaft konzentrierte sich dabei auf ihr angestammtes Kerngeschäft.<br />

Über Cross-Selling vertrieben beide Aussendienste exklusiv auch die Produkte<br />

des Partners. Gleichzeitig wurden mit dem Projekt SABA (vgl. Kapitel 7.2.3.1)<br />

in alle <strong>Organisation</strong>sbereiche mögliche Synergiepotenziale identifiziert und<br />

ausgeschöpft.<br />

Im Dezember 1993 beschlossen beide Unternehmen eine Vertiefung der<br />

Zusammenarbeit. <strong>Eine</strong> gemeinsame Geschäftsleitung nahm per 1. Januar<br />

1994 ihre Arbeit auf und ab 1. März 1994 trat eine neue gemeinsame Aufbauorganisation<br />

in Kraft. Ab September 1994 traten beide Gesellschaften unter<br />

dem Namen Helvetia Patria mit einem einheitlichen grafischen Erscheinungsbild<br />

auf, jedoch unter Weiterführung der beiden eigenständigen Marken- und<br />

Firmenbezeichnungen Helvetia und Patria. Im März 1995 wurde das neue<br />

Leitbild der Helvetia Patria eingeführt.<br />

Ende April 1995 beschlossen die Verwaltungsräte beider Gesellschaften ihren<br />

Gesellschaftsorganen die Umwandlung in eine neue Rechtsstruktur zu<br />

empfehlen. Beide Unternehmen sollten <strong>als</strong> gleichberechtigte Partner unter<br />

eine gemeinsame Dachgesellschaft - der Helvetia Patria Holding - zusammengeführt<br />

werden. Mit der neuen Rechtsstruktur sollte die bisherige erfolgreiche<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit auf entsprechende juristische und dauerhafte<br />

Grundlagen gestellt werden und Klarheit in der Rechtsform, in den finanziellen<br />

Beziehungen und in der Führung geschaffen werden. Beide Partner<br />

182


INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

bekannten sich damit nach innen und nach aussen zur Sicherung der<br />

Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Gruppe.<br />

Am 1. April 1996 wurde schliesslich die Helvetia Patria Holding gegründet.<br />

Abbildung 53 fasst die wichtigsten Schritte <strong>von</strong> strategischen Allianz bis zur<br />

gemeinsamen Holding im Überblick zusammen.<br />

1992/93<br />

Patria<br />

Helvetia<br />

sich finden<br />

1994/95<br />

Patria und<br />

Helvetia<br />

anpassen<br />

183<br />

1996<br />

Holding<br />

Patria Helvetia<br />

ordnen und<br />

erneuern<br />

Abbildung 53: Von der Partnerschaft zur Holding 172<br />

1997<br />

Helvetia Patria<br />

gemeinsam<br />

erfolgreich<br />

Ausgelöst durch die rechtliche Zusammenführung der beiden Gesellschaften<br />

verlief <strong>von</strong> 1995 bis 1997 im Rahmen des Projekts Tempo die organisatorischstrukturelle<br />

Zusammenführung und Neuorientierung der operativen<br />

<strong>Organisation</strong>seinheiten (vgl. Kapitel 7.2.3.2).<br />

Im April 2000 gab die Geschäftsleitung der Helvetia Patria Schweiz den Start<br />

des Projekts Dynamo bekannt (vgl. Kapitel 7.2.3.3). Ziel des Projekts war die<br />

Identifikation und Umsetzung ertragswirksamer Massnahmen zur Sicherung<br />

der strategischen Zielerreichung der Strategie 99-04. Das Projekt Dynamo<br />

dauerte ein Jahr und wurde im April 2001 erfolgreich beendet.<br />

Zum Abschluss des Firmenprofils der Helvetia Patria Schweiz liefert das<br />

folgende Kapitel 7.2.3 eine zusammenfassende Darstellung der drei<br />

wichtigsten <strong>Organisation</strong>sprojekte in der bisherigen Firmengeschichte:


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

• SABA: die strategische Allianz<br />

• Tempo: das organisatorische Zusammengehen<br />

• Dynamo: die interne Neuausrichtung<br />

<strong>Eine</strong> interpretative Beurteilung dieser drei Projekte erfolgt in Kapitel 7, wo die<br />

empirischen Daten des Forschungsprojekts unter der theoretischen Brille einer<br />

<strong>duale</strong>n <strong>Organisation</strong>stheorie (vgl. Kapitel 5) aufgearbeitet werden.<br />

7.2.3.1 Das Projekt SABA<br />

Auslöser für das Projekt SABA war die Absichtserklärung im April 1992 zur<br />

Bildung einer strategischen Allianz zwischen der Helvetia und der Patria. 173<br />

Um der sich anbahnenden Liberalisierung und dem damit verbundenen<br />

Margendruck einen Schritt voraus zu sein, haben sich Patria Leben <strong>als</strong> Leben-<br />

Versicherer und Helvetia Versicherungen <strong>als</strong> Nichtleben-Versicherer zu einer<br />

Partnerschaft zusammengefunden. Unter dem Motto „Gemeinsam sind wir<br />

stärker“ sollte es die Allianz beiden Partnern ermöglichen, die Fähigkeiten des<br />

anderen Partners im Leben- bzw. Nichtleben-Bereich zu nutzen, und dabei<br />

trotzdem die eigene wirtschaftliche Selbständigkeit zu wahren.<br />

In so genannten SABA-Projektgruppen wurde Form und Philosophie der<br />

Zusammenarbeit - das „ABC der Partnerschaft“ 174 - ausgearbeitet und die<br />

operative Umsetzung der strategischen Allianz vorbereitet. SABA war dabei<br />

das Akronym für St. Gallen/Basel.<br />

Um den partnerschaftlichen Charakter der Allianz zu betonen, war die<br />

Projektorganisation strikt paritätisch aufgebaut. Es wurde darauf geachtet,<br />

dass die Mitarbeitenden <strong>von</strong> Patria und Helvetia möglichst gleichgewichtig in<br />

die Projektarbeit involviert waren. Zentrales Organ für alle Fragen der<br />

Partnerschaft war der so genannte Steuerungsausschuss unter der Leitung<br />

des Vorsitzenden der Geschäftsleitung der Helvetia Versicherungen. 175<br />

Daneben blieben die bisherigen Geschäftsleitungen <strong>von</strong> Patria bzw. Helvetia<br />

172<br />

Vgl. Foliensatz Tempo.<br />

173<br />

Vgl. Partner-News Nr. 1/1992.<br />

174<br />

Partner-News, Nr. 1/1992, S. 1.<br />

175 Der Steuerungsausschuss bestand ferner aus je drei Geschäftsleitungsmitgliedern der Patria und<br />

der Helvetia, sowie aus allen Teilprojektleitern der SABA-Projekte.<br />

184


INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

weiterhin im Amt. Sie waren für den operativen Erfolg der Partnerschaft<br />

verantwortlich. Hierarchisch waren die beiden Geschäftsleitungen und der<br />

Steuerungsausschuss gleichgestellt. Entscheide wurden im gemeinsamen<br />

Einverständnis gefällt.<br />

<strong>Die</strong> Projektarbeit wurde am 14. April 1992 gestartet. Es wurde ohne externe<br />

Unterstützung eines Unternehmensberaters geplant und durchgeführt. <strong>Eine</strong><br />

erste Konzeptionsphase war bis zum September des gleichen Jahres<br />

abgeschlossen und zur Vorlage an die beiden Verwaltungsräte bereit. Nach<br />

Zustimmung der Verwaltungsräte erfolgte ab 1. Januar 1993 die Umsetzung<br />

der erarbeiteten Vorschläge.<br />

Im Zeitraum <strong>von</strong> 1992 bis 1995 wurden die wesentlichen Grundlagen der<br />

Zusammenarbeit geschaffen, wie Leitbild, Marktstrategie, Erscheinungsbild<br />

und gemeinsame Geschäftsstellen. Dazu wurden insgesamt acht Teilprojekte<br />

gestartet, in welchen zeitweise über 100 Mitarbeitende der beiden<br />

Gesellschaften arbeiteten. <strong>Die</strong>se SABA-Teilprojekte waren:<br />

• Marketing/Vertrieb<br />

• Verwaltung (Schweizer Markt)<br />

• Patria Allgemeine (Nichtleben-Geschäft der Patria)<br />

• Zusammenarbeit Ausland<br />

• Informatik<br />

• Anlage-Management/Rückversicherung<br />

• Ausbildung<br />

• Kommunikation/Information<br />

Von besonderer Bedeutung war das Teilprojekt Verwaltung. Ziel dieses<br />

Projekts war es, eine effiziente Zusammenarbeit und den gegenseitigen<br />

Support sicherzustellen. Dazu wurde das SABA-Manual entwickelt. <strong>Die</strong><br />

wichtigsten administrativen Regeln für die Abwicklung des Tagesgeschäfts<br />

waren darin dokumentiert. Das Ziel einer effizienten Zusammenarbeit wurde<br />

mit dem Folgeprojekt SABA-Agenturen, der räumlichen Zusammenlegung der<br />

jeweiligen Generalagenturen, weiter vorangetrieben. <strong>Die</strong> Generalagenturen<br />

wurden unter einem Dach zusammengeführt, waren aber nach wie vor<br />

führungsmässig und juristisch getrennt.<br />

185


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

Ein weiterer wichtiger Meilenstein in der Partnerschaft war die Abtretung des<br />

Nichtleben-Geschäfts der Patria an die Helvetia. Zur Stärkung ihrer<br />

Marktposition und zur Kostensenkung wollten sich Helvetia und Patria im<br />

Rahmen ihrer Partnerschaft auf ihr jeweiliges Kerngeschäft konzentrieren.<br />

Jeder sollte das tun, was er am besten kann. Aus diesem Grund wurde das<br />

Nichtleben-Portefeuille der Patria Allgemeinen 176 per 1.1.1993 an die Helvetia<br />

Versicherungen übertragen. Als Folge der Portefeuille-Übertragung mussten<br />

bei Patria rund 70 Stellen abgebaut werden.<br />

Wohin die Partnerschaft letzten Endes führen sollte, wurde im Projekt SABA<br />

bewusst offen gelassen. Das heisst, dass ein eigentlicher rechtlicher und<br />

organisatorischer Zusammenschluss (wie er dann im Jahre 1995/96 mit dem<br />

Projekt Tempo vollzogen wurde) nicht <strong>von</strong> Beginn weg <strong>als</strong> längerfristiges Ziel<br />

festgelegt worden war. „Wohin aber führt der Weg? <strong>Die</strong> Partnerschaft soll und<br />

wird sich <strong>als</strong> offener Prozess gestalten. Und dies heisst auch: Wir bleiben<br />

unvoreingenommen gegenüber Veränderungen und suchen ständig nach<br />

Innovationsmöglichkeiten. Dabei wollen wir den vollen Spielraum für neue<br />

Ideen gewähren. Wir gestalten so aktiv und gemeinsam unsere Zukunft. Denn:<br />

Gemeinsam sind wir stärker.“ 177<br />

7.2.3.2 Das Projekt Tempo<br />

<strong>Die</strong> partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Patria Leben und Helvetia<br />

Versicherungen wurde in den Jahren 1993 bis 1995 kontinuierlich ausgebaut.<br />

Ab 1.1.1994 arbeiteten Patria Leben und Helvetia Versicherungen unter einer<br />

gemeinsamen Geschäftsleitung. Mitte 1995 wurde schliesslich ein gemeinsames<br />

Leitbild erarbeitet und ein neues Logo für den einheitlichen Marktauftritt<br />

eingeführt, das die bisherigen individuellen Firmenlogos <strong>von</strong> Helvetia<br />

Versicherungen und Patria Leben ablöste. <strong>Die</strong> beiden Partner traten fortan<br />

unter der Bezeichnung „Helvetia Patria Gruppe“ auf.<br />

Trotz der intensivierten Zusammenarbeit brachte die Allianz jedoch nicht die<br />

gewünschten Erfolge. <strong>Die</strong> Partner hatten weiterhin Marktanteilsverluste und<br />

steigende Kosten zu verzeichnen. „Um unsere unternehmerische Tätigkeit der<br />

künftigen Entwicklung anpassen und stärker im Interesse unserer Kunden und<br />

176<br />

<strong>Die</strong> Patria Allgemeine war eine kleinere Tochtergesellschaft der Patria Leben, die das Nichtleben-<br />

Geschäft betrieb.<br />

177<br />

Editorial der Partner-News Nr. 1/1992<br />

186


INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

Kapitelgeber handeln zu können, brauchen wir tief greifende Veränderungen,<br />

mehr Effektivität und Effizienz, mehr Marktorientierung, mehr Partnerschaft<br />

und eine leistungsfähige, flexible <strong>Organisation</strong>.“ 178<br />

Darauf trat die Partnerschaft zwischen Patria Leben und Helvetia<br />

Versicherungen in eine neue Phase. Man beschloss im September 1995,<br />

beide Gesellschaften unter einer gemeinsamen Rechtsstruktur zusammenzuführen.<br />

Mit der neuen Holdingstruktur (vgl. Abbildung 53) wollte man die bisher<br />

erreichten Vorteile der Allianz dauerhaft absichern und das Potenzial der<br />

Partnerschaft konsequenter ausnutzen. In diesem Sinne war es Aufgabe des<br />

Projekts Tempo, Helvetia Versicherungen und Patria Leben in einer<br />

gemeinsamen <strong>Organisation</strong>sstruktur zusammenzuführen, neu zu ordnen und<br />

rundum zu erneuern. 179<br />

Mit Tempo sollten aus den beiden Partnern durch eine tief greifende<br />

Neuausrichtung ein gemeinsames, modernes Versicherungsunternehmen<br />

werden. Der Name des Projekts war gleichzeitig auch sein Programm (vgl.<br />

Abbildung 54):<br />

T wie Transformation: tief greifende Veränderung<br />

E wie Effektivität und Effizienz: nachhaltige Senkung der Kostensätze<br />

M wie Markt: stärkere Position<br />

P wie Partnerschaft: bessere Ausschöpfung der Zusammenarbeit<br />

O wie <strong>Organisation</strong>: konsequente, flexible <strong>Organisation</strong>sstruktur<br />

Abbildung 54: Projektziele <strong>von</strong> Tempo 180<br />

<strong>Die</strong> Massnahmen <strong>von</strong> Tempo zielten darauf ab, Veränderungsimpulse in drei<br />

Handlungsfeldern zu initiieren (vgl. Abbildung 55):<br />

178 Präsentation „Von SABA zu TEMPO“, S. 6.<br />

179 Vgl. Projekt-Unterlagen Tempo.<br />

180 Vgl. Tempo-Trends 9/96.<br />

187


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

Mehr<br />

• Marktanteil<br />

• Ertrag<br />

• Innovation<br />

• Dynamik<br />

Weniger<br />

• Kosten<br />

• Komplexität<br />

• Doppelspurigkeiten<br />

188<br />

Umdenken<br />

• kundenorientiert<br />

• betriebswirtschaftlich<br />

• lernfähig<br />

Abbildung 55: <strong>Die</strong> drei Handlungsfelder <strong>von</strong> Tempo 181<br />

<strong>Die</strong> Projektverantwortung oblag dem Lenkungsausschuss, welcher sich aus<br />

Mitgliedern der Geschäftsleitung und einer externen Beratungsfirma<br />

zusammensetzte. Der Lenkungsausschuss war für die Planung, Steuerung<br />

und Überwachung des Gesamtprojekts zuständig sowie für Zielsetzung und<br />

Entscheide. Für die operative Steuerung und Überwachung des Projektfortschritts<br />

in den einzelnen Teilprojekten sowie die Koordination der<br />

Projektgruppen war die Projektleitung zuständig.<br />

Das Projekt wurde im September 1995 gestartet und gliederte sich in drei<br />

Phasen:<br />

• Phase 1<br />

Erarbeitung eines Rahmenkonzepts, ausgehend <strong>von</strong> der Analyse<br />

des Ist-Zustandes der Partnerschaft sowie des bestehenden<br />

Geschäftssystems.<br />

• Phase 2<br />

Evaluation <strong>von</strong> Detailprogrammen zur Umsetzung des<br />

Rahmenkonzepts.<br />

• Phase 3<br />

Realisierung <strong>von</strong> sieben Detailprogrammen: 182 Strategie,<br />

181 Vgl. Projekt-Unterlagen Tempo.<br />

182 „Tempo-Baustellen“ genannt (vgl. Foliensatz Tempo).


INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

Optimierung interne <strong>Die</strong>nste, Informatik, Schlüsselqualifikationen,<br />

Controlling, Geschäftsprozesse und ADUS. 183<br />

<strong>Die</strong> Projektarbeit wurde in Phase 1 vom Projektkernteam ausgefüllt, in den<br />

weiteren Phasen 2 und 3 <strong>von</strong> programmbezogenen Arbeitsgruppen. Im Juni<br />

1997 wurde das Projekt Tempo beendet und die weitere Umsetzung an die<br />

Linie übergeben. Der Stand der Umsetzung betrug dabei im März 1997:<br />

Strategie 100 %, Optimierung interne <strong>Die</strong>nste 90 %, Informatik 33 %,<br />

Schlüsselqualifikationen 25 %, Controlling 50 %, Geschäftsprozesse 50 %,<br />

ADUS 50 %. 184<br />

<strong>Eine</strong> der massgeblichsten Veränderungen, die durch das Projekt Tempo<br />

initiiert worden waren, betraf die neue <strong>Organisation</strong>sstruktur, 185 die ab<br />

1.9.1996 für das Schweizer Geschäft gültig wurde (vgl. Abbildung 56).<br />

Im Einklang mit der neu formulierten Marktstrategie <strong>als</strong> Allbranchenversicherer,<br />

die mehr Kundennähe, Kundennutzen und Kundenzufriedenheit anvisierte,<br />

wurde die bisherige branchenbezogene Aufteilung der <strong>Organisation</strong> in die<br />

beiden Sparten Leben und Nichtleben durch eine kundenorientierte<br />

Segmentierung ersetzt. In einer fundamentalen Ausrichtung am Kunden<br />

wurden neu vier Kundenbereiche geschaffen, nämlich Privatpersonen/-<br />

Gewerbe (PG), Unternehmen (U), Anlage (A) und Vertragspartner (VP).<br />

Hauptschwerpunkt lag auf den beiden Kundenbereichen PG und U. 186 <strong>Die</strong>se<br />

beiden Kundenbereiche sollten inskünftig mit je einem eigenen, flächendeckenden<br />

Vertriebsnetz (Generalagenturen) das Leben- und Nichtleben-<br />

Geschäft für das jeweilige Kundensegment integriert anbieten. Dazu wurden<br />

die vorhandenen Kundenstämme der beiden Gesellschaften Patria Leben und<br />

Helvetia Versicherungen aufgeteilt und den entsprechenden Kundenbereichen<br />

PG oder U zugeführt.<br />

183<br />

ADUS steht für „Aussendienst-Unterstützungssystem“ und war eine computergestützte Verkaufshilfe<br />

für den Aussendienst.<br />

184<br />

Vgl. Foliensatz Tempo.<br />

185 <strong>Die</strong>se <strong>Organisation</strong>sstruktur wird im Rahmen der Dissertation <strong>als</strong> Tempo-Struktur bezeichnet.<br />

186 Vgl. Tempo & Trends Nr. 7/96.<br />

189


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

Aussendienst<br />

GL Schweiz<br />

Mathematik Stab<br />

KB PG KB U KB A KB VP Informatik<br />

Aussendienst<br />

Marketing &<br />

Ausbildung<br />

Makler<br />

Kundendienst L<br />

Key Account L<br />

Kundendienst L Kundendienst NL Services<br />

190<br />

Marketing &<br />

Ausbildung<br />

Controlling<br />

Logistik<br />

Marketing<br />

Qualität & <strong>Organisation</strong><br />

Vertriebssteuerung<br />

Infomation & Dokumentation<br />

Kundendienst NL<br />

Schaden NL<br />

Abbildung 56: <strong>Organisation</strong>sstruktur nach Tempo<br />

<strong>Die</strong> Kundensegmentierung hat innerhalb der <strong>Organisation</strong> innovative Kräfte<br />

freigesetzt. Im kürzester Zeit wurde die gesamte Produktepalette kundenspezifisch<br />

überarbeitet und modernisiert. 187 Nicht erreicht werden konnte<br />

hingegen mit Tempo das Ziel der Verbesserung der Effizienz. Im Laufe der<br />

Zeit verschlechterte sich die Kostensituation <strong>von</strong> Helvetia Patria Schweiz<br />

weiter. Das sich zuspitzende Kostenproblem führte dazu, dass die<br />

Geschäftsleitung im April 2000 das Projekt Dynamo startete, das schliesslich<br />

Helvetia Patria Schweiz in eine völlig neue <strong>Organisation</strong>sstruktur überführte.<br />

187 Vgl. Protokoll 13-02.


INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

7.2.3.3 Das Projekt Dynamo<br />

Auslöser für das Projekt Dynamo war die Kostensituation in der Schweiz. 188<br />

<strong>Die</strong> Kombination aus sich abschwächendem Finanzmarkt, hoher Schadensquote<br />

und steigendem Kostensatz drückte auf das Ergebnis der Helvetia<br />

Patria Schweiz. Zudem fürchtete man, dass es im Zuge der Deregulierung<br />

zukünftig zu einer Offenlegung der internen Kostensätze kommen könnte -<br />

und dagegen wollte man mit konkurrenzfähigen Kostensätzen gewappnet<br />

sein. 189<br />

Das Projekt Dynamo wurde am 2.5.2000 gestartet und verfolgte anfangs eine<br />

zweifache Zielsetzung (vgl. Abbildung 57).<br />

hoch<br />

Effizienz<br />

tief<br />

�� Neuer Führungs- und Handlungsrahmen<br />

��<br />

��<br />

Effizienz-<br />

Effizienz-<br />

Programme<br />

Programme<br />

Ausgangslage<br />

191<br />

Zielstellung<br />

Projekt Dynamo<br />

��<br />

��<br />

Wachstums-<br />

Wachstums-<br />

Programme<br />

Programme<br />

tief hoch<br />

Wachstum<br />

Abbildung 57: Ziele des Projekts Dynamo<br />

Zum einen sollte der Gesamtkostenblock um 60 Mio. CHF (bzw. 15 %)<br />

reduziert werden. Zum anderen sollten mit verstärkten Anstrengungen die<br />

Wachstumsziele gemäss Strategie 99-04 erreicht werden. Im Laufe des<br />

Projekts Dynamo kam zu den beiden anfänglichen Zielen noch ein drittes<br />

188<br />

Im Gegensatz zu den beiden Projekten SABA und Tempo war Dynamo demnach ein Projekt,<br />

welches vom Ländermarkt Schweiz initiiert wurde und auch nur diesen betraf.<br />

189<br />

Vgl. Protokoll 21-06.


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

hinzu: die Schaffung eines neuen Führungs- und Handlungsrahmens. Mit<br />

diesem dritten Ziel wollte man zusätzlich zur monetären Dimension der<br />

Effizienz- und Wachstumsziele auch die kulturelle Dimension der<br />

Neuausrichtung <strong>von</strong> Helvetia Patria Schweiz betonen. 190<br />

<strong>Die</strong> Projektorganisation bestand aus einem Lenkungsausschuss<br />

(Projektführungsteam) unter der Leitung des Vorsitzenden der<br />

Geschäftsleitung der Helvetia Patria Schweiz und einem Projektteam. Das<br />

Projektführungsteam setzte sich aus der gesamten Geschäftsleitung Helvetia<br />

Patria Schweiz, sowie drei weiteren Mitarbeitenden und zwei Vertretern einer<br />

externen Beratungsfirma zusammen. Das Projektteam bestand zu Beginn des<br />

Projekts aus elf Personen, wuchs aber im weiteren Verlauf des Projekts auf<br />

ca. 60 Personen an.<br />

Das Projektvorgehen gliederte sich in drei Phasen. Der Zeitplan war straff<br />

ausgelegt und verlangte eine strikte Arbeitsdisziplin. In Phase 1 ging es um die<br />

Identifikation <strong>von</strong> aktuellen Kostentreibern und möglichen Wachstumshebeln.<br />

Dabei wurden drei Themenbereiche untersucht:<br />

• Kosten/Effizienz<br />

Lokalisierung <strong>von</strong> Effizienz-Potenzialen und Optimierung der<br />

Wertschöpfung mittels vertiefter Analyse ausgewählter Kernprozesse.<br />

• Nutzen/Kostenanalyse laufender Projekte<br />

Beurteilung der grössten Projektvorhaben aus Sicht der Kosten<br />

und ihrer Bedeutung für die Stärkung der Wettbewerbsposition.<br />

• Wachstum<br />

Untersuchung der vorhandenen Vertriebskanäle im Hinblick auf<br />

Wachstumsmöglichkeiten und Aufzeigen <strong>von</strong> Entwicklungspotenzialen.<br />

<strong>Die</strong> Phase 1 wurde Ende Juni 2000 abgeschlossen. In der anschliessenden<br />

Phase 2 wurden zu den identifizierten Effizienz- bzw. Wachstumspotenzialen<br />

insgesamt 33 Massnahmenpakte (25 Effizienz- und 8 Wachstumsprogramme)<br />

ausgearbeitet und priorisiert. Daraus resultierten schliesslich 12 Dynamo-<br />

190 Vgl. Protokolle 21-06 und 22-04.<br />

192


INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

Programme, die dann in Phase 3 ab dem 1.9.2000 umgesetzt wurden (vgl.<br />

Abbildung 58). 191<br />

1. Umstrukturierung Gesamtorganisation<br />

2. Neuausrichtung Vertriebsmanagement<br />

3. Aufbau AD-Management<br />

4. Optimierung MB Vorsorge P<br />

5. Optimierung MB Vorsorge U<br />

6. Optimierung MB Nichtleben<br />

7. Aufbau Kompetenz-Center<br />

8. Aufbau Broker-Center<br />

9. Neugestaltung Stab<br />

10. Neuorganisation regionale Standorte<br />

11. Optimierung Informatik<br />

12. Entwicklung zusätzlicher Wachstumsinitiativen<br />

Abbildung 58: <strong>Die</strong> zwölf Dynamo-Programme<br />

Am offiziellen Projektende per 30.4.2001 waren viele Dynamo-Programme<br />

teilweise oder ganz realisiert, dennoch waren noch längst nicht alle<br />

Projektaktivitäten abgeschlossen. <strong>Die</strong> verbleibenden Projekt-Pendenzen<br />

wurden zur weiteren Umsetzung an die Linie übergeben. <strong>Die</strong> Überwachung<br />

dieser Pendenzen oblag der Geschäftsleitung.<br />

Das bedeutendste und zugleich einschneidenste Ergebnis des Projekts<br />

Dynamo war die Umstrukturierung der Gesamtorganisation, die bereits per<br />

1.10.2000 operativ wirksam wurde (vgl. Abbildung 59).<br />

191 Bestandteil dieser Umsetzung war ein Abbau <strong>von</strong> 440 Stellen, der 260 Kündigungen auslöste.<br />

<strong>Die</strong> restlichen 180 Stellen konnten durch einen vorausschauenden Anstellungsstopp, der zu<br />

Beginn des Projekts Dynamo verhängt wurde, eingespart werden.<br />

193


DER KONTEXT VON HELVETIA PATRIA<br />

Vertriebsmanagement<br />

GL Schweiz<br />

Branding Mathematik Controlling Projektsteuerung<br />

MB VP MB VU MB NL MB e&VP<br />

Produktemanagement Kundencenter Marktentwicklung<br />

Prozesse &<br />

Qualität<br />

AD-Regionen AD-Management Services<br />

Produktemanagment<br />

Prozesse &<br />

Qualität<br />

194<br />

Fachsupport &<br />

Underwritung<br />

Fach- &<br />

Marktsupport<br />

Prozesse &<br />

Qualität<br />

Kunden-<br />

Center<br />

Prozesse &<br />

Qualität<br />

Kundendienst-<br />

Center<br />

Abbildung 59: <strong>Organisation</strong>sstruktur nach Dynamo<br />

Leistungs-<br />

Center<br />

Informatik<br />

Logistik<br />

Schaden-<br />

Center<br />

Broker-<br />

Center<br />

<strong>Die</strong> konsequente Kundenbereichssegmentierung aus dem Projekt Tempo<br />

wurde zu Gunsten einer wiederum stärker branchenorientierten Struktur<br />

aufgegeben. <strong>Die</strong> neue <strong>Organisation</strong>sstruktur gliedert sich nun in die<br />

<strong>Organisation</strong>seinheit Vertriebsmanagement (VM) sowie die vier Marktbereiche


INTERNER KONTEXT: FIRMENPROFIL VON HELVETIA PATRIA<br />

Vorsorge Unternehmen (MB VU), Vorsorge Privat (MB VP), Nichtleben<br />

(MB NL) und e-Business/Vertragspartner (MB e&VP). 192<br />

<strong>Die</strong> im Rahmen <strong>von</strong> Tempo geschaffenen zwei parallelen Vertriebsorganisationen<br />

des Kundenbereichs PG und des Kundenbereichs U wurden<br />

wieder aufgehoben und zum einheitlichen Bereich Vertriebsmanagement<br />

zusammengelegt. Das Vertriebsmanagement ist neu zuständig für den<br />

gesamten Vertrieb - unabhängig <strong>von</strong> Sparte (L/NL) oder Kundensegment<br />

(PG/U/A). <strong>Die</strong> strategische Ausrichtung je Kundensegment/Branche, die<br />

interne Abwicklung sowie die fachliche Unterstützung des Aussendiensts sind<br />

Aufgabe der vier neuen Marktbereiche (VU, VP, NL, e&VP). 193<br />

192 <strong>Die</strong>se <strong>Organisation</strong>sstruktur wird im Rahmen der Dissertation <strong>als</strong> Dynamo-Struktur bezeichnet.<br />

193 Es handelt sich bei der neuen Dynamo-Struktur <strong>als</strong>o gewissermassen um eine Matrix-<br />

<strong>Organisation</strong>, auch wenn das im Organigramm nicht so dargestellt wird (vgl. Abbildung 59).<br />

195


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

8 DAS HANDLUNGSSYSTEM VON<br />

HELVETIA PATRIA<br />

„Denn eine <strong>Organisation</strong> ist nicht, was sie ist, sondern ist immer nur das, was<br />

ein bestimmter Schnitt zu erkennen gibt. Jedes Wissen ist an einen solchen<br />

Schnitt gebunden, sei es, dass die <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> Form der Produktion, <strong>als</strong><br />

gesellschaftliche Ordnungsform, <strong>als</strong> Resultat einer Hierarchie, <strong>als</strong> Planungsgegenstand<br />

<strong>von</strong> Experten oder <strong>als</strong> Milieu ihrer Mitarbeiter gesehen wird.“<br />

(Baecker 1999, S. 70)<br />

Auch die Darstellung des <strong>Organisation</strong>salltags <strong>von</strong> Helvetia Patria <strong>als</strong><br />

<strong>Handlungssystem</strong> ist ein solcher Schnitt im Sinne <strong>von</strong> Baecker. Das bedeutet,<br />

dass diese Darstellung nur eine mögliche Beschreibung der <strong>Organisation</strong><br />

Helvetia Patria unter vielen denkbaren anderen Beschreibungen ist. Das<br />

Firmenprofil <strong>von</strong> Helvetia Patria in Kapitel 7.2 ist eine solche mögliche<br />

Beschreibung. Das Firmenprofil umreisst die wirtschaftlichen Umrisse <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria. Es stellt die <strong>Organisation</strong> in den Kategorien Fakten und Zahlen<br />

dar.<br />

Hier im Kapitel 8 soll die soziale Ordnung des organisationalen Alltags <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria zum Vorschein gebracht und erklärt werden. Dazu wird das<br />

Bild <strong>von</strong> Helvetia Patria <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> aufgezeichnet und interpretiert<br />

(vgl. Abbildung 60).<br />

Zunächst wird in Kapitel 8.1 Helvetia Patria <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> beschrieben.<br />

Dazu gehört der Kontext des <strong>Handlungssystem</strong>s, die Elemente des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s und natürlich die Dialectic of Control, die im <strong>Handlungssystem</strong><br />

einen Zustand <strong>von</strong> Ordnung und Stabilität (re-)produziert.<br />

In Kapitel 8.2 werden die historischen Wurzeln der vorgefundenen Evidenz<br />

des <strong>Handlungssystem</strong>s untersucht. Kapitel 8.3 beschreibt eine Intervention ins<br />

<strong>Handlungssystem</strong> und Kapitel 8.4 schliesslich stellt Überlegungen zur<br />

möglichen zukünftigen Entwicklung des <strong>Handlungssystem</strong>s an.<br />

196


197<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Kapitel 8.2 Kapitel 8.1<br />

Kapitel 8.3<br />

Historische Rekonstruktion Das <strong>Handlungssystem</strong> Intervention und Veränderung<br />

SABA SABA SABA und und und Tempo Tempo Tempo<br />

<strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

Kontext<br />

Dynamo Dynamo<br />

1992 2001<br />

Abbildung 60: Rekonstruktion und Interpretation des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

8.1 Beschreibung des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

In den zwei Jahren, in denen die Forscherinnen Helvetia Patria im Firmenalltag<br />

begleiten konnten, haben sich graduell Gründzüge des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria herauskristallisiert. Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>als</strong><br />

Ganzes ist jedoch eine theoretische Konstruktion, die für die Beobachtenden<br />

in der <strong>Organisation</strong>spraxis nie <strong>als</strong> solches, sondern immer nur in Auszügen<br />

und in Abhängigkeit <strong>von</strong> der konkreten Situation sichtbar und nachvollziehbar<br />

wird. Einzelne Aspekte dieses <strong>Handlungssystem</strong>s konnten allerdings <strong>von</strong> den<br />

Forscherinnen in verschiedenen Phasen des Forschungsprojekts mit<br />

Mitgliedern der <strong>Organisation</strong> diskutiert und plausibilisiert werden. 194<br />

In den nachfolgenden Kapiteln werden die einzelnen Elemente des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s (Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten, Verhandlungsprozess<br />

des Organisierens) sowie das Ineinandergreifen und Zusammen-<br />

194 Vgl. Protokolle 31-03, 32-01, 32-02, 32-04, 32-06, 32-07, 33-01, 33-02, 33-03.<br />

t


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

wirken der einzelnen Elemente (Dialectic of Control) beschrieben (vgl.<br />

Abbildung 61). 195 Das <strong>Handlungssystem</strong> kann selbstverständlich nicht<br />

losgelöst vom Kontext <strong>von</strong> Helvetia Patria verstanden werden. Daher wird in<br />

einem ersten Schritt auf den Kontext <strong>von</strong> Helvetia Patria Bezug genommen.<br />

interpretative Schemata<br />

Nach welchen Schemata<br />

erfolgt die soziale<br />

Konstruktion der organisationalen<br />

Wirklichkeit?<br />

Wie laufen die<br />

kognitiven<br />

Prozesse des<br />

Organisierens ab?<br />

(Re-)Konstruktion<br />

Wie entfalten sich die<br />

generativen Fähigkeiten<br />

in der sozialen Konstruktion<br />

der organisationalen<br />

Wirklichkeit?<br />

Externer Kontext<br />

Ressourcen<br />

Welche Materialisierungen<br />

der organisationalen<br />

Wirklichkeit sind beobachtbar?<br />

Welche sozialen<br />

Praktiken des<br />

Organisierens sind<br />

beobachtbar?<br />

Routinisierung<br />

Wie wirken die gestalterischen<br />

Fähigkeiten auf<br />

die Materialisierung der<br />

organisationalen Wirklichkeit?<br />

198<br />

Normen<br />

Nach welchen Normen<br />

erfolgt die soziale<br />

Legitimation der organisationalen<br />

Wirklichkeit?<br />

kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />

Wie laufen die<br />

politischen<br />

Prozesse des<br />

Organisierens ab?<br />

Rationalisierung<br />

Wie ermöglichen die<br />

selektiven Fähigkeiten<br />

die Legitimation der<br />

organisationalen Wirklichkeit?<br />

Welcher Einfluss hat der externe Kontext auf das <strong>Handlungssystem</strong>?<br />

Abbildung 61: Erkundung des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

195 An dieser Stelle sei auf das Kapitel 5 verwiesen, in dem die theoretischen Grundlagen zum<br />

Konzept des <strong>Handlungssystem</strong>s dargestellt sind, sowie auf das Glossar in Anhang A, in dem die<br />

wichtigsten theoretischen Begriffe zusammengestellt und kurz beschrieben sind.<br />

Ebenfalls muss betont werden, dass ein <strong>Handlungssystem</strong> immer in Bewegung ist und nie einen<br />

statischen Zustand annimmt, der sich eineindeutig beschreiben liesse. Das <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria hat sich in den zwei Jahren des Forschungsprojekts bewegt und wird sich<br />

ohne Frage auch seither entwickelt haben. <strong>Die</strong> vorliegende Darstellung des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria ist daher eine zeitliche Einklammerung und beschreibt das <strong>Handlungssystem</strong>,<br />

wie es die Forscherinnen in den Jahren 2000 und 2001 im Rahmen der Feldforschung wahrgenommen<br />

haben. <strong>Die</strong> durch Dynamo ausgelösten Veränderungen sind in dieser Beschreibung<br />

noch nicht berücksichtigt. Sie werden erst in Kapitel 8.3 beschrieben und interpretiert.


199<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

8.1.1 Externer Kontext<br />

<strong>Die</strong> kulturellen Eigenheiten und die wirtschaftliche Entwicklung der<br />

Versicherungsbranche stellen für Helvetia Patria den relevanten externen<br />

Kontext dar. <strong>Die</strong> Deregulierung der Versicherungsbranche hat in den<br />

vergangenen vierzig Jahren eine massive Veränderungswelle ausgelöst, die<br />

für jedes Versicherungsunternehmen eine grosse Herausforderung bedeutete.<br />

<strong>Die</strong>se Entwicklung ist in Kapitel 7.1 sowie Anhang D ausführlich beschrieben.<br />

Hier sollen im Sinne einer Zusammenfassung nur noch diejenigen Punkte<br />

aufgeführt werden, die zum Zeitpunkt des Forschungsprojekts einen spürbaren<br />

Einfluss auf das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria ausgeübt haben<br />

(vgl. Abbildung 62).<br />

Der Versicherungskontext ... ... und seine Auswirkungen auf HPV<br />

Produkt Versicherung verändert<br />

sich:<br />

Deregulierung bringt<br />

Produktevielfalt:<br />

Der Erfolg eines Versicherungsprodukts hängt je<br />

länger je weniger <strong>von</strong> seinen Kernfunktionen,<br />

sondern vielmehr <strong>von</strong> den eingebetteten Serviceund<br />

Leistungsfunktionen ab (vgl. Abbildung 76).<br />

Das stellt den Vertrieb <strong>von</strong> Helvetia Patria vor<br />

neue Aufgaben:<br />

• Vertrieb heisst nicht mehr nur Verkauf,<br />

sondern verlangt neu die umfassende<br />

Betreuung des Kunden („Care“). Der Aussendienst<br />

muss für diese neue Aufgabe befähigt<br />

werden. <strong>Die</strong> Qualifizierung des Vertriebs ist für<br />

Helvetia Patria ein ständiges Thema.<br />

• Je differenzierter das Produkt, desto variantenreicher<br />

muss auch der Auftritt am Markt sein.<br />

Spezifische Kundensegmente müssen gezielt<br />

angesprochen werden. <strong>Die</strong> Interaktion mit dem<br />

Kunden wird vielfältiger und anforderungsreicher.<br />

Ein einzelner Absatzkanal (Aussendienst)<br />

kann die benötigte Vielfalt nicht mehr<br />

generieren. Helvetia Patria versucht deshalb,<br />

ein ausdifferenziertes Vertriebsnetz aus<br />

verschiedensten Absatzkanälen aufzubauen<br />

(Aussendienst, Makler, Vertragspartner).<br />

<strong>Die</strong> rasante Entwicklung der Produktpalette stellt<br />

hohe Anforderungen an den Produktionsprozess.<br />

Helvetia Patria reagiert darauf mit folgenden<br />

Massnahmen:<br />

• Produktentwicklung und -management sind<br />

wichtige Funktionen, für die gezielt Kompetenzen<br />

und Ressourcen aufgebaut werden.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Der Versicherungskontext ... ... und seine Auswirkungen auf HPV<br />

Deregulierungsdynamik ist<br />

unterschiedlich:<br />

• Es sind immer flexiblere Informatiklösungen<br />

notwendig, um die Produktevielfalt effizient<br />

abwickeln zu können. Für die Neuentwicklung<br />

<strong>von</strong> Informatiklösungen werden hohe<br />

Investitionssummen bereitgestellt.<br />

• <strong>Die</strong> internen Prozesse müssen schlanker und<br />

schneller werden, um mit der rasanten<br />

Entwicklung am Markt mithalten zu können.<br />

Prozessmanagement wird zu einer integralen<br />

Führungsaufgabe erklärt.<br />

<strong>Die</strong> Deregulierungsbemühungen in der Sparte<br />

Leben haben früher eingesetzt <strong>als</strong> in der Sparte<br />

Nichtleben. Das hat zu einer unterschiedlichen<br />

Entwicklung in diesen beiden Branchen und damit<br />

zu neuen Problemen für den Allbranchenversicherer<br />

Helvetia Patria geführt:<br />

• <strong>Die</strong> Sparte Leben ist innovativer und weist die<br />

grössere Wachstumsdynamik auf <strong>als</strong> die<br />

Sparte Nichtleben. Das verstärkt die wirtschaftlichen<br />

und kulturellen Unterschiede zwischen<br />

den beiden Branchen.<br />

• Es wird zunehmend anspruchsvoller, beide<br />

Branchen in einer Gesamtstrategie zu<br />

integrieren.<br />

Dekartellierung bringt Wettbewerb: <strong>Die</strong> Auflösung der Kartelle hatte zur Folge, dass<br />

die Versicherer untereinander plötzlich im<br />

Wettbewerb standen. Das stellt Helvetia Patria<br />

vor völlig neue Aufgaben bzw. Probleme:<br />

• Sie muss sich am Markt positionieren und<br />

gegenüber den Kunden ein unverwechselbares<br />

(Leistungs-)Profil gewinnen.<br />

• <strong>Die</strong> Differenzierung <strong>von</strong> der Konkurrenz<br />

erfolgte nicht nur über die Leistung, sondern<br />

ebenfalls über den Preis. <strong>Die</strong> Versicherungsprämien<br />

stehen unter einem erheblichen<br />

Preisdruck. Das führt zu einer Schwächung<br />

des technischen Ergebnisses.<br />

• Der Kunde wird kritischer und stellt Konkurrenzvergleiche<br />

an. <strong>Die</strong> Forderung nach<br />

Transparenz (Offenlegung der Kostensätze<br />

und Margen) nimmt zu. Das stellt für<br />

Versicherer mit ineffizienten und kostenintensiven<br />

Strukturen ein Risiko dar. Helvetia<br />

Patria hat deshalb ihre Kosten deutlich<br />

reduziert.<br />

200


201<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Der Versicherungskontext ... ... und seine Auswirkungen auf HPV<br />

• Ganz allgemein zeichnet sich eine sinkende<br />

Rentabilität der Versicherungsbranche ab. <strong>Die</strong><br />

fetten Jahre sind vorbei.<br />

Strukturelle Verdichtung: Der Konkurrenzdruck am Markt hat zu verschiedenen<br />

Unternehmenszusammenschlüssen<br />

geführt. <strong>Die</strong> Macht einzelner Wettbewerber hat<br />

dadurch zugenommen. Das führt zu neuen<br />

Spielregeln am Markt:<br />

Kultureller Wandel in der<br />

Assekuranz:<br />

• Helvetia Patria braucht eine gewisse Mindestgrösse,<br />

um mit Hilfe <strong>von</strong> Skalen- und<br />

Synergieeffekten am Markt noch mithalten zu<br />

können. 196 Sonst ist auf längere Sicht die<br />

wirtschaftliche Unabhängigkeit gefährdet.<br />

• <strong>Die</strong> Entwicklung und der Ausbau des Produkts<br />

Versicherung lässt den Ressourcenbedarf<br />

erheblich ansteigen. <strong>Die</strong> Investitionskraft wird<br />

zu einem kritischen Faktor für Helvetia Patria.<br />

• Der Professionalisierungsdruck im Versicherungsgeschäft<br />

nimmt zu. Als Antwort darauf<br />

stärkt Helvetia Patria ihre Kompetenzen im<br />

Bereich Führung und <strong>Organisation</strong>.<br />

<strong>Die</strong> wirtschaftlichen Veränderungen in der<br />

Versicherungsbranche haben auch einen<br />

kulturellen Wandel ausgelöst. Helvetia Patria ringt<br />

um eine neue Denkhaltung:<br />

• aktive Gestaltung der Zukunft vs. Orientierung<br />

an der Vergangenheit<br />

• Differenzierung des Leistungsangebots vs.<br />

Alleskönner<br />

• flexible Prozesse vs. stabile <strong>Organisation</strong>sstrukturen<br />

• Orientierung an Deckungsbeiträgen und<br />

Rendite vs. Prämienproduktion<br />

• Führungskenntnisse vs. Fachkenntnisse<br />

Abbildung 62: Kontext des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

Zusammenfassend lässt sich zum Verhältnis zwischen Kontext und<br />

<strong>Handlungssystem</strong> Folgendes festhalten:


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

• <strong>Die</strong> Veränderungen in der Versicherungsbranche üben<br />

Handlungsdruck auf Helvetia Patria aus. Helvetia Patria muss<br />

auf die in Gang gekommenen wirtschaftlichen und kulturellen<br />

Veränderungen reagieren, um den Anschluss an die Marktentwicklung<br />

nicht zu verlieren.<br />

• Um auf diese Veränderungen angemessen reagieren zu können,<br />

sind <strong>von</strong> Helvetia Patria neue Fähigkeiten gefragt. Helvetia<br />

Patria muss eine neue Form <strong>von</strong> Denken und Handeln entwickeln,<br />

wie sie <strong>von</strong> Helvetia Patria in der Vergangenheit bisher<br />

noch nicht gelebt worden ist.<br />

• <strong>Die</strong> Entwicklung neuer, völlig ungewohnter Fähigkeiten ist eine<br />

paradoxe Herausforderung: Wie kann Helvetia Patria etwas<br />

hervorbringen, das es selbst (noch) nicht kennt? Wie gelingt es,<br />

Neues zu schaffen, wenn dabei nicht mehr auf das Wissen und<br />

die Erfahrungen der Vergangenheit zurückgegriffen werden<br />

kann?<br />

8.1.2 Strukturmodalitäten<br />

<strong>Die</strong> Strukturmodalitäten stecken den organisationalen Möglichkeitsraum ab.<br />

Sie sind vergleichbar mit einem Repertoire an interpretativen Regeln, Normen<br />

und Ressourcen, deren sich der organisationale Alltag situativ bedienen kann.<br />

Welche Regeln, Normen und Ressourcen letztlich konkret herangezogen<br />

werden, lässt sich nicht im Voraus bestimmen. Auch sind die Regeln, Normen<br />

und Ressourcen untereinander nicht zwingend eineindeutig und konfliktfrei.<br />

Erst das Zusammenspiel aller drei Strukturmodalitäten in Kombination mit den<br />

Bezugsfähigkeiten führt im Rahmen des Verhandlungsprozesses des<br />

Organisierens schliesslich zur Ausbildung einer sich selbst stabilisierenden<br />

organisationalen Wirklichkeit.<br />

8.1.2.1 Interpretative Schemata<br />

<strong>Die</strong> interpretativen Schemata <strong>von</strong> Helvetia Patria zeichneten sich nicht durch<br />

ein bestimmtes Set eindeutiger und dominanter Schemata aus, eher im<br />

196<br />

Es sei denn, Helvetia Patria würde sich konsequent auf die Nutzung einer Marktnische zurückziehen.<br />

202


203<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Gegenteil. Es schien keine klaren, stabilen Regeln der Signifikation zu geben,<br />

die die Konstruktion der sozialen Wirklichkeit <strong>von</strong> Helvetia Patria lenkten.<br />

<strong>Die</strong>ses Sinn-Vakuum wurde in einem Interview treffend beschrieben <strong>als</strong><br />

„Neutralisierung“: „<strong>Die</strong> Fusion hat Helvetia Patria neutralisiert. Es gibt alte<br />

Helvetianer und alte Patrianer, aber keine einheitliche Unternehmensphilosophie.“<br />

197<br />

Im Prinzip kann man <strong>von</strong> zwei typischen Mustern reden, die für die<br />

interpretativen Schemata <strong>von</strong> Helvetia Patria <strong>von</strong> Bedeutung waren, und<br />

eigentlich genau das Gegenteil <strong>von</strong> Orientierung und Stabilität bewirkten:<br />

Ambivalenz und Fragmentierung.<br />

a) Ambivalenz<br />

Seit dem rechtlichen Zusammenschluss 1996 hat man bei Helvetia Patria<br />

grosse Anstrengungen unternommen, die <strong>Organisation</strong> flexibler und kundenorientierter<br />

auszurichten (vgl. Kapitel 7.2.3). Im Denken und Handeln <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria waren Spuren der traditionellen Versicherungslogik (vgl.<br />

Abbildung 42 und Abbildung 62) jedoch immer noch deutlich spürbar. Helvetia<br />

Patria befand sich noch mitten im Übergang <strong>von</strong> einem traditionellen<br />

Versicherer hin zu einem modernen, integrierten Versicherungsdienstleister.<br />

Das führte zu einer Ambivalenz in der <strong>Organisation</strong>, die sich auf verschiedene<br />

Weise äusserte:<br />

• Offenheit gegenüber Neuem<br />

Nicht überall in der <strong>Organisation</strong> war man da<strong>von</strong> überzeugt, dass<br />

Helvetia Patria den richtigen Weg einschlägt und befürchtete<br />

eine Gefährdung der traditionellen Versicherungswerte: „Wir verkaufen<br />

Sicherheit. Und wir sollten eigentlich keine Speer- oder<br />

Stossrichtung spielen im Wandel.“ 198 Das traditionelle<br />

Versicherungsdenken vermittelte zwar Werte und Identität, wirkte<br />

aber auch einschränkend auf die Wahrnehmung und Entwicklung<br />

neuer Handlungsmöglichkeiten: „In der Versicherung<br />

sitzen immer noch Versicherer, und ... die denken schon in<br />

197<br />

Protokoll 11-03, Absatz 36. Zur Methodik der Referenzierung auf Originalzitate aus dem<br />

empirischen Material vgl. Anhang C.<br />

198<br />

Protokoll 13-15, Absatz 27.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Versicherungen.“ 199 <strong>Die</strong>ses Paradox war spürbar in der<br />

<strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria und war vielen Führungskräften<br />

und Mitarbeitenden auch bewusst: „Sowohl der Mut zur<br />

Bewahrung, <strong>als</strong> auch der Mut zur Veränderung sind sehr wichtig.<br />

... Bestimmte Grund- und Werthaltungen müssen bewahrt<br />

werden. ... <strong>Die</strong> Stellung der mittleren und unteren Führungskräfte<br />

ist schwierig und auch ambivalent, denn sie müssen im<br />

Spannungsverhältnis zwischen Bewahrung und Veränderung<br />

agieren und vermitteln.“ 200<br />

• Führungskultur<br />

<strong>Eine</strong> weitere erstaunliche Ambivalenz war festzustellen bei der<br />

Eigenbewertung der Führungskultur <strong>von</strong> Helvetia Patria. Wir<br />

Forscherinnen hörten die Einschätzung, dass Helvetia Patria<br />

„paternalistisch“ und hierarchisch geführt wird, und dass<br />

abweichende Meinungen keinen Platz haben. 201 In anderen<br />

Gesprächen hingegen wurde betont, dass die Kommunikationswege<br />

bis in die oberste Führungsspitze offen und unkompliziert<br />

sind und dass abweichende Meinungen vertreten werden<br />

können: „Helvetia Patria ist ein Unternehmen mit viel Freiraum,<br />

welches offen geführt ist. Man kann mit Persönlichkeiten aus der<br />

Geschäftsleitung problemlos direkt kommunizieren, es ist kein<br />

streng hierarchisches Denken vorhanden.“ 202 <strong>Eine</strong> abschliessende<br />

<strong>Erklärung</strong> für diese unterschiedlichen Wahrnehmungen ist<br />

hier nicht möglich. Doch diese fehlende Berechenbarkeit der<br />

Führung <strong>von</strong> Helvetia Patria ist ein weiteres Indiz für die<br />

temporäre Orientierungsambivalenz in den Sinn-Prozessen der<br />

<strong>Organisation</strong>.<br />

• Zusammenarbeitskultur<br />

Ambivalenz gab es auch in der Kultur der Zusammenarbeit. Als<br />

Anbieter integrierter Versicherungsleistungen ist für Helvetia<br />

Patria eine team- und prozessorientierte Zusammenarbeit<br />

199 Protokoll 13-04, Absatz 28.<br />

200<br />

Protokoll 21-06, Absatz 38.<br />

201<br />

Vgl. z.B. Protokoll 32-05, Absatz 29.<br />

202 Protokoll 11-03, Absatz 36.<br />

204


205<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

zentral. Darum ist beispielsweise der Aufbau eines Prozessmanagements<br />

ein wichtiges Ziel <strong>von</strong> Helvetia Patria. Doch dem<br />

stand das für die Versicherungsbranche typische Einzelkämpfertum<br />

im Weg. „Das war etwas, das mir am ehesten aufgefallen ist:<br />

<strong>Die</strong> Leute waren sich nicht gewohnt, in Teams zu arbeiten. Jeder<br />

war ein Einzelkämpfer, ein Haufen Leute haben für sich<br />

gearbeitet. Und wenn die Arbeit für die Einzelperson gestimmt<br />

hat, dann war das in Ordnung. Aber wie es denn dem Nachbarn<br />

geht oder wie das Team funktioniert, ist weniger interessant<br />

gewesen.“ 203 Damit hatte Helvetia Patria mit einem weiteren<br />

Paradox zu kämpfen: Wie kann man Team- und Prozessorientierung<br />

im Alltag leben, wenn man nicht weiss, 204 wie das<br />

geht?<br />

b) Fragmentierung<br />

<strong>Die</strong> Gesamtorganisation Helvetia Patria zerfiel je nach Blickwinkel in<br />

verschiedenste Teilbereiche mit je unterschiedlichen Werten und Zielen: 205<br />

• nach Sparte: Leben, Nichtleben<br />

• nach Kundenbereich: PG, U, A , VP<br />

• nach Standort: Basel, St. Gallen<br />

• nach <strong>Organisation</strong>: Hauptsitz, Inndienst, Aussendienst<br />

Das Trennende zwischen diesen Teilbereichen (insbesondere die<br />

Segmentierung in Kundenbereiche, vgl. Kapitel 8.1.2.3) wirkte oftm<strong>als</strong> stärker<br />

<strong>als</strong> die Integrationskräfte der Gesamtorganisation, so dass innerhalb der<br />

<strong>Organisation</strong> eine gewisse Resignation bzw. Akzeptanz des Unvermeidlichen<br />

festzustellen war. Es ist „eine Einsicht in die Macht des Faktischen ..., weil<br />

203 Protokoll 11-17, Absatz 27.<br />

204<br />

Mit „Wissen“ ist hier nicht das theoretische Wissen gemeint, das bei Helvetia Patria zweifelsohne<br />

vorhanden war. Es ist das Erfahrungswissen bzw. Handlungswissen gemeint. <strong>Die</strong> englische<br />

Sprache stellt für diese Unterscheidung den differenzierteren Wortschatz zur Verfügung: es geht<br />

nicht um „knowledge“, sondern um „knowing“ (vgl. zu dieser Unterscheidung Cook/Brown 1999).<br />

205<br />

Es sei nochm<strong>als</strong> betont, dass die Beschreibung des <strong>Handlungssystem</strong>s den Alltag <strong>von</strong> Helvetia<br />

Patria vor dem Projekt Dynamo beleuchtet. Der Abschnitt Fragmentierung bezieht sich deshalb<br />

auf die Tempo-Struktur <strong>von</strong> Helvetia Patria (vgl. Kapitel 7.2.3.2, Abbildung 56).


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

einfach die beiden Standorte, die beiden Kulturen, die beiden Disziplinen - na<br />

ja - die sind einfach hier.“ 206<br />

Der Alltag <strong>von</strong> Helvetia Patria war geprägt <strong>von</strong> Bereichsdenken und<br />

Subkulturen. Es fehlte eine Unité de Doctrine, die das Gesamtunternehmen<br />

zusammenhält. Das wurde <strong>von</strong> den Mitarbeitenden <strong>als</strong> Mangel an Klarheit und<br />

Zielvorgaben wahrgenommen. „Allgemein tut man sich schwer, Prioritäten zu<br />

setzen.“ 207<br />

8.1.2.2 Normen<br />

Der Ambivalenz der interpretativen Schemata stand eine klare, vorherrschende<br />

Norm gegenüber, mit der die organisationale Wirklichkeit beurteilt<br />

und legitimiert wurde: Es ist das Primat der Prämien. Ausserdem zog sich ein<br />

unausgesprochenes Tabu quer durch die <strong>Organisation</strong>. Es betraf die<br />

Segmentierung nach Kundenbereichen, die Helvetia Patria im Rahmen des<br />

Projekts Tempo eingeführt hatte (vgl. Kapitel 7.2.3.2 und 8.2.2). <strong>Die</strong> Probleme<br />

und Unzufriedenheit, die man im Alltag mit der Segmentierung hatte (vgl.<br />

Kapitel 8.1.2.3), fanden keine angemessene offizielle Ausdrucksform.<br />

• Primat der Prämien<br />

<strong>Eine</strong>r unserer Interviewpartner brachte es auf den Punkt: „<strong>Die</strong><br />

wichtigste Frage lautet immer: Bringt es Prämien?“ 208<br />

<strong>Die</strong> Höhe der Prämienproduktion war die zentrale mentale Messgrösse.<br />

Über sie wurde im Bewusstsein der Führungskräfte und<br />

Mitarbeitenden der Erfolg der Gesamtorganisation und insbesondere<br />

der Selbstwert des Aussendienstes definiert. 209<br />

Obgleich bereits Bemühungen im Gang waren, differenziertere<br />

Mess- und Lenkungsgrössen einzuführen, 210 war der Alltag<br />

immer noch fixiert auf das Prämienaufkommen. Entsprechend<br />

206<br />

Protokoll 13-09, Absatz 28.<br />

207<br />

Protokoll 31-02, Absatz 36.<br />

208<br />

Protokoll 12-04, Absatz 31.<br />

209<br />

<strong>Die</strong>ser Fokus auf die Prämien ist branchentypisch (vgl. Kapitel 7.1 und Anhang D) und ist in<br />

diesem Sinne ein Überbleibsel der traditionellen Versicherungslogik (vgl. Abbildung 42).<br />

210<br />

Im Aussendienst z.B. über das neue Vergütungssystem „Move“ oder über das neue Führungstool<br />

„Produktivitätssteigerungsprogramm PSP“.<br />

206


207<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

schwer tat man sich z.B. mit der Definition eines ausgewogenen<br />

Zielsystems für den Aussendienst. 211<br />

<strong>Die</strong>se Fokussierung auf die Prämien schlug sich auch deutlich<br />

nieder im Controlling <strong>von</strong> Helvetia Patria. In den Augen der<br />

interviewten Personen war das Controlling <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

zuwenig in den Alltag eingebettet. Es habe eher informativen<br />

Charakter gehabt und keinen direkten Einfluss auf Entscheide<br />

bzw. Handlungen im Alltag ausgeübt. Ausserdem fehlten<br />

wichtige Führungskennzahlen wie Deckungsbeiträge nach<br />

Produkten oder Kundengruppen. 212<br />

• Tabu Segmentierung<br />

<strong>Die</strong> im Rahmen <strong>von</strong> Tempo (vgl. Kapitel 7.2.3.2 und 8.2.2) eingeführte<br />

Aufteilung der <strong>Organisation</strong> in die Kundenbereiche PG, U,<br />

A und VP hat sich bis zu ihrer Ablösung im Rahmen des Projekts<br />

Dynamo nie legitimieren können. 213 Doch die Vorbehalte und der<br />

Widerstand gegen diese Segmentierung fanden bis zum Projekt<br />

Dynamo nie einen formellen, offiziellen Ausdruck. <strong>Die</strong> Idee der<br />

Segmentierung war zu eng verknüpft mit der Vorstellung eines<br />

innovativen, zukunftsorientierten, erfolgreichen Versicherungsdienstleisters,<br />

<strong>als</strong> dass dagegen Kritik hätte erhoben werden<br />

können: „Ich habe das <strong>als</strong> sehr innovativ betrachtet. Und wir sind<br />

da relativ allein auf weiter Flur gestanden in der Versicherungsbranche.<br />

... So konsequent hat das eigentlich keiner durchgezogen.“<br />

214 Kritik an der Segmentierung wäre gleichbedeutend<br />

gewesen mit dem Festhalten an der alten, überholten Versicherungstradition.<br />

Und diesem Verdacht wollte und konnte man sich<br />

selbstverständlich nicht aussetzen. „... <strong>als</strong> alter Versicherungsmann<br />

... habe ich gespürt, dass da ... gewisse Elemente reinkommen,<br />

die sich beissen werden. Und man hat mir auch zu<br />

211<br />

Vgl. Protokoll 22-18.<br />

212<br />

Vgl. z.B. Protokolle 11-11, 13-13, 11-13. Das war eine Schwachstelle, die insbesondere im<br />

Projekt Dynamo (vgl. Kapitel 7.2.3.3 und 8.3) schmerzhaft zum Vorschein kam, weil dort vielfach<br />

das verlässliche Zahlenmaterial für eine solide Ist-Analyse fehlte (vgl. Protokolle 22-02, 22-08,<br />

22-27).<br />

213<br />

Zu den Gründen für dieses Legitimationsdefizit vgl. Kapitel 8.1.2.3.<br />

214 Protokoll 13-12, Absatz 31.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

verstehen gegeben, dass das halt jetzt eine neue Welt ist, und ...<br />

wenn Sie das nicht akzeptieren, dann müssen Sie sich halt die<br />

Grundsatzfrage stellen. ... und dann hat man sich dann natürlich<br />

zurückgenommen ... .“ 215 So kam es, dass die Segmentierung<br />

zwar in den Augen unserer Interviewpartner „eines der grössten<br />

Probleme ist, das HPV im Moment versucht auszubalancieren“<br />

216 , aber gleichzeitig „hat [man] das nicht wahrhaben<br />

wollen und man hat ... das gar nicht mehr erwähnen dürfen in<br />

dieser Firma, dass das ein Problem ist.“ 217<br />

<strong>Die</strong>ser unausgesprochene Widerspruch zwischen der proklamierten<br />

und in Struktur gegossenen Norm „Kundenorientierung<br />

durch Segmentierung“ einerseits und den erlebten jedoch<br />

tabuisierten Problemen und Widersprüchen im Alltag andererseits<br />

(vgl. Kapitel 8.1.2.3) hat während fünf Jahren mehr oder<br />

weniger unterschwellig die <strong>Organisation</strong> gelähmt. „Das hat dann<br />

auch diese Passivität ausgelöst. ... Man ist abgetaucht und hat<br />

abgewartet.“ 218<br />

8.1.2.3 Ressourcen<br />

Welche Materialisierungen der organisationalen Wirklichkeit waren für das<br />

<strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria <strong>von</strong> entscheidender Bedeutung? Dazu<br />

sind an erster Stelle die beiden Faktoren Firmengrösse und die<br />

Segmentierung der <strong>Organisation</strong>sstruktur zu nennen:<br />

• Firmengrösse<br />

Helvetia Patria gehört nicht zu den grossen Versicherern der<br />

Schweiz. Das wird <strong>von</strong> den Führungskräften und Mitarbeitenden<br />

jedoch durchwegs <strong>als</strong> Chance gewertet: 219 Helvetia Patria sei<br />

überschaubar, habe unkomplizierte Kommunikationswege und<br />

kurze Entscheidungsprozesse. Das mache die <strong>Organisation</strong><br />

215<br />

Protokoll 13-15, Absatz 27.<br />

216<br />

Protokoll 11-17, Absatz 35.<br />

217<br />

Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />

218<br />

Protokoll 13-15, Absatz 29.<br />

219<br />

Vgl. Protokoll 31-03.<br />

208


209<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

flexibel und reaktionsschnell. Interessanterweise haben die<br />

Interviewpartner ihre positiven Aussagen meist umgehend<br />

wieder relativiert, indem sie darauf hinwiesen, dass Helvetia<br />

Patria diese Chancen bzw. Vorteile noch viel zu wenig nutze. 220<br />

„Allerdings wird diese Chance noch zu wenig genutzt. ... Hierfür<br />

wäre ein mentaler Wandel aller Mitarbeiter notwendig.“ 221 Ein<br />

weiterer Vorteil der Firmengrösse liegt darin, dass man sich die<br />

„Versicherungs-Arroganz“, alles selber machen zu wollen, gar<br />

nie leisten konnte und daher schon früh den Weg über<br />

Kooperationen und innovative Vertriebsstrukturen gesucht<br />

habe. 222<br />

<strong>Die</strong> mittlere Grösse <strong>von</strong> Helvetia hatte in den Augen der<br />

Führungskräfte und Mitarbeitenden aber auch zwei gewichtige<br />

Nachteile. Zum einen macht sie verwundbar für Übernahmeversuche<br />

der Konkurrenz. Zum anderen stellt das durch die<br />

Grösse begrenzte Prämienvolumen aus zweierlei Gründen ein<br />

Problem dar. Erstens war das Verhältnis Prämienaufkommen/Fixkostenblock<br />

ungünstig (Kostenstruktur). Andererseits<br />

beeinträchtigte das begrenzte Prämienvolumen die<br />

Investitionskraft <strong>von</strong> Helvetia Patria. Das ist insbesondere im<br />

Hinblick auf zukünftige Informatikinvestitionen ein ernst zu<br />

nehmender Engpassfaktor. „Wenn man das alles zusammenzählt,<br />

muss man sich die Frage stellen, hat Helvetia Patria<br />

strategisch betrachtet die richtige Grösse. Also, können wir mit<br />

etwa 2 ½ Milliarden Franken Prämien in der Schweiz langfristig<br />

überleben. ... Also unser Damoklesschwert sind die<br />

Informatikinvestitionen.“ 223<br />

220<br />

Das ist ein Hinweis darauf, dass sich gewisse Strukturmodalitäten des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria im Sinne einer Dialectic of Control gegenseitig blockieren, z.B. die interpretativen<br />

Schemata der traditionellen Versicherungslogik und die (Chancenauswertung der) Firmengrösse<br />

(vgl. Kapitel 8.1.5).<br />

221<br />

Protokoll 11-17, Absatz 39.<br />

222 Vgl. Protokoll 11-04, Absatz 44 und 11-15, Absatz 42.<br />

223 Protokoll 13-13, Absatz 30.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

• <strong>Organisation</strong>sstruktur (Segmentierung)<br />

Im Rahmen des Projekts Tempo wurde die <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria neu aufgestellt. <strong>Die</strong> Segmentierung nach<br />

Kundenbereichen wurde bis in die <strong>Organisation</strong>sstrukturen<br />

durchgezogen und die bestehenden Kundenbeziehungen und<br />

Versicherungsportefeuilles neu verteilt (vgl. Kapitel 7.2.3.2 und<br />

8.2.2). <strong>Die</strong>s hatte eine gewaltige Auswirkung auf die <strong>Organisation</strong>.<br />

<strong>Die</strong> einzelnen Kundenbereiche fingen an, sich gegenseitig<br />

am Markt zu konkurrenzieren. <strong>Die</strong> Kundenbereiche agierten „wie<br />

eigene Firmen“. „Da hätten Sie Aktiengesellschaften daraus<br />

machen können, die wären gezeichnet worden.“ 224 Mit „Grabenkämpfen“<br />

und „fast Kannibalismus“ wurde in unseren Interviews<br />

das Verhältnis zwischen den Kundenbereichen untereinander,<br />

insbesondere den Kundenbereichen PG und U, beschrieben. Als<br />

Gründe für diese Entwicklung wurden uns <strong>von</strong> den Interviewpartnern<br />

alternativ zwei verschiedene Gründe genannt.<br />

224 Protokoll 13-02, Absatz 27.<br />

225 Protokoll 13-13, Absatz 27.<br />

226 Protokoll 13-09, Absatz 28<br />

<strong>Die</strong> einen waren überzeugt da<strong>von</strong>, dass die Schwierigkeiten mit<br />

der Segmentierung in ihrer zu wenig konsequenten Umsetzung<br />

liegt. „Man hat am Anfang eine gute Idee gehabt, diese relativ<br />

hart und stringent formuliert, aber in der Umsetzung sind <strong>von</strong><br />

Phase zu Phase, oder auch schon in der Konzepterarbeitung,<br />

Kompromisse gemacht worden, wo man versucht hat, die verschiedenen<br />

Anspruchsgruppen gegeneinander auszutarieren.“ 225<br />

<strong>Die</strong> anderen führten an, dass die Segmentierungs-Idee an sich<br />

f<strong>als</strong>ch war, weil sie gegen die Grundlogik des Versicherungsgeschäfts<br />

verstossen habe. „... hat mich überrascht seinerzeit in<br />

der Konsequenz, mit der man das durchgezogen hat. Ich habe<br />

das nie geglaubt, weil ich kenne die Leute. Ganz simpel: Ich<br />

kenne ... keinen erfolgreichen Lebenagent, der ebenso<br />

erfolgreich Nichtleben-Produkte verkauft.“ 226 „Aber es gibt<br />

gewisse Grundsätze, die man nicht verletzen darf. ... [Man darf]<br />

keine Kunden mutwillig jemandem wegnehmen. ... <strong>Die</strong> haben<br />

210


211<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

sich dann gewehrt nach Strich und Faden und dann hat man<br />

Kompromisse machen müssen. ... Und dann hat sich das<br />

verwässert und es ist dann kompliziert geworden. Man hat nicht<br />

mehr genau gewusst, was ist jetzt wirklich die Meinung. ... Man<br />

hat es nicht mehr so im Griff gehabt.“ 227<br />

Unabhängig da<strong>von</strong>, was die Ursachen der internen Probleme mit<br />

der Segmentierung waren - sie haben dazu geführt, dass sich<br />

Helvetia Patria „zu fest mit sich selber beschäftigte“ statt<br />

„Prämien herein[zu]holen“. 228<br />

8.1.2.4 Zusammenfassung<br />

Abschliessend lassen sich die Strukturmodalitäten des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria wie folgt zusammenfassen (vgl. Abbildung 63):<br />

interpretative Schemata Ressourcen<br />

Normen<br />

• Ambivalenz<br />

• Fragmentierung<br />

•Firmengrösse<br />

• Segmentierung<br />

•Primat der Prämien<br />

• Tabu Segmentierung<br />

Abbildung 63: Strukturmodalitäten des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

• Interpretative Schemata<br />

Helvetia Patria befand sich im Aufbruch in die Zukunft, doch die<br />

neue Identität <strong>als</strong> moderner, kundenorientierter Versicherungsdienstleister<br />

war noch nicht gefestigt. Infolgedessen herrschte<br />

ein Sinn-Vakuum, geprägt <strong>von</strong> der Suche nach einer neuen<br />

Orientierung und einer fehlenden Unité de Doctrine.<br />

• Normen<br />

Unterschiedliche Normen standen im Widerstreit. Der Alltag war<br />

noch geprägt vom Primat der Prämien, das aus der traditionellen<br />

227 Protokoll 13-15, Absatz 28.<br />

228 Protokoll 13-15, Absatz 28.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Versicherungslogik stammte. Daneben wurde versucht, die neue<br />

Norm Kundenorientierung über die Segmentierung der<br />

<strong>Organisation</strong>sstrukturen zu verankern. Doch diese Norm konnte<br />

wegen der fehlenden Legitimierung der Segmentierung nicht<br />

Fuss fassen.<br />

• Ressourcen<br />

Helvetia Patria hat eine Firmengrösse, die Flexibilität und<br />

Reaktionsschnelligkeit ermöglicht, aber auch gewisse Risiken<br />

vor allem im finanziellen Bereich birgt (Kostenstruktur,<br />

Investitionskraft). Einschneidenstes Merkmal waren die Folgen<br />

der strukturellen Umsetzung der Segmentierung. Sie haben die<br />

<strong>Organisation</strong> gelähmt.<br />

8.1.3 Bezugsfähigkeiten<br />

Bezugsfähigkeiten sind die kollektive Fähigkeit, den Verhandlungsprozess des<br />

Organisierens zu formen und steuern. Sie sind entscheidend dafür, wie im<br />

laufenden Prozess des Organisierens auf das Repertoire der Strukturmodalitäten<br />

zugegriffen wird und welches Set an Schemata, Normen und<br />

Ressourcen aktualisiert wird. In diesem Sinne sind Bezugsfähigkeiten entscheidend<br />

für die Qualität des Prozesses und das Ergebnis des<br />

Organisierens.<br />

<strong>Die</strong> empirischen Daten, die im Rahmen des Forschungsprojekts gesammelt<br />

worden sind, lassen keine detaillierte Analyse der Bezugsfähigkeiten zu. 229 In<br />

der Regel musste daher <strong>von</strong> Ereignissen, Entscheidungen oder Handlungen<br />

auf die darunter liegenden Bezugsfähigkeiten geschlossen werden.<br />

Entsprechend fällt die Beschreibung der Bezugsfähigkeiten eher grob aus.<br />

8.1.3.1 (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />

<strong>Die</strong> (Re-)Konstruktionsfähigkeit ist die Fähigkeit zum Aufbau neuer bzw. zur<br />

Ausdifferenzierung bestehender Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. <strong>Die</strong>se<br />

Fähigkeit war gerade für Helvetia Patria <strong>von</strong> grosser Bedeutung, steckte doch<br />

229 <strong>Die</strong> Beobachtung <strong>von</strong> Bezugsfähigkeiten setzt eine enge Begleitung <strong>von</strong> zwei bis drei bestimmten<br />

Aktivitäten (Projekte, Umsetzungsmassnahmen) direkt im organisationalen Alltag voraus, denn<br />

Bezugsfähigkeiten zeigen sich nur im Tun. <strong>Die</strong> Forschungsaktivitäten der Feldforschung waren<br />

jedoch anders ausgerichtet (vgl. Kapitel 6.1.3). Sie haben vor allem ein historisches Querschnittsbild<br />

vom <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria vermittelt.<br />

212


213<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

die Firma mitten im Wandel zu einer modernen, kundenorientierten Versicherungsgesellschaft.<br />

Der Aufbau und die Verankerung neuer, interpretativer<br />

Schemata war dabei ein elementarer Bestandteil des Veränderungsprozesses.<br />

<strong>Die</strong> Erneuerung <strong>von</strong> interpretativen Schemata kann durch gezielte Interventionen<br />

oder kontinuierlich im organisationalen Alltag erfolgen, wobei eine<br />

Kombination beider Möglichkeiten sicherlich die effektivste Methode darstellt.<br />

Helvetia Patria nutzte diese beiden Möglichkeiten wie folgt:<br />

• gezielte Interventionen<br />

Helvetia Patria hat die Entstehung neuer interpretativer<br />

Schemata mit zwei grossen Massnahmen aktiv vorangetrieben:<br />

mit der Einführung einer kundenorientierten <strong>Organisation</strong>sstruktur<br />

(das heisst der Segmentierung, vgl. Kapitel 7.2.3.2 und<br />

8.2.2) und mit der Einführung eines neuen, marktorientierten<br />

Vergütungssystems für den Aussendienst (Move). Beide Massnahmen<br />

haben die traditionelle Versicherungslogik komplett auf<br />

den Kopf gestellt und waren zum Zeitpunkt ihrer Einführung für<br />

die Versicherungsbranche äusserst progressiv. Helvetia Patria<br />

hat damit eine Vorreiterrolle übernommen. Beide Massnahmen<br />

haben Helvetia Patria aber auch einer immensen Belastungsprobe<br />

ausgesetzt, weil zum Zeitpunkt ihrer operativen Einführung<br />

die neuen interpretativen Schemata noch nicht ausreichend<br />

verankert waren. 230 So ist letztlich beiden Veränderungsinitiativen<br />

Widerstand erwachsen.<br />

<strong>Die</strong> beiden Beispiele Segmentierung und Move zeigen, dass bei<br />

Helvetia Patria das Bewusstsein vorhanden war, dass die<br />

Entstehung neuer interpretativer Schemata aktiv angegangen<br />

werden muss, und sich nicht nur in Leitbildern und Strategien,<br />

sondern unmittelbar in den Materialisierungen des organisationalen<br />

Alltags (Strukturen, Lohnsystem) widerspiegeln muss. <strong>Die</strong><br />

230 <strong>Die</strong> Sinn-Defizite der Segmentierung sind <strong>von</strong> unseren Interviewpartnern mehrfach direkt angesprochen<br />

worden (vgl. Kapitel 8.1.2.3). <strong>Die</strong> Deutungsprobleme <strong>von</strong> Move waren hingegen<br />

weniger offensichtlich. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Einführung <strong>von</strong> Move durch<br />

grosse Informatikprobleme überschattet war, die die Sinn-Diskussion in den Hintergrund gedrängt<br />

haben. Zwischen den Zeilen kam jedoch verschiedentlich zum Ausdruck, dass insbesondere der<br />

Vertrieb Zweifel an der Sinnhaftigkeit <strong>von</strong> Move hatte. Move wurde eine „Traumwelt“ genannt und<br />

den Move-Verantwortlichen wurde vorgeworfen, nicht zu wissen bzw. berücksichtig zu haben,<br />

was den Aussendienst motiviert (vgl. Protokoll 22-18, Absatz 34).


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Segmentierung und Move haben somit direkt auf zwei Strukturdimensionen<br />

des <strong>Handlungssystem</strong>s eingewirkt: auf die<br />

Signifikation und auf die Reifikation.<br />

<strong>Die</strong> beiden Beispiele machen aber auch deutlich, dass die (Re-)<br />

Konstruktionsfähigkeit <strong>von</strong> Helvetia Patria nicht ausreichte.<br />

Sowohl die Segmentierung wie Move litten unter einem Legitimationsproblem,<br />

was darauf hin deutet, dass die (Re-)Konstruktionsprozesse<br />

der anvisierten neuen organisationalen Wirklichkeit<br />

nicht durchgehend erfolgreich waren.<br />

• kontinuierlich im Alltag<br />

Formelle, institutionalisierte Kontakt- und Dialogplattformen (z.B.<br />

Sitzungen oder Tagungen) bilden eine ideale Arena für die<br />

kontinuierliche Arbeit an den (Re-)Konstruktionsprozessen der<br />

organisationalen Wirklichkeit. Ein im Rahmen des Forschungsprojekts<br />

vorgenommene Analyse der Sitzungs- und Tagungslandschaft<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria 231 hat jedoch Lücken aufgezeigt.<br />

Erstens fehlte eine Plattform für das mittlere Kader. Das birgt<br />

eine zweifache Gefahr in sich. Zum einen kann - hierarchisch<br />

gesehen - im Bereich des mittleren Kaders ein Kommunikationsvakuum<br />

entstehen, das die (Re-)Konstruktionsprozesse<br />

beeinträchtigt. Es gibt Hinweise darauf, dass Helvetia Patria<br />

genau mit diesem Problem kämpfte: „Von all den Initiativen, die<br />

bei Helvetia Patria gestartet worden sind, ist nichts unten<br />

angekommen. ... <strong>Die</strong> Informationen bleiben auf der Ebene<br />

Teamleiter stecken.“ 232 Zum anderen wurde durch die Ausklammerung<br />

des mittleren Kaders aus der Sitzungs- und<br />

Tagungslandschaft aber auch Führungspotenzial brach liegen<br />

gelassen. 233<br />

231 Vgl. Protokoll 32-05, am Beispiel des Bereichs Vertriebsmanagement.<br />

232 Protokoll 11-04, Absatz 43.<br />

233 Für die Führungskonferenz, die dreimal jährlich stattfindet, hat Helvetia Patria für dieses Problem<br />

eine elegante Lösung gefunden. Jeder <strong>Organisation</strong>sbereich verfügt über zwei so genannte Wildcards.<br />

Mit diesen Wildcards können Personen zur Führungskonferenz eingeladen werden, die<br />

<strong>von</strong> ihrem hierarchischen Rang (mittleres Kader) her eigentlich nicht zum fixen Kreis der<br />

Teilnehmenden der Führungskonferenz (oberes Kader) gehören.<br />

214


215<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Zweitens sah die Sitzungs- und Tagungslandschaft keine<br />

bereichsübergreifenden Anlässe vor, wie z.B. zwischen Innendienst<br />

und Aussendienst oder Fachbereich und Vertrieb. Das<br />

war insofern ein Nachteil, <strong>als</strong> mit interdisziplinären Anlässen der<br />

Fragmentierung innerhalb <strong>von</strong> Helvetia Patria (vgl. Kapitel<br />

8.1.2.1) hätte entgegengewirkt werden können.<br />

Insgesamt scheint (Re-)Konstruktionsfähigkeit im <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria vorhanden, aber noch ungenügend ausgebildet zu sein.<br />

Insbesondere war die Verknüpfung zwischen der (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />

und der Rationalisierungsfähigkeit nicht gesichert, so dass sich keine<br />

Legitimation für neue interpretativen Schemata entwickeln bzw. durchsetzen<br />

konnte. <strong>Die</strong> branchentypisch mangelnde Erfahrung mit Change-Prozessen, mit<br />

der selbstverständlich auch Helvetia Patria kämpft, könnte ein Grund dafür<br />

sein. Darauf deutet auch folgende Aussage eines Interviewpartners: „Und<br />

persönlich bin ich dam<strong>als</strong> wie heute überzeugt, dass das der Weg wäre. Aber<br />

wir haben ein paar Dinge elementar unterschätzt.“ 234<br />

8.1.3.2 Rationalisierungsfähigkeit<br />

<strong>Die</strong> Rationalisierungsfähigkeit ist die Fähigkeit zur Herausbildung <strong>von</strong> und zur<br />

Referenzierung auf Normen, die zur Legitimation und Fixierung der<br />

organisationalen Wirklichkeit herangezogen werden können.<br />

Im Rahmen der Feldforschung waren schon früh Hinweise darauf aufgetaucht,<br />

dass gerade die Rationalisierungsfähigkeit ein Schwachpunkt im <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria sein könnte. Insbesondere die Verbindlichkeit und<br />

Konsequenz der Entscheidungsprozesse wurde <strong>von</strong> unseren Interviewpartnern<br />

immer wieder kritisiert. Das Problem kann hauptsächlich zwei<br />

Faktoren zugeordnet: fehlenden Vorgaben und keine Sanktionen.<br />

• fehlende Vorgaben<br />

Es fehlte offenbar die Fähigkeit, Vorgaben bzw. Leitplanken zu<br />

erlassen, die das organisationale Handeln im Alltag verbindlich<br />

hätten lenken können. „Man könnte viel mehr machen, wenn<br />

man ein bisschen mehr konzentriert, wenn man besser führen<br />

würde, wenn man besser Vorgaben machen würde. Man könnte<br />

234 Protokoll 13-02, Absatz 21.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

viel, viel mehr machen. Viel, viel mehr. Also es wäre viel, viel<br />

mehr möglich.“ 235<br />

• keine Sanktionen<br />

Das Nichteinhalten oder Nichterfüllen <strong>von</strong> Zielen ist bei Helvetia<br />

Patria nicht zwangsläufig sanktioniert worden. „Es klingt nicht<br />

populär, aber es geht eigentlich nur über das Runterschrauben<br />

<strong>von</strong> Demokratie in einem gewissen Sinne, dass man sich strikter<br />

an Entscheidungen halten muss und die entsprechend auch<br />

umsetzt, und sanktioniert, falls die Ziele nicht erreicht werden.<br />

Also, ich habe jetzt in den ... Jahren, wo ich da bin, in dem Sinn<br />

nie Sanktionen gesehen, das heisst jetzt nicht, dass jedes Mal<br />

ein Kopf rollen muss.“ 236<br />

<strong>Die</strong> schlecht ausgebildete Rationalisierungsfähigkeit des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria hat sich letztlich darin niedergeschlagen, dass die<br />

<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> führungs- und entscheidungsschwach wahrgenommen<br />

worden ist. „... in der Helvetia Patria [ist] die Führungsintensität ... viel weicher.<br />

... [Sie ist] stärker auf Kompromisse oder Demokratie ausgerichtet. ... Es<br />

gipfelt, und das ist bei uns leider ein Nachteil, relativ stark in den Punkt, dass<br />

wir hier drinnen sehr viel diskutieren, abstimmen, versuchen eine breite<br />

Konsensbasis zu erreichen, in sehr vielen Belangen. Und dann vielfach einen<br />

Entscheid, der gefällt worden ist, auch nachträglich noch diskutieren und<br />

allenfalls abschwächen.“ 237<br />

8.1.3.3 Routinisierungsfähigkeit<br />

Routinisierung ist die Fähigkeit, der organisationalen Wirklichkeit eine gegenständlich<br />

Form und damit eine gewisse Autarkie und Kontinuität zu verleihen.<br />

<strong>Die</strong> Routinisierungsfähigkeit lässt sich gut beobachten in verschiedensten<br />

Implementierungsprozessen, z.B. im Projektmanagement, im Prozessmanagement<br />

oder in der Strategieentwicklung. Es hat sich gezeigt, dass es in<br />

allen drei Beispielen an Routinisierungsfähigkeit fehlte:<br />

235 Protokoll 13-08, Absatz 32.<br />

236 Protokoll 13-13, Absatz 28.<br />

237 Protokoll 13-13, Absatz 26.<br />

216


217<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

• Strategieentwicklung<br />

In der ersten Phase der Feldforschung haben wir Forscherinnen<br />

unter anderem den Entwicklungsprozess der Strategie 99-04<br />

rekonstruiert. <strong>Die</strong> Untersuchung ergab, dass zwar klare<br />

Aussagen zur strategischen Positionierung und zu den strategischen<br />

Zielen vorlagen, sich Helvetia Patria aber schwer tat bei<br />

der Umsetzung der strategischen Pläne in den organisationalen<br />

Alltag. 238 <strong>Die</strong> Verknüpfung zwischen strategischer und operativer<br />

Ebene schien nicht zu gelingen. Ein Grund für diese<br />

Schwierigkeit, die Strategie mit dem Alltag zu verbinden, lag in<br />

der Gestaltung des Strategieprozesses. Es gab keine Durchgängigkeit<br />

<strong>von</strong> der Strategieentwicklung bis zur -umsetzung. Das<br />

Strategieteam, das für die Strategieentwicklung zuständig war,<br />

wurde nach Abschluss der Konzeptphase aufgelöst und die<br />

Verantwortung für die Umsetzung der erarbeiteten strategischen<br />

Massnahmen der Linie übertragen. Mit dem Wegfall des<br />

Strategieteams fehlte dann jedoch eine übergeordnete Instanz,<br />

die den dezentralisierten Umsetzungsprozess gesamthaft hätte<br />

planen, steuern und koordinieren können.<br />

• Prozessmanagement<br />

<strong>Die</strong> Beobachtungen und Interviews zum Thema Prozessmanagement<br />

ergaben das folgende Bild: Das Prozessmanagement<br />

bei Helvetia Patria war eine Stabsaufgabe. Der Stab hat<br />

die Arbeiten der einzelnen Kundenbereiche unterstützt, aber das<br />

Prozessmanagement an sich nicht zentral gesteuert und<br />

koordiniert. „Es existiert keine gesamtheitliche Koordination aller<br />

Aktivitäten bezüglich Prozessmanagement bei Helvetia<br />

Patria.“ 239 Das machte es entsprechend schwierig, dass das<br />

Prozessmanagement flächendeckend Fuss fassen konnte und<br />

führte ausserdem zu einer „riesigen Bandbreite“ bezüglich der<br />

konkreten Ausgestaltung des Prozessmanagements. 240 So kam<br />

es, dass Helvetia Patria zwar ein Prozessmanagement hatte und<br />

238<br />

Vgl. Protokoll 31-03.<br />

239<br />

Protokoll 11-05, Absatz 34.<br />

240<br />

Protokoll 11-05, Absatz 34.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Prozesse auch bereichsübergreifend definiert waren, aber diese<br />

Prozesse einfach nicht gelebt wurden. 241 Das Prozessmanagement<br />

konnte deshalb nie dauerhafte und sichtbare Spuren im<br />

organisationalen Alltag hinterlassen.<br />

• Projektmanagement<br />

Der wirtschaftliche und kulturelle Aufbruch <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

schlug sich in einer Vielzahl <strong>von</strong> Projekten nieder. 242 Helvetia<br />

Patria verfügte zwar über ein detailliertes Projektmanagement-<br />

Handbuch sowie über eine Stelle, die für die Projektsteuerung<br />

verantwortlich war, aber beides hat nicht gegriffen. 243 <strong>Die</strong> zeit-<br />

und budgetgerechte Abwicklung der Projekte war ein ungelöstes<br />

Problem bei Helvetia Patria. Ein Interviewpartner hat daher den<br />

ironischen Vorschlag gemacht, besser nicht <strong>von</strong> Projekten,<br />

sondern <strong>von</strong> „Versuchen“ zu reden. 244 <strong>Die</strong> Schwierigkeiten im<br />

Projektmanagement lassen sich auf eine ungenügende Routinisierungsfähigkeit<br />

zurückzuführen. <strong>Die</strong> Projekte waren fachlich<br />

gut ausgestattet und brachten konzeptionell gute Lösungen<br />

hervor, aber sie waren nicht in ein übergreifendes Change<br />

Management eingebettet. Somit war einmal mehr die Schnittstelle<br />

zwischen Konzept und organisationalem Alltag nicht<br />

sichergestellt (vgl. Strategieprozess).<br />

8.1.3.4 Zusammenfassung<br />

Zusammenfassend lässt sich für die Bezugsfähigkeiten im <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria festhalten, dass alle drei Bezugsfähigkeiten die gleiche<br />

Schwäche aufwiesen (vgl. Abbildung 64). Sie konnten keine Brücken schlagen<br />

zwischen der Ideen-Ebene und der Handlungs-Ebene.<br />

241 Vgl. Protokoll 11-17, Absatz 40.<br />

242<br />

In den Jahren 2000/2001 waren es allein 29 Informatikprojekte mit einem Projektvolumen<br />

zwischen einer halben und zwanzig Millionen (vgl. Protokoll 11-14, Absatz 32).<br />

243<br />

Vgl. Protokoll 22-05, Absatz 41.<br />

244 Protokoll 11-04, Absatz 36.<br />

218


(Re-)Konstruktion<br />

• Bewusstsein vorhanden<br />

• wenig praktische Erfahrung<br />

Routinisierung<br />

• Bruch zwischen Konzept<br />

und Umsetzung<br />

219<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Rationalisierung<br />

• fehlende Vorgaben<br />

• keine Sanktionen<br />

Abbildung 64: Bezugsfähigkeiten des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

<strong>Die</strong> Bezugsfähigkeiten waren zu wenig ausgebildet, um ein ganz bestimmtes<br />

Set an Schemata, Normen und Ressourcen nachhaltig aktualisieren und verfestigen<br />

zu können. So reichten die vorhanden Bezugsfähigkeiten nicht aus,<br />

um Handlungslücken zu schliessen:<br />

• (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />

zwischen der strategischen Vision und dem operativen Alltag<br />

• Rationalisierungsfähigkeit<br />

zwischen Entscheid und Massnahme<br />

• Routinisierungsfähigkgeit<br />

zwischen Konzept und Umsetzung<br />

8.1.4 Verhandlungsprozess des Organisierens<br />

Der Verhandlungsprozess des Organisierens ist der eigentliche Konstruktionsund<br />

Reifikationsprozess der organisationalen Wirklichkeit. Es ist ein kollektiver<br />

Prozess, in dem kognitive und politische Elemente aufs Engste miteinander<br />

verwoben sind. <strong>Die</strong> Ergebnisse dieses Prozesses schlagen sich nieder in den<br />

sozialen Praktiken der <strong>Organisation</strong>, das heisst den routinisierten Kommunikations-<br />

und Interaktionsformen des organisationalen Alltags, aus denen sich<br />

das <strong>Handlungssystem</strong> letztlich selbst wieder (re-)produziert.<br />

8.1.4.1 Kognitive Prozesse<br />

<strong>Die</strong> kognitiven Prozesse formen und steuern die kollektive Wahrnehmung der<br />

organisationalen Wirklichkeit. Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten<br />

vereinen sich hier zu einem kollektiven Muster, wie die soziale Welt wahrgenommen<br />

und gedeutet wird und welche Möglichkeiten sich in dieser sozialen


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Welt anbieten. In den kognitiven Prozessen werden die Grundzüge der<br />

organisationalen Identität verfertigt.<br />

<strong>Die</strong> kognitiven Prozesse im <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria zeichneten<br />

sich vor allem durch ein Merkmal aus: Offenheit. Der Begriff Offenheit kann in<br />

einem doppelten Sinn gedeutet werden: offen im Sinn <strong>von</strong> aufgeschlossen,<br />

aber auch offen im Sinn <strong>von</strong> (noch) ungeklärt. Auf die kognitiven Prozesse im<br />

<strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria trafen beide Bedeutungsinhalte zu.<br />

• aufgeschlossen<br />

Bei Helvetia Patria kann man „auf der grünen Wiese denken“. 245<br />

Es war möglich, sich Nischen zu schaffen, in denen völlig Neues<br />

ausprobiert werden konnte, ohne Zwänge und Rücksichtnahme<br />

auf Bestehendes. 246<br />

• ungeklärt<br />

<strong>Die</strong> kognitiven Prozesse blieben häufig aber auch stecken, bevor<br />

alle relevanten Punkte verbindlich geklärt worden waren. Ergebnisse<br />

waren zu wenig ausgearbeitet bzw. ausdifferenziert. 247<br />

„Und es hat dann teilweise wirklich die seriöse Auseinandersetzung<br />

und Tiefe gefehlt.“ 248<br />

<strong>Die</strong> Offenheit der kognitiven Prozesse konnte im <strong>Handlungssystem</strong> nicht<br />

kompensiert werden, da weder die interpretativen Schemata noch die<br />

Rationalisierungsfähigkeit ein ausgleichendes Gegengewicht zu leisten<br />

vermochten. Das hat zur Folge, dass es den Prozessen des Organisierens an<br />

Verbindungskraft fehlt. Obwohl es kollektive Prozesse waren, schafften sie<br />

nicht wirklich eine Kollektivität, eine gemeinsame Basis. Sie waren nicht<br />

wirklich identitätsstiftend.<br />

245<br />

Protokoll 11-11, Absatz 31. (Mit dem interessanten Nachsatz: „Das Umsetzen ist dann wieder<br />

etwas anderes.“)<br />

246<br />

Aus diesen Nischen sind z. B. die innovativen Philosophien der Segmentierung und Move, die<br />

Initiativen des Kundenbereichs VP oder die GM-Internetlösung entstanden. Auch die Durchführung<br />

unseres Forschungsprojekts war nur möglich dank dieser Offenheit.<br />

247<br />

Beispiele dafür konnten wir in der Zeit der Feldforschung verschiedentlich beobachten, etwa bei<br />

der Klärung und Festlegung des Status <strong>von</strong> Agenturen, in der Namensgebung der Kompetenzcenter<br />

oder bei der Handhabung der Unterscheidung KB1/KB2 im Einstufungstool.<br />

248<br />

Protokoll 13-13, Absatz 27.<br />

220


221<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

8.1.4.2 Politische Prozesse<br />

<strong>Die</strong> politischen Prozesse formen und steuern die kollektive Integration und<br />

Koordination der organisationalen Wirklichkeit. Hier wird ausgehandelt und<br />

selektiert. Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten vereinen sich zu einem<br />

kollektiven Muster, wie sich die soziale Welt in einer ganz bestimmten<br />

Konstellation verfestigt und bestätigt. In den politischen Prozessen werden die<br />

Grundzüge der organisationalen Legitimation verfertigt.<br />

Entscheidend für das Funktionieren der politischen Prozesse im <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria war die Konfliktkultur:<br />

• Konfliktkultur<br />

Aussagen der Interviewpartner geben Hinweise darauf, dass die<br />

politischen Prozesse des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

<strong>von</strong> einem grossen Harmoniebedürfnis geprägt waren und daher<br />

Konflikte nicht wirklich ausgetragen werden konnten: „Man ist<br />

wirklich überall nett und lieb zueinander, auch auf oberster Stufe.<br />

Das ist ein Riesenqualitätssiegel für eine Firma. Aber es braucht<br />

auch gewisse Konfliktfähigkeit. ... Man sucht immer Konsens." 249<br />

Oder: „Ich wünsche mir mehr Konflikte, es wird einfach alles<br />

immer nur schön geredet in dieser Unternehmung drin. Man ist<br />

immer nur lieb und nett miteinander.“ 250<br />

Harmoniebedürfnis und fehlende Konfliktfähigkeit schienen dem<br />

<strong>Handlungssystem</strong> das Leben, die Dynamik zu nehmen: „Wenn<br />

alle friedlich und höflich miteinander sind, dann gibt das<br />

friedhöflich.“ 251<br />

<strong>Die</strong> Folge war, dass es den Prozessen des Organisierens an Verbindlichkeit<br />

fehlte. Sie schafften nicht wirklich eine Legitimation des organisationalen<br />

Alltags. Es fehlten die Orientierungspunkte. Daraus erwuchs der Wunsch,<br />

mehr Führung zu spüren: „Man versucht Gespräch um Gespräch die Leute zu<br />

überzeugen, anstatt zu sagen: So ist es und so wird es gemacht!“ 252<br />

249<br />

Protokoll 13-16, Absatz 29.<br />

250<br />

Protokoll 13-04, Absatz 33.<br />

251<br />

Protokoll, 13-16, Absatz 29.<br />

252<br />

Protokoll 11-15, Absatz 40.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

8.1.4.3 Soziale Praktiken<br />

Soziale Praktiken sind routinisierte Handlungen, mit denen sich das<br />

<strong>Handlungssystem</strong> fortwährend (re-)produziert. Was waren die typischen Merkmale<br />

der sozialen Praktiken des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria? 253<br />

• pragmatisch zupackend<br />

Probleme und Herausforderungen des organisationalen Alltags<br />

wurden zupackend und unbürokratisch gelöst. Leistungsbereitschaft<br />

und Engagement waren spürbar. Der Handlungspragmatismus<br />

hatte jedoch auch eine Kehrseite. Den sozialen<br />

Praktiken fehlte eine übergeordnete Ausrichtung und Steuerung.<br />

Der Arbeitsalltag wurde in einzelnen Problemlösungen abgearbeitet.<br />

<strong>Die</strong> resultierende organisationale Wirklichkeit glich eher<br />

einem Patchwork <strong>als</strong> einem einheitlichen Entwurf.<br />

• ad-hoc problemorientiert<br />

Problemlösungen waren häufig Insellösungen. Das ermöglichte<br />

ein zügiges und einfaches Vorgehen und brachte rasch<br />

Resultate. <strong>Die</strong> Kehrseite da<strong>von</strong> war, dass Denken und Handeln<br />

zuwenig prozessorientiert waren. <strong>Die</strong> Insellösungen leisteten<br />

nicht zwingend einen Beitrag zur Gesamteffizienz und<br />

-effektivität des <strong>Handlungssystem</strong>s.<br />

• familiär<br />

<strong>Die</strong> sozialen Praktiken entfalteten sich in einem organisch<br />

gewachsenen Beziehungsnetz und waren deshalb nicht ausschliesslich<br />

auf Hierarchie und <strong>Die</strong>nstweg angewiesen. <strong>Die</strong><br />

Kehrseite dieser informellen Vernetzung lag darin, dass die<br />

sozialen Praktiken in ihrem Einfluss auf die organisationale<br />

Wirklichkeit zeitlich und räumlich begrenzt waren. Sie entfalteten<br />

nur lokale Wirkung.<br />

Insgesamt bedeutete das, dass das <strong>Handlungssystem</strong> soziale Praktiken<br />

rekursiv konstituierte und (re-)produzierte, die keine Nachhaltigkeit aufwiesen,<br />

das heisst, die Wirkungen des <strong>Handlungssystem</strong>s auf sich selbst waren raumzeitlich<br />

stark beschränkt.<br />

253 Vgl. Protokoll 31-03.<br />

222


223<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

<strong>Eine</strong> treffende Vignette für diese typische Form <strong>von</strong> sozialen Praktiken des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria ist das benahe schon rituelle Kaffeetrinken<br />

vor den Sitzungen und Tagungen. Bei Helvetia Patria ist es üblich, vor<br />

Sitzungen und Tagungen, zu denen die Teilnehmenden anreisen müssen,<br />

einen Willkommenskaffee anzubieten. Das hat einen ganz praktischen<br />

Hintergrund: So können die aufgrund <strong>von</strong> unterschiedlichen Zugsverbindungen<br />

gestaffelt eintreffenden Teilnehmenden allmählich zusammenfinden.<br />

Das Kaffeetrinken hat bei Helvetia Patria aber schon längst eine Bedeutung<br />

erlangt, die über diesen praktischen Nutzen hinausgewachsen ist: Der<br />

Willkommenskaffee ist zur unverzichtbaren Kontaktform und Informations- und<br />

Entscheidungsplattform geworden. Es gibt Teilnehmende, die extra mit einem<br />

früheren Zug anreisen, damit ihnen genügend Zeit für die Gespräche beim<br />

Willkommenskaffee bleibt. 254 So sind diese Kaffeegespräche im Grunde nichts<br />

anderes <strong>als</strong> ein Ort dichter und intensiver kollektiver kognitiver und politischer<br />

Prozesse - die aber ausserhalb eines formellen organisationalen Rahmens<br />

stattfinden, und deren Ergebnisse und Wirkungen daher auch nicht nachhaltig<br />

in eben diesem formellen Rahmen zurückgeführt und verankert werden<br />

können.<br />

8.1.4.4 Zusammenfassung<br />

Der Verhandlungsprozess des Organisierens des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria war pragmatisch, unkompliziert und schnell (vgl. Abbildung 65).<br />

Er entsprach damit dem strategischen Leitbild <strong>von</strong> Helvetia Patria, nachdem<br />

die <strong>Organisation</strong> „unkompliziert, beweglich, fortschrittlich“ handeln soll (vgl.<br />

Kapitel 7.2.2).<br />

Allerdings war der Verhandlungsprozess des Organisierens nicht nachhaltig<br />

wirksam. Es fehlte an Verbindungskraft, um eine gemeinsame, einheitliche<br />

Sinn-Basis zu schaffen, und es fehlte an Verbindlichkeit, um das gemeinsame<br />

Denken und Handeln zu formen und zu steuern. Darum konnten letztlich die<br />

sozialen Praktiken keine nachhaltige Wirkung entfalten.<br />

254 Vgl. Protokoll 22-36.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />

• aufgeschlossen<br />

• ungeklärt<br />

• keine Verbindungskraft<br />

• pragmatisch<br />

• ad-hoc<br />

•familiär<br />

•keine Nachhaltigkeit<br />

224<br />

• Harmoniebedürfnis<br />

• Konfliktunfähigkeit<br />

• keine Verbindlichkeit<br />

Abbildung 65: Verhandlungsprozesse des Organisierens des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

8.1.5 Dialectic of Control<br />

<strong>Die</strong> empirische Evidenz des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria, die in den<br />

vorangehenden Kapiteln schrittweise hergeleitet und beschrieben worden ist,<br />

ist in Abbildung 66 zusammenfassend dargestellt.<br />

Viele Interviewpartner haben in einer Selbstbeschreibung <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

darauf hingewiesen, dass die Firma an einer „Umsetzungsschwäche“ bzw. an<br />

einem „Umsetzungsdefizit“ leide: „<strong>Die</strong> Umsetzungsschwäche <strong>von</strong> uns, wir<br />

haben sehr viel gute Konzepte oder Strategien, sehr viel gute Ideen, sind<br />

eigentlich im Vergleich zum Markt in vielen Bereichen wirklich voraus, - das<br />

sieht man in Diskussionen mit anderen Kollegen - aber bei uns klemmt es<br />

dann immer an der Konsequenz, an der Umsetzung.“ 255 Oder wie es ein<br />

anderer Interviewpartner formulierte: „In der Umsetzung waren wir nicht<br />

gerade Weltmeister.“ 256<br />

Wie kann das hergeleitete <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria dieses<br />

Phänomen erklären? Um darauf Antwort zu finden, muss die Dialectic of<br />

Control des <strong>Handlungssystem</strong>s näher untersucht werden.<br />

255 Protokoll 13-13, Absatz 26.<br />

256 Protokoll 13-02, Absatz 19.


225<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Wirtschaftliche und kulturelle Veränderung der Branche<br />

interpretative Schemata Ressourcen<br />

Normen<br />

• Ambivalenz<br />

• Fragmentierung<br />

• aufgeschlossen<br />

• ungeklärt<br />

• keine Verbindungskraft<br />

(Re-)Konstruktion<br />

• Firmengrösse<br />

• Segmentierung<br />

•pragmatisch<br />

• ad-hoc<br />

• familiär<br />

•keine Nachhaltigkeit<br />

Routinisierung<br />

• Bewusstsein vorhanden • Bruch zwischen Konzept<br />

• wenig praktische Erfah- und Umsetzung<br />

rung<br />

• Primat der Prämien<br />

• Tabu Segmentierung<br />

kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />

• Harmoniebedürfnis<br />

• Konfliktunfähigkeit<br />

• keine Verbindlichkeit<br />

Rationalisierung<br />

• fehlende Vorgaben<br />

• keine Sanktionen<br />

Abbildung 66: Empirische Evidenz des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

<strong>Die</strong> Analyse der Dialectic of Control des <strong>Handlungssystem</strong>s zeigt, dass eine<br />

Mischung aus verstärkenden und blockierenden Kräften sich zu einem<br />

organisationalen Gleichgewicht eingependelt hatte, das eine ganz typische<br />

Form <strong>von</strong> sozialen Praktiken erzeugte. <strong>Die</strong>se sozialen Praktiken brachten<br />

schliesslich das hervor, was die Führungskräfte und Mitarbeitenden <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria <strong>als</strong> die Umsetzungsschwäche der Firma wahrnahmen.<br />

8.1.5.1 Abhängigkeiten im <strong>Handlungssystem</strong><br />

Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und Verhandlungsprozess des<br />

Organisierens stehen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Im<br />

Grunde wird in einem <strong>Handlungssystem</strong> immer alles <strong>von</strong> allem beeinflusst. Es<br />

gibt jedoch immer gewisse Einflusswirkungen, die besonders prägend sind. Im<br />

<strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria waren das die Folgenden:


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

a) Strukturmodalitäten<br />

Folgende wesentliche Abhängigkeiten und Wirkungen sind <strong>von</strong> den Strukturmodalitäten<br />

auf das gesamte <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria ausgegangen<br />

(vgl. Abbildung 67):<br />

interpretative Schemata Ressourcen<br />

Normen<br />

kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />

(Re-)Konstruktion<br />

Routinisierung<br />

226<br />

Rationalisierung<br />

Abbildung 67: Einfluss der Strukturmodalitäten<br />

• interpretative Schemata und Rationalisierung<br />

<strong>Die</strong> Ambivalenz und Fragmentierung der interpretativen<br />

Schemata hat die Rationalisierungsfähigkeit des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

beeinträchtigt und unmittelbar den Mangel an Vorgaben<br />

und Sanktionen im <strong>Handlungssystem</strong> bewirkt.<br />

• interpretative Schemata und Normen<br />

<strong>Die</strong> Ambivalenz und Fragmentierung der interpretativen<br />

Schemata hat einen Widerstreit der Normen ausgelöst und die<br />

Verfestigung der neuen Normen blockiert.<br />

• interpretative Schemata und Ressourcen<br />

<strong>Die</strong> Ambivalenz und Fragmentierung der interpretativen<br />

Schemata vereitelte die erfolgreiche Nutzung der vorhandenen<br />

Ressourcen des <strong>Handlungssystem</strong>s.<br />

• Normen und politische Prozesse<br />

Der unlösbare Widerstreit der Normen im <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong>


227<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Helvetia Patria hat das Harmoniebedürfnis gesteigert und die<br />

Konfliktunfähigkeit der politischen Prozesse verstärkt.<br />

b) Bezugsfähigkeiten<br />

Folgende wesentliche Abhängigkeiten und Wirkungen sind <strong>von</strong> den Bezugsfähigkeiten<br />

auf das gesamte <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria ausgegangen<br />

(vgl. Abbildung 68):<br />

interpretative Schemata Ressourcen<br />

Normen<br />

kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />

(Re-)Konstruktion<br />

Routinisierung<br />

Abbildung 68: Einfluss der Bezugsfähigkeiten<br />

Rationalisierung<br />

• (Re-)Konstruktion und kognitive Prozesse<br />

Das <strong>Handlungssystem</strong> verfügte über eine zu wenig stark<br />

ausgeprägte (Re-)Konstruktionsfähigkeit, um nachhaltig erfolgreiche<br />

kognitive Prozesse in Gang zu bringen. Das hat die<br />

mangelnde Verbindungskraft der kognitiven Prozesse verstärkt.<br />

• (Re-)Konstruktion und interpretative Schemata<br />

<strong>Die</strong> schwach ausgeprägte (Re-)Konstruktionsfähigkeit hat direkt<br />

und indirekt über die kognitiven Prozesse den Aufbau und die<br />

Verankerung neuer interpretativer Schemata behindert. Das hat<br />

das Sinn-Vakuum der interpretativen Schemata gefördert.<br />

• Rationalisierung und Routinisierung<br />

Der Mangel an Rationalisierungsfähigkeit hat sich direkt auf die


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Routinisierung im <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria ausgewirkt.<br />

<strong>Die</strong> fehlenden Vorgaben schwächten die ohnehin schon<br />

brüchige Schnittstelle zwischen Konzept und Umsetzung.<br />

• Rationalisierung und politische Prozesse<br />

<strong>Die</strong> schwache Rationalisierungsfähigkeit des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

hat sich direkt auf die politischen Prozesse ausgewirkt und deren<br />

Mangel an Verbindlichkeit gesteigert.<br />

c) Verhandlungsprozess des Organisierens<br />

Folgende wesentliche Abhängigkeiten und Wirkungen sind vom Verhandlungsprozess<br />

des Organisierens auf das gesamte <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria ausgegangen (vgl. Abbildung 69):<br />

interpretative Schemata Ressourcen<br />

Normen<br />

kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />

(Re-)Konstruktion<br />

Routinisierung<br />

228<br />

Rationalisierung<br />

Abbildung 69: Einfluss des Verhandlungsprozesses des Organisierens<br />

• kognitive Prozesse und interpretative Schemata<br />

<strong>Die</strong> fehlende Verbindungskraft der kognitiven Prozesse hat den<br />

Aufbau und die Verfestigung neuer interpretativer Schemata<br />

erschwert.<br />

• kognitive Prozesse und (Re-)Konstruktion<br />

<strong>Die</strong> fehlende Verbindungskraft der kognitiven Prozesse hat den<br />

erfolgreichen Einsatz und die Wirkung der (Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />

im <strong>Handlungssystem</strong> blockiert.


229<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

• kognitive Prozesse und soziale Praktiken<br />

<strong>Die</strong> fehlende Verbindungskraft der kognitiven Prozesse hat dazu<br />

geführt, dass die sozialen Praktiken keine Nachhaltigkeit entwickelt<br />

haben, sondern immer nur zeitlich und lokal begrenzt in<br />

das <strong>Handlungssystem</strong> eingriffen.<br />

• politische Prozesse und Rationalisierung<br />

<strong>Die</strong> fehlende Verbindlichkeit der politischen Prozesse schwächte<br />

die Rationalisierungsfähigkeit des <strong>Handlungssystem</strong>s und<br />

hemmte die Herausbildung klarer Vorgaben und Sanktionen.<br />

• politische Prozesse und soziale Praktiken<br />

<strong>Die</strong> fehlende Verbindlichkeit der politischen Prozesse hat dazu<br />

geführt, dass die sozialen Praktiken keine Nachhaltigkeit entwickelt<br />

haben, sondern immer nur zeitlich und lokal begrenzt im<br />

<strong>Handlungssystem</strong> Wirkung entfaltet haben.<br />

Aus der Summe dieser Abhängigkeiten hat sich schliesslich eine sich selber<br />

stabilisierende Sequenz entwickelt - die eigentliche Dialectic of Control des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s (vgl. Kapitel 8.1.5.2).<br />

8.1.5.2 Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

Aus den verschiedenen, gleichzeitig wirkenden Kräften im <strong>Handlungssystem</strong><br />

hat sich im Laufe der Zeit eine bestimmte Richtung, ein bestimmter Drift<br />

entwickelt (vgl. Abbildung 70).<br />

Alle gleichzeitig wirkenden Kräfte beeinflussten letztlich die sozialen Praktiken<br />

des <strong>Handlungssystem</strong>s und diese wiederum beeinflussten massgeblich, wie<br />

sich das <strong>Handlungssystem</strong> selber kontinuierlich reproduzierte. Im Laufe der<br />

Zeit hat sich dann ein sich wiederholendes Muster herausgebildet. <strong>Die</strong>ses<br />

Muster hat schliesslich zur Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s geführt.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

interpretative Schemata Ressourcen<br />

Normen<br />

kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />

(Re-)Konstruktion<br />

Routinisierung<br />

230<br />

Rationalisierung<br />

Abbildung 70: Entwicklungstendenz des <strong>Handlungssystem</strong>s 257<br />

<strong>Die</strong>se Stabilisierung hat sich selbstverständlich nur ganz allmählich entwickelt<br />

und kann nur rückblickend in einen kausalen Zusammenhang gestellt werden.<br />

<strong>Die</strong> Sequenz der Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s könnte jedoch wie folgt<br />

abgelaufen sein (vgl. Abbildung 71):<br />

• Ausgehend <strong>von</strong> der mangelnden (Re-)Konstruktionsfähigkeit des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s hat sich eine Schwächung der interpretativen<br />

Schemata ergeben. <strong>Die</strong> alten Denkmuster und Werte der traditionellen<br />

Versicherungslogik wurden aufgegeben, der Aufbau<br />

neuer, alternativer Schemata war jedoch nicht abschliessend<br />

gelungen. So resultierte allmählich eine Aushöhlung der interpretativen<br />

Schemata und ein Sinn-Vakuum.<br />

• <strong>Die</strong>ses Sinn-Vakuum verhinderte, dass sich einerseits die<br />

Rationalisierungsfähigkeit des <strong>Handlungssystem</strong>s entwickeln<br />

und anpassen konnte, und dass sich andererseits neue Normen<br />

handlungsleitend verankern konnten. Deshalb konnten keine<br />

257<br />

<strong>Die</strong> zunehmende Dicke der Pfeile steht für die zunehmende Stabilisierung und den zunehmenden<br />

Drift des <strong>Handlungssystem</strong>s.


231<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

neuen Vorgaben und Sanktionen ausgebildet werden. So waren<br />

die politischen Prozesse des <strong>Handlungssystem</strong>s schliesslich<br />

beinahe ohne Leitplanken. Das Harmoniebedürfnis und die<br />

Loyalität verhinderten jedoch eine Eskalation und nahmen die<br />

Rolle der fehlenden Vorgaben und Sanktionen ein.<br />

• Das Ergebnis war schliesslich, dass das <strong>Handlungssystem</strong><br />

soziale Praktiken herausbildete, die kaum mit nachhaltiger<br />

Wirkung ins <strong>Handlungssystem</strong> rückgekoppelt waren. <strong>Die</strong><br />

sozialen Praktiken waren nicht widerspruchsfähig genug, um das<br />

paradoxe Dilemma des <strong>Handlungssystem</strong>s aufzulösen. Das<br />

<strong>Handlungssystem</strong> hatte sich beinahe bis zur Handlungsunfähigkeit<br />

selbst stabilisiert.<br />

interpretative<br />

Schemata<br />

1<br />

(Re-)Konstruktion<br />

soziale<br />

Praktiken<br />

Normen und<br />

Rationalisierung<br />

4<br />

2<br />

3<br />

politische<br />

Prozesse<br />

Abbildung 71: Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

<strong>Die</strong> Stabilisierung des <strong>Handlungssystem</strong>s äusserte sich nach aussen <strong>als</strong><br />

Umsetzungsschwäche. <strong>Die</strong> Gründe für diese Umsetzungsschwäche wurden<br />

<strong>von</strong> den Führungskräften und Mitarbeitenden jedoch sehr unterschiedlich<br />

interpretiert.<br />

Für die Mitarbeitenden und unteren Führungskräfte lagen die Ursachen der<br />

Umsetzungsschwäche in einer operativen Hektik und Führungsschwäche. Sie<br />

riefen deshalb nach mehr Führung bzw. strengeren Führungsvorgaben. Sie


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

kritisierten, dass im Tagesgeschäft oftm<strong>als</strong> eine kurzfristige Denkweise<br />

dominiere und dass man ob der operativen Hektik leicht die übergeordneten<br />

Ziele aus den Augen verliere. 258<br />

<strong>Die</strong> oberen Führungskräfte hingegen konstatierten gerade das Gegenteil,<br />

nämlich Trägheit. „Bei Helvetia Patria muss alle Initiative <strong>von</strong> oben kommen,<br />

sonst passiert nichts. Von unten kommt nicht nichts, aber wenig. <strong>Die</strong> Trägheit<br />

des Systems ist frappant.“ 259 Daher riefen die Führungskräfte die<br />

Mitarbeitenden zur aktiven Nutzung ihres Handlungsspielraums auf. Sie<br />

forderten <strong>von</strong> den Mitarbeitenden eine „unternehmerische Verpflichtung:<br />

Unternehmertum statt Verteidigung und Tradition. Bereitschaft und Wille zu<br />

Neuem.“ 260 Mit mehr Eigenverantwortung sollte ein Kontrapunkt zur<br />

herrschenden Bürokratie geschaffen werden. 261<br />

<strong>Die</strong>se paradoxen, sich widersprechenden gegenseitigen Erwartungen haben<br />

die Lähmung des <strong>Handlungssystem</strong>s weiter aufrecht erhalten - auch dann<br />

noch, <strong>als</strong> die Lähmung des <strong>Handlungssystem</strong>s schon längst allen schmerzlich<br />

bewusst war. <strong>Die</strong> unterschiedlichen gegenseitigen Problemdefinitionen und<br />

Erwartungen haben nämlich einen weiteren, sich selbst stabilisierenden bzw.<br />

blockierenden Kreislauf im <strong>Handlungssystem</strong> ausgelöst: <strong>Die</strong> Mitarbeitenden<br />

suchten Sicherheit und Führung, wurden aber <strong>von</strong> den Führungskräften auf<br />

ihre Eigenverantwortung verwiesen. <strong>Die</strong> Führungskräfte forderten Eigeninitiative,<br />

aber die Mitarbeitenden vermissten nicht Handlungsspielraum,<br />

sondern genau das Gegenteil, nämlich Führung und die Orientierung an<br />

verbindlichen Zielen.<br />

Und so ist die Umsetzungsschwäche des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia<br />

Patria schliesslich im <strong>Handlungssystem</strong> selbst zu einer sich selbst erfüllenden<br />

Prophezeiung geworden, in der alle sich in ihrer Sicht der Dinge bestätigt<br />

fanden: <strong>Die</strong> Führungskräfte darin, dass es den Mitarbeitenden an<br />

Eigeninitiative fehlt (weil die Mitarbeitenden verharrten und auf mehr Führung<br />

warteten), und die Mitarbeitenden darin, dass es an Führung fehlt (weil die<br />

Führungskräfte nicht durchgriffen, sondern weniger Bürokratie und mehr<br />

258<br />

Vgl. Protokoll 11-15, Absatz 39.<br />

259<br />

Protokoll 32-05, Absatz 29.<br />

260<br />

Protokoll 22-04, Absatz 47.<br />

261<br />

Vgl. Protokoll 21-02, Absatz 35.<br />

232


233<br />

BESCHREIBUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Eigenverantwortung forderten). Kein Wunder war jeweils eine der<br />

brennendsten Fragen der Interviewpersonen im Gespräch mit den<br />

Forscherinnen: „Wie bringen wir wirklich Dynamik ins Haus?“ 262<br />

Soweit die Selbstdiagnose der Umsetzungsschwäche, die <strong>von</strong> den Führungskräften<br />

und Mitarbeitenden <strong>von</strong> Helvetia Patria vorgenommen worden ist. Ein<br />

Blick auf die Dialectic of Control des <strong>Handlungssystem</strong>s lässt jedoch auch eine<br />

andere, völlig unterschiedliche Interpretation zu. <strong>Die</strong> Umsetzungsschwäche ist<br />

nicht ursächlich auf zuviel Bürokratie und zuwenig Eigeninitiative oder auf<br />

operative Hektik und fehlende Zielvorgaben zurückzuführen, 263 sondern ist<br />

vielmehr eine Schutzroutine des <strong>Handlungssystem</strong>s.<br />

<strong>Die</strong> sozialen Praktiken haben mit ihrer fehlenden Nachhaltigkeit den<br />

organisationalen Alltag davor bewahrt, Entscheide und Konzepte umsetzen zu<br />

müssen, die wegen der Schwächen in den interpretativen Schemata, den<br />

Normen, der Rationalisierungsfähigkeit und den politischen Prozessen des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s gar nicht anschlussfähig an den aktuellen organisationalen<br />

Alltag waren. Über die Umsetzungsschwäche hat sich das <strong>Handlungssystem</strong><br />

somit implizit vor störenden Irritationen abgeschirmt und sich funktionsfähig<br />

erhalten.<br />

Aus Sicht des <strong>Handlungssystem</strong>s macht die Umsetzungsschwäche somit<br />

durchaus Sinn und ist konstruktiv - auch wenn dies <strong>von</strong> aussen betrachtet<br />

unverständlich und nicht wünschenswert erscheinen mag. Das<br />

<strong>Handlungssystem</strong> der Helvetia Patria hat mit der Entwicklung seiner<br />

Umsetzungsschwäche Selbsterhaltungskraft und Systemrationalität bewiesen<br />

- und das muss paradoxerweise <strong>als</strong> eine positive Leistung des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

verstanden und gewürdigt werden. Es ist ein Beweis, dass das<br />

<strong>Handlungssystem</strong> über funktionierende Bewältigungsmechanismen verfügt.<br />

Aus übergeordneter Perspektive stellt sich selbstverständlich die Frage, wie es<br />

dazu gekommen ist, dass das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria diese<br />

Schutzroutinen entwickelt hat, und durch welche Massnahmen das<br />

<strong>Handlungssystem</strong> aus diesem unerwünschten Stabilitätszustand befreit<br />

werden kann. Kapitel 8.2 macht sich deshalb auf, die historischen Wurzeln der<br />

262<br />

Protokoll 11-04, Absatz 40.<br />

263<br />

Es ist klar, dass diese Faktoren mit eine Rolle gespielt haben. Doch <strong>als</strong> abschliessende <strong>Erklärung</strong><br />

greifen sie zu kurz.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

gegenwärtigen Evidenz des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria zu suchen,<br />

und stösst dabei auf zwei Meilensteine in der Entwicklung des <strong>Handlungssystem</strong>s:<br />

die beiden Projekte SABA und Tempo. In Kapitel 8.3 schliesslich<br />

wird eine gross angelegte Veränderungsintervention in das <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria beobachtet und dessen Veränderungsimpulse auf das<br />

<strong>Handlungssystem</strong> untersucht: das Projekt Dynamo.<br />

8.2 Historische Rekonstruktion<br />

des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

Helvetia Patria ist entstanden aus dem Zusammenschluss der Helvetia<br />

Versicherungen und der Patria Leben. <strong>Die</strong> beiden Gesellschaften sind im Jahr<br />

1992 eine strategische Allianz eingegangen (Projekt SABA) und haben im<br />

Jahr 1996 schliesslich den rechtlichen und organisatorischen Zusammenschluss<br />

vollzogen (Projekt Tempo). 264<br />

Wie können die Anfänge <strong>von</strong> Helvetia Patria eine <strong>Erklärung</strong> dafür sein, wie<br />

sich das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria bis zum Jahr 2000 entwickelt<br />

und stabilisiert hat?<br />

8.2.1 Das Projekt SABA<br />

Das Projekt SABA umfasst die Zeit der strategischen Allianz zwischen<br />

Helvetia Versicherungen und Patria Leben, <strong>als</strong>o die Jahre 1992 bis 1995. <strong>Die</strong><br />

formellen Hintergründe und die konkrete Abwicklung des Projekts sind in<br />

Kapitel 7.2.3.1 beschrieben. Hier in diesem Kapitel wird ein anderer Fokus<br />

eingestellt. Es wird dargestellt und interpretiert, wie das Projekt SABA <strong>von</strong> der<br />

<strong>Organisation</strong> wahrgenommen wurde und welche Anfänge das <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria dadurch genommen hat.<br />

8.2.1.1 Auslöser und Ziele<br />

Verschiedenste Faktoren haben dazu geführt, dass sich Helvetia Versicherungen<br />

und Patria Leben zu einer strategischen Allianz zusammenfanden. Natürlich<br />

spielten die wirtschaftlichen Veränderungen, ausgelöst durch die<br />

Deregulierung der Versicherungsbranche, eine wesentliche Rolle. 265 Beiden<br />

264<br />

Vgl. ausführlicher dazu das Firmenprofil <strong>von</strong> Helvetia Patria in Kapitel 7.2.<br />

265<br />

Zu den Hintergründen der Deregulierung vgl. Anhang D und Kapitel 7.1.<br />

234


HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Gesellschaften war bewusst, dass sie <strong>als</strong> reine Leben- bzw. Nichtleben-<br />

Versicherung längerfristig am deregulierten Markt nicht bestehen können.<br />

„Und irgendwo in dieser Ausgangssituation hat man wirklich generisch nur<br />

diese zwei Wege gehabt: Zurück in die Nische oder nach vorne.“ 266 „Helvetia<br />

Versicherungen hat einen starken Lebensversicherungspartner gesucht, ...<br />

und Patria Leben ... hat einen Nichtleben-Versicherer gesucht.“ 267<br />

Aber es gab in der Wahrnehmung der Führungskräfte und Mitarbeitenden eine<br />

Reihe weiterer Gründe, die ausschlaggebend für das strategische Zusammengehen<br />

<strong>von</strong> Helvetia und Patria waren. Zum Zeitpunkt des Eintritts in die<br />

strategische Allianz kämpften nämlich beide Gesellschaften mit Problemen.<br />

„Beide Firmen waren nicht in Bestform.“ 268<br />

• Probleme bei der Patria<br />

Patria kämpfte mit Führungsproblemen und war zur Zeit der<br />

Kooperationsverhandlungen ohne Geschäftsleiter. <strong>Die</strong> Geschäfte<br />

wurden ad-interim vom Finanzchef geführt. „Patria hat das Geld,<br />

aber sie haben ein Führungsproblem ... und Helvetia hat weniger<br />

Geld, aber die würden eigentlich noch eine gute Mannschaft<br />

bringen.“ 269 Ausserdem hatte Patria ein gescheitertes Auslandengagement<br />

in Deutschland hinter sich. Hinzu kam, dass die<br />

zehn Jahre zuvor gegründete Nichtleben-Tochter Patria<br />

Allgemeine wirtschaftlich nicht erfolgreich war.<br />

• Probleme bei der Helvetia<br />

Helvetia hatte bereits die Trennung <strong>von</strong> der Helvetia Unfall und<br />

eine Reihe gescheiterter Leben-Kooperationen hinter sich, bevor<br />

sie die strategische Allianz mit der Patria einging. „Man hat dann<br />

manchmal auch gewitzelt über die Helvetia, sie würde die<br />

Partner wechseln wie andere die Hemden.“ 270 Zur Zeit der<br />

Kooperationsverhandlungen war Helvetia ausserdem akut<br />

bedroht <strong>von</strong> einem unfreundlichen Übernahmeversuch der<br />

266<br />

Protokoll 13-09, Absatz 28.<br />

267<br />

Protokoll 13-11, Absatz 27.<br />

268<br />

Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />

269<br />

Protokoll 13-04, Absatz 29.<br />

270<br />

Protokoll 13-11, Absatz 27.<br />

235


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Winterthur Versicherungen. „... wir [waren] im Klammergriff <strong>von</strong><br />

der Winterthur ... doch das hätte sich niemand vorstellen können,<br />

dass wir mit der Winterthur...“ 271 „Und so hat quasi Patria<br />

geholfen, die Übernahme zu vereiteln.“ 272 Darum hat man dann<br />

auch bei der Patria über die Helvetia gesagt: „Heil Dir Helvetia,<br />

hast noch der Patria ja.“ 273<br />

In den Augen der Führungskräfte und Mitarbeitenden sind beide Gesellschaften<br />

somit nicht aus einer Position der Stärke in die Kooperation mit dem<br />

anderen Partner eingestiegen. Sie sahen in der strategischen Allianz vielmehr<br />

einen Rettungsring im Kampf ums Überleben.<br />

Insofern ist es nicht überraschend, dass die Erhaltung der Selbständigkeit<br />

explizit <strong>als</strong> eines <strong>von</strong> vier Zielen <strong>von</strong> SABA festgelegt worden ist. 274<br />

8.2.1.2 Prozess<br />

Das Vorgehen im Projekt SABA wurde bewusst offen gelassen. Man wollte<br />

sich Zeit nehmen, die Möglichkeiten der Kooperation auszuloten. 275 „Wir<br />

wissen überhaupt nicht, wo das eigentlich hingeht, wir haben einfach einen<br />

Kooperationsvertrag. .... Es könnte sein, dass man irgendwann mal eine<br />

Fusion - aber wir setzen jetzt erst einmal Arbeitsgruppen ein.“ 276<br />

Beide Partner legten ausserdem Wert auf ein gleichberechtigtes Vorgehen.<br />

Keiner sollte „unter die Räder“ 277 geraten oder „unter die Fuchtel des anderen<br />

kommen“. 278 „Also, das war dam<strong>als</strong> eine sehr wichtige Bedingung, dass man<br />

sich behutsam ... ausloten will, abtiefen, prüfen ... unter dem<br />

271 Protokoll 13-04, Absatz 29.<br />

272 Protokoll 13-12, Absatz 30.<br />

273 Protokoll 13-17, Absatz 36.<br />

274<br />

Vgl. Bericht zu SABA, S. 1. <strong>Die</strong> anderen drei SABA-Ziele waren: Verbesserung der langfristigen<br />

Marktstellung, Stärkung der Ertragskraft und Konzentration der Investitionen (vor allem im<br />

Informatik-Bereich).<br />

275<br />

Vgl. Editorial der Partner-News Nr. 1/1992<br />

276 Protokoll 13-04, Absatz 30.<br />

277 Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />

278 Protokoll 13-01, Absatz 26.<br />

236


HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Selbstverständnis, dass eben keiner letztlich Dominanz und Oberhand haben<br />

soll.“ 279<br />

Entsprechend wichtig war deshalb eine konsensorientierte Entscheidungsfindung.<br />

„Also, wir haben eigentlich in allen Fragen immer den Konsens<br />

gesucht. Man diskutierte so lange, bis alle die gleiche Meinung hatten. Also,<br />

da ist sehr viel Zeit investiert worden in das. Also nicht dass man - wie soll ich<br />

sagen - per Machtansprüchen am Schluss Entscheide gefällt hat, sondern es<br />

ist mit Überzeugung gearbeitet worden.“ 280<br />

Das Vorgehen in SABA war <strong>als</strong>o ausdrücklich so angelegt, dass fundiert<br />

Klarheit über die Vorteile und Ziele der Kooperation gewonnen werden konnte,<br />

und dass sich dabei keiner der beiden Partner übergangen bzw. <strong>als</strong> Verlierer<br />

fühlen musste. <strong>Die</strong> involvierten Führungskräfte und Mitarbeitenden haben das<br />

Vorgehen jedoch ganz anders erlebt. Ihre Erinnerungen zeichnen das<br />

Schattenbild <strong>von</strong> SABA. Das behutsame, paritätische und konsensorientierte<br />

Vorgehen hat letztlich völlig unerwartete und unbeabsichtigte Folgen<br />

hervorgerufen:<br />

• Offenheit vs. Ziellosigkeit<br />

Man hat sich in der strategischen Allianz nicht <strong>von</strong> vornherein<br />

fixe Ziele gesetzt, weil man unvoreingenommen und für alle<br />

Möglichkeiten offen bleiben wollte. Für die SABA-Teams ist<br />

diese Offenheit zur Belastung geworden. „Das waren unsägliche<br />

Übungen, weil die Vorgabe, die wir <strong>als</strong> Führungskräfte hatten, ...<br />

waren immer: Ihr könnt eigentlich alles machen, es darf nur<br />

nichts auseinander fallen. Mit solchen Aussagen kann man gar<br />

nichts machen.“ 281 „...man [hat] gleich in den Details angefangen<br />

zu arbeiten, eine Stufe zu tief, ohne dass die sich dort oben<br />

wirklich schon einig gewesen sind.“ 282 Den SABA-Teams haben<br />

vorgegebene Ziele und Werte gefehlt, an denen sie sich<br />

während ihrer Arbeit hätten orientieren können. Das stellte sie<br />

insbesondere deshalb vor Probleme, weil die paritätisch<br />

279<br />

Protokoll 13-01, Absatz 26.<br />

280<br />

Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />

281<br />

Protokoll 13-04, Absatz 28.<br />

282<br />

Protokoll 13-12, Absatz 31.<br />

237


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

gemischten SABA-Teams aufgrund der kulturellen Unterschiede<br />

(vgl. unten) selbst gar keine gemeinsam geteilten Ziele und<br />

Werte hatten bzw. schaffen konnten.<br />

• Konsens vs. Durchsetzungskraft<br />

<strong>Die</strong> Entscheidungsprozesse in SABA waren paritätisch und<br />

demokratisch - aber auch langwierig und unsicher. „<strong>Die</strong> [im<br />

Steuerungsausschuss] haben sich da mühsam zusammengerauft<br />

und sind dann mit ihren Ergebnissen wieder nach unten<br />

[in die jeweiligen Geschäftsleitungen] und dort ist dann die<br />

Diskussion wieder <strong>von</strong> neuem losgegangen.“ 283 „... es war<br />

überall ein Riesen-Hin-und-Her. So hat man wahnsinnig viel Zeit<br />

verloren.“ 284 Es fehlten routinisierte soziale Praktiken wie z.B.<br />

erprobte Entscheidungsprozedere für die teils schwierigen<br />

Fragen, die es zu lösen galt (z.B. bei der Bereinigung <strong>von</strong><br />

Doppelspurigkeiten). Auch fehlte der Wille, unpopuläre<br />

Entscheide zu treffen. „Immer so ein bisschen: Wir schauen<br />

dann morgen ... und: Wir wollen immer nur das Beste - das geht<br />

nicht.“ 285<br />

• Behutsamkeit vs. Fortschritt<br />

Das behutsame Vorgehen ist auf Kosten der erzielten Fortschritte<br />

erfolgt. <strong>Die</strong> Nutzung <strong>von</strong> Synergien insbesondere im<br />

Aussendienst war eher zufällig: „... war sehr Glückssache, wie<br />

die sich vor Ort verstanden haben: Wenn die sich gut verstanden<br />

haben, dann haben sie sehr gut zusammengearbeitet, wenn sie<br />

keine Lust hatten, dann ist überhaupt nichts gelaufen.“ 286 Man tat<br />

sich schwer, die erhofften Synergiepotenziale zu nutzen.<br />

Irgendwann einmal ist dann auch das ganze Projekt ins Stocken<br />

geraten: „Ich weiss nicht genau was alles abgelaufen ist - auf alle<br />

Fälle ist es nirgends mehr vorangegangen. Das hat auch bei den<br />

Leuten, die an den Projekten gearbeitet haben, ziemliche<br />

283<br />

Protokoll 13-12, Absatz 30.<br />

284<br />

Protokoll 13-12, Absatz 30.<br />

285<br />

Protokoll 13-04, Absatz 30.<br />

286<br />

Protokoll 13-12, Absatz 30.<br />

238


HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Frustrationen ausgelöst, und dann ist praktisch anderthalb Jahre<br />

lang Stillstand gewesen.“ 287<br />

• Komplementarität vs. Gegensätzlichkeit<br />

So sehr man sich geschäftlich <strong>als</strong> Leben- bzw. Nichtleben-<br />

Versicherer auch komplementär ergänzte - die kulturellen Unterschiede<br />

haben beide Partner überrascht und überfordert. „Aber<br />

es ist tatsächlich so, dass natürlich unterschiedliche Kulturen<br />

eigentlich in den verschiedenen Versicherungsbranchen drinnen<br />

stecken. Aber das hat man eigentlich erst im Nachhinein<br />

tatsächlich erkannt, dass halt eben eine Nichtleben-<strong>Organisation</strong><br />

ein anderes Verständnis hat, wie eine Versicherung verkauft<br />

wird, was Versicherung überhaupt ist.“ 288 Darauf war bei SABA<br />

niemand vorbereitet und man unterschätzte die Probleme, die<br />

das den SABA-Teams in ihrer Arbeit bereitete. „Der grösste<br />

Unterschied ist wahrscheinlich der - und der ist branchenspezifisch:<br />

Helvetia ist traditionell dezentral organisiert gewesen<br />

und ist das auch heute weitgehend noch. <strong>Eine</strong> Lebensversicherungsgesellschaft<br />

ist ebenso traditionell zentral<br />

organisiert. Und das hat ab und zu zu Verständnisproblemen<br />

289, 290<br />

geführt.“<br />

• paritätisches Vorgehen vs. Verlierer-Image<br />

Trotz des Bemühens um gleichberechtigtes, paritätisches<br />

Vorgehen hat sich am Ende bei Patria das Gefühl eingeschlichen,<br />

die Verliererin der Kooperation zu sein. Ausschlaggebend<br />

dafür waren verschiedene symbolträchtige Entscheidungen,<br />

die im Rahmen der Kooperation getroffen wurden. Da war<br />

zunächst einmal das neue Logo, das für den gemeinsamen<br />

Marktauftritt entworfen wurde. Es enthielt das Dreieck aus dem<br />

287<br />

Protokoll 13-12, Absatz 30.<br />

288<br />

Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />

289<br />

Protokoll 13-09, Absatz 28.<br />

290 <strong>Die</strong> Interviewpartner haben immer wieder auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die die kulturellen<br />

Unterschiede in der Zusammenarbeit bereitet haben. Sie bezogen sich häufig auf die zum Zeitpunkt<br />

der Interviews gerade laufende Integration der Swissair und Crossair zur neuen Fluggesellschaft<br />

Swiss und bemerkten, dass man dort wohl mit ähnlichen Problemen kämpfe wie sie<br />

dam<strong>als</strong> bei der Zusammenarbeit <strong>von</strong> Helvetia und Patria.<br />

239


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Logo der Helvetia Versicherungen. „Das war dann der nächste<br />

Aufschrei in Basel, <strong>als</strong> ihre grüne Autobahn verschwunden ist<br />

und <strong>als</strong> dann das Dreieck gekommen ist ... sie verlieren einen<br />

Teil ihrer Identität.“ 291 „Da habe ich Leute weinen sehen.“ 292 Ein<br />

weiteres Indiz für die Verlierer-Rolle <strong>von</strong> Patria war die Tatsache,<br />

dass mit Erich W<strong>als</strong>er ein Helvetianer den Vorsitz des<br />

Steuerungsausschusses und später der Holding übernahm. 293<br />

Und schliesslich hat eine wichtige Rolle gespielt, dass beim<br />

rechtlichen Zusammenschluss zwischen Helvetia und Patria das<br />

Umtauschverhältnis für Patria vermeintlich ungünstig war. 294<br />

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die strategische Allianz zwischen<br />

Helvetia und Patria in den Augen aller aus wirtschaftlichen Gründen Sinn<br />

gemacht hat. „Ich [muss] sagen, das ist eigentlich ein gutes Konstrukt, weil sie<br />

sind reines Leben und wir sind reine Sachversicherer - <strong>als</strong>o vom<br />

Zusammengehen her war das richtig.“ 295 „... auch die Komplementarität, dass<br />

man sich eigentlich nicht wehtut, mit dem auch nicht viel kaputt macht, das<br />

muss man sehen.“ 296<br />

Umso überraschender ist es, wie schwierig und schmerzhaft die Phase der<br />

Kooperation für Führungskräfte und Mitarbeitende war: „Darum ist es sicher<br />

nachher, trotz der Komplementarität vom Geschäft eigentlich, wo die intellektuelle<br />

Geschäftsidee stimmt, über die Menschen sicher erschwert worden und<br />

nicht vielleicht gerade begünstigt worden. Also in dem Sinne hat es viel<br />

Schweiss gekostet, das Zusammenführen.“ 297 „[<strong>Die</strong>jenigen,] die an der Front<br />

vorne diese Zusammenführung erlebt haben, die sind alle irgendwo<br />

angeschossen. Sei es jetzt in Basel oder in St. Gallen. Und das versucht man<br />

<strong>von</strong> mir aus fälschlicherweise immer wegzudenken. ... [D]as ist<br />

291<br />

Protokoll 13-04, Absatz 30<br />

292<br />

Protokoll 13-11, Absatz 28.<br />

293<br />

Vgl. Protokoll 13-21, Absatz 28.<br />

294<br />

Vgl. Protokoll 13-01, Absatz 27. Der Umtauschprospekt „Ein guter Tausch“ weist hingegen darauf<br />

hin (vgl. S. 5), dass das ermittelte Tauschverhältnis vermögensmässig „eine strikte<br />

Gleichbehandlung der Helvetia-Aktionäre und der Patria-Genossenschafter gewährleistet“.<br />

295 Protokoll 13-04, Absatz 29.<br />

296 Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />

297 Protokoll 13-01, Absatz 27.<br />

240


HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

unauslöschlich.“ 298 „Ich sage heute, das würde ich nie, nie mehr machen, so in<br />

eine Allianz hinein, in der beide gleichberechtigte Partner sind, in der über fünf<br />

Jahre hinweg man sich die Messer jeden Monat einen Zentimeter tiefer<br />

hineingestossen hat.“ 299<br />

8.2.1.3 Schlussfolgerungen<br />

<strong>Die</strong> Ausgangslage zu Kooperationsbeginn und die unerwarteten und unbeabsichtigten<br />

Folgen des Projekts SABA waren ganz entscheidend dafür, wie die<br />

Anfänge des <strong>Handlungssystem</strong>s der späteren Helvetia Patria geprägt worden<br />

sind (vgl. Abbildung 72).<br />

interpretative Schemata Ressourcen<br />

Normen<br />

• keine Erarbeitung<br />

neuer Regeln der<br />

Signifikation<br />

(Re-)Konstruktion<br />

• Unerfahrenheit mit<br />

kulturellen Unterschieden<br />

• Konzentration auf die<br />

faktische Dimension<br />

der Zusammenarbeit<br />

Routinisierung<br />

241<br />

• keine Erarbeitung<br />

neuer Regeln der<br />

Legitimation<br />

kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />

• keine Initiierung<br />

kollektiver kognitiver<br />

Prozesse<br />

• Herausbildung<br />

sozialer Praktiken<br />

mit geringer<br />

Nachhaltigkeit<br />

• Arbeitsgruppen ohne<br />

strategische Leitplanken<br />

• paritätische,<br />

konsensorientierte<br />

Entscheidungsprozesse<br />

Rationalisierung<br />

• bewusster Verzicht<br />

auf Vorgaben<br />

Abbildung 72: <strong>Die</strong> Anfänge des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

298 Protokoll 13-04, Absatz 28.<br />

299 Protokoll 13-04, Absatz 28.


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Massgeblichen Einfluss gingen vor allem <strong>von</strong> folgenden drei Faktoren aus:<br />

• paradoxe Zielsetzung<br />

Das Ziel der Kooperation war in sich paradox: Seide Gesellschaften<br />

wollten ihr mittelfristiges wirtschaftliches Überleben<br />

sichern - und das taten sie, indem sie auf ihre Selbständigkeit<br />

(zumindest in Teilen) zugunsten einer Kooperation verzichteten.<br />

Das ist in der Tat ein Widerspruch: <strong>Die</strong> Sicherung der<br />

Selbständigkeit durch ihre (teilweise) Einschränkung! Man<br />

versuchte das Paradox dadurch aufzulösen, dass man zwar eine<br />

Kooperation einging, aber sich gleichzeitig unbewusst bemühte,<br />

den Verlust an Selbständigkeit so gering wie möglich zu halten.<br />

Das erklärt, wieso man sich im Projekt SABA durch ein<br />

(übermässig) paritätisches und konsensorientiertes Vorgehen<br />

beinahe selbst entscheidungs- und handlungsunfähig gemacht<br />

hat. So waren die sozialen Praktiken, die sich im Rahmen der<br />

Kooperation entwickelt hatten, im Grunde die Vorläufer der<br />

späteren sozialen Praktiken des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia<br />

Patria, die stark unter einer mangelnden Nachhaltigkeit litten.<br />

• fehlende Signifikations- und Legitimationsarbeit<br />

<strong>Die</strong> formelle, materielle Ausgestaltung der organisationalen<br />

Wirklichkeit bot beiden Partnern den vermeintlich gemeinsamen<br />

Berührungspunkt für ihre Kooperation. <strong>Die</strong> Arbeit in den SABA-<br />

Teilprojekten hat sich deshalb vorab auf die Strukturdimension<br />

Reifikation, das heisst auf die Schaffung gemeinsamer<br />

Ressourcen, gerichtet. <strong>Die</strong> Arbeit der SABA-Teams wurde<br />

jedoch dadurch erschwert, dass sie auf keine strategischen<br />

Leitplanken zurückgreifen konnten: Alles war offen. Es wurden<br />

bewusst keine Vorgaben gemacht. Ebenfalls war man nicht<br />

vorbereitet auf das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher<br />

Kulturen. Entsprechend fehlten alle Anstrengungen für eine<br />

kulturelle Integration der beiden Partner. Es wurden keine<br />

kollektiven kognitiven Prozesse angestossen und infolgedessen<br />

entwickelte sich keine gemeinsame Vorstellung darüber, was es<br />

heisst, ein Allbranchen-Versicherer zu sein, und was die neuen<br />

organisationalen Werte, Normen und Regeln sind. <strong>Die</strong><br />

Strukturdimensionen Signifikation und Legitimation blieben vom<br />

Projekt SABA unberührt. <strong>Die</strong> Partnerschaft schaffte zwar eine<br />

242


HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

neue faktische Ordnung, aber diese war in ein kognitives und<br />

normatives Vakuum eingebettet.<br />

• Ausklammerung politischer Prozesse<br />

Das paritätische und konsensorientierte Vorgehen sollte ein<br />

Ungleichgewicht zwischen den Partnern vermeiden, aber gleichzeitig<br />

neutralisierte es auch jegliche politischen Prozesse, die für<br />

eine erfolgreiche und verbindliche Koordination und Integration<br />

der organisationalen Wirklichkeit notwendig gewesen wären. So<br />

ist zu erklären, wieso das Projekt SABA im Laufe der Zeit ins<br />

Stocken geraten ist. Das Projekt hat sich quasi selber leer laufen<br />

lassen. Das betont konsensorientierte Vorgehen hat ausserdem<br />

den Keim gelegt für die spätere Konfliktunfähigkeit <strong>von</strong> Helvetia<br />

Patria, weil die Austragung <strong>von</strong> Konflikten schon zu Beginn der<br />

Partnerschaft vermieden worden war.<br />

<strong>Die</strong> Beschreibung des <strong>Handlungssystem</strong>s in Abbildung 72 zeigt deutlich auf,<br />

dass bereits im Projekt SABA das Fundament für das spätere <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria (vgl. Abbildung 66) gelegt wurde. Es stellt sich nun<br />

die Frage, wie das anschliessende Projekt Tempo die weitere Entwicklung des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s beeinflusst hat. Darauf geht das nun folgende Kapitel ein.<br />

8.2.2 Das Projekt Tempo<br />

Nach drei Jahren Partnerschaft beschlossen Helvetia Versicherungen und<br />

Patria Leben schliesslich im Jahr 1995, die beiden Firmen rechtlich und<br />

organisatorisch zusammenzulegen. Das Projekt Tempo wurde aufgesetzt, um<br />

die strategische und operative Integration der beiden bisher unabhängigen<br />

<strong>Organisation</strong>en zu planen und umzusetzen. <strong>Die</strong> neue Firma Helvetia Patria<br />

wurde ab dem 1.9.1996 aktiv. <strong>Die</strong> formellen Hintergründe und die konkrete<br />

Abwicklung des Projekts sind in Kapitel 7.2.3.2 beschrieben. Hier in diesem<br />

Kapitel wird ein anderer Fokus gesetzt. Es wird dargestellt und interpretiert,<br />

welchen Einfluss das Projekt auf das entstehende <strong>Handlungssystem</strong> der<br />

Helvetia Patria hatte.<br />

8.2.2.1 Auslöser und Ziele<br />

Auslöser für das Projekt Tempo war die Erkenntnis, dass man mit dem Projekt<br />

SABA an eine Grenze gelangt war. Wollte man vermehrt Synergien aus der<br />

Partnerschaft nutzen, dann mussten weitreichendere Massnahmen eingeleitet<br />

243


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

werden. „Man hat sehr schnell gemerkt, dass sich das nicht automatisch<br />

verschmelzt oder ergibt, sondern dass man was dazutun muss, und dann ist<br />

Tempo eigentlich gekommen.“ 300<br />

Das Projekt Tempo verfolgte drei Ziele:<br />

• Integrationsziel<br />

<strong>Die</strong> organisatorische und kulturelle Integration der bisher<br />

getrennten Leben- bzw. Nichtleben-Branche.<br />

• Wachstumsziel<br />

<strong>Eine</strong> gemeinsame Geschäftsstrategie, die auf Gesamtberatungsfähigkeit<br />

und Cross-Selling aufbaute.<br />

• Effizienzziel<br />

<strong>Die</strong> Realisierung <strong>von</strong> Synergien im Vertrieb und in der internen<br />

Abwicklung durch effiziente Strukturen und Prozesse. 301<br />

Mit dem Projekt Tempo haben Helvetia und Patria erstm<strong>als</strong> gemeinsam<br />

strategische Überlegungen angestellt. 302 Man suchte einen neuen Weg in eine<br />

gemeinsame, erfolgreiche Zukunft. „Also es ging nicht darum, das Bestehende<br />

zu bestätigen, aber auch nicht das Bestehende kaputt zu reden. Wir suchten<br />

einen neuen gemeinsamen Weg.“ 303<br />

Mit dem Projekt Tempo wurde die neu geschaffene Helvetia Patria strategisch<br />

komplett neu positioniert. <strong>Die</strong> neu eingeführte Ausrichtung der <strong>Organisation</strong> in<br />

die vier Kundenbereiche PG, U, A und VP (Segmentierung) war „sensationell“<br />

304 , die „modernste dam<strong>als</strong> im Markt“ 305 - aber auch mutig, denn man<br />

hatte damit „das heisseste Eisen angefasst, was es überhaupt gibt: Man hat<br />

den Vertrieb angefasst.“ 306 Man hatte nämlich den bisher nach Leben bzw.<br />

Nichtleben getrennten Vertrieb auf die beiden neuen Kundenbereiche PG und<br />

300<br />

Protokoll 13-06, Absatz 27.<br />

301<br />

Oder wie es ein Interviewpartner treffend formulierte: „Eins und eins darf nicht zwei ergeben, und<br />

schon gar nicht 1,9.“ (Protokoll 13-02, Absatz 40)<br />

302<br />

Vgl. Protokoll 13-02, Absatz 6. Das Vorgängerprojekt SABA hatte sich auf operative<br />

Fragestellungen beschränkt (vgl. Kapitel 8.2.1).<br />

303<br />

Protokoll 13-02, Absatz 6.<br />

304 Protokoll 13-17, Absatz 37.<br />

305 Protokoll 13-02, Absatz 21.<br />

306 Protokoll 13-18, Absatz 29.<br />

244


HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

U aufgeteilt. Der Vertrieb Leben und der Vertrieb Nichtleben waren fortan<br />

innerhalb der Kundenbereiche zusammengefasst, um die Gesamtberatungsfähigkeit<br />

und das Cross-Selling aktiv zu unterstützen. „Also, vorher hatte man<br />

307, 308<br />

zwei Unternehmen und nach der Fusion hatte man vier Segmente.“<br />

<strong>Die</strong> klare strategische Positionierung wurde nach der langen Ungewissheit <strong>von</strong><br />

SABA mit einem gewissen Aufatmen begrüsst. Man war froh, wieder zu<br />

wissen, wo es lang ging. „Tempo hat insofern über das Ganze einen roten<br />

Faden gelegt, dass jeder gewusst hat, in welche Richtung es geht.“ ... Man<br />

war eigentlich froh, dass man gewusst hat, wohin geht es.“ 309<br />

Dennoch lief die Umsetzung <strong>von</strong> Tempo nur harzig. Was waren die Gründe für<br />

diese Schwierigkeiten? Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, muss der<br />

Umsetzungsprozess <strong>von</strong> Tempo näher untersucht werden (vgl. Kapitel<br />

8.2.2.2).<br />

8.2.2.2 Prozess<br />

<strong>Die</strong> Umsetzung <strong>von</strong> Tempo war eine enorme Leistung. Zwei bisher unabhängige<br />

Unternehmen aus zwei verschiedenen Branchen und mit unterschiedlichen<br />

Prozessen mussten operativ integriert werden. „Aber gar nichts passte<br />

zusammen. Wir hatten keine gemeinsame Kundendatenbank. Es war gar<br />

nichts kompatibel. Weder die Informatiksysteme, noch die gemeinsamen<br />

Anwendungen ... . Aber gar nichts. Also musste man ein riesiges Infrastrukturprojekt<br />

aufsetzen. Weil das war ja klar, diese Dinge musste man zusammenlegen.“<br />

310 Das Projekt Tempo war ein Wagnis für alle, denn niemand <strong>von</strong><br />

Helvetia oder Patria hatte Erfahrung mit einem solchen Projekt. 311<br />

Tempo ist <strong>von</strong> den Mitarbeitenden mit Skepsis und einer gewissen Zurückhaltung<br />

betrachtet worden, weil allen klar war, dass die Zusammenlegung der<br />

beiden Firmen einen Stellenabbau und Kündigungen zur Folge haben wird.<br />

Doch wie gut oder wie schlecht die Abwicklung <strong>von</strong> Tempo gelungen ist,<br />

darüber waren sich unsere Interviewpartner nicht einig: Für die einen hat man<br />

307<br />

Protokoll 13-19, Absatz 27.<br />

308<br />

Vgl. das Organigramm der Tempo-Struktur in Kapitel 7.2.3.2, Abbildung 56.<br />

309<br />

Protokoll 13-06, Absatz 34<br />

310<br />

Protokoll 13-02, Absatz 12.<br />

311<br />

Vgl. Protokoll 13-02, Absatz 55.<br />

245


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Tempo zu schnell durchgezogen, für die anderen hat man sich dafür zu viel<br />

Zeit gelassen. Für die einen war die Kommunikation und Information über und<br />

während Tempo vorbildlich, für die anderen war sie nicht ausreichend. Es war<br />

eben, wie das ein Interviewpartner formulierte, eine „ganz normale<br />

<strong>Organisation</strong>sveränderung brut<strong>als</strong>ter Art und Weise.“ 312<br />

In einem Punkt waren sich hingegen alle Interviewpartner einig: <strong>Die</strong> Integration<br />

<strong>von</strong> Leben und Nichtleben und die strategische Ausrichtung auf die vier neuen<br />

Kundenbereiche ist nicht geglückt. Es wurden die unterschiedlichsten Gründe<br />

für dieses Scheitern angeführt:<br />

• zu geringe Konzepttiefe<br />

<strong>Die</strong> strategischen Konzepte <strong>von</strong> Tempo waren intern zu wenig<br />

durchgedacht. Der externe Berater war „der grosse Treiber“ 313<br />

hinter Tempo und man hat seine Ideen „relativ unplugged“ 314<br />

übernommen. „Wenn man bei Tempo nur ein bisschen weiter<br />

runtergegangen wäre, dann [wäre] man bereits im Vorfeld ...<br />

automatisch draufgestossen [auf die Frage]: Ja, was heisst das<br />

jetzt, was hat das für Konsequenzen?“ 315 Aufgrund der geringen<br />

Konzepttiefe „haben noch so viele Ausgestaltungsfragen gefehlt,<br />

die sich dann in der faktischen Umsetzung in einer elenden<br />

Schlaufe manifestiert haben.“ 316 <strong>Die</strong> strategische Idee war zu<br />

abstrakt für eine direkte Umsetzung in den operativen Alltag. <strong>Die</strong><br />

Basis hat „ab und zu wieder mal diesen Leuten zuoberst oben<br />

signalisieren müssen: Euer Entscheid ist das eine, die<br />

Umsetzung ist das andere. Und so wie Ihr euch das vorstellt,<br />

geht das nicht.“ 317<br />

• zu wenig konsequente Umsetzung<br />

Obwohl die strategische Ausrichtung und die Segmentierung in<br />

vier Kundenbereiche deutlich formuliert und kommuniziert<br />

312<br />

Protokoll 13-18, Absatz 29.<br />

313<br />

Protokoll 13-02, Absatz 19.<br />

314<br />

Protokoll 13-13, Absatz 27.<br />

315<br />

Protokoll 13-13, Absatz 29.<br />

316<br />

Protokoll 13-13, Absatz 27.<br />

317<br />

Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />

246


HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

worden waren, hat man sich bei der Umsetzung nicht<br />

konsequent daran gehalten. „... überall dort, wo einer laut<br />

geschrieen hat, hat man sofort Konzessionen gemacht. ... Man<br />

hat zwar ein sauberes Modell gehabt, ... [aber] dann hat man<br />

irgendeine Konsenslösung getroffen. ... Überall, man hat überall<br />

Konsenslösungen getroffen.“ 318 So ist das Konzept stückweise<br />

durch „Insellösungen“ 319 „verwässert“ 320 worden. Für die<br />

strategische Vision <strong>von</strong> Tempo war das „verhängnisvoll. Weil die<br />

[Insellösungen] bleiben, und da können sie nachher kulturelle<br />

Massnahmen machen, ... das nützt alles nichts.“ 321<br />

• zu grosser Konflikt der Werte<br />

<strong>Die</strong> neuen strategischen Werte <strong>von</strong> Tempo konnten sich nicht<br />

erfolgreich gegen das bisherige, traditionelle Versicherungsdenken<br />

durchsetzen. „Es gab immer noch so Sachen aus der<br />

alten Welt, wie man es früher gemacht hat, die hat man nicht<br />

konsequent neu ausgerichtet.“ 322 Insbesondere das klassische<br />

Produktions-Denken konnte mit Tempo nicht überwunden<br />

werden und hat sogar direkt zu einer Aushöhlung des Tempo-<br />

Konzepts geführt. „... [jeder hat] einfach das aus Tempo<br />

genommen, was ihm gedient hat. ... [Und] wenn er eine gute<br />

Produktion hatte ... hat man sie halt gelassen.“ 323<br />

• zu anspruchsvoll<br />

„... die <strong>Organisation</strong>sform [ist] ziemlich komplex gewesen ...<br />

möglicherweise zu anspruchsvoll ... Man ist aus einer relativ ...<br />

traditionellen, konservativen <strong>Organisation</strong> herausgekommen und<br />

wollte auf einmal eine relativ moderne <strong>Organisation</strong>sform<br />

anwenden. Das war schwierig.“ 324 Das Tempo-Konzept war zwar<br />

strategisch richtig, aber für die Mitarbeitenden war es nicht<br />

318 Protokoll 13-04, Absatz 31.<br />

319 Protokoll 13-07, Absatz 31.<br />

320 Protokoll 13-11, Absatz 29.<br />

321 Protokoll 13-11, Absatz 29.<br />

322 Protokoll 13-04, Absatz 31.<br />

323 Protokoll 13-20, Absatz 27-28.<br />

324 Protokoll 13-03, Absatz 27.<br />

247


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

anschlussfähig. Sie verstanden nicht, wieso die traditionelle<br />

Versicherungsstruktur mit einem Mal nicht mehr richtig war.<br />

„Also, da hat man - organisatorisch und rein betriebswirtschaftlich<br />

gedacht - wahrscheinlich richtige Schritte gemacht. ... Für die<br />

Leute dam<strong>als</strong> war es aber schwer verständlich. Und zwar darum<br />

schwer verständlich, weil viele sich in ihren bisherigen<br />

Unternehmen stark eingebracht hatten, ... und da hat man sich<br />

gefragt: ... Ja, habe ich denn meine Aufgabe nicht richtig<br />

gemacht, dass jetzt plötzlich alles anders wird? Also, die Leute<br />

haben angefangen, an sich selber zu zweifeln.“ 325 Man wollte mit<br />

der Ausrichtung der <strong>Organisation</strong> auf die vier Kundenbereiche<br />

die Mitarbeitenden „zwingen in einen Prozess rein, sich<br />

strategische Gedanken zu machen“. 326 Doch die strategische<br />

Neuausrichtung <strong>von</strong> Tempo hat die Mitarbeitenden nicht in eine<br />

neue Zukunft einladen können, sondern hat - aus Sicht der<br />

Mitarbeitenden - die Vergangenheit in Frage gestellt. Damit hat<br />

Tempo nicht Klarheit und Orientierung für den Aufbruch in die<br />

Zukunft, sondern bloss Zweifel geschaffen.<br />

• zu geringe Veränderungstiefe<br />

<strong>Die</strong> Umsetzung der strategischen Neuausrichtung hat sich<br />

hauptsächlich auf die Implementierung struktureller<br />

Massnahmen beschränkt. „Kulturell hat man zwar immer wieder<br />

Signale gesetzt ... aber ich hatte den Eindruck, man hätte hier<br />

noch sehr viel mehr [machen] sollen ... .“ 327 <strong>Die</strong> strategischen<br />

Impulse und Veränderungen, die hinter den strukturellen<br />

Massnahmen <strong>von</strong> Tempo standen, sind denn auch nicht wirklich<br />

bis in den organisationalen Alltag vorgedrungen. Auf die Frage,<br />

welche Veränderung <strong>von</strong> Tempo am deutlichsten spürbar<br />

geworden sei im Tagesgeschäft, antwortete ein Interviewpartner:<br />

„Der [neue] Firmenname.“ 328 <strong>Eine</strong> erstaunliche Antwort, wenn<br />

325 Protokoll 13-11, Absatz 27.<br />

326 Protokoll 13-13, Absatz 27.<br />

327 Protokoll 13-11, Absatz 29.<br />

328 Protokoll 13-10, Absatz 29.<br />

248


HISTORISCHE REKONSTRUKTION DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

man bedenkt, was für umwälzende strategische Veränderungen<br />

Tempo gebracht hat.<br />

<strong>Die</strong> strategische Vision <strong>von</strong> Tempo hat sich <strong>als</strong>o - aus den verschiedensten<br />

vorgängig erwähnten Gründen - nicht erfolgreich umsetzen lassen. Dennoch<br />

ist das (teilweise) Scheitern <strong>von</strong> Tempo nie zu einem offenen Thema<br />

geworden. „Aber offiziell hat man das natürlich nie mitgekriegt, dass man dort<br />

einen Fehlentscheid getroffen hat.“ 329 <strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong> hat gelernt, sich zu<br />

arrangieren und mit den Problemen <strong>von</strong> Tempo zu leben.<br />

Es stellt sich die Frage, welches die Auswirkungen da<strong>von</strong> auf das <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria waren. <strong>Die</strong> Antwort darauf wird im folgenden<br />

Kapitel 8.2.2.3 gegeben.<br />

8.2.2.3 Schlussfolgerungen<br />

Das Projekt Tempo hat das <strong>Handlungssystem</strong>, das sich während der Partnerschaft<br />

zwischen Helvetia und Patria angefangen hat herauszubilden, unbewusst<br />

und ungewollt verstärkt und dadurch weiter verfestigt (vgl. Abbildung 73)<br />

und schliesslich geradewegs zu der beschriebenen empirischen Evidenz des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria geführt (vgl. Abbildung 66).<br />

<strong>Die</strong> Auswirkungen des Projekts Tempo auf die einzelnen Elemente des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s können wie folgt zusammengefasst werden:<br />

• Strukturmodalitäten<br />

Tempo konnte keine neuen interpretativen Schemata verankern,<br />

weil die strategische Vision <strong>von</strong> Tempo nicht anschlussfähig war<br />

an das frühere, traditionelle Versicherungsdenken. Ebenfalls ist<br />

es nicht gelungen, neue Normen der Legitimation einzuführen,<br />

weil die Entscheidungsprozesse <strong>von</strong> Tempo selbst immer wieder<br />

auf alte Normen (insbesondere das Primat der Prämien)<br />

zurückgegriffen haben. Hinderlich war sicherlich ebenfalls, dass<br />

die meisten Tempo-Massnahmen struktureller Natur waren, das<br />

heisst, sich auf die Dimension Reifikation beschränkten. Unterstützende<br />

Massnahmen in den Dimensionen Signifikation und<br />

Legitimation gab es zu wenig.<br />

329 Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />

249


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

interpretative Schemata Ressourcen<br />

Normen<br />

• strategische Vision<br />

nicht anschlussfähig<br />

an Vergangenheit<br />

(Re-)Konstruktion<br />

• Unerfahrenheit mit<br />

kulturellen Integrationsprozessen<br />

• Konzentration auf die<br />

strukturelle Dimension<br />

der Zusammenarbeit<br />

Routinisierung<br />

250<br />

• Primat der Prämien<br />

steht im Konflikt mit<br />

neuen strategischen<br />

Werten<br />

kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />

• ungenügende<br />

Initiierung kollektiver<br />

kognitver Prozesse<br />

• man lernt, sich mit<br />

den Problemen zu<br />

arrangieren<br />

• zu geringe Konzepttiefe<br />

• Ausnahmen, Insellösungen<br />

zu einmal<br />

getroffenen Entscheidungen<br />

Rationalisierung<br />

• zu abstrakte<br />

Zielvorgaben<br />

Abbildung 73: <strong>Die</strong> Verfestigung des <strong>Handlungssystem</strong>s durch Tempo<br />

• Bezugsfähigkeiten<br />

Im <strong>Handlungssystem</strong> sind durch das Projekt Tempo kaum<br />

Bezugsfähigkeiten geschaffen bzw. positiv verstärkt worden. Da<br />

das Projekt stark durch den externen Berater getrieben worden<br />

war, hat sich im <strong>Handlungssystem</strong> selbst wenig Erfahrung mit<br />

dem Umgang mit (Re-)Konstruktionsprozessen herausbilden<br />

können. Auch für die beiden anderen Bezugsfähigkeiten hatte<br />

Tempo keine Vorbildfunktion für das <strong>Handlungssystem</strong>: <strong>Die</strong><br />

Rationalisierungsfähigkeit wurde wegen zu wenig operativ<br />

fokussierten Zielvorgaben kaum gestärkt und wegen der zu<br />

geringen Konzepttiefe litt die Routinisierungsfähigkeit.<br />

• Verhandlungsprozess des Organisierens<br />

Tempo hat auf den Verhandlungsprozess des Organisierens<br />

ähnliche Signale gesendet wie bereits das Projekt SABA: <strong>Die</strong><br />

kollektiven kognitiven Prozesse wurden vernachlässigt und die<br />

politischen Prozesse hatten zuwenig Durchsetzungskraft. Alles in


INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

allem hat dies dazu geführt, dass sich im <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria soziale Praktiken des Sich-arrangierens herausgebildet<br />

haben, die naturgemäss eher oberflächlich und wenig<br />

nachhaltig wirkten.<br />

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass weder SABA noch Tempo<br />

ein <strong>Handlungssystem</strong> haben schaffen können, das eine einheitliche<br />

Ausrichtung hat. „... [es ist] nicht insgesamt gelungen, eine gemeinsame<br />

Ausrichtung zu schaffen, dass da wirklich alle am gleichen Strick ziehen.“ 330<br />

So erklärt sich die Ambivalenz und die Fragmentierung der interpretativen<br />

Schemata des <strong>Handlungssystem</strong>s <strong>von</strong> Helvetia Patria und in der Folge die<br />

paradoxe Stabilisierung, die das <strong>Handlungssystem</strong> (re-)produzierte (vgl.<br />

Abbildung 70 und Abbildung 71).<br />

Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria befand sich nach Tempo gewissermassen<br />

in einem stabilisierten Spannungszustand. Jeder wusste, dass es so<br />

nicht weitergehen kann, dennoch konnten die Probleme nicht offiziell thematisiert<br />

werden, weil eine Kritik oder ein Hinterfragen der strategischen<br />

Ausrichtung nicht möglich war. <strong>Die</strong> Strategie bzw. die strategische<br />

Segmentierung der <strong>Organisation</strong> war tabu. Zwei Interviewpartner haben den<br />

temporären Spannungszustand des <strong>Handlungssystem</strong>s treffend wie folgt<br />

beschrieben: „Tempo ist für mich ein Zwischenkonstrukt gewesen.“ 331 „Darum<br />

hat man eigentlich wirklich nur darauf warten müssen, dass dieser Entscheid<br />

korrigiert wird.“ 332<br />

<strong>Die</strong> Intervention in das <strong>Handlungssystem</strong> und die Veränderungen, die damit<br />

ausgelöst wurden, werden im folgenden Kapitel 8.3 beschrieben.<br />

330 Protokoll 13-12, Absatz 31.<br />

331 Protokoll 13-04, Absatz 31.<br />

332 Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />

251


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

8.3 Intervention und Veränderung<br />

des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

Drei Jahre nach dem Projekt Tempo sah sich Helvetia Patria mit der<br />

Erkenntnis konfrontiert, dass es „Helvetia Patria nicht gelungen [ist], seit 1996<br />

einen grossen Schritt in die gewünschte Richtung zu machen.“ 333<br />

Helvetia Patria stand Ende 1999 vor zwei grossen Problemen: <strong>Die</strong> Kostensätze<br />

lagen sowohl im Bereich Leben wie im Bereich Nichtleben über dem<br />

Marktdurchschnitt. Das Marktwachstum <strong>von</strong> Helvetia Patria hingegen lag unter<br />

dem Marktdurchschnitt. Um dieser negativen Entwicklung „proaktiv zu begegnen“,<br />

334 wurde im April 2000 das Projekt Dynamo aufgesetzt.<br />

Das Projekt Dynamo hat relativ rasch aufgedeckt, dass die bestehende<br />

<strong>Organisation</strong>sstruktur nach Kundenbereichen mit je einem eigenen Aussendienst<br />

„die kritische Frage“ ist. 335 Das Kostenproblem war letztlich verursacht<br />

durch ein Strukturproblem. <strong>Die</strong> Kundenbereichs-Segmentierung aus dem<br />

Projekt Tempo wurde darum zugunsten einer branchenorientierten Struktur<br />

aufgegeben. <strong>Die</strong> zwei parallelen Vertriebsorganisationen des Kundenbereichs<br />

PG und des Kundenbereichs U wurden zum Bereich Vertriebsmanagement<br />

zusammengelegt. <strong>Die</strong> neue <strong>Organisation</strong>sstruktur gliedert sich nun in das<br />

Vertriebsmanagement (VM) sowie die vier Marktbereiche Vorsorge Unternehmen<br />

(MB VU), Vorsorge Privat (MB VP), Nichtleben (MB NL) und<br />

e-Business/Vertragspartner (MB e&VP). 336<br />

<strong>Die</strong> Abkehr <strong>von</strong> der Tempo-<strong>Organisation</strong>sstruktur war ein Eingeständnis, dass<br />

die Kundenbereichs-Segmentierung die <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria letztlich<br />

überfordert hat. „Wir ändern nun Dinge, die wir vor einigen Jahren<br />

eingeführt haben. <strong>Die</strong> Gründe hierfür liegen zum einen darin, dass wir nicht<br />

alles richtig erkannt und eingeschätzt haben, und zum anderen in einer zu<br />

wenig konsequenten Umsetzung.“ 337<br />

333 Protokoll 21-02, Absatz 29.<br />

334 Protokoll 22-27, Absatz 53.<br />

335 Protokoll 22-04, Absatz 49.<br />

336 Vgl. das Organigramm der Dynamo-Struktur in Abbildung 59 (Kapitel 7.2.3.3, Seite 194).<br />

337 Protokoll 22-04, Absatz 82.<br />

252


INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

8.3.1 Das Projekt Dynamo<br />

<strong>Die</strong> formellen Hintergründe und die konkrete Abwicklung des Projekts Dynamo<br />

sind in Kapitel 7.2.3.3 beschrieben. Hier in diesem Kapitel wird ein anderer<br />

Fokus gesetzt. Es wird dargestellt und interpretiert, welchen Änderungsimpuls<br />

das Projekt Dynamo auf das mittlerweile stabilisierte <strong>Handlungssystem</strong> der<br />

Helvetia Patria hatte.<br />

8.3.1.1 Auslöser und Ziele<br />

Auslöser für das Projekt Dynamo war das drängende Kostenproblem<br />

verbunden mit dem stagnierenden Wachstum. Bei der Ankündigung des<br />

Projekts Dynamo wurde jedoch grosses Gewicht auf die Betonung gelegt,<br />

dass Dynamo keine Notmassnahme, sondern proaktives unternehmerisches<br />

Handeln ist: „Das Projekt Dynamo wird mit einer offensiven Grundhaltung<br />

gestartet, aus einer Position der Stärke heraus. Jetzt, und nicht erst, wenn es<br />

zu spät ist.“ 338 „Dynamo ist eine Flucht nach vorne. Wir wollen bereit sein, <strong>als</strong>o<br />

müssen wir was tun.“ 339<br />

Ebenso wichtig war es klarzumachen, dass Dynamo keine Abkehr <strong>von</strong> der<br />

bisherigen Strategie der Helvetia Patria bedeutet. „Dynamo ist nicht mit einer<br />

neuen Strategie zu verwechseln.“ 340 Im Gegenteil: Dynamo ist die verstärkte<br />

Anstrengung, die bestehende Strategie 99-04 zu erreichen.<br />

Mit Dynamo hat man sich drei Ziele gesetzt: 341<br />

• Kostenziel<br />

Einsparung <strong>von</strong> 60 Mio. (15 % der Gesamtkosten)<br />

• Wachstumsziel<br />

Wachstumsimpulse zur Sicherung der Zielerreichung der<br />

Strategie 99-04<br />

• neuer Führungs- und Handlungsrahmen<br />

mehr unternehmerische Verpflichtung: strategischer Fokus statt<br />

338<br />

Protokoll 21-06, Absatz 36.<br />

339<br />

Protokoll 13-02, Absatz 50.<br />

340<br />

Protokoll 22-06, Absatz 28.<br />

341 Genau genommen waren es anfänglich nur zwei Ziele, nämlich das Kosten- und das Wachstumsziel.<br />

Der neue Führungs- und Handlungsrahmen ist erst im Laufe des Projekts <strong>als</strong> Notwendigkeit<br />

erkannt und daher <strong>als</strong> zusätzliches drittes Ziel aufgenommen worden (vgl. Kapitel 7.2.3.3).<br />

253


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Zersplitterung, dynamische Einheiten statt Machtdenken,<br />

effizienter Service statt Bürokratie<br />

Trotz dieser klaren und offenen Kommunikation über die Hintergründe und<br />

Ziele <strong>von</strong> Dynamo war in der Wahrnehmung der Mitarbeitenden <strong>von</strong> Helvetia<br />

Patria jedoch ein ganz anderer Grund <strong>als</strong> das Kostenproblem der Auslöser für<br />

Dynamo: Nämlich „die stille Einsicht, dass das Vorprojekt [Tempo] eigentlich<br />

nicht funktioniert hat.“ 342 „Und das [ist] nie auf den Tisch gekommen, dass das<br />

ein Hauptgrund gewesen ist, dass man relativ rassig wieder ein neues Projekt<br />

lanciert hat - sprich Dynamo - man hat das dann eben verpackt mit<br />

Kosteneinsparungen.“ 343<br />

Aus Sicht der <strong>Organisation</strong> musste <strong>als</strong>o Dynamo kommen, weil die <strong>Organisation</strong>sstruktur<br />

<strong>von</strong> Tempo (Segmentierung nach Kundenbereichen) nicht<br />

funktioniert hat. 344 „Weil die an der Front wussten, so kann es nicht weitergehen.“<br />

345<br />

Das offizielle Dynamo war schwerpunktmässig <strong>als</strong> Kostenprojekt aufgesetzt.<br />

„Also im Kopf war eigentlich nicht, die Strukturen zu überdenken, sondern die<br />

wachsende Sorge, ... bei den Kosten ins Offside [zu] laufen. Und unser Ziel<br />

war nicht, die Struktur zu vereinfachen. Unser Ziel war, das Kostenproblem zu<br />

lösen.“ 346 Im Laufe des Projekts, und insbesondere aufgrund der Abkehr <strong>von</strong><br />

der Kundenbereichs-Segmentierung, hat sich in der <strong>Organisation</strong> jedoch die<br />

inoffizielle Auffassung festgesetzt, dass Dynamo eine Korrektur <strong>von</strong> Tempo<br />

war. „Weil man ist ja im Endeffekt wieder zurück in die alte Struktur.“ 347<br />

<strong>Die</strong>se Umwidmung des Projekts war ganz entscheidend dafür, wie das Projekt<br />

in der <strong>Organisation</strong> aufgenommen und akzeptiert worden ist. Dynamo ist trotz<br />

342 Protokoll 13-15, Absatz 29.<br />

343 Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />

344<br />

Als <strong>Erklärung</strong> dafür, wieso die Kundenbereichs-Segmentierung nicht funktioniert hat, kursierten<br />

innerhalb der <strong>Organisation</strong> zwei Begründungen (vgl. Kapitel 8.1.2.3). <strong>Die</strong> einen waren der<br />

Meinung, dass es an der inkonsequenten Umsetzung lag, die anderen erklärten, dass die<br />

Segmentierung nicht funktionieren konnte, weil sie prinzipiell die Grundlogik des Versicherungsgeschäfts<br />

verletzte.<br />

345<br />

Protokoll 13-16, Absatz 28.<br />

346 Protokoll 13-02, Absatz 29.<br />

347 Protokoll 13-15, Absatz 29.<br />

254


INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

seiner Härten begrüsst worden. 348 „Dynamo ist aufgesogen worden - auch<br />

wenn es weh getan hat.“ 349<br />

8.3.1.2 Prozess und Ergebnisse<br />

Darüber, wie das Projekt Dynamo abgewickelt worden ist, ob z.B. die<br />

Information und Kommunikation über das und während dem Projekt gut war,<br />

und ob die Basis in die Erarbeitung <strong>von</strong> Dynamo genügend eingebunden war<br />

oder nicht - darüber herrschte unter unseren Interviewpartnern eine uneinheitliche<br />

Meinung. 350 Für die einen war Dynamo mustergültig, ein „Lehrstück<br />

für Projektmanagement“. 351 Für die anderen war es ein „Negativerlebnis“. 352<br />

Gemessen am Vorgängerprojekt Tempo war Dynamo jedoch - da waren sich<br />

alle Interviewpartner einig - das bessere und erfolgreichere Projekt. Insbesondere<br />

die folgenden Punkte haben zur positiven Gesamtbeurteilung <strong>von</strong><br />

Dynamo geführt:<br />

• Umsetzungskonsequenz<br />

Dynamo musste anfänglich um seine Glaubwürdigkeit kämpfen,<br />

anders zu sein <strong>als</strong> das Vorgängerprojekt Tempo: „Das war am<br />

Anfang sicher die grosse Herausforderung, die Glaubwürdigkeit<br />

zu kriegen, ... vor allem auch <strong>von</strong> der Ernsthaftigkeit, dass man<br />

umsetzt ... .“ 353 Das war ein Problem, denn viele glaubten nicht,<br />

„dass man die Härte an den Tag legen wird, um an das wirklich<br />

Eingemachte zu gehen.“ 354<br />

Doch Dynamo schaffte tatsächlich den Wechsel in der Gangart:<br />

Das Projekt wurde „sehr viel konsequenter durchgezogen. Sehr<br />

viel konsequenter.“ 355 „In Dynamo ist man <strong>von</strong> Anfang an - für<br />

Versicherungsverhältnisse und für Helvetia-Patria-Verhältnisse -<br />

348<br />

Das Projekt Dynamo hat zu einem Abbau <strong>von</strong> 440 Stellen und zu 260 Kündigungen geführt.<br />

349<br />

Protokoll 13-20, Absatz 29.<br />

350<br />

Das Gleiche war bereits beim Projekt Tempo der Fall (vgl. Kapitel 8.2.2.2).<br />

351<br />

Protokoll 13-16, Absatz 28.<br />

352<br />

Protokoll 13-08, Absatz 31.<br />

353<br />

Protokoll 13-14, Absatz 28.<br />

354<br />

Protokoll 11-09, Absatz 33.<br />

355<br />

Protokoll 13-11, Absatz 29.<br />

255


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

relativ dynamisch und hart darangegangen.“ 356 „Wir wollten nicht<br />

mehr hundert Ausnahmen - das ist eine Lehre, die wir aus<br />

357, 358<br />

Tempo gezogen haben.“<br />

Das schnelle und konsequente Vorgehen im Projekt Dynamo<br />

war in den Augen der Mitarbeitenden ausschlaggebend für den<br />

Erfolg <strong>von</strong> Dynamo. „Dynamo ist kurz und kräftig gewesen und<br />

hat jetzt auch den entsprechenden Erfolg vorzuweisen.“ 359 Das<br />

schlagkräftige Vorgehen <strong>von</strong> Dynamo mag ein wichtiger Erfolgsfaktor<br />

gewesen sein. Viel entscheidender - wenn auch weniger<br />

vordergründig - war der Umstand, dass Dynamo kulturell<br />

anschlussfähig war an das bestehende Versicherungsdenken<br />

(vgl. nächster Punkt).<br />

• Akzeptanz<br />

Dynamo wurde <strong>von</strong> der <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> richtig und notwendig<br />

akzeptiert. „... wir haben alle begriffen - und das hat man uns gar<br />

nicht gross zu kommunizieren oder erklären gebraucht - Dynamo<br />

muss sein.“ 360 Interessanterweise rührte diese Akzeptanz <strong>von</strong><br />

Dynamo jedoch nicht nur <strong>von</strong> den offiziellen Zielen <strong>von</strong> Dynamo,<br />

sondern mehrheitlich <strong>von</strong> der inoffiziellen Wahrnehmung, dass<br />

mit Dynamo Fehler aus dem Vorprojekt Tempo korrigiert werden.<br />

Darum war die Bereitschaft in der <strong>Organisation</strong> da, Dynamo mit<br />

all seinen Härten und Schwächen zu akzeptieren. „[Es sind] sehr<br />

harte Entscheide gefällt worden, aber die waren einleuchtend.<br />

Und da hat im Endeffekt jeder das Gefühl gehabt: Doch, das<br />

betrifft mich. Das tut mir weh - aber vom Grundsatz her ist es<br />

richtig.“ 361 „[Dynamo ist] viel weniger angezweifelt worden. ...<br />

Man ist sehr schnell zur Einsicht gekommen, dass das gut ist.<br />

356<br />

Protokoll 13-04, Absatz 32<br />

357<br />

Protokoll 22-08, Absatz 32.<br />

358<br />

Natürlich hat es bei Dynamo auch Rückfälle in das alte Verhalten gegeben, z.B. bei der<br />

Diskussion und Entscheidung der Frage, wie die neuen Kompetenz-Center zu nennen sind.<br />

359<br />

Protokoll 13-01, Absatz 28.<br />

360 Protokoll 13-20, Absatz 28.<br />

361 Protokoll 13-15, Absatz 28.<br />

256


INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Das Verständnis war grossmehrheitlich da. Nicht zu vergleichen<br />

mit der Unruhe, die im alten Projekt [Tempo] gewesen ist.“ 362<br />

<strong>Die</strong> Akzeptanz <strong>von</strong> Dynamo war der entscheidende Erfolgsfaktor<br />

für das gesamte Projekt. Daraus ist ein neuer, gemeinsamer<br />

Wille zum Erfolg entstanden. „... die Leute draussen [haben<br />

realisiert] jawohl, ich will das eigentlich auch. Also machen wir<br />

das zusammen. Wir alle <strong>von</strong> der Helvetia Patria. Das war früher<br />

irgendwie nicht so.“ 363 Dynamo hat der <strong>Organisation</strong> Stärke und<br />

einen neuen Zusammenhalt verliehen. Dank dieser neuen<br />

Dynamik war man im Rahmen <strong>von</strong> Dynamo dazu in der Lage,<br />

massive Probleme zu meistern, ohne dass sie eskaliert sind oder<br />

die positive Grundstimmung entscheidend beeinträchtigt<br />

haben. 364<br />

• neues Selbstbewusstsein<br />

Dynamo hat der ganzen <strong>Organisation</strong> ein neues Selbstbewusstsein<br />

vermittelt. Das Verlierer-Image <strong>von</strong> SABA und<br />

Tempo ist einem Gewinner-Image gewichen. In der <strong>Organisation</strong><br />

herrscht Aufbruchstimmung und Siegerlaune: 365 Mit Dynamo hat<br />

man ein ehrgeiziges Projekt erfolgreich durchgestanden und<br />

Ergebnisse erzielt, auf die man stolz ist. „Wir haben<br />

Umsetzungsstärke bewiesen. ... Wir sind mit dem Ergebnis<br />

zufrieden. ... Wir haben viel gelernt. Wir sind nicht mehr die<br />

gleichen Leute.“ 366 „Helvetia Patria ist fähiger, mit Transparenz<br />

umzugehen. Wir können nun Probleme lösen, ohne zuerst<br />

Rechtfertigungen vorbringen zu müssen oder in die Defensive zu<br />

362<br />

Protokoll 13-15, Absatz 29.<br />

363<br />

Protokoll 13-20, Absatz 27.<br />

364<br />

Dynamo war ein erfolgreiches Projekt, aber es hatte natürlich dennoch seine Probleme. Schwer<br />

zu schaffen machten in der Umsetzung <strong>von</strong> Dynamo hauptsächlich die folgenden drei Faktoren:<br />

Personalabbau ohne Anpassung der Prozessabläufe, Schwierigkeiten bei der Einführung <strong>von</strong><br />

Move (Aussendienstvergütungssystem), Schwierigkeiten bei der Einführung <strong>von</strong> BESY<br />

(Nichtleben-Abwicklungssystem).<br />

365 Es gibt vereinzelt auch kritische Stimmen, die an der Nachhaltigkeit dieses Aufbruchs zweifeln:<br />

„Für mich ist nicht der Ruck durch die Unternehmung. ... Es ist nicht Aufbruchstimmung ‚jetzt<br />

machen wir’, sondern ‚wir haben überlebt, jetzt wieder jeder für sich’.“ (Protokoll 13-04, Absatz<br />

31)<br />

366 Protokoll 22-27, Absatz 53.<br />

257


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

gehen.“ 367 „Wir haben Wachstumshebel und Kostentreiber<br />

identifiziert und wissen heute sehr viel mehr über unsere Firma.<br />

Wir sind selbstkritischer geworden. Wir glauben nicht mehr alles,<br />

was man uns sagt, sondern wollen Zahlen und Fakten sehen.“ 368<br />

<strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong> steht vor einem „Neustart“. 369 „Wenn ich in<br />

meinem Umfeld schaue, die Stimmung ist eine ganz andere ...<br />

die Leute sind anders [am Arbeiten] <strong>als</strong> vorher.“ 370 <strong>Die</strong><br />

Voraussetzung für diesen Neustart ist in den Augen der<br />

Mitarbeitenden durch die neue Dynamo-Struktur geschaffen<br />

worden. „Auf jeden Fall, die Strukturen sind bedeutend besser<br />

gelegt. Von dem her hat das sicher Motivation, zum Teil sogar<br />

wirklich Begeisterung ausgelöst, dass man das Gefühl hat, jetzt<br />

können wir dann wirklich wieder aus dem Ganzen schöpfen,<br />

ohne dass man sich intern irgendwie zermürbt.“ 371, 372 „<strong>Die</strong><br />

Führungsbereiche, wie sie jetzt sind, in denen ... eine<br />

Fokussierung stattgefunden hat - nicht die völlige Integration <strong>von</strong><br />

allem mit allem - ... die fühlen sich jetzt auch wirklich zuständig<br />

für das Business.“ 373<br />

Dynamo hat auch das Führungsverständnis <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

erneuert. Man ist härter geworden, führt konsequenter und „ist<br />

einverstanden mit Verlusten“. 374 <strong>Eine</strong> konsensorientierte Führung<br />

„haben wir früher lange genug versucht, ohne Resultat. Wir<br />

haben in diesem Haus kaum Sanktionen für Fehlverhalten. Aber<br />

beim Belohnen sind wir Spitze. Wir haben eine ernorme<br />

Fehlertoleranz. Hier müssen wir noch einen Reifeprozess<br />

367<br />

Protokoll 22-27, Absatz 53.<br />

368<br />

Protokoll 22-27, Absatz 53.<br />

369<br />

Protokoll 13-13, Absatz 28.<br />

370<br />

Protokoll 13-14, Absatz 28.<br />

371<br />

Protokoll 13-07, Absatz 29.<br />

372<br />

Es gibt vereinzelt auch kritische Stimmen, die die Auflösung der Kundenbereiche bedauern:<br />

„Dynamo zerstört das, was man 3 ½ Jahre erfolgreich aufgebaut hat im Kundenbereich U. <strong>Die</strong><br />

Investitionen <strong>von</strong> 3 ½ Jahren gehen den Bach runter.“ (Protokoll 31-01, Absatz 28.)<br />

373<br />

Protokoll 13-09, Absatz 28.<br />

374 Protokoll 13-19, Absatz 28.<br />

258


INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

durchmachen.“ 375 „Dynamo endet <strong>als</strong> Projekt, aber es lebt weiter<br />

im Führungs- und Leistungsverhalten der gesamten Helvetia<br />

Patria.“ 376<br />

Trotz des gewachsenen Selbstvertrauens und der gestärkten<br />

Zuversicht, ist eine gewisse kritische Selbstreflexion nicht<br />

verloren gegangen. „Aber letztendlich muss es die Zeit zeigen,<br />

ob man den Atem durchhalten kann und die Kadenz.“ 377 Und es<br />

ist ob aller Freude und Stolz über das gelungene Projekt klar,<br />

dass Dynamo nur der Anfang war, nicht das Ende: „Wir haben<br />

jetzt auch noch eine grosse Pendenzenliste. Und die<br />

Hausaufgaben müssen wir weiterhin machen. Sonst haben wir in<br />

zwei drei Jahren wieder ein Dynamo.“ 378 „Wir haben erst einen<br />

kleinen Bruchteil der notwendigen Strukturbereinigung hinter<br />

uns. Was hintendurch an Bürokratie abläuft ist immer noch viel<br />

zu viel.“ 379<br />

Das Projekt Dynamo war ein erfolgreiches Ereignis in der Firmenentwicklung<br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria. Doch es stellt sich die Frage, was die Auswirkungen <strong>von</strong><br />

Dynamo auf das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria waren. <strong>Die</strong> Antwort<br />

darauf wird im folgenden Kapitel 8.3.1.3 gegeben.<br />

8.3.1.3 Schlussfolgerungen<br />

<strong>Die</strong> Auswirkungen <strong>von</strong> Dynamo auf das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

können nur angemessen gewürdigt werden, wenn das Projekt in den<br />

grösseren zeitlichen Zusammenhang mit dem Vorprojekt Tempo gestellt wird.<br />

Denn Dynamo hat sich in den Augen der <strong>Organisation</strong>smitglieder hauptsächlich<br />

deshalb legitimiert, weil es das Tabu der Kundenbereichs-Segmentierung<br />

gebrochen hat, das seit Tempo die <strong>Organisation</strong> blockiert hat. Weil die<br />

<strong>Organisation</strong>smitglieder Dynamo implizit <strong>als</strong> Antwort auf Tempo wahrgenommen<br />

haben, ist denn auch niemand in der <strong>Organisation</strong> <strong>von</strong> Dynamo<br />

375<br />

Protokoll 32-04, Absatz 34.<br />

376<br />

Protokoll 22-23, Absatz 41.<br />

377<br />

Protokoll 13-13, Absatz 28.<br />

378<br />

Protokoll 13-17, Absatz 38.<br />

379<br />

Protokoll 13-12, Absatz 32.<br />

259


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

überrascht worden: „... wenn man die Hausaufgaben im Tempo gelöst hätte,<br />

hätte es wahrscheinlich kein Dynamo gebraucht.“ 380<br />

Da ist eine interessante, logisch-kausale Sichtweise der <strong>Organisation</strong>spraxis<br />

auf Dynamo - aber wie sieht die theoretische Beurteilung aus? Kann aus<br />

theoretischer Sicht dieser Schlussfolgerung zugestimmt werden? Dazu muss<br />

zuerst die Frage beantwortet werden, ob die Hausaufgaben des Projekts<br />

Tempo für das damalige, im Aufbau befindliche gemeinsame <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Versicherungen und Patria Leben überhaupt lösbar<br />

gewesen wären. Und die theoretische Antwort lautet: Nein.<br />

Tempo hat nie gelingen können, weil das Projekt für das damalige <strong>Handlungssystem</strong><br />

eine Überforderung war. Das Projekt ist nicht gescheitert, weil man<br />

entscheidende Fehler im Projektmanagement oder Change Management<br />

gemacht hätte. 381 Tempo ist nicht geglückt, weil die Veränderungsinitiative <strong>von</strong><br />

Tempo insgesamt nicht anschlussfähig war an das damalige <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria. Und diese Nicht-Anschlussfähigkeit war ein<br />

Problem, das jenseits <strong>von</strong> allen Fragen des reinen Projekt- oder Change<br />

Managements lag. Es hatte direkt etwas zu tun mit der Dialectic of Control, die<br />

das damalige <strong>Handlungssystem</strong> prägte (vgl. Kapitel 8.2.2.3).<br />

Und umgekehrt war das Projekt Dynamo unabhängig <strong>von</strong> jeglichen Aspekten<br />

des Projektmanagements und Change Managements ein Erfolg, weil Dynamo<br />

anschlussfähig war an das damalige <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria.<br />

Dynamo hat den Nerv des <strong>Handlungssystem</strong>s getroffen und mit der neuen<br />

<strong>Organisation</strong>sstruktur den stabilisierten Spannungszustand <strong>von</strong> Tempo aufgelöst.<br />

Was waren nun die positiven Auswirkungen <strong>von</strong> Dynamo auf das <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria im einzelnen (vgl. Abbildung 74)?<br />

380 Protokoll 13-07, Absatz 31.<br />

381 Das Projektmanagement ist im Fall <strong>von</strong> Tempo ganz einfach kein massgeblicher Faktor gewesen<br />

- und zwar unabhängig da<strong>von</strong>, ob es nun tatsächlich gut oder weniger gut war. In den Interviews<br />

zu Tempo wurde das Projektmanagement ja ganz unterschiedlich beurteilt: Manche fanden es<br />

gut, andere schlecht. <strong>Die</strong> Hauptproblematik des Projekts Tempo - die Kundenbereichs-Segmentierung<br />

- hat alle möglichen Auswirkungen eines positiven oder negativen Projektmanagements<br />

überstrahlt. Das Gleiche gilt nochm<strong>als</strong> für das Projekt Dynamo. Auch dort war letztlich nicht die<br />

Frage entsheidend, ob das Projektmanagement <strong>von</strong> Dynamo gut oder schlecht war. Entscheidend<br />

bei Dynamo war, dass das Tabu der Segmentierung gebrochen wurde.<br />

260


• vertrautes Ordnungsmuster<br />

• Stärkung der Identität<br />

• Erfahrungskumulation<br />

• Lead behalten<br />

INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

interpretative Schemata Ressourcen<br />

Normen<br />

(Re-)Konstruktion<br />

• Einführung der<br />

Dynamo-Struktur<br />

Routinisierung<br />

261<br />

• Entstehung neuer<br />

Werte (Kosten,<br />

Führung, Leistung)<br />

kognitive Prozesse soziale Praktiken politische Prozesse<br />

• kollektive kognitive<br />

Prozesse sind in<br />

Gang gekommen<br />

?<br />

• Transparenz durch<br />

Umsetzungscontrolling<br />

• Befähigungsoffensive<br />

• härtere Entscheide<br />

• Bereitschaft zum<br />

Verzicht<br />

Rationalisierung<br />

• klar formulierte<br />

Erwartungen bzw.<br />

messbare Zielvorgaben<br />

Abbildung 74: Veränderungsimpulse <strong>von</strong> Dynamo auf das <strong>Handlungssystem</strong><br />

• Strukturmodalitäten<br />

Der grösste Impuls ging zweifelsfrei <strong>von</strong> der Strukturdimension<br />

Reifikation aus. <strong>Die</strong> Einführung der neuen <strong>Organisation</strong>sstruktur<br />

war das wichtigste Signal. Das Massnahmenpaket <strong>von</strong> Dynamo<br />

war zwar immer noch zu strukturlastig und zu einseitig auf die<br />

Dimension Reifikation ausgerichtet, aber Dynamo hat es<br />

geschafft, dass in diesen Strukturen anders gelebt wird <strong>als</strong><br />

vorher, weil <strong>von</strong> der Strukturdimension Reifikation wichtige<br />

Erneuerungsimpulse auf die beiden anderen Strukturdimensionen<br />

ausgingen.<br />

<strong>Die</strong> Dynamo-Struktur war spontan anschlussfähig an die interpretativen<br />

Schemata des <strong>Handlungssystem</strong>s, weil sie ein<br />

vertrautes Ordnungsmuster (Trennung Leben/Nichtleben und<br />

Trennung Fabrik/Vertrieb) zurückgebracht hat. Der Wiedererkennungseffekt<br />

hat die Identität (Wer sind wir? Wie können wir<br />

erfolgreich zusammenarbeiten?) und das Selbstbewusstsein der


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

<strong>Organisation</strong> gestärkt und dadurch einen Beitrag geleistet zur<br />

Überwindung der Ambivalenz und Fragmentierung der<br />

Dimension Signifikation. Letztlich ist damit Vertrauen und<br />

Zuversicht in die <strong>Organisation</strong> und in die Führung gewachsen.<br />

Dynamo hat aber auch neue Normen in das <strong>Handlungssystem</strong><br />

eingepflanzt. Bei Dynamo stand nicht mehr das Primat der<br />

Prämien im Vordergrund. <strong>Die</strong> Produktion <strong>als</strong> bisheriger Fokus<br />

des <strong>Handlungssystem</strong>s wurde abgelöst bzw. ergänzt durch die<br />

Richtgrössen Kosten, Rentabilität, Leistung und Führung.<br />

• Bezugsfähigkeiten<br />

Dynamo hat die Bezugsfähigkeiten des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

wachsen lassen. <strong>Die</strong> (Re-)Konstruktionsfähigkeit profitierte vom<br />

Erfahrungszuwachs. Dynamo war ja nach SABA und Tempo<br />

bereits das dritte Grossprojekt innerhalb einer relativ kurzen<br />

Zeitspanne. Man hat zwar die Unterstützung eines externen<br />

Beraters beigezogen, aber gezielt darauf geachtet, dass der<br />

Lead des Projekts bei Helvetia Patria verblieb. So konnten<br />

ungefiltert Erfahrungen gesammelt werden mit Veränderungs-<br />

und Entwicklungsinitiativen. 382<br />

Auch die Rationalisierungsfähigkeit ist stärker geworden. <strong>Die</strong><br />

Führungskommunikation hat nicht mehr den Charakter <strong>von</strong><br />

Aufrufen oder Appellen zum Handeln („Handlungsspielraum<br />

nutzen“), sondern besteht aus klar formulierten Erwartungen und<br />

(teilweise) messbaren Anforderungen an die zu erbringende<br />

Leistung der Mitarbeitenden. <strong>Die</strong> Führungsintensität hat zugenommen.<br />

<strong>Die</strong> Routinisierungsfähigkeit war wegen der wahrgenommenen<br />

Umsetzungsschwächen <strong>von</strong> Tempo besonders im Blickpunkt <strong>von</strong><br />

Dynamo. Ein striktes Umsetzungscontrolling hat die Routinisierungsfähigkeit<br />

während der Dynamo-Umsetzung unterstützt.<br />

382 Ein direkter Ausfluss aus diesem Erfahrungszuwachs ist zum Beispiel, dass dem Prozessmanagement<br />

eine grössere Bedeutung zugemessen wird: „Der Schlüssel zum Erfolg für<br />

Veränderungen ist daher ein kontinuierliches Prozessmanagement.“ (Protokoll 22-27, Absatz 49)<br />

Helvetia Patria hat diese Erfahrung gleich in die Tat umgesetzt und im Jahr 2002 ein grosses<br />

EFQM-Projekt gestartet.<br />

262


INTERVENTION UND VERÄNDERUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Längerfristige Wirkung auf die Routinisierungsfähigkeit wird die<br />

Befähigungsoffensive haben, die Helvetia Patria ab dem Jahr<br />

2001 gestartet hat. 383<br />

• Verhandlungsprozess des Organisierens<br />

Dynamo war für Helvetia Patria der Anlass zu einer<br />

Standortbestimmung, sich selbst kennen zu lernen und über sich<br />

selbst Gedanken zu machen. <strong>Die</strong> intensive Analysephase des<br />

Projekts hat einen neuen, kritischen Blick auf sich selbst<br />

ermöglicht und hat kollektive kognitive Prozesse über die<br />

Selbstwahrnehmung angestossen. 384<br />

Auch die politischen Prozesse sind <strong>von</strong> Dynamo nicht unberührt<br />

geblieben. <strong>Die</strong> Führungsintensität hat zugenommen, das heisst,<br />

die Entscheidungsprozesse sind expliziter und härter geworden.<br />

Dadurch ist in Dynamo Führung spürbar geworden. 385<br />

Am schwierigsten abzuschätzen ist die Wirkung <strong>von</strong> Dynamo auf<br />

die sozialen Praktiken. Haben sich bereits neue soziale Praktiken<br />

herausgebildet? Soziale Praktiken, die weniger pragmatisch<br />

und ad-hoc, dafür eher ziel- und prozessorientiert und<br />

selbstverpflichtend sind? <strong>Die</strong> Frage muss offen bleiben, bzw.<br />

wird im folgenden Kapitel 8.4 zu beantworten versucht.<br />

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es Dynamo gelungen ist,<br />

das Paradox Segmentierung zu sprengen und damit den inneren Spannungszustand<br />

der <strong>Organisation</strong> aufzulösen. Das <strong>Handlungssystem</strong> braucht nun<br />

keine Umsetzungsschwäche mehr, um sich selbst zu schützen. <strong>Die</strong> bisherigen<br />

383<br />

Auf die Frage, was die wichtigsten Massnahmen sind, die HPV für eine erfolgreiche Zukunft<br />

initiieren muss, lautete die Antwort: „Ausbildung, Ausbildung, Ausbildung.“ (Protokoll 13-02,<br />

Absatz 66.<br />

384<br />

Ein besonders einschneidendes Erlebnis war offenbar die Erkenntnis, wie ungenügend die<br />

Führungszahlen der Firma waren: „Wir sind erschrocken, über welch schlechtes Datenmaterial<br />

wir verfügen. ... Wenn zwei Zahlen übereingestimmt haben, sind wir erschrocken, das ist gar<br />

nicht möglich.“ (Protokoll 13-16, Absatz 28)<br />

385<br />

Vgl. dazu die folgende Einschätzung eines Interviewpartners, wie sich die Führungskultur<br />

verändert hat: „<strong>Eine</strong>rseits durch Entschlossenheit, auf der anderen Seite <strong>von</strong> mir aus gesehen mit<br />

einer - das meine ich positiv - pragmatischen, auch sehr harten Haltung. Hart nicht im Sinne <strong>von</strong><br />

brutal, sondern <strong>von</strong> konsequent. Er [der CEO] ist auch immer da vorne gestanden ... er hat klar<br />

Position bezogen. Es hat eigentlich nie Zweifel gegeben.“ (Protokoll 13-14, Absatz 28)<br />

263


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

Stabilisierungsprozesse und Schutzroutinen des Systems sind überflüssig<br />

geworden.<br />

Im <strong>Handlungssystem</strong> haben sich völlig neue Kräfte- und Abhängigkeitsverhältnisse<br />

gebildet und das wird zwangsläufig einen neuen Stabilisierungszyklus<br />

auslösen. Wie dieser selbstlenkende und -stabilisierende Prozess<br />

aussieht und durch welche Dialectic of Control er getrieben wird, kann hier<br />

nicht beantwortet werden. 386 Das Kapitel 8.4 versucht jedoch aufzuzeigen,<br />

welche Faktoren massgeblich bestimmen werden, welche Richtung das<br />

<strong>Handlungssystem</strong> nehmen wird.<br />

8.4 Zukünftige Entwicklung<br />

des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

Das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria hat in den vergangenen Jahren<br />

zweifelsfrei einen enormen Entwicklungs- und Reifeprozess durchgemacht.<br />

Auch in der <strong>Organisation</strong> selbst hat man wahrgenommen, dass sich Helvetia<br />

Patria vorwärts entwickelt hat: „Da hat die Firma meines Erachtens einen<br />

Riesensprung gemacht. Und zwar in dem Sinne, die guten Dinge, die es<br />

braucht <strong>von</strong> den hard facts her übernommen, und auf der anderen Seite nie<br />

vergessen, wo man herkommt und was eigentlich auch noch wichtig ist.“ 387<br />

Wie sich das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria nun nach dem Projekt<br />

Dynamo stabilisieren wird, lässt sich nicht vorhersagen. Entscheidenden<br />

Einfluss darauf, welche neue Dialectic of Control sich im <strong>Handlungssystem</strong><br />

herausbilden wird, werden aber mit Sicherheit die folgenden Faktoren<br />

ausüben:<br />

• neue Verankerung der strategischen Vision<br />

<strong>Die</strong> strategische Vision <strong>von</strong> Tempo hatte ausdrücklich auch noch<br />

unter Dynamo Gültigkeit (vgl. Kapitel 8.3.1.1). Es besteht jedoch<br />

die Gefahr, dass die Abkehr <strong>von</strong> der Tempo-Struktur implizit <strong>als</strong><br />

Bestätigung des traditionellen Versicherungsdenkens gewirkt<br />

386 Das ist aus zwei Gründen nicht möglich. Erstens reichen dafür die empirischen Daten des<br />

Forschungsprojekts nicht aus. Zweitens erschliesst sich eine Dialectic of Control immer nur durch<br />

eine ex-post Betrachtung. Ex-ante ist die Kontingenz des <strong>Handlungssystem</strong>s zu gross, <strong>als</strong> dass<br />

sich eine ganz bestimmte Dialectic of Control eineindeutig herauslesen lassen könnte.<br />

387 Protokoll 13-14, Absatz 27.<br />

264


ZUKÜNFTIGE ENTWICKLUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

haben könnte (vgl. auch nächster Punkt). Es wird daher entscheidend<br />

sein, die strategische Ausrichtung <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

möglichst rasch in der neuen Dynamo-Struktur spürbar und<br />

erlebbar zu machen. Doch dazu muss zuerst die Strategie <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria auf die neue <strong>Organisation</strong>sstruktur runtergebrochen<br />

werden. Sonst klafft eine Lücke zwischen Strategie<br />

und Struktur: „Für mich ist das das grosse Fragezeichen: Ist das<br />

[die bestehende Strategie 99-04] noch richtig mit dem, was wir<br />

hier haben [die neue Dynamo-Struktur]? Also zum Beispiel: <strong>Eine</strong><br />

Nichtleben-Strategie hat es gar nicht gegeben in diesem Sinn.<br />

Sondern es gab eine Nichtleben-U, Nichtleben-P, eine<br />

Nichtleben-G. ... Man hat gesagt, wir hatten überall Nichtleben<br />

drinnen, das brauchen wir jetzt im Prinzip nur aufzuaddieren, und<br />

dann haben wir wieder eine Gesamtstrategie. Für mich ist die<br />

Frage, ist das richtig?“ 388 Den <strong>Organisation</strong>smitgliedern muss<br />

vermittelt werden, wie der bestehenden Strategie auch im<br />

Rahmen der neuen Struktur nachgelebt werden kann. Gelingt<br />

dies nicht, wird der positive Impuls, den Dynamo in der<br />

Strukturdimension Signifikation ausgelöst hat, nicht nachhaltig<br />

wirken können. 389<br />

• Koordination Vertriebsmanagement und Marktbereiche<br />

<strong>Die</strong> neue Dynamo-Struktur hat völlig neue <strong>Organisation</strong>sbereiche<br />

geschaffen. <strong>Die</strong>se <strong>Organisation</strong>sbereiche liegen näher am<br />

traditionellen Versicherungsdenken und sind daher <strong>von</strong> den<br />

<strong>Organisation</strong>smitgliedern mehrheitlich begrüsst worden: „Und<br />

wegen dem bin ich eigentlich schon erleichtert, dass man dort<br />

das Rad wieder etwas zurückgedreht hat. Ich möchte ... sagen,<br />

es ist zurück zur Vernunft.“ 390 Doch auch die neue<br />

<strong>Organisation</strong>sstruktur hat ihre Tücken:<br />

Erstens besteht nun ein erhöhter Koordinationsbedarf zwischen<br />

den Marktbereichen („Fabrik“) und dem Vertriebsmanagement<br />

388<br />

Protokoll 13.03, Absatz 27.<br />

389<br />

Helvetia Patria hat diese Lücke zwischen Strategie und Struktur bereits geschlossen. Seit dem<br />

Herbst 2003 liegt die neu ausgearbeitete Strategie 04-06 vor.<br />

390<br />

Protokoll 13-09, Absatz 28.<br />

265


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

(Aussendienst). „Von mir aus gesehen gibt es nach Dynamo eine<br />

Trennung ... <strong>von</strong> Fabrik und Vertrieb. ... Man hat während Tempo<br />

diese Gräben zwischen den Segmenten heftig kritisiert, ... und<br />

jetzt sind wir wieder in einer Situation, in der Gräben entstehen.<br />

... Jetzt kommt der Fabrik-Mensch nicht unbedingt mehr viel in<br />

Kontakt mit dem Vertrieb.“ 391 <strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong> hat bereits<br />

erkannt, dass es die Herausforderung der kommenden Monate<br />

und Jahre sein wird, diese Schnittstelle zwischen Fabrik und<br />

Vertrieb reibungslos zu schliessen. „Hier liegen Synergieeffekte<br />

brach.“ 392 „Wenn uns das nicht gelingt, die drei Marktbereiche<br />

sauber zu koordinieren ... [punkto] ... Aussendienst, ... dann steht<br />

in ein paar Jahren das nächste Restrukturierungsprojekt an.“ 393<br />

Zweitens bedeutet die Dynamo-Struktur auch eine organisatorische<br />

Trennung zwischen Leben und Nichtleben. Das mag ein<br />

operativer Vorteil sein in der Koordination des Tagesgeschäfts.<br />

„Heute gibt es nicht mehr so viele Gemeinsamkeiten, darum ist<br />

nicht mehr soviel Absprache notwendig.“ 394 Aber kulturell und<br />

strategisch könnte das auf längere Sicht ein Nachteil sein für die<br />

Position <strong>von</strong> Helvetia Patria <strong>als</strong> Gesamtdienstleister in der<br />

Versicherungsbranche. „Also <strong>von</strong> dem her, <strong>von</strong> der Kultur, <strong>von</strong><br />

der Zusammenarbeit Helvetia Patria, um diese Kooperation zu<br />

leben, ist es für mich wieder sehr, sehr nachteilig.“ 395 Auch hier<br />

wird es entscheidend sein, neue Integrationsmechanismen zu<br />

finden, die ein Auseinanderdriften <strong>von</strong> Leben und Nichtleben<br />

verhindern, da sonst auf die Länge die strategische Vision <strong>von</strong><br />

Helvetia Patria gefährdet ist.<br />

• neuer Führungs- und Handlungsrahmen<br />

Dynamo hatte drei Ziele: Kosten senken, Wachstum ankurbeln<br />

und einen neuen Führungs- und Handlungsrahmen schaffen.<br />

Von diesen drei Zielen ist nur das erste Ziel, die<br />

391 Protokoll 13-19, Absatz 27.<br />

392 Protokoll 32-05, Absatz 29.<br />

393 Protokoll 13-13, Absatz 30.<br />

394 Protokoll 13-18, Absatz 28.<br />

395 Protokoll 13-07, Absatz 28.<br />

266


ZUKÜNFTIGE ENTWICKLUNG DES HANDLUNGSSYSTEMS<br />

Kosteneinsparung, wirklich erreicht worden. <strong>Die</strong> Wachstumsinitiativen<br />

haben bis fast ein Jahr nach Ende <strong>von</strong> Dynamo keine<br />

sichtbaren Erfolge hervorbringen können. „Dynamo hatte zwei<br />

Ziele: Kosten sparen und Marktchancen erhöhen. Kosten haben<br />

wir eingespart. Wo wir das Gefühl haben, dass wir es nicht<br />

erreicht haben, sind die gesteigerten Marktchancen. Also wir<br />

sehen nicht, dass Dynamo eine Wirkung am Markt zeigt. Obwohl<br />

Dynamo jetzt schon fast ein Jahr abgeschlossen ist, sehen wir<br />

die Wirkung nicht.“ 396 Und wie das vorangehende Zitat zeigt, ist<br />

das dritte Dynamoziel, der neue Führungs- und Handlungsrahmen,<br />

überhaupt nicht ins Bewusstsein der <strong>Organisation</strong><br />

vorgedrungen. 397<br />

Für die Frage, welche neue Stabilisierungsroutine das<br />

<strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria herausbilden wird, ist es<br />

jedoch entscheidend, dass sich die durch Dynamo initiierten<br />

Veränderungen im Verhandlungsprozess des Organisierens<br />

dauerhaft verankern und formalisieren können. Es braucht einen<br />

neuen Führungs- und Handlungsrahmen, um das <strong>Handlungssystem</strong><br />

<strong>von</strong> Helvetia Patria nachhaltig verändern zu können.<br />

Doch hat das <strong>Handlungssystem</strong> <strong>von</strong> Helvetia Patria während<br />

Dynamo genügend dazu gelernt, um sich nun im Alltag und ohne<br />

den Support eines externen Beraters weiter in die eingeschlagene<br />

Richtung entwickeln zu können?<br />

Abschliessend kann gesagt werden, dass bei Helvetia Patria das Bewusststein<br />

da zu sein scheint, dass die positive Entwicklung, die die Firma durch Dynamo<br />

genommen hat, auch in Zukunft noch gepflegt und unterstützt sein muss. Im<br />

Anschluss an das Projekt Dynamo hat die Führungsspitze <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

eine Roadmap mit elf Bausteinen zusammengestellt, 398 mit denen sie<br />

strategisch wichtige Themenfelder bearbeitet und im Auge behält. 399<br />

396<br />

Protokoll 13-03, Absatz 28.<br />

397<br />

Das könnte etwas damit zu tun haben, dass das Ziel „neuer Führungs- und Handlungsrahmen“<br />

erst im Laufe des Projekts <strong>als</strong> drittes Ziel <strong>von</strong> Dynamo aufgenommen worden ist. Zum Projektstart<br />

standen nur die zwei Ziele Kosten und Wachstum auf der Agenda (vgl. Kapitel 7.2.3.3).<br />

398<br />

Vgl. Folien zum Erfahrungsbericht Projekt Dynamo.<br />

399 Dazu gehört z.B. eine umfassende Ausbildungs- und Befähigungsinitiative, ein EFQM-Projekt<br />

sowie ein Marktbearbeitungskonzept bis auf die Ebene Generalagenturen.<br />

267


DAS HANDLUNGSSYSTEM VON HELVETIA PATRIA<br />

<strong>Die</strong> Weichen in eine erfolgreiche Zukunft scheinen <strong>als</strong>o bei Helvetia Patria<br />

richtig gestellt.<br />

268


TEIL IV: SCHLUSSFOLGERUNGEN FÜR<br />

THEORIE UND PRAXIS<br />

Erwarten Sie <strong>von</strong> mir bitte keine Vorschriften,<br />

wie etwas zu machen sei.<br />

Das Beste, was ich für Sie tun kann,<br />

ist Ihnen dichte Beschreibungen der Welt anzubieten,<br />

sowie neue Möglichkeiten, sie zu sehen.<br />

269<br />

Henry Mintzberg<br />

In diesem letzten Teil der Dissertation werden die Überlegungen wieder<br />

zurück an ihren Ausgangspunkt geführt (vgl. Einleitung), nämlich zur Frage,<br />

was denn nun die Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en ausmacht. Es ist<br />

gleichzeitig der Versuch, die theoretische Komplexität, die in Teil II mit der<br />

Entwicklung des Konzepts <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> einem <strong>Handlungssystem</strong><br />

bewusst aufgespannt worden ist, wieder zu reduzieren. <strong>Die</strong> theoretische<br />

Komplexität war wichtig, um dem Phänomen <strong>Organisation</strong> gerecht zu werden.<br />

Doch wenn die Theorie nicht nur Verständnis für das Phänomen <strong>Organisation</strong>,<br />

sondern darüber hinaus auch einen heuristischen Handlungsleitfaden für die<br />

Praxis liefern soll, dann muss es gelingen, komplexe Theorien in Alltagshandeln<br />

zu übersetzen. Sonst zielt Theorie letztlich an einer ihrer wichtigsten<br />

Bestimmungen vorbei: eine Theorie der Praxis zu sein.<br />

In Kapitel 9.1 werden zunächst Gedanken zur theoretischen Bedeutung des<br />

Modells für das Thema Erneuerungsfähigkeit angestellt, um in Kapitel 9.2<br />

schliesslich Empfehlungen für die Praxis zu formulieren, wie nach dem Modell<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> die Erneuerungsfähigkeit einer <strong>Organisation</strong><br />

am besten ermöglicht werden kann.<br />

Doch obwohl das Konzept <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> dabei hilft,<br />

ein Licht auf die Frage der Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en zu<br />

werfen, darf man sich da<strong>von</strong> kein Erfolgsrezept versprechen. Es kann auch mit<br />

dem Konzept <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> - oder vielleicht gerade<br />

deswegen - keine einfache Antworten geben. Das Konzept <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

<strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> entwirft nur ein „unordentliches Bild“ <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

(vgl. Kapitel 5.3), das keine objektiv-ursächlichen <strong>Erklärung</strong>en anbietet.


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM: SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />

Dennoch soll hier nun der Versuch gemacht werden, Schlussfolgerungen für<br />

Theorie und Praxis zu ziehen. Aus theoretischer Sicht liegt die Beantwortung<br />

der Frage nach der Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en letztlich in den<br />

Bezugsfähigkeiten des <strong>Handlungssystem</strong>s (vgl. Kapitel 9.1). <strong>Die</strong> Praxis steht<br />

demnach <strong>als</strong>o vor der Herausforderung, die Bezugsfähigkeiten des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s zu aktivieren und zu fördern. <strong>Eine</strong> Lösung dafür liegt darin,<br />

ein fliessendes Gleichgewicht zwischen machtvollen Strukturen und<br />

politischen Prozessen herbeizuführen (vgl. Kapitel 9.2).<br />

270


9 ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM:<br />

SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />

271<br />

THEORETISCHE BEDEUTUNG<br />

9.1 Theoretische Bedeutung<br />

Das Modell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> ist ein möglicher<br />

<strong>Erklärung</strong>sansatz <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Natürlich gibt es auch andere Modelle, die<br />

einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> genügen würden, so z.B. die Montage-<br />

Metapher <strong>von</strong> Weick (1995, S. 193ff). Der Vorteil des Modells <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> liegt darin, dass das <strong>Handlungssystem</strong> das<br />

Zusammenspiel <strong>von</strong> Zwang und Freiheit des Organisierens besser zum<br />

Ausdruck bringt und damit ein neues Licht auf die Frage der Erneuerung und<br />

Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en wirft.<br />

<strong>Die</strong> Erneuerung und die Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en lassen sich<br />

aus Sicht des Konzepts <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> beide auf den<br />

gleichen Ausgangspunkt zurückführen, nämlich die Dialectic of Control des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s. Erneuerung heisst in diesem Zusammenhang nichts<br />

anderes, <strong>als</strong> die Stabilisierungsroutinen des <strong>Handlungssystem</strong>s zu verändern.<br />

Erneuerungsfähigkeit meint nichts anderes <strong>als</strong> die Fähigkeit, diese<br />

stabilisierenden Routinen zu erkennen und verändern zu können.<br />

Da <strong>Organisation</strong> sich rekursiv aus sich selbst (re-)produziert (vgl. Abbildung<br />

31), kann Wandel in <strong>Organisation</strong>en auch nur aus der <strong>Organisation</strong> selbst<br />

bzw. mit den eigenen Mitteln der <strong>Organisation</strong> hervorgebracht werden.<br />

Erneuerung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>(en) kann <strong>als</strong>o zwingend nur über die Veränderung<br />

<strong>von</strong> Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und Verhandlungsprozess<br />

des Organisierens erfolgen. Und das einzige, was man dafür einsetzen kann,<br />

sind wiederum nur Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und der<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens.<br />

Vor diesem Hintergrund verliert das Change Management seine zentrale<br />

Stellung, wenn es um die Frage der Veränderung und Erneuerung <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong>en geht. 400 Ein professionelles Change Management mit einer gut<br />

orchestrierten Interventionsstrategie und -dramaturgie ist unbestritten eine<br />

400<br />

Vgl. dazu die Überlegungen zu den empirischen Fundstücken punkto Change Management in<br />

Kapitel 8.3.1.3.


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM: SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />

notwendige Voraussetzung für einen erfolgreichen Wandelprozess. 401 Aber<br />

der Umkehrschluss gilt nicht zwangsläufig: Gutes Change Management alleine<br />

ist noch kein hinreichender Garant für einen gelungenen Wandelprozess. 402<br />

Aus Sicht des <strong>Handlungssystem</strong>s müssen die Veränderungsinitiativen darüber<br />

hinaus eine doppelte Anforderung erfüllen: Sie müssen einerseits anschlussfähig<br />

sein an die aktuellen Stabilisierungsroutinen, damit sie vom <strong>Handlungssystem</strong><br />

überhaupt wahrgenommen und integriert werden. Andererseits<br />

müssen sie die aktuellen Stabilisierungsroutinen aber auch dazu nutzen<br />

können, um Veränderungsimpulse zu setzen und verstärken - sonst bleiben<br />

die Veränderungsinitiativen längerfristig wirkungslos.<br />

So gesehen gibt es keine einfache Antwort auf die Frage nach dem Wie der<br />

Erneuerung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en, wohl aber „idealtypische Herausforderungen“,<br />

wie Rüegg-Stürm (2000) sie herausgearbeitet hat. Seine Empfehlung,<br />

für die Rekonstruktion, die Legitimation, die Ermöglichung und die kritische<br />

Masse des angestrebten Wandels zu sorgen, kann <strong>als</strong> Aufforderung und<br />

heuristische Anleitung zur Umgestaltung der Elemente des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

interpretiert werden.<br />

Ebenso schwierig ist die Frage nach der Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en<br />

zu beantworten. <strong>Organisation</strong> braucht stabilisierende Kreisläufe, weil<br />

<strong>Organisation</strong> ja nicht ist, sondern immer wieder kontinuierlich wird.<br />

Erneuerungsfähige <strong>Organisation</strong>en sind daher nicht zwingend <strong>Organisation</strong>en<br />

mit weniger Steuerungs- und Kontrollmechanismen (vgl. Kapitel 4.1.1,<br />

Abschnitt a), sondern <strong>Organisation</strong>en, die diese Steuerungs- und Kontrollmechanismen<br />

widerspruchs- und änderungsfähig auszugestalten vermögen.<br />

Erneuerungsfähigkeit muss daher das Vermögen sein, eine bestehende<br />

Dialectic of Control kontinuierlich hinterfragen und verändern zu können, ohne<br />

dabei jedoch eine destabilisierende Wirkung zu haben. Mit anderen Worten ist<br />

eine erneuerungsfähige <strong>Organisation</strong> ein <strong>Handlungssystem</strong>, das sowohl lose<br />

401<br />

Vgl. dazu stellvertretend für die vielfältige Literatur zum Thema Change Management:<br />

Doppler/Lauterburg 1994; Doppler/Fuhrmann/et al. 2002; Harvard College 1991; Beer/Nohria<br />

2000; Lawler/Galbraith 1994; Levy 1986.<br />

402<br />

<strong>Die</strong>ser Meinung sind auch Dachler und Rüegg-Stürm (2000). <strong>Die</strong> Anforderungen an ein<br />

erfolgreiches Change Management umfassen eben weit mehr, <strong>als</strong> nur die Ausarbeitung einer<br />

ausgeklügelten Interventionsstrategie - das Change Management muss zur <strong>Organisation</strong> passen<br />

(vgl. dazu z.B. Barczak/Smith/et al. 1987; Lant/Mezias 1992; Blackler 1992/93; Kilduff/Dougherty<br />

2000).<br />

272


273<br />

THEORETISCHE BEDEUTUNG<br />

wie fest gekoppelt ist (vgl. Weick 1976, 1982, 1989a sowie Orton/Weick 1990<br />

und Ingersoll 1993).<br />

Doch alles was man hat, um die Dialectic of Control eines <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

zu hinterfragen und zu verändern, sind wie gesagt die Elemente eben dieses<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s: Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und Verhandlungsprozess<br />

des Organisierens. Besonders wichtig für die Erneuerungsfähigkeit<br />

sind dabei die Bezugsfähigkeiten, denn sie sind diejenigen kollektiven<br />

Handlungskompetenzen, über die das <strong>Handlungssystem</strong> gestaltet und gelenkt<br />

werden können. Sie sind die Fähigkeiten, mit denen der organisationale<br />

Möglichkeitsraum, der durch die Strukturmodalitäten aufgespannt wird, umgestaltet<br />

und erweitert werden kann.<br />

Erneuerungsfähigkeit kann somit <strong>als</strong> eine Kombination der drei Bezugsfähigkeiten<br />

verstanden werden. Sie setzt die Fähigkeit voraus, alternative organisationale<br />

Szenarien aufbauen ((Re-)Konstruktionsfähigkeit), neue Wirklichkeiten<br />

legitimieren (Rationalisierungsfähigkeit) und in eine unabhängige, dingliche<br />

Erscheinungsform packen (Routinisierungsfähigkeit) zu können.<br />

Leider sind es gerade die Bezugsfähigkeiten, die im Modell des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

theoretisch noch am wenigsten untersucht und erhellt worden sind.<br />

Wohl können zum besseren Verständnis <strong>von</strong> Bezugsfähigkeiten Vergleiche<br />

mit dem Konzept der Dynamic Capabilities angestellt werden (vgl. Fussnote<br />

134), aber Bezugsfähigkeiten sollten unbedingt im Rahmen des Konzepts <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong>s erforscht und theoretisiert werden, damit<br />

die Wechselwirkung zwischen Struktur und Handlung, zwischen Zwang und<br />

Freiheit, nicht aus der Betrachtung verloren geht. <strong>Die</strong>se Aspekte sind in der<br />

bisherigen Literatur zum Thema Capabilities nicht berücksichtigt worden.<br />

Hier tut sich ein Feld für die weitere theoretische Ausarbeitung des Konzepts<br />

<strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> auf. Wie ist es möglich, den Begriff der<br />

Bezugsfähigkeiten theoretisch differenzierter auszuarbeiten und empirisch zu<br />

fundieren? <strong>Eine</strong> solche Ausarbeitung würde das Modell des <strong>Handlungssystem</strong>s<br />

enorm anreichern und in der Praxis besser handhabbar machen.<br />

Das Modell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> hat natürlich auch<br />

Grenzen. <strong>Eine</strong> wichtige Beschränkung liegt gerade in der weiteren Ausdifferenzierung<br />

bzw. Abgrenzung der zentralen Begriffe. Je genauer versucht<br />

wird, die einzelnen Begriffe inhaltlich zu fassen (vgl. Glossar im Anhang A),<br />

desto stärker verschwimmen sie. Das dürfte auf die Dualität zurückzuführen<br />

sein, die dem Modell zugrunde liegt, und die letztlich besagt, dass die Begriffe


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM: SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />

jeweils nur mit gegenseitigem Bezug aufeinander erklärt werden können. Das<br />

lässt keine trennscharfe Unterscheidung der Begriffe zu - im Gegenteil: Jedes<br />

Bemühen um begriffliche Klarheit muss zwingend gerade zum Gegenteil<br />

führen, weil jeder Begriff im Endeffekt auf einen anderen verweist. Am<br />

deutlichsten kommt das wohl bei den beiden fundamentalen Begriffen <strong>von</strong><br />

Macht und Politik zum Vorschein. Macht und Politik <strong>als</strong> fundamentaler Aspekt<br />

jeden sozialen Handelns durchdringen das <strong>Handlungssystem</strong> derart gründlich,<br />

dass letztlich eine genaue Unterscheidung zwischen Macht und Politik einerseits<br />

und den Elementen des <strong>Handlungssystem</strong>s andererseits fast nicht mehr<br />

möglich ist. Es ist denkbar, dass deshalb eine weitere Ausarbeitung des<br />

Modells <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> nur empirisch machbar ist.<br />

<strong>Eine</strong> weitere Grenze hat das Modell vom <strong>Handlungssystem</strong> bei der <strong>Erklärung</strong><br />

der Entstehung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Das Modell ist besser dazu geeignet, das<br />

Bestehen <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, das heisst die kontinuierliche Stabilisierung und<br />

Reproduktion <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> zu erklären. Der Moment des Entstehens <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong>, das heisst der Anfang <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>, lässt sich damit nicht<br />

erfassen. <strong>Die</strong> Frage, warum <strong>Organisation</strong> gerade jenen Anfang genommen<br />

hat, den sie genommen hat, kann mit dem Modell <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong><br />

<strong>Handlungssystem</strong> nicht schlüssig beantwortet werden. Der Anfang kann<br />

jeweils nur beschrieben, aber nicht erklärt werden und bleibt im Dunkeln.<br />

9.2 Praktische Implikationen<br />

Welche praktische Bedeutung hat nun das Konzept <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong><br />

<strong>Handlungssystem</strong> für das Thema Erneuerungsfähigkeit <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>en?<br />

Erneuerungsfähig zu sein heisst für eine <strong>Organisation</strong>, eine widerspruchs- und<br />

änderungsfähige Dialectic of Control zu haben.<br />

<strong>Die</strong> Dialectic of Control eines <strong>Handlungssystem</strong>s, das heisst die aktuellen<br />

Stabilisierungsroutinen, entscheiden letztlich darüber, wie <strong>Organisation</strong> aus<br />

dem denkbaren Möglichkeitsraum zwischen Struktur und Handlung routinisiert<br />

aktualisiert wird. Jegliche Intervention in diese Stabilisierungsroutinen muss<br />

daher zuerst einmal anschlussfähig an diese Stabilisierungsroutinen sein, weil<br />

sie sonst keine Wirkung in der <strong>Organisation</strong> entfalten kann.<br />

Im Falle <strong>von</strong> Erneuerungsinitiativen ist das eine paradoxe Herausforderung:<br />

Wie kann das Neue anschlussfähig sein an das Alte, wenn das Neue ja<br />

gerade anders sein soll <strong>als</strong> das Alte? Das geht nur durch eine schrittweise<br />

274


275<br />

PRAKTISCHE IMPLIKATIONEN<br />

Annäherung <strong>von</strong> <strong>Handlungssystem</strong> und Wandel. <strong>Die</strong>se schrittweise<br />

Annäherung vollzieht sich im Verhandlungsprozess des Organisierens, dort<br />

wo Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten in kognitiven und politischen<br />

Prozessen kontinuierlich zu sozialen Praktiken verwoben werden. <strong>Die</strong>ser<br />

Prozess muss widerspruchs- und änderungsfähig ausgestaltet sein, so dass<br />

jederzeit die herrschende Dialectic of Control diskutiert und wenn nötig<br />

angepasst werden kann. 403 Er muss aber auch robust und routinisert ablaufen,<br />

um dem organisationalen Alltag eine gewisse Sicherheit und Berechenbarkeit<br />

zu verleihen.<br />

Hybride <strong>Organisation</strong>sformen, in denen Netzwerke mit traditionell hierarchischbürokratischen<br />

<strong>Organisation</strong>selementen kombiniert werden (vgl. Rüegg-<br />

Stürm/Young 2001), scheinen in der Praxis bereits eine Lösung für diese<br />

paradoxe Anforderung gefunden zu haben, wie <strong>Organisation</strong>en gleichzeitig<br />

widerspruchs- und änderungsfähig und stabil sein können, indem sie sich auf<br />

ein fliessendes Gleichgewicht zwischen machtvollen Strukturen und<br />

politischen Prozessen eingependelt haben (vgl. Abbildung 75).<br />

<strong>Die</strong> Netzwerke (lose, intraorganisationale Kommunikations- und Interaktionsgeflechte)<br />

sind die Träger der politischen Prozesse, die für die kontinuierliche<br />

Hinterfragung und Änderung der geltenden Ordnung sorgen. Gleichzeitig<br />

sichern machtvolle Strukturen (hierarchisch-bürokratische <strong>Organisation</strong>selemente<br />

wie z.B. Organigramm, Ziele, Aufgaben-, Funktions- und<br />

Prozessbeschreibungen, aber auch immaterielle Strukturen wie Werte und<br />

Normen) den fortlaufenden Bestand <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Das Wechselspiel<br />

zwischen politischen Prozessen und machtvollen Strukturen geschieht im<br />

Rahmen des Verhandlungsprozesses des Organisierens und wird vermittelt<br />

durch die Bezugsfähigkeiten des <strong>Handlungssystem</strong>s, <strong>als</strong>o denjenigen<br />

kollektiven Fähigkeiten, die organisationale Akteure entwickeln, um ihre<br />

Handlungsfreiheit im Einklang mit dem Zwang der Strukturen einzusetzen und<br />

auszuschöpfen.<br />

403 Es versteht sich, dass nicht direkt in die Dialectic of Control eingegriffen werden kann. <strong>Die</strong><br />

Dialectic of Control ist das Ergebnis einer bestimmten Konstellation des <strong>Handlungssystem</strong>s, einer<br />

bestimmten Verknüpfung <strong>von</strong> Strukturmodalitäten, Bezugsfähigkeiten und dem Verhandlungsprozess<br />

des Organisierens. Wer die Dialectic of Control eines <strong>Handlungssystem</strong>s verändern will,<br />

der muss seine Massnahmen auf diese drei Elemente richten.


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM: SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />

276<br />

Netzwerke<br />

<strong>als</strong> organisationale Verkörperung<br />

der politischen Prozesse<br />

Bezugsfähigkeiten<br />

<strong>als</strong> kollektive Handlungskompetenz<br />

zur Gestaltung und Lenkung des<br />

Zusammenspiels zwischen<br />

Netzwerken und Hierarchie<br />

Hierarchie<br />

<strong>als</strong> organisationale Verkörperung<br />

machtvoller Strukturen<br />

Abbildung 75: Erneuerungsfähigkeit <strong>als</strong> Gleichgewicht zwischen<br />

politischen Prozessen und machtvollen Strukturen 404<br />

Was heisst das nun für die heutigen <strong>Organisation</strong>en? Zum einen muss der<br />

Alltag bestehender bürokratischer <strong>Organisation</strong>en um politische Prozesse<br />

ergänzt werden, denn die <strong>Organisation</strong>en stützen sich noch zu einseitig nur<br />

auf die ordnende Kraft machtvoller (formeller <strong>Organisation</strong>s-)Strukturen ab.<br />

<strong>Organisation</strong>en müssen politisiert werden! Nur politische <strong>Organisation</strong>en sind<br />

erneuerungsfähige <strong>Organisation</strong>en, denn in ihnen findet der kontinuierliche<br />

Diskurs über die Sinnhaftigkeit und Legitimation der herrschenden organisationalen<br />

Wirklichkeit statt. Letztlich geht es <strong>als</strong>o um die (kontrollierte)<br />

Einführung <strong>von</strong> Widerspruch und Konflikt in die <strong>Organisation</strong>. Zum anderen<br />

müssen die kollektiven Bezugsfähigkeiten der <strong>Organisation</strong> gestärkt werden,<br />

das heisst die Fähigkeit, kollektives Handeln im Rahmen der organisationalen<br />

Zwänge anschlussfähig zu gestalten und lenken.<br />

404 <strong>Die</strong> Grafik ist angelehnt an Rüegg-Stürm/Young 2001. Anders <strong>als</strong> bei Rüegg-Stürm und Young<br />

wird hier jedoch nicht <strong>von</strong> einem Vorrang des Netzwerks vor den formellen <strong>Organisation</strong>sstrukturen<br />

ausgegangen, sondern <strong>von</strong> einem gleichzeitigen Nebeneinander.


277<br />

PRAKTISCHE IMPLIKATIONEN<br />

Wie kann das geschehen? Folgende Massnahmen helfen in der Praxis dazu,<br />

politischen Prozessen innerhalb der <strong>Organisation</strong> Raum zu schaffen und die<br />

kollektiven Bezugsfähigkeiten zu fördern:<br />

• Erfahrungs- und Meinungsaustausch fördern<br />

Es müssen institutionalisierte Gelegenheiten geschaffen werden,<br />

damit diejenigen Mitarbeitenden der <strong>Organisation</strong>, die über eine<br />

Kette <strong>von</strong> Geschäftsprozessen miteinander verbunden sind, ihre<br />

Erfahrungen und Meinungen vergleichen, auswerten und beurteilen<br />

können. Solche Gelegenheiten können formell (Tagungen,<br />

Workshops) oder informell (Cafeteria, Kaffeepause) sein. Es<br />

geht <strong>als</strong>o um die Schaffung <strong>von</strong> Communities of Practice, 405 das<br />

heisst einer Gemeinschaft derer, die ihren gemeinsamen<br />

organisationalen Erfahrungshintergrund austauschen und<br />

reflektieren. <strong>Die</strong> Communities müssen ihren Freiraum zum<br />

Erfahrungsaustausch selber gestalten und nutzen können.<br />

<strong>Organisation</strong>ale Strukturen dürfen nur in Form <strong>von</strong> Ressourcen<br />

(Zeit, Raum, Finanzen) und allfälliger professioneller Unterstützung<br />

bei der Moderation des Erfahrungsaustauschs bereitgestellt<br />

werden. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass die<br />

Ergebnisse des Erfahrungsaustauschs wieder zurück in die<br />

formellen Strukturen der <strong>Organisation</strong> fliessen (z.B. dadurch,<br />

dass die Communities zwei- bis dreimal im Jahr Gehör an einer<br />

Geschäftsleitungssitzung finden).<br />

• Kommunikation und Information breit abstützen<br />

<strong>Die</strong> formellen Kommunikations- und Informationskanäle müssen<br />

die <strong>Organisation</strong> tief und breit durchdringen, das heisst, dass<br />

Kommunikation und Information nicht nur top-down, sondern<br />

auch bottom-up und seitwärts fliessen müssen. Neue Technologien<br />

(Intranet, Chatrooms, Peer-to-Peer-Lösungen) unterstützen<br />

die feine Verteilung <strong>von</strong> und den freien Zugang zu Kommunikation<br />

und Information. Gleichzeitig muss für die wirkliche<br />

Demokratisierung <strong>von</strong> Kommunikation und Information die<br />

Verantwortung und Handhabung der Informationstechnologien<br />

405 Vgl. dazu: Brown/Duguid 1991; Boland/Tenkasi 1995; Wenger 1998.


ORGANISATION ALS HANDLUNGSSYSTEM: SCHLUSSFOLGERUNGEN<br />

<strong>von</strong> der Informatikabteilung weg in die Hände der Linienabteilungen<br />

und der Communities gelegt werden. Neueste Entwicklungen<br />

in der Informationstechnologie ermöglichen diese Forderung.<br />

406<br />

• Status quo immer wieder neu legitimieren<br />

Der Status quo der <strong>Organisation</strong>, 407 der durch machtvolle<br />

Strukturen gestützt und geschützt wird, muss einem wiederholten<br />

Legitimationsdruck ausgesetzt werden, um seine Richtigkeit<br />

und Existenzberechtigung stets <strong>von</strong> neuem zu beweisen und<br />

transparent zu machen. Legitimation und Transparenz erhält der<br />

Status quo in der Praxis durch verschiedene Instrumente der<br />

Leistungsmessung und -bewertung auf persönlicher Ebene (z.B.<br />

Qualifikationsgespräche, 360-Grad-Feedback) und sachlicher<br />

Ebene (z.B. strategische Planung, Budgetierung, Controlling,<br />

Reporting).<br />

• Konfliktfähigkeit stärken<br />

Politische Prozesse funktionieren nur reibungslos, wenn die<br />

<strong>Organisation</strong> über eine belastbare Konfliktkultur verfügt. Massnahmen<br />

zur Erhöhung der Konfliktfähigkeit auf individueller<br />

Ebene (z.B. Befähigung zur Gestaltung <strong>von</strong> Kommunikations-<br />

und Konfliktlösungsprozessen, Coaching) und organisationaler<br />

Ebene (z.B. Klagemauer, Supervision) sind daher wichtig.<br />

Das sind vier Massnahmen, mit denen die etablierte Ordnung einer <strong>Organisation</strong><br />

einer kontinuierlichen Reflexion und Bewertung unterzogen wird. Mit ihnen<br />

hat man zwar keine Garantie, dass die <strong>Organisation</strong> jederzeit erneuerungsfähig<br />

ist und bleibt, aber aus Sicht <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> <strong>als</strong> <strong>Handlungssystem</strong> ist<br />

die Förderung politischer Prozesse und die Stärkung der Bezugsfähigkeiten<br />

die einzige Möglichkeit, die Bedingungen der Möglichkeit zu schaffen, dass es<br />

so sein kann.<br />

406<br />

Vgl. z.B. die Peer-to-Peer-Lösung Groove (www.groove.net), die ohne Vermittlung bzw.<br />

Unterstützung einer zentralen Informatik auskommt, oder die Internet-/Intranet-Lösung Windows<br />

SharePoint Services, die Anwendern mit ihren Web Parts vorkonfigurierte, aber flexibel<br />

handhabbare Web-Komponenten zur Verfügung stellt (beides eingetragene Produkte <strong>von</strong><br />

Microsoft, siehe www.microsoft.com).<br />

407<br />

Oder mit anderen Worten: die eingerastete Dialectic of Control bzw. die vorherrschenden<br />

Stabilisierungsroutinen des <strong>Handlungssystem</strong>s.<br />

278


ANHANG<br />

Anhang A: Glossar der theoretischen Begriffe<br />

Bezugsfähigkeiten<br />

(� vgl. auch: <strong>Handlungssystem</strong>; Rationalisierungsfähigkeit; (Re-)<br />

Konstruktionsfähigkeit; Routinisierungsfähigkeit) Bezugsfähigkeiten sind<br />

ein Element der Vermittlung zwischen Struktur und Handlung. Sie sind<br />

kollektive Handlungskompetenzen, die die Akteure entwickeln und<br />

erwerben, um kollektives Handeln anschlussfähig zu gestalten und zu<br />

lenken. Bezugsfähigkeiten sind die innovative und kreative kollektive<br />

Fähigkeit der Akteure, ihre Handlungsfreiheit im Einklang mit dem Zwang<br />

der Strukturen einzusetzen und auszuschöpfen. Kollektives Handeln ist<br />

<strong>als</strong>o stets auch ein Ausdruck der Bezugsfähigkeiten der involvierten<br />

Akteure. Bezugsfähigkeiten können (rein analytisch) unterschieden<br />

werden in eine (Re-)Konstruktionsfähigkeit, eine Rationalisierungsfähigkeit<br />

und eine Routinisierungsfähigkeit. (� vgl. insbesondere Kapitel<br />

4.2.3.1, Abschnitt d) und Kapitel 5.2.3)<br />

Dialectic of Control<br />

(� vgl. auch: <strong>Handlungssystem</strong>) <strong>Die</strong> Dialectic of Control meint die<br />

Dynamik und die Abhängigkeiten, die sich zwischen den Elementen eines<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s entwickelt. Sie untersteht keiner universellen<br />

Steuerungslogik. Sie ist historisch-situativ und einzigartig und zeigt sich in<br />

jeder <strong>Organisation</strong> neu und anders. Ihre Mechanismen können nur durch<br />

empirische Beobachtung und Schlussfolgerung erschlossen werden. <strong>Die</strong><br />

Dialectic of Control ist letztlich verantwortlich für die Stabilisierung des<br />

<strong>Handlungssystem</strong>s. (� vgl. Kapitel 5)<br />

Dualität, dual<br />

(� vgl. auch: Struktur(en)) Der Begriff der Dualität im engeren Sinn meint<br />

den doppelten Charakter der Konstitutionsbeziehung <strong>von</strong> Struktur und<br />

Handlung nach Giddens. In diesem Sinn ist Struktur zugleich Ergebnis<br />

und Mittel sowie Restriktion und Ermöglichung <strong>von</strong> Handeln. Hier wird der<br />

Begriff dual auch ganz allgemein verwendet für die Bezeichnung einer<br />

279


ANHANG<br />

gegenseitig konstituiv und konstituierend Beziehung. (� vgl.<br />

insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt a)<br />

<strong>Handlungssystem</strong><br />

(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten; Dialectic of Control; Ordnung;<br />

<strong>Organisation</strong>; Strukturmodalitäten; Verhandlungsprozess des Organisierens)<br />

Aus Sicht einer <strong>duale</strong>n Theorie <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong> ist jede<br />

<strong>Organisation</strong> rekursiv konstituiert aus Struktur und Handlung. Der Begriff<br />

des <strong>Handlungssystem</strong>s soll diesen <strong>duale</strong>n Charakter <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong><br />

zum Ausdruck bringen. Dabei verweist Handlung darauf, dass<br />

<strong>Organisation</strong> etwas ist, das <strong>von</strong> strategiefähigen Akteuren geschaffen<br />

worden ist, und System ruft den Umstand in Erinnerung, dass die<br />

Handlungsautonomie der Akteure eingeschränkt ist durch den Zwang<br />

bestehender materialisierter Strukturen. Das <strong>Handlungssystem</strong> vermittelt<br />

<strong>als</strong>o zwischen Struktur und Handlung. Zwang und Freiheit, Macht und<br />

Konsens, Stabilität und Wandel sind in diesem <strong>Handlungssystem</strong> nicht<br />

mehr Gegenbegriffe, sondern wirken gleichzeitig auf die organisationalen<br />

Konstruktions- und Reifikationsprozesse und bedingen und konstituieren<br />

sich gegenseitig. Theoretisch beschrieben werden kann ein<br />

<strong>Handlungssystem</strong> durch seine Elemente (Strukturmodalitäten,<br />

Bezugsfähigkeiten und Verhandlungsprozess des Organisierens) sowie<br />

der Dynamik und Abhängigkeiten (Dialectic of Control), die sich daraus<br />

und dazwischen entwickeln. Durch die Dialectic of Control stabilisiert sich<br />

letztlich das <strong>Handlungssystem</strong> und es emergiert das Phänomen<br />

<strong>Organisation</strong>. (� vgl. insbesondere Kapitel 5)<br />

interpretative Schemata<br />

(� vgl. auch: Signifikation; Strukturdimensionen; Strukturmodalitäten)<br />

Interpretative Schemata gehören zu den Strukturmodalitäten. Sie sind die<br />

virtuelle Manifestation der Strukturdimension Signifikation. Interpretative<br />

Schemata geben der sozialen Wirklichkeit einen sinnhaften Rahmen, das<br />

heisst sie sorgen für die kognitive Ordnung <strong>von</strong> <strong>Organisation</strong>. Sie regeln<br />

und lenken, wie die Wirklichkeit wahrgenommen wird und wie die<br />

herausgehobenen Ereignisse interpretiert, kategorisiert und strukturiert<br />

werden. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b) und Kapitel<br />

5.2.2 sowie Abbildung 28)<br />

280


281<br />

ANHANG<br />

Legitimation<br />

(� vgl. auch: Normen; Strukturdimensionen) In der Strukturdimension<br />

Legitimation fussen alle Struktur(en), die mit der Begründung und<br />

Rechtfertigung des kollektiven Handelns zusammenhängen. Sie stellt<br />

<strong>als</strong>o die normative Ordnung des Handelns bereit, in der alle Regeln<br />

enthalten sind, denen soziale Handlungen und Verhältnisse zu genügen<br />

haben. <strong>Die</strong> Strukturdimension Legitimation manifestiert sich im Handeln<br />

<strong>als</strong> Normen. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b)<br />

Macht<br />

(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten; Politik; Strukturmodalitäten;<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens) Macht ist die kollektive<br />

Fähigkeit, Konsequenzen hervorzubringen. Gemeint ist somit nicht eine<br />

Macht über irgendwen oder irgendwas, sondern die Macht-zu, das heisst<br />

die Macht etwas geschehen oder nicht geschehen zu machen bzw. zu<br />

lassen. Aus relational-konstruktivistischer Sicht spielt damit Macht einer<br />

ursächliche Rolle bei der Herstellung <strong>von</strong> sozialer Wirklichkeit. Macht ist<br />

hierbei die kollektive Fähigkeit, aus dem unstrukturierten Strom des<br />

täglichen Geschehens bestimmte Ereignisse, Entscheide, Regeln etc.<br />

herauszuheben und mit Sinn zu belegen, und so soziale Wirklichkeit<br />

überhaupt erst entstehen zu lassen. Macht ist <strong>als</strong>o eine Definitionsleistung,<br />

die soziale Wirklichkeit durch einen Akt der Wahrnehmung und<br />

Interpretation schafft und definiert. Macht hat demnach eine konstruktive,<br />

ermöglichende Wirkung. Macht ist keine Behinderung, sondern<br />

Grundvoraussetzung <strong>von</strong> Handeln, weil Macht überhaupt erst die<br />

Voraussetzung zu Handeln schafft. Macht entfaltet sich ausschliesslich in<br />

sozialen Prozessen (ist <strong>als</strong>o keine Eigenschaft <strong>von</strong> Personen oder<br />

Dingen) und manifestiert sich virtuell in Bezugsfähigkeiten und Strukturmodalitäten.<br />

(� vgl. insbesondere Kapitel 4.1.2.2 und 4.1.2.3 sowie<br />

Abbildung 12 und Abbildung 13)<br />

Normen<br />

(� vgl. auch: Legitimation; Strukturdimensionen; Strukturmodalitäten)<br />

Normen gehören zu den Strukturmodalitäten. Sie sind die virtuelle<br />

Manifestation der Strukturdimension Legitimation. Normen legen der<br />

sozialen Wirklichkeit eine normative Ordnung auf, indem sie die<br />

Geltungsansprüche der Wirklichkeit abstecken und dem kollektiven<br />

Handeln seine moralische Rechtfertigung und Gültigkeit liefern. Sie legen<br />

damit die Legitimationsbasis für jedes Tun oder Lassen im Rahmen <strong>von</strong>


ANHANG<br />

<strong>Organisation</strong>. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b) und<br />

Kapitel 5.2.2 sowie Abbildung 28)<br />

Ordnung<br />

(� vgl. auch: <strong>Organisation</strong>; Struktur(en); Strukturdimensionen;<br />

Strukturmodalitäten; Verhandlungsprozess des Organisierens) Ordnung<br />

ist das, was einer <strong>Organisation</strong> Stabilität, Kontinuität und Gewissheit<br />

verleiht. Ohne Ordnung keine <strong>Organisation</strong>. Ordnung entsteht durch<br />

Struktur(en). Ordnung ist immer eine Negotiated Order, das heisst ergibt<br />

sich nicht <strong>von</strong> selbst, sondern ist das Ergebnis eines kontinuierlichen<br />

Verhandlungsprozesses. Ordnung ist somit kein Zustand, sondern ein<br />

Tun.<br />

<strong>Organisation</strong><br />

(� vgl. auch: Ordnung) <strong>Die</strong> <strong>Organisation</strong> (mit Artikel, Einzahl oder<br />

Mehrzahl) steht für das, was einem sofort in den Sinn kommt, wenn man<br />

das Wort liest: ein Unternehmen, eine Verwaltung, ein Verein. Kurz: ein<br />

Gebilde, eine handfeste Tatsache. Etwas, das wahrnehmbar ist <strong>als</strong><br />

eigenständiges Objekt, und <strong>Organisation</strong> genannt wird, weil es eine<br />

<strong>Organisation</strong> hat. <strong>Organisation</strong> (ohne Artikel, stets in Einzahl) steht für<br />

das, was sich hinter der <strong>Organisation</strong> verbirgt. Es ist ein Geschehen, ein<br />

Prozess, und hat keine objektive Existenz ausserhalb dieses<br />

Geschehens. <strong>Organisation</strong> entsteht und besteht nur im kontinuierlichen<br />

Vollzug, <strong>Organisation</strong> wird.<br />

Politik<br />

(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten; Macht; Strukturmodalitäten;<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens) Politik ist die kollektive<br />

Fähigkeit zur laufenden Verständigung und Vergewisserung über die<br />

aktuelle Gültigkeit der kontingenten sozialen Wirklichkeit. Sie ist eine<br />

Verhandlungsleistung, die die unterschiedlichsten Vorstellungen der<br />

sozialen Wirklichkeit aufeinander abstimmt, koordiniert und integriert.<br />

Politik spielt neben Macht die zweite zentrale und regulierende Rolle bei<br />

der Herstellung <strong>von</strong> sozialer Wirklichkeit und bei der Ermöglichung<br />

kollektiven Handelns. Politik entfaltet sich ausschliesslich in sozialen<br />

Prozessen und manifestiert sich virtuell in Bezugsfähigkeiten und<br />

Strukturmodalitäten. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.1.2.1 und 4.1.2.3<br />

sowie Abbildung 11 und Abbildung 13)<br />

282


283<br />

ANHANG<br />

Prozesse<br />

(� vgl. auch: Dualität; Prozesse; soziale Praktiken; Verhandlungsprozess<br />

des Organisierens) Der hier verwendete Prozessbegriff hat keinen<br />

organisatorischen Aspekt (Ablauforganisation, Business Process<br />

Reengineering), sondern einen zeitlichen. Mit dem Begriff Prozess sind<br />

temporalisierte soziale Ereignissequenzen gemeint, das heisst die<br />

historische Abfolge <strong>von</strong> Ereignissen, Kommunikationen und Interaktionen<br />

im kontinuierlichen Alltagsstrom der organisationalen Wirklichkeit.<br />

Rationalisierungsfähigkeit<br />

(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten) <strong>Die</strong> Rationalisierungsfähigkeit ist eine<br />

Ausprägung der Bezugsfähigkeiten. Sie ist eine selektive Fähigkeit, die<br />

auf Restriktion basiert. Rationalisierung ist die Fähigkeit, soziale<br />

Wirklichkeit auszuwählen und einzugrenzen. Sie reduziert die Komplexität<br />

und Optionenvielfalt. Aus dem Bereich dessen, was möglich und denkbar<br />

ist, vermag die Rationalisierungsfähigkeit das hervorzuheben, was<br />

(scheinbar objektiv) machbar und richtig ist. Dadurch schafft sie Klarheit,<br />

Ziele und Identität und sie sichert Gewissheit, Konsens und Kontinuität.<br />

Kollektives Handeln wird der Zufälligkeit entrissen dadurch, dass ihm<br />

Intentionen und Kausalitäten unterstellt werden. Rationalisierungsfähigkeit<br />

ist demnach <strong>als</strong>o das Vermögen, Ursachen zu verursachen.<br />

Kollektives Handeln wird dadurch planbar und kann (muss sogar)<br />

jederzeit argumentativ gerechtfertigt werden. Kollektives Handeln wird<br />

dadurch überhaupt erst anschlussfähig an anderes kollektives Handeln.<br />

(� vgl. insbesondere Kapitel 5.2.3, Abschnitt b) und Abbildung 29)<br />

Reifikation<br />

(� vgl. auch: Ressourcen; Strukturdimensionen) <strong>Die</strong> Strukturdimension<br />

Reifikation umfasst alle Struktur(en), die für die Verdinglichung der<br />

sozialen Wirklichkeit sorgen. Sie stellt damit die faktische Ordnung für<br />

das kollektive Handeln bereit. <strong>Die</strong> Strukturdimension Reifikation<br />

manifestiert sich im Handeln <strong>als</strong> allokative und autoritative Ressourcen.<br />

(� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b)<br />

(Re-)Konstruktionsfähigkeit<br />

(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten) <strong>Die</strong> (Re-)Konstruktionsfähigkeit ist eine<br />

Ausprägung der Bezugsfähigkeiten. Sie ist eine generative Fähigkeit, das<br />

heisst die Fähigkeit, in der sozialen Wirklichkeit neue bzw. bestehende<br />

Bedeutungen, Zusammenhänge und Perspektiven zu schaffen bzw. zu


ANHANG<br />

bestätigen. Zur (Re-)Konstruktionsfähigkeit gehört das Vermögen, mit<br />

Komplexität und Mehrdeutigkeit umzugehen. Dazu gehört es, dass<br />

multiple Zukunftsszenarien entwickelt und unterschiedliche Handlungsstränge<br />

parallel verfolgt werden können. Vergangenes wird lose mit<br />

Zukünftigem verknüpft. Es wird spielerisch ausprobiert. <strong>Die</strong> (Re-)<br />

Konstruktionsfähigkeit ist die Kunst, Optionen zu schaffen und offen zu<br />

halten, Möglichkeiten zu erkennen und sich anzupassen, in Bewegung zu<br />

bleiben ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren. (� vgl. insbesondere<br />

Kapitel 5.2.3, Abschnitt a) und Abbildung 29)<br />

Ressourcen<br />

(� vgl. auch: Reifikation; Strukturdimensionen; Strukturmodalitäten)<br />

Ressourcen gehören zu den Strukturmodalitäten. Sie sind die materiellen<br />

und virtuellen Manifestationen der Strukturdimension Reifikation.<br />

Allokative und autoritative Ressourcen verleihen der sozialen Wirklichkeit<br />

einen dinglichen Ausdruck und gestalten somit die faktische Ordnung <strong>von</strong><br />

<strong>Organisation</strong>. Dadurch, dass soziale Wirklichkeit in eine physische<br />

Erscheinungsform verpackt wird, wird sie auch beherrschbar gemacht,<br />

das heisst eröffnet sich gleichzeitig die Möglichkeit der faktischen<br />

Verfügungsgewalt über die sozial geschaffene Wirklichkeit. (� vgl.<br />

insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b) und Kapitel 5.2.2 sowie<br />

Abbildung 28)<br />

Routinisierungsfähigkeit<br />

(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten) <strong>Die</strong> Routinisierungsfähigkeit ist eine<br />

Ausprägung der Bezugsfähigkeiten. Gemeint ist die Fähigkeit, sowohl<br />

formale und technische wie auch soziale Prozesse im weitesten Sinn zu<br />

formalisieren und zu standardisieren. Es handelt sich <strong>als</strong>o um eine<br />

gestalterische Fähigkeit. Sie sichert den Bestand und den kontinuierlichen<br />

Vollzug der sozialen Wirklichkeit, indem sie dieser Wirklichkeit eine<br />

gegenständliche Form zu geben vermag. <strong>Die</strong> Routinisierungsfähigkeit<br />

setzt Referenzpunkte der Gültigkeit und dadurch erübrigt sich die<br />

Notwendigkeit der laufenden Vergewisserung und Bestätigung dessen,<br />

was gilt und richtig ist. Sie hat damit eine entlastende Funktion für den<br />

organisationalen Alltag. (� vgl. insbesondere Kapitel 5.2.3, Abschnitt c)<br />

und Abbildung 29)<br />

284


285<br />

ANHANG<br />

Signifikation<br />

(� vgl. auch: interpretative Schemata; Strukturdimensionen) <strong>Die</strong><br />

Strukturdimension Signifikation meint alle Struktur(en), die mit der<br />

Wahrnehmung und (Be-)Deutung der sozialen Welt zusammenhängen.<br />

Sie repräsentiert <strong>als</strong>o die kognitive Ordnung des kollektiven Handelns.<br />

<strong>Die</strong> Strukturdimension Signifikation manifestiert sich im Handeln <strong>als</strong><br />

interpretative Schemata. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt<br />

b))<br />

soziale Praktiken<br />

(� vgl. auch: Verhandlungsprozess des Organisierens) Soziale Praktiken<br />

sind routinisierte kollektive Handlungen, das heisst stabilisierte<br />

Kommunikations- und Interaktionsformen. Man muss sie sich nicht <strong>als</strong><br />

einzelne, isolierbare Handlungen vorstellen, sondern eher <strong>als</strong> einen<br />

kontinuierlichen Fluss. Obwohl soziale Praktiken routinisiert sind, sind sie<br />

nichts Selbstverständliches. Soziale Akteure müssen sich der Gültigkeit<br />

ihres routinisierten Handelns immer wieder vergewissern, damit sie ihre<br />

Handlungsfähigkeit aufrecht erhalten können. Soziale Praktiken sind das<br />

relativ stabile Ergebnis des kontinuierlichen Verhandlungsprozesses des<br />

Organisierens. Sie konstituieren sich rekursiv aus kognitiven und<br />

politischen Prozessen. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt c)<br />

und Kapitel 5.2.1)<br />

Struktur(en)<br />

(� vgl. auch: Dualität; Ordnung; Strukturdimensionen; Strukturmodalitäten)<br />

Struktur bezeichnet den Möglichkeitsraum <strong>von</strong> Ordnung.<br />

Demnach sind Strukturen alles das, was Stabilität, Kontinuität und<br />

Gewissheit gewährleistet. Über den Begriff der Dualität sind Struktur(en)<br />

mit Handlung <strong>als</strong> sich zwei gegenseitig konstituierende Phänomene eng<br />

verknüpft. Daraus folgt, dass Struktur(en) keine objektive, vom Handeln<br />

unabhängige Existenz zukommt, sondern dass sie sich erst im Handeln<br />

verwirklicht bzw. materialisiert. Im Handeln manifestieren sich Struktur-<br />

(en) in Form <strong>von</strong> Strukturmodalitäten. Um das Wesen <strong>von</strong> Struktur(en)<br />

analytisch besser fassen zu können, werden sie in die Dimensionen<br />

Signifikation, Legitimation und Reifikation unterteilt. (� vgl. insbesondere<br />

Kapitel 4.1.1 und 4.2.1.1)


ANHANG<br />

Strukturdimensionen<br />

(� vgl. auch: Struktur(en); Strukturmodalitäten; Legitimation; Reifikation;<br />

Signifikation) Um das Phänomen Struktur(en) besser fassen zu können,<br />

werden (rein analytisch) drei Dimensionen <strong>von</strong> Struktur(en)<br />

unterschieden, nämlich Legitimation, Reifikation und Signifikation. (� vgl.<br />

insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt b))<br />

Strukturmodalitäten<br />

(� vgl. auch: <strong>Handlungssystem</strong>; Struktur(en); Strukturdimensionen;<br />

interpretative Schemata; Normen; Ressourcen) Strukturmodalitäten sind<br />

ein Element der Vermittlung zwischen Struktur und Handlung. Es sind<br />

Spuren vergangener Prozesse des Organisierens, die sich <strong>als</strong> Sedimente<br />

<strong>von</strong> Struktur manifestieren. Sie stecken den Rahmen ab, das heisst den<br />

Möglichkeitsraum des Phänomens <strong>Organisation</strong>. Strukturmodalitäten<br />

haben jedoch immer nur eine virtuelle Kraft bzw. Wirkung. Den<br />

vermeintlichen Zwang, den sie auf kollektives Handeln ausüben, können<br />

sie nur deshalb entfalten, weil ihre Existenz und Gültigkeit in den<br />

Verhandlungsprozessen des Organisierens ungefragt generalisiert und<br />

vorausgesetzt werden. Strukturmodalitäten lassen sich nach den drei<br />

Strukturdimensionen (rein analytisch) einteilen in interpretative Schemata,<br />

Normen und Ressourcen. (� vgl. insbesondere Kapitel 4.2.1.1, Abschnitt<br />

b) und Kapitel 5.2.2 sowie Abbildung 28)<br />

Verhandlungsprozess des Organisierens<br />

(� vgl. auch: Bezugsfähigkeiten; Macht; Politik; soziale Praktiken;<br />

Strukturmodalitäten) Der Verhandlungsprozess des Organisierens ist ein<br />

Element der Vermittlung zwischen Struktur und Handlung. Er ist der<br />

Nukleus des Phänomens <strong>Organisation</strong> und somit der eigentliche<br />

kollektive Prozess, in dem die organisationale Wirklichkeit konstruiert und<br />

reifiziert wird und die Bedingungen und Möglichkeiten des kollektiven<br />

organisationalen Handelns ausgehandelt und festgelegt werden. Er<br />

verknüpft und verwebt Strukturmodalitäten und Bezugsfähigkeiten zu<br />

einer lokalen Form <strong>von</strong> Ordnung. Im Verhandlungsprozess des<br />

Organisierens sind kognitive und politische Elemente aufs Engste<br />

miteinander verwoben. Als Ergebnis dieses Prozesses bilden sich soziale<br />

Praktiken heraus, das heisst routinisierte (bzw. stabilisierte) Kommunikations-<br />

und Interaktionsformen der <strong>Organisation</strong>. Politik und Macht sind die<br />

ermöglichenden Grundlagen des Verhandlungsprozesses des Organisie-<br />

286


287<br />

ANHANG<br />

rens. Ohne sie wären erfolgreiche kognitive und politische Prozesse<br />

undenkbar. (� vgl. insbesondere Kapitel 5.2.1)


Anhang B: Liste der analysierten Dokumente <strong>von</strong> Helvetia Patria<br />

289<br />

ANHANG<br />

Im Rahmen der Dokumentenanalyse der Phase 3 (vgl. Abbildung 35) sind<br />

folgende Dokumente ausgewertet worden:<br />

Dokument Verfügbarkeit 408<br />

Unser Leitbild (Leitbild der Helvetia Patria Gruppe) extern<br />

Kurzportraits 1996, 1997, 1998, 1999, 2000, 2001 extern<br />

Portrait 2001 (CD-ROM) extern<br />

Geschäftsberichte 1996, 1997, 1998, 1999, 2000, 2001 extern<br />

<strong>Die</strong> Strategie 1999-2004 (Informationen zu zentralen Strategieinhalten) extern<br />

<strong>Die</strong> Strategie 2004-2006 (Informationen zu zentralen Strategieinhalten) extern<br />

Foliensätze zur Strategie 1999-2004 intern<br />

Projektmanagementgrundsätze intern<br />

Projektmanagementhandbuch intern<br />

Faltblatt zum Projektmanagement intern<br />

Controllinghandbuch intern<br />

Medienorientierung vom 30.9.1992 zur Partnerschaft Helvetia und Patria extern<br />

Ein guter Tausch (Informationen zum Umtauschangebot vom 10.06.1996) extern<br />

Partner-News Nr. 1/1992 (Informationsmagazin zur Partnerschaft) intern<br />

Berichte zum Projekt SABA intern<br />

Tandem Jhg. 1993, 1994, 1995, 1996, 1997, 2000, 2001 (Hauszeitung) intern<br />

Tempo & Trends Nr. 7/96, 9/96, 12/96 (Informationen zum Projekt Tempo) intern<br />

Foliensätze zum Projekt Tempo intern<br />

Medienorientierung vom 16.09.2000 zum Start des Projekts Dynamo extern<br />

Dynamo-News Nr. 2, 3, 4, 6, 7, 8 (Informationen zum Projekt Dynamo) intern<br />

Foliensätze zum Projekt Dynamo intern<br />

Erfahrungsbericht zum Projekt Dynamo (Foliensatz) extern<br />

408 <strong>Die</strong> Spalte Verfügbarkeit verweist darauf, ob es sich um ein internes Firmendokument oder um<br />

eine frei verfügbare Firmenpublikation (extern) handelt.


Anhang C: Liste der Forschungsaktivitäten bei Helvetia Patria<br />

291<br />

ANHANG<br />

Anhang C listet alle Forschungsaktivitäten auf, die das Forschungsteam<br />

während der Dauer des Forschungsprojekts geplant und durchgeführt hat. <strong>Die</strong><br />

Forschungsaktivitäten sind nach den drei Forschungsphasen (vgl. Kapitel<br />

6.1.3) unterteilt. Für jede Phase ist Datum, Untersuchungsfokus und<br />

Forschungstechnik der einzelnen Forschungsaktivität angegeben. Je nach<br />

Forschungsphase werden zu den Forschungsaktivitäten zudem weitere<br />

Angaben gemacht:<br />

• Phase 1<br />

<strong>Organisation</strong>s- bzw. Kundenbereich, in dem die Forschungsaktivität<br />

stattgefunden hat.<br />

• Phase 2<br />

Interaktionsdichte 409 der Forschungsaktivität.<br />

• Phase 3<br />

<strong>Die</strong>nstalter des interviewten <strong>Organisation</strong>smitglieds.<br />

Jede Forschungsaktivität wurde in einem separaten Forschungsprotokoll<br />

protokolliert (vgl. Kapitel 6.1.5). <strong>Die</strong>se Forschungsprotokolle bildeten<br />

zusammen mit den Dokumenten gemäss Anhang B das empirische Material<br />

der Dissertation. Wenn im Rahmen der Dissertation auf diese Protokolle<br />

verwiesen wird, dann erfolgt das zur Wahrung der Anonymität der<br />

Forschungskontakte (vgl. Kapitel 6.1.4) in verschlüsselter Form, so dass<br />

weder die zitierte Person noch der genaue Kontext (Forschungsaktivität)<br />

identifiziert werden können.<br />

409<br />

<strong>Die</strong> Interaktionsdichte gibt die Anzahl der <strong>Organisation</strong>smitglieder an, die während der jeweiligen<br />

Forschungsaktivität anwesend waren.


ANHANG<br />

Phase 1<br />

Datum Untersuchungsfokus Bereich<br />

27.01.00 Kick-Off-Meeting (Sponsor/Gatekeeper) HPV X<br />

292<br />

Forschungstechnik<br />

Interview Beobachtung Feedback<br />

04.02.00 Rekonstruktion Strategie HPV X<br />

15.02.00 Rekonstruktion Strategie PG X<br />

23.02.00 Rekonstruktion Strategie PG X<br />

01.03.00 Begleitung Generalagentur U X<br />

02.03.00 Begleitung Generalagentur PG X<br />

07.03.00 Begleitung Generalagentur U X<br />

09.03.00 Ergänzendes Interview Informatik X<br />

20.03.00 Rekonstruktion Strategie PG X<br />

29.03.00 Rekonstruktion Strategie PG X<br />

04.04.00 Rekonstruktion Strategie VP X<br />

12.04.00 Rekonstruktion Strategie A X<br />

17.04.00 Ergänzendes Interview Stab X<br />

25.04.00 Tagungsteilnahme HPV X<br />

27.04.00 Ergänzendes Interview PG X<br />

03.05.00 Tagungsteilnahme PG X<br />

05.05.00 Tagungsteilnahme PG X<br />

10.05.00 Ergänzendes Interview Stab X<br />

11.05.00 Ergänzendes Interview PG X<br />

18.05.00 Tagungsteilnahme U X<br />

19.05.00 Begleitung Generalagentur U X<br />

26.05.00 Begleitung Generalagentur U X<br />

09.06.00 Begleitung Generalagentur U X<br />

16.06.00 Begleitung Generalagentur U X<br />

16.06.00 Begleitung Generalagentur U X<br />

03.07.00 Ergänzendes Interview U X<br />

03.07.00 Tagungsteilnahme U X<br />

12.07.00 Zwischenbericht (Sponsor/Gatekeeper) HPV X<br />

07.11.00 Begleitung Generalagentur U X


Phase 2<br />

Datum Untersuchungsfokus Dichte<br />

07.08.00 Ergänzendes Interview 1 X<br />

293<br />

Forschungstechnik<br />

ANHANG<br />

Interview Beobachtung Feedback<br />

16.08.00 Tagungsteilnahme 17 X<br />

13.09.00 Tagungsteilnahme 200 X<br />

15.09.00 Tagungsteilnahme 180 X<br />

28./29.09.00 Tagungsteilnahme 40 X<br />

19.10.00 Tagungsteilnahme 40 X<br />

10.11.00 Ebene Bereichsleitung 1 X<br />

23.11.00 Ebene Bereichsleitung 8 X<br />

12.12.00 Ebene Bereichsleitung 11 X<br />

21.12.00 Ebene Regionen 2 X<br />

21.12.00 Ebene Bereichsleitung 9 X<br />

03.01.01 Ebene Bereichsleitung 6 X<br />

08.01.01 Ebene Regionen 1 X<br />

09.01.01 Ebene Regionen 1 X<br />

09.01.01 Ebene Bereichsleitung 12 X<br />

24.01.01 Tagungsteilnahme 100 X<br />

25.01.01 Ebene Regionen 15 X<br />

26.01.01 Ebene Regionen 14 X<br />

29.01.01 Ebene Generalagentur 1 X<br />

31.01.01 Ebene Bereichsleitung 12 X<br />

07.02.01 Ebene Bereichsleitung 14 X<br />

14.02.01 Ebene Generalagentur 1 X<br />

21.02.01 Ebene Bereichsleitung 13 X<br />

22.02.01 Ebene Generalagentur 5 X<br />

01.03.01 Ebene Regionen 13 X<br />

09.03.01 Ebene Bereichsleitung - X<br />

14.03.01 Ebene Generalagentur 1 X<br />

14.03.01 Ebene Generalagentur 5 X<br />

20.03.01 Ebene Generalagentur 3 X<br />

22.03.01 Tagungsteilnahme 45 X<br />

23.03.01 Ebene Generalagentur 11 X<br />

28.03.01 Tagungsteilnahme 65 X<br />

03.04.01 Ebene Generalagentur 9 X<br />

06.04.01 Tagungsteilnahme 50 X<br />

10.04.01 Ebene Generalagentur 20 X<br />

17.04.01 Tagungsteilnahme 130 X<br />

19.04.01 Ebene Generalagentur 5 X<br />

19.04.01 Ebene Generalagentur 24 X<br />

25.04.01 Zwischenbericht (Sponsor/Gatekeeper) - X<br />

25.04.01 Ebene Bereichsleitung 1 X<br />

02.05.01 Ebene Regionen 200 X<br />

10.05.01 Ebene Regionen 19 X


ANHANG<br />

Phase 2 (Forts.)<br />

Datum Untersuchungsfokus Dichte<br />

294<br />

Forschungstechnik<br />

Interview Beobachtung Feedback<br />

14.05.01 Ebene Generalagentur 26 X<br />

16.05.01 Ebene Generalagentur 7 X<br />

07.06.01 Ebene Regionen 15 X<br />

15.06.01 Ebene Generalagentur - X<br />

19.06.01 Ebene Generalagentur - X<br />

09.07.01 Tagungsteilnahme - X<br />

14.09.01 Ebene Bereichsleitung - X<br />

21.11.01 Ebene Bereichsleitung - X<br />

Phase 3<br />

Datum Untersuchungsfokus<br />

<strong>Die</strong>nstalter<br />

Forschungstechnik<br />

Interview Beobachtung Feedback<br />

11./12.09.01 Tagungsteilnahme - X<br />

19.09.01 Tagungsteilnahme - X<br />

17.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 6 X<br />

18,10.01 Tagungsteilnahme - X<br />

19.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 24 X<br />

23.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 12 X<br />

25.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 21 X<br />

25.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 21 X<br />

26.10.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 13 X<br />

05.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 4 X<br />

05.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 11 X<br />

06.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 10 X<br />

06.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 24 X<br />

07.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 25 X<br />

08.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 9 X<br />

08.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 10 X<br />

15.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 24 X<br />

15.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 6 X<br />

16.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 15 X<br />

16.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 4 X<br />

19.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 18 X<br />

22.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 1 X<br />

22.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 4 X<br />

23.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 18 X<br />

29.11.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung 10 X<br />

07.12.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung - X<br />

10.12.01 Rekonstruktion Firmenentwicklung - X<br />

13.12.01 Abschlussbericht (Sponsor/Gatekeeper) - X


Anhang D: Exkurs zur Versicherungsbranche 410<br />

295<br />

ANHANG<br />

Als Versicherungsunternehmen wird Helvetia Patria unmittelbar beeinflusst<br />

<strong>von</strong> den spezifischen Eigenheiten und der Entwicklung der Versicherungsbranche.<br />

Anhang D gibt einen vertieften Einblick in die Entwicklung der gesamten<br />

Versicherungsbranche und ist <strong>als</strong> Ergänzung zu den Ausführungen in Kapitel<br />

zu verstehen. Ausgehend <strong>von</strong> der Definition der Versicherung <strong>als</strong> einer <strong>Die</strong>nstleistung<br />

wird ein Überblick über die aktuellen Entwicklungen im europäischen<br />

und schweizerischen Versicherungsmarkt gegeben. 411<br />

D.1 Versicherung <strong>als</strong> integrierte <strong>Die</strong>nstleistung<br />

„<strong>Die</strong> Versicherungsdienstleistung ist nicht einfach nur Hardware, sondern ein<br />

Produkt <strong>von</strong> Deckung und angegliederter Servicefunktionen unterschiedlichster<br />

Art.“ (Haller 1990, S. 59) Das verlangt eine Erweiterung der<br />

unternehmerischen Anstrengung über den Zeitpunkt des eigentlichen Verkaufs<br />

hinweg. Jeder Kontakt mit den Kunden wird entscheidend, und die<br />

Versicherungs-<strong>Die</strong>nstleistung avanciert zu einem hochkommunikativem<br />

Produkt (vgl. Haller 1990, S. 63). <strong>Die</strong> herkömmliche Vorstellung des Vertriebs<br />

in der Assekuranz muss deshalb eine Veränderung erfahren. Der Vertrieb in<br />

der <strong>Die</strong>nstleistungsbranche umfasst nicht mehr nur Kontaktanbahnung,<br />

Produktberatung und Abschlusstätigkeiten, sondern ebenfalls eine Reihe <strong>von</strong><br />

kommunikativen und interaktiven Aufgaben und Funktionen wie z.B.<br />

Imageträger-, Service-, Individualisierungs-, Betreuungs- und letztlich<br />

Vertrauensfunktion. 412 Der Vertrieb „wird zum eigentlichen Produkt- und<br />

Leistungsbestandteil“. (Lehmann 1990, S.5)<br />

Das Produkt Versicherung umfasst daher nicht mehr nur bloss den<br />

technischen Aspekt der Risikodeckung bzw. des Risikotransfers, 413 sondern<br />

besteht immer aus Deckung und Servicefunktionen (vgl. Abbildung 76).<br />

410<br />

Anhang D stützt sich auf ein Arbeitspapier des Forschungsprojekts Learning Dynamics<br />

(Mühlbach/Schütz 2001).<br />

411<br />

Im Folgenden wird der Begriff der Versicherung für die Bezeichnung der <strong>Die</strong>nstleistung, und der<br />

Begriff der Assekuranz für die Bezeichnung der Versicherungsbranche benutzt.<br />

412<br />

Mitarbeitende im Aussendienst wurden früher zutreffend <strong>als</strong> „Vertrauensmänner“ bezeichnet.<br />

413<br />

Vgl. I.VW-HSG 1999c für Ausführungen zum Deckungscharakter einer Versicherungsdienstleistung.


ANHANG<br />

1<br />

Soziale/psychologische Dimension<br />

Technische/ökonomische Dimension<br />

Kernprodukt<br />

Ebene 1<br />

2<br />

Kernmarktleistung<br />

296<br />

3<br />

Ebene 2<br />

Erweiterte<br />

Funktionen<br />

Ebene 3<br />

Abbildung 76: Das Drei-Ebenen-Konzept des Versicherungsprodukts 414<br />

• Ebene 1 (Kernprodukt)<br />

Hier wird der eigentliche Versicherungsschutz, das heisst die<br />

materielle und immaterielle Deckung, generiert. Das Zusammenspiel<br />

der sozialen und technisch/finanziellen Dimension der<br />

Deckung äussert sich beim Versicherungsnehmer in Form des<br />

subjektiven Gefühls der Deckung.<br />

• Ebene 2 (Kernmarktleistung)<br />

Hier findet die eigentliche Marktleistung statt, das heisst die<br />

Kombination <strong>von</strong> Kernprodukt und unmittelbarem Service. Im<br />

Vordergrund stehen Gesamtberatung, Schadenbearbeitung und<br />

Convenience-Leistungen wie z.B. Einfachheit, Schnelligkeit und<br />

Verfügbarkeit. Kurz gesagt, es geht um Design und Verpackung<br />

des Kernprodukts.<br />

• Ebene 3 (Erweiterte Leistungsfunktionen)<br />

Hier wird die reine Versicherungsdimension verlassen und das<br />

Kernprodukt mit fachfremden <strong>Die</strong>nstleistungen angereichert.<br />

Dabei handelt es sich entweder um die Ergänzung <strong>von</strong><br />

414 In Anlehnung an Haller (1988, S. 563) sowie Haller und Ackermann (1992, S. 11ff).


297<br />

ANHANG<br />

allgemeinen Finanzdienstleistungen (horizontale Sortimentspolitik)<br />

oder um die Vertiefung herkömmlicher Leistungen<br />

(vertikale Sortimentspolitik).<br />

Nach Haller muss die Gesamtleistung einer Versicherung auf dem Markt alle<br />

drei Ebenen umfassen. Das verlangt <strong>von</strong> den Versicherungsgesellschaften die<br />

Entwicklung weg vom reinen Produktdenken hin zur umfassenden Problemlösung<br />

für die Kunden. Bedürfnis- und funktionsorientierte Leistungsangebote<br />

müssen den blossen Versicherungsschutz ergänzen. In Zukunft werden sich<br />

Versicherungsgesellschaften vor allem auf der Ebene der erweiterten<br />

Leistungsfunktionen (Ebene 3) <strong>von</strong> ihrer Konkurrenz differenzieren. Der<br />

zusätzliche Service durch versicherungsfremde Produkte und <strong>Die</strong>nste wird<br />

ausschlaggebend für den Kaufentscheid des Versicherungsnehmers werden<br />

(vgl. Kapitel D.2.3).<br />

D.2 Versicherungsbranche im Wandel<br />

Historisch gesehen erfüllte die Assekuranz ein gesellschaftliches Sicherheitsbedürfnis<br />

415 und wurde einem besonderen politischen und rechtlichen Schutz<br />

unterstellt. Hauptargument für die staatliche Regulierung des Versicherungsmarktes<br />

war die Bewahrung der Solvenz der Versicherungsunternehmen und<br />

der Schutz der Versicherungsnehmer. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts<br />

fanden sich deshalb die Versicherungsgesellschaften <strong>als</strong> fast „parastaatliche<br />

Institutionen“ (Haller 1996, S. 14) durch eine Vielzahl <strong>von</strong> Gesetzen und<br />

Vorschriften reguliert.<br />

Inzwischen befindet sich der europäische und vor allem der deutschsprachige<br />

Versicherungsmarkt in einem fundamentalen Strukturwandel. Neben der<br />

einsetzenden Deregulierung spielen auch Veränderungen auf der Nachfrageseite<br />

(Wertewandel in Arbeitswelt und Gesellschaft) wie der Angebotsseite<br />

(Veränderung der Wettbewerbssituation) eine Rolle. <strong>Eine</strong>n Einfluss haben<br />

zudem die Möglichkeiten der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie.<br />

415 Vgl. dazu Kapitel 7.1.1.


ANHANG<br />

D.2.1 Deregulierung <strong>als</strong> Treiber des Wandels 416<br />

D.2.1.1 Deregulierung auf europäischer Ebene<br />

Ausgangspunkt für die europäischen Integrationsbestrebungen der<br />

Assekuranz sind die „Römer Verträge“ des Jahres 1957 zur Gründung einer<br />

Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).<br />

<strong>Die</strong>s löste auf der Ebene der Versicherungswirtschaft die Harmonisierung<br />

einer Vielzahl <strong>von</strong> nationalen Aufsichts- und Versicherungsvertrags-Gesetzen<br />

aus. Getrieben <strong>von</strong> der Annahme, dass ein möglichst liberaler Wettbewerb die<br />

Wirtschaftlichkeit der Versicherungsmärkte erhöhen würde, stand die<br />

Deregulierung der Aufsicht und die Liberalisierung des Marktzuganges im<br />

Mittelpunkt der Bestrebungen. <strong>Die</strong> Umsetzung dieser Liberalisierungs- und<br />

Deregulierungstendenzen in Europa erfolgte über einen Zeitraum <strong>von</strong> dreissig<br />

Jahren in drei Etappen (vgl. Abbildung 77).<br />

• Niederlassungsfreiheit (erste Richtlinien-Generation)<br />

<strong>Die</strong> Niederlassungsfreiheit gewährte jedem Versicherungsunternehmen<br />

mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat, sich in jedem<br />

anderen Mitgliedstaat <strong>als</strong> Versicherer niederzulassen. Zulassung<br />

und laufende Aufsicht unterlagen jedoch den Behörden des<br />

Gastlandes (Host Country Control), so dass die angestrebte<br />

Integrationswirkung gering blieb. Zugleich fand mit der ersten<br />

Richtlinien-Generation eine Harmonisierung der finanziellen<br />

Aufsicht statt, indem ein einheitlicher Solvenzbegriff geschaffen<br />

wurde.<br />

• <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit (zweite Richtlinien-Generation)<br />

<strong>Die</strong> <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit ermöglichte es jedem Versicherungsunternehmen<br />

mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat, in jedem<br />

anderen Mitgliedstaat Versicherungsdienstleistungen zu<br />

erbringen, ohne in diesem Staat eine eigene Niederlassung oder<br />

Agentur zu unterhalten. Dabei galt für das Unternehmensgeschäft<br />

die Home Country Control (Sitzland-Kontrolle) und für<br />

das Privatkundengeschäft die Host Country Control (Gastland-<br />

416 <strong>Die</strong> folgenden Ausführungen zur Deregulierung stützen sich auf Ehrler (1999), Haller (1991),<br />

Haller und Ackermann (1992) sowie die Publikation I.VW-HSG 1999a.<br />

298


299<br />

ANHANG<br />

Kontrolle). <strong>Die</strong>se Einteilung des Versicherungsgeschäfts in die<br />

zwei Kategorien Industrie- bzw. Grossrisiken (mittlere und grosse<br />

Unternehmen sowie Versicherungsnehmer in bestimmten<br />

Versicherungszweigen) und Massenrisiken (alle übrigen<br />

Versicherungsnehmer) veränderte den Versicherungsmarkt<br />

nachhaltig. Im Unternehmensgeschäft resultierte eine weitreichenden<br />

Dynamisierungswelle, wohingegen das Massengeschäft<br />

des Privatkundenbereichs weiterhin durch die<br />

nationalen Märkte abgeschottet und weitest gehend unberührt<br />

blieb.<br />

Niederlassungsfreiheit<br />

• Rückversicherung (1964, inkl. <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit)<br />

• Nicht-Lebensversicherung (1973)<br />

• Lebensversicherung (1979)<br />

<strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit<br />

• Grossrisiken (1988)<br />

• Nicht-Leben ohne MF (1988)<br />

• Motorfahrzeugversicherung (1990)<br />

• Passive Lebensversicherung (1990)<br />

Einheitslizenz und Aufsichtsderegulierung<br />

• EU-Einheitslizenz (1994)<br />

• Home Country Control (1994)<br />

• Freigabe der Versicherungspreise und -bedingungen (1994)<br />

Abbildung 77: Drei Etappen auf dem Weg zum EU-Versicherungsbinnenmarkt 417<br />

417 Vgl. Swiss Re 1996.


ANHANG<br />

• Einheitslizenz und Aufsichtsderegulierung (dritte Richtlinien-<br />

Generation)<br />

<strong>Die</strong> dritte Richtlinien-Generation leitete schliesslich den tiefst<br />

greifenden Deregulierungsschub ein. Im Mittelpunkt standen die<br />

EU-Einheitslizenz (allgemeine <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit), die<br />

generelle Einführung des Prinzips der Home Country Control<br />

(Sitzland-Kontrolle) und die Abschaffung der materiellen<br />

Versicherungsaufsicht. <strong>Die</strong> Abschaffung der präventiven<br />

Produkt- und Tarifkontrolle hatte zur Folge, dass die<br />

Versicherungsunternehmen weit gehend frei in der Gestaltung<br />

ihrer Produkte, Bedingungen und Preise wurden.<br />

Trotz der positiven Entwicklung der vergangenen Jahre bestehen allerdings<br />

nach wie vor regulatorische Defizite, die eine radikale Marktöffnung in der<br />

europäischen Assekuranz verhindern. 418 Gleichzeitig gibt es in der EU<br />

inzwischen bereits wieder Ansätze zu einer Re-Regulierung: „<strong>Die</strong> nationalen<br />

Aufsichtsbehörden befürchten, dass ihnen die Fäden angesichts der den<br />

Versicherungsgesellschaften eingeräumten Freiräumen entgleiten werden.“<br />

(Kuhn 1996, S. 128) Vor allem fehlende Transparenz in Bezug auf komplexe<br />

Versicherungs- und Bankenkonglomerate haben Befürchtungen <strong>von</strong><br />

Missbrauch entstehen lassen. Elemente des Re-Regulierungstrends sind<br />

daher unter anderem eine verstärkte Aufsicht über Versicherungsgruppen und<br />

Finanzunternehmen. 419<br />

D.2.1.2 Deregulierung auf Schweizer Ebene 420<br />

Auch in der Schweiz war der Versicherungsmarkt zum Schutze des<br />

Versicherungsnehmers staatlich reguliert. <strong>Die</strong> Versicherungsaufsicht umfasste<br />

die gesamte Geschäftstätigkeit einer Versicherungsgesellschaft vom Zeitpunkt<br />

der Gründung bis zur Aufgabe des Geschäfts. <strong>Die</strong> Durchführung der Aufsicht<br />

418<br />

So verhindern z.B. Unterschiede in den nationalen Steuersystemen eine fehlende<br />

Harmonisierung des Versicherungsvertrags-Gesetzes und Inkompatibilitäten der verschieden<br />

ausgestalteten Sozialversicherungssysteme eine umfassende Marktöffnung (vgl. I.VW-HSG<br />

1999a, S. 4, und Kuhn 1996, S. 119).<br />

419<br />

So liegt z.B. in der Schweiz die Empfehlung einer Expertenkommission vor, die Versicherungsund<br />

Bankenaufsicht in eine integrierte Finanzmarkt-Aufsichtsbehörde zusammenzulegen (vgl.<br />

SVV 2001a, S. 12f).<br />

420<br />

<strong>Die</strong> Ausführungen zur Deregulierung der Schweizer Assekuranz stützen sich vorrangig auf Kuhn<br />

(1992, 1996) und Pfund (1991, 1992b ,1992a).<br />

300


301<br />

ANHANG<br />

oblag dem Bundesamt für Privatversicherungswesen (BPV). <strong>Die</strong> Aufsicht<br />

beruhte auf drei Pfeilern:<br />

• Berichterstattung<br />

<strong>Die</strong> Versicherungsgesellschaften hatten jährlich einen<br />

technischen Rechenschaftsbericht abzugeben, welcher die<br />

wichtigste Grundlage für die Beurteilung der Solvenz einer<br />

Gesellschaft war.<br />

• Inspektionen<br />

Das Aufsichtsamt führte bei den Versicherungsgesellschaften<br />

stichprobenweise Inspektionen durch, um zu überprüfen, ob der<br />

vom BPV genehmigte Geschäftsplan eingehalten wird.<br />

• präventive Produkt- und Tarifgenehmigung<br />

<strong>Die</strong> präventive Produkt- und Materialgenehmigung war der<br />

wichtigste Pfeiler der Aufsicht. Alle Produkte, Tarife und<br />

Versicherungsbedingungen bedurften der vorgängigen<br />

Genehmigung des BPV.<br />

Neben dieser strengen materiellen Aufsicht zeichnete sich die Regulierung der<br />

Schweizer Assekuranz durch eine Vielzahl <strong>von</strong> privatrechtlichen Kartellen aus.<br />

Erst die Revision des Kartellgesetzes im Jahre 1985 brachte Bewegung in die<br />

Kartellierung des Schweizer Versicherungsmarkts. So waren es schliesslich<br />

die Empfehlungen der Kartellkommission, welche in der Schweiz die<br />

Deregulierung des Versicherungsmarkts einläuteten. Abbildung 78 fasst die<br />

wichtigsten Meilensteine der Deregulierungs- und Liberalisierungsprozesse<br />

des Schweizer Versicherungsgeschäfts zusammen:<br />

• Aufhebung des Sachversicherungskartells<br />

Ausgelöst durch die Kritik der Kartellkommission am mangelnden<br />

Wettbewerb im Sachbereich wurden 1989 die präventive<br />

Tarifgenehmigung für die Risiken <strong>von</strong> Industrie, Gewerbe und<br />

Handel (Gross- bzw. Industrierisiken) aufgehoben sowie Preisabsprachen<br />

im Privatkundengeschäft untersagt. <strong>Eine</strong>r<br />

Untersuchung des Lebensversicherungsmarkts durch die<br />

Kartellkommission beugte die Schweizer Vereinigung privater<br />

Lebensversicherer proaktiv vor, indem sie die Tarife in der<br />

Einzelversicherung ab 1993 grundsätzlich freigab. Im Kollektivleben-Bereich,<br />

dem <strong>von</strong> Gesetzes wegen gewisse Werte


ANHANG<br />

vorgegeben sind, empfahl die Kartellkommission dem<br />

Bundesamt für Privatversicherungswesen, keine einheitlichen<br />

Tarife mehr zuzulassen. Ein unverbindlicher Mustertarif, der sich<br />

auf gemeinsam erarbeitete Risikogrundlagen und auf einen<br />

einheitlichen technischen Zinsfuss stützte, wurde 1996 in Kraft<br />

gesetzt. 421<br />

Aufhebung des Sachversicherungskartells<br />

• Deregulierung im Industriemarkt (1989)<br />

• Keine Preisabsprachen im Privatkundengeschäft (1989)<br />

Versicherungsabkommen Schweiz - EWG<br />

• Niederlassungsfreiheit für Nicht-Lebensversicherungen (1993)<br />

• Einheitliche Solvabilitätsspanne (1993)<br />

• Trennung in Unternehmens- und Massengeschäft (1993)<br />

• Abschaffung der präventiven Produktekontrolle (1993)<br />

Swisslex I<br />

• Niederlassungsfreiheit für Lebensversicherungen (1993)<br />

• <strong>Die</strong>nstleistungsfreiheit mit Reziprozitätsvorbehalten (1993)<br />

Abbildung 78: Deregulierungsschritte in der Schweizer Assekuranz<br />

• Versicherungsabkommen Schweiz - EU<br />

1993 wurde das Versicherungsabkommen mit der EU verabschiedet.<br />

Gegenstand des Abkommens war ausschliesslich die<br />

direkte Nichtleben-Vversicherung. Es enthielt die<br />

niederlassungsrechtliche Vereinbarung auf dem Gebiet der<br />

421 <strong>Die</strong>ser technische Mindestzinssatz im Kollektivleben führte ab 2002 zu Problemen für die<br />

Versicherungsgesellschaften: Der Renditeeinbruch auf den Finanzmärkten bewirkte, dass die<br />

Versicherer den fixierten Mindestzinssatz nicht mehr erwirtschaften konnten und das<br />

Kollektivleben-Geschäft für sie somit defizitär wurde. Der Mindestzinssatz musste deshalb im<br />

Laufe des Jahres 2003 <strong>von</strong> den staatlichen Behörden gesenkt werden.<br />

302


303<br />

ANHANG<br />

Direktversicherung für Nichtleben-Versicherungsgesellschaften.<br />

Auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit räumte die Schweiz<br />

jeder Versicherungsgesellschaft mit Sitz in einem EU-<br />

Mitgliedsstaat ein, sich in der Schweiz niederlassen zu dürfen.<br />

Damit übertrug dieses Abkommen die erste EU-Richtlinien-<br />

Generation auf Nichtlebens-Versicherer. Weitere Elemente des<br />

Abkommens waren die Anerkennung der europaweit einheitlichen<br />

Solvabilitätsspanne, die Übernahme der Grossrisiko-Regel<br />

(Unterscheidung in Industrie- und Massenrisiken) 422 und die<br />

Abschaffung der präventiven Produkt- und Tarifkontrolle. 423<br />

• Swisslex I<br />

Ziel dieses Programms war es, auf freiwilliger Basis die zweite<br />

Etappe der europäischen Deregulierung auf die Schweizer<br />

Gesetzgebung zu übertragen. So wurde ab 1993 die zweite EU-<br />

Richtlinien-Generation sowohl für Leben- <strong>als</strong> auch für<br />

Nichtleben-Versicherungen in Kraft gesetzt, sowie die erste<br />

Richtlinien-Generation - welche bis dato nur für Nichtleben-<br />

Versicherungen galt - auch auf Lebensversicherungen<br />

übertragen.<br />

Derzeit sind weitere Bestrebungen im Gang, die Deregulierung in der<br />

Schweizer Assekuranz voranzutreiben. Im Jahre 1995 wurden unter dem Titel<br />

„Swisslex II“ die drei Arbeitsgruppen „Versicherungstechnik“, „Konsumenteninformation“<br />

und „Vermittler“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel der Anpassung<br />

an die dritte Richtlinien-Generation der EU. Auf der Basis der Schlussberichte<br />

dieser Arbeitsgruppen erarbeitete ab 1997 die Gruppe „Swisslex II/Straffung“<br />

Vorschläge zur Neugliederung und Vereinfachung der heutigen<br />

Aufsichtsgesetzgebung. <strong>Die</strong> Weiterbearbeitung einer Gesetzesvorlage kam im<br />

Jahre 1999 wegen der personellen Neubesetzung im zuständigen Justiz- und<br />

Polizeidepartement vorläufig zum Stillstand (vgl. SVV 2000, S. 12f).<br />

422 Vgl. zweite EU-Richtlinien-Generation (Abbildung 77).<br />

423 <strong>Die</strong> obligatorische präventive Kontrolle beschränkt sich seither lediglich auf die Lebens- und<br />

Krankenversicherung und auf Elementarschaden-Risiken.


ANHANG<br />

D.2.2 Konsequenzen der Deregulierung<br />

Was sind nun die Konsequenzen der Deregulierung? Nach Ackermann (I.VW-<br />

HSG 1999a) lassen sich die Folgen der Deregulierung für die<br />

Versicherungsunternehmen in vier Faktoren einteilen (vgl. Abbildung 79), die<br />

sich alle wechselseitig beeinflussen.<br />

Verminderung<br />

der Markttransparenz<br />

Zunahme<br />

der Wettbewerbsintensität<br />

Spürbare<br />

Marktanteilsverschiebungen<br />

304<br />

Abnahme der<br />

Branchenrentabilität<br />

Abbildung 79: Konsequenzen der Deregulierung 424<br />

• Zunahme der Wettbewerbsintensität<br />

<strong>Eine</strong>rseits bringt die Deregulierung die Chance einer gezielten<br />

Produkt- und Unternehmensprofilierung im Versicherungsmarkt<br />

mit sich. Andererseits folgt aus der Deregulierung eine Zunahme<br />

des Preiswettbewerbs. Beides führt zu einer Verstärkung der<br />

Wettbewerbsintensität.<br />

• Verminderung der Markttransparenz<br />

Der intensive Preis- und Bedingungswettbewerb geht zu Lasten<br />

der Übersichtlichkeit und Transparenz des Versicherungsmarkts.<br />

<strong>Die</strong> Komplexität des Versicherungsmarkts verlangt vom<br />

Versicherer eine besondere Kommunikationsfähigkeit im Dialog<br />

mit den Kunden. Nach Frei (1993) mangelt es der<br />

Versicherungsbranche jedoch noch an einer passenden<br />

Kommunikationskultur, um den Konsumenten im veränderten<br />

424 In Anlehnung an Ackermann (I.VW-HSG 1999a).


305<br />

ANHANG<br />

Versicherungsmarkt die für sie relevanten Botschaften zu<br />

übermitteln. 425<br />

• Abnahme der Branchenrentabilität<br />

<strong>Die</strong> erhöhte Wettbewerbsintensität drückt sowohl auf die Preise<br />

<strong>als</strong> auch auf die Margen. <strong>Die</strong> Versicherer müssen ihre<br />

gewachsenen Kostenstrukturen häufig mittels radikaler<br />

Umstrukturierungs- und Kostensenkungsprogrammen anpassen,<br />

um im Wettbewerb bestehen zu können. Positive technische<br />

Ergebnisse, das heisst die Abdeckung der Schäden und Kosten<br />

durch die Einnahme der Prämien, werden immer seltener. Das<br />

Kapitalanlage-Management gewinnt deshalb an Bedeutung.<br />

• Spürbare Marktanteilsverschiebungen<br />

Es wird zu einer strukturellen Verdichtung und einer<br />

fundamentalen Veränderung der bis anhin stabilen Marktstruktur<br />

kommen. Kostensenkungspotenziale aufgrund <strong>von</strong> Skalen- und<br />

Synergieeffekten sowie potenzielle Mindestgrössenansprüche<br />

sind bereits zu einer treibenden Kraft für zahlreiche Übernahmen,<br />

Fusionen und Konzentrationen geworden. 426<br />

D.2.3 Blick in die Zukunft<br />

D.2.3.1 Entwicklung des Versicherungsmarkts<br />

<strong>Die</strong> zukünftige Entwicklung der Versicherungswirtschaft wird vor allem durch<br />

die gesetzlichen Rahmenbedingungen, den ökonomischen und gesellschaftlichen<br />

Perspektiven, den weiteren Einsatzmöglichkeiten der Informationstechnologie<br />

und der demographischen Entwicklung geprägt sein.<br />

Eher trübe Zukunftsaussichten für den europäischen Versicherungsmarkt<br />

umriss im Jahre 1993 eine Studie des Beratungsunternehmens McKinsey (vgl.<br />

Muth 1993, insbesondere S. 82):<br />

425 Vgl. hierzu Frei (1993) und Maas (1996). Beide Autoren weisen auf die Notwendigkeit eines<br />

neuen Kommunikationsverständnisses <strong>von</strong> Versicherungsunternehmen hin, wobei<br />

Kommunikation nicht mehr lediglich mit Information gleichzusetzen ist, sondern Sinn<br />

hervorbringen muss.<br />

426 Inwiefern die Unternehmensgrösse in der Assekuranz zu Wettbewerbsvorteilen führt, ist<br />

umstritten (vgl. dazu Ehrler 1999, S. 100 und I.VW-HSG 1999b, S.7).


ANHANG<br />

• Von den im Jahre 1994 tätigen 2’000 Versicherungsgesellschaften<br />

wird nur die Hälfte überleben.<br />

• Von den 150 europaweit aktiven Industrieversicherern werden<br />

nach den Anpassungsprozessen nur noch zehn existieren.<br />

• Der Abbau der Überkapazitäten wird zu einem Personalabbau<br />

<strong>von</strong> ca. 30 %, das heisst <strong>von</strong> 300’000 Mitarbeitenden, führen.<br />

• Marktanteile und Rentabilität der traditionellen Versicherungsgesellschaften<br />

werden weiter fallen.<br />

D.2.3.2 Entwicklung der Versicherungsleistung<br />

Der Wettbewerb wird sich zusehends auf die dritte Ebene der<br />

Versicherungsleistung verlagern (vgl. Abbildung 76). Der kritische Erfolgsfaktor<br />

im deregulierten Versicherungsmarkt der Zukunft wird deshalb der<br />

Kundenzugang über erweiterte Leistungsfunktionen sein. <strong>Die</strong> Qualität des<br />

Vertriebs und der Kundenkommunikation wird zum entscheidenden<br />

Differenzierungsmerkmal der Zukunft.<br />

In Anlehnung an das Institut für Versicherungswirtschaft lassen sich vier<br />

strategische Bereiche identifizieren, die für die Versicherungsunternehmen der<br />

Zukunft <strong>von</strong> entscheidender Bedeutung sein werden (vgl. Abbildung 80). 427<br />

Integriertes<br />

Risiko-Management<br />

Trend zur<br />

Allfinanz<br />

Ausdifferenziertes<br />

Vertriebsnetzwerk<br />

306<br />

Umfassende<br />

Marktleistung<br />

„Care“<br />

Abbildung 80: Blick in die Zukunft der Assekuranz<br />

427 Vgl. für die folgenden Ausführungen I.VW-HSG 1999b.


307<br />

ANHANG<br />

• Trend zur Allfinanz<br />

Der Trend zur Branchendurchmischung bezieht sich auf bislang<br />

weit gehend getrennt operierende Wirtschaftsbranchen wie z.B.<br />

Banken und Versicherungen oder auch Steuer- und<br />

Versicherungsberatungen. Ziel ist die Erschliessung <strong>von</strong><br />

ergänzenden finanzwirtschaftlichen Funktionen. Da es<br />

Versicherungen gemäss dem Versicherungsaufsichtsgesetz<br />

(VAG) nicht gestattet ist, versicherungsfremde Produkte<br />

anzubieten, kann nur über eine Kooperation mit Banken das<br />

Kundenbedürfnis nach einer umfassenden finanziellen Beratung<br />

und Sicherung erfüllt werden. Synergiepotenziale in der<br />

Produktion sowie durch die gegenseitigen Nutzung <strong>von</strong> Kundenstämmen<br />

und Vertriebskanälen sind offensichtlich. 428<br />

• Integriertes Risiko-Management<br />

<strong>Die</strong> Kernmarktleistung des Versicherungsschutzes wird um<br />

Elemente der Risikoberatung ergänzt. Im Zentrum steht dabei<br />

ein integrierter Beratungsansatz vor allem für kleine und mittlere<br />

Unternehmen.<br />

• Umfassende Marktleistung („Care“)<br />

Das Versicherungs-Kernprodukt wird mit zusätzlichen<br />

Servicebestandteilen angereichert. <strong>Die</strong> Rede ist hier z.B. <strong>von</strong><br />

Assistance-Leistungen oder Hotlines, welche eine Differenzierung<br />

auf der dritten Ebene der Versicherungsleistung<br />

ermöglichen. <strong>Eine</strong> derartige Ausweitung der Serviceleistungen<br />

setzt jedoch häufig Investitionen auf Seiten der Versicherer<br />

voraus, wie z.B. Mitarbeiterqualifikation, flexible <strong>Organisation</strong>sstrukturen<br />

und -abläufe oder eine effiziente Informatiklösung.<br />

428 Es ist anzumerken, dass sich seit den 90er-Jahren die Begeisterung für Allfinanz-Konzepte<br />

merklich abgekühlt hat, weil sich die Realisierung der Synergiepotenziale nicht so reibungslos<br />

gestaltete wie erwartet (vgl. z.B. Bernet 2003). Dennoch ist das Thema Allfinanz nicht vom Tisch:<br />

„<strong>Die</strong> nächste Phase der Allfinanz muss zu einer neuen <strong>Die</strong>nstleistungskultur führen. Das<br />

lösungsorientierte Denken wird hier im Mittelpunkt stehen. Das bedingt in vielen<br />

Finanzinstitutionen ... ein fundamentales Umdenken und einen eigentlichen Umbau der<br />

Finanzdienstleistungskultur.“ (Bernet 2003, S. 20)


ANHANG<br />

• Ausdifferenziertes Vertriebsnetzwerk<br />

<strong>Die</strong> Verminderung der Markttransparenz aufgrund der<br />

zunehmenden Produktevielfalt und -komplexität erfordert einen<br />

differenzierten Zugang zu den Kunden. Im Vordergrund steht<br />

dabei nicht die Aufspaltung des Marktes in High-Price/High-<br />

Service und Low-Price/Low-Service-Segmente bzw. die<br />

Polarisierung in traditionellen Aussendienst versus alternative<br />

Vertriebskanäle. 429 Vielmehr geht es um eine Differenzierung<br />

und eine klare Rollen- und Aufgabenteilung der vielfältigen<br />

Vertriebskanäle im Sinne eines Vertriebsverfahrens- und<br />

Vertriebswege-Mix (vgl. dazu Luig 2001b und 2001a).<br />

429<br />

Vgl. Lehmann (1993, S. 250f) für einen Überblick zum unterschiedlichen Verständnis des<br />

Vertriebs in der Assekuranz.<br />

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Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart. 6. Auflage.<br />

Willmott, Hugh (1981). The Structuring of Organizational Structure: A Note. In:<br />

Administrative Science Quarterly, Jahrgang 26, Nummer 3, Seiten 470-<br />

474.<br />

Willmott, Hugh (1997). Management and Organization Studies as Science? In:<br />

Organization, Jahrgang 4, Nummer 3, Seiten 309-344.<br />

Witzel, Andreas (1996). Auswertung problemzentrierter Interviews:<br />

Grundlagen und Erfahrungen. In: Rainer Strobl und Andreas Böttger<br />

(Hrsg.). Wahre Geschichten? Zu Theorie und Praxis qualitativer<br />

Interviews. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. Seiten 49-75.<br />

Wuketits, Franz M. (1981). Biologie und Kausalität. Verlag Paul Parey, Berlin.<br />

Yin, Robert K. (1984). Case Study Research. Sage Publications, Beverly Hills.<br />

Young, Monika (2003). Zur Interdependenz <strong>von</strong> Kommunikation und<br />

organisationaler Erneuerung in dezentralen Unternehmen.<br />

Systemtheoretische Analyse am Beispiel einer Genossenschaft.<br />

Dissertation der Universität St. Gallen, St. Gallen.


LEBENSLAUF<br />

Persönliche Angaben<br />

Geburtsdatum: 15.09.1960<br />

Kontaktadresse: judith.schuetz@alumni.unisg.ch<br />

Studium<br />

1999 - 2003 Doktorstudium an der Universität St. Gallen<br />

Mitarbeit im Forschungsprojekt Learning Dynamics<br />

des Instituts für Betriebswirtschaft IfB unter der<br />

Leitung <strong>von</strong> Prof. Dr. Johannes Rüegg-Stürm<br />

1981 - 1986 Studium der Betriebswirtschaft an der Universität<br />

St. Gallen, Vertiefungsrichtung Revision und Treuhand<br />

1976 - 1981 Wirtschaftsgymnasium, Biel<br />

Berufserfahrung<br />

seit 2002 Open System Network AG, Zürich<br />

Senior Consultant<br />

1990 - 1999 Schütz & Bossler Consulting & Coaching, St. Gallen<br />

Selbständige Unternehmensberaterin<br />

1987 - 1989 Griesser AG, Aadorf<br />

Projektleiterin Rechnungswesen/IT

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