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R E I H E S 0 Z N A T *Rainer Brämer, Georg Nolte, Peter TillmannsZ W I S C H E N W ISS E N S C H A F TUN D G E S E L L S C H A F TZUR TYPOLOGIE NATURWISSENSCHAFTLICHER STUDENTENMarburg 1980* Soz ialwi ssenschaft l iche Aspekte naturwissenschaftlicher Bi l dung


I N HA L TVorbemerkung . . ........................................ S.RAINER BRÄMER,PETER TILLMANNSKritik und Selbstkritik - Was mathematisch-naturwissenschaftliche Studenten von sich und ihrem Studiumhalten . .. ...... ..... ..• ...... •.. ...... ••.. . • .... ... . . S.RAINER BRÄMER,PETER TILLMANNSPhysik und Indust riearbeit . Ein pragmatischer Versuchzur Vermittlung der sozialen Dimension der Physik imGrundstud i um . • ....................................... S. 39GEORG NOLTE, RAINER BRÄMERChaos o hne Subjekt - Bildungszielvorstellungen akademischer Lehrer s tudenten .............•.... .. .......... S. 71


-6 -wärtiger Sicht näml ich erscheint das vergangene Jahrzehnt alsAusgangpunkt jener kritischen Naturwissenschaftlerbewegung, diesich heute in vielerlei pol itischen Aktivitäten von den diversestenBürgerinitiativen über die Entwicklung alternativer LehrundForschungsprojekte bis hin zur kritischen ~elbsverstäridigungüber den pol itisch-sozialen Standort der Naturwissenschaft inder Geg'enwartsgesellsc,haft artikuliert.Dementsprechend sind auch dieStudenten der 70er Jahre nicht mehr nur die bornierten Fachidioten,die sich und ihre Umwelt aussch i ießl ich durch und über die Wissenschaftdefinieren. Vielmehr zeigt sich überall ein' diffusesBedürfnis nach irgendeinem "Gesellschaftsbezug", eine unbestimmteSuche nach einer neuen sozialen Identität und Relevariz.D I Elsen nl chtzu 1 etzt von de r S,tudent enbewegung ausge 1 östen unddurchaus nicht widerspruchsfreien Aufbruch ih ein neues professionel-lesSelbstverständnis farcgen unsere zurückbl ickenden Studienaus den verschiedensten BI ickrichtun-gen ein. Sie ergänzendamit nicht nur die klassischen Arbeiten über die Typologie naturwissenschaft 1 i cher Studenten, sandern verstehen sich zug 1 eichals ein fortführendes Moment jenes Prozesses der -Sefbstreflexion,in dessen Verlauf sich die Naturwissenschaftler zunehmend ausihrem selbstgezimmerten Käfig zu befreien beginnen.


.- 7 -K R I T I K UND S E L B S T K R I T I KWas mathematisch~naturwissenschaftl iche Studentenvon sich und ihrem Studium halten.L~_t:!_~_l_!:1 . Kritische StudenteninItiative S. 82. Studienkritik: Je abstrakter, destounbeliebter ..................................... S. 123. Studienreform: Für konkrete Aktivitäten .... ..... S. 154. Studienkrisen: Individuelle Lösung ........... ... S. 195 . Berufsidentität: Moderne Priester ............... S. 226. Berufskrankheit: Kontaktprobleme .............. . . S. 287 . Das Naturwissenschaftlerbild: Die Frau alsAngsprojektion ......... ............... .......... S. 31


- 8 -1. Kritische Studenteninitiative/Von heute aus gesehen kommt ihnen fast der Charakter einer "Gründerzeit~'zu - jenen beginnenden 70er Jahren , in denen die Wogen der Studentenbewegungauf die ruhigen Gewässer der Naturwissenschaften überzugreifenbegannen und damit einen inzwischen nicht mehr übersehbarenPolitLsierungsprozeß unter den Naturwissenschaftlern ausl6sten. Warendie naturwissenschaftl ichen Fächer bis zu diesem Zeitpunkt von denPolitikern als Horte akademischer Besonnenheit gefeiert worden, soverloren hochgeschraubt e Leistungsan sp rüche und el itäre Fachidentif i­kationen nun auch in diesem Bereich z une hmend ihre domestizierendeWirkung. Die n eue Studentengeneration rebell ierte sowohl gegen denin den mathemati sch-naturwi ssenschaftl i c h e n Fächern besonder s ausgeprägtenPrüfungsterror (K l ausurenstre iks) als auch gegen das dezidi e rtunpol itische Se lbstverständni s ihrer akade~ i s chen Lehrer. überallbildeten s i ch s pont a n e Gruppen oder außer l ehrplanmä ßige Sem inarezu pol itischen Fragen, "Kriegsforschung" oder "China" waren d i e the ­mat i schen Renner, und manchmal gelang e s sogar, daß fachl i che "E s ta-·bl ishment'~ zu Veranstaltungen wie "Naturw i ssenschaft und Gesell ·s chaf't"herauszufordern .Al s einer der Brennpunkte der Marbur ger naturwi s s en s cha ft lichenStudentenbewegung fung,i erte s e i ner·ze i t da s von der Fachschaft Phy s i kinitiierte Seminar "Politische Unmündigkeit der Naturwissenschaftl e r"Die Teilnehmer dieses Se minars hatten s ich u.a. die Aufgabe geste 1 lt,üb~r einen "Frag ebogen zur S ituation d e r Studenten der Naturwi ssenschaften"E i nbl ick in da s Verhä l tnis ihre r Kommil it o n e h zu Stud iumund Wissensc h a ft zu ·gewinn e n. Tatsächli c h g edieh di eses Vorhabe n soweit,daß d e r dazu erforderl iche Fragebogen nicht nur bis zur Testreifeentwickelt, sondern auch in mehrhundertfache~ Au s führung v e r­t e ilt wurde. Hiervo n gel a n g t e n sogar n oc h beachtl iche 2 5 8 - z u e twagleichen Teil e n von Ma t h e ma tik-, . Phys ik- und Chemi es t~ de ntenl ) a u s ­gefüllte - Exe mplare an d i e Absender z urüc k. Doch h a t di e ser unve r -1) Un t e r ihne n wa r das weiblich e Geschlech t mit nu r 17 % zwar etwas schwach" v e r­treten, doch e ntspric h t dies ebenso wie die Semes t e r ver teilung der Befr agungsteilnehmer(a bnehme nde Quoten mit s t e i gender Semesterzahl) durchau s i n etwaden dies bezüg l ichen Ve rhä l t nissen in der Gesamtpopulation aller mathematisch ­naturwissensch aftlichen St u de nt ~ n.


- 9 -mutete Erfo l g in Folge der damit verbundenen Au s wertungsarbeit den-Einsatzwillen der Seminargruppe offen s ichtl i ch überfordert . Bevorjedoch da s ganze Unternehmen demzufol ge "vo rer s t" in den Fachs chaftsschubladenauf Eis ge l egt wurde, hat einer der Be tei ligten 2 ) sichimmerhin noch zu dem Kraftakt des Ablochens der Fragebogenergebnisseeinschl ießl ich einiger P robeausdrucke aufgerafft.Aussch l i e ßl ich diesem Einze lkämpfereinsatz i s t e s zu verdanken, daßder Ertrag der Fragebogena kt i on nicht - wie s ovie l e bemerkenswerteErgebnisse anderer studentischer Initiativen jener " Gründerzeit" dernaturwissenschaftl i chen St udent enbewegung - im Auf und Ab der folgendenJahre gänzl ich verlorengegangen ist. Zwar fanden sich beieiner (durch entsprechende Erinnerungen von inzwischen zu Amt und\"ürden gelangten Phys ikern und Physik l e hrern ausge l östen)"Suche"nur noch die Probeausdrucke. Doch erwiesen sich die b l oßen Rohdatenschon bei einer oberfläch l ichen Durchsicht a l s so vie l versprechend,daß sich die Arbeitsgruppe Soznat - nicht _zu l etzt angesichts derin der Bundesrepubl ik keineswegs dich gesäten empirischen Untersuchungenzur Bef i nd l ichkeit speziel l ma thema tisch- natur wissen s chaftlicher Studenten - dazu entschloß, die bereits begonnene Auswertungder Erhebungsdßten zumindest in den Punkten, die auch für die g e gen ­wtirti g e fachkritische Diskussion noch von Bedeutung und Interessesind, zu Ende zu führen.Hiergegen sprach auch nicht der relativ weit zurückl iegende Zeitpunktder Befragung (1972) da die diesbezügl iche durch Namen wieKoch, Huber, Reiß und Frech (s.u.) gekennzei chnete Literatur ebenfallsweitgehend auf Erhebungen der ausgehenden 60er und beginnenden70er Jahre basiert. Überdies hat sich die Studiensituation inMarburg - wie anderswo auch - trotz al l er Reformdeklarationen inden letzten Jahren leider nurso wenig geändert (und zum Teil sogarzurückentwickelt), daß die erhobenen Daten auc h d i e gegenwärtigeLage vermutlich noch recht gut beschreiben .2) Da längs t in unbekannte berufliche Gefilde entschwunde n, sei Hans-JürgenAppell hierfür auf diesem Wege nachträglich ein anerkennendes Dankeschönausgesprochen.


- 10 -Ein schränkend i s t jedoc h a n z umerken; da ß bei de r nachträg l ichen Erntede r analyt i sc he n Früc ht e der s tudenti sc he n Initi a tive in einem wesent-1 ichen Punkt e Zurückha l tung g ebot ~ n e r scheint. Tr o t z der re l aiiv hohenBetei 1 igung .läßt s ich n äml ich die Ve rmutung, daß aufgrund der An l aged e r Unters uc hung stud i e nkritische und r e f o rmf r eudi ge Studenten unte r 3)den Pro ba nd e n überrepräse n t i e rt sind, ni c ht ganz vo n der Hand weisenTat s äch l i c h i st der Ant e i 1 d e r j eni ge n Befragungsteilnehmer, die mitihre m bi s he ri gen Studi e nga n g bzw. mit de m "jetzi g en Lehrbetri e b ande,r Hochsc hu 'l e " nicht z ufri e den sind, mit 62 % (Stud i engang) bzw . ga r80 % (Lehrbe trieb) für di e d ama l i ge Ze it über Erwarten hoch . Von da ­he r wird ma n di e von d e r Fra gebogenakti o n e~faßte Studen t eng r uppee her als r e p r äsentativ für kritisc h e a l s fü r a l l e mathemati sch- naturwissenscha ft l iche Studenten ansehe n müssen. Da s ha t jedoch n ichtnur Nacht e il e . Zwar wird da durch di ~ Au ssagek r gft d e r abso l uten Be ­fragungse rge bni sse me hr od e r weniger e inge s chr änkt , doch ist dere nInterp r e t a ti o n s fäh i g ke it ange sicht s des Fe hlens ve r g l eichbare r Be ­fragung se r gebni sse eine r nicht - math e m a ti sc ~-riaturwi ss enschaft l ichenKontro ll g ruppe o hnehin ä u ße r s t begrenz t. Verzichtet man dahe r a l s owe i tge he nd a uf eine Bew e rtu~g ~e r abs o luten Za hl en z ugunsten eine simman e n ten Ve rgleic hs de r versc hi edene n Fragenkomplexe und - d e tai l suntereinande r, s o erwe i s t s ich der ho he Ante i l s tud i e nk r itischerStudenten unte r den Be fr ag t e n nunme hr a l s ausge s proc hener Vo rteil,da dadurc h d i e z ah l e nmäß i ge Basi s für e ine diffe r e n z iert e Aufsc h lüssel un g d e r Krit i kg r ünde und Re f o rme inste ll ungen s t e t s ausrei c he ndges i che r t i st .Ge rade der Th e me nbere i c h Studien(refo r m) kritik des Fra gebogen s n ä m-1 i c h ist es, desse n q ua l it a ti v e Ergebn i sanaly se e ini ge überrasc hendn e ue Eins i c ht e n da r über ve rmi ttelt, w i e mat hema ti sc h-na turwi ssen ­sc haftli che Studenten ihr Stud i um ,e rl eben und beurte il e n . De r ebenfalls im Fr age bogen a ngegangereProb l em ko mp lex d e r " Fac h s oziali sati on" bestät i g t und nua nc i e rt in se i nen Er ge bn i ssen demgegenübe re he r di e hi e r zu bere its bekannten Fa kten , wobe i indes di e Diffe r e n­z i e r un g de r Rohdatena u sd rucke nach d e n Fä che rn Ma t hema tik und Phy ­s ik eini ge auf schlußre iche Untersch i ede zw i s chen d e n e her e x pe rime n­t e ll ( Physik) und e he r r ei ngeisti g (Mat hemat i k) o ri ent ierte" Studentenerkenne" l ä ßt . Noc h aufschlußre i c he r und anges i c ht s der gegenwärti g en Konst i t uierung von Fraue n g r uppe n inne rha lb 'de r Naturwi ssen-' schaf ten 4 ) g e r a dezu brandaktue l l i st d i e ge s chlechtsspezi f i s che3 ) Neben der unglüc klichen Herausstellung des Semi nars "Po l i tische Unmündigke itder Naturwissen s chaftle r" a l s Ve ranstal t er der Erhebung im Kopf des Frage boge nsspr ich t hie rfür vor alle n Dinge n der Einsatz der Fachschaften als Hauptvert e i­leri nstanz , durch die v er ~u t li c h in übe r dur c hschnittlic he r We i s e solche , Stude n ­t e n angespr ochen wurde n , die der Fachschaftsarbei t eher positiv und damit de meta b l ier ten S tudiengang e her kriti s ch g egenüberstande n .4 ) Margarete Maur er , Frauen ip Natur wi sse nschaft und Tec hnik . I n : Wechselwir kungH 0 /1979 , S, 35ff .·· Imma Harms , Weibliche Wissenschaft? In : Wechse l wirkung H 1/ 1979, S . 57 f .


- 11 -Differenzierung des abschl ießend angesprochenen Bi l des, da6 sich dieTeilnehmer an der Fragebogenaktion von den Naturwissenschaften und-schaftlern machen. Hierdurch erfährt die Theorie der Fachsozial i sationeine Erweiterung, die geradezu - vo n uns allerdings kaum leis t­bare - psychoanalytische Deutungen heraus fordert.Um dem Leser die Übersicht über die Vielzahl der Auswertungsergebnissezu erleichtern, seien jedem der im folgenden abgehandelten Themenkompl exe die wichtigsten der hierauf bezogenen Fragen - bei geschlossenenFragen einschl ießl ich der jewei 1 igen prozentualen AnkreuzQuotender Antwortvorgaben innerhalb der Gesamtpopulation - vorangestellt.Ergebnisdifferenzierungen nach Fach oder Geschlecht finden nur dannErwähnung, wenn sie besonders auffäll ig sind. In diesem Zusammenhangsei .allerdings darauf hingewiesen, daß uns aufgrund der unvollständigenMateriallage über bloße Relativierungen hinaus nachträgl iche ·Berechnungen von Signifikanzen und Korrelationen leider nicht mehrmögl ich waren.2. Studienk'ritik: Je abstrakter, desto unbe l iebter• Nennen Sie· I~e Z~ Zeit wiehtig~~en Le~veAa~~attungen!Thema und ~ d~ Le~veAa~~ung g~ annehmb~ ~e6o~mbed~6~g• An wetehen VeAa~~ungen haben Sie bioh~ ~illgenommen?~illgenommeng~ne ~illgenommenVolLteoungen10%51Semin~e24%PMktika33%T~o~en34%5) Prozentwerte bezogen auf die jeweiligen Gßsamtteilnahmequoten


- 12 -Daß der naturwissenschaftl iche Schulunte rricht um so unbel iebterwird, je ~ehr e r sich von der unmitteZbaren Naturerfahrung weg indie Abstraktionen der Wi ssenschaft versteigt, dürfte zumindest fürjeden praktizierenden Lehrer eine Binsenwei'sheit sein 6 ). Die anfangsdurchweg positive Erwartung der Schüler gegenüber der Naturwissenschaft,ihr von lebhafter Neugier geprägter Forscherdrang, schlägtspätestens dann mehrheit 1 ich in Desinteresse, Apathi'e oder gar Aversionum, wenn der Physiklehrer den Kanon der klassischen Mechanik,der Chemielehrer die SchOlastik der chemischen Reaktionstypen und-gleichungen zelebriert - von den hehren "Konzepten" der wissenschaftsorientiertenDidaktik ganz zu sc hweigen?) .So bleibt den Lehrern in der Regel nur die Hoffnung, daß die ihnenund ihren Schülern von den modernen Lehrplänen und Curricula zugemuteteAbstraktionsakrobatik wenigstens denen Sp'aß bringt, diespäter selber einmal Naturwissenschaftl er oder naturwissenschaft-1 iche Lehrer werden wollen . Indes, auch diese Hoffnung' scheint zutrügen. Denn selbst die mathematisch-naturwissenschaft1 ichen Paradeschüler,mit den besten Wünschen und Hoffnungen ihrer Fachlehrerins Stud i um de.r ge 1 i ebten Wissenschaften ent 1 assen, ze i gen eineoffenkundige Ant ipathie gegenüber aller überzogener Abst raktion .Dies wird besonder~ deutl ich an den Urteilen, mit denen die Befragungsteilnehmerdie Beantwortung der Frage nach den "zur Zeit wichtigstenLehrveranstaltungen" verbanden .So wurden die mathematischen Grundvorlesungen ' von den Studenten inder folgenden Reihenfolge mit "gut" bewertet: Mathematik für Naturwissenschaftler(41 %), Rechenübungen zur Experimentalphysik (22 %),Lineare Algebra (1? %), Different ialgleichungen (6 %), Different ialundIntegralrechnung (4 %)8). Je weiter sich die Themen also von der6} Vgl. hierzu auch Rainer Brämer, Was erfahren wir aus unseren fachdidaktischenZeitschriften über die Wirklichkeit des naturwissenschaftlichen Unterrichts?In: physica didactica, H 3/1979, s. 137ff7) Rainer Brämer, Belie':)theit und Soziali'sationswirksamkeit des naturwissenschaftlichenUnterrichts~ In: Ders. (Hrsg.), Fachsozialisation im mathematisch-naturwissenschaftlichenUnterricht. Marburg 1977, S. 63ff.8) Prozentzahlen 'jeweils bezogen auf die Gesamtnennungen der betreffenden Lehrveranstaltungen.


- , 3 -unmitt e lbaren Anwendun g bzw. An schau un g entfernen, um 50 we ni ge r positiv werden sie beurteilt. Ähnliches g ilt für die Bewertungsfolgeder nicht- mathematischen Grundvorlesungen : Das Prädikat "gut" e rhieltend i e Experimentalphysik von 47 %, die Phy s ik für Naturwi ssen schaft ­ler (Pa r a l l e lveran ~ta ltung zur Experimentalphysik für Nichtphy s iker)von 4 2 %, die Al lgeme ine Chem i e (Experimentalvor l esung) von 22 % unddie Theo retische Mec ha nik von 6 % d e r Betroffenen 9 ). Natürl i ch s pieltdabei neben dem Anschau l ichkeit s krit e rium auch noch der unte r schied-1 iche Le i st ungsdruck der Veranstaltungen eine Ro lle, doch l assen sichdie Befunde hierdurch allein keine swegs erklären.Daß s ich die von der a ll gemeinbildenden Schule bekannte Aversiongegen mathematisch-naturwissenschaftl iche Abstrakta 50 verg l e ichs ­weise ungebrochen und durchgängig in das professionelle Studium diese~Fäche r fortsetzt , ist in sofern bemerkenswert, als man von dermit dem Schulabschluß einhergehenden berufsspezifischen Selektiondoch eigentl ich eine Auslese speziell so l cher Charaktere (bzw. Sozialisationstypen) e rwarten sollte; die diese fach s pezifi sche Sc hül e r­avers i on gerade nicht teilen. Die in dieser Erwartung enttäuschtenHochschullehrer (i n sbesOndere der Mathematik) pflegen hieraus nichtselten den Sc hluß zu ziehen, den scheinbar nicht funktionierendenvorunive r s itären Au s l esemechanismus innerhalb des Studiums drastischverschärfen zu müssen'O), schl ießl ich sei die Fähigkeit und Neigungzur Abstraktion ja e ine der Grundvoraussetzungen mathematisch-naturwissenschaftlicher Tätigkeit. Diese Schlußfo l ge rung ist allerdingsebenso kurzschlüssig wie ideol og i sch , denn die Mögl fChkeit, daß derGrund für die Abstraktionsaversionen von Schül ern und Studenten nichtnur bei diesen, sondern auch in der spez ifischen Art und Weise dermathematisch-naturwissenschaftl ichen Lehre zu suchen sein könnte,gerät so gar nicht ers t ins Bl ickfe ld.9) Die Unterschiede in der Beurteilung der genannten Grundstudiumsveranstaltungenzwischen Physik- und Mathematikstudenten sind übrigens erstaunlich gering . Zwarsind die Aversionen gegen theoretischere Lehrveranstaltungen bei Mathematikstudentenerwartungsgemäß etwas geringer ausgeprägt als bei Physikstudenten,was s ich insbesondere an der im Vergleich zum Durchschnitt deutlich weniger ne­-gativen Beurteilung der Linear en Algebra durch erstere (bei einer gleichzeitigerheblich positiveren Einschätzung der Experimentalphysik durch letztere)zeigt. Doch gehen diese Unterschiede nicht so weit, daß davon die Bewertungsfolgeder Vorles ungen tangiert wird.10) Vgl . hierzu etwa Rainer Brämer, Machen Sie Ihr Staatsexamen nicht im Sommer .Soznat H 2/1978, S. 24ff.


- 14 -Tatsäch.l ich a'ber. könnte die Ur s ache unseres empi r i sehen Befundesdurchaus in der unterschiedl ichen Rolle der Abstraktion in der akademischenLehre einerseits und in der tatsächl ichen mathematischnaturwissenschaftlichen Tät ig·keit andererseits zu suchen sein. Schülerund Studenten näml ich erleben die Naturwissenschaft - im Gegensatzzu professionellen Naturwissenschaftlern - nicht als eirietrotz und ·in ihrer theoretischen Abstraktion immer wieder doch auchsehr bildhaft-anschaul iche,konkret erfahrbare und die eigenen Neugi·erundErfolgsbedürfnisse befriedigende Tätigkeit, sondern in didakti ­scher Umkehrung des tatsächl ichen naturwissenschaftl ichen Arbeitsprozessesals abstrakt-axiomatisches Gedankenkonstrukt. Steht inder naturwissenschaftlichen Forschung die Abstraktion eher a m En deeines an konkreten Einzelerkenntnissen u~d Erfahrungen ebenso wie anErfolgen und Mißerfolgen reichen Klärungsprozesses, so wird sie inder Schul- und Hochschul.l ehre in der Rege l an d en Anfang geste l lt.Ihre dadurch bedingte Unnachvol l ziehbarkeit sichert zwar den Lehrerndie staunende Bewunderung ihrer Schü l er, ~rägt damit aber zugleichbei diesen eher zur Entstehung von Inferioritätsgefühlen alszu einemkompetenten Naturverständnis bei .Didaktik erweist sich au s dieser Sicht al s ein In s trument weniger zurErhe llung als vielmehr umgekehrt zur Mystifika tion naturwissenschaftlicherTätigkeit, indem s .ie die erdgebundene Alltägl ichkeit naturwissenschaftlicherForschung qua nachträgl icher Umkehrung und Umgewichtungvon Konkretem und Abstraktem zu unnachvollziehbar-genialenGeistesleistungen hypostasiert und 50 gegen das Interesse (und denZwang) der Studenten und Schüler an und zur Naturerkenntnis wendet.Was liegt daher näher, als daß diejenigen, die den didakti s ch geschaffenenSchein der ständigen Überlegenheit ihrer Zunftmeister tagtäglich als Deklassierung ihrer eigenen Fä higkeiten erleben, dieseArt von "Lehre" - insbesonderen in ihren abstrakten Auswüchsen der"rei·nen" Mathematik und "theore ti schen" Phy s ik - nur weni g abgewinnenkönnen.Untermauert wird die s e interpre tation d e r .festgest e llten inhaltZichenBewert ungsfo l g e der Le hrve ran s taltunge n durch die Antworten a uf di eweitere Frag e n ac h der Beurteilung der Ve r a nstaltung s formen ( s.o.) .


- , 5 -Danach sind die Lehrveranstaltungen um so bel iebter, je mehr sie denStudenten über die bl o ße Rezeption hi e rarch i s ierter Erkenntnisbeständehinaus die M6g1 ichkeit zu aktiver und eigenstdnd{ger Auseinandersetzungmit den Lerngegenständen bieten. Der in der Reihenfolge Vorlesung- Seminar - Praktikum - Tutorium wachsende Freiraum für eigeneErfahrungen und Irrtümer trägt offenbar ganz wesentl ich zur Verringerungder affektiven Distanz zum Fachstudium bei ") . Ob allerdings a l ­lein durch dementsprechende Lehrformen die festgestellten Abstraktionsbarrierens cho n im Studium überwunden werden k6nnen, muß ange ­sichts der Verfes tigung der derzeitigen akademischen Wissenschaft s ­paradigmen bezweifelt werden.3. Studienreform: Für' konkrete Aktivitäten '• W-U6en S.i.e von ZM Zw ul't-teJtnommenen Ve;u.,uchen, den LelutbebUebzu veJtbeMeJtn?JaNUnWenn ja, bitten ~ S.i.e um Angabe 60tcheJt Ve;u.,uche11~ 12)22%13)• Wo~n 6chw~ d.[e VeJtbe66ekUng de6 LelutbebUebe6?an den Studel't-ten:'- w~ d.[e Studel't-ten unge6ch.[ckt ,a4gument.[eJten? 25%- w~ d.[e unzdnen Studel't-ten 6achüch MCht zuMmmena4bWen? 38%an den Vozel't-ten?52%an mangdndeJt V-ukU66.i.on und KommuMkat.[on zw-uchen Vozentenund Studel't-ten?58%am Mangd von AiteJtnat.[vvo~chtägen?31%am E.i.n6tuß de6 Kuitu6m.i.n-UfeJt.[um6?26%11) Eine bemerkenswerte Abwerhungvon der durchschnittlichen Beliebtheitsfolgeder Lehrformen zeigen die Antworten der Mathematikstudenten, die - bei ähnlicherEinschätzung von Tutorium (36 % positiv) und Vorlesung (6 % positiv)­fast zur Hälfte (48 %) gerne an Seminaren und dafür nur zu 18 % gerne anPraktika teilnehmen. Hier scheint sich abermals (siehe Anm. 9) das gängige,eher geisteswissenschaftlich bestimmte Fremd- und Selbstbild der Mathematikerzu bestätigen, deren Orientierung auf reine Kopfarbeit so weit geht, daßsie der von den Physikern überdurchschnittlich geschätzten Verbindung von geistigerund handlungsmäßiger Betätigung im Praktikum die rein verbal- gedanklicheAuseinandersetzung mit dem Stoff vorziehen.12) Sofern ke in spezieller Hinweis erfolgt, bezie hen sich die angegebenen Prozentzahlenstets auf die Gesamtzahl der Befragungsteilnehmer (258) .13) Bei Ja/Nein-Antwortvorgaben ergänzen sich die beiden Antwortquoten in derRegel nicht zu 100 %, da den Studenten die Nichtbeantwortung einzelner Fragenoffen stand.


- 16 -• E~eh~nt eh Ih~ e~ mög~eh, ~ Rahm e~ d~ ~n · d~ BRV gegebe~e~ V~hält-~6e, e~~e S~e be6~e~ge~de Stu~e~e6onm d~ehzu6li~en? Ja 63N~~ 28• W~e b e~eM.e~ SÜ ~e 6tudeit:t~ehe Ak.:UvdCU 6Ü!L Studle~e6onm(z.B. gege~KtaU6~e~l?- V~e6e. Studenten woUe~ ~~ ~~e Sch~~e l~cht~ bell.Omme~:- Ab6ieht ~eh~ Studente~ ~t ~~ une Po.uti.6~eJl.U~g, Meht ab~stu~e~e6anm :- V~ehe 6tude~ehe Ak.:tivdCU 6töltt de~ Le~b~eb:- V~ehe 6tude~ehe Ak.:UvdCU 6teUt l~d~ ~~ une~ A~6atz daIL u~dhat k~~e R eho ~a~z ~~ d~ Gehamt6tudente~eha6t: .V~e 6tude~ehe AWvdCU 6Ü!L Stu~e~e6anm ~:t v~eR. zu g~~g:- V~e 6tude~ehe Ak.:UvdCU 6Ü!L Stu~e~e6a(Un ~t gut:• Zum hoeh6ehuipa.uti.6ehe~ E~gagement: S~~d S~e 6eha~ ~~maR.po.uti.6eh t~ gewehe~?S~~d S~e z~ Zed haeh6chuipa.uti.6eh t~g?haeh6ehui­JaN~~We~~ ~~~,- weM. SÜ 6~eh da6Ü!L Meht ~nt~eh6~eJr.en?- weM. Ih~e~ da6 Stu~ k~~e Zed dazu läßt?- weM. S~e va~ v~eR.e~ Leute~ Meht ~ede~ · kö~~ e~?- weM. S~e .6~eh Z~ Zed k~ne~ 6chlechte~ UnMuek b~ denVoz ente~ eJr.taube~ kö~~e~?- weM. I~e Inte~a~e~ · ~eh kune Ih~e~ beka~nte GMppe v~ete~weJr.de~?JaN~n121544749282274167611 %141n26027Die in der Kritik der Lehrinha l te und -formen deutl i~h werdende Abneigungder Studenten gegen solche Abstrakta, die nicht in unmittelbarnachvollziehbarer Weise aus entsprechenden Konkreta erwachsen,reproduziert sich - wenn auch natürl ich in einem etwas anderen Sinne -in ihrem Verhältnis zu studienreformerischen Aktivitäten. Auf derartigeAktivitäten angesprochen, verweisen s i e zuallererst auf "studentischeAktivitäten,,1S) und auf konkrete Projekte zur Erprobung alternativerLehrformen (jeweils rund ein Fünftel aller Nennungen 16 \ Ledig­I ich ein I


.- 17 -chen Fachbereichen verankerten Basisgruppen bzw. auf die Diskus s ionallgemeinerer Studienreformmodelle Bezug. Gänzl ich abgeschlagen mitnur jeweils zwei bis vier Prozent der Nennungen sind sc hI ießI i ch dieTätigkeit studentischer Vertreter in Gremien sowie deren Bemühungenum die Reform der Studienordnung und der Hochschulgesetze, also dievon der unmittelbaren Studienreal ität am meisten abgehobenen Aktivitäten.Die hierin deutl ich werdende Nichtbeachtung bzw. Negierung pol itischabstrakterer Instanzen und Zusammenhänge findet sich fast noch aus geprägterin den Antworten auf die Frage nach dem Scheitern der Studienreformwieder. So führen nur ein Viertel der Befragten die Reformschwierigkeitenauf den Einfluß der Kultusbürokrati e zurück, da s i s tin etwa derselbe Anteil, der auch die Frage nach der Durchführbarkeiteiner befriedigenden Stud ienreform "im Rahmen der in der Bundesrepublikgegebenen Verhältnisse" negati.v beantwortet. Die Mehrhei't derBefragten' sieht demgegenüber naheZie g e n de r e Ursachen des Scheiternsder Reformen, und zwar in erster Linie das Verhalten der Dozentenund deren mangelhafte Kommunikation mit Studenten, aber auch diemangelnde Kooperation und Ar gumentationsfähigkeit der Studenten. Einedetai l ierte Nachfrage speziell . nach der Einschätzung der s t ude n tischenStudienreformaktivitäten brachte nur 28 % gute Besrteilungen, währenddie knappe Hälfte der Befragten ihre.n hochschul pol itisch aktivenKomm i I itonen zu geringe Aktivitäten bzw. zu wenig hochschul pol itischeResonanz vorhielten 1 ?).Die Chancen der Studienreform werden jedoch weniger durch die passiveReformbereitschaft der Studenten, sondern vielmehr entscheidend durchihren aktive n hochschul pol itischen Einsatz bestimmt. Und hier nun erwiesensich auch die kritischen Studenten . in ihrer überwiegenden Mehrzahl- wie nicht anders zu erwarten - ledigl ich a l s Zusc hauer. WenJgerals ein Vierte l der Befragten konnten die Frage, ob sie "schon für deneinmal" hochschul pol it isch tätig gewes en seien, mit ja beantworten, fürden Zeitpunkt der Befragung sank die Quote der Aktlven sogar noch darunter.Dabei dominiert unter den Begründungen für die gegenwärtige17) Immerhin, negative Motive etwa in dem Sinne, daß es den Studienreformern nurum die bloße Politisierung .und Störung 'des Lehrbetriebs oder gar um eine erleichterteScheinerlangung ginge, wurden diesen nur von einer Minderheitunterstellt.


- 18 -Passivität mit Abstand der Verweis auf die fehlende Zeit, wobei indesoffenb l eibt, ob dies nur als die in der Eile der Fragebogenbeantwortungnahel iegendste bzw. bequemste Ausrede oder als Bestätigung der konservativenStrategie vieler Lehrender zu bewerten ist, qua Leistungsdruckdie pol itlschen Aktivitäten der Studenten zu bremsen.Auffäll ig ist in die sem Zusammenhang der relativ große Fächerunterschied:Während die Physikstudenten, die sich schon in den vorhergehendenFragen fast durchweg (wenn auch nur ge ringfUgig) als r eform- undkritikfreudiger ausgewiesen hatten, nur zu 70 % auf das ZeitargumentzurUckgrelfen, sind es unter den (nichtaktiven) Mathematikstudenten86 %. Auch die am zweithäufigsten angefUhrte Entschuldigung, das Eingeständnisvon Redeschwierigkeiten "vor vielen Leuten", wird von denMathematikstudenten mit 38 % fast dopp.lt so häufig in Anspruch genommenwie von den Physikstudenten (20 %) und läßt damit unerwartet deut­I ich eine nicht unwesentl ich geringere Ausprägung der hochschul pol itisehenMögl ich- und Fähigkeiten der Mathematikstudenten erkennen . Diezweifellos ehrl ichste BegrUndung fUr die eigene Passivität -Interesse" -"keinzeigt demgegenUber keine fachspezifischen Unterschiede,rangiert aber (noch nach der um so vorgeschobeneren Entschuldigung, daßes keine Gruppe zur Vertretung gerade der eigenen Reformintentionengäbe) am Ende der BegrUndungsskala.Insgesamt läßt sich immerhin ein deutl ich sch l echtes Gewissen beidenen erkennen, die dasmathematisch-naturwissenschaftl iche Studiumzwar wegen seiner Studentenferne - und dies im doppelten Sinne derBedUrfnis- und Anschauungsferne - kritisieren, se lber aber derstudentenfeindl ichen Leistungsideologie ihrer Lehrer aufsitzen oderdiese zumindest als geeigneten Vorwand zur Legitimation ihrer konkretenReformpassivität Ubernehmen. Daß sie sich dem l ernfe indl ichenLeistungsdruck nur entziehen können, wenn sie ihre Aversionen gegendie didaktischen Verkehrungen der akademischen Lehre ganz konkretin hochschulpol itische Aktivitäten etwa in Richtung auf die Entwicklungvon Alternativen umsetzen, ist vielen zwar mehr oder weniger bewußt,doch noch zu wenig handlungsbestimmend: nach wie vor dominiert dieMacht des Fakti schen.


- 19 -4. Studienkrisen: Individuelle Lösung• Hab ert S-ie -6chort iibeJotegt, Ifvt dVtze.u-igu Fach au6zugebert? Ja 63Wenrt ja,- weM' -6-ie phljo-i.-6ch iibVt6oltdeJz-t o-irtd?Nurt 3529- weM' S-ie Zwu6et art IfvtVt E-igrturtg habert?- wegert ochtechtelt Pltii6urtg-6Vtgebrt-i.-6oe?- weM' S-ie Zwu6eL art Ifvtem uge.rt ert BVtu60bdd d-iuu Fac.hu- weM' S-ie kurtert Spaß mefvt art d-iuem Fach habert?- weM' S-ie -irt Ifvtert E!tWa!tturtgert beziig.t-


- 20 -Anfangssemester durchweg von hohen Fachwechslerquoten unter IhrenKommil itonen (in der Größenordnung von 25 b~s 50 %) zu berichten.Die Befragungsteilnehmer repräsentieren demgegenüber nur jenen Teilder Studenten, die sich ein s tw~eilen zum Durchhalten entschlossenhaben, und ein knappe s Viertel von ihnen'9) gibt tatsächl ich auchals HatJptgrund des· Weitermachens e inen "prinzipiellen Durchhaltewill en" an . Die Mehrheit der Studenten wird indes auf einem anderenWege mit ihren Studienschwierigkeiten fertig: Zwar gesteht sie sichihre Enttäuschung über Studiengang und Lehrveranstaltungen als we-~ s entl ichen Fakt o r ihrer Fachzweifel durchaus ein, doch trennt sie inihrem Bewußtsein - nach de~ obigen nicht ganz unberechtigt - dasFac hstudium in das ei g en~ l ich Fachl iche und den bloßen Lehrbetrieb.Indem s i e dann die Studienfrustrationen im wesentl ichen nur Letzteremanlas tet, bl e ibt i'hr "Interesse am Fach" als solchem weitgehendunb e rührt, und dieses "Fachinteress e" ist es dann auch, das beidrei Viertel d e r Befragten den Ent s chluß für die Fortsetiung desStudiums maßgebl ich be s timmt.Di e dominierend e Rolle des FachLnte resse s als Durchhalte- bzw. Motlva tionsfaktor e rinnert an d e n Befund d er Hochschulsozial isati o nsforschung, wonac h si c h Stud e nten d e r Natu r wisse n s chaft e n vor ihrenKo m·mi I i t o nen a nderer Fäc her in besonderer We i se durch ihr starke sInt e resse a m Fac h bzw. ihre h o he Id e ntifikation mit der Fachwissensch a ft auszeichnen 20 ) . Als Korrelat dieser sp~ziflschen Fachide nti-19) Das sind immerh in e in gutes Drittel der Studie nfachzweifle r . Nimmt mannoch diejeni gen hinzu, d i e sich e inen Fachwe c hsel aus f inan z i elle n Gründennicht l e isten können oder we gen der Berufsaussi c hte n nicht l e i s t en wollen ,so bewältigen mindest ens die H41fte der potentiellen Studienabbrecher unte rden Befragungsteilnehmern ihre Frustrationen im Wege de s "Durc hbe iße n s ".20) Das g i l t s owoh l f ür spätere Natu rwissenscha f t l er (s i e he z.B . Ludwig Hube r,Das Problem der Sozi alisation von Wissenschaftlern . I n : Ne ue Sammlung Hl /19,74 ~ S. 2ff. ode r auch J ö rg Bürmamn , Der "typische Naturwissen s chaft l e r"- ein inte l l igenter Versager ? I n: Rainer Brämer (Hrsg . ) , Fachsozialisationim mathematisch- na t urwissenschaftlichen Unte r richt , Marburg 1977 , S. 33ff )als auch für naturwis.senschaf·tliche Lehrerstudenten b zw. Referendare (Grundle gendes hierzu be i H. - W.· Frech, Berufs- und Fach sozialisatio n v o n Gymna ­siallehrer n (Studien und Berichte des Max-Planck-Instituts. für Bildung s ­forschung Band 34) Berlin 1976 sowie Ve ronika Reiß, Fachspezi fische Sozialisationin der Au s b~ldung von Gymnasi alle hrern mit naturwissenschaftl ich e nUnter richtsfä chern. I n : Neue Sammlung H4/1975, S.298ff ) .


- 2 1 -fikati o n weisen empirische Erhebungen immer wieder e ine a uffall e ndeZurüc khaltung mathemat i sch-naturwissenschaftl icher St udenten im e motionalenund sozialen Bereich aus . Di e damit verbundene Zurücknahmeder e i genen Person zugunsten e iner stärkeren Gew ichtun g de s Fachesspiegelt sich auc h in den über die enttäuschen Studienerwartungenhinausge henden Gründen, die die Befragungsteilnehmer für e'ine eventuelle Aufgabe de s Studienfaches anführten.So wurden physische Überforderung oder auch e infach nur "ke in Spaß"ledi g l ich von jeweils einem Vi erte l der Fachzweifler als Ur s ache fürdie~eihre Zweifel angeführt. Auf we sent l ich höhere Ankreuzquoten kamendemgegenüber Zwe ifel an der Eignung 21 ) bzw. am "eigenen Berufsbild"des Faches, Gründe a lso, d ie ni cht allein in der jeweiligen Persönllchkeit,sondern in deren je individuell em Verhä ltni s zum Fac h,genauer in der Betrachtung der Person a us der S icht des Faches undumgekehrt, 1 iegen. Das Fach erscheint nicht a ls e in den eigenen Bedürfnissenmehr oder weniger an p aßbar>e s Mittel der persönlichenSelbstverwirkl ichung , sondern eher als o bjektiv gesetzter Anspruch,z u dessen Erfüllung man sich entweder "eignet " oder nicht.Wesentliches Moment dieser Eignung ist die Hingabe a n das Fach, seisie freiwillig (Fach interesse) ode r e r zwun ge n (DurchbeißeIl) .2 1) Die relativ hohe Quote derer, die aus Zweifel an ihrer Eignung schon einmalan eine Fachaufgabe gedacht haben, steht übrigens in einem verblüffendenKontrast zu den lediglich 5 % der Befragten, die "schl echte Prüfungsergebnisse" für ihre Studienverunsicherung verantwortlich machen. Diese angesichtsdes vergleichsweise ausgebauten Prüfungs- und Kontrollsystems immathematisch-naturwissenschaftlichen Studium unerwartete Gewichtung vonSelbsteinschätzung und Fremdkontrolle ist insofern ·aufschlußreich, ~ als auchdie Duisburger Didaktiker Born und Euler in Zusammenhang mit ihren Studiezur Situation des gymnasialen Physikunterrichts herausfanden, daß sich dieStudieneingangsfähigkeit von Physikstudenten auf Grund ihrer Selbsturteileerheblich sicherer als anhand ihrer Schulnoten voraussagen lassen: "Etwa 45 %der Abweichungen in den Studieneingangs- Testergebnissen sind erklärbar auf­Grund von Urteilen über die eigene Leistungsfähigkeit, während die Physiknotenur 10 % erklärt . " (Gernot Born, Manfred Euler, Physik in der Schule.In: bild der wissenschaft H2/1978, S. 74ff, hier S. 76).Dies läßt die aus hochschuldidaktischer Sicht bemerkenswerte :;rnterpretationzu, daß die (freilich auch an "von außen" vorgegebenen Maßtstäben orientierte)Sel bsteinschätzung der Studenten e i n erheblich zutreffenderes und zugleichdurchgreifenderes Kriterium· der Studieneignung und - selektion ist alsdie offiziellen, rituell -formalisierten "Leistungsprüfungen" der Schule undHochschule - ein Befund , der durch die von uns festgestellte unterschiedlicheBedeutung, die der selbstdiagnostizierten Eignung einerseits und denvorgeblich "objektiveren" Prüfungsergebnissen ander e rsei t.s als Au s löser vo nv o n St_udie nzweife ln zukommt, unte rmauert wird.


- 2) -B l'i II ' ,~~ ~ c l "' tl 9 ri r~ Nat (l~ IMacfdJ?- L U ~ 9I'eö ~tllrit d l' ~ Factll'o vrm p l'~oiiYleLcllnl AYlgpfl'gl',YlhuteYI ?10%17%Wenn di e Be f r agungsteilne hmer ni c ht ausge r e chne t Na turwiss enschaftl e rwären, könnte ma n anges ichts der bi s lang a b gehandelten Fragen fast denEindruck gewinne n, a l s handle e s s i ch bel ihnen um zukünftige Pl'ie"ter',deren Studienmo t i vation ( b z w. -zwe ifel) und Beruf s identität in ersterL i nie v o n ihrem persö nl i c hen Ve rhä ltni s z um Inhalt des Faches, zurvon Men s chending en sche inbar unberührten "Lehre" (von der Natur) abhängtund die zugunsten bzw . a l s Auswei s dieses bes onderen Verhältnisses e rhe b l iche Entsagungen auf s i c h nehme n . Diese r Eindruck verstärkts ich b e i der Au s wertun g de r Fra g e n nach de r positiven StudienmotivatIon.So s ind es im Bewußt s ein der Be t e ll igt e n nicht etwa, wie sonst üblich,die Elt e rn, di e die Ent s cheidung z um Studium der Ma thematik und/oderNaturwissenschaften vorne hml ich beeinflußt haben, s ondern zu gleichenTeil e n ein früzeltige s Sachlnteresse und d e r "Einfluß der Schu le".Berückslcht,lgt man, daß d e r schu l i s che E i nfluß zwar siCher l ich hauptsächIIch über die Person des mathemati s ch - naturwi ssen schaftliche nFachlehrers wirksam gewo rden se in dürft e, dieser s ich aber in der Regelhln s icht,lich s eine s pädagogi s chen Se l b s tver s t ä ndnisses und HandeInsIm Vergleich zu den Vertretern a nderer Fäc her wiederum durch eine ü berdurchschnittlicheSachorien t ierung auszel chnet 23 ), so erweist 'sich das"I n teresse am Fach", s ei es nun genuin vo rhanden oder qua Identifikationmlt ,der entspreche nden Lehrerspezi es im Verlauf der Schulzeit selektivverstärkt 24 ), abermals als Hauptmotivationsfaktor für das mathematisch-naturwis senschaftliche Studium. Da neben fehlt als Spezifikumdiese r auffä ll Igen Affinität v o n Persön l i c hkeit und Fach auch nichtdas Moment de s Besond~r e n,des Herausgeho benen (um nicht zu sagen desAuserwähltseins), das In Zusammenhang mit der Frage nach den Gründender Studienfachwahl s ogar einen deut l i c h elitären Akzent erkennenläßt : Fast ein Drittel der Befragten begründen Ihre Fachentscheidung,23) Re iB (Anm.20 ) a.a. O.24) Vgl . hierzu Ra iner Bräme r, Die Be l iebthe i t des naturwi ssenschaftlic hen Unterrichts aLs Kriterium für seine Sozi a l isationswirksarnke it. In: Zeits chrift fürPädagogik H2/1979, S. 259ff .


- 24 -mit ihrer speziellen naturwissenschaftlichen "Begabung,,2S).Die Deutung des offenbar den Kern der mathematisch-naturwis senschaft -1 ichen Berufs identität au s machenden und zuglei c h einen gewi ssen Besonderheitsanspruch konstituierenden Fachinteresses al s Ausdruck einestendenziell p~ieste~haften Selbstverständnisses findet weitere Nahrungin der Frage nach den besonderen Anziehungsmomenten der Naturwissenschaft,nach den inhaltlichen Gründen des Fachinteres s es also.Die vorgegebenen Antworten auf diese Frage lassen s ich grob den z weiDimensionen Fortschritt und Objektivismus zuordnen. Wenn dab e i "dieErarbeitung gesellschaftl ichen Fortschritts" mit einer An kr e uzquot evon 38 %"knapp an erste r Stelle der Nennungen steht , so g ibt doch zudenken, daß das Item "Beherrschung der Natur (Macht)" v o n nur 1 0 %der Befragten bejaht wurde und damit das Schlußl icht in der Rangfolgeder positiv bewerteten As pekt e der Naturwi ssenschaft bildet, obwohlsich doch zumindest in unserer Gesellschaft der naturwissenschaftl icheBei"trag zum gesellschaft 1 ichen Fortschritt nahezu ausschl ießl ich a ufder zunehmenden Be herrschung de r Natur g ründet. Diese Diskrepanz magz um Tei 1 auf den ,unglückl ichen Antwortzusatz "(Macht)" zur ückzuführen25) Die angesichts des seinerzeitigen Diskussionsstandes der Studentenbewegunginsgesamt schon unerwartet hohe Inanspruchnahme des Begab ungskonstrukts istbei den Mathematikstuden~en nochmals besonders ausg e p~ägt. Mit einer Ankreuzquotevon 41 % (Physikstudenten 24 %) rangiert das Begabungsite~ unterden Studienwahlgründen bei ihnen .noch vor dem "frühzeitigen Interess~ anTechnik" (35 % gegenüber 48 % bei den Physikstudenten) . Setzt man diesen Befundin Beziehung mit der oben konstatierten Entsagungsrnentalität und dembei Mathematikstudenten ebenfalls überdurchschnittlich ausgeprägten Kopfarbeiter~nspruch(Anm.9 und 11) , so verdichtet sich der Eindruck, daß sich dleMath~matiker gleichsam als die Speerspitze der mathematisch-naturwissenschaftlichenGeistesaristokratie empfinden .Die frühzeitige Ubernahme des von der professionellen Mathematikerzunft nurallzu bekannten elitären Selbstverständnisses (siehe Anm . 10) schon durch diestudentischen Anf~ngssemester ist insofern bemerkenswert, als dies für dLeStudenten in Hinblick auf ihre psychisc he Standfestigkeit eher negative Auswirkungenzeitigt . So ist es gewiß kein Zufall , daß Zweifel an der _persönlichenEignung zum Studium gerade bei den Mathematikern (mit einer Ankreuzquotevon 52 %) an der Spitze der Gründe für einen potentiellen Studenfachwechselrangieren (und dies , obwohl das Gefühl der physischen Uberforderungnicht überdurchschnittlich ausgeprägt ist). Indem die Mathematikstudentenden Widerspruch zwischen den e litär - überzogenen Verständnisanforderungen ihrerLehrmeister und ihren eigenen Fähigkeiten durch die destruktive Infragestellungihrer je individuellen Facheignung zu lösen versuchen, sitzen sieletztlich nur i hrem eigenen Begabungsparadigma auf.


- 27 -mit ihren sozialen Defiziten und gestattet ihnen mitder Zeit sogar, über die Leistungen in diesem Bereichein kompensatorisches Selbstbewußtsein aufzubauen.Dies gel ingt aber umso besser, je mehr - und das istihre Tragik - es ihnen mögl ich ist, die Erfahrungensozialer Mißerfolge aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen.Die sozialen Mißerfolge, der Ryckzug aus der Auseinandersetzung,offene soziale S r tuationen mitzubestimmen;unddas Sich-Klammern an den 'objektiven' Weg zu bedingtersozialer Anerkennung sind offenbar erlebnismäßig so festverknüpft, daß die Naturwissenschaftler die Tendenz e ntwickeln,soziale Kontakte zu reduzieren und Situationenzu vermeiden, in denen mit den eigenen Emotionen auch dieE~innerung an die leidvolleh Mißerfolge bewußt werdenkönnten. Weil nun aber die erfolgreiche Strategie zurVermeidung von Mißerfolgen und zum Aufbau eines (kompensato r i sc hen) Se 1 bs tbewußt se ins ge r-'a'de die Flucht war -mit anschI ießender Unt erwerfung unter 'nicht hinterfragbare'fach! iche Anforderungen, die defensive Strategiealso zur 'Rettung' führte, ddrfte dieser Strategietypeine nachhaltige Verstärkung er-fahren haben . "Der Naturwissenschaftler- also als Sozialflüchtl ing -ein insbesonderehinsichtl ich seines Defensivcharakter-s etwas einseitiges Interpretationsmuster28 ), mit dessen Hilfe sich das studentische Antwortprofi lauf die Frage nach der Attr-aktivität der Naturwissenschaften jedochrecht plausibel -und zwar in der Antwortfolge sozusagen von hintenher ("Losgelöstheit des Faches von persönl ichen Angelegenheiten") -erschließen läßt. Auf der Flucht vor-unbewältigten sozialen Anforderungenoffer-iert sich die Naturwissenschaft als Medium der Verdrängungund Kompensat ion. Die Unt e rwe rfungs i dent i fi kat ion mit der Natur und ihren,Sachzwängen, in deren Dienst man sich stellt, bietet sich indes nicht nur als eineQuelle individuell-emotionaler Ersatzbefr-iedigung ("Ästhetik und funktionaleSchönheit") ,dar, sondern ermögl icht zugleich den Aufbau neuersozia'ler-Erfolgspositionen ("überlegenheit durch exaktes Wissen"),die gegenüber bloßen sozialen Interaktionserfolgen hinsichtlich Erwerbwie ~ ufrecher-haltungden Vorteil der absoluten Kontrollierbarkeit (unanfechtbare"Gesetzesordnung") besitzen. Hinzu ' kommt, daß die solchermaßengewonnenen , allerdings eher- abstrakten Machtpositionen keinerexpl iziten Optionen bedürfen (siehe vorletzte Auswahlantwort), da inunserer Gesellschaft Macht über Sachen die Macht über Personen zunehmendimpliziert.28) Die Fachidentifikation der Naturwis senschaftler läßt, sich nicht nur a ls 'defensiveFlucht in die Sache .. s o~d e rn in g e wi sse r Hinsicht möglicherweise auch als offen­,


- 28 -Inwieweit sich die psychologisch begrGndete SoziaJfluchihypothesemit~ereher soziologisch zu verstehenden Prieser-Inte~pretation zur Deckungbringen läßt, kanon hier nicht ausdiskutiert werden. Be 'iden Versuchen,die festgestellte'n Phänomene auf den Begriff zu bringen, ist jedochgemeinsam, daß sie die Existenz , gravierender Schwierigkeiten und Barrierennaturwissenschaftl icher Studenten im Umgang mit anderen Menschenvoraussetzen. In we·lchem Maße dies tatsächl ich der Fall ist bzw. vonden Befragten real isiert wird, zeigt der folgende Fragenkomplex.6. Berufskrankheit: Kontaktprobleme* S~nd S~e außeAhalb deA , Vo~e6ungen ~c. und außeA ~~n 6ac~chenKontaR.ten üebeA aLtw? . Ja 8%, N~n 92%• G~b.t e6 we Be6chä6tigung, an deA cUu S.tu~um S~e IU.ndeA.t?Wenn ja, zum Be..u.. 'p~eLJa 64%N~n . 30%* An weichen außeA6ac~chen V~~.ta!.tungen haben S~e b~heA.teltgenommen? ~egeimäß~ ~ettenV~~.taUungen aM andeAen Fae.hUch.tungen 18% 30%V~~.taUungen ~ Rahmen ~neA po~chen Hoc~chutg~ppe: 12% 24%- V~~.ta!.tungen ~ Rahmen WeA ~o~po~ven Hoc~chutg~ppe: 5% 6%- V~~.ta!.tungen · ~ Rahmen ~neA ~ut.t~elten Hoc~chutg~ppe[W~, M~~~, Fi.em ~w. I ' 7% 17%- Spouv~~.taUungen [aruve Teltnahmel: 18% 15%- V~~.taUuniJen ~ Rahmen ~ne6 M~tigen Hobbyc..tub~: 2% .5%* HaUen S~e IMe zw~chenme~chüchen Kontah.te 6Ü1t be6~e~gend? Ja 53%Nw 44%* Haben S~e ~ne F~eun~n [S.tudentinnen: ~nen F~eundl? Ja 59%N~n 40%Auf den ersten Bl ick sieht es gar nicht so sehr nach Sozialf]ucht aus:92 %der Befragten verneinten die Frag~, ob sie außerhalb der Vorlesungenund außer rein fachl ichen Kontakten 1 ieber allein sein wollen.Selbst wenn man unterstellt, daß die Angst vor dem Alleinsein so tiefim menschl ichen Wesen verankert ist, daß sie selbst von notorischenEigenbr6dlern nic~t verleugnet werden kann,so is~ doch die Zahl derer,die Jhre Distanz zur reinen Fachorientierung durch die Angabe von studienbehinderndenBeschäftigungen dokumentieren, mit immerhin 64 %ebenfalls noch beeindruckend hoch. Einedeutl iche Relativierung er-


- 29 -fährt dieses zunächst sehr erfreul i che Bild jedoch durch die konkreteAufschlüsselung der außerfachlichen Betätigungen, wie "sie sich aus denfr.;, i en bzw. vorgegebenen Antworten auf die b"e I den d i esbezüg 1 i chen( im Fragebogen übrigens weit auselnanderl iegenden) Fragen ergibt.Trotz der nicht Immer ganz glücklichen Formul ierung der Fragen bzw.Antwortvorgaben l assen die Antwortkomplexe auf beide Fragen dieselbenTendenzen erkennen. Ebenso wie hinsichtlich der Teilnahme a~außerfach-1 ichen Veranstaltungen solche aus anderen a~ademischen FachrlcRcungena~ der Spitze stehen, so ist es auch die außerfachl iche Weiterbildung~pracheetc.), die am meisten vom Studium abhält (13 %). Auch in derFreizeit dominieren also Sach- und Leistungsorientierung. Erst anzweiter Stel le folg~n spo~tl iche und hochschulpol itlsche Ak~i~l\äten29~etwa gleichauf mit "Kommunfkation, Kontakt, Sex, Ehe, Gesell igkeit"(so die Zusammenfassung der freien Antworten auf dem Computerausdruck)als dominierende außerfach l iche Betätigungen 30 ).Die dritte Stelle indi 'eser Rangfolge nehmen kulturelle .Veranstaltungen sowie in der offenenFrage "musische Betätigung", "Lesen" und andere Hobbys (von jeweils7 bis 9 % der Befragten angeführt) ein. Als Schlußl ichter 'unterden außerfachl ichen Tätigkeiten fungieren .der Besuch von Korporationsveranstaltungen,die Teilnahme an HObby-Clubs und die Durchführung vonReisen.29) Der vergleichsweise hohe Stellenwert des politischen Engagements in der Freizeitder mathematisch-naturwissenschaftlichen Studenten scheint das von derHochschulsozialisationsforschung entworfene Bild des eher konservativ-apoli~ischenNaturwissenschaftlernachwuchses zu korrigiereri, zum~i der Besuch vonVeranstaltungen korporativer Gruppen weit hinter dem hochschulpolitischerGruppen rangiert. Bei der Bewertung dieses Befundes ist allerdings die indiesem Punkt nicht gesicherte Repräsentativität der befragten Gruppe in Rechnungzu stellen (s.o.). Möglicherweise spiegelt" sich hierin aber auch schonder Beginn der naturwissenschaftlichen Studentenbewegung wider, deren bisheute andauernde Politisierungseffekt möglicherweise zu einer Oberprüfungbestimmter Forschungsergebnisse (wie etwa des Koch'schen "Konservativismussyndroms!!)Anlaß geben könnte (Jens-Jörg Koch, Lehrer - Studium und Beruf.Ulm 1972).30) Nach Maßgabe der freien Antworten nahmen sportliche , . hochschulpolitische undgesellige Aktivitäten bei jeweils 10 % der. Studenten "studienbehindernde"Ausmaße an.


- 30 -·.Unter den erst61drei Rangplätz.en impliziert eigentlich nur der zweitePlatz (Sport, Hochschulpol itlk, Kommunikation) intensivere Sozialkontakte,während bei der außerfachlichen Weiterbildung (Platz 1) und beider kulturellen (Selbst-)Betätigung (Platz 3) die soziale Kommunikationeher eine sekundäre Rolle spielt wenn nicht zum Teil sogar ganz ausgeschlossenist ("Lesen"). In der Konkretisierung der außerfachl ichenBetätigungen deutet sich bereits ein gewisses Kommunikations- bzw.Kontaktdefizit an 31 ). Direkt auf dieses Problem angesprochen, charakterisierendann auch fast die Hälfte der Befragten ihre zwischenmensch-1 ichen Kontakte als unbefriedigend, was sicherl ich nicht zuletzt damitzusammenhängen mag bzw. darin seinen Ausdruck findet, daß mit 40 %ein fast genauso großer Teil der STudenten ohne eine andersgeschlecht-1 iche Partnerbeziehung . auskommen muß.Vergieicht man diese Quoten mit jenen 92 % der Befragungsteilnehmer,die das Alleinsein außerhalb von Vorlesungen und sonstigen fachl ichenKontakten expl izit ablehnen, so klafft für etwa die Hälfte von ihnenein mehr oder weniger tief gehender Widerspruch zwischen Wunsch undWirkl ichkeit. Auch wenn also das Kontaktproblem in den (nach dem obigenweniger zuverlässigen)absoluten Zahlen nicht sehr ausgeprägt hervorzutretenscheint, läßt doch der immanente Vergleich dieser Zahlenein deutliches Defizit im Bereich der sozialen Kommunikation erkennen.Selbst der vermutl ich kritischere Teil der Marburger mathematischnaturwissenschaftlichenStudenten bestätigt demnach die grundlegendenBefunde der hochschul bezogenen Sozial isationsforschung und gibt damitder Sozialflucht- wie der Priesterhypothese weitere Bestätigung.-------- ---- -31) Besonders ausgeprägt ist die hier erkennbare Tendenz zu sozialer Abgeschiedenheitwieder einmal bei den Mathematikstudenten. Während nämlich die Physikstudentenin den sozialkontaktintensiven Bereichen durchweg überdurchschnittlicheAktivitäten aufweisen , so daß bei ihnen die Rangplätze 1 und2 etwa gleichauf liegen, fallen die Mathematikstudenten hier deutlich durchunterdurchschnittliche Beteiligung auf. Umgekehrt rangiert die eher individuellekulturelle Betätigung i.nsbesondere literarischer und musischer Artbei den Physikern relativ weit hinten, während die Mathematiker hier mit erheblichüberdurchschnittlichen Quoten aufwarten können. Der Rückzug auf deneigenen Kopf ist bei den Mathematikstudenten also wieder einmal (noch) fort­.geschrittener,ein gewisser Zug zu fluchthafter Abgesondertheit nicht zu verkennen.


- 3 1 -7. Das Naturwissenschaf t l erbi l d: Die Frau a l s Angstprojektion• F~nden S~e MeAkmale von V~ptom-PhY6~keAn bzw. - PhY6~k~nn en unteA60tgenden E~genoeha6ten?-IKennze~hnenS~e vOkW~egend männ~ehe E~genoeha6tert ~ M, w~b~ehe~ W, gem~noame ~ M+W)KontaQtaJtm: 30% 32) Setb6tbewußt: 24%Mb~am: , 52% Zu6Ju:eden 12%Po~eh ~eAuüeAt: 12% AtiJw.ruv: 6%BeheNLl.>c.ht: 21 % StatMbewußt: 26%Guehtec.hUto6: 23% PJtoduruv: 17%Spontan 4% UneAowc.h: 30%M~g (Z~v~c.ounage) : 6% Anpa66ung6beA~: 24%BÜJtg~eh: 34% Vogm~eh: 17%stJtebeJU.6c.h: 34% FJtMtJUeAt: 31 %R~n ~onal: 28% Beg~6teA(mg66äug: 13%IJto~c.h: 14% HumoJtvoU: 11%L~denoeha6tUc.h: 5% Uno~c.heA . 20%Nuv: 17% PJtOgJtU6~V: 6%• G~bt u Un HauptmeAkmal, ~n dem 6~c:h Na..tuJtwi..66enoc.ha6U-studenten vonandeAe~ unteJt6eh~den?• Von den studenten deA Nat~6enoeha6t 6~nd nun 22 % Stud e~nnen IAtlgem~neAVuneMehMli 37 %). Wa6 haUen S-i.e 6ÜJt &e HaupwJtMehe?Deutl icher noch a l sin den unmittelbar auf persön l iche Einstellungenu n d Bef i nd l ichkeiten zie l.enden Fragen tritt das spezifische Sozialisati o n sp r dfil der mat hematisch-naturwissenschaftl ic hen Studenten indem Bi l d zu Tage, das d i ese von de n profession~ ll en In habe r n n~tur ­w i ssenschaft l i cher Berufe, ihren z u künftigen Kol l egen also und damitletzt l i ch von ih r er e i genen Zukunft,entwerfen . Das mag u.a. · daran liegen,daß d i e Befragten i h re m i ti hrer Berufsidentität v~rbundenenWünsc h e und Ängste leichter i m Wege der Projekt ion auf anonyme Drittea l sin der unmitte l baren Preisgabe der eigenen Persönl ichkeit artiku~1 ieren. Daß es sich bei den Antwo r ten auf die geschlossene Frage nachden spez i fischen Merkmalen von Diplom-Physikern und -Physikerinnentatsäch l ic h im wesent l ichen u m P r ojekt i onen handelt, zeigen die in derTendenz völ l ig gleich l aufenden Antworten auf die offene Frage nach denHauptmerkma l en von Naturwissenschaftss tuden ten, auch wenn dieserGl eichlauf mög l icherweise partie ll auf d i e etwas unglückl iche Anord-3 2 ) Die angege benen Prozentzahlen setzen jewe ils die Gesamtheit aller ein !.tembetreffenden Markierungen (also M, Wund M+W) zur Ge s amtzahl der Befragungs­, t e ilnehmer in B e ziehung~


- 32 -nung beider Fragen - die geschlos sene Frage geht der offeneh unmittelbarvoraus und prägt daher die freien Antworten entscheidend vor -z urückzuführen sein dürfte.Das zuvor nur i m Wege der immanent verg l eic henden Ana l yse der entsprechendenDirektfragen herausarbeitbare SoziaZkontakt defizit wird in derProjektionsfrage unerwartet ma s siv aTtikuliert. Fast ein Dritte l derBefragten stellen als s pezifisches Physikermerkmal deren Kontaktarmutheraus, aufschlußreich ergänzt durch Hinweise auf eine gewisse innereUnausgegl ichenheit bzw. Unsicherheit ("frustriert,i 31 %, "unsicher"20 %, dagegen "zufrieden" nur 12 %) sowie auf emotiona l e Defizite (Be ­setzung der Mer kma le "begeisterungsfähig"J ·"humorVOll,,33)J "spontan"mit nur 13 bis 4 %, jedoch "beherrscht" mit 21 %). Dem entsprechendie freien Antwortgruppen "frustriert, verklemmt, kontaktarm" und"entseelt, Maschine, gefühlskalt, unpersönl ich, Asketen" mit 10 %bzw. 4 % der Ansprachehäufigkeit 34 ). "Alles in a ll em also eher einUnglücksrabe als ein sozia les Vorbild", so könnte man die geballte Bestätigungder Def izithypot hese mit Bürmann 35 ) kommentieren. Hinzukommt, daß das kompensatorische Korre lat der genannten Persönl ichkeitsdefizite, die bislang durchweg positive Fach- bzw. Leistungsidentifikationder Naturwissenschaftler, in de~ Projektion durchaus nicht mehr50 gut wegkommt wie im Se lbstbild.Zwar kann man die Eigenschaft der "Arbeit samke it", mit e iner Ankreuzquotevon 52 % einsame r Spitzenreite r der gesamten (vorgegebenen) Merkmalsreihe,noch so oder so bewerten, und ähnl iches gi lt auch für denAntwortkomplex "arbeitsamer, eingeplanter., arbeiten unter LeistungsundZeitdruck",der mit 25 % Nennungen ebenfalls e inen ersten Rang(unter den frei formul ierten Merkmalen) einnimmt. Doch überwiegen unterden weiteren zu diese r Merkmalsgruppe gehörigen Antwortvorgaben33) Bezeichnenderwe i se rangie rt das Merkmal "ironis ch" mit 14 % vor "humorvoll"mit 11 %.34) Die freien Antworten weisen naheliege nde rweise durchweg e rheblich geringereAnsprachequoten als die geschlossenen Antworte n a uf .35) Jörg Bürmann (Anm.20) , S. 4 5 .


- 33 -("streberisch" 34. %~ Ilanpas5ungsbereitil 24 %, IIp'roduktiv'l 17 %)gewichtsmlßig eindsutig die Negativa. Noch drastischer sind in dieserHinsicht die freien Antworten, unter denen der Komplex "Fachidiotie,Facharroganz, Einseitigkeit" den zweiten Rang einn immt C17 %). Diecharakteristische Fixierung der Na~urwissenschaftler und Naturwissenschaftsstudentenauf ihre Arqeit wird also durchaus nicht nur positivgesehen: Di e mit ihr verbundene Fähigkeit zu karriereorientierter A~passungund entfremdeter Leistung wird v i elmehr als ein integraler Bestandteildes NaturwissenschaftlerCselbst)bildes betrachtet und dekuvriertdamit das vorgebl iche Sachinteresse zumindest partiell alssozialen Aufstiegswi lIen.Erscheint die aufstiegsorientierte Sachidentifikation in den bisherigenAntworten eher negatiV-angstVOll besetzt, so hat sie doch auchihre positiven Seiten. Indem die Auseinandersetzung mit der Sache nämlichzu besonderer geistiger Diszipliniertheit herausfordert - was inder geschlossenen Frage 28 % der Be.fragten zu der Kennzeichnung "reinrational" veranlaßt 36 ) und im freien Antwortkomplex "rationaler, vernünftiger,intelligenter, skeptischer, objektiver, logischer, realistischer,genauer" immerhin 16 % derselben vereint - vermittelt sieoffenbar eine gehörige Po~tion Selbst- und Statusbewußtsein. Zumindestschreiben jeweils ein rundes Viertel der Studenten ihren zukünftigenBerufskollegen diese Eigenschaften zu und weisen damit die Fluchtstrategieals zumindest in diesem Punkte durChaus erfolgreich aus.Damit finden sich alle Elemente der vorhergehenden Ana lyse .in dem Bild,das die Studenten von den professionellen Fachvertretern haben ~ wieder:Soziale und emotionale Defizite, aufstiegsbewußte Sachorientierung,verbissen-entsagungsreicher Leistungswille, kopfbetontes EI it~bewußtsein.Beide, Flucht- und Priesterhypothese, halten diesen Befundenstand, allerdings mit dem Unterschied, daß d i e Fluchthypothese eherdie defizitäre, die Priesterhypothese eher die e l itäre Cund damit tendenziellherrschaftl iche) Seite des naturwissenschaftl ichen Sozial isa-36) Auch hier fehlt allerdings nicht ein negativer Beigeschmack: 17 % der $tudentenhalten professionelle Physiker für besonders "dogmatisch".


- 34 -iions typs betont, Vielleicht wird ein anderer, allerdings ebenfallsi m klerikalen Bereich lokal isierter Vergleich diesen belden Seltengle i chermaßen gerechter: Nicht nur der eher noch weltz ugewandtePpieGtep, sondern auch sein etwas weltfernerer Kollege, der Einsie d le p,bietet sich näml ich als Metapher oder besser als Karikatur des quaFragebogen entworfenen Bildes des typischen Naturwissenschaftlers bzw.naturwissenschaftl ichen Studenten an: Ein asketischer Mönch, der sichzugunsten der höheren Einsicht in die Weltordnung von deren niederenFreuden zurückzieht und seine Innere Stabil ität wie,auch seinen geistlichenAnspruch ganz aus seiner besonderen Nähe zum Schöpfer bzw. zurSchöpfung sowie aus der harten Kasteiung und strengen Selbstzucht seinergeistigen Auseinandersetzung hiermi~ schöpft.Wie immer man auch den naturwissenschaftlichen Sozial isationstyp aufden Begriff bringen will - sein konkret-sozialer Rückzug zugunstenabstrakterer Erfolgs- und Machtpositionen ist begleitet von der Ausprägungzweier für sein soziales Verhalten ebenso maßgeblicher wiecharakteristischer Aversionen. Die bekanntere dieser Aversionen beziehtsich auf den, Bereich der öffe ntliohen sozialen Auseinandersetzung:Der offenen Frage zufolge schätzen die befragten mathematisch-naturwissenschaftlichen Studenten sich selbst zu 16 % als spezifisch "unpolitisch(desinteressiert, Inakt iv)" ein; dementsprechend charakterisierenin der geschlossenen Frage 34 % der Studenten Phys i ker als "bürgerl ich",nur 12 % als pol itisch Interessiert und gar nur 6 % als "mutig (Zivilcourage)"und "fortschrittl ich". Auch wenn sich in diesem Punkte gegenwärtigwichtige Änderungen abzuzeichnen beginnen, indem sich die Apol i­tizität der etabl ierten Naturwissenschaftler angesichts der ihnen vonaußen aufgezwungenen Pol itisierung zunehmend als pol itischer Konservativismuserweist, während der Nachwuchs sich zum Teil stark in derUmwelt- und ' Alternativbewegung engagiert 37 ), kennzeichnen die studentischenEindrücke des Jahres 1972 auch die gegenwärtige SitJatlon noch indurchaus zutreffender Weise.Die zweite, demgegenüber In der Sozial isat'ionsforschung vergleichsweiseunbemerkt gebl iebene Aversion betrifft den allerpepsönliohs ten Sozlal-31 ) Beme rkenswert ist in diese m Zusammenhang das ausschließlich vom wissenschaftlich-technischenNachwuchs getragene ,projekt einer politischen Zeitschriftfür Naturwissenschaftler ("Wechselwirkung").


- 35 -berei c h: Die B ez i ~ hung z um andere n Gesc~lecht, im Fall der vorl iegendenErhebung wegen des Überg ewicht s männl icher Befragungstei lnehmer spezielldas ' Ve rhältni s z ur Frau. In Zu s ammenhang mit der Differenzierung dervo r geg e benen Me rkmale von Physike rn und Phys ikerinnen nach dem Geschlec~der Me rkmals tr>äge r> - l e i de r 1 i e ß die unzureichende Datenlage (s.o.)keine nachträgl iche Auf schlüsselung der Antworten nach dem Geschlechtder Me rkmalsge b e r> zu 3S ) - pro j 'izi e rten die Befrag ung s teilnehmer nämlichin auffä lliger We ise di e n egative n Merkmale ihre s Physiker(selbst)bildesa uf die weibl i c he n Fachko ilegen. Zwar gaben die (überwiegend männl iChen)Studenten die Schuld an d e r unterdurchschnittlich geringen Vertretungdes weibl ichen Geschlec ht s im Bereich der NaturwI ssenschaften nochin er ster Linie d e r Erzi e hung durch Gesell s chaft ( 30 %), Schule (S %)und Elternhau~(5 %) sowie der ge schlecht sspezifischen Rollenverteilungund d e n e ntsprec henden männlichen Vo rurteilen inne rhalb der Gesellschaft39 ? und nur relativ weni,ge lasteten dieses Defizit den Frauens elbst an 40 ). Do ch lassen die Befragungsteilnehmer, insbesondere diezu 93 % männl i c he n Phy s iks tudenten, in der Geschlechtsdifferenzierungd er s pezifische n Berufs me rkmal e kein gutes Haar an ihren weiblichenKOll e g e n .'So erhalten 'in de r Gruppe der Le istungseigenschaft,en eher Frauen di ePrädikate ".arbe it s am" und "strebe risch".1 während den Männern die Eigenschaft "produktiv" vorbehalten i st. Auch hinsLchtl ich des Selbst- undStatus be wußtse in s domini e rt das männl iche Element. Daß darüber hinausdie Eig e n schaft d e ~ Rati o nal ität ( einschI i e ßI ich des . Dogmatismus) ebenfalls s tärker mä nnl ich besetzt i st, gibt zu der Vermutung Anlaß, daß38 ) Allerdings i st das männlic he Geschlecht mit 83 %'unter de n Be fragungsteilnehmernderart überrepräsentiert, daß die Geschlechterdif ferenz i erung der M e r kmalsträg~ rin erster Näherung allein den männlichen Merkma l s gebern z ugeschrie be n werde nkann. Überdies l assen s i c h eventuell e Einsc hätzungsunter schiede zu den Mathe ­matik- und Physi kstudenten in diesem Zu s ammenhang t endenziell als Geschlec htsunterschiede(in Hi nblick auf die Befragungsteilnehmer) deuten, da unte r denMathematikstudenten 'das männliche Geschlecht nur zu 76 %, unter de n Physikstudentenhingegen z u 92 % vertreten war .39) Gesellschaft liches Ro l lenverständnis 16 %, männlic he Vorurte ile 24 %.40 ) Weibliche Vorurt e ile 5 %, weiblic hes Desinte r esse 8 %, schne lles He iraten 7 %,zu hoher Schwierigkeitsgrad 5 %, weibl iche Unbegabthe i t 5 %, mange lnde Emanzipation5 %, Verlust an weibli cher Attr aktiv i tät 3 %, physi sche Be l astung2 %, mangelhafte wei b l iche Sel bstei nsch ä t z ung 1 %.


- 36 -das Se lbstbewußtsein der Naturwissens~haf~le rsich eher auf den geistIgenals auf den arbeitsmäßigen Anspruch des Faches stützt. Auch diepositiven Eigens chaften "humorvoll"~ "begeisterungsfähig ll und "zufrieden",be,sonders aber natürlich das pOlitische Interesse, die Z ivilcourageund die Progressivität haben, sofern sie Naturwissenschaftlernüberhaupt zugemessen werden~einen mehr oder weniger starken männl ichenTouch. Demgegenübe r werden Physikerinnen eher als frustriert und "naiv"angesehen. Nahezu ausschI ießl ich dem weib l ichen Gesch l echt, und d i essogar noch mit relativ hohen Quoten, werden die bis lang noch nicht er ­wähnten Antwortvorgaben "unerotisch" (30 %) und "geschlechtslos" (23 %)zugeordnet; eine hohe we i b li che Besetzung haben zW,ar auch die positivenMerkmale "attraktiv" und "leidenschaftlich", doch s ind deren Ankreuz ­quoten zugleich demonstrativ niedrig (6 % bzw. 5 %)41).Mit diesem Physikerinnenbild weisen sich die naturwissenschaftl ichenStudenten ebenso wie mit ihrer pol itischen Selbsteinschätzung trotzder eingangs vermuteten Überrepräsentation kritisch-reformerischer Ein-, stel lungen nicht nur als im Kern nach w i e vo r relativ konservativaus,sondern geben darüber hinaus s ich selbst a l s wesent l iche Ur sache desWeibl ichkeitsdefizits de r Naturwissenschaften zu erkennen. Zugle i ch wirddeutlich, daß sich ihre se lbst ,eingestandenen sozialen Kontaktschwierigkeitenoffenbar in erster Linie auf das weibl iche Geschlecht beziehen,wobei es zwangsläufig a l s erstes ihre Fachkolleginnen sind, au f d i e sieihre Kontaktängste projizieren . Und nicht nur die Kontaktängste, son-, dern nahezu alle selbst empfundenen Sozial isationsdefizite werden imKolleginnenbild zu einer Negativkarrikatur des Phys ikdrs hochstil isiert,zu einer blaustrümpfig-freudlosen Arbeitsmaus, zum schwarzen Schaf parexcellence. Hier könnte ein wesentl icher Sc hlüsse l zum Verständnis desspezifischen Sozia l isationsprcfils von Naturwissenschaftlern 1 iegen.Im übrigen wird man unter diesen Umständen Abiturientinnen wohl kaumguten Gewissnes die Aufnahme eines Phy s ikst udiums empfehl en könne n, dasie als vorbestimmte Opfer der Angstabfuhr ihrer männl ichen Kommi l itonenvon Anfang an keine Chance haben dürften.41) Die speziell auf physikerinnen gemünzten Antwortvorgabe n tlunerotis ch" und"geschlechtslos" wurden von Physik s tudenten übe rdurchsc hnittlich, die Vorgabe"attraktiv" unterdurchschnittlich angekreuzt - nach Anme rkung 38 ein deutlicherHinweis auf die männliche Herkunft des Vorurteils.


- 37 -Davon abge s ehen fügt s ich a uch dieses S~ezifikum sowo h l in die Sozial ­flucht - al s auch in die Priester-Hypothese best e ns ein. Es dürfte sichdaher durchaus lohnen, in Zukunft beiden Hypothe s en eine erhöhte Aufmerksamkeit zu s chenken. Insbesondere in Hinbl ick auf die Priesterthesebiet e t e s s ich an, auch hi s tori s ches und pOliti s ch- sozio l ogischesMate~ial zu ihrer Üb e rprüfung heranzuziehe n.Davon so ll te die Tat s ache, daß die Bibe l der modernen Priester beweisbar,'ihre Wunder echt sind, nicht abhalten. Denn der ideologische Anspruchder Naturwissenschaftler geht schon läng s t weit über die Schaffungund Verkündigung e iner bloßen Naturtheorie hinaus. Nicht zuletztwegen seiner Nähe zu ökonomis~i s ch - technokratischen Sichtweisen der Gesell s chaft- 42 ) kommt dem natur'wi ssenschaft li chen Weltbild mehr und mehrd i e Funktion eines Prototyps bzw. Paradigmenträgers zukünftiger Weltauffassungenzu. Dabei haben die neuen Weltdeuter info lge der partiellenMaterialisierbarkeit ihrer Ideologien gegenüber dem Klerus a 'l's ihremHistorischen Vorgänger einen' doppelten Vorteil: Ihre Welt- und Gesellschaftsdeutungkommt ~cheirbar ohne das Elem~nt des GL aube ns aus, unds ie s ind darüber ' ~i ~ aus zunehme nd weniger auf eine bloße Zuarbe itsfunktionfür die. jeweils herrschende Klas se angewiesen: Im Zweifelsfallkann die wissen schaftl ich-techni s che Intell igenz di e modernen Produktivkräfteauch schon mal in eigene R.egie überne hmen.42) Ve rgleic he hie r zu etwa Jens Pukies , Da s Verstehe n der Naturwisse nschafte n.Braunschweig 1979.


- 39 -PHYSIK UNDINDUSTRIEARBEITEin pragmatischer Versuch zur Vermittlung der sozialenDimen s ion der Phys ik im Grundstudium!_Q_b_~_LJ;:1. Der Gese 11 schaft sbezug des Phys i kstud i ums .......... S. 402. Physik und Industriearbeit3. Die inhaltliche Konzeption des Projekts3.1. Der Physiker in der Industrie3.2. Die Betriebshierarchie3.3. Dequal ifizierte Industriearbeit3.4. Die BetriebsbesichtigungS. 43S. 46S. 47S. 49S. 50S. 524. Die o rgani satorische Konzeption des Projekts ......• S. 544.1. Der integrierte KursS. 544.2. Unser o rganisatorische s KonzeptS. 565. Real isierungsprobleme ............................. .6. Erste Erprobungserfahrungen ..................... .. .6.1. Das Kompromißprogramm6.2. Die Vorbereitung des Betriebsbesuchs6.3. Die Betriebsbesichtigung6.4. Die Bilanz7. Literatur . ..... ..... .. ............ ..... ; .......•...S. 59S. 62S. 62s. 63S. 65S. 66S . 68


,- 40 -1 . Der Gesellschaftsbezug des PhysikstudiumsEs ist zweifellos ein Verdienst der Studentenbewegung,daß sie auch den Studenten der Naturwissenschaften - wennaucL mit geraumer Verspätung - die gesellsch


- 41 -wie sie etwa von Huber (1974) und speziell für die Naturwissenschaftenvon Reiß (1976) und Bürmann (1977) . zusammenfassendreferiert und interpretiert worden sind, bestätigt.Danach zeichnen sich Lehrer und Studenten der theoretischenNaturwissenschaften vor ihren Kollgen und Kommilitonenanderer Fachbereiche im statistischen Mittel B.a. dadurchaus, daß sie ein besonders leistungsorientiert-verinnerlichtesInteresse an ihrem Fach bzw. ein relativ autoritativesVerhältnis zu ihrer Wissenschaft haben; zugleichjedoch auf die gesellschaftliche Begründung dieser Wissenschaftoder auf sonstige fachübergreifende Fragestellungenwenig Gedanken verschwenden, wie sie im übrigen auch ganzallgemein einem politischen, sozialen oder emotionalen Engagementtendenziell eher reserviert gegenüberstehen. Kurz:Studenten naturwissenschaftlicher Fächer suchen und findenErfolg und Identität eher in der Beschäftigung mit sozialfernenSachproblemen als, im gesellschaftlichen Umgang mitihrer Umwelt bzw. ihrer Wissenschaft.Hiermit erklärt sich nicht nur die Verzögerung, mit dereÜe Studentenbewegung die naturwissenschaftlichen Fakultätenerreichte, sondern zugleiQh auch der wohltuend-pragmatischeCharakter der studentischen Reformaktivitäten indiesem Bereich. Bei der hochschulpolitischen Umsetzung ihrerneuerworbenen EinSicht in den geselkhaftlichen Charakterder Naturwissenschafter: bevor.zugten die naturwissenschaftlichenStudenten anstelle verbal-akti'onistischer Kraftakteeher eng an .ihren Fächern orientierte Reforminitiativen,mit denen sie sich und ihren Kommilitonen die Zusammenhängezwischen Wissenschaft und Gesellschaft möglichst konkretund zwingend zu erschließen hofften.Allerdings konstituierten sich derartige Initiativen zumeistin der Form von Veranstaltungen und ad-hoc-Arbeitsgruppen,die' Themen wie "Wissenschaftstheorie", "Gesohichte der Naturwissenschaften","Wissenschaft Und Kapitalismus" oderauch "Berufsperspektive" neben dem regulären Studium an-


- 4 2 -gingen. Nur selten gelang es, etwa in Verbindung mit jüngerenDozenten, ein Tutorium oder ein einsemestriges Seminarzu einem dieser Themen im Studienangebot zu plazieren.Doc~ stets handelte es s ich auch dabei um freiwillige Zusatzveranstaltungen,was i.a. zur Folge hatte, daß in ihnendie ohnehin schon politisch aufgeschlosseneren Studentenerheblich überrepräsentiert waren und von daher ihre Breitenwirkungzu wünschen übrig ließ.Angesichts dieses grundsätzlichen Dilemma"s kommt einem ander Universität Marburg unternommenen Versuch, die Beschäftigungmit der gesellschaftlichen Dimension der Naturwissenschaftenzumindes t punktuell in den Pflicht studiengangeinzubauen, eine besondere Bedeutung zu. Diesem Versuch gingAnfang der 70er Jahre am l'Iarburger Fachbereich Physik dieals Studienreformprojekt konzipierte Zusa mmenfassung mehrerertheoretischer und praktischer Anfängerveranstalturigenzu einer einheitlichen Einführungsveranstaltung in dasPhysikstudium, den sogenannten "Integrierten Kurs", voraus,auf den noch ausführlicher einzugehen sein wird. Wichtig isthieran vor allen Dingen, daß es nicht zuletzt den beteilig~ten Studenten gelang, im Konzept des "Integrierten Kurses'"u.a. die Forderung nach Einbeziehung gesellschaftlicherAspekte der Physik zu verankern.Allerdings bereitete die Realisierung gerade dieser Forderungzunächst die allergrößten Schwierigkeiten, \flS vor allemdem unzureichenden sozialwissenschaftlichen Kenntnisstandder Kursleiter und -tutoren und dem Fehlen dementsprechendaufbereiteten und leicht zugänglichen Materials zugeschriebenwurde. Hieraus ergab sich die Notwendigkeit einer längerfristigangelegten Vorausplanung, in deren Verlauf nichtnur eine entsprechende Kurseinheit entwickelt, sondern auchdas dazugehörige (Einarbeitungs-)Material für Dozenten undStudenten bereitgestellt werden sollte. Über die Konzeptionund erste Erprobung einer in diesem Zusammenhang entstandenengesellschaftsorientierten Studiensequenz im Rahmen desPhysik-Grundkurses soll im folgenden berichtet werden.


- 43 -2. Physik und IndustriearbeitDa die Entwicklung einer letztlich sozialwissenschaftlichenKurssequenz wegen des damit~ür Naturwissenschaftl er) verbundenenArbeitsaufwandes angesichts des ebenfalls außerordentlichhohen Vorbereitungsaufwandes für den GesamtkursnOtwendig durch eine "kursfremde" Arbeitsgruppe*) erfolgenmußte, war es bennders wichtig, ein Thema zu finden, dasnicht nur von den Studenten, sondern auch von den hauptamtlichenKursleitern und ~tutoren als besonders relevant undzwingend empfunden wurde. Wir knüpften daher an ein von allenBeteiligten immer wieder hervorgehobenes Defizit desPhysikstudiums an, dessen Aufarbeitung aller. Wahrscheinlichkeitnach auch die eher fachorientierte Mehrheit der Studentenund Lehrenden mit ihren Vorstellungen vom berufsqualifikatorischenNutzen des Studiums würde vereinbarenkönnen: Die Berufspraxis des Physikers. Hinsichtlich diesesThemas hatten die Diplomstudenten nicht nur das Gefühl, gegenüberden Lehrerstudenten, denen im Rahmender Fachdidaktikwenigstens ansatzweise die Möglichkeit zur Beschäftigungmit ihrer zukünftigen beruflichen Tätigkeit gegebenwurde, benachteiligt zu sein. Hier. hatte sich darüber hinausdas diesbezügliche studentische Interesse bereits in derErstellung eines Tutorium-Readers "Zur Berufsperspektivedes Diplomphysikers" niedergeschlagen, auf den wir bei derKursplanung und Materialzusammenstellung zurückgreifenkonnten.Gerade dieser Reader machte aber zugleich mch die Gefahrdeutlich, die in einer Beschränkung auf die bloße Berufsperspektivedes Physikers liegt: Die Physik erscheint dabeilediglich als Existenz.medium eines bestimmten Berufsstandes,dessen Berufsperspektive sich zwangsläufig auf Akaaemiker-*)Sie bestand ausschließlich aus Absolventen mathematischnaturwissenschaftlicherStudiengänge ohne sozialwissenschaftlicheStudienerfahrung: Hartmut Wenzel, Peter Tillmanns,Ernst Delle, Rainer Brämer.


- 44 -arbeitspl ätze und -gehälter sowie auf die entsprechendenMÖßlichkeiten des Karriereaufstiegs bzw. der (Standes-)Interes senvertretung verengt. Die Darstellung der Ambivalenzdes Verhältnisses von Phys ik und Ge s ellschaft reduziertsich dementsprechend weitgehend auf die eher moralische Verurteilungbürokratischer oder profitbestimmter Eingriffe ineine fiktive,unhinterfragt an akademischen Normen orientierteWissens chaftsautonomie. Daß die Physik auch noch inganz anderer Weise in der Berufspraxis in Erscheinung tretenkann, gerät dabei völlig aus dem Blickfeld.Um nicht der Gefahr einer ständischen Sichtweise und damiteiner apriori akademisch-parteilichen Herangehensweise andas Problem "Physik und Gesellschaft" zu unterliegen, mußtenwir daher das Thema Berufspers pektive in Richtung auf dieEinbeziehung anderer gesellschaftlicher Bereiche und Zusammenhänge,in denen die Physik eine Rolle spielt, erweitern.Wichtig war hierbei, nicht nur die explizite, sondern auchdie implizite Dominanz der verkürzten Physiker-Perspektivezu übervrinden, wie sie etwa in der Be schäftigung mit wissenscha!tspolitischenoder -ökonomischen Fragen zwangsläufigimmer wieder durchschlägt. Zugleich mußte die Erweiterungeinen ähnlichen Konkretheits- und Anschaulichkeitsgrad aufweisenwie das Berufsperspektive-Thema, wonten wir nichtein s elektives Abschalten der Studenten gerade hierbeiriskieren.Die Gefahr eines Bruches zwischen der Beschäftigung mit dereigenen BentSperspektive und der noh/endigen sozialwissenschaftlichenErweiterung dieses Problembereichs schien unsam wenigsten gegeben, wenn wir di'e Berufspraxis als Oberthemades Projekts beibehielten, jedoch das Spektrum der zubehandelnden Berufe über die vers chiedenen Sparten physikalischerPraxis hinaus zumindest prinzipiell auf alie irgendwiemit der Physik in Berührung kommendsnTätigkeiten aus ­weiteten . Für besonders Entschwend hielten wir hierbeidie Einbeziehung auch solcher Tätigkeiten, in denen diePhysik weder forschend noch anwendend gehandhabt, sondern


- 45 -von den Betroffenen lediglich passiv erfahren wird - etwaindem sie diesen in vergegenständlichter Form an ihrem Ar~beicsplatz, also in ihrem Arbeitsgerät oder -produkt, entgegentritt.Die Ergänzung der Berufsperspektive um die andere, von derMehrheit der Beschäftigten erfahrene Seite der "Verwissenschaftlichungder Produktion" "erschien uns indes nicht nurfür die zukünftigen Diplomphysiker, die im Rahmen ihrer späterenindustriellen Tätigkeit durchaus mit sehr verschiedenenEbenen der Verwertung von Physik in der Produktion InBerührung kommen werden, sondern auch für zukünftigen Physiklehrerbedeutsam, deren in aller Regel sehr esoterischesWissenschaftsbild (Clemens/Brämer 1977) dringend einer massi~ven Korrektur bedarf. Die Kenntnisnahme und Auseinandersetzungmit der Art und Weise, wie die Mehrheit der Arbeiterund Angestellten die Physik in ihrer beruflichen Tätigkeiterlebt, hat also nicht nur für die Diplom-, sondernauch für die Lehrerstudenten berufsqualifikatorischen Charakter,zumal sich diese Mehrheit in der Population der "allgemeinbildendenSchulenunmittelbar reproduziert.Damit sind die wesentlichen Gründe genannt, die uns dazubewogen haben, der von uns konzipierten Kurssequenz dasThema "PhYSik und Industriearbeit" zu geben. Als curricularerAnknüpfungspunkt für eine solche Sequenz bot sichder Kursblock "Elektromagnetisc.he Vorgänge" an, da vonder in der Industrie beschäftigten guten Hälfte aller Physikerabermals die Hälfte in der Elektroindustrie arbe·i tetund daher von hier aus der berufsperspektivisch repräsentativsteTätigkeitsbereich für zukünftige Diplom-Physikerangegangen werden konnte. Hinzu kam, daß von den wenigengrößeren Industriebetrieben Marburgs zwei der Elektrobrancheangehören, so daß die uns unumgänglich erscheinendeerlebnis- und erfah~mäßige Fundierung der im Projektgewonnenen Einsichten ohne hemmenden Aufwand am Ort selbsterfolgen konnte.


- 46 -3. Die inhaltliche Konzeption des ProjektsNaßgebend für die inhaltliche Strukturierung der Kurssequenz"Physik und Industriearbeit" war die Vermutung, daß' die Mehrheit der Physikstudenten aller hochschulpolitischenund -didaktischen Erfahrung nach dem dominant politischsozialen'bzw. sozialwissenschaftlichen Impetus des Vorhabenstrotz seines berufsqualifikatorischen Aspekts vermutlicheher reserviert oder gar ablehnend gegenüberstehen würde(s.o.). Dem von den physikalischen Fachvertretern nochbeständig geschürten Vorurteil, Soziologie habe weniger etwasmit seriöser Wissenschaft, dafür aber um so mehr mitpurer Ideologie zu tun, wäre eigentlich nur dadurch wirksamzu begegnen gewesen, daß man den Physikstudenten spezielldie Arbei ts- und Industriesoziologie als "ebenso methodischanspruchsvolle wie ergebnismäßig abgesicheTte Wissenschaftvorgestellt hätte. Dies war jedoch aus zwei Gründen nichtmöglich. Zum einen stehen die dementsprechenden positivistischenAnsätze und Arbeiten der Soziologie durchweg in derGefahr, mit ihrer ebenso "objektiven" wie affirmativen BesChreibungder vorfindlichen Verhältnisse zugleich auch deren Unveränderbarkeitzu suggerieren undmmit deren politisch-sozialeHandlungsdimensionen auszublenden. Zum anderen wären gestandenesozio-chinesische Texte von den im Umgang hiermitvöllig ungeübten Physikstudenten inhaltlich kaum zu ~ewäl-' tigen gewesen, was nicht nur ihren Informationswert infragegestellt, sondern die herkömmlichen Vorurteilsbarrierengegenüber der Soziologie vermutlich nur durch neue Frustrationsbarrierenersetzt hätte.Da andererseits ein völliger Verzicht auf faktenreichdistanziertesoziologische Darstellungen den Ideologievor- 'behalt allzu lelch-: aktiviert hätte, entschlossen wir unsbei oor Zusammenstellung der Projektmaterialien zu einemKompromiß ,: Sofern rein soziologische Texte Verwendung fanden,wurden von uns speziell auf das jeweilige Thema bezogeneAuszüge erstellt, die, entsprechend gegliedert und mitZwischenüberschriften versehen, auch dem soziologischen


- 47 -Laien möglichst unmittel bar aus sich selbst heraus verständlichsein sollten. Ergänzt wurden diese Textauszügedurch populärere bzw. kritischere Texte etwa in der Artvon all gemeinen Informationsschriften oder von engagiert­,anschaulichen Erfahrungsberichten.Bereitgestell t wurden derartige Material,ien für insgesamtdrei Themenbereiche, die in ihrer Abfolge der intendiertenErweiterung des Problembewußtseins von der unmittelbarenBerufsperspektive des Physikers über die Lokalisierung dereigenen zukühftigen Position und Rolle in der industriel~len Betriebshierarchie bis hin zu den sozialen Formen, indenen die Physik den Beschäftigten auf den unteren Betriebsebenenentgegentritt, entsprachen. Das Haupziel der Materialauswahlbestand darin, die soziale Bedeutung und Funktiondes Physikers und der Physik im Gesamtkontext der industriellenProduktion herauszuarbeiten und damit' ,die Voraussetzungzu ihrer , Relativierung . bzw~ Hinterfragung zuschaffen. In welchen Schritten und über welche Teilziele wirdieses Hautpziel zu erreichen hofften, läßt sich am bestenanhand einer kurzen, auf Nachahmug spekulierenden Charakterisierungdes bewußt knapp gehaltenen Materialgerippesverdeutlichen.3.1. ~~~_Eby~~~~~_~g_S~~_!gS~~!~~~Wie bereits erwähnt, konnten wir bei der Behandlung derphysikindustriellen "Berufsperspektive" im engeren Sinnebereits auf einen entsprechenden Reader zurückgreifen (TutoriumBerufsperspektive 1973). Wie in allen anderen Themenbereichenmußten wir wegen der notwendig geringen für dieKurssequenz zur Verfügung stehenden Zeit jedoch auch hierSchwerpunkte setzen. Am wichtigsten erschien uns die Beschäftigungmit den sozialen Aspekten der betrieb~ichenTätigkeit, die im übrigen auch im Reader im Vordergrundstanden: Das Verhältnis zu den Kollegen, Kooperation undHierarchie, Konkurrenz und Aufstieg, Leistung und Lohn u.a .•


- 48 -Hierbei besteht aller dings die Gefahr, daß die t atsächliches oziale Situation des Physikers ähnlich wie in der entsprechenden,weitergehenden Le s einteressen vorbehaltenen Studieder Deutschen Physikalischen Gesellschaft (König/Polke u.a.197~) auf eine relativ unzusammenhängende Sammlung statischerRollenel.emente verkür zt wird . Um dem zu entgehen, hieltenwir die Ergänzung des Materials zur betrieblichen Rolleund Funktion des Industriephysikers um den makrosoziologischenAspekt seiner. Zugehörigkeit zur "wissenschaftlich-technischeIntelligenz" für unumgänglich. Hierfür schien unsbesonders die Analyse von Güntheroth u.a. (1972) geeignet,zumal hierin besonders ausführlich auf die gegenwärtige Veränderungder wissenschaftlich-technischen Arbeitsplätze inder Industrie (Qualifikationsdifferenzierung, Tätigkeitsstandardisierung u.ä.) eingegangen wird (Auszüge aus S. 27-47). Die hieran notwendig anschließende Abhandlung der standesverbandlichenbzw. gewerkschaftlichen Interess envertretungder wissenschaftlich-technischen Intelligenz bedurfteallerdings u.E. ähnlich wie die entsprechenden Passagenim Berufsperspektive-Reader unbedingt der Ergänzung ducheinige Originalauszüge aus Hortleders kritischer Verbandsanalyse(Hortleder 1973, speziell S. 101 -120) sowie durch einexplizites Eingehen auf das Problem der Arbeitslosigkeit.Um uns nicht den Vorwurf machen zu l assen, wir hätten deninhaltlichen Aspekt der physikalischen Tätigkeit völlig unterschlagen,"bereicherten" wir unsere Materialzusammenstellungabschließend noch um das Berufskundeblatt "Physiker"der Bundesanstalt für Arbeit (1973). Wir hätten diesesich angesichts des anderen Materials ohne weiteren Kommentarselbst ad absurdum führende Darstellung einer heilenPhysikerwelt gerne durch eine arbeits soziologische Tätigkeitsanalysedes industriellen Physikerjobs ersetzt, uminsbesondere auch den Lehrern ein realistisches Tätigkeitsbildder von ihnen ansonsten ausschließlich als kognitivesKonstrukt erlebten Physik zu vermitteln, doch fand sichderartiges in der uns zugänglichen Literatur auch nichtansatzweise.


- 49 -3. 2 . Q~ ~ _~~!~~~2~h~~~~~~h~~Di e Konfrontation des bislang gewonnenen Einblicks in diesoziale Dimension physikaktiver Tätigkeiten mit der demgegenüberinhaltlich und sozial entleerten Arbeitsrealitätall derer, die die Verwissenschaftlichung der Produktionlediglich als rein passive Anhängsel der Maschinerie erleiden,setzt bei den Studenten zunächst die überwindungihrer auf die eigene fachliche Berufsperspektive fixiertenBlickweise voraus. Der im ersten Themenbereich bereitsangelegten Loslösung vom fachlichen Aspekt soll daher nunauch die Distanzierung vom im engeren Sinne beruflichenAspekt folgen. Hierzu erschien uns besonders die distanzierteBetrachtungsweise der Betriebssoziologie geeignet,wobei wir uns wiederum auf einen Schwerpunkt beschränkenmußten:' Die Betriebshierarchie •Unsere diesbezüglich vermutlich etwffi dilettantische Materialsuchein der Bibliothek der Fachrichtung Soziologieführte uns auf zwei unterschiedliche soziologische Herangehensweisenan das Problem der Betriebshierarchie . Zumeinen wird die formelle Organisation des Industriebetriebs,sein hierarchisches Organisationsgefüge in den Mittelpunktder Darstellung gestellt, wobei die uns hierfür prototypischers cheinende Einführung in die Industrie- und Betriebssoziologievon Wolfram Burisch (1971) zwischen der funktionalenOrganisation, der Befehls- bzw. Verfügungshierarchieund dem Statussystem .innerhalb des Betriebs unterscheidet.Arbeiten wie die von Claessens/Fuhrmann u.a. (1960) über"Angestellte und Arbeiter in der Betriebspyramide" machendemgegenüber die Betriebshierarchie stärker an den Anforderungenund Inhalten der verschiedenen Tätigkeiten festund kommen so zu einer sehr detaillierten Erfassung derunterschiedlichen Handlungsebenen innerhalb der industriellenProduktion. Da sich beide Ansätze darin ergänzen, dasBlickfeld des Betrachters nachdrüklich von der Spitze derBetriebspyr ami de, zu der die für Physiker offenstehendenPositionen betriebssoziologisch ausnahmslos zählen, auf die


- 50 -sehr viel breitere Basis zu verschieben, fertigten wirAuszüge aus beidenangeführten Arbeiten an, im zweitenFall erstmals mit dem Beispielschwerpunkt Elektroindustrie.Ähnlich wie im Themenbereich 3.1. lassen auch hier die reinsachinformativen Darstellungen infolge ihres statisch-deskriptivenCharakters die Frage nach den politisch-sozialenUrs:>.chen und Hintergründen des zum Teil akribisch erfaßtenIst-Zustandes offen. Hier hilft abermals der bereits erwähnteRowohlt-Band über die wissenschaftlich-technische Intelligenzweiter (Güntheroth 1972), in welchem eingangs die historischeEntwicklung der Arbeitsplatzstruktur in der Elektroindustrieals exemplarischen Beispiels eines "monopolistischenund auf wissenschaftlichen Ergebnissen fundiertenIndustriezweigs" dargestellt wird (Auszüge S. 14-26). Inleicht lesbarem Stil erfährt man hierin nicht nur wesentlichesüber die ambivalente Allianz von Wissenschaft undIndustrie, sondern vor allen Dingen auch über die zunehmendevertikale Differenzierung des Produktionsprozesses imWege der Konzentration aller geistigen und Verfügungs-Potenzenauf die Betriebsführung und einige wenige ihr angegliederteAbteilungen bei gleichzeitiger arbeitsteiligerDequalifizierung und normierter Monotonisierung der unmittelbarenProduktionstät:lgkeit. Die geistige Entleerung derHandarbeit wird so als notwendige Bedingung für die Existenzhochkonzent.rierter Kopfarbeitertätigkeiten wie etwader des Industriephysikers erfahren •. 3.3; ~~g~~1!f!~!~~!~_!n~~~!~!~~~2~!!Die grundlegende Erfahrung der inhaltlichen und sozialenPolarität industrieller Arbeit bedarf nunmehr noch einerdem Themenbereich Berufsperspektive (3.1.) gleichgewich­'tigen Fundierung durch eine eingehendere Beschäftigung mitden mehrheitlichen Schattenseiten wissenschaftlicher Produktion.Das Schwergewicht des dritten Themenbereichs mußdaher auf den qualifikatorischen- und soziale.n Aspekten derelektro-industriellen Massenproduktion (Fließfertigung,Stückakkord) liegen.


- 51 -Der Vollständigkeit haber stellten wir auch kurze L~teraturauszügeüber Berufsstruktur und. Arbeitsgestaltung aufder mittleren Produktionsebene (Ingenieure, Techniker,Meister, Facharbeiter) bereit - so etwa einen entsprechendEmAuszug aus "Beruf aktuell" (Schwerpunkt Elektroberufe)sowie jeweils einige Passagen über Facharbeitertätigkeitenaus der Rowohlt-Fassung der Kern/Schumann-Analyse (Bahrdtu.a. 1970) und der Qualifikationsstudie von Baethge u.a.(1974). Entscheidend für die EinbeziehU1)g gerade der beidenletztgenannten Quellen war dabei allerdings in erster Liniedie durch sie zugleich vermittelte Einsicht in die Aktuali-. tät des beruflichen Polarisierungsprozesses in der mechanisiertenund automatisierten Industrie, in welcher nunmehrauch die unmittelbare Produktionsarbeit zunehmend nach qualifikatorischenGesichtspunkten vertikal ausdifferenziertwird (z.B. im Elektrobereich: Instandhalter und Maschinen-. bediener) •Eine geradezu minutiöse Darstellung der Arbeitssituation imBereich der industriellen Massenfertigung gibt Otto Graf(1959) in seiner arbeitssoziologischen Untersuchung unqualifizierterIndustriearbeit (u.a. auch in der Elektroindustrie).Die harte Faktizität der detaillierten Arbeitsanalysen,konkretisiert duch die Einbeziehung der die Arbeitsplätzejeweils .ausfüllenden Personen, erzeugt Bet.roffenheitauch trotz der betont nücrrernen Sprache (Beispiel: "Arbeitsplatz10: 22-jähriges Mädchen, täglich 140 Minuten Fußweg,preßt 3504 Sicherungskörper für 60-Ampere-Sicherungen •••Arbeit im Stehen, vielfach mit Hand über dem Kopf gehoben,sehr ermüdend. Stark sinkende Leistungskurve (zweitniedrigsterRangplatz), Pausensumme 13,2 vH"). Der. hierbei im Vordergrundstehende Aspekt des konkreten Ablau~der Arbeit innerhalbeiner Schicht wird inder klassischen "Hawthorne­Untersuchung" noch um einige psycho-soziale Aspekte wie Artund Ausmaß der sozialen Kontakte unter den Arbeitern, ihreinformellen und affektiven Beziehungen, Statusdifferenzierungenu.a.m. erweitert, weshalb wir sie in einer geeignetenKurzfassung (Mucchielli 1972, S. 10-16) zur Vervollständigungder Graf'schen Darstellung heranzogen.


- 52 -viie s chon in den anderen Themenbereichen erschienen unsauch hier die faktenreichen Zustandsbeschreibungen trotzihres Konkretheitsgrades ergänzungsbedürftig, zurnal sichin ihnen die soziologi sche Perspektive deutlich als eineRealitätswahrnehrnun[; "von oben", also den unternehmerischenInteressen verpflichtet, erwies. Als Gegenstück hierzu fandenwir zwei den soziologi schen Analysen an Detailliertheit undRe alitäts nähe nicht nachstehende Erfahrungsberichte überelektro-indus'trielle Akkordarbeit aus der Sicht der Beiroffenen im Kurs buch 21 (1970). Insbesondere der Berichtvon Marianne Herzog über "Akkordarbeiterinnen bei AEG-Telefunken",in deren tUttelpunkt konkrete Schicksale und Lebensverhältnisseeinzelner Arbeiterinnen stehen, bringt eineFülle von Fakten und Eindrücken vorwiegend über die sozialenAspekte der Akkordarbeit. Ähnlich konkret und engagiert istauch der Aufsatz von Peter Schneider über seine betrieblichenErfahrungen bei Bosch.Erst diese beiden Berichte stellen in ihrer konsequentenHerausarbeitung der sozialen Gegenperspektive zur Rolle undTätigkeit der wissenschaftlich-technischen Intelligenz imBetrieb ein einigermaßen adäquates Gegengewicht zur physikstudentischenBerufsperspektive dar. Sie haben daher eineentscheidende Bedeutung für die AUsformung des Erkenntnisinteressesder Studenten an und bei der abschließenden Betriebsbesichtigung.3.4. ~!~_~~!~!~e~e~~!2g!!g~~gDie Betriebsbesichtigung - gleichsam die "experimentelleÜberprüfung" und Verlebendigung der Theorie - soll in ersterLinie die Perspektivaufweitung der Studenten festigenund die gewonnenen sozialen Einsichten vertiefen. Sie kannnur als unzureichender Ersaz des früher für Physikstudentenin ~1arburg verbindlich vorgesehenen "Industriepraktikums"(4-8 Wochen in handwerklichen Produktionsabteilungen)angesehen werden, von dem sie sich jedoch andererseitsdurch ihre theoretische Vorbereitung abhebt. Diese Vorbe-


- 53 -reitun~ i s t auf der Basis der beschriebenen Literatur soweitzu konkretis ieren, daß die Studenten unter Hinzuz-iehungvon Selbstdarstclluncen (Jubiläumsschrift, PR-Material)und Prospekten (Produktionsverfahren und Produktpalette)der zu besichtigenden Firma selbständig in der Lage sind,vorab einen detaillierten betriebsbezogenen Fragen- und- Beobachtungs katc:log zu erstellen.Das unmittelbare s oziale Erlebnis der Betriebsbesichtigung,d i e unbedingt direkte Kontaktmöglichkei ten--mi t Betriebsangehörigenauf allen Ebenen der Produktion einschließensoll.te, i s t keineswegs durch entsprechend es "Anschauungsmaterial"wie Diaserien oder Filme zu ersetzen, auch wennes insbesondere über unqualifizierte Tätigkeiten .-.:1_ ~tlerweile(im Rahmen der Arbeitslehre) sehr eindrucksvolleLehrfilme des Münchener "Instituts für Film- und Bild inWissenschaft und Unterricht" gibt (z. B •. "Am Arbe i tsplatz :eine Akkordarbeiterin", "Im Betrieb: gerechter Akkord"."Der Mensch in der automatisie-rten Fertigung" u.a.m.). Dietheoretisch gewonnenen Einsichten in die reale Ambivalenzdes Verhältnisses von Wissenschaft und Produktion erfahrenjedoch ihre notwendige affektive Fundierung nur durch dievon persönlichen Kontakten bestimmte Sozialerfahrung einerkonkreten betrieblichen Situation.Dies ist nicht nur für zukünftige Diplomphysiker. sondernauch für angehende Physiklehrer von wesentlicher Bedeutung.Denn die Universitätsausbildung orientiert Lehrer- ebensowie Diplomstudenten kognitiv und affektiv nahezu ausschließlichauf ihr Fach. nicht jedoch auf die im Mittelpunkt ihrer (Böltszukünftigen Tätigkeit stehenden konkreten (Schüler-)Subjekte. 1978)Die gezielte Kontaktaufnahme zu diesen Subjekten in ihrernicht zuletzt von der Physik bestimmten (späteren) produktiv~nund sozialen Existenz läßt daher vielleicht nicht nurdie Diplom-. sondern auch die Lehreranwärter den Stellenwertund die Rolle ihres Faches für und innerhalb ihrer späterenTätigkeit etwas distanzierter betrachten zugunsten einerstärkeren Wahrnehmung der sozialen Dimension des zukünfti-


- 54 -gen Berufsfeldes. Und ganz nebenbei lernen speziell zukünftigeLehrer vielleicht auch noch, wie man später selbereinmal im Interesse eines sUbjekt- und praxisbezogenenUnterrichts eine Betriebserkundung vorbereitet, ohne vorlauter Wissenschaft und Technik die Situation der davon betroffenenMehrheit zu übersehen.4. Die organisatorische Konzeption des Projekts4.1. Q~~_f~E~g~~~~E~_~~~~Hauptkriterium für die organisatorische Gestaltung derKurssequenz "Physik und Industriearbeit" war deren möglichstunauffällige Einpassung in den obligatorischen Studiengang des"Integrierten Kurses". Sie sollte nicht schon organisatorischals Fremdkörper ausgemacht werden können und damit aufgesetzt oderandersartig wirken, um nicht dem oben angesprochenen VorurteilVorschub zu leisten, hier handle es sich um bloßes "Ideologisieren".Hieraus resultierte eine starke Prägung ihres organisatorischenKonzeptes durch die didaktischen Vorgaben des IntegriertenKurses und seines methodischen Rahmens,auf den daher zunächstkurz eingegangen sei.Ausgangspunkt der sich schließlich im Konzept des "IntegriertenKurses" konkretisierenden Reformüberlegungen war die Feststellung,daß sich die verschiedenen Anfängerveranstaltungen immerstärker verselbständigten und daß sie von immer weniger Studentenbesucht wurden. Als ursächlich für den Höhrerschwundwurde in erster Linie ein zu geringes Motivationspotential sowieeine unzureichende Arbeitseffektivität der herkömmlichen Veranstaltungenangesehen. Dies hatte u.a. zur Folge, daß die Anforderungenan die Studenten in der Synthese des Dargebotenenaußerhalb des Lehrbetriebes (z.B. Prüfungsanforderungen) inunzumutbarer Weise zunahmen.Diese Probleme führten zur Idee eines Integrierten Kurses, indem die Grundvorlesung mit den diesbezüglichen "Ubungen"


- 55 -sowohl der Ver~ittlung der entsprechenden "mathematischenHilfsmittel" zu einer Einheit zusammengefaßt wurden. Damitwar zugleich eine inhaltliche Reorganisation tier Einführungsveranstaltungenverbunden: Anstelle einer lückenlosen Aneinanderreihungphysikalischer Inhalte sollte ein System vonparadigmatischen Kategorien treten, das sich als Orientierungsrahmenfür das Verständnis und die sachgerechte Einordnunginhaltlicher Zusammenhänge sowie für die selbständige Anwendungder eingeführten physikalischen Begriffe verstand.Diese Kategorien wurden thematisch in Untereinheiten (=Blöcke)gegliedert, in denen jeweils ein. grundlegen~es Abstraktionsschemader Physik behandelt werden sollte; die hierzu gehörendenErfahrungstatsachen sollten sich den Teilgebieten der(klassischen) Physik zuordnen lassen.Darüber hinaus wurden mit dem Integrierten Kurs auch andereLehrformen auf der Basis einander abwechselnder Plenar- undGruppenveranstaltungen ("Integriertes Tutorium") eingeführt,wobei die Plenarveranstaltungen zu Beginn den Stoff des Blocksumreissen, einen roten Faden für die Arbeit setzen und am Endeggfls. durch Zusammenfassungen der Ergebnisse der Gruppenarbeit denBlock abschließen sollten, während in der Gruppenarbeit demgegenüberder wesentliche Teil des Stoffes bearbeitet wurde.Ein wichtiges Lehrziel dabei war die Förderung des selbständigenund zielbewußten Arbeitens, Denkens und Handeins der Studenten.Als weiteres wichtiges Lernziel wurde u.a. die Befähigung angesehen,daß die Studenten die Funktion der Physik innerhalb derGesellschaft - insbesondere den gegenwärtigen Zustand der Verwertungvon Physik - erkennen und kritisieren können. Für die inhaltlicheGestaltung des Kurses bedeutete das die Integrationhistorischer, philosophischer und ökonomischer Perspektiven,wobei auch die Diskussion von Problemen der späteren Berufssituationder Studierenden mit eingeschlossen werden sollte.Zunächst wurden im Rahmen des Integrierten Kurses zum "Gesellschaftsbezugder Physik" jedoch nur Einzelveranstaltungen durchgeführtbzw. freiwillige Zusatztütorien angeboten, die sich i.a.nicht auf einen einzelnen Block, sondern auf die Thematik des


- 56 -ganzen Kurses b ezogen . Im Erfahrungsbericht zum "IntegriertenKurs" (Autorenkollektiv 1973) stellten die- Veranstalter h i erzuselbstkritisch fest, daß s ie damit ihren selbstgesteckten Anspruchschon deshalb nicht erfüllen konnten , weil die gesellschaftsorientiertenKurselemente durchweg nur unzureichend indie ansonsten rein fachorientierte Kursvorbereitung einbezogenwurden und somit die Kluft zwischen Fach~ und Zusatzstoff vonvornherein angelegt war.4. 2. ~~~~~_2~g~~~~~~2~~~~~~~ _ ~2~~~E~Wie bereits erwähnt, bot sich als curricularer Anknüpfungspunktfür die Kurssequenz "Physik und. Industriearbeit" der Kursblock"elektromagnetische Vorgänge" an, da hier mit den Begriffenelektrische Ladung, elektrischer Strom, elektrisches und magnetischesFeld, Potential, Spannung, Influenz, POlarisation, Magnetisierungund Induktion sowie mit deren Verknüpfungen und praktischenAnwendungen letztlich physikalische Grundlagen der Elektrotechnikund damit der Elektroindustrie behandelt werden. Um dieKluft zwischen diesem Stoff und unseren darüber hinausgehendenIntentionen so minimal wie möglich zu halten, war ursprünglichsogar geplant, d~e einzelnen Inhalte der Blöcke direkt mit denentsprechenden ausführenden Berufen zu verknüpfen (z.B. denStromkreis mit dem Elektriker, die elektromagnetischen Wellenmit dem Rundfunktechniker oder die elektrischen Schalt- undSteuerelemente mit dem Arbeiter für die Fließbandproduktion).Der enge Zusammenhang zwischen dem Betreiben und der Verwertungvon Physik sollte so unmittelbar erkennbar sein, um die Kurssequenzals unentbehrlichen Lerninhalt der Fachausbildung erscheinenzu lassen.Da die damit verbundene völlige Vermischung von Fachstoff und Gesellschaftsbezugbei den Veranstaltern jedoch von vornhereinkeinerlei Durchsetzungschance besaß (s.u.), mußten wir uns mitder ~Zusammenfassungaller berufsbezogenen Kurselemente zu einem


- 57 -separaien "Unterblock " zufrieden geben. Die Gestaltung" diesesUnterblocks paßten wir jedoch vollständig den Lehrformen desIntegrierten Kurses an , indem wir ihn in folgende Abschnitteuntergliederten :- Vermittlung ein es StoffUberblicks und "roten Fadens" innerhalbdei einfUhrenden Plenu~s: In dieser Sitzung mußte dieein ihrer Mehrheit ehe.r reserviert ablehnende Haltung der Physik­"studenten aufgebrochen und di~ Beschäftigung mit den gesellschaftlichenAspekten ihres Tätigkeitsbereiches als notwendigherausgestellt werden .Bearbeitung konkreter Aufgaben innerhalb von Kleingruppen sowieVortrag , Diskussion und Zusammenfassung der Ergebnisse in denTutorengruppen . Die Themen für die Gruppenarbeit "sollten mitdem Hinweis, ein entsprechendes Thesenpapier zu erstellen, amEnde der Plenumssitzungen benannt und mit ausgewählter Litera­"tur an die Gruppen verteilt werden.- Betriebsbesichtigung als Vorwegnahme der Z.Z. im IntegriertenKurs noch fehlendffiEinbeziehung des Betriebs-Praktikums.- Zusammenfassung und Erfahrungsaustausch in einer (Plenums-)Diskussion: In dieser nicht vorstrukturieren Sitzung solltendie unterschiedlichen Erfahrungen und Ergebnisse zusammengetragenund besprochen werden, um weitere Einsichten in dasVerhältnis von Physik und Produktion zu gewinnen.Da der Gesamtb l ock von den Veranstaltern bereits auf 10 Doppelstundenvorgeplant war und der Zeitanteil des Unterblocks hiervonein Drittel nicht überschreiten sollte , standen für dessen vierAbschnitte insgesamt nur drei Doppelstunden zur Verfügung. Hiervonwurden der Gruppeharbeit und der Betriebsbesichtigung je 1 boppelstundezugewiesen, während die Einführung und die Zusammenfassungmit jeweils einer Einzelstunde auskommen mußten.Im Rahmen der Einführung sollte zunächst der Tätigkeitsbereich derPhysiker auf den des Industriephysikers e ingeengt und der Gegensatzzwischen Studien - und Berufsarbeitsschwerunkten erarbeitetwerden. Danach solrte der Aspekt industrieller Tätigkeit von demdes Physikers auf den seiner untergebenen Mitarbeiter, die zugleichauch als vormalige SchUler der Sekundarstufen I-Lehrer zu betrachtensind, erweitert werden. Es folgt ein historischer Abriß derEntwicklung der Betriebsstruktur im Bereich der Elektroindustrie


- 58 -und eine Darstellung ihres Zusammenwirkens bei der Produktioneiner Radior6hre. Dabei wird die geistig "kreative" und geistigentleerteArbeit .mit den entsprechenden Privilegien gegenübergestellt,ohne indes über die Betonung der Unterschiede die Gemeinsamkeitenverschiedener Ebenen der Betriebshier archie (Gewinnorientierung,Leistungsbewertung) gänzlich zu unterschlagen.Für die " experimentelle Erprobung" der Ergebnisse der beidenvorhergehenden Phasen des Projekts in Form einer Betriebsbesichtigungschwebte u~ zunächst vor , die Gruppen in unterschiedlicheBetriebe der Elektroindustrie zu vermi ttel n , um die g l eichentheoretischen überlegungen an verschiedenen Beispielen zuüberprüfen. Es war dabei an Betriebe wie z .B. das AEG-Zentrallabori n Frankfurt gedacht, in dem die "heile" Welt der Physikernoch in Ordnung ist , wie auch an die Elektrobetriebe mit Massenfertigung.Dieser Plan scheiterte jedoch an den angesichts der knappen Zeitund Mittel zu großen Anfahrtswegen. Im Stadtgebiet kamen schließlichzwei Unternehmen in die engere Wahl : Die Deutsche Fernsprechergesellschaftund die Monette. Nach Rücksprache mit Betriebsratund Betriebsverwaltung erschien uns die Monette geeignet,weil sie einerseits eine einfache Fertigungsstruktur (Hochstromisolation) hatte - hier bestand weniger die Gefahr ausufernderFachsimpeleien über komplizierte Elektronikprobleme wie in derFernsprechergesellschaft - und zum anderen innerhalb der Betriebsstrukturdie Probleme der Beschäftigten mit der Unternehmens ­leitung offener als anderswo diskutiert wurden. Die Unternehmens ­leitung, die die Betriebsbesichtigung durchführte, ließ sich inihrer Skepsis., was wohl auf sie zukomme ("Wir haben bisher nurSchulklassen durch den Betrieb geführt"), durch das Argument be ­ruhigen , daß e s sich hier um Physiker handle , die sich einenUberblick über ihre spät~re Tätigkeit in der Arbeitswelt verschaffenwollten.


- 59 -5. RealisierungsproblemeUm diese zumindest rein zeitlich sehr zurückhaltende Konzeptionbei den Veranstaltern des Integrierten Kurses durchsetzen zukönnen, begannen wir sehr früh, auf den wöchentlich stattfindenden"Koordinationssitzungen der Gruppenleiter" unsere Vorstellungenzur Diskussion zu stellen. Dabei halfen uns die Erfahrungen,die schon bei derEinführung des Integrierten Kurses gemacht wurden:Zur Frage der Organisation und Umordnung der Fachinhalte gab esseinerzeit wenig Dissens; dagegen pOlarisierte sich die Diskussionan der "Politisierung" der -Studenten, an Sinn, Zweckund Möglichkeiten, den Studenten eine "gesellschaftliche Anschauungbeizubringen". Die Gegner bezweifelten, ob dies Aufgabe desGrundstudiums sei, meinten, das "individuelle Wachsen der Persönlichkeit"könne man nicht "aus der privaten Sphäre lösen" und"sei jedes Menschen eigene Sache"; was man dem Studenten beibringenmüsse, sei jedoch, "nicht nur zu lernen, sondern lernen, sichfür sein Studium zu interessieren".Von daher stieß die "Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Aspek.tein den Integrierten Kurs auf Ablehnung vor allem von Seiten derProfessoren, die unter Berufung auf ihre Verantwortung als Hochschullehrervorschlugen, statt dessen die gesellschaftspolitischenProbleme "neben dem Lernprogramm in kleineren Gruppen ... zu behandeln",wobei lediglich "interessierte Hochschullehrer und Mitarbeiterals persönliche Tutoren fungieren" sollten.Die Aufspaltung der Entscheidung in zwei Problembereiche, einen,der "jedes Menschen eigene Sache" ist und damit ungeklärt und un­~ntschiedenbleibt, und einen anderen, in dessen Mittelpunkt organisatorische-Fragen stehen, die ohne persönlichen Bezugbearbeitet und zu erfolgreichen und harmonischen Lösungen geführtwerden können, deutet auf das Vorhandensein starker, durch erfolgreicheAbwehr persönlicher und "riskanter" Probleme befriedigter


-60 -H3rmonisierungsbestrebuncen hin : Indem man die Lösung der mitden organisatorischen Prob l em'en verbundenen poli tischen Problemezur Sache " interessierter Hochschullehrer und Mitarbeiter"macht und sie "neben dem Lernprogramm ... behandeln" läßt ,bleibt doch das GefUhl gewahrt , an einer Lösung "konstruktiv"mitgewirkt und sie " zur Zufriedenheit aller" ("harmonisch" )gelöst zu haben.Um derartige Harmonisierungsbestrebungen in ihren negativen Wirkungenabzufangen und möglicherweise sogar positiv ,zu nutzen. versuchtenwir von "vornherein. die Veranstalter Uber Organisationsfragenin die Diskussion mit einzubeziehen. Die Gruppenleiterwurden durch ein Rundschreiben liber Begrlindung und Ziele des Projektsinformiert sowie liber den Stand der Vorbereitung und dieAbsicht der Arbeitsgruppe, mit den Veranstaltern gemeinsam diedamit verbundenen Probleme zu erörtern. Gleichzeitig wurde versucht,die Veranstalter persönlich fUr da ~rojekt zu motivieren,und zwar durch Hinweise auf das unharmonisierte Verhältnis vonpraxisferner Lehre und eigener Berufssituation, aber auch auf dievon den Studenten artikulierten Lernprobleme und ihren ,Wunsch,mehr von der Berufspraxis zu erfahren. Danach wurde' das Projektals konkreter 'AusfUhrungsplan vorgeschlagen .Wie erwartet wandte man sich in den verschiedenen Sitzungen vornehmlichden organisatorischen Fragen zu . Der vorgeschlagene Terminplanwurde eingehend untersucht und rasch flir "undurchfUhrba r"erklärt . Unser e AUffangstrategie war jedoch insoweit erfolgreich,als hieraus nicht eine ' generelle Ablehn~ng des Projekts resultierte,sondern in Identifikation mit der scheinbar nur organisatorischenProblematik ein eifriges He r umbasteln an den Projektdetailsanhob. Ihr~ grundlegende Abwehrha l tung~gen die ungewohnten An ­sprUche artikulierten die Veranstalter dabei in zahlreichen "Bedenken",ohne indes das Projekt als solches offen in Frage zustellen .


.- 61 -Kla s sif iziert man diese Bedenken nach den ihnen zu Grunde liegenden Abwehrmechanismen, so dominiert eindeutig der der Projekti on d e r eigenen Ängste auf die Studenten, etwa wenn das Arbeitsmat e r i al als zu theoretisch und angesichts seines auß~rfachlichenCharakt ers als zu arbeitsaufwendig charakterisiert ~ird."DieMe hrzahl der Studenten werden das Projekt überhaupt ablehnen"."Eine Diskussion über auch noch außerfachliche Dinge wird erstgar nicht in Gang kommen". "Man sollte keinen Zwang auf die Studentenausüben"(!).Eine andere Art der Abwehr äußert sich in dem Vorschlag, statteines Industriebetriebes ein Physikgroßlabor - gleich bekräftigtdurch ein konkretes Beispiel - zu besichtigen, oder in derSkepsis gegenüber der Ausweitung der Berufsperspektive auf andereals den Physikerberuf, oder auch in der Befürchtung, daß hierbeimoralische (und damit nicht "objektive") Wertungen ins Spiel kämen.Hier wird der Wunsch nach Rückzug in die anheimelnde "wertfreie"Welt eines .Physiklabors deutlich, der möglicherweise (im Sinned e r Bürmann'schen Fluchthypothese) durch eine grundlegende Angstvor allen "außerfachlichen Dingen" bestimmt wird.Abwehr liegt auch dem (schließlich erfolgreicheruVersuch zugrunde,das problematische P~ojekt in einen "Zw~henblock" auszulagernund an "interessierte Hochschullehrer" zu delegieren.Auf diese Weise gelingt es, die außerfachliche Störung und mitihr zugleich die daran interessierten Kollegen zu isolieren.Solche Abwehrtechniken haben lange Zeit die Bemühungen verhindert,soziale Dimensionen ins Fachstudium einzuführen. Gleichzeitigwirken sie sozialisierend im Sinne einer Festlegung der fachspezifischenAnpassungsnormen für die Studenten; denn durch die Einschränkungauf fachimmanente "objektive Fakten" verliert in derLernerfahrung der Studenten die soziale Dimension ihrer Tätigkeitzunehmend an Bedeutung.


- 62 -Das Ergebnis der Gespräche war insgesamt eine zwar erfolgreicheAbwehr d e r Veranstalter, das Projekt selber durchführen zu müs~sen, dies allerdings um den Preis des Zugeständnisses eines ein ~geschränkten ErprobungsprogramTIE . Hierin sollten solcheTutoriumsgruppen einbezogen werden, die sich mehrheitlichfür die Erprobung, b ereit fanden, für die sie dann aber in ihrerGesamthei t verbindlioh war. Dam'i t war zwar eine wichtige Voraus ­setzung unserers Projektes, nämlich dessert vollständige Integrationin den obligatorischen Studiengang,nur partiell erfüllt;doch erschien uns die zumindest interne Verbindlichkeitdes Projekt innerhalb der beiden Tutorengruppen, deren insgesamt25 Mitglieder sich mehrheitlich für eine Teilnahme ent ­schieden hatten, als a~sreichende Basis für eine erste Bewährungsprobeunserer Konzeption.6. Erste Erprobungserfahrungen6.1. Q~~_~~~E~~~~~E~~g~~~~Unter Berücksichtigung aller Bedingungen, die sich durch dieEinwände ßer Veranstalter des Integrierten Kurses ergaben, wurdefür die Erprobung die ursprüngliche Projektkonzeption infolgender Weise verkürzt: Zunächst sollten in einer halbstündigenGruppensitzung die Studenten von den Projektgruppen~itgliedernüber Aufbau und Zweck des Projektes informi~rt undfür zur Vorbereitung der Betriebsbesichtigung für Ku~zreferatezu folgenden Themen gewonnen werden: 1. Akkordarbeit, 2. Facharoeit,3. Ingenieurarbelt, 4. ~etriebshierarchie, 5. Interessenvertretung,6. ' Betriebsmaterialien.Nach viertägiger Vorbereitungs zeit 'auf der Basis der von uns zusammengestelltenMaterial~akete sollten innerhalb einer Doppe l ­stunde die Kurzreferate gehalten und in Hinblick auf die Erstellungein~s Fragen- und eines Beobachtung ~ katalogs für die Betrieb&besichtigung ausgewertet werden: Der Fragenkatalog sollte offi z i ender Betriebsleitung ~orgelegt werden, der Beobachtungskatalog demgegenüberlediglich den Studenten als Hilfe bei der Besichtigungdienen.


- 63 -Die Betriebsbesichtigung - drei Tage danach - stand im wesent~lichen unter der Leitung des Betriebes. Sie bildete den eigentlichenKern des verkürzten Kompromißprogramms, weshalb dieWeigerung der Veranstalter, für ihre Nachbereitung wenigstenseine Stunde Z~it zur Verfügung zu stellen, die Erprobung nochmalsgefährdete. Indes löste sich dieses Problem in unerwarteterWeise von selbst (s . u.).6.2. ~~~ _Y2~~~~~~~~~g _ 9~~_~~~~!~~~~~~~f~~In der halbstündigen Einführungssitzung waren gespannte Erwartungeinerseits und reservierte Skepsi~ andererseits zu beobachten.Im ganzen verhielten sich die Studenten rezeptiv,jedoch nicht ablehnend : Selbst hatten sie keine Fragen zu denDarlegungen, antworteten jedoch auf Fragen rasch und vielstimmig.Ein auffälliges Engagement zeigte sich bei der Verteilungder 6 Referatethemen: Sie waren innerhalb von 2 Minutenverteilt.Obwohl unter Zeitdruck wurden in der eigentlichen Vorbereitungssitzungfür die Betriebsbesichtigung di~ Richtzeiten fü~alle Referate ( ca . 5 Minuten) überzogen: Die Themen wurdenallgemein als sChwierig eingestuft und bemängelt, daß zu wenigVorbereitungs zeit zur Verfügung stand, um das Material aufzuarbeiten.Die Referate selbst konnten z.T. nur unvollständig wiedergege"benwerden, da "die N achf'olgenden auch noch etwas zu sagen"hätten. Die Diskussion wurde einstimmig auf die Erarbeitungsphasefür Frage- und Beobachtungskatalog verlegt, um Zeitfür das Referat zu gewinnen.Bemängelt wurde im einzelnen, daß für die Literaturarbeit dieAkzente nicht scharf genug gesetzt seien , daß bei der Arbeitsplatzbeschreibungfür die Akkordarbeit ein Beispiel für einenSchichtverlauf fehle, daß die Auszüge von Burisch und Claessensu.a. zur Betriebshierarchie zu hoch seien und daß der Hortleder­Text zur Interessenvertretung zu formal sei.


- 64 ~)Weitgehend selbständig wurden anschließend der Frage- 'und derBeobachtungskatalog erstellt. Dies wie auch das freiwilligeVberziehen der Doppelstunde um weitere 20 Minuten zeigt, wieweitgehend sich die Referenten mit den Inhalten ihrer Referateidentifizierten und die Gruppe auf die Intentionen des Projektseingegangen war. Angesichts der Probleme, wie sie bei denVeranstaltern sichtba~ wurden, ist dim zweifello~ als Erfolgzu werten, zumal der Schwerpunkt der Gruppendiskussion weitgehendauf der vom Projekt angestrebten Seite lag. Dementsprechenddominierte im Fragenkatalog das Interesse an den sozialen Verhältnissenim Betrieb: '1. Fragen zur Betriebsstruktur:Prozentuale Auf teilung der BeSchäftigten in Arbeiter- Angestellte,Männer- Frauen, Angelernte- Facharbeiter! Zusammenhang zwischenBetriebsleitung und "Besitzer"/ Gewerkschaftlicher Organisationsgradbei den Arbeitnehmern/ Aufgaben und Möglichkeiten desBetriebsrates bei ~onflikten/ Lohn- bzw. Gehaltsfestsetzungen,Akkordzeiten/ Wie werden Lehrlinge ausgebildet? Für welche Berufe?/Hat es einen Aus- bzw. Abbau der Lehrstellen gegeben?/Entstehen Probleme bei der Beschäftigung vo~ Gastarbeitern?/ Gibtes ein Prämiensystem für Verbeseerungsvorschläge?/ Welche Sozialleistungengibt es im Betrieb (z.B. Werksarzt, Betriebssport,Kantine, Altersversorgung etc)?/ Welcher Anteil der Gewinne wirdwieder investiert?2. Fragen zu Arbeitsplätzen :Gibt es einen Refa-Mann?/ Wie werden Akkordarbeiten festgesetzt?/Anteil von Männern und Frauen in der Akkordarbeit/ Altersstrukturder Akkordarbeiter/ Gibt es Schichtarbeit?/ Hat es in der Akkordbzw.Schichtarbeit Konflikte gegeben?/ Fluktuation im Akkordbereichund allgemein/ Wie groß ist der Anteil an Facharbeitern?/Wieviel Ingenieure bzw. Techniker gibt es im Betrieb?/ WelcheFachrichtung haben die Ingenieure bzw. Techniker?/ Gibt es betrieblicheFortbildungsmaßnahmen?/ Welche Aufstiegsmöglichkeitengibt es im Betrieb?! In welchem Umfang !Werden physikalische Erkenntnissean den Arbeitsplätzen benötigt?/ Wie werden wissenschaftlicheErkenntnisse in die Produktion eingebracht?/ Gibtes eine Forschungs- ,bzw. eine Entwicklungsabteilung?Im Mittelpunk.t des Beobachtungskatalogs stand der konkrete Arbeitsprozeß:Konkrete Formen sozialer Abhängigkeit/ Konfliktpunkte und -Situationeri/Arbeitshaltung der Akkordarbeiter/ Ruhepausen von Fach-


- 65 -arbeitern/ Kommunikation im Arbeitsprozeß/ Organisation undGestaltung der Produktionsarbeit/ Arbeitsplatzunterschiedehinsichtlich Kleidung, Möbel~ Klima, Lärm/ UnterschiedlicheKantinenversorgung und Kloausstattung/ Verhältnis Betriebsrat­Betriebsleitung.6 . 3 . Q~~_~~!~~~~~~~~~~b!~g~~gIm Laufe der eineinhalbstündigen Betriebsbesichtigung war ebenfallsein fehlender Hang zu technischen Fragen auffäl lig: Währenddie Führer bemüht waren, rasch durch den Betrieb zu kommen unddie Studenten nur zu kurzen Erklärungsaufenthalten um sich zuscharen, zerstreuten sich diese und versuchten, mit den Arbeiternins Gespräch zu kommen. Dabei wurden Fragen im Sinne desKatalogs gestellt , die von den Arbeitern bereitwillig beantwortetwurden: Zu den Arbeitsbedingungen (die Belegschaft bestehthauptsächlich aus angelernten Facharbeitern), zu Klima undLautstärke , Sicherheit im Betrieb , zur Kommunikation mit Ausländern(12 % der Belegschaft) , zum Akkord- und Prämiensystem sowiezum Verhältnis von Arbeitern und Ingenieuren, denen in diesemBetrieb neben der Laborarbeit sowohl die Kontrolle aller technischenAbteilungen wie auch die Beschaffung von Maschinen ob ­liegt .Während der abschließenden Diskussion des Fragenkatalogs mitden leitenden Direktoren und dem Betriebsrat in der Werkskantineerfuhren wir ein praktisches Beispiel für die Gestaltungvon Arbeitsplätzen und Erholungsbereichen (Kantine) durch denBetrieb : Abgesehen davon, daß die Arbeiter im übrigen Teil derKantine während unserer Diskussion zu Mittag aßen, mußten sieauch den Lärm der arbeitenden Maschinen -ertragen , die - durchPreßpappwände von der Kantine getrennt - über die Mittagspausehindurchliefen und die so laut waren, daß der Lärm sogardie Verständigung in der Diskussion behinderte .Mit dem Verlassen des Werksgeländes war die Diskussion keineswegszu Ende. Angeregt durch das Erlebte wurden in spontanen


- 66 -Diskussionsgruppen der Studen ten die gewonnenen Eindrücke ausgetauschtund ausgewertet . Auch hier zeigt sich in der unmittelbaren Betroffenheit der Studenten ein unerwarteter Erfolg desProjekts. An die Stel le der Abwehrmeehanismen , die wir bei denfortgeschrittenen Physikstudenten (Tutoren ! ) und Hochschu l l ehrer nder Physik erlebt hatten , trat hier betroffenes Engagement infol ge persönlicher sozialer Erfahrung .6 . 4 . 12~~U2 g@: ~~Es konnte daher nicht verwundern, daß die beiden Gruppen vons i ch aus - und zwar gleich einen Tag nach der Betriebsbesichtigung- die Mögliehkeit der Nachbereitung auf gri ffen. Ohnenennenswerte Beteiligung der Gruppenleiter berührte die vonden Studenten selbst strukturierte Diskussion in ca . einer3/4 Stunde drei Hauptbereiche : den Betrieb , die eigenmErkenntnisseund schließlich das Projekt selbst.Zum Betrieb wurde festgestellt , daß der Betriebsrat - schon weilvon der Arbeit freigestellt - privilegiert ist und dadur ch elneambivalente Rolle spielt . Nicht nur , daß er "die Kollegen"gegenüber der Betriebsleitung vertritt , sonder n er identifiziertsich auch i n gewisser Weise mit dem Betrieb und fängt z . B .Konflikte schon auf "früher Ebene" ab. Diese Rolle wurde auchverallgemeinernd bei den Interessenvertretungen überhaupt (z . B .Gewerkschaften) gesehen.Die Diplom- Studenten konnten hier über die Möglichkeiten derVertretung ihrer späteren Berufsinteressen diskutieren und derenGrenzen abstecken . Die Problematik, die ihn en später als gehobeneAngestellte eines Unternehmens begegnen wird, wurde amBeispiel Betriebsrat artikuliert: Die Ambivalenz von betr ieblichenund Arbeitnehmerinteressen, das Uber- bzw . unterordnungsverhältnisvon ökonomischen, fachlich-technisch en und sozialen


- 67 -Bedingungen von Produktion, die Wechselbeziehung von sozialerRolle und Bewußtsein. Darüber hinaus fanden sie das "Endeihrer kreativen Forschertätigkeit in einer geistlosen Akkordarbeit"wieder.Die Lehrerstudenten lernten im Rahmen der Besichtigung wesentlicheMerkmale der Berufsfelder jener Arbeiter kennen, die sieeinmal als Schüler am Fach Physik ausbilden werden. Sie" folgertenhieraus, daß die Lehrpläne diesen Erfahrungen gemäß geformtwerden müßten, um die Schüler nicht nur zur Auseinandersetzungmit wissenschaftlich-technischen Sachverhalten, sondern auch mitderen sozialen Rahmenbedingungen und Folgen zu befähigen. Zugleicherkartnten sie, wie wenig sie an der Universität ~uf ihrenBeruf hin ausgebildet werden.Zweifellos hat sich die Betriebsbesichtigung damit positiv aufdie Sensibilisierung der Physik-Studenten für ihre soziale(Berufs-")Umwelt ausgewirkt. Die soziale Abgeschlossenheit ihresStudiums konnte zumindest punktuell durchbrocheh werden, auchwenn man sich über die längerfristigen Auswirkungen eines derartigen Lichtblicks sicherlich keinerlei Illusionen hingebendarf. Dies schien auch den Stud~nten klar zu sein, denn sieforderten abschließend, derartigen auf die Praxis gerichteten Ergänzungenihres Studiums zUkünftig einen gewichtigeren Anteilan der Ausbildung zu geben. Zugleich kritisierten sie, daß dasProj ekt "Physik und Industriearbeit" auch in seiner verkürztenForm nicht nur bloß Fragen, sondern auch Antworten und Alternativenhätte bereithalten müssen.


- 68 -LiteraturH.-J. Apell, C. Bernhardt u.a., Erfahrungsbericht zum IntegriertenKurs "Einführung in die Physik". Vervielfältigtes Manuskriptl1arburg 1973Martin Baethge, F. Gerstenberger, H. Kern, M. Schumann, H.W . Stein,E. Wienemann, Produktion und Qualifikation, Hannover 1974.H.P. Bahrdt, Horst Kern, Martin Osterland, Michael Schumann,Zwischen Drehbank und Computer. Reinbek 1970.Hartmut Bölts, Kritik einer Fachdidaktik, Weinheim 1978Jörg Bürmann, Der "typische Naturwissenschaftler" - ein intelligenterVersager? In: Rainer Brämer (Hrsg.), Fachsozialis


- 71 -C h a 0 s o h n e Sub j e k tBildungszielvorstellungen akademischer LehrerstudentenI n haI t1. Fachidentität und Bildungsparzellierung ..•...••.•. S. 721 .1. Das Erkenntnisinteresse .....•..................... S. 721.2. Die Befragung ..................................... S. 762. Die quantitative Auswertung: Das Fach ist Trumpf. .S. 782.1. Fachspezifische Zielschwerpunkte .................. S. 782.2. Das Primat des Fachlichen ......................... S. 852.3. Das. klassische und das reformerische Bildungsideal............................................. S. 862.4. Das Fehlen des Subjekts "SchUler"..... . ........... S. 883. Fachspezifische Zielcharaktere .............. . ..... S. 913.1. Der Literat . . ........................... . ......... S. 923·2. Der Logiker .•..•••.•....••.••••............. •..... S. 953.3. Der Wissenschaftler •••.•.............•.•••..•..... S. 983.4. Der Naturfreund .••..•••••..•.••••..•..••••.•..•.•• S. 1013.5. Der Kosmopolit •••...•••..••••.•.••.•••.••..••••••• S. 1053.6. Der Funktionär •••••.••••.•••..•••. ; •••.•.••.•••••• S. 1073. 7. Der Erfolgsmensch ••••...•••.••...••••.•...••.••••• S. 1084. Der Lehrer im Zugriff der Fachsozialisation ••••••• S. 110


-72-1 . . Fachidentität und Bildungsparzellierung1 . 1 !2~~U~!:~~!'2!l:!!'2!~!!'2!~!:~~~~' Auch wenn es gutmeinende Pädagogen nicht wahrhaben wollen: WasBildung ist, mißt sich bei uns immer n


-73-die Schüler neuerdings "propädeutis2.h" auf die akademischen Disziplinen.Dem en~:spricht die Organisation der Lehrer aller ,Schularten nichtnur nach ihrem Stand, sondern auch nach ihrem jeweiligen (Haupt-)Fach. Den wissenschaftJ.ichen Gesellschaften der Hochschulle'hrerentsprechen die Berufsverbände der Fachlehrer auf der Oberschulebene. Dazwi.schen haben sich gewissermaßen als Transmissionsriemenin den letzten Jahren zahlreiche Fachdidaktikerverbände konstituiert,die -in der Regel unmittelbar den entsprechenden wissenschaftlichen'Fachverbänden angegliedert -die theoretisch-didaktische Führerschafthinsichtlich des gymnasialen Fachunterrichts beanspruchen.Der damit eröffnete direkte Zugriff der Fachwissenschaften auf denFachunterricht der "Höheren" Schule verlängert sich durch die Einbeziehungder Haupt- und Realschullehrerausbildung in die Universitätenbei gleichzeitiger Akademisierung ihrer Fachausbildung mehrund mehr auch in die "unteren" Bildungsebenen. Folgeri chti,g habensich auch hier bereits erste Fachdidaktikerverbände (wie die "Gesellschaftfür die Didaktik der Physik und Chemie") gebildet, dieihrerseits nun schon wieder die Differenzierung der Grundschullehrerausbildu'n.gund -tätigkeit nach fachlichen ,Schwerpunkten vorbereiten.Es ist also längst nicht me:'lr eine am Ideal der Universalitätorientierte Universität, die sich, vermittelt über die allgemeinePädagogik und Didaktik, Im Allgemeinbildungsanspruch der Gymnasienwiderspiegelt. VieJ,mehr greife:'l die untereinander weitgehend verbindungslosgewordenen Einzeldisziplinen der Hochschule unter weit­"ehander Urr,gehung der möglicherweise noch integrierend wirkendenErziehungswissenschaft immer direkter und tiefer in die Schulehi.nein und sichern hier mittels einer immer fachspezifischerenLel1.rerausbildung einerseits und über die Hierarchie der entsprechendenFachverbände als orgar::isatorisches Steuerungs instrument andererseitsihre angestammten Reservate. An die Stalle pädagcgischerIdeale ist die anarchische Konkurrenz der Fachvertreter getreten,der Kampf um die Bildungsinhalte ist weitgehend ein Kampf um fachlicheS-'::llndenanteile geworden, das B ildungssysterri zerfällt bis inseine untersten Ebenen hinein in un"':ereinander zu:~ehmend unververbundeneEinflußbereict1e, i-~nerhalt derer nur die jeweils zuständigenDislipliner. und sonst niemand etwas zu sagen haben.


-74-Kurz: Das Bildungssystem sinkt zunehmend zu einem bloßen Kolonialgebietder Universität herab, zersplittert unter dem Ansturm derSonderinteressen akademischer' Einzeldisziplinen • und die FachdidaktÜ:ersind deren K ~. lonisat6ren 1)Diese Entwicklung kann nicht ohne Folge~'l für das allgemeine Bildungsverständnisbleiben. An die Stelle allgemein verbindlicherBildungsziele mUssen mehr und mehr fachspezifische Sonderzieletreten, das angestrebte Persönlichkeitsbild des Schülers zerfälltzunehmend in unverbunden nebeneinanderstehende Persönlichkeitsaspekte.Diese ParzelIierung der bürgerlichen Persönlichkeitsfiktion indie babylonische Vielfalt ko~onialer Fachfiktionen ist als Antithesezum Mündigkeits- oder gar AIIseibgkeitskonstrukt der Pädagogikbislang noch recht unzureichend ausgeleucll.tet worden. Insbesonderefehlt es an empirischen Arbeiten in dieser Richtung, diezuallererst an der Front dieser Entwicklung, der Fachlehrerausbildung,anzusetzen hätten. Zwar gi.bt es eine Reihe von Arbeiten über.die Hochschulsozialisation von Lelrerstudenten 2), und von daherweiß man immerhin schon, daß diese Sozialisation primär eine Fachsozialisationist. Doch w~lche fachspezifischen Vorstellungen dieangehenden Le ;'lrer als unfreiwillige Bannerträger der zukUnftigenFachkolonisati.on der Schule im Rahmen dieser ihrer Fachsozialisationentwickeln, darüber gibt es unseres Wissens keine empirisch ver-,gle ichendE.n Erhebungen.1) Rainer Brämer: Wie dj.e Fachdidaktik die Allgemeinbil dung kolonialisiert.päd.extra H7/8 1978, S. 77ff.2) Einen einführenden Überblick über die bis 1973 publiziertenUntersuchunge'1- zur Hochschul- und Fachsozialisation der Lehrerstudentenund zum Berufsverständnis der Lehrer gibt Dagmar Hänsel.Weiterführende Arbeiten insbesond 7re zur Fachspezifität der Hochschul-und Berufss.ozialisation sind danach u.a. von Frech, Reiss undRUrmann vorgelegt worden.DagIl(8.r Hänsel: Die Anpassc:ng des Lehrers. Weinheim 1975H. W., F:.:-ech: Beru::'svorbere i tung und Fachsozialisation von Gymnasiallehrern (Studien '.md Berichte des Nax-Plank Instituts für Bildungsforsch1 mg,Band 34 Al. Berlin 197(,.Veroni.ka Reiss, F'achspezifische Sozialisation in der Ausbildung vonGymnasial] e.hrern mit naturwisföenschaftlichen Unterrichtsfächern.Neue Sammlung H LI /1975, S . 298 ff.Jörg BUrmanE: De r "typische Naturwissenschaftler" - ein intelligenterVersager? Dia Deutsche Schuie H5/1979, S. 273 ff.


-75-Um zu erfahren, wie weit das fachliche Kolonisationsbewußtsein an denStätter. seiner Genese, der unjver'sitären Lehrerausbildung, bereitsentwickelt ist und in welcher Form es sich im didaktischen Bewußtseinder zu',cünftigen Lehrer nieders·::hlägt, haben wi.r in Marburg162 Lehrerstudenten auf ihre Bjldungszielvorstellungen hin befragt.War dabei unser Hauptaugenmerk zunächst primär auf die naturwissenschaftlichenStudenten gerichtet, deren Fachorientierung bekanntlichbesonders ausgeprägt 'ist 3) , so gewann im Laufe der Unter-.suchung j edoch zunehmend der eigentlich nur 8.ls Illustration gedachte Vergleich mit anderen Fächern an Bedeutung. Die folgendeDarstellung der wesentlichen q.uantitativen und qlualitativen Ergebnisseder Befragung verzichtet gar völlig auf eine gesonderteHeraushebung der Nat1lrw:i.ssenschaftsstudenten, zumal es dem Leserein leichtes ist, den Rückbezug auf die Naturwissenschaften immerwieder herzustellen .Wichtiger erschien es uns demgegenüber, in der .Ergebnisdarstellungdie in diesem Ausmaß nicht erwartete Zusammenhangplosigkeit derfacrspc z. ifischen Bildungszielvorstellungen herauszuarbeiten. Offenbarzeichnen sich n i cht llJr die zukünftj.gen Naturwissenschaftslehrer,sondern auch ihre Kommilitionen der anderen Fächer' durch dasFehlen eines MindE·strnaßes an biJdungsintegrativer VorstellungskraftaL:s. Ihre zukünftige 'Tätigkeit stellt sich ihnen weitgehendnur als Verwirklichung ihrer F'achidenti tät roi t anderen Mitteln dar.l-lieran scheint selbst dje Studentenbewegung nichts geändert zu haben.Lediglich die Fachidentitäten als solche heben durch sje mehr oderweniger einschneidende Hodifikationen erfahre:.1. Der Versuch, dieseF'achidenti täten, wie s5.e sich in den geäußerten Bi IdungszielvorstelLmgenw1d""rsp1.egeln, at.:.f den Begriff zu bringen, bestimmt diefolgende Ergebnisdarste2.lung unserer Befragung. Auch wenn dieseErgebnisse ülfolge .ihrEr durch die spezielle l'Iarburger S1.tuationge ge benen B"sonrlerhE ibm n1.c 11. t vollständig verallgerne i.nerpar se indU r fter , geben sie doch wenigstens einen grundsätilichen Einblickin d en Stand der Djnge .3) Vg l. hierzu e-:wa Bürmann "1 979 (Anm. 2).


-76-1.2 ~:i~_~~f!:~g~!?:gAngesichts der Vielzahl der in den70erJahren veröffentlichten' UntersuchungBn über das politisch-pädagogische Bewußtseih vonLehrer (-Studenten) fällt das geringe Interesse auf, das dabei denBildungszielvorstellungen der Refragten gewidmet wird 4).Speziell eine womöglich vergleichende Analyse fachbezogenerRildu~gsin"';:er:;ti.onerltst uns ,lIlS neuerer Ze i t niGht bekannt. I:lsofernkam unserer Erhebung G.L"i e;eltlis.ser PiJ.J)tcharakter zu, was unsdazu veranlasste, e.i.ne möglichst offene Form der Befragung zuwählen.Der dementsprechende Verzicht auf den Einsatz eines differenziertenFragebogens hat überdie" den Vorteil, daß unbedachte Einschränkungendes möglichen Antwortspektrums (etwa durch Vorgabe von Rating- Skalensowie durch Beeinflussungen, die aus der Abfolge der Fragen resultieren)vermiedenwerden konnten. Stattdessen wurde den Probanden lediglicheine einzige Frage vorgelegt, die sie im Sinne eines "Brain­Storming-Tests" zu beantworten hatten. Die bei dieser Befragungsartzu erwartende recht hohe Allgemeinheit der Antworten schienuns aber in Hinblick auf das Untersuchungsziel weitaus eher vertretbarals eine Vorwegeingrenzung der Antworten durch differenziertereBefragungsformen . Die Strukturierung des Antwortfeldes durchein geeignetes Kategoriensystem ist in diesem Falle die Aufgabeder nachträglichen inhaltsanalytischen Auswertung der Äntworttexte.Den beteiligten Studenten wurde dementsprechend ohne jede Einstimmungauf Thema und Ziel' der Untersuchung folgende Frage vorgelegt:"Welche Zi.ele wollen S.;.e persönlich in der Schule in dem UnterrichtsfRChverfolgen, das Sie 818 Ihr Hauptfach verfltehen?" . Erläutertwurde dle,sP, Frage led.ieJich mit dem Hinweis, daß damit nicht nachden Zielen dp,s entsprechend.en Hochschulstud5.ums und auch ni.cht nachden staatlicherseits in Form von Lehrplänen u.ä. ' vorgeschriebenenI~ lEine Allsnahme bild.et in die!3er Hinsicht die Arbeit von Michael vonEng,>lhardt: Qualj.fi.kation und Selektion in rJer Schule - pädagogischeArbeitsorienti.erungen und gec.ell.schilftliches Bewußtsein von'Lehrl"rn . Zeit,schrift fUr Soziolo8;i.e H 2/1979.


-77-Unterrichtszielen, sondern nach den ~e persönlichen Vorstellungender Teilnehmer gefragt sei. Hinsichtlich der Form der innerhalb von5 Minuten schriftlich niederzulegenden Antworten wurden keine Vorgabengemacht.Be.fragt wurden die Teilnehmer zweier Seminare, die im Rahmen deserziehungswissenschaftlichen Teils des Lehrerstudiums der UniversitätMarburg im Wintersemester 1977/78 bzw. 1978/79 stattfanden. Wennauch die Gruppe der Seminarteilnehmer durch ihr Interesse an denangekündigten Semi.narthemen "Naturwissenschaft und Schule" und"Einführung in die Bildungssoziologie für Lehrerstudenten" sicherkeine reine Zufallsstichprobe der Marburger LehrerstudEmten darstellte,so dürfte sich der Einfluß dieses inhaltlichen Interessesjedoch in Grenzen gehalten haben. Denn das vermutlich weitaus bestimmendereTeilnahmemotiv der Studenten war in beiden Fällen einformales, boten ihnen die Seminare doch die Möglichkeit desScheinerwerbs in einem seltener angeQotenen Pfiichtbereich des erziehungswissenschaftlichenBegleitstudiums. Darüberhinaus wurde- ,die Befr agung jeweils zu Beginn der ers'ten Seminarsitzung noch vorder organtsatorischen und inhaltlichen Seminarvorbesprechung durchgeführt,um eine zusätzliche Beeinflussung durch am Seminarthemaorientierte Disku,ssimmzu vermeiden. Schließlicl


-78-Die ubrigbleibenden 162 Befragungsteilnehmer verteilten sich wiefolgt auf die Fächer :Tab.1: Fächerverteilung der Teilnehmer und AntwortaussagenFach Teilnehmer AussagenzahlZahlpro TeilnehmerMathematik 22 4,4Physik/Chemie 28 ,


- 79 -2. Die quantitative Auswertung: Das Fach ist Trumpf2.1 ~~~~~E~~~!~~~~~_~~~!~~~~~~E~~~!~Das sich in den Antworten manifestierende didaktische (Unter-)Bewußtseinder Lehrerstudenten galt es nun, entsprechend der in derEinleitung aufgeworfenen Fragestellung inhaltsanalytisch daraufhinauszuleuchten, welches Verhältnis hierin pädagogisch orientierteund legitimierte Bildungsideale einerseits und fachkoloniale Sonder­.ziele andererseits eingegangen sind. Einen orientierenden Überblickdarüber geben die Ergebnisse einer quantitativen Inhaltsanalyse,der ein 17 Kategorien umfassendes Klassifizierungssytem zu Grundegelegt wurde (vgl. Tabelle 2).Geordnet sind diese Kate~orien nach 4 ~roßen Inhaltsbereichen, waseine Gegenüberstellung fachimmanenter Bildungsziele (Bereich I) m·itUnterrichtszielen ermöglicht, die entweder mehr dem klassischenBildungsideal des autonomen (bürgerlichen) Individ~ums (Bereich 11)oder mehr dem bildungsreformerischen Konzept des gesellschaftlichenBezugs (Bereich 111) verpflichtet sind. Gilt es dem klassischenBildungsideal folgend, die geistigen und seelischen Kräfte desautonomen Individuums durch gelehrte Bildung zu entwickeln, so steht ·im Mittelpunkt der reformerischen Bildungsbemühungen die Einbindungdes Fachwissens in abstrakt-gesellschaftliche Zusammenhänge mitdem Ziel, den Schülern das Zurechtfinden in der"modernen Welt" zuerleichtern. Unterrichtsziele, die demgegenüber auf die schulischeAuseinandersetzung mit Problemen im konkreten Lebens- und Sozialbereichder Schüler bzw. der späteren Erwachsenen ausgerichtetsind, wurden in einem IV. Zielbereich zusammengefaßt. Sie repräsentiereneine Bildungskonzeption, die weder in einer abstrakten Gesellschaftlichkeitnoch in einem idealisierten Individuum, sondern(zumindest im Prinzip) im Bezug auf das soziale Subjekt Schüler ihrenkonzeptionellen Ausgangspunkt sUCht 6 )6) Zusätzlich zu dieser "didaktischen" Klassifikation wurde einezweite Einordnung der Unterrichtsziele nach ihrem Lernzielniveauvorgenommen. In Anlehnung an die Einstufung der Bloomschen Lernzieltaxonomien wurden die Ziele dabei nach Kenntnissen, Fähigkeitenund Fertigkeiten, kognitiven Einstellungen und sonstigen Einstellungenund Haltungen differenziert, wobei die Kenntnisse undFe~tigkeiten stärker al~ reproduktive Lernziele und die Einstellungenund Haltungen als hanctlungsorientierte Ziele aufgefaßt werden


Tabelle 2 : Thematische Verteilung der Bildungszielnennungen ( inPrczer ..: ~Thematischer Bere i chPhysikChemieBiologieMathem Ceu'tsch F::,emdsprPolitikGeschichteSportDurchschnittI. Fachimmanente Ziele 4 5 60r- - - - - - - - - - - - - - - - -(J) Einstellung zum Fach bzw. Fachg egenst and 5 9(T) Grundlagen für andere Disziplinen 5 2(F) Fachliche Fer tigkeiten 1 -(s) Grundkennt nissse und Inhalte des Faches 1 1 42-49- - -52- -65- -E 5 414 - -2 E 2518 28 33-29- - -23-5 10- -- 410 844- - - -7262 1(G) Methode un d Denkweise des Faches 23 79 13 314 19TI. Autonomes Individuum 13 18f- - - - ' - - - - - - - - . - f--'.' - -(z) Allg . Fähigkeit zu wiss. Arbeiten 6 2(K) Allg. kognitive Fähigk~iten 3 2(H) Allg. Haltungen und Einstellungen 4 8(X) Körperentwicklung - 530- - -27- - -9-- - -2E 5 -4 22 ' 9- - --49- r-49-2 -3 244 26- 22I-21-- -1,5166


- 81 -In Tabelle 2 sind die quantitativen Ergebnisse der Inhaltsanalyse imUberblick wiedergegeben. Nach vorweg festgelegten Fächergruppengetrennt durchgeführt, läßt sie zunächst erst einmal eine breiteVielfalt in den Bildungsvorstellungen der verschiedenen Fachvertreterdeutlich werden, werden doch von Fach zu Fach die unterschiedlichstenSchwerpunkte gesetzt. Eine gemeinsame, etwa fächerübergreifendenpädagogischen Intentionen verpflichtete Struktur .erBildungsvorstellungen der zukUnftigen Gymnasiallehrer läßt sich dabeizumindest auf den ersten Blick nicht ausmachen, was allerdings,jedenfalls auf dieser ersten Stufe der Inhaltsanalyse, noch keineswegsausschließen kann, daß sich die verschiedenen, offenbar fachspezifischenBildungsauffassungen nicht doch zu einem sinnvollenGanzen zusammenfügen ließen.Die quantitativen Besonderheiten der fachspezifischen Bildungsauffassungenlassen sich recht einfach in einem Vergleich der jeweiligen"didaktischen Fachprofile,,7) aufzeigen. Als besonders typischfür die Bildungszielvorstellungen der verglichenen Fachgruppen könnendabei jeweils diejenigen Zielbereiche betrachtet werden, deren Besetzungin besonderem Maße von dem für alle fächer durchschnittlichenAnteil abweicht, in denen die Fachprofile' also die relativgrößten Abweichungen vom mittleren Profil aller Fächer zeigen(Tabelle 3) 8(Fortsetzung der Fußnote 6)Allerdings erbrachte diese zweite inhaltsanalytische Klassifizierungso wenig zusätzliche Einsichten, daß deren Ergebnisse im folgendennur am Rande Erwähnung finden.7) Die prozentuale Verteilung der Bildungsziele auf die Kategoriender Inhaltsanalyse wird hier als "didaktisches Profil" des jeweiligenFaches verstanden, das als ganzes Auskunft über die inhaltlicheGewichtung der Bildungszielvorstellungen innerhalb der verglichenenFachgruppen gibt.8) Als spezifische Zielschwerpunkte eines Faches werden jeweilsdiejenigen angesehen, deren fachliche Besetzung die durchschnittlicheAbweichung von der mittleren Besetzungsquote um mindestensdas Doppelte übersteigt.


- 82 -Tabelle 3:Fachspezlfische Zielschwerpun~teFachRelativ größte Profilabweichungen in den ZielbereichenPhysik/ChemieBiologie(Z) Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten('I'l) Wissenschaft und Technik in gesellschaftlichenDimensionen(G) Methoden und Denkweisen des FachesCU) Umwelt(S) Inhalte des FachesMathematik (K) Kognitive Fähigkeiten -(T) Grundlagen für andere Disz'iplinen(L) Unspezifischer Lebens- und SozialbezugDeutschÜberall vergleichsweise durchschnittlichFremdsprachen- (F) fachliche Fähigkeiten(p) Politik, Ökonomie(I) Kultur, Ideologie-Politik/Geschichte(A) Gesellschaft allgemein(H) . Haltung und EinstellungenSport(X) Körperentwicklung(V) Privater Sozialbereich(B) Beruflicher Sozialb,ereich------In diesem Vergleich zeigen sich die 1/ exakten Naturwissenschaftler"lganz auf die Bildüngsbedeutsamkeit ihrer Wissenschaft konzentriert,wollen sie doch vor allem die Methoden und Denkweisen ihres Faches.sowie die allgemeine Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten unddarüberhinaus auch die gesellschaftliche Relevanz ihrer Wissenschaftbei den Schülern verankert sehen. Demgegenüber betonen ihrenaturwissenschaftlichen Fachkollegen, die "Biologen", statt einersolchen Metabetrachtungsweise ihrer Wissenschaft -besonders denBildungswert konkreter, einzelner Fachkenntnisse, die sie in einen '


.- 83 -engen Zusammenhang mit Umweltproblemen stellen. Die "Mathematiker"hingegen scheinen vor allem die Vermittlung kognitiver Fähigkeitenals ihre Hauptaufgabe zu betrachten, wobei sie anscheinend glauben,damit sowohl für andere Wissenschaftsdisziplinen wie auch für dieBewältigung des Alltags entscheidende Grundlagen zu legen. Die"Fremdsprachler" wiederum sehen neben der Vermittlung 'sprachlicherFertigkeiten in ihren Fächern offenbar die Möglichkeit gegeben, Einblickein die ges"llschaftYichen Verhältnisse ihrer Bezugsländer zUgeben. Dabei artikulieren sie diese Zielvorstellungen vergleichsweisedetailierter als die "Historiker" und die "Politologen", denen eseher um die Entwicklung ganz allgemeiner (geistiger) Einstellungenin Hinblick auf die Gesellschaft geht. Die "Sportler" schließlichbetrachte"! es als Kern ihrer zukünftigen Lehreraufgabe, die körperlicheEntwicklung ihrer Schüler voranzutreiben, wobei sie die Bedeutungdieser Aufgabe im Gegensatz zu den Vertretern der Gesellschaftswissenschaftenrelativ konkret auf den beruflichen und privatenSozialbereich der Schülerindividuen beziehen.Keinerlei nennenswert tiber die mittlere Abweichung vom Durchschnittsprofilhinausgehende Zielgewichtungenlassen indes die zukünftigenDeutschlehrer erkennen. Die Verteilung ihrer Bildungsintentionenauf die 17 Zielkategorien entspricht weitgehend der desDurchschnitts aller Fächer, und so ist es denn auch kein Wunder,daß eine Ähnlichkeitsanalyse-der Fächerprofile auf der Basis desquadratgemittelten Profilabstandes 9) (Tabelle 4) Deutsch als dasjenigeFach ausweist, dessen didaktisches Profil zu allen anderenProfilen die relativ größten Ähnlichkeiten aufweist.9) Al itsmaß der Profile kann der mittlere ProfilabstandA ~.9 2D = ;n: t... .. l."-Vj} verwendet werden, wobei JS. und Yi die relativenBesetzungszahlen der 17 Inhaltsbereiche der jeweils verglichenenFächer sind.


- 84 - -Tabelle 4FachQuantitativer FächervergleichAbstand der didaktischen ProfileBiologie Mathem. Deutsch Fremdspr. Pol./Gesch. SportPhys./Chem. 1Ö 8 8 11 11 11Biologie - 9 6 8 12 11_Mathem. - - 8 11 12 12Deutsch - - - 7 8 9Fremdspr. - - - - 13 11Pol./Gesch. - - - - - 9Besonders eng scheint der Zielzusammenhang des Deutschunterrichts mitden auch untereinander relativ profilähnlichen Fächern Biologie undFremdsprachen ~u sein, eine FächerverwandSchaft, die im herkömmlichendidaktischen Verständnis einigermaßen ungewohnt erscheinen muß.Ähnliches gilt auch für die anderen Profilabstände, die jedenfallskeine der gängigen Fächergruppierungen erkennen lassen.Damit sind die herkömmlichen Vorstellungen einer engen Zielverwandtschaftetwa der natur- oder kulturwissenschaftlichen Fächer untereinanderin Frage gestellt 10). Die in der Schulpädagogik unterstelltedidaktische Harmonie des Fächerkanons spiegelt sich jedenfallsnicht in den Gewichten wieder, mit denen die Lehrerstudentender verschiedenen Schuldisziplinen die möglichen Zielkategorienbelegen. Das braucht allerdings nicht zu bedeuten, daß sich die ge- ­mäß Tabelle 3 ausgemachten Zielschwerpunkte - die Wissenschaftsorientierungder exakten und die Umweltorientierung der lebendigenNaturwissenschaften, das Kopfprimat der Mathematik und das Körperprimatdes Sports, die gesellschaftliche Wissensvermittlung in denFremdsprachen und die gesellschaftliche Einstellungsbildung in Politik10) Die sich aUfdrängende Vermutung, daß sich in- den Abständen derdidaktischen Profile möglicherweise die schulische Fächerhierarchiereproduziert - mit dem Hauptfach Deutsch in der Mitte und den NebenfächernPolitik/Geschichte und Sport ganz außen, läßt sich leidernicht durchgängig belegen.


und Geschichte -- 85 -in inhaltlicher Hinsicht nicht doch noch zu einemin sich stimmigen Kanon vielseitig-einheitlicher Allgemeinbildungvereinen lassen.2.2. Das Primat des FachlichenAls solcher Hinweis in Richtung eines eventuell existierenden einheitlichenfachdidaktischen Grundkonsenses läßt sich möglicherweiseder Befund interpretieren, daß - sieht man einmal von den (quantitativ)eine gewisse Außenseiterrolle spielenden Fächern Sport undPolitik/Geschichte ab - die befragten Lehrerstudenten nahezu unabhängigvon ihren Studienhauptfächern den rein fachlichen Bildungszieleneine eindeutige Dominanz mit im Schnitt 50% aller Nennungenzuweisen. Schulbildung ist fUr zukünftige Fachlehrer ungeachtetaller sonstigen Verschiedenheit also offenbar zuallererst Fachbildung11)Wenn ~uch durch einen solch massiven/an längst zersplittertenWissenschaftsdisziplinen orientierten Fachbildungsanspruch der schulischeGesamtbildungsanspruch stark additiven Charakter erhält, kannauch dies noch als Ausdruck eines einheitlichen Bildungskonzeptesverstanden werden, dessen Ideal die Synthese der SchUlerpersönlichkeitaus den intellektuell bildenden Charakteristika der Einzeldisziplinenwäre. Als akademisches Bildungsideal wäre dies zwar ein(schichten)spezifisches Bildungsziel, doch wäre es, wenn auchpraktisch wohl kaum je einlösbar, zumindest theoretisch realisierbar,wenn sich nicht WidersprUche zwischen dem vom Schüler solchermaßenzu Integrierenden zeigen würden.11) Daß dies aller Wahrscheinlichkeit nach nicht nur bei denStudenten sondern auch bei berufstätigen Lehrern der Fall ist, lassendie Ergebnisse repräsentativer Befragungen von Gymnasiallehrern erwarten,die eine primär fachwissenschaftliche Ausrichtung ihresSelbstverständnisses belegen.Vgl . da~u etwa: J. Kob, Das soziale Berufsbewußtsein des Lehrers derhöheren Schule, Würzburg 1958; H. Zeiher, Gymnasiallehrer und Reformen,Stuttgart 1973 .


- 86 -Solche WidersprUche zeigen sich jedoch schon im innaltlichen Verständnisdessen, was jeweils als fachlicherBildungswert' angesehenwird. Betonen, die zukUnftigen Lehrer der exakten Naturwissenschaftenetwa die Bedeutung der grundsätzlichen Methoden und Denkweisenihrer Fachwissenschaft, wobei sie ihr strukturell-theoretischesWissens.chaftsverständnis durch das völlige Ausblenden fachlicherFertigkeiten und durch eine sehr geringe Beachtung einzelner fachlicherKenntnisse unterstreichen, so schlägt sich das Selbstverständnisder Biologen in einem eher gegens!itzlichem Wissenschaftsverständnisnieder. In dem insgesamt noch etwa um ein Drittelhöheren Anteil fachlicher Bildungsziele dominiert n!imlich bei denVertretern der dritten der in der Schule repräsentierten Naturwissenschaftdas enzyklopädische Sammeln einzelner biologischerKenntnisse. Nicht die Methoden, sondern die Ergebnisse der Fachwissenschaftkennzeichnen das Lernenswerte dieses Faches im Selbstverständnisihrer zukUnftigen Lehrer.Und wäl:lrend etwa die "Fremdsprachler" der EinUbung einzelner fachlicherFertigkeiten besondere Bedeutung beimessen, steht dies beiden Mathematikern völlig im Hintergrund. Von letzteren wird wederder Vermittlung und EinUbung von Rechenfertigkeiten n~ch dem Erlernen'fachsystematischer Grundlagen und Methoden eine sonderlicheBeachtung geschenkt. Vielmehr ist fUr sie das Bildungsbedeutsameihres Faches ein von der Mathematik vermeintlich vorrangig repräsentiertes,viel allgemeineres Geisteskonstrukt: die Logik.Ist von daher das Primat des Fachlichen nur ein oberfläch einigendesBildungsprinzip, dem bei genauerer Betrachtung recht unterschiedlicheUnd div~rgente Fachselbstverständni.sse und Bildungsabsichtenzu Grunde liegen, so sind wir bei ,der Suche nach einemfächerUbergreifenden Bildungskonzept in den Vorstellungen derLehrerstudenten auf die außerfachlichen Bildungsziele verwiesen.2.3 Das klassische und das reformerische BildungsidealDie außerfachliche,n Bildungsziele , die entweder - denklassischen Bildungsvorstellungen entsprechend - auf die Herausbildungindividueller Einstellungen und Haltungenoder - dem bildungsreformerischen Anspruch folgend - auf die Ver-


- 87 -mittlung politisch-gesellschaftlicher Einsichten und Orientierungengerichtet sind, erreichen bei den meisten F~chern nicht einmal zusammenden Anteil der rein fachlichen Bildungsziele. Dabei wirdim Durchschnitt aller Fächer den klassischen Bildungszielen runddoppelt soviel Aufmerksamkeit gewidmet wie den bildungsreformerischen- was Uber den Stellenwert der Reformdiskussion der lEtzten 15 Jahreim Bewußtsein derer, die in dieser Zeit die gymnasiale Oberstufeabsolviert und ihr Lehrerstudium begonnen haben, eine recht desillusionierendeAuskunft gibt. Auffällig hierbei ist, daß die zukUnftigenNaturwissenschaftslehrer ebenso wie ihre Fremqsprachenkollegengesellschaftsorientier'ten Zielvorstellungen erheblich mehrzuneigen als etwa die zukUnftigen Deutsch- und Mathematiklehrer.Letztere machen demgegenUber ~nlich wie die Sportlehrer eher aufdas Individuum gerichtete Zielaussagen. Dabei erstaunt die in diesemZusammenhang deutlich werdende Parallelität von Deutsch und Mathematikinsofern, als die Mathematik in herk~mmlichen Fächerverständniseher den Naturwissenschaften zugeschlagen wird.Der relativ hohe Anteil gesellsChaftsbezogener Unterrichtsziele beiden naturwissenschaftlichen Lehrerstudenten widerspricht im übrigender in Fachsozialisationsuntersuchungen vielgeäußerten Vermutung,daß die Naturwissenschaftsstudenten im allgemeinen in einem wesentlichhöheren Maße als die Studenten anderer Fächer Fragen nach dergesellschaftlichen Relevanz ihre Faches ausklammern und verdrängen.Dies ist allerdings insofern nicht allzu überraschend, als mit derBildungsreform der 60er und 70er Jahre ein enormer Prestigegewinnund eine beachtliche Ausweitung des naturwissenschaftlichen Unterrichtseinherging 12). Insbesondere für die mehrheitlich techno~kratisch-bildungsökonomistischen Befürworter dieser Reform warengerade die Naturwissenschaften das Vorbild 'der erstrebten effizienteBeherrschbarkeit verheißende Wissenschaftlichkeit. Infolge der damitverbundenen "Aufwertung" der Naturwissenschaften zur Leitideologietechnokratischer Gesellschaftsvorstellungen gewinnt dernaturwissenschaftliche Unterricht zunehmend die Funktion einesWeltanschauungsfaches, was die ,unerwartet hohe Besetzung gesell­~chaftsbezogener Zielsetzungen durch die naturwissenschaftlichen12) Rainer Brämer, Armin Kremer: Der unaufhaltsame Aufs~.g desnaturwissenschaftlichen Unterrichts. Soznat H2/1980 und H4/S0.


- 88 -Lehrerstudenten zumindest partiell erklärt.Allerdings tritt bei den Physik-und Chemiestudenten derzeit die Gesellschaftnoch weitgehend unter dem verengten Blickwinkel des umdie Relevanz seines Tuns besorgten Fachmanns in Erscheinung. Nahezuausschließlich werden von ihnen die gesellschaftlichen Bedingungenund'Probleme ihrer Wissenschaft und nicht die ihrer Schüler thematisiert,womit die Wissenschaft zum Kern der zu vermittelndenpolitischen und sozialen Orientierung avanciert.Die~ wird besonders im Vergleich ,mit den'Fremdsprachlern"deutl~ch,di~ - ebens9 gesellschaftsorient1ert - die politisch-ökonomischenund kulturell-ideologischen Probleme der (allerdings fremden) Gesellschaften.und der- dort Lebenden ansprechen wollen. Wenn sie auch'damit den sozialen Lerninteressen ihrer Schüler nicht wesentlichnäher sein dUrfteIt als ihre Physik- und Chemiekollegen" so erscheintdoch bei ihnen die Gesellschaft zumindest nicht allein unter derElfenbeinturmperspektive ihrer (Sprach- bzw. Li teratur- )W'issenschaft.,Als ähnlich divergent erweist sich bei genauerem Hinsehen auch diezunächst so einheitlich erscheinende Orientierung der Mathematik-,Deutsch-,Politik-und Sportstudenten auf die bildungsmäßige Entfaltungdes Individuums. Speziell im Vergleich von Deutsch und Mathematikdeutet sich geradezu ein Widerspruch an. Denn was dem einen diestrenge . (Deduktions-)Logik, ,ist dem anderen die selbstbewußte Kreativität.Nimmt man noch die politische Kritikfähigkeit und emanzipatorischeSelbstbewußtheit, um die es den Politik- und Geschichtsstudentengeht,und das Sportlerideal des sich trotz Berufs~ oderSchulstreß sozial verhaltenden Mitmenschen hinzu, so läßt sich nurschwerlich ein Sozialisationstyp denken,der alle diese Charakteranforderungenin sich vereint.'2'.4.Das Fehlen des Subjekts "Schüler"Der Vielfalt fachlicher Bildungsperspektiven und der Unterschiedlichkeitder außerfachlichen Zielvorstellungen steht ein nur sehrgeringer Anteil solcher Bildungsziele gegenüber, denen der Versuchunterliegt, die unmittelbare Lebens- und Sozialsituation des Schülerszum integrierenden Ausgangspunkt fachdidaktischer Überlegungen zumachen. Sieht man von den Sportstudenten einmal ab, die immerhin


- 89 -ein Viertel ihrer Ziele hierauf verwenden, so zielt im Schnittaller Ubrigen Fächer nur jedes zehnte Ziel darauf ab. 'Ist der SchUler als soziales Subjekt demnach in dem primär fachorientiertenBildungsbewußtsein der zukUnftigen Lehrer lediglicheine Marginalie,so bleibt er auch dann, wenn er Schon einmal Beachtungfindet, in bezeichnender Weise unkonkret. Im Gegensatz zu deroft sehr präzisen Benennung einzelner Probleme oder Strukt~ren derjeweiligen Fachwissenschaft bei der Beschreibung der fachlichenBildungsziele fällt in den Zielangaben der überwiegend völlig unspezifizierteBezug zu dem "Alltag", des SchUlersauf.Das kommt nichtnur darin zum Ausdruck, daß (wiederum mit Ausnah~e der Sportler)der größte Anteil der schUlerbezogenen Unterrichtsziete auf den Bereichdes "unspezifischen Lebens- und: Sozialbezuges" entfällt,während die schon konkreteren Bezugnahmen auf den privaten Freizeit- oder den 'schulisch-beruflichen Lebens- und Sozialbereichweitaus seltener vorkommen. Ga~z besonders deutlich wird die charakteristischeUnspezifität der SchUlervorstellung der zukUnfti'genGymnasiallehrer darin, daß nicht ein einziges Mal bei insgesamtrund 1000 Nennungen der Umstand Beachtung- findet, daß die 'Schulein aller Regel SchUler verschiedener gesellschaftlicher Gruppen,Schichten und Klassen vereint" die sich nicht zuletzt durch völligunterschiedliche Lernbedingungenund Lerninteressen auszeichnen.Des Schüler- und Lernsubjekt taucht statt dessen bestenfalls nur --schichtunspezifisch in den didakti~chen Zielvorstellungen auf, esist von seinen tatsächlichen Lebens- und SozialbezUgen im"Leh.rer~bewußtsein schon auf der Ebene der Bildungsintentionen weitgehendgetrennt 13)13) Das mag zum Teil auch damit zusammenhängen, daß es sich bei denBefragten durchweg um Gymnasiallehrerstudenten handelt, die in ihrerVergangenheit weitgehend nur schichthomogene Erfahrungen gemachthaben und auch in ihrer beruflichen Zukunft Uberwiegend nur mitMittelschichtkindern konfrontiert werden dUrften.


- 90 -Seine Ergänzung findet diese Randständigkeit des SchUlersubjektsinder eindeutigen Dominanz rein reproduktiver -Lernziele. Klassifiziertman nämlich sämtliche Zielangaben der Befragten nach demLernzielnieveau, so ergibt sich ein klares Übergewicht solcherUnterrichtsziele, die eine Vermittlung von Ken.ntnissen, und Fertigkeitenbzw. Fähigkeiten intendieren, während Einstellungen sowie'Verhaltens- und Handlungsziele deutlich zweitrangigen Charakterbesitzen.Ergibt sich im Schnitt ein Verhältnis von 2:1 dieser beiden Zielgruppen,so zeigen sich die Sportler folgerichtig auch hier wiederals Ausnahme, da sie als einzige zu einem größeren Teil handlungsorientierteUnterrichtsziele vertreten (Verhältnis 1:2). Demgegen­Uber bevorzugen die "Mathematiker" im Verhältnis 4: 1, die ''Naturwissenschaftler"und 'IFremdpsrachler" im Verhältnis 3:1 und die "Germanisten 4mit 2:1 reproduktive Unterrichtsziele, während die späteren POlitik/Geschichtslehrer reproduktive wie handlungsorientierte Ziele gleichstark verfolgen. Wertet man das weitgehende Überwiegen von Kenntnissenund (geistigen) Fähigkeitszielen als Ausdruck einer dominantintellektualistischen Orientierung unserer Lehrerstudenten, so fälltauf, daß dieser Intellektualismus vor allem die Zielstruktur derHauptfächer einschließlich der in dieser Beziehung offenbar weitnach vorne gerUckten Naturwissenschaften bestimmt, während sich dieNebenfächer dem kognitiven Zwangscharakter unserer Schule noch partiCentziehen können~Insgesamt läßt die quantit~iveAuswertung angesichts einer auf diejeweiligen Fachdisziplin bezogenen und hinsichtlich der Persönlichkeitsidealeweit auseinanderfallenden Bildungsorientierung derLehrerstudenten also gleich ein doppeltes Defizit erkennen: Sowohldie ' soziale Dimension der SchUlerexisten.z als auch die auf Akti vi tätund Handeln ausgerichteten Lerninteressen der Schüler bleiben ausgespart,das konkret-handelnde Schülersubjekt liegt weitgehendjenseits des Zielhorizonts der befragten Lehrerstudenten. Diesefast vollständige Verdrängung des realen Ausgangspunktes j 'edwederBildungsarbeit ist dabei ebenso Folge wie Voraussetzung der sich imFachbildungsanspruch drastisch äußernden Fremdorientierung derdidaktischen Konstrukte unserer zukUnftigen Gymnasiallehrer. Die"Ersatzorientierung" ihrer Bildungskonzeptionen auf das Konstrukteiner agesellschaftlich autonomen Persönlichkeit oder auf die


- 91 -Herstellung abstrakter Gesellschaftsbezüge wahrt lediglich den Scheineiner erzieherischen Absicht und dient so eher der legitimatorischenAbstützung des Fachprimats als dessen Integration in ein irgendwiegeartetes pädagogisches Gesamtkonzept.3. Fachspezifische ZielcharaktereDeutlicher als durch jeden Versuch einer weiter _ins Einzelne gehendenquantitativen Auswertung der Bildungsziele kann - so hoffen wir -das jeweils fachcharakteristische dieser Zielvorstellungen durch einequalitative Analyse gekennzeichnet werden. Grundlage einer solchenAnalyse ist die Feststellung, daß si ~ h in der Gesamtheit der für einFach angesprochenen Ziele zwar nicht irgendeine übergreifendeBildungs- bzw. Persönlichkeitskonzeption entdecken läßt, dafür abermehr oder weniger vollständige "Fachpersönlichkeiten" konstituiertwerden. FUr die zusammenfassend-qualitative Interpretation der Befragungsergebnissebietet sich daher der Versuch der Synthetisierungdieser "Fachcharaktere" aus dem Spektrum der fachspezifischen Zielnennungenan. Das mosaikartige Zusammensetzen der fachlichen EinzelzieIezu den dar-in implizit entworfenen "Zielcharakteren" im Sinnevon fachspezifi~chen Persönlichkeitsmustern (bzw. fachdidaktischenMusterschülern) unterstellt dabei nicht unbedingt eine durchgängigeWiderspruchsfreiheit der verschiedenen Zielnennungen. Doch abgesehenvon wenigen randständigen Ausnahmen liesen sich in allen Fällen dieBildungszielvorstellungen der befragten Lehrerstudenten zu schlimmstenfalls-zwei (wenn nicht gar einer) Persönlichkeitsfiktionen vereinigen,die die übergroße Mehrheit der Nennungen repräsentieren und dahereine geeignete Basis für den qualitativen Fächervergleich abgeben.Eine solche, analytische Synthetisierung didaktischer Musterschülerist allerdings im besonderen Maße - ebenso wie im Kern auch jedesandere Verfahren einer qualitativen Inhaltsanalyse - nicht frei vonden (subjektiven) Assoziationen, Vorerfahrungen und -einstellungender Analytiker. Besonders zeigt sich das bei dem von -uns im folgendenunternommenen Versuch, die Prototypen der jeweiligen fachspezifischenPersönlichkei tsf·iktionen in Persönlichk-ei tsidealen vergangener odergegenwärtiger gesellschaftlicher Gruppen und Schichten ausfindig zu


- 92 -machen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß zwischen diesen Persönlichkeitsidealenund dem fachtypischen Selbstbild der Studentenenge Beziehungen bestehen dürften, muß man doch davon ausgehen,daß die pädagogisch synthetisierten Schülerpersönlfchkeiten überweite Strecken nichts anderes als Projektionen .der jeweiligen studentischen'Fachidole (als entscheidende Orientierungsgrößen derFach (studien)motivation ) darstellen.3. 1 DerLiteratIm Zentrum der fachlichen Bildungsziele der zukünftigen Deutschlehrerst~ht die Beschäftigung mit der Literatur und der Sprache.Wohl primär die eigenen Studienziele reproduzierend, stehen in beidenLernbereichen in bezeichnender Weise gleichermaßen Ziele imVordergrund, die eher an den (vermeintlichen) Fähigkeiten eineserfolgreichen Literaturproduzenten oder -kritikers orientiert sindals an dem Alltagsgebrauch von Sprache und Literatur.Ca. 40% aller Unterrichtsziele beziehen sich ausschließlich auf dieVermittlung oder die Aneignung von Literatur bzw. auf derenliteraturwissenschaftliche Betrachtung. Welche Literatur dabei vorallem gemeint ist, ,ist nur unschwer zu erraten. Lediglich in zweivon insgesamt 50 Literaturzielen werden die Massenmedien einer Betrachtungfür Wert befunden, und nicht ein einziges Mal findet dieTatsache Erwähnung,daß es in unserer Gesellschaft nicht nur eineeinzige, sondern mindestens zwei Kulturen (und damit auch zweiLiteraturen) gibt. Implizit tragen die Deutschstudenten diesen Umstandaber immerhin dadurch Rechnung, daß sie es als eine wichtigeAufgabe ansehen, den Schülern überhaupt erst einmal einen "Zugang"zur (für die meisten wohl fremden) Literatur zu eröffnen bzw •. ?ie"Schüler an die Literatur heranzuführen" • Offenbar ist ihnen (unbewuß~durchaus klar, daß die Mehrheit der Schüler in ihrer konkretensozialen Umwelt von sich aus keinerlei Beziehung zur herrschendenKul tur en-ewickeln kann und wird.Doch nicht nur um die "Kenntnis der Literattir'und um die ihrer Geschichtegeht es den Vertretern des Faches Deutsch, auch "dieWechselwirkung von Literatur und Gesellschaft" und das "Verhältnisvon Kunst und Realität" sollen aufgeschlüsselt werden, nicht zuletzt,um den SchUlern "Kriterien für die ästhetische Beurteilung von


- 93 -Literatur" an die Hand zu geben. Das Ziel dieser intensiven Besch!l.ftigungmit d.er Literatur ist ein doppeltes : Einerseits sollder Schüler ein eher distanziertes, literaturwissenschaftlichesVerst!l.ndnis entwickeln. Generell mit "literaturtheoretischen Methodenvertraut", soll er "Produktions- und Reproduktionsbedingungenvon Literatur" analysieren, sich mit "literarischen Situationenauseinandersetzen" und den "Zusammenhang verschiedener Formenkünstlerischen Schaffens" werten können. Andererseits soll sichdem Schüler durch die Literatur ein Verst!l.ndnis seiner eigenenSituation eröffnen, und er soll "die Literatur für seine · Persönlichkeitnutzbar machen" können. Dabei wird '~die Bedeutung der literar -wchen Ästhetik für die persönliche, geistige und seelische Entwicklung"des Jugendlichen wohl vor allem darin gesehen, "Literaturals Ausdrucksmittel des eigenen Ich", als "Medium der individuellenErfahrungs- und Geflihlsumsetzung" und als "Möglichkeit zurIndividualität und Kreativität" zu erfahren.Als germanistischer Musterschüler wird solchermaßen nicht ·nur eintheoretisch versierter Literaturkritiker, der "die geschichtlicheund gesellschaftliche Bedingtheit der Literatur" kennt und einzuschätzenweiß, sondern auch ein Literat und einfühlsamer Leserantizipiert, der sich seine ichzentrierte Welt vornehmlich durchund mit Literatur symbolhaft aneignet.Auch die Beschäftigung mit der Sprache, der insgesamt 30% derUnterrichtsziele gewidmet sind, steht zu einem großen 'l'eil unter demZiel der Ausbildung geradezu literarischer Fähigkeiten. Der Schülersoll "Anregungen zur Umsetzung von Phantasie in Sprache" undzum "Jongliereri mit .der Sprache" erhalten. Die "Sprechfähigkeit"wird in bornierter Extrapolation der eigenen Studienerfahrung denSchülern als Vorausetzung der "Welterlebnisfähigkeit" und als"Mittel der Selbstreproduktion des Menschen·' angediertt , womit dieliterarische Form der indirekten Weltaneignung auch noch sprachtheoretischuntermauertwird.Ein zweiter, gleic~gewichtiger Teil der Sprachziele befaßt sich mitder Erarbeitung sprachtheoretisch-linguistischer Probleme . Es gehtdabei um "die gesellschaftliche Funktion der Sprache", um ihren"Charakter als Kommunikationsmedium und Informationsspeicher" undum eine ·"kritische Reflexion der Sprache als bewußtseinbildendesMedium". Die desöfteren betonte Absicht, die "Sprache als schichtenspezifischesPhänomen" zu betrachten und zum Abbau der "Sprach-


- 94 -barrieren" beizutragen, nimmt zwar - fast schon ausnahmsweise -auch noch eine andere .als die vorherrschende Literatur- und Kultursprachezur Kenntnis, doch spricht einiges dafür, daß die inAussicht genommene "Schulung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit"primär dem Ziel der kompensatorischen Anpassung der Unterrichtssprachean die herrschende (mittelständische) Sprachnorm verpflichtetist und damit letztlich nur auf die Schaffung der notwendigensprachlichen Grundlage zur Verinnerlichung der herrschendenKultur abzielt.Dem entspricht der Befund, daß sich im gesamten Zielkatalog derDeutschstudenten keinerlei Bezug zum sprachlich-sozialen Alltagsumgangmit Vorgesetzten, Kollegen, Verkäufern ~d Behörden findet.Die Verdrängung der "niederen" Ebenen des Deutschlehrerdaseins ausder Zukunftsperspektive der Studenten zeigt sich auch darin, daßGrundfertigkeiten, vor allem schriftlicher Art, durchweg stillschweigendvorausgesetzt werden. Dies dokumentiert nicht nur diedurchgängige Schichtengebundenheit des Zielbewußtseins der zukUnftigenDeutschlehrer, sondern ist darüberhinaus neben der nahezuausschließlichen Orientierung an der herrschenden Kultur, Literaturund Sprache eine wichtige Voraussetzung für den "ungestörten" Ablaufdes auch in ihrem Deutschunterricht ablaufenden schichtenspezifischenSelektionsprozesses in unserer allgemeinbildendenSchule.Der Prototyp des Persönlichkeitsideals der zukünftigen Deutschlehrerist alles in allem leicht in dem literarisch gebildeten, bUrgerlichenIndividuum ausfindig zu machen, das sich seine Welt nur insymbolischer Weise, durch Literatur vermittelt, anzueignen glaubt.Der allseitig emanzipierte, bUrgerliehe Held der Romanliteratur des18. und 19. Jahrhunderts ist als Pate dieses Selbstbildes unverkennbar.Zielt doch fast jedes vierte Unterrichtsziel auf die Vermittlungvon geradezu prototypischen Haltungen und Einstellungendieses BUrgervorbildes: "SelbstbewuGtsein durch Wissen". Selbst ändigkeit"."MUndigkeit". "Kreativit1\t". "~manzipation" u.1\.m.Nur am Rande gerRte~ neben rein individuellen Ruch tendenziellsoziale Einstellungen wie z.B. "Sozic\les Vp.rhalten" und "Vermittlungvon Gruppenerfahrungen" ins Blickfeld. Ebenso selten wird von den


- 95 -zukUnftigen Deutschlehrern die unmittelbare Lebens- und Sozialsituationihrer zukUnftigen SchUler angesprochen, sieht man von derEntwicklung liberalistischer pädagogischer Vorstellungen Uber deneigenen geplanten ·Unterrichtsstil einmal ab. Aber auch diese ihrepädagogischen Vorstellungen bleibEln weitgehend an ein "bUrgerliches"Pers5nlichkeitsidealgebunden: Durch "Reden" und nicht durchHandeln sollen die Probleme der Schüler angegangen werden. Im Vergleichmit anderen Fächern ist es interessant - und darum sei esvorweg schon hier erwähnt -,daß bei den Germanisten die LiteraturoderSprach~!~~~!!~s!!~g ' nicht als primärer Bezugs- und Legit1mation~punktihrer Bildungsvorstellungen dient. Die Wissenschaftentreten gegenüber der direkten Vermittlung kultureller und imengeren Sinne literadscher Traditionen zurück, die ihrerseitsoffenbar keiner weiteren Bildungslegitimation bedürfen. Dieserdistanzlosen Kulturfixierung entspricht im übrigen auch der Befund,daß die Gesellschaft i~ den Zielvorstellungen der zukünftigenDeutschlehrer nicht in ihrer genuinen Problematik, sondern lediglichals Rahmenbedingung und Konstituente von Literatur und. Spracheerscheint.3.2. Der LogikerDie Bildungsziele der Vertreter des zweiten schulischen Haupt­(selektions)faches Mathematik erschienen uns schon aus quantitativerSicht weniger den Vorstellungen der Naturwissenschaftler als vielmehrdenen ihrer Hauptfachkollegen, der zukUnftigen Deutschlehrer,' ähnlich. Auch quantitativ-inhaltlich zeigen sich zumindest vom Ansatzher überraschende Parallelen zwischen den studentischen Vorstellungenüber die Ziele der beiden Fächer.Stand bei den "Germanisten" die Vermittlung von bildungsbürgerlichenLiteratur- und Kulturwerten im Zentrum ihrer Bildungsabsichten,sostellt sich bei den ," Mathematikern" als ebenso eindeutig dominantesZiel die Vermittlung abstrakter Denkfähigkeiten im bürgerlichenSiam, der Entfaltung allsei tig unbegrenzter und autonomer Geisteskräfteheraus. Gut die Häfte aller Unterrichtsziele sind direktoder indirekt auf die Entwicklung logischer bzw. mathematischlogischerFähigkeiten ausgerichtet. Dazu gehören zum einen jene 25%der Ziele, die explizit die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten


- 96 -fordern, zum anderen aber auch ein Großteil derjenigen fachlichenBildungsziele, die die Herausbildung allgemeiner mathematischerDenkfähigkeiten oder die Vermittlung von Grundkenntnissen undMethoden des Faches zum Inhalt haben.So geht es bei der Vermittlung fachlicher Kenntnisse nicht nur umgeistige Fähig- und Fertigkeiten wie die Einsicht in "mathematischeProzesse" oder das "Bewußtmachen der mathematischen Symbolik",sondern vor allem um die Beherrschung äußerst abstrakter mathematischerAlgo-rithmen und Theorien. Im Vordergrund der Fachstoffbehandltmgsteht die Einführung der Schüler in die "Denkweise derMathematik" und die "Erarbeitung mathematischer Modelle und Denkstrukturen",während die Behandlung einzelner mathematischer Stoffgebiete("Wahrscheinlichkeitsrechnung", "Geometrie") eher am Randeder selbstgestellten Aufgabe steht, den Schülern eine letztlichwillkürliche Grundaxiomatik der Mathematik als Basis einer vermeintlichunumstößlichen mathematischen Logik und als Garant eineranscheinend unbezweifelbaren, objektiven Weltbetrachtung nahezubringen.Tritt also die Vermittlung gegenstandsbezogener mathematischer Kenntnisseund" Fähigkeiten gegenüber dem Anspruch zurück, ein sozusagenvon aller Stofflichkeit gereinigtes und befreites Mathematik-Logik­Denk Paradigma in der Schule zu vertreten, so findet erst recht dieVermittlung der tatsächlich im Alltag der Schüler wie der späterErwachsenen benötigten Rechenfertigkeiten (etwa Grundrechnungsarten,Prozentrechnung, Dreisatz) keinerlei Beachtung. Ähnlich wie von den11 Germanisten" wird auch von den "Mathematikern" die Beherrschung der"niederen" Kulturtechniken vorausgesE\tzt, obwohl deren Vermittlungrealiter zu ihren Hauptaufgaben gehören wird.Das Selbstverständnis der zukünftigen Mathematiklehrer, die schulischenVertreter einer (selbsternann~en) Wissenschaftler- und Denkelitezu sein, findet beredten Ausdruck in ihrem Anspruch, durchihren Unterricht die Grundlage~ für die Unterweisung wie die Verwendunganderer Wissenschaften zu legen. Bezeichnenderweise wirdein solcher Hegemonialanspruch, der sich mit den verschiedenstenBegründungen auch für andere Fächer postulieren ließe, nur von den'Mathematikern'vertreten, und dies sogar in jeder siebten Zielangabe .


- 97 -Das ist indes nicht allein als Ausfluß eines prononcierten kognitivenSelbstbewußtseins zu interpretieren, sondern deutet möglicherweiseauch auf ein spezifisches Legitimationsdefizit des Faches alssolchem hin, das sich seiner Relevanz durch den. Verweis auf die inihrer ge,sellschaftlichen Bedeutsamkei t zweifeii'os 'untimstri tterenNatur- und Technikwissenschaften rückversichert.Doch nicht nur als"Grundlage der Naturwissenschaften" oder der"Technik", oder 'gar als "Königin der Wissensch~ften" gewinnt dasmathematische-logische Denken in den Augen der"Mathematiker"Bildungswert.Auch zur Bew~ltigung des Alltags scheint es unverzichtbar.Denn ebenfalls jedes siebte Unterrichtsziel läßt die Absichterkennen,. "die Anwendung (der Mathematik) im allt~glichen Leben"deutlich zu machen, sowie. zum "selbst~digen Lösen realer Al1tagsprobleme"und zum "mathematischen Erfassen allt~glicher Probleme",zu befähigen. Dies alles I~ßt ein Persönlichkei tside,al der Mathematikerdeutlich werden, dessen Prototyp noch am ehesten in dem(fiktiven) Selbstbild der rationalistischen Philosophen und Naturforscherdes 17. Jahrhunderts gesehen werden könnte. Im Mittelpunktsteht das vollst~dig verkopfte Individuum, dessen logische Fähigkeitenihm nicht nur dieBew~ltigung seines individuellen Alltagsermöglichen, sondern auch die VorausetzUng jedweder wissenschaftlich-rationalenErschließung und Aneignung seiner Welt darstellen.Die (ja keineswegs alternativlose) mathematische Deduktionslogikwird zur alleinigen Form rationalen Denkens, dogmatisiert und zumKern der charakterlichen Bildung jenes logischen Individuums, dasauch die Gesellschaft allein durch die Brille dieses mathematischenDenkformideals betrachtet.Die Gesel1.schaft erscheint den"Mathematikern"folgerichtig nur inihrem Bezug zur mathematischen Wissenschaft interessant, bleibt ansonsten-a~er relativ kontur- und strukturlos. Ähnlich wie imliterarischen Weltbild der Deutschlehrer wird sie vollkommen vomInidividuum her entworfen, jenem sich autonom dunkenden bürgerlichenIndividuum, das sich Kraft seines Geistes über alle soziale Widrigkeiten erheben und 'damit Gesellschaft nicht nur durchschaubar ,sondern auch handhabbar machen zu können glaubt. Diese traditionellgeisteswissenschaftliche Fiktion des Ve!,hältnisses von Ge'sellschaftund Individuum besitzt jedoch in einem Punkt bei den "Mathematikern"einen grundsätzlich anderen Charakter als bei den"Germanisten/~


- 98 -Denn bei letzteren ist das Denken - allein schon durch das MediumSprache - zwar der wichtigste, keineswegs aber der alleinige Faktorder Weltbewältigung. Vielmehr geht es stets um das ganze Subjekt,die ichbezogene Ganzheit deS Welterlebnisses. In der Mathematik istder Farbenreichtum der "literarischen Weltsicht jedoch auf die graueDimension axiomatischer Rationalität verkürzt, nicht das ganzeSubjekt, sondern nur noch sein Kopf, nicht das Ich, sondern daslogische Über-Ich sind der Gegenstand bildungsbürgerlicher Zielvorstellungenmathematischer Provienienz.In" den kulturpolitischen Auseinandersetzungen der Vergangenheitspielte aber gerade dieser Gegensatz von "literarischer Kultur" und"technisch-rationaler Kultur", von allseitiger Ganzheitsbetrachtungund kühl-distanzierter Zerlegung der Welt eine große Rolle. Von daherbeinhalten die Zielsetzungen der Deutsch- und MathematiklehrereinePzumindest historisch noch keineswegs überwundenen Widerspruch.Dies wird nicht nur in ganz unterschiedlichen Subjektbezügen, sondernauch in einem konträren Verhältnis zur sinnlichen Realität deutlich.Während d~s literarische Weltbild ganz in diese Realität eingebettetist, dient sie dem mathematischen Realisten nur als Folie seinerGedankenkonstrukte. Dementsprechend geht es den angehenden Mathematiklehrernselbst in ihrem speziellen Fachgebiet weniger um die Vermittlungkonkreter Gegenstandskenntnisse, sondern in erster Linieum die Internalisierung mathematischer Denkstrukturen als Voraussetzungfür eine ebenso emotionslose wie herrschaftsträchtige Weltbewältigung.-.3.3. Der WissenschaftlerAls überraschend unähnlich wies schon der quant"itative Vergleichdie Bildungsvorstellungen der zukünftigen Physik- und Chemielehrerim Vergleich zu denen ihrer Mathematikkollegen einerseits, aber auchzu denen ihrer vermeintlich nächsten Fachkollegen, den Biologen,andererseits aus. Die qualitative Analyse läßt diese Unterschiedenoch deutlicher hervortreten."Findet nämlich die Idealpersönlichkeit der"Mathematiker"ihr historischesVorbild im 17. Jahrhundert, so versetzen die Vorstellungen


.- 99 -der 'Physiker' und "Chemiker" die Schüler in die moderne Welt des20. Jahrhunderts;dem rigorosen Rationalisten, dessen unerbittlicherMaßstab die zur Logik reduzierte Vernunft 1st,steht der weitaus wendigere,sich seines Erfolgs auf der Grundlage demgegenüber durchauspragmatischerer Erkenntnisweisen sichere Naturwissenschaftlerder Jetztzeit gegenüber. Denn im Zentrum der Bildungsvorstellungender schulischen Vertreter der exakten Naturwissenschaften stehtdie selbstgewählte Aufgabe, solche Fertigkeiten und FähigkeitenzU ' vermitteln, die einen modernen Naturwissenschaftler im vorherrschenden,die reale Arbeitstätigkeit allerdings weitgehendidealisierenden Fremd- und Selbstbild auszeichnen.So dominieren bei den fachlichen Bildungszielen jene, in denen esum die "Einführung der Schüler in die Denk- und Arbeitsweisen" bzw.die "Methoden der Physik" oder gar um die Einübung "naturwissenschaftlichenDenkens" ganz allgemein geht. Die hierin' zum Ausdruckkommende theoretische Orientierung des Wissenschaftsverständnissesprägt mindestens ein Viertel aller Zielnennungen, während nur jedezehnte Nennung auf die Vermittlung fachlicher Kenntnisse abzielt,die zudem meist auf eine eher theoretisch-systematische Betrachtungdes fachwissenschaftlichen Wissens ausgerichtet sind ("Vorstellungender Grundprinzipien und Theorien der Physik", "Vermittlung deswichtigen Grundwissens", "Grundbegrif~ verstehen"). Au: h die Betonungfast schon wissenschaftstheoretischer und -methodologischerProbleme des Fachs - etwa wenn "der elementare Zusammenhang zwischenGrundbegriff und Axiom", die "Vorausberechenbarkeit" der Natur und"die Unterscheidung Modell/Wirklichkeit" bewußt gemacht werden soll- verweist auf ausgeprEigt strukturell-theoretische Wissenschaftsambitionender Physik- und Chemielehrer. Neben der Vertrautheit mitsolchen theoretischen und metatheoretischen Problemen der Wissenschaft,deren Beherrschung von einem Hochschulabsolventen wahrscheinlichweitaus eher als schon von einem spezialisierten Industrie-,physiker verlangt wird, werden dem Schüler zusEitzlich noch fachlichrezeptiveFähigkeiten abverlangt, die ihm als kundigem Laien einnachvollziehendes Verständnis naturwissenschaftlicher Erkenntnisseermöglichen sollen ("Einblick in die physikalischen Vorgänge",Erklären von Naturphänomen" , "exemplarische physikal'ische Zusammenhängeerkennen").


- 100 -Die Vermittlung all dieser fachlichen Kenntnisse ist insgesamtnur eine Seite der offenkundigen Absicht, im Physik- und ChemieunterrichtMiniwissenschaftler auszubilden. Erg~nzt wird dies durchdas Vorhaben, allgemeine wissenschaftliche Arbeitsf~higkeiten zu'vermitteln. So sollen "die Grundzüge wiss'enschaftlichen Arbeitensbekannt" gemacht und "wissenschaftliche Arbeitsmethoden erprobtwerden"."Genaues Beobachten von Erscheinungen" soll dabei ebensogeUbt werden, wie die "systematische Suche nach ErkHirungen"Doch die Erziehung zum. Wissenschaftler - wie ihn die Lehrer sehen -geht noch weiter. Denn der Schüler soll sich nicht nur die fachlichenKenntnisse und Arbeitsmethoden aneignen, er soll auch dasWelt- und Gesellschaftsbild des Berufswissenschaftlers zu seinemeigenen machen. Denn im Mittelpunkt der bereits in der quantitativenAnalyse als Bildungsschwerpunkt der exakten Naturwissenschaftenausgewiesenen Besch~ftigung mit der Gesellschaft und ihren Problemensteht eindeutig die Frage der Relevanz der gesellschaftlichen EntwicklungenfUr die Entwicklung der Wissenschaft. (Zielangaben:"Zusammenhang Physik und Gesellschaft", "gesellschaftliche Bezügedes Faches kennen", "historische Entwicklung der Physik kennen").Dieser Blickwinkel verengt sich h~ufig noch weiter dahingehend, daßgesellschaftliche Entwicklungen kurzerhand auf die Entwicklungen von 'Naturwissenschaft und Technik zurückgeführt werden, etwa wenn esdarum geht, "Einsichten in die von Wissenschaft und Technik gepr~gteWelt'" zu vermitteln. Aus dieser auf Wissenschaft und Technik verkürztenWeltperspektive gewinnt dann natürlich die Auseinandersetzungmit "der Verantwortung des Physikers in der Forschung" undseiner allgemeinen "Verantwortung gegenüber der Gese,llschaft" einebesondere Bedeutung.Die einer solch technokratischen WeItsicht zu Grunde liegende Überhöhungder gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften,deren Vertreter in der Gesellschaft nicht mehr nur als bloße Fachspezialisten,sondern als allein fachkundige Entscheidungstr~gererscheinen, versteht Gesellschaft letztlich als eine Wissenschaftstheokratie,in der folgerichtig auch laienhaftes Teilhabewissenan den Naturwissenschaften zum notwendigen Bestandteil der Allgemeinbildungavanciert (ein Chemiestudent: "Chemie unserer Zeitgehört zur Allgemeinbildung"). Doch nicht nur als verbindliches


- 101 -Kulturwissen beansprucht die betreffende Studentengruppe für ihr -Fachwissen allgemeine Relevanz, es wird darüberhinaus auch alsunerläßliche Grundlage für eine breite,. vom Tempo der technischenEntwicklung bestimmte Berufsqualifikation betrachtet, ebenso wiees als unentbehrliches Wissen für die Bewältigung des individuellenAlltags erscheint. Dabei kommt im studentischen Zielkanon demNachweis der Relevanz des Faches für Technik und Beruf mit12% derNennungen in etwa das gleiche Gewicht wie der Relevanzbehauptungin punkto Alltagsbewältigung (11%) zu.Dieser doppelte Grundlagenanspruch für Technik/Beruf einerseits undAlltag andererseits war zwar auch scl'}on von den Mathematikern- sogar noch nachdrücklicher - erhoben worden, doch wird er vonden Naturwissenschaftlern nicht auf ein die fachwissenschaftlichenMethoden und Denkweisen· nochmals abstrahierendes "Superparadigma"der Logik, sondern auf die spezifischen Verfahren und Denkweisendes Faches selber bezogen.Das akademische Fachparadigma als solches scheint hier also zurLegitimation des Bildungsanspruches auszureichen. Die Naturwissenschaftensind offensichtlich ein derart gesellschaftlich anerkannterWert, daß sie lediglich ein wenig fachdidaktisch idealisiertwerden müssen, um ihnen die Anerkennung ihrer Bildungsrelevanz zusichern. Dementsprechend fungiert für die Physik- und Chemielehrereinfach das (legitimatorische) Selbstbild ihrer akademischen Fachkollegenals Bildungsnorm, und der um seine gesellschaftliche Wertschätzungwissende · verantwortungsvolle Naturwissenschaftler istderen Personifikation.3.4. Der NaturfreundDie gegenüber den exakten Naturwissenschaften ganz anders gearteteFachlegitimation der Biologie kündigt sich schon bei der Sichtungder ausgedehnten expliziten Propagandaziele für dieses Fach an. Mitknapp 10% aller Nennungen verwenden die Biologen auf die Weckung ,fachspezifischer Interessen bei den Schülern rund doppelt sovielMUhe wie die Vertreter der anderen Fächer, wobei es ihnen nicht nurum ein bloß kognitives Interesse am Fach bzw. Fachgegenstand, sondern


- 102 -vor allem um die Vermittlung eines affektiven Bezugs zur Natur selbergeht: Es soll eine innere "Beziehung zur Natur" oder gar "Freudean der Natur" geweckt werden.Dementsprechend wird den fachsystematischen Grundlagen der Biowissenschafteine weitaus geringere Bildungsbedeutung als im Falle derPhysik und Chemie zugemessen •. Selbst die relativ wenigen Ziele,die dies ansprechen, lassen keineswegs ein in dem Ausmaß theoretisiertesWissenschaftsverständnis erkennen, wie es die Vertreterder exakten Naturwissenschaften postulierten. Nicht ein einzigesMal ist von den "Denkweisen" des Faches die Rede, es fehlt jedermetatheoretische Hinweis auf Wissenschaftssystematik und Fachstruktur,und nur sehr am Rande stehen die "Methoden der Forschung" und"theoretische Probleme" zur Debatte. Auch die Vermittlung allgemeinerwissenschaftlicher Fähigkeiten findet nicht die Beachtung,die ihr von "Physikern" und 'themikern" ge zoll t wurde.Im Vorder~rund steht stattdessen die Beschäftigung mit solchenFachinhalten, die auf den Problemkomplex Mensch-Natur-Umwelt bezogensind. Dabei dominieren vor allem Themen, die 'sich mit ökologischenProblemen der Beziehung Mensch-Natur befassen. So sollendie "Auswirkungen von Eingriffen in die Natur" studiert und aas"ökologische System und die Bedeutung des ökologischen Gleichgewichts"erkannt werden. Nimmt man noch die Unterrichtsziele hinzu,die sich mit dem Körper und dem Organismus des' Menschen befassen("den eigenen Körper kennen'lernen", "Körperfunktionen verstehen","Biologie des Menschen"), so sind knapp 20% aller Ziele an demThema Mensch und Umwelt orientiert.Schon stärker auf eine Fachsystematik der Biologie (wenn auch aufdie des 19. Jahrhunderts) hin ausgerichtet sind diejenigen Ziele,die auf eine systematische Kenntnis der Flora und Fauna und derenEvolution ausgerichtet sind. Doch wird diesen Themen im Ganzen nureine relativ geringe Aufmerksamkeit gewidmet. Die zentralen Themender modernen, theoretischen Biologie der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts(Biochemie, Molekularbiologie, Genetik) schließlich findenunter den befragten Biologiestudenten sogar fast keinerlei Beachtung.Die geringe Beachtung von solchen Bildungszielen, die eine Vermittlungtheoretisch-systematischer Kenntnisse oder wissenschaftsmethodologischerProbleme und Paradigmen intendieren, ist zunächst sicher-\


.- 103 -lich als Folge des weniger systematisierten und theoretisiertenWissenschaftsverständnisses der Biologie zu betrachten. Der nochweitgehend auf dem Niveau des Sammelns und OrdnElns angesiedelteWissenschaftsanspruch findet seinen Niederschlag denn auch in einemeindeutigen Übergewicht von Unterrichtszielen auf dem Lernzielniveauder Kenntnisvermittlung, das im Zielkanon der Biologiestudentenum ein fUnffaches höher besetzt ist als das der Fähigkeitenund Fertigkeiten.Zum anderen aber dokumentiert der ger.!. nge Stellenwert theor~tischerKenntnisse im BlldungsverstMndnis der Biologül'lehrer" Lebensnäheihrer didaktischen Vorstellungen/die an die Stelle der Wissenschaftsorientierungder Physik- und Chemielehrer" getreten ist. Dementsprechendist die Behandlung gesellschaftsbezogener Themen, deneninsgesamt ein breiter Raum zugemessen wird, nicht auf den" bloßenGesellschaftsbezug der Fachwissenschaft reduziert. Stattdessen steht- der didaktischen Leitlinie "Mensch-Natur" folgend - im Vordergrunddes biologieunterrichtlichen Gesellschaftsbezuges das Problem derUmweltzerstörung und des Umweltschutzes, das allerdings auch inseiner ant hropologischen Überhöhung thematisiert und.1deologi_siert wird ("Unwichtigkeit des Menschen in der Natur", "Mensch "nichtUber Natur stellen, sondern als Teil verstehen", "Mensch muß WeltschUtzen").Entsprechend gehen die zukUnftigen Biologielehrer auch nicht von derBedeutsamkeit ihrer Wissenschaft als solcher fUr den Alltag derSchUler bzw. des Erwachsenen aus, ebenso wie sie die schulische BeschMftigungmit der "Biologie nicht als qualifikatorische Vorbereitungauf den Beruf betrachten. Vielmehr geht es ihnen darum, die"SchUler zu einer umweltbewußten Lebensform zu fUhren", ihnen"ihre Umweltdurchschaubar zu machen" und ihnen "eine Beziehung zurUmwelt" zu vermitteln.Die starke Betonung affektiver Einstellungen zu Natur und Umwelt,die auf Einordnung in die Natur, auf Naturallianz hin ausgerichtetund an die Stelle der durch wissenschaftliche Distanz geprMgtenkognitiven Beherrschung der Natur getreten sind, wird ergMnzt durchdie Absicht, die SchUler insbesondere zur Entwicklung persönlicherHaltungen anzuregen. Nicht die ~örderung kognitiv-logischer FMhigkeitenwie bei den"Mathematikerti'noch die allgemeiner wissenschaft-


- 104 -licher Fähigkeiten wie bei den exakten "Naturwissenschaftlern';' sondern die Ausbildung individueller Tugenden und Haltungen ('Mutzur Stellungnahme', 'SelbstwertgefUhI", "Emanzipation) steht im Vordergrundder auf das Individuum bezogenen Bildungsabsichten derBiologiestudenten.Versucht man das solchermaßen konstituierte SchUlerideal der zukUnftigenBiologielehrer zu einem Persönlichkeitstyp zusammenzufassen,so drängt sich das Selbstbild des Naturfreundes und dessammelnden, nur zaghaft in die Natur eingreifenden Naturforschersvorindustrieller Zeiten auf. BemUht um eine - sich selbst als Naturwesenverstehende - Einordnung in den Gesamtzusammenhang derNatur (oder moderner ausgedrUckt: bemUht um die Erhaltung des ökologischenZusammenhangs)ist dessen Ziel die Allianz mit der Natur,die Herstellung eines - ihn als Menschen einschließenden - naturgutenZustandes, dessen prästabilisierte (gesellschaftliche) Harmoniedurch die Kenntnis und Einhaltung natUrlicher (ökologischer)Gesetze garantiert oder doch zumindest wiederherzustellen ist.Seine Gesellschaftlichkeit als eher individuelles Naturverhältnismißdeutend, erscheint ihm auch die Gesellschaft zu allererst alsnatürliche Umwelt, die es zu erkennen und deren Ordnung es einzuhaltengilt, wozu biologisches Wissen wichtige Hinweise zu geben vermag.Naturwissenschaftliches Wissen dient dem Naturfreund also nichtals Mittel der Naturbeherrschung, sondernas Weg der Naturerk~nntnis.Letztlichist dies jedoch nur eine der beiden Voraussetzungen fürdie angestrebte Naturallianz • Mindestens ebenso wichtig ist dieemotionale Beziehung zu der Natur.Wenn auch den Bildungszielen der "Biologen" damit ebenso wie den alleranderen Fachvertreter eine letztlich fachspezifische Persönlichkeitsvorstellungzugrunde liegt, so lassen doch ihre insgesamtvergleichsweise lebensnäheren und handlungsorientierteren Unterrichtszieleein stärkeres Eingehen auf den allerdings ebenfalls völligschichtunspezifisch gesehenen Schüler erwarten. Dafür spricht nichtzuletzt, daß sie dem Problem der Sexualität und der Aufklärung derSchÜler immerhin 5% ihr~r Unterrichtsziele widmen.


- 105 -3.5." Der KosmopolitWährend der tatsächliche Formel- und Faktendrill im Mathe-, Physik-,Chemie- und Biologieunterricht in den Bildungsvorstellungen derentsprechenden Lehrerstudenten kaum irgendeinen Ausdruck findet,wird der FremdSp.rache"ndrill von den zukünftigen Lehrern der englischenund französischen Sprache recht offen als Unterrichts zielbenannt. Allein 25% ihrer Zielnennungen sind der Vermittlung"von aktiven und passiven Sprachfertigkeiten gewidmet, weitere 10%der allgemeinen Sprachkenntnis'. Ein grober Uberblick zeigt, aaßinsgesamt ca. 40% aller Ziele auf die Sprachvermittlung, ebenfalls40% auf die politische, geographische und historische Landeskundeund die restlichen 20% auf die Beschäftigung mit der fremdsprachigenLiteratur entfallen. Damit stellt sich der Englisch- und Französischunterrichtaus der Sicht der Fachvertreter als eine Art Superverbindungvon Sprach-, Kunst-, Geographie-, Geschichts- und Politikunterrichtam Beispiel eines fremden Landes dar, wobei allerdingsdie Menge der nicht im engeren Sinne sprachunterrichtlichen Zielnennungenin keinem Verhältnis zu deren tatsächlichen Bedeutung inder Bildungsrealität stehen dürfte.Zudem werden selbst die Ziele der Sprachvermittlung im engeren Sinneauffällig überhöht. So finden die zumeist einzig relevanten rezeptivenSprachfertigkeiten (Lesen und Hören einer Fremdsprache) praktischkeinerlei Beachtung: Nur zwei von insgesamt 50 Zielen derSprachvermittlung nehmen hierauf Bezug. Die weitaus seltener benötigtenexplikativen Sprachfertigkeiten des Schreibens und Redensin einer Fremdsprache stehen mit 12 Zielen schon deutlich höher imKurs. Als wichtigstes Ziel der Sprachvermittlung fungiert jedochdie Befähigung zur fremdsprachlichen Kommunikation als vorgeblichunumgängliche Voraussetzung zum Verstehen fremder Kulturen und Gesellschaften.Dementsprechend tritt der berufsvorbereitende Aspektdes FremdRprachenerwerbs gegenüber der Betonung seines Freizeitwertesstark zurück ( "Beschä"ftigung mit Frankreich außerhalb derSchule", "Motivation zum Schüleraustausch").Maßgeblich für diese Ausrichtung ihrer Unterrichts intentionen istdas offenbare Selbstverständnis der "Fremdsprpchler'; schulischeVerteter eines fremden Landes und einer fremden Kultur zu sein.Das wird besonders deutlich in dem hohen Anteil landeskundlicherZielvorstellungen. Alle"in 11% aller Ziele lassen den expliziten


- 106 -Versuch erkennen, Verständnis fUr die fremde Kultur zu wecken("kulturelles, landeskundliches Ver~tändnis", "Vermittlung einesfremden kulturellen Hinergrundes", "Kultur und Geschichte nahebringen"usw.). Weitere 16% der Unterrichtsziele thematisieren diegesellschaftlichen und politischen Probleme und Strukturen derfremden Gesellschaft ("Politisches System Englands", "SozialeProbleme", "Staatsaufbau", "Wissen Uber Politik und Wirtschaft"),zum Teil sogar mit dem Anspruch auf einen interkulturellen Vergleich("Unterschiede im geistigen-politischen und sozialen DenkenEngland-BRD~, "Vergleich mit deutschen Verhältnissen"). Hierbeispielt die in fast jedem vierte~ Unterrichts'ziel angesprochene Absichteine Rolle, "Verständnis und Toleranz einer fremden KulturgegenUber" zu entwickeln und "Vorurteile abzubauen".DemgegenUber wird sprach- und literaturwissenschaftlichen Themenso gut wie keine Bedeutung zugemessen: Ganze 4% aller Ziele entfallenauf diesen wissenschaftlichen Zielbereich. Dabei wird Uberdiesweder die Vermittlung allgemeiner wissenschaftlicher oderkognitiver Fähigkeiten noch gar die Problematik der gesellschaftlichenBedeutung der entsprechenden Hochschulwissenschaften,Anglistikoder Romanistik,angesprochen.Insgesamt iäßt dies alles das Ideal einer SchUlerpersönlichkeitdeutlich werden, die ihr Vorbild in dem libera~toleranten WeltbUrgerund Kosmopoliten findet, der nicht nur der gesellschaftlichen,politischen und kulturellen Entwicklung fremder Nationen und Kulturenkundig, sondern damit zug~ch auch zu einer distanzierten Betrachtungseiner eigenen Gesellschaft fähig ist. Nicht so sehr geseIlschaftswissenschaftlichesWissen Uber die eigene Gesellschaft,sondernvor allem die Kenntnis der Entwicklung fremder Gesellschaften befähigenden WeltbUrger zur Einsicht in die Probleme seines Landes undlassen ihn zum Vorreiter internationaler Verständigung werden.Auffällig ist, daß die Fremdsprachler in besonders rigider Weiseihre Bildungsziele nicht von irgendwelchen vermeintlichen Bildungserfordernissendes Individuums her begründen, sondern ihren Fachbildungsanspruchden Lernsubjekten unvermittelt entgegenstellen ..Nur 15% aller Unterrichtsziele thematisieren den Lebens- und Sozialbezugder Schüler bzw. deren individuelle Fähigkeitsentwicklung ,während im Schnitt der Fächer darauf 34% entfallen. Hierin wird einegewisse Uberlebtheit sprachlicher Bildung deutlich, die für eie


- 107 -Nachkommenschaft frUherer Oberschichten noch als SchlUssel zurgehobenen Konversation und Kultur fungierte, heute ,aber diesesexklusiven persönlichen Nutzwertes weitgehend enträt.3.6. Der FunktionärEntsprechend ihrer quantitativen Außenseiterrolle stehen in denBildungsvorstellungender angehenden Politik- und Geschichtslehrerweniger spezielle Fachkenntnisse als vielmehr. (mit fast '50% allerNennungen)fndividuelle Einstellungen und -Haltungen im Vordergrund.Etwa gleichgewichtig geht es ihnen dabei um die Entwicklung von11 Kri tikfähigkei t'~ . um das "Erlernen solidarischer bzw. kollegialerVerhaI tensweisen" und um die Ausprägung einer eigenen Individualität(MUndigkei t", ' 'kreatt vi tät', "Nonkonformismus').Die hierin deutlich werdende hohe, von konkreten Situationen losgelösteAllgemeinheit der Haltungsziele bestimmt ,auch den Charakterder fachlichen Bildungsziele, die ähnlich wie bei den Mathematikernpraktisch keine einzelnen Fachgegenstände bzw. Fachthemenbereiche ansprechen,sondern der Betrachtung von "Strukturen" und "Zusammenhängen"Vorrang geben. Formulierungen wie "Einblicke in die gesellschaftlichenZusammenhänge", in die "historischen und gegenwärtigenZusammenhänge" ,und die "Erkenntnis der wirtschaftlichenund politischen Zusammenhänge" lassen erkennen, daß vor allem diegesellschaftswissenschaftlich distanzierte, kognitive Erfassungpolitischer Ereignisse eingeübt werden soll. Dies wird durch denrelativ hohen Anteil von Unterrichtszielen unterstrichen, in denenes um die Denkweise des Faches, "das Erkennen, Deuten 'und Erfassenpolitischer und sozialer Probleme" geht. Abgesehen von einem deutlichschichtenspezifischen Zugang zu politischem Handeln, der sichin derlei Zielsetzungen dokumentiert, verblüfft hieran die bislangnur bei Naturwissenschaftlern vermutete Wissenschaftsorientierungdes 'Bildungsverständnis'ses der Poli tik- und GeschichtsStudenten.Allerdings'fällt im Vergleich zur Wissenschaftsorientierung der , Physik- u.Chemiestudenten bei den Vertret~rn der gesellschaftlichen "Reali~n"eine erheblich geringere Ausprägung des Hanges zur Hypostasierungder Fachwissenschaft auf, wird doch weder die Vermittlung allgemeinerwissenschaftlicher, Fähigkei ten noch die Erarbei tung methodologischerund wissenschaftstheoretischer Probleme im vergleichbarem


Umfang angestrebt.- 108 -Die Bedeutung gesellschaftswissenschaftlichen Wissens fUr dasLeben des Einzelnen wird von den Politik- und Geschichtsstudentenin immerhin 10% aller Unterrichtsziele deutlich unterstrichen. Siewird vor allem darin gesehen, den "eigenen Stellenwert in der Gesellschaft"erkennen, "gesellschaftliche Probleme fUr sich selberauswerten" und "historische Zusammenhänge als Hilfe fUr das eigeneLeben" nutzen zu lernen.Alles in allem könnte man diese Bildungsziele mehrheitlich im Bildeines Partei- oder Gewerkschaftsfunktionärs auf den Begriff bringen,der - indem er die intellektuelle Gesellschaftsanalyse zur Voraussetzungpolitischen HandeIns erklärt - seine Funktionstätigkeitletztlich durch den Besitz wissenschaftlicher Wahrheit legitimiert,zugleich aber auch die Aufgabe angeht, durch die Förderung solidarischerbzw. kollegialer Verhaltensweisen die Durchsetzungskraftder von ihm geführten Organisation zu erhöhen.3.7. Der ErfolgsmenschDie Bildungsziele der Sportlehrerstudenten lassen mit ihrem im Vergleichnoch kleineren Anteil fachlicher und gesellschaftsbezogenerUnterrichtsziele und einem entsprechend höheren Anteil von Zielen,die auf das Individuum bezogen sind, auf einen besonders geringenStatus des Faches in der kulturellen Werteh~archie der Schuleschließen. Ähnlich wie die Biologen legen die zukUnftigen Sportlehrergroßen Wert darauf, durch ihren Unterricht eine affektive Beziehungder SchUlern zu ihrem Fach zu fördern. Damit verbindet sich - ebenfallswie bei den Biologen - die weitgehende Abkehr von jedwederFachsystematik/etwa im Sinne der Sportwissenschaft, der Sportmedizinoder allgemeiner wissenschaftlicher Methoden und Fähigkeiten. Trittbei den Biologen an die Stelle der Fachsystematik als didaktischeLeitlinie das Verhältnis Mensch/Natur, so rUckt bei den Sportlerndas Verhältnis des Menschen zu seinem Körper an dessen Stelle,werden darauf doch explizit 22% aller Unterrichtsziele verwandt.Implizit ist auch die Mehrheit jener 12% der Unterrichtsziele,die derVermittlung' fachlicher Fähigkeiten und Grundkenntnisse dienen/daraufausgerichtet.


- 109 -Im Vordergrund stehen dabei das Erlernen motorischer Fertigkeitenund das Kennenlernen von Sportarten und Bewegungsformen~ DieProbleme der Körperentwicklung sollen zu ' jeweils 2/5 durch Bewegungs-und Fitness-Training und durch Entwicklung eines Körperbewußtseinsangegangen werden ("Bewegungsgenuß", "Körpergefühl entwickeln",'"Körperbewußtsein"). Darüber hinaus werden Fragen derHygiene, der Gesundheitserziehung und der Rehabilitation als Zieldes Sportunterrichts thematisiert.Auf der Basis der solchermaßen gesicherten körperlichen Leistungsfähigkeitgilt es in den Augen der Sportler nun, auch psychischeStabilität zu entwickeln. Mit 26% der Unterrichtsziele sollen"Kreativität", "Selbstbewußtsein", "Kooperations-, KommunikationsundHandlungsfähigkeit" gefördert werden. Zudem wird der sportlichenBetätigung eine streßkompensatorische Ausgleichfunktion für dasim Berufsleben leistungs- und konkurrenzgeplagte Individuum zugeschrieben.Sport soll es Schülern wie Erwachsenen ermöglichen,die in den anderen Fächern bzw. im Beruf erlebten Frustrationen zuverarbeiten und so ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten. ("Sport alsAusgleich gegen Schule und Beruf", "Gegenpol zu anderen Fächern",Ausgleich zur Berufstätigkeit", "Kompensation anderer Schulfächer").Auf diese Weise den Streß und seine Ursachen letztlich nur perpetuierend"sollensich die Betroffenen dabei überdies durch sportmännische-fair-play-Verhaltensweisenund Rücksichtnahme gegenüberden Mitkonkurrenten auszeichnen.Generell dominiert also in den Vorstellungen der Sportstudenten einsozialkompensatorisches gegenüber einem auf soziale Veränderung angelegtenpolitischen Verhalten. Die Gesellschaft gerät dabei als eigentlicheUrsache des zu Kompensierenden gänzlich aus dem Blickfeld.Sie spielt dementsprechend in den Bildungszielvorstellungen derSportstudenten keine bedeutsame Rolle: Ganze 3% aller Unterrichtszielebeziehen sich auf gesellschaftliche und soziale Zusammenhänge,und zwar hauptsächlich auf eine kritische Betrachtung des Leistungssportes.In pädagogischer Hinsicht sind die Vorstellungen der Sportstudentengeprägt durch eine im Vergleich zu ihren Kommilitonen ungewöhnlichstarke Betonung der sozialen Prozesshaftigkeit des Unterrichts.Der Gedanke des "Miteinander Sport-~reibens" oder das Vorhaben, die


- 110 -im Unterricht abgelaufenen gruppendynamischen Prozesse zu beachtenund die "Interaktion zwischen den Schülern zu fördern", führen zueiner recht starken Schülerorientierung ihrer pädagogischen Absichten.Vorbild des Persönlichkeitsideals der Sportlehrer ist demnach nocham ehesten der sich sozial verantwortlich fühlende Angehörige einergesellschaftlichen Funktionselite, der sich zwar durch streßbelasteteKonkurrenz seine Position sichern mUß,gleichwoh1 aber nichtan der (ge.se11schaft1ichen) Änderung seiner Funktion interessiertist. Aus seiner Sicht ist die körperliche und sportliche Betätigungnotwendiger Berufsausgleich, und zugleich ein Beitrag zum Erhaltseiner Leistungsfähigkeit. Ziel ist für ihn vor allem ein befriedigendesKörpergefühl und Körperbewußtsein, das sein trotz Streß (odervie11eicpt gerade wegen der damit implizierten Anerkennung seinerWichtigkeit) befriedigtes Berufs(se1bst)bewußtsein ergänzt und abrundet.Am ehesten entspricht dieses Persönlichkeitsbild sicherlich demFremd- und Selbstbild der freiberuflichen, mittelständischen, imhelfend-beratenden Bereich tätigen Intelligenz/wie etwa dem Arztund dem Rechtsanwalt. Sie sind zwar der ökonomischen Konkurrenzausgesetzt, haben sie aber kaum ernsthaft zu befürchten, so daß sieLeistungsideologien auf der Basis des eigenen Erfahrungshintergrundesscheinbar berechtigt vertreten können.4. Die Lehrer im Zugriff der FachsozialisationDie aufgezeigte Vielgestaltigkeit der fachspezifischen Zielcharakterefordert natürlich noch einmal nachdrücklich zu der Frageheraus, ob diese Charaktere allesamt noch miteinander vereinbarsind, also sozusagen nur Teilcharaktere eines synthetischen Ganzen,des personalen Bildungsideals, darstellen, oder aber auch beimbesten Willen nicht mehr unter einen wie auch immer gearteten Hutzu bringen sind. Diese Frage stellt sich vor allem deshalb - undhierauf sei noch einmal besonders hingewiesen -,weil sich dieBildungansprUche der Fächer durchweg nicht auf die bloße Vermittlungvon äußerlichen Kenntnissen und Fähigkeiten beschränken, derenVereinigung in enzyklopädisch veranlagten Kopfriesen immerhin noch


- 111 -denkbar wäre. Vielmehr geht es in allen Fällen mehr oder wenigerum die Formung von Persönlichkeiten mit spezi«ischen Denkgewohnheiten,Haltungen und Einstellungen. Diese vielfältigen Sozial i­sationsan~prüche sind aber nicht so einfach voneinander zu trennenwie , die fachspezifischen Wiss'ensquanten,. und die Frage ist eben,ob sie dort, wo sie einander überdecken, widersprüchliche Anforderungenan die Sozialisation der Schüler zur Folge haben.Nicht gerade widersprüchlich, aber realistischerw,eisekaum in einerPerson zu vereinen sind die Lernanforderungen in solchen Zielbereichen,die von allen Fächern gleichermaßen angegangen werden.Ein Beispiel hierfür ist die Sprache der Schüler, an die nicht nurim Deutsch- und Fremdsprachenunterricht , sondern auch in anderenUnterrichtsdisziplinen zum Teil erhebliche Ansprüche in Hinblickauf das Erlernen der Lexik und Syntax der je spezifischen Fachsprachegestellt werden 13). Ein anderes Besipiel ist das ästhetischeEmpfinden, auf dessen erzieherische Ausformung jedes Fachseinen eigenen Anspruch erhebt; gleichzeitig jedoch die abstraktenKonstruktionen der Mathematik, die Gesetzhaftigkeit der Physik;das harmonische Ineinandergreifen der Lebensvorgänge in der Biologie,die Bewegungsformen des menschlichen Körpers im Sportunterricht,die Produk~e , deutscher und ausländischer Schriftsteller, Lyriker,Maier, Bildhauer und Komponisten in den Kulturfächern - das andereGeschlecht taucht ,in dieser Liste übrigens nicht auf - ästhetischansprechend zu finden, das dürfte ein normales ästhetisches Fassungsvermögenbei weitem übersteigen. Ähnliches gilt schließlich auchfür die von den Fachvertretern intendierte emotionale Vereinnahmung'der Schüler f~r ihre jeweiligen Disziplinen; auch hierdürfte die Kapazität der SChülerpsyche,an allen schulisch repräsentiertenFachgegenständen und -methoden gleichermaßen "Spaß" zuhaben ,und Über sie "Freude" zu empfinden, überfordert sein.13) So weisen Bräm~~ und Clemens nach, daß beispielsweise derPhysikunterricht in der Regel weitaus höhere Anforderungen hinsichtlichder Aneignung von (Fach-)vokabeln stellt als der Englischunterricht.Ra i ner Brämer, Hans Clemens: Physik als Fremdsprache.Der Physikunterricht H3/1980, im Druck.


"- 112 -Abgesehen von derartigen intenti.onalen Uberbesetzungen bestimmterZielbereithe lassen sich zwischen den Sozialisati.onsabsichten dervon uns befragten Studentengruppen aber auch eindeutige Widersprücheausmachen, S.o beanspruchen etwa die zukünftigen Mathematiklehrer,in ihrem Fach die Grund~agen allen, insbes.ondere aberdes logischen und abstrakten Denkens zu vermitteln. D.och widersprichtdie mathematische Rati.onalität nicht nur den überwiegendenDenkanforderungen des Alltags, auch die Fächer Politik oderDeutsch können nur hoffen, daß die Schüler nicht allzuviel davonverinnerlicht haben. Denn die lineare Deduktionslogik der Mathematikverträgt sich durchaus nicht mit den komplexen DenkmusternsozialkWldlicher oder literarischer Provenienz. Und selbst dieNaturwissenschaften haben bei einem hartgesottenen mathematischenDenker Schwierigkeiten, ihre pragmatischen Verfahrensweisen plausibelzu machen. Uberdies setzen die Mathematiklehrer ihre axiomatischenDenkkonstrukte scheinbar in den luftleeren Raum reinenDenkens,um sich dann jedesmal aufs neue zu wundern, wenn sie sichin der UmWelt als anwendbar erweisen. Die Naturwissenschaftler erdenkendemgegenüber ihre Erkenntnisse in der mühsamen Abarbeitungan den objektiven Gegebenheiten der Materie, während die Kulturschaffendenihre Einsichten schließlich aus den Tiefen der menschlichenPsyche gewinnen.Noch deutlicher als in diesen unterschiedlichen Denkansätzen und-weisen wird der Gegensatz der Fachansprüche hinsichtlich des demSchüler anzuerziehenden Verhältnisses zu den Dingen und Strukturenseiner Umwelt. Während die Mathematik Phänomene und Strukturenstreng trennt und nur letztere als wesentlich gelten läßt, bildensch.on in der Biologie, von der Gesellschaftslehre ganz zu schweigen,Phänomene und Strukturen eine unlösbare (bzw. dialektische ) Einheit.Auch das Zergliedern von Sachen in seine Aspekte - in der Physikhöchste Tugend - ist in der Biologie zugunsten eines ganzheitlichenErfassens der Wirklichkeit nur" sehr begrenzt zugelassen, währendim Deutschunterricht hierin sogar ein ausgesprochener Kunstfehlergesehen wird.Ähnliches gilt für die Einbeziehung des mit seiner sächlichen Umweltin Beziehung tretenden Subjektes in die fachliche Reflexion.Während im naturwissenschaftlichen Unterricht das beobachtende Subjektgänzlich außen vor bleibt, in der Sachanalyse also nichtansatzweise auftaucht, ist es im politischen Unterricht über das


- 113 -Interessenkonstrukt ein ganz wesentliches Moment der Ana.lyse, und-im deutschen und fremdsprachlichen Literaturunterricht wird dieUmwel t gar überh'aupt nur durch und über die beteiligten Subjekteerfahrbar. Dementsprechend sind aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichenObjektverhältnis alle Werthaltungen und Emotionenausgeschlossen, in der Lrteratur sind sie umgekehrt geradezuobligatorisch.Man könnte diese Konfrontation der fachspezifischen Sozialisationsansprüche- etwa unter den Aspekten der Innen- und Außenzentrierungder Persönlichkeit, ihrer Sach-, Personen- und Gruppenorientierungoder ihrer Kopf-, Affekt- und Körperbestimmtheit - noch eine ganzeWeile fortführen, doch dürften die genannten Beispiele ausreichen,um die theoretische Inkonsistenz der Gesamtheit der Bildungszielvorstellungenunserer Lehrerstudenten zu belegen. Überdies wirddiese Inkonsistenzfeststellung von "der schulisch~n Praxis drasti&chuntermauert. Denn es dürfte wohl kaum ein Lehrerkollegium geben,in dem auch nur ein einziger Kollege das von der Lehrergesamtheitangestre,bte Bildungsideal in sich auch nur ansatzweise repräsentiert.Ja, die Institution des Fachlehrers setzt zu seiner Begründunggeradezu umgekehrt voraus, daß es 1l'l der Erwachsenenweltkeinerlei integriertes Vorbild für das g~bt, was der .Schülereinmal werden. soll. Das gilt sowohl hin'sichtlich der Fülle der vonden SchUlern zu erwerbenden Kenntnisse, die in ihrer. enzyklopädisehenGesamtheit in der Regel von keinem ihrer Lehrer beherrschtwerden, als auch im Hinblick auf die erwähnten Denkweisen, Einstellungenund Verhaltensdispositionen, die im Kollegium nichtselten tiefe Gräben aufwerfen.Wenn die Fächer also nicht auf ein gemeinsames Bildungsideal verpflichtetsind, weil sich die Summe ihrer Bildungsansprüche garnicht realisieren läßt, dann stellt sich natUrlieh die Frage, welcheallgemeinen Ziele die Einzelfächer anstelle dieses nicht zuletzt quaFachlehrerprinzip außer Kraft gesetzten Ideals verfolgen. Unserestudentischen Zielvorstellungen geben hierüber eine relativ eindeutigeAuskunft : Jede Fachlehrergruppe versucht ganz offensichtlich,die SchUler so weit als möglich zu sich herUberzuziehen. Das" beginnt beim zu vermittelnden "Spaß" an der jeweiligen Disziplinund geht Uber die implizite Verpflichtung auf die fachspezifischeSprache und Denkweise bis hin zur Suggerierung eines ganzen Welt-


-114 -bildes aus der Sicht der betreffenden Fachdisziplin.Die Schüler werden dementspre~hend von Stunde zu Stunde zwischenden paradigmatischen Ansprüchen der Fächer hin und her gezerrtund sollen bald abgehobene Denker, bald feinfühlige Sozialwesen,bald selbstdisziplinierte Arbeiter sein. Kein Wunder, daß sie sichrecht bald für das eine oder andere Fach entscheiden, um den AnpassungswUnschenihrer Leh~er wenigstens partiell nachzukommen.Diesem Identifikationsbedürfnis der Schüler im Chaos des schulischenSozialisationsangebotes kommen die Lehrer mehr (Sozialkunde)oder weniger (Mathemati~hysik) entgegen. Auch dabei sind sie jedochprimär den Interessen ihres Faches verpflichtet, ihr Eingehenauf die Schüler ist als bloße Motivationstechnologie lediglichtaktischer Natur 14). Das Ergebnis sind Schüler mit Lieblingsfächer,die nur hier den in sie gesetzten Bildungserwartungeneinigermaßen nachkommen, und Lehrer mit Lieblingsschülern, die zunehmendzum Hauptorientierungspunkt ihrer Unterrichtsplanungavancieren. Und das Ganze beschreibt nichts anderes als den anunseren Schulen dominierenden Prozess der Fachsozialisation, derWeitergab~ fachspezifischer Einstellungen und Sichtweisen an eineMinderheit von dafür - aus welchen Gründen auch immer - besondersempfänglichen SchUlern 15)14) Das wird auch durch das geringe, kaum Uber Motivationsfragenhinausgehende Interesse der' Fachdidaktiker an der Beschäftigung mitdem Unterrichtsfaktor "Schüler" deutlich. Vergleiche hierzuRainer BräIDer:Was erfahren wir aus unseren fachdidaktischen ZeitschriftenUber die Wirklichkeit des naturwissenschaftlichen Unterrichts?physica didactika H 3/1979, S. 137 ff.15) Vergleiche hierzu Rainer Brämer: Die Beliebtheit des naturwissenschaftlichenUnterrichts als Kriterium fUr seine Sozialisatlonswirksamkeit.Zeitschrift fUr Pädagogik H 2/1979, S. 259 ff


.- 115 -Daß es im Fachunterricht tatsächlich um die Vermittlung der den jeweiligenBezugsdisziplinen eigenen .Fachsozialisation geht, zeigtein nochmaliger Blick auf die fachspezifischen Zielcharaktere, wiesie im letzten Abschnitt aus -den Bildungs·zielvorstellungen derLehrerstudenten synthetisiert wurden. So orientieren sich beispielsweisedie Physik- und Chemie"lehrer' in ihren Bildungszielvorstellungensogar ganz offen an der Sozialisation ihrer fachwissenschaftlichen"Kollegen". Offenbar ist der Typ des Naturforschers derart gesellschafts-bzw. vorbildfähig, daß die naturwissenschaftlichenLehrerstudenten ihn lediglich zum Wissenschaftler schlechthin hochzustillisierenbrauchen, um ihren fachspezifischen Bildungszielenübergreifende Legitimität zu verleihen 16)BEll den "Mathe·matikern" ist es nicht die· wissenschaftliche Mathematik,sondern das mathematische Denken in jedweder Form, daß zur allgemeinenDenknorm dogmatisiert wird. Doch ist genau dieses Dogma derKern der mathematikwissenschaftlichen Fachsozialisation und -legitimation,so daß das Verhältnis von akademischer Disziplin und Schulfachim Grunde dasselbe ist wie bei den exakten Naturwissenschaften,ohne das es jedoch so explizit artikuliert wird.Ähnliches gilt für die Biologie mit ihrer Fiktion des integriertenNaturmenschen, die Germanistik mit ihrer Definition des ·Menschendurch Literatur, die FremdSPrachen mit ihrem kosmopolitischen Aufklärungsanspruch,die Sozialwi~senschaften mit ihrer politischenFunktionärsperspektive und den Sport mit seinem Kompensationskonzeptfür Karrierestreßgeschädigte. Stets stellen die Zielcharaktereall dieser Fächer eine legitimatorische Verallgemeinerung der Fachcharakteredar, ohne daß dabei jedoch ein expliziter Bezug zur jeweiligenakademischen Disziplin hergestellt wird.16) Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß das Verständnisvon wissenschaftlichem Denken und Handeln, das die befragten PhysikundChemie studenten entfalten, die tatsächlichen naturwissenschaftlichenTätigkeiten extrem idealisiert, ja zum Teil sogar auf denKopf stellt. Doch befinden sie sich damit durchaus in Übereinstimmungmit dem herrschenden Fremd- wie Selbstbild der NaturWissenschaftler,sie nutzen also lediglich eine schon vorhandene legitimatorischeFiktion zur Legitimierung ihrer eigenen Bildungszieleund -existenz.


!L- 116 -Damit wird ein einheitlicher Mechanismus des Zugriffs der akademischenDisziplin auf die allgemeinbildende Schule erkennbar. EntscheidendesMedium dieses Zugriffs ist die Fachsozialisation, derim übrigen nicht nur die hiervon besonders tangierten Schüler,sondern vor allem auch die Fachlehrer selber unterworfen sind.Legitimiert wird dieser fachspezifische Sozialisationsanspruchdurch die Verallgemeinerung des Fachtypus zum Prototyp desjenigen,der sein individuelles und soziales Schicksal meistert. Als lebendigerVertreter dieses Prototyps tritt in der Schule der fachsozialisierteLehrer auf, der dort versucht, die Schüler qua persönlicherAusstrahlung und/oder fachlichen Engagement nach seinemselbstlegitimatorischen Bild zu formen.Erfolg hat er damit allerdings nur bei einer kleinen fachspezifischenMinderheit, während der überwiegenden Schülermehrheit dieFachansprüche äußerlich bleiben. Aus dieser kleinen Minderheit(pro Fach)rekrutiert sich jedoch sowohl die akademische Bezugsdisziplin als auch die Fachlehrerschaft selber, für die die Schuledamit als entscheidendes Instrument ihrer Nachwuchssicherung,- selektion und -sozialisation fungiert. Di e Hochschule brauchtdiese Fachsozialisation ihrer Studenten zumindest in den in eepSchule vertretenen Disziplinen dann nur noch geringfügig zu verstärken,um sie guten Gewissens in die . jeweilige Scientificcommunity aufnehmen oder in den Sozialisationszirkel Schule zurückschickenzu können.Doch ist weniger die eigene Nachwuchsrekutierung für die akademischenDisziplinen das eigentlichWesentliche an diesem Prozess,sondern ihre über das Medium der Fa


.- 117 -ihre bildungstheoretisc?en und praktisch-erzieherischen Aktivitätendie im Kern gänzlich unpädagogischen schulischen Vertretungs ansprücheder Hochschuldisziplinen. Diese Lehrer durch eine möglichstfachwissenschaftliche Ausbildung fest in den Sozialisationsgriff zubekommen und deren Nachwuchs schon auf der Schule durch einen möglichstwissenschaftsorientiertenUnterric,ht fachgerecht vor zu,:",sozialisieren, das 'muß also das Hauptinteresse der' Hochschuldisziplinenin Bezug auf die Schule sein. Und genau dieses fundamentaleInteresse läßt inder Tat jeden pädagogischen Reformversuch derakademischen Lehrerausbildung beständig in der Sackgasse enden.Die Parteilichkeit der Lehrer zugunsten ihrer Fächer (und damitim Zweifelsfall gegen die SChüler), ihr kolonialer Agentenstatusim Dienste ihrer Fachdisziplinen, ist also genaugenommen gleichdreifach verankert, nämlich zum einen unmittelbar durch die fachwissenschaftlicheLehrerausbildung, zum anderen mittelbar durch diehier nur endgültig gefestigte, aber schon auf der Schule, erworbeneFachsozialisation und schließlich durch die wechselseitige Legitimationssymbiosevon Hochschuldisziplinen unrt Schulfächern. Auf derStrecke bleibt dabei das Schülersubjekt, denn ihm bleib:t im Chaosder Schulfächer nur die Wahl, sich diesem oder jenem Sozialisationsanspruchzu unterwerfen. Dazu wird er sich nicht nur dem vorgegebenenFachcharakter anpassen, sondern zugleich auch die fachspezifischenLegitimationsmuster übernehmen. Beides, die Ubernahmeder Fachsozialisation und der Fachlegitimation, zählt zu den wenigenIntentionen von Schule, die sie - zumindest bei einer je kleinenMinderheit - nachweisbar positiv realisiert.Dem Rest der Fächeransprüche wird der nun solchermaßen ' ''beheimatete''SChüler lediglich formal gerecht werden, um das jeweilige schulischeEtappenziel zU erreichen. Nach jedem derartigen Etappenerfolgtritt dann - mit Ausnahme des oder der identitätsbildenden Fächerder, berühmte Vergessenseffekt auf , der jeden erschreckt, der sichschon einmal ernsthaft mit den qualifikatorisch'en Wirkungen vonSchule befaßt hat. Aber immerhin, wenigstens in einem Fach hat daserworbene Wissen nicht nur ausschließlich Tauschwertcharakter,sondern wird unter selektiver Verstär kung der fachadäquaten Charaktermerkmaleverinnerlicht und führt schließlich zu einer dementsprechendenBerufswahl .


- 118 -Läßt sich der Schüler jedoch auf keine der angebotenen akademischenSozialisationsalternativen ein, so ist eine allgemeine Schulunlust,Leistungsversagen, Disziplinlosigkeit und Angst die Folge. Es istgewiß kein Zufall, daß ein solches Verhalten in der von .ihrersozialen Herkunft her jedwedem akademischen Weltverständnis eherfernstehenden Hauptschule weit häufiger als im Gymnasium anzutreffenist. So lange sich nicht wenigstens die Hauptschule von dem herkömmlichen,einleitend charakterisierten Bildungsrnaßstab zu lösenvermag, wird sich hieran wenig ändern.Dabei gab es - etwa unter dem Stichwort der Reformpädagogik - schongenügend Ansätze zu einer Emanzipation vom akademischen Bildungsideal,zu einer Loslösung vom wissenschaftlichen Über-Ich. Die damitverbundene Hinwendung zum Schülersubjekt, zu seiner Aufgeschlossenheit,Wissbegierde und Erlebnisfähigkeit, dürfte geradeheute den in ihrer Agentenfunktion so arg gestressten Lehrerneigentlich gar nicht so schwer fallen. Ob allerdings die akademischenDisziplinen und in ihrer Verlängerung die gerade erst mühsametablierten Fachdidaktiken einen solchen Parteienwechsel der Lehrereinfach zulassen, muß bezweifelt werden.

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