Die kurdische Bewegung im Kampf um Freiheit und ... - Civaka Azad

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DIE KURDISCHE BEWEGUNG IM KAMPF UMFREIHEIT UND SELBSTBESTIMMUNGAUF DEM WEG IN DIE DEMOKRATISCHE MODERNE.Newroz 2013 –Erfahrungsberichteiner Delegationsreise


EDITORIAL1. EDITORIAL5Liebe Leser_innen, liebe Genoss_innen –die vorliegende Broschüre ist das Ergebnis einer zehntägigen Delegationsreisenach Nordkurdistan (Südost-Türkei) <strong>und</strong> eines mehrmonatigenProzesses des Übersetzens, Recherchierens <strong>und</strong> Schreibens.Gr<strong>und</strong>lage der folgenden Artikel sind Interviews, welche wir auf unsererReise mit verschiedenen Organisationen <strong>und</strong> Menschen aus der<strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> geführt haben. Durch diese Veröffentlichungwollen wir ihnen eine St<strong>im</strong>me geben, unsere persönlichen Erfahrungenmit Euch teilen <strong>und</strong> zur weiteren Diskussion über die <strong>kurdische</strong><strong>Bewegung</strong> anregen.In einigen Fällen werden wir bei der Veröffentlichung auf die Nennungder richtigen Namen unserer Gesprächspartner_innen <strong>und</strong> auf Fotosverzichten müssen, da sie <strong>und</strong> die Strukturen, in welchen sie arbeiten,noch <strong>im</strong>mer einem hohen Maß an Repressionen ausgesetzt sind.<strong>Die</strong> Broschüre ist eine Momentaufnahme einer <strong>Bewegung</strong>, die sich seiteinigen Jahren in einem stetigen Wandel befindet. Unserem Wunsch,die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> in Gänze zu verstehen <strong>und</strong> sie durch dieseBroschüre anderen verständlich zu machen, werden wir wohl ka<strong>um</strong>gerecht werden können. Dazu wären eine intensivere Auseinandersetzungmit den einzelnen Menschen, Organisationen <strong>und</strong> deren Geschichtesowie ein längerer Aufenthalt in Nordkurdistan, bei dem dieStrukturen vor Ort noch <strong>um</strong>fassender kennengelernt werden, Voraussetzung.Wir hoffen jedoch, dass wir mit dem Verweis auf weiterführendeLiteratur eine tiefere Auseinandersetzung ermöglichen können.Eine weitergehende Beschäftigung <strong>und</strong> Diskussion wäre wünschenswert,da wir in der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> eine <strong>Bewegung</strong> der Befreiung<strong>und</strong> neuer Utopien sehen, jenseits von staatlichen, kapitalistischen<strong>und</strong> patriarchalen Herrschaftsformen. Ideen <strong>und</strong> Utopien, welche füremanzipatorische <strong>Bewegung</strong>en, auch in der BRD, von Bedeutung sind,wollen diese bestehende gesellschaftliche Verhältnisse verändern.Doch konnten in den Gesprächen nicht all unsere Fragen beantwortetwerden, <strong>und</strong> einzelne Aussagen, die in den Interviews gemacht wurden,werden nicht zwangsläufig von der gesamten Delegationsgruppegeteilt. Leider war es uns nicht <strong>im</strong>mer möglich, Differenzen ausführlichzu diskutieren <strong>und</strong> sie in dieser Broschüre angemessen abzubilden.So bestand in der Gruppe z.B. Skepsis gegenüber dem Personenkult<strong>um</strong> Abdullah Öcalan. Ungeklärt blieb für einige auch, wie der Volksbegriffseitens der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> verstanden wird. Zu einerersten Auseinandersetzung mit dem Begriff muss dabei gesagt werden,dass er nicht analog z<strong>um</strong> deutschen Sprachgebrauch verwendet wird.Er ist positiv besetzt <strong>im</strong> Sinne von „die Menschen“ oder „die Bevölkerung“,<strong>und</strong> die <strong>kurdische</strong> <strong>und</strong> türkische Linke versteht darunter dieunterdrückte Klasse. Türkische Nationalist_innen <strong>und</strong> die herrschendeKlasse sprechen in ihrer Verwendung des Begriffes „Volk“ dagegenvon „Nation“, welche den fortschrittlichen Kräften als eine identitäreKonstruktion des autoritären Staatsapparates gilt. Inwiefern dieser Begriffstringent nach diesem Verständnis genutzt wird <strong>und</strong> ob er nichtinnergesellschaftliche Widersprüche <strong>und</strong> Herrschaftsverhältnisse verschleiert,bleibt Teil der zu führenden Diskussion.<strong>Die</strong>se Bemerkungen erscheinen uns angebracht, da wir für die folgendenInterviews Begrifflichkeiten direkt aus dem Kurdischen <strong>und</strong> Türkischenübersetzt haben. Anz<strong>um</strong>erken ist jedoch, dass solche Übersetzungen<strong>im</strong>mer geprägt werden durch das individuelle Wortverständnis<strong>und</strong> die unterschiedliche Verwendung von Begriffen aufgr<strong>und</strong> politischerKontexte <strong>und</strong> Konzepte.<strong>Die</strong>se Herausforderung bei der Übersetzung sehen wir auch bei demGebrauch einer geschlechterneutralen Sprache. Auch wenn von unserenInterviewpartner_innen nicht <strong>im</strong>mer gegendert wurde (das Türkischeist an sich eine geschlechterneutrale Sprache), werden wir diesin den Übersetzungen durch den Unterstrich, bzw. das „gender_gap“(zwischen maskuliner <strong>und</strong> femininer Endung eines Wortes) tun. Füruns ist dies der bewusste Verweis auf die Existenz derjenigen Menschen,welche nicht in das ausschließende Frau/Mann-Schema desgesellschaftlichen Zweigeschlechtersystems hineinpassen (wollen), wieIntersexuelle <strong>und</strong> Transgender, <strong>und</strong>/ oder ein solches System explizitablehnen. Zudem wollen wir verdeutlichen, dass hinter den Begriffen„Frau“ <strong>und</strong> „Mann“ unterschiedlichste Individuen <strong>und</strong> eine Vielzahlan Existenzen stehen. Dabei verstehen wir „Frauen“ <strong>und</strong> „Männer“nicht als biologische Tatsachen, sondern als konstruierte. Damit solljedoch die offensichtliche Wirkungsmacht dieser Kategorien nicht verschleiertwerden.Ob dieses Verständnis nun <strong>im</strong> Widerspruch dazu steht, wie die <strong>kurdische</strong><strong>Bewegung</strong> diese Begriffe <strong>und</strong> Kategorien begreift, lässt sich andieser Stelle nicht diskutieren. Eine erste Auseinandersetzung ermöglichenjedoch die Artikel zur <strong>kurdische</strong>n Frauenbewegung <strong>und</strong> zurLGBT- <strong>Bewegung</strong>[1].Z<strong>um</strong> Schluss wollen wir uns bei allen bedanken, die zur Entstehung dieserBroschüre beigetragen haben, <strong>und</strong> ganz besonders für die Offenheitunserer Gesprächspartner_innen in Nordkurdistan.[1]LGBT ist die Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual <strong>und</strong>Trans, auf deutsch Lesben, Schwule, Bisexuelle <strong>und</strong> Trans.


EINLEITUNGEIN REISEBERICHT UND DIE FOLGENDE BROSCHÜRE2. EINLEITUNG7[1]Deniz Gezmiş (geb. 1947) war eine der führendenPersöhnlichkeiten in der revolutionären 68er-Studierendenbewegungin der Türkei. Ende 1968 wurde unterseinem Einfluss die DÖB (<strong>Die</strong> Revolutionäre Studentenvereinigung)gegründet, welche als Reaktion auf diesich verändernden Kräfteverhältnisse <strong>und</strong> entstehendePassivität der etablierten Organisationen der Studierendenbewegungentstand. Staatliche Repressionen, diezur Radikalisierung der Studierendenbewegung führten,war nicht zuletzt ein Gr<strong>und</strong> für die Gründung verschiedenerbewaffneter Organisationen. Neben der THKO,„Volksbefreiungsarmee der Türkei”, die sich 1971 unterdem Einfluss von Deniz Gezmiş, Hüseyin İnan <strong>und</strong> YusufAslan aus der DÖB gründete, entstand <strong>um</strong> Mahir Çayandie THKP-C, „<strong>Die</strong> Front der Volksbefreiungspartei derTürkei“. Im Mittelpunkt der politischen Analyse standder Anti<strong>im</strong>perialismus, wobei davon ausgegangen wurde,dass die Türkei durch ihre kapitalistische, liberale Politikvon <strong>im</strong>perialistischen Ländern abhängig <strong>und</strong> kontrolliertsei. Später wurde diese Analyse auch auf die Situationinnerhalb der Türkei bezogen. Demnach wurde Kurdistanals ein von der <strong>im</strong>perialistischen Türkei besetztes Landangesehen. Am 9.Oktober 1971 wurde Deniz Gezmiş z<strong>um</strong>Tode verurteilt <strong>und</strong> am 6. Mai 1972 mit seinen GenossenYusuf Aslan <strong>und</strong> Hüseyin İnan <strong>im</strong> Zentralgefängnis vonAnkara hingerichtet. Seine angeblichen letzten Worte:„Es lebe die vollkommen unabhängige Türkei! Es lebeder Marxismus-Leninismus! Es lebe die Geschwisterlichkeitdes <strong>kurdische</strong>n <strong>und</strong> türkischen Volkes! Es leben dieArbeiter_innen, die Bäuer_innen! Nieder mit dem Imperialismus!“,wurden auch z<strong>um</strong> Symbol des gemeinsamen<strong>Kampf</strong>es der <strong>kurdische</strong>n <strong>und</strong> türkischen Linken.<strong>Die</strong> Aktivitäten <strong>und</strong> die Militanz der aus der 68er<strong>Bewegung</strong> entstandenen Guerilla, haben bis heute einebesondere Strahlkraft auf die türkische <strong>und</strong> <strong>kurdische</strong>Linke <strong>und</strong> prägen noch <strong>im</strong>mer ihr Selbstverständnis. Sosind auch Menschen wie Deniz Gezmiş <strong>und</strong> Mahir Çayanzu zentralen Symbolfiguren geworden.Auch 2013 reiste wieder eine Delegation, überwiegend bestehend ausJugendlichen mit unterschiedlichen politischen <strong>und</strong> kulturellen Hintergründen,<strong>im</strong> Namen des Verbands der Studierenden aus Kurdistan– Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan e.V. (YXK) nach Nordkurdistan(Südost-Türkei).Zusammengebracht haben uns Delegationsteilnehmer_innen das Interessean der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> <strong>und</strong> unsere Suche nach neuenFormen des gesellschaftlichen Lebens jenseits staatlicher, kapitalistischer<strong>und</strong> patriarchaler Herrschaftsformen. So war eines der Ziele derDelegation, die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> in ihrem vielfältigen <strong>Kampf</strong> <strong>um</strong>Selbstbest<strong>im</strong>mung <strong>und</strong> <strong>Freiheit</strong> besser kennenzulernen. Anlass derReise war jedoch auch die Teilnahme an den Newroz-Feierlichkeiten,auch <strong>um</strong> mögliche Repressionen seitens Polizei <strong>und</strong> Militär zu dok<strong>um</strong>entieren<strong>und</strong> zu veröffentlichen. Mit unserer Anwesenheit wolltenwir ein starkes Zeichen der Solidarität setzen.Besonders bereichernd für die Delegation war die Teilnahme von AtillaKeskin. Er war ein Genosse von Deniz Gezmiş [1], welcher die ersteStadtteile am Rande MardinsGuerilla-<strong>Bewegung</strong> in der Türkei mitbegründete. Atillas Wissen <strong>und</strong>seine Geschichte halfen uns zu verstehen, aus welcher historischen Situationheraus die <strong>kurdische</strong> Befreiungsbewegung entstanden ist <strong>und</strong>in welchem Verhältnis sie zur türkischen Linken stand <strong>und</strong> steht.<strong>Die</strong> politische Lage vor Ort ließ sich vorab nur schwer einschätzen.Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan gab EndeDezember bekannt, es würden Gespräche zwischen dem türkischenStaat <strong>und</strong> Öcalan stattfinden, doch diese positive Nachricht wurde vondem Mord an den drei <strong>kurdische</strong>n Aktivistinnen Sakine Cansız, FidanDoğan <strong>und</strong> Leyla Şaylemez am 09.01.2013 in Paris sehr schnell überschattet.Ende Februar reiste z<strong>um</strong> zweiten Mal eine BDP-Delegationnach İmralı <strong>und</strong> gab Öcalans Einschätzung bakannt, dass man sich ineiner historischen Phase der Verhandlungen befände. Er schlug dannam 21. März vor, dass die PKK einen Waffenstillstand erklären sollte<strong>und</strong> empfahl die Freilassung gefangengenommener Soldaten <strong>und</strong> Sicherheitskräfte.Doch müsse auch die türkische Regierung ihre Militäroperationen<strong>und</strong> Repression einstellen, nur so könne eine wirklicheWaffenruhe erreicht werden.In dieser politischen Situation begaben wir uns vom 15. bis z<strong>um</strong> 25.März auf eine circa 1300 km lange Reise durch Nordkurdistan, auf derwir sowohl die schönen Seiten Nordkurdistans als auch die Resultateeines knapp 30 Jahre andauernden Krieges sehen konnten.Wir nahmen an den Newroz-Feiern in Gever (türk.: Yüksekova),Colemêrg (türk.: Hakkari) <strong>und</strong> Amed (türk.: Diyarbakır) teil, trafenPolitiker_innen, Vereine, Organisationen <strong>und</strong> Familien, führten Interviews<strong>und</strong> Gespräche.In Amed, der „Hauptstadt” der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong>, pflanzten wirgemeinsam mit Jugendlichen Bä<strong>um</strong>e, die dem verstorbenen ŞahinÖner gewidmet waren, der am 10.02.2013, <strong>im</strong> Zuge des Protests gegendie sich jährende Verschleppung Öcalans, von einem gepanzerten Polizeifahrzeugüberfahren <strong>und</strong> ermordet wurde.Im verschneiten Gever nahe der irakisch-iranischen Grenze tauschtenwir uns mit Schüler_innen der örtlichen BDP-Akademie aus, suchtendas Gespräch mit dem Frauenrat der BDP <strong>und</strong> übergaben gesammelteBücherspenden an die sich gerade <strong>im</strong> Aufbau befindende Volksbibliothek,ehe wir an der örtlichen Newroz-Feier teilnahmen. Der politischeCharakter der Feier <strong>und</strong> die Entschlossenheit der Kurd_innen liessich hier sehr deutlich spüren.In Colemêrg nahmen wir ebenfalls an den Newroz-Feierlichkeiten teil.<strong>Die</strong> ganze Stadt war auf dem in <strong>kurdische</strong>n Farben – grün, gelb <strong>und</strong>rot – geschmückten Platz versammelt <strong>und</strong> vor der mit Bildern von AbdullahÖcalan <strong>und</strong> Sakine Cansız dekorierten Bühne wurde gesungen<strong>und</strong> getanzt. Am Abend halfen wir <strong>im</strong> Rathaus von Colemerg einenLKW mit Nahrungsmitteln zu beladen, der die Fracht nach Rojava(Westkurdistan/Syrien) bringen sollte, <strong>um</strong> dort der vom Krieg betroffenenBevölkerung zu helfen. Doch aufgr<strong>und</strong> der kurzfristig wiedergeschlossenen Grenzen konnten die lebenswichtigen Nahrungsmittelerst Tage später nach Rojava gefahren werden.In Roboskî (türk.: Uludere) sprachen wir mit den Familienangehörigender 34 Menschen, vorwiegend Jugendliche, die bei dem Massakervom 28.12.2011 <strong>um</strong>s Leben kamen. Wir wurden Zeug_innen vonAusschreitungen zwischen Jugendlichen <strong>und</strong> der Polizei nach denNewroz-Feierlichkeiten in Cizîr (türk.: Cizre) <strong>und</strong> besuchten auf demRückweg nach Amed die Altstadt von Mêrdîn (türk.: Mardin) sowiedie antike Stadt Heskîf (türk.: Hasankeyf) am Tigirs, welche vomIlısu-Staudammprojekt bedroht ist.Newroz-Feier in Colemêrg


2. EINLEITUNG82. EINLEITUNG9[2]Pervin Buldan <strong>und</strong> Sırrı Süreyya Önder sind Politiker_innen der BDP <strong>und</strong> sitzen <strong>im</strong> türkischen Parlament.[3]<strong>Die</strong> vollständige Übersetzung der Rede von AbdullahÖcalan ist auf der Webseite der ISKU-InformationsstelleKurdistan e.V. zu finden: nadir.org/nadir/initiativ/isku/erklaerungen/2013/03/15.htm.[4]LGBT ist die Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual<strong>und</strong> Trans.(unten) Stadt ColemergIn Amed nahmen wir schließlich an der großen Newroz-Feier teil, zuderen Anlass die Menschen aus allen Teilen Nordkurdistans zusammengekommen waren <strong>und</strong> wie wir gespannt auf das Verlesen der angekündigtenBotschaft von Öcalan warteten. <strong>Die</strong> Feier war ein Meeraus Farben, überall trugen die Menschen traditionelle Trachten <strong>und</strong>bunte Kleider <strong>und</strong> an jeder Ecke wehten Fahnen der politischen Organisationen<strong>und</strong> Porträts <strong>kurdische</strong>r <strong>Freiheit</strong>skämpfer_innen wurdengezeigt. Neben verschiedenen Konzerten <strong>und</strong> Reden unterschiedlichsterMusiker_innen, verlasen schließlich Pervin Buldan <strong>und</strong> Sırrı SüreyyaÖnder [2] die Botschaft aus Imralı: „Heute beginnt eine neueÄra. Eine Tür öffnet sich von der Phase des bewaffneten Widerstandszur Phase der demokratischen Politik. […] Wir sind an einem Punktzu sagen: ‚<strong>Die</strong> Waffen sollen endlich schweigen, Gedanken <strong>und</strong> Politiksollen sprechen “.[3] <strong>Die</strong> spannenden Diskussionen über diese Worteprägten die weiteren Tage, nicht zuletzt weil sie der Beginn eines demokratischenLösungsweges werden könnten.In den anderen Tagen, die wir in Amed verbrachten, führten wir weitereGespräche mit Personen <strong>und</strong> Organisationen, wie Emine Ayna vonder BDP, mit dem LGBT-Verein Hebûn [4], Şükrü Kızılkaya, dem ehemaligenVorsitzenden des Vereins zur Unterstützung der politischenGefangenen (Tuhad-Fed) in Amed, den organisierten Studierendender Dicle Universität (DÜÖ-Der), dem Verein Sarmaşık, der Widerstandgegen die massive staatliche Verarmungspolitik leistet, ehemaliginhaftierten Studierenden <strong>und</strong> mit Vertreterinnen der DemokratischenFreien Frauenbewegung (DÖKH).Auf unserem R<strong>und</strong>gang durch die Altstadt Sur versuchten wir das ehemaligeGefängnis zu besichtigen. Aus politischen Gründen wird derZugang Besucher_innen jedoch verwehrt. Durch den Widerstand derInhaftierten in den 1980er Jahren gegen die Folterpraktiken, ist diesesGefängnis zu einem symbolischen Ort der <strong>kurdische</strong>n <strong>und</strong> türkischenLinken geworden.den zwei Beiträge zur <strong>kurdische</strong>n Frauen- <strong>und</strong> LGBT-<strong>Bewegung</strong>. DerArtikel über die <strong>kurdische</strong> LGBT Organisation Hebun beschäftigt sichjedoch nicht nur mit den Schwierigkeiten der <strong>Bewegung</strong> in Nordkurdistan<strong>und</strong> der Türkei, sondern auch mit dem Verhältnis der Organisationzu westlichen LGBT Ogranisationen. Im Anschluss berichtenAktivistinnen der Demokratischen Freien Frauenbewegung über dietheoretischen Gr<strong>und</strong>lagen der <strong>Bewegung</strong> <strong>und</strong> ihre alltäglich Arbeit.Nach diesen beiden Schwerpunkten, werden wir auf die Lage der <strong>kurdische</strong>npolitischen Gefangenen eingehen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Anschluss über dasMassaker von Roboski schreiben. <strong>Die</strong> Situation der Menschen in Roboskiist geprägt von Armut, welche auch als Teil der staatlichen Repressionsstrategiezu sehen ist. Um diese gezielte Verarmungspolitik zuverstehen, stellen wir <strong>im</strong> Anschluss an den Bericht über Roboski denSarmaşık Verein vor, welcher gegen die geziehlte Verarmung der <strong>kurdische</strong>nBevölkerung arbeitet. Und z<strong>um</strong> Ende der Broschüre werdenwir auf den <strong>Kampf</strong> <strong>um</strong> Heskif eingehen.Wir wünschen euch viel Spaß be<strong>im</strong> Lesen!Eure Newroz-Delegation <strong>und</strong> Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan e.V.Erfreut hat uns, dass wir die alte armenische Kirche St. Giragos <strong>im</strong>Stadtteil Sur besuchen konnten. Ihr Wiederaufbau steht symbolischfür den Versuch der armenischen Gemeinde aufs Neue eine Bedeutung<strong>im</strong> öffentlichen Leben zu geben.TürkeiBitlisVanBeginnen werden wir die Broschüre mit einer politischen Einordnungdes Newroz-Festes 2013, <strong>um</strong> auch den Kontext unserer Reise zu verstehen.Daran anschließend berichtet die Politikerin Emine Anya überdie Hintergründe des Konfliktes in Kurdistan, sowie über die aktuellen(Friedens-)Verhandlungen.KurdistanIranAmed(Diyarbakır)Merdin(Mardin)BatmanSiirtHeskif(Hasankeyf)SirnakRoboski(Uludere)Colemêrg(Hakkari)Gever(Yüksekova)<strong>Die</strong> an diese einführenden Artikel anschließenden Schwerpunkte derBroschüre liegen z<strong>um</strong> einen auf der <strong>kurdische</strong>n Jugendbewegung <strong>und</strong>z<strong>um</strong> anderen auf der Auseinandersetzung der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong>mit Geschlechterverhältnissen. Dabei beginnen wir mit verschiedenenBereichen der Jugenbewegung, wie ihrem <strong>Kampf</strong> <strong>um</strong> Selbstverwaltung<strong>und</strong> Freirä<strong>um</strong>e, ihrer Auseinandersetzung mit staatlichen Repressionen<strong>und</strong> der Organisierung an den Universitäten. Darauf folgen wer-SyrienIrakQamischliKurdistanDelegationsreise


NEWROZ 2013EINE POLITISCHE EINORDNUNGNewroz-Feier in AmedKein Zweifel! Newroz 2013 war ein Fest von besonderer Bedeutung.Dass das so sein würde, haben uns die Diskussionen <strong>und</strong> Geschehnissein Nordkurdistan, der Türkei <strong>und</strong> die Entwicklungen <strong>im</strong> Nahen <strong>und</strong>Mittleren Osten in den Monaten zuvor erahnen lassen. Im Gegensatzz<strong>um</strong> Newroz-Fest 2012 stand es dieses Jahr <strong>im</strong> Zeichen des Friedens.Wenn wir diese Entwicklung verstehen wollen, ist es wichtig die Hintergründe<strong>und</strong> die Schritte zu kennen, die dahin geführt haben.Nachdem 2011 die Oslo-İmralı-Gespräche zwischen der PKK, Öcalan<strong>und</strong> dem türkischen Gehe<strong>im</strong>dienst durch die AKP beendet wurden,intensivierten sich die Angriffe auf die zivilen <strong>und</strong> bewaffneten Strukturender <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong>. <strong>Die</strong>s begann mit der Totalisolationvon Abdullah Öcalan <strong>im</strong> Juli 2011 <strong>und</strong> führte zu dem Verbot der Newroz-Feierlichkeiten<strong>im</strong> März 2012. <strong>Die</strong> Verhaftungswellen nahmenzu, so dass <strong>im</strong> Jahre 2012 an die 10.000 Aktivist_innen, darunterAnwält_innen, Politiker_innen, Studierende, Journalist_innen <strong>und</strong>Gewerkschaftler_innen inhaftiert waren. <strong>Die</strong> diplomatischen Bemühungendes türkischen Staates zur Isolierung der <strong>kurdische</strong>n <strong>Freiheit</strong>sbewegungauf internationaler Ebene hielten an. Mit groß angelegtenMilitäroffensiven, unterstützt durch nachrichtendienstliche Informationenaus den USA <strong>und</strong> Europa, wurde versucht, die PKK <strong>und</strong> somitdie <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> zu destabilisieren <strong>und</strong> nachhaltig zu schwächen.Das Massaker in Roboski <strong>und</strong> die darauf folgende Berichterstattungder AKP- <strong>und</strong> Gülen-[1]nahen Medien waren Teil der (psychologischen)Kriegsführung, deren Ziel es war, wie auch hochrangige Staatsfunktionäreoffen zugaben, die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> nach dem „tamilischenVorbild“ [2] zu zerschlagen. Was auf diese Angriffe folgte, wareine seit den 1990er Jahren nicht mehr da gewesene Mobilisierung der<strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong>. Sowohl in Nordkurdistan <strong>und</strong> der Türkei alsauch in Europa kam es zu tagelangen Demonstrationen <strong>und</strong> K<strong>und</strong>gebungen,wie beispielsweise der lange Marsch mit 200 Menschen vonGenf nach Straßburg <strong>im</strong> Februar 2012. Für 53 Tage traten <strong>kurdische</strong>Aktivist_innen in Straßburg in den Hungerstreik, welcher von vielenAktionen <strong>kurdische</strong>r <strong>und</strong> internationalistischer Jugendlicher in Europabegleitetet wurde.Z<strong>um</strong> Höhepunkt der politischen Auseinandersetzung kam es <strong>im</strong> November2012. Vorausgegangen war ein 68-tägiger Hungerstreik politischerGefangener, welcher am 12. September begann, <strong>und</strong> dem sichfast 10.000 Gefangene <strong>und</strong> einige Politiker_innen der BDP anschlossen.Sie alle forderten die Aufhebung der Isolationshaft AbdullahÖcalans, muttersprachlichen Unterricht an staatlichen Schulen <strong>und</strong>das Recht auf Verteidigung in der Muttersprache vor Gericht. Obwohlder Hungerstreik bei vielen ein lebensgefährliches Stadi<strong>um</strong> erreichthatte, wurde er erst durch einen Aufruf Öcalans beendet, da die Regierungnicht bereit war, auf die Forderungen der Streikenden einzugehen.<strong>Die</strong>s zeigte der Öffentlichkeit, dass die legit<strong>im</strong>e Repräsentanzvon Abdullah Öcalan als politischer Ansprechpartner zur Lösung der<strong>kurdische</strong>n Frage nicht zu leugnen ist <strong>und</strong> führte besonders in der türkischenÖffentlichkeit zu einer veränderten Sichtweise auf die RolleÖcalans. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass der Hungerstreik dietürkische Regierung zwang, endlich wieder Gespräche mit Öcalan zuführen.Eine zweite D<strong>im</strong>ension besteht in den verstärkten Aktionen der Guerillaseit Sommer 2012, bei denen sie große Gebiete in Şemzînan (beiColemêrg, türk.: Hakkari) über Monate hinweg unter ihre Kontrollebrachte. <strong>Die</strong>se Stärke der Guerilla konnte in der türkischen Öffentlichkeitnicht mehr verschwiegen werden <strong>und</strong> brachte erneut z<strong>um</strong> Vorschein,dass die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> eine nicht zu übersehende Akteurinin der Region darstellt. Deutlich wurde, dass der Konflikt nichtauf militärischer Ebene „gelöst“ werden kann, was dazu führte, dassjetzt weitere Teile der türkischen Bevölkerung eine politische Lösungdes Konfliktes als erstrebenswert ansehen.Zu diesen Geschehnissen in der Türkei kamen noch internationaleEntwicklungen hinzu. <strong>Die</strong> <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> in Westkurdistan(Nordosten Syriens) schaffte es ihre Selbstverwaltung in einem solchenAusmaß aufzubauen, dass die Bedeutung der Kurd_innen für den Nahen<strong>und</strong> Mittleren Osten in der internationalen Politik nicht mehr zuleugnen war. Zudem gewinnt die <strong>kurdische</strong> Autonomie <strong>im</strong> Nordirakzunehmend an Bedeutung. Und das trifft auch auf ihre Beziehungenzur AKP-Regierung zu, der klar geworden ist, dass ihr Einfluss <strong>im</strong> Nahen<strong>und</strong> Mittleren Osten auch an ihrem Verhältnis zu den Kurd_innenhängt. Mit dem Anerkennen <strong>kurdische</strong>r <strong>Bewegung</strong>en <strong>im</strong> Auslandn<strong>im</strong>mt sich der türkische Staat jedoch <strong>im</strong>mer weiter die Gr<strong>und</strong>lage derjahrzehntelangen Ass<strong>im</strong>ilationspolitik gegenüber Kurd_innen in derTürkei. <strong>Die</strong>se Spannungsfelder führten zu einem wachsenden internationalen<strong>und</strong> innenpolitischen Druck auf die AKP-Regierung.In der Türkei ist die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> derzeit die stärkste oppositionelleKraft. Ihr ungebrochener Widerstand verdeutlichte der AKP,dass sie, <strong>um</strong> nicht an Einfluss zu verlieren, <strong>kurdische</strong> Interessen berücksichtigen<strong>und</strong> wenn möglich einbinden muss. Der Beginn der Gesprächesollte also vor diesem Hintergr<strong>und</strong> interpretiert werden.Mehrmals kam es schon zu Gesprächen zwischen staatlichen Vertreter_innen<strong>und</strong> Öcalan. Es konnten jedoch z<strong>um</strong> ersten Mal Vertreter_innen der BDP auf die Insel reisen, <strong>um</strong> Öcalan zu treffen <strong>und</strong> seineNachrichten in die Kandilberge, z<strong>um</strong> Sitz von PKK <strong>und</strong> KCK zu überbringen.Es kam außerdem zu einer Gesetzesänderung, die es seit Anfangdes Jahres erlaubt, sich vor Gericht auch auf Kurdisch verteidigenzu können.Dass es möglich wurde, auf der zentralen Newroz-Feier am 21. Märzin Amed eine Rede von Öcalan zu verlesen, ist auch in diesem Kontextzu sehen. Mit seiner Rede versuchte Öcalan den begonnenen Prozesseiner politischen Lösung zu stabilisieren <strong>und</strong> zu beschleunigen. Sorief er die Guerilla dazu auf, einen Waffenstillstand zu erklären <strong>und</strong>sich aus dem türkischen Staatsgebiet zurückzuziehen. <strong>Die</strong>sem Aufruffolgte die Guerilla, wobei der Rückzug nicht als Schwäche gewertetwerden sollte. Er ist ein wichtiger Schritt, den eingeleiteten Prozess zubeschleunigen. <strong>Die</strong> Rede wurde sowohl von der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong>als auch von großen Teilen der türkischen Öffentlichkeit sehr positivaufgenommen. Es gab jedoch auch einige kritische St<strong>im</strong>men: Öcalanbeziehe sich in der Rede zu sehr auf die gemeinsame islamische Traditionvon Kurd_innen <strong>und</strong> Türk_innen <strong>und</strong> auf ihren gemeinsamenUnabhängigkeitskrieg nach dem Ersten Weltkrieg. Um anderen Minderheitenin der Türkei <strong>und</strong> Nordkurdistan die Angst vor einer Koalitionvon Kurd_innen <strong>und</strong> Türk_innen zu nehmen, betonte Öcalanjedoch <strong>im</strong>mer wieder, dass eine neue politische Ordnung in der Türkeiohne das Einbeziehen aller Gruppen <strong>im</strong> Land nicht möglich sein wird.<strong>Die</strong>s ist auch für die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> der ausschlaggebende Punktin den nun folgenden Verhandlungen.3. NEWROZ 201311[1]<strong>Die</strong> Gülen-<strong>Bewegung</strong> organisiert sich <strong>um</strong> FethullahGülen, einem islamischen Prediger, der in Pennsylvania,USA lebt. Anfang der 70er Jahre war Gülen maßgeblichan dem Aufbau antikommunistischer Vereine <strong>im</strong><strong>Kampf</strong> gegen fortschrittliche, sozialistische Kräfte in derTürkei beteiligt. Heute betreibt seine millionenstarke,islamisch-nationalistisch <strong>und</strong> neoliberal ausgerichteteHizmet-<strong>Bewegung</strong> ein weltweites Netzwerk an Bildungseinrichtungen,Medienriesen <strong>und</strong> verschiedenenWirtschaftsunternehmen. Zu diesem Netzwerk zählen u.a.auch die türkische Tageszeitung Zaman <strong>und</strong> der FernsehsenderSamanyolu TV. In der Türkei ist die FethullahGülen-„Gemeinde“ (türk.: „Cemaat“) die einflussreichsteislamische Strömung. Deren Anhänger_innen haben inzwischendas Polizei- <strong>und</strong> Justizwesen unterwandert, weshalbGülen <strong>und</strong> seine <strong>Bewegung</strong> als Mitverantwortlichefür die Massenverhaftungen von <strong>kurdische</strong>n <strong>und</strong> linkenOppositionellen, regierungskritischen Journalist_innen<strong>und</strong> hohen Militärs gelten. Gülen ruft zur militärischenVernichtung der <strong>kurdische</strong>n <strong>Freiheit</strong>sbewegung auf,versucht aber gleichzeitig die sunnitischen Kurd_innennach osmanischem Vorbild <strong>im</strong> Namen des Islams mitdem türkischen Staat auszusöhnen <strong>und</strong> zu ass<strong>im</strong>ilieren.Er bezeichnete in einer Rede den alevitischen Glauben alseine Missentwicklung <strong>im</strong> Islam. Auch in Deutschland istsein Netzwerk stark organisiert. Der FID e.V. in Frankfurtist nur einer der ihm nahestehenden Vereine. ZahlreicheKritiker_innen werfen dieser <strong>Bewegung</strong> vor, die Gesellschaftunter dem Deckmantel von Dialog <strong>und</strong> Toleranzschleichend zu islamisieren.[2]Als „tamilisches Vorbild“ wird die großangelegte Militäroffensiveder Armee Sri Lankas <strong>im</strong> Jahre 2009 bezeichnet,bei welcher binnen weniger Monate ca. 30.000 Menschengetötet wurden. Mit diesem Angriff wurde die tamilischeBefreiungsbewegung <strong>und</strong> die bewaffneten Strukturen der„Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (LTTE) gr<strong>und</strong>legendzerschlagen.


3. NEWROZ 2013133. NEWROZ 201313Plakat des Kongresses der demokratischen Gesellschaft(DTK) zur Newroz-Feier 2013. Auf dem Plakat steht:„Auf z<strong>um</strong> Newroz des freien Lebens durch einedemokratische Befreiung“Seit dem 8. Mai zieht sich die Guerilla nun aus Nordkurdistan zurück.Noch ist allerdings nicht abzusehen, wie sich dieser Prozess entwickelnwird, <strong>und</strong> der Schusswechsel Anfang Juni zwischen Militär <strong>und</strong> PKKführt wieder vor Augen, wie fragil der Lösungsprozess ist. Und vieleFragen sind weiterhin offen. Ist es wieder eine Hinhaltetaktik derAKP, <strong>um</strong> die Wahlen zu gewinnen <strong>und</strong> womöglich mit der notwendigenUnterstützung der BDP das Präsidialsystem einzuführen? Undwelche Auswirkungen wird die, durch die Proteste <strong>um</strong> den Gezi-Parkin Istanbul angestoßene politische Veränderung in der Türkei auf dieVerhandlungen haben? Womöglich liegt dort der Anfang einer neuen<strong>Bewegung</strong> mit neuen politischen Koalitionen, welche die türkischeLinke aus ihrer Marginalisierung holen kann <strong>und</strong> zu einer Kraft fürdie Demokratisierung der Türkei werden lässt. Eine solche Demokratisierungwird von der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> als der wichtigste SchrittRichtung Frieden gesehen, welchen weite Teile der Bevölkerung sosehnliche erwarten.Zehntausende Menschen haben in diesem Krieg bisher ihr Leben verloren.Aber unsere Erfahrung war auch, dass die Menschen nur einenwürdevollen Frieden akzeptieren, d.h., ihre demokratischen Rechtemüssen in der Verfassung verankert werden. Der Rückzug der Guerillaführte in der Bevölkerung zu keinerlei Verunsicherungen. Und dasnicht, weil die Menschen nun der AKP-Regierung trauen würden. ImGegenteil: Alle, mit denen wir sprachen – Studierende, Schüler_innen,Frauen <strong>und</strong> andere Aktivist_innen – strahlten großes Selbstbewusstseinaus. Um es in den Worten von Selahattin Demirtaş (Co-Vorsitzenderder BDP) zu sagen: „Hier geht es nicht <strong>um</strong> das Vertrauen in dieAKP, sondern <strong>um</strong> das Vertrauen in unsere Stärke“.DAS NEWROZ-FEST UND SEINE BEDEUTUNG FÜR DIE KURDISCHE BEWEGUNGNewroz bedeutet „Neuer Tag“ <strong>und</strong> die Geschichte des Festes ist ein besondererTeil der <strong>kurdische</strong>n Tradition. Laut dem Mythos aus welchemdas Newroz-Fest entstand, lebte in Mesopotamien vor Tausenden vonJahren ein Tyrann Namens Dehak. <strong>Die</strong>ser ernährte sich tagtäglich vonzwei Kinderköpfen. Um dem Tod zu entgehen, flohen tausende Kinderin die Berge Mesopotamiens, wo sie sich versteckt hielten, <strong>um</strong> irgendwannnach dem Tod des Tyrannen zurückkehren zu können. DerSchmied Namens Kawa ertrug diese Unterdrückung nicht länger <strong>und</strong>eines Nachts schlich er sich in die große Burg des Tyrannen <strong>und</strong> töteteihn mit seinem Hammer. Um den Menschen, die in die Berge geflohenwaren, die Nachricht vom Tod des Tyrannen zu überbringen, setzte erdie Burg in Flammen. Es entstand ein so großes Feuer, dass es selbstin den weit entfernten Bergen zu sehen war <strong>und</strong> die Menschen in ihrfreies Land zurückkehrten. Nach dem Mythos war dieser Tag der 21.März, mit welchem auch der Frühling beginnt.Es ist diese Geschichte der Befreiung von Herrschaft <strong>und</strong> Tyrannei,welche bis heute die Tage <strong>um</strong> den 21. März so politisiert <strong>und</strong> Tausendevon Kurd_innen auf die Straße zieht. Überall auf den Bergen <strong>und</strong> inden Städten Kurdistans werden große Feuer angezündet, Feierlichkeitenwerden ausgerichtet <strong>und</strong> die Menschen tragen in den traditionellenFarben rot-grün-gelb gehaltene Trachten. <strong>Die</strong> Feierlichkeiten andiesen Tagen sind auch z<strong>um</strong> Symbol des <strong>Kampf</strong>es gegen die Ass<strong>im</strong>ilationspolitikdes Staates geworden. Auch das staatliche Verbot der Newroz-Feierlichkeitenbis z<strong>um</strong> Jahre 1993 konnte daran nichts ändern.Dass dieses Verbot aufgehoben wurde, ist nicht der Einsicht des Staateszu verdanken, sondern dem Widerstand der <strong>kurdische</strong>n Bevölkerung,der Jahr für Jahr größer wurde. Mit dem Newroz-Fest begannen auchdie jährlichen Aktionen der Guerilla nach dem Winter.Newroz-Feuer in AmedNewroz-Feier in Amed


4. IM GESPRÄCH MIT EMINE AYNA164. IM GESPRÄCH MIT EMINE AYNA17„UNSER ZWEITERGRUNDSATZ IST,DASS ALLE DIE SICH UNSANSCHLIESSEN,DIE 50%-BETEILIGUNGDER FRAU AM LEBEN,ABER VOR ALLEM IN DERPOLITIK AKZEPTIERENUND FÖRDERN“.Delegation: Was für politische Flügel gibt es in der BDP? Und wiefunktioniert die Zusammenarbeit zwischen ihnen?Ayna: Erdoğan <strong>und</strong> die Medien behaupten, dass es in der BDP zweiFlügel gibt. Z<strong>um</strong> einen die „Falken“, die ich repräsentieren soll <strong>und</strong>z<strong>um</strong> anderen die „Tauben“, die von Ahmet Türk repräsentiert werdensollen. Das, was uns in der BDP zusammenbringt, ist aber nicht dasklassische Links-Rechts-Denken. <strong>Die</strong> BDP ist für alle offen, die für dieDemokratisierung der Türkei stehen, die eine friedliche Lösung der<strong>kurdische</strong>n Frage wollen <strong>und</strong> den Kurd_innen ihre Rechte zugestehen.Dabei haben wir einen Gr<strong>und</strong>satz, der für jeden Menschen gilt,der sich uns anschließt: Religiöse müssen Atheist_innen respektieren,Konservative müssen Kommunist_innen respektieren. Seit 1994, seitdemwir uns politisch in Parteien organisieren, wurde dieser Gr<strong>und</strong>satzdes demokratischen Umgangs miteinander von niemandem verletzt,nicht von Konservativen, nicht von Liberalen, nicht von Religiösen<strong>und</strong> nicht von Kommunist_innen. Unser zweiter Gr<strong>und</strong>satz ist, dassalle die sich uns anschließen, egal welcher Richtung sie sich zugehörigfühlen, die 50%-Beteiligung der Frau am Leben, aber vor allem in derPolitik akzeptieren <strong>und</strong> fördern.Delegation: Wie wird die Erklärung von Öcalan zu Newroz von der<strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> aufgenommen werden?Ayna: Aber zurück zur ersten Frage. <strong>Die</strong> Ansätze der Erklärung Öcalanswaren schon zuvor in der Presse bekannt <strong>und</strong> diskutiert worden. Sei esder Rückzug oder der Waffenstillstand. All dies wurde in den einzelnenOrganisationen der gesamten <strong>Bewegung</strong> diskutiert. Und noch vorder Verlesung der Botschaft an Newroz gaben sie alle bekannt, dasssie die Botschaft unterstützen würden. <strong>Die</strong> Botschaft war ein Kunststückaus politischer Kompromissbereitschaft bei gleichzeitiger standhafterBeibehaltung der Prinzipien. <strong>Die</strong> Botschaft beharrt auf unserenPrinzipien der Ablehnung der Kapitalistischen Moderne <strong>und</strong> unsererÜberzeugung, dass die Befreiung der Gesellschaft nur durch den Aufbauder Demokratischen Moderne erreicht werden kann. Das ist eineprinzipienfeste Herangehensweise. <strong>Die</strong> größte strategische Veränderungdieser Erklärung war, dass von nun an nicht mehr der bewaffnete<strong>Kampf</strong>, sondern der politische <strong>Kampf</strong> <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong> stehen soll.Nach dem dieser Aufruf nun von der PKK akzeptiert wurde, erwartenwir nun von Europa, dass die PKK von der europäischen Terrorlistegestrichen wird. Somit verschwindet ihre politische Ideologie mit derAufgabe des bewaffneten <strong>Kampf</strong>es nicht, sondern kann vermehrt offendiskutiert werden. <strong>Die</strong>se Streichung von der europäischen Terrorlistewürde der Türkei auch die Legit<strong>im</strong>ation entziehen, den bewaffneten<strong>Kampf</strong> gegen die PKK weiterzuführen <strong>und</strong> der PKK erleichtern, daspolitische Feld zu betreten.Delegation: Wie fasst die <strong>kurdische</strong> Gesellschaft die Erklärung auf?Alle haben eine Erwartungshaltung aber trotzdem vertraut niemanddem Staat.Ayna: Das <strong>kurdische</strong> Volk <strong>und</strong> auch ich haben die Waffen <strong>im</strong>mer alsRückversicherung gegenüber dem türkischen Staat angesehen. Solangees bei uns Waffen gibt, wird sich der Staat auf eine gewisse Weisezurückhalten müssen, da er mit entsprechenden Antworten rechnenmuss. Aber wir sind uns auch dessen bewusst, dass die jetzige politischeAtmosphäre eine andere ist <strong>und</strong> nicht mit früher verglichenwerden kann. Wenn ermöglicht wird, dass die Menschen, die zu denWaffen gegriffen haben, auf würdevolle <strong>und</strong> friedliche Weise in diePolitik zurückkehren können, dann haben wir große Möglichkeiten.<strong>Die</strong>se Atmosphäre, diese Möglichkeit bestand in den 80er Jahren z<strong>um</strong>Beispiel nicht. Ich sehe es so: Öcalan ist bereit für den Frieden, die PKKist bereit für den Frieden, die BDP ist bereit für den Frieden, aber dieTürkei ist nicht bereit für den Frieden. Öcalan <strong>und</strong> die PKK könnenden Frieden schneller akzeptieren, aber das <strong>kurdische</strong> Volk kann dasnicht so schnell. <strong>Die</strong> Kurd_innen sind voller Zweifel. Nur weil Öcalandiese Botschaft gesendet hat, heißt das nicht, dass das <strong>kurdische</strong> Volksofort z<strong>um</strong> Frieden bereit ist. Der Gr<strong>und</strong> für die Freude des Volkesüber die Botschaft war nicht der Inhalt derselbigen, sondern dassÖcalan dem <strong>kurdische</strong>n Volk überhaupt eine Botschaft senden konnte.<strong>Die</strong> Freude war nicht ein Zeichen der uneingeschränkten Bereitschaftfür den Frieden. <strong>Die</strong> Kurd_innen sind z<strong>um</strong> Frieden bereit, aber auchz<strong>um</strong> Krieg.Delegation: Wieso wird in der Botschaft von Öcalan der Gegensatzzwischen Demokratie <strong>und</strong> Kapitalismus aufgemacht? Demokratiestellt doch nur eine Verwaltungsform von Herrschaft dar.Ayna: Kapitalismus <strong>und</strong> Demokratie sind zwei Dinge die diametralentgegengesetzt sind. Kapitalismus bedeutet Herrschaft. Das istmanchmal die Herrschaft eines Einzelnen, manchmal die Herrschafteiner Klasse, manchmal die Herrschaft eines Volkes. Herrschaft bedeutet<strong>im</strong>mer jemanden zu unterdrücken. Daraus kann niemals Demokratieentstehen. Hier kommt es darauf an, wer das Recht best<strong>im</strong>mt,die Gesetze festlegt. Wenn die Gesetze durch Herrschaft best<strong>im</strong>mtwerden, so wird dieses Recht <strong>im</strong>mer z<strong>um</strong> Vorteil der Herrschenden,zur Sicherung der Herrschaftsverhältnisse dienen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Konflikt zurGesellschaft <strong>und</strong> zur Demokratie stehen. Egal welches Rechtssystemman sich anschaut, sei es das in Deutschland, den USA, in Israel oderin der Türkei. Egal wo man hinschaut, das Ziel des Rechts ist es, dasSystem zu schützen. Nicht die Rechte <strong>und</strong> die Gleichheit der Völkervor Angriffen zu schützen, sondern nur das System zu schützen. Daswar auch in der Sowjetunion so. Es war ein Kommunismus, der aufHerrschaft beruhte <strong>und</strong> das Recht war somit auch nur auf den Schutzdes eigenen Systems bezogen <strong>und</strong> nicht auf die Sicherung der Rechteder Bevölkerung ausgerichtet. Kein System, das auf Herrschaft beruht,wird die Demokratie jemals verwirklichen.Delegation: Könnte es nicht an den Ambitionen der AKP liegen,bei den kommenden Wahlen wiedergewählt zu werden <strong>und</strong> eine 2/3Mehrheit zur Schaffung eines Präsidialsystem zu bekommen, aufgr<strong>und</strong>derer sich ihre Annäherung an die <strong>kurdische</strong> Frage erklärenließe? Sind die ganzen Friedensgespräche nicht nur ein taktischesSpiel von Erdoğan, <strong>um</strong> sich dadurch wieder mehr Einfluss <strong>im</strong> MittlerenOsten zu sichern. Man könnte hier an die <strong>kurdische</strong>n Gebiete<strong>im</strong> Irak <strong>und</strong> Syrien denken, auf die Erdoğan schielt. Wie ist deineMeinung dazu?Ayna: Dem schließe ich mich voll <strong>und</strong> ganz an. Öcalan, die PKK, dieBDP <strong>und</strong> alle Kurd_innen sind sich dessen bewusst. War<strong>um</strong> auch wirso denken, liegt nicht nur in der heutigen Situation begründet, sondernauch in unseren Erfahrungen aus der Geschichte. Wir ziehen unsereSchlüsse aus der Konferenz von Erzur<strong>um</strong> <strong>und</strong> den Erfahrungenvon Lausanne <strong>und</strong> werden nicht wieder auf so etwas hereinfallen. DerGr<strong>und</strong>, weshalb wir uns damals täuschen ließen, lag daran, dass wir alsVolk nicht organisiert waren. Wir waren uns nicht mal bewusst, überhauptein Volk zu sein. <strong>Die</strong> Stammesstrukturen <strong>und</strong> die Scheichs regiertenuns. Aber heute sind wir ein sehr politisiertes Volk <strong>und</strong> habeneinen sehr gut organisierten politischen Willen. Jetzt können sie nichtmehr mit uns spielen. Das Ganze kann man mit einem Schachspielvergleichen. So wie der Zug der Gegner_in deinen Zug best<strong>im</strong>mt, sobest<strong>im</strong>men unsere Züge, die Züge unserer Gegner_in. <strong>Die</strong> AKP machteinen Zug, Öcalan macht einen Zug <strong>und</strong> alle versuchen <strong>im</strong>mer einenSchritt voraus zu sein. In diesem Schachspiel spielen auch noch ganzandere Kräfte, wie z<strong>um</strong> Beispiel die USA <strong>und</strong> Israel mit. <strong>Die</strong> ErklärungÖcalans bedeutet nicht, dass wir auf die AKP <strong>und</strong> die Regierung hereingefallensind. Wir ziehen nur unsere Erfahrung aus der aktuellenEntwicklung <strong>im</strong> Mittleren Osten, in Syrien, in Westkurdistan <strong>und</strong> habendementsprechend unsere verwendeten Mittel geändert. Beachtetz<strong>um</strong> Beispiel folgendes: Öcalans Erklärung wird am 21. März verlesen<strong>und</strong> einen Tag später entschuldigt sich Israel bei der Türkei aufgr<strong>und</strong>der Vorkommnisse auf der Mavi Marmara [3]. <strong>Die</strong>s hängt eng miteinanderzusammen. Und noch eine Anmerkung. Sich zurückziehenheißt nicht, die Waffen niederzulegen. Der Rückzug drückt nur denWillen aus, von nun an andere Mittel einzusetzen. „Ich bin bereit fürandere Mittel <strong>und</strong> ziehe mich deshalb zurück. Jetzt musst du die Demokratisierungvoranbringen <strong>und</strong> sicherstellen, dass sich die PKK ander politischen Auseinandersetzung beteiligen kann. Dann lege ich dieWaffen nieder. Wenn du das aber nicht machst, dann mache ich weiter“.Delegation: Du hast oftmals auch die Beziehungen zwischen derTürkei <strong>und</strong> Israel angesprochen, wie hängt da die PKK mit drin?Ayna: Vor allem in der letzten Zeit hat die AKP <strong>im</strong> <strong>Kampf</strong> gegen diePKK den Islam benutzt, <strong>um</strong> die Bevölkerung für sich zu gewinnen,deshalb musste sie auf Konfrontation zu Israel gehen. <strong>Die</strong> Aktion derMavi Marmara oder die Äußerungen von Solidarität <strong>und</strong> Liebe für diepalästinensische Bevölkerung waren auf keinen Fall dazu da, <strong>um</strong> dieRechte der Palästinenser_innen zu verteidigen. <strong>Die</strong>s war alles Innenpolitik.Das, was wir jetzt erlebt haben, ist die Versöhnung der zweiWachh<strong>und</strong>e der USA. Eine Versöhnung, die gegen die Palästinenser_innen <strong>und</strong> die Kurd_innen gerichtet ist.„WIR ERWARTENNUN VON EUROPA,DASS DIE PKK VONDER EUROPÄISCHENTERRORLISTEGESTRICHEN WIRD“.[3]Das Schiff Mavi Marmara gehörte zu einem internationalenKonvoi von sechs Schiffen, welche <strong>im</strong> Mai 2010h<strong>um</strong>anitäre Hilfsgüter nach Gaza bringen wollten.Am 31. des gleichen Monats wurde die Mavi Marmaravon der israelischen Marine in internationalen Gewässerngeentert. Dabei kamen neun Aktivist_innen <strong>um</strong>s Leben<strong>und</strong> mehrere wurden verletzt. Acht von den getötetenbesaßen einen türkischen Pass. <strong>Die</strong>ser Vorfall sorgte fürlanganhaltende diplomatische Spannungen zwischen derTürkei <strong>und</strong> Israel.


4. IM GESPRÄCH MIT EMINE AYNA184. IM GESPRÄCH MIT EMINE AYNA19Eingang z<strong>um</strong> Gebäudes des Kongresses derdemokratischen Gesellschaft (DTK) in AmedDelegation: Wir haben auf unserer Delegationsreise viele widersprüchlicheSachen gesehen. Z<strong>um</strong> einen die Bekenntnisse z<strong>um</strong> Frieden,z<strong>um</strong> anderen aber weiterhin junge Menschen, die in die Bergegehen wollen. Wie erklärt sich das?Ayna: Widersprüche sind ganz normal. Dem <strong>kurdische</strong>n Volk wirdseit 400 Jahren die Existenz abgesprochen. Sie kennen nichts anderes.Und deshalb herrscht ein großes Misstrauen. <strong>Die</strong> Kurd_innen habenihre Ernsthaftigkeit bewiesen. Sie haben schon vor langer Zeit gesagt,dass sie kein unabhängiges Kurdistan mehr wollen. Wir wollen in diesemLand gleichberechtigt mit den Türk_innen leben <strong>und</strong> dies mussin der Verfassung verankert werden. So wie die Türk_innen in derVerfassung anerkannt werden, so wollen wir auch anerkannt werden.Aber den Türk_innen geht es nur dar<strong>um</strong>, egal ob <strong>im</strong> Krieg oder amVerhandlungstisch, die Kurd_innen von so vielen Forderungen wiemöglich abzubringen, sie zurückzudrängen, sie zu besiegen. Das istdas Gr<strong>und</strong>problem. So wurde von Erdoğan nach der Newroz-Feier-lichkeit in Diyarbakır die Diskussion aufgebracht, wieso die „Fahneder Türk_innen“ dort nicht zu sehen war. Allein schon durch seineWortwahl hat er die Kurd_innen wieder nicht anerkannt. Er hätte auchsagen können: „<strong>Die</strong> Fahne der Türkei“.Delegation: Wie kann es der BDP gelingen auch <strong>im</strong> Westen der Türkeistärker zu werden? Gibt es neue Bündnisse mit der ökologischenLinken oder mit Menschen, die sich von der CHP (C<strong>um</strong>huriyetHalk Partisi, dt.: Republikanische Volkspartei) abwenden?Ayna: <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>lage der CHP ist der türkische Nationalismus. Daherwürde die Basis der CHP niemals einer Partei, die für ihre <strong>kurdische</strong>Identität bekannt ist, ihre St<strong>im</strong>me geben. Auch wenn sich die Basis vonder CHP abwenden würde, würde sie der BDP nicht ihre St<strong>im</strong>me geben.Wenn sich aber die Basis der AKP von dieser abwenden würde,dann könnte sie ihre St<strong>im</strong>me der BDP geben. <strong>Die</strong> Basis der CHP wirdsich aber nicht so leicht von der Partei abwenden, da ständig die Angstvor der Errichtung eines Scharia-Staates geschürt wird <strong>und</strong> deshalbwählt die Basis diese Partei, auch wenn sie gar kein Vertrauen mehr insie hat. <strong>Die</strong> CHP war drei Mal an der Regierung. Das erste Mal zu Beginnder Republik, als es ein Einparteien-System gab <strong>und</strong> die CHP dieeinzige Partei war. Das zweite Mal war Anfang, Mitte der 70er Jahre,als es <strong>um</strong> den Zypern-Konflikt ging <strong>und</strong> die CHP versucht hatte, diearmen Teile der Bevölkerung an sich zu binden <strong>und</strong> sie dabei von denKurd_innen unterstützt wurde. Und das dritte Mal war Anfang 2000,als eine Koalition aus verschiedensten Parteien die Regierung stellte.<strong>Die</strong> CHP war eine Partei, die ihre Politik <strong>im</strong>mer auf die Eliten <strong>und</strong> nieauf das Volk stützte.Ich will ein Beispiel bezüglich der Demokratie in diesem Land geben.Ich war in der vorangegangen Wahlperiode eine der unabhängigenKandidat_innen für die Stadt Diyarbakır. In den St<strong>im</strong>mbüros befindensich von jeder Partei Beobachter_innen, die die St<strong>im</strong>mabgabe <strong>und</strong>die erste St<strong>im</strong>mauszählung direkt <strong>im</strong> Büro beobachten <strong>und</strong> abzeichnen.Dann werden die Säcke mit den St<strong>im</strong>mzetteln von der Jandarma[türkische Militärpolizei. Red.] ins zentrale Wahlbüro gebracht, indem sie nochmal ausgezählt werden. In meinem Wahlgebiet sind amEnde der Wahlen all unsere Wahlbeobachter_innen aus den einzelnenSt<strong>im</strong>mbüros zusammen gekommen <strong>und</strong> haben ihre notierten <strong>und</strong> vonihnen aufgeschriebenen <strong>und</strong> abgezeichneten St<strong>im</strong>mergebnisse zusammengezählt.Insgesamt hatte ich 76.000 St<strong>im</strong>men bekommen. <strong>Die</strong> vomzentralen Wahlbüro veröffentlichte Zahl lag allerdings nur bei 53.000St<strong>im</strong>men. Alleine in meinem Wahlgebiet sind 23.000 St<strong>im</strong>men verschw<strong>und</strong>en.Der Clou ist, dass es bei uns in Diyarbakır am schwierigstenist, St<strong>im</strong>men zu stehlen, da wir hier die Mehrheit der Bevölkerunghinter uns haben. Aber wenn selbst hier so etwas möglich ist, wie siehtes dann erst in Istanbul, in Izmir etc. aus? Dort ist die staatliche Gewaltnoch organisierter. Hier in Diyarbakır sind wir organisiert <strong>und</strong> trotzdemgelingt es ihnen, alleine von mir 23.000 St<strong>im</strong>men zu stehlen. Jetztwerdet Ihr sicher fragen, war<strong>um</strong> wir dagegen keinen Widerspruch einlegen.Darauf kann ich nur entgegnen: Wie will man in einem Gebiet,in dem der Krieg herrscht, in dem Menschen sterben, Widersprucheinlegen? Wir haben eigentlich kein Problem die 10%-Wahlhürdezu überspringen. Ich bin mir sicher, dass, wenn morgen Wahlen wären,die BDP ohne Wahlkampf <strong>und</strong> natürlich ohne Manipulation derstaatlichen Institutionen, auf Anhieb auf 20% der St<strong>im</strong>men kommenwürde. In einem Land mit 80 Millionen Einwohner_innen, kann eineVolksgruppe welche in der Lage ist einen 30-jährigen Krieg zu führen,unmöglich auf nur 5% der gesamten St<strong>im</strong>men kommen. Allein dieLänge dieses Krieges zeigt, wie groß unsere Basis tatsächlich ist.Delegation: Wie sieht es mit der <strong>kurdische</strong>n Einheit <strong>im</strong> Irak, Iran, inSyrien <strong>und</strong> der Türkei aus? Und ab welchem Punkt wird die <strong>kurdische</strong><strong>Bewegung</strong> ihren <strong>Kampf</strong> aufgeben <strong>und</strong> für erfolgreich erklären?Ayna: Der DTK ist unsere Nationalversammlung. Hier treffen sich alleVertreter_innen der Völker Kurdistans. Er arbeitet wie ein Regionalparlament.Er ist aber natürlich nicht anerkannt, da in der türkischenGesetzgebung keine Regionalparlamente vorgesehen sind. Aber er istlegit<strong>im</strong> <strong>und</strong> wir konnten ihn durch unseren demokratischen <strong>Kampf</strong>aufbauen. <strong>Die</strong> <strong>kurdische</strong> Einheit in den vier Ländern ist durch denVolksaufstand in Westkurdistan noch größer geworden. <strong>Die</strong> zweiteFrage halte ich für sehr wichtig. Ein unabhängiges Kurdistan ist nichtmehr das Ziel der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong>. Natürlich gibt es Teile vonuns, die <strong>im</strong>mer noch ein unabhängiges Kurdistan anstreben, aber diejenigen,die den <strong>Kampf</strong> anführen, vertreten dieses Ziel nicht mehr. <strong>Die</strong>Kurd_innen in der Türkei fordern eine Selbstverwaltung, das Rechtüber das eigene Schicksal selbst best<strong>im</strong>men zu können. Wir nennendas Autonomie, die KADEP[4] nennt es Föderation, es gibt viele unterschiedlicheVorstellungen darüber. Sobald eines dieser Modelle,egal welches, mit der Akzeptanz der Türkei <strong>um</strong>gesetzt wird, beendenwir unseren Befreiungskampf. Das bedeutet aber nicht, dass der <strong>Kampf</strong>zwischen den verschiedenen politischen Vorstellungen <strong>und</strong> Ideologienbeendet wird. Wir z<strong>um</strong> Beispiel vertreten die Idee des Rätesystems,die Selbstregierung des Volkes. <strong>Die</strong>jenigen, die für eine Föderationeintreten, streben eher eine staatsähnliche Herrschaftsform an, wie siemomentan <strong>im</strong> <strong>kurdische</strong>n Teil des Iraks praktiziert wird. Wir denken,dass auch diese Herrschaftsform das Volk unterdrücken wird. Das esdiesmal eben nicht die türkische Herrschaft, sondern eine kleine <strong>kurdische</strong>Herrschaft sein wird, die das Volk unterdrückt. <strong>Die</strong>sbezüglichwird der <strong>Kampf</strong> <strong>im</strong>mer weitergehen.[4]<strong>Die</strong> KADEP (Katılımcı Demokrasi Partisi,dt.: Partei der Partizipatorischen Demokratie)ist eine kleine <strong>kurdische</strong> Partei, die der Politik MasudBarzanis in Südkurdistan, also der Autonomen RegionKurdistan <strong>im</strong> Irak, nahe steht.


4. IM GESPRÄCH MIT EMINE AYNA2021Delegation: <strong>Die</strong> <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> mobilisiert sich sehr stark anhandder <strong>kurdische</strong>n Identität, an Fragen der Kultur <strong>und</strong> der Sprache.Wie sieht es denn aber mit der sozialen Frage aus, mit Klassenwidersprüchen?<strong>Die</strong> Kurd_innen gehören in der kapitalistischenProduktionsweise in der Türkei ja auch zu einem der am stärkstenausgebeuteten Teile der Arbeiter_innen.Ayna: <strong>Die</strong> <strong>kurdische</strong> <strong>Freiheit</strong>sbewegung ist eine Klassenbewegung.Deshalb lehnt sie auch die Kapitalistische Moderne ab. Aber weil eshier momentan <strong>um</strong> einen Befreiungskampf geht, ist es möglich, dassTeile der Bourgeoisie zusammen mit der Arbeiter_innenklasse den<strong>Kampf</strong> <strong>um</strong> die Identität führen. Vergleichbare Konstellationen kennenwir auch aus anderer Ländern. Aber der Klassenkampf wird mit derLösung der nationalen Frage viel stärker zu Tage treten, der <strong>Kampf</strong> derIdeologien wird weitergehen. Das habe ich weiter oben schon entwickelt.Der <strong>Kampf</strong> zwischen dem türkischen Staat <strong>und</strong> den Kurd_innenwird mit einer Lösung, sei es mit der demokratischen Autonomie oderin Form einer Föderation, zu Ende kommen. Aber der <strong>Kampf</strong> für einfreies Leben, der Klassenkampf wird weitergehen. So gibt es ja Kurd_innen, die für eine staatsähnliche Föderation wie <strong>im</strong> <strong>kurdische</strong>n Teildes Iraks eintreten. Aber es gibt auch diejenigen, für die die Gleichheit<strong>und</strong> die <strong>Freiheit</strong> der Völker <strong>im</strong> Mittelpunkt steht, diejenigen, die fürdie Aufhebung der Klassen sind. Und dieser <strong>Kampf</strong> zwischen diesenbeiden Ideologien wird auch nach dem Ende des nationalen <strong>Kampf</strong>esunvermindert weitergehen. Der Klassenkampf zeigt sich auch jetztschon. <strong>Die</strong> Kurd_innen, die die AKP unterstützen, tun dies, da wirals <strong>Bewegung</strong> eine klassenorientierte Herangehensweise haben. Weilwir uns als sozialistisch bezeichnen, auch wenn wir den Realsozialismuskritisieren. <strong>Die</strong> BDP bezeichnet sich selbst aber nicht als sozialistischePartei sondern als sozialdemokratische Partei. Das darf mannicht durcheinanderbringen. Wir verschieben den Klassenkampf abernicht in die Zukunft, sondern er findet jetzt in diesem Moment schonstatt.„DER KAMPF ZWISCHEN DEM TÜRKISCHEN STAAT UND DEN KURD_INNEN WIRD MIT EINER LÖSUNG,SEI ES MIT DER DEMOKRATISCHEN AUTONOMIE ODER IN FORM EINER FÖDERATION, ZU ENDE KOMMEN.ABER DER KAMPF FÜR EIN FREIES LEBEN, DER KLASSENKAMPF WIRD WEITERGEHEN“.<strong>Die</strong> BDP ist die Folgepartei der Partei der demokratischen Gesellschaft[türk.: Demokratik Topl<strong>um</strong> Partisi - DTP]. Aufgr<strong>und</strong>eines anlaufenden Parteiverbots 2008, entstand aus der DTP dieBDP heraus. Insgesamt ist die BPD damit die achte <strong>kurdische</strong>Partei, welche sich <strong>im</strong> Laufe der Zeit aufgr<strong>und</strong> <strong>im</strong>mer wieder neuverhängter staatlicher Parteiverbote gründete. Auch aktuell wirdin der Türkei wieder über ein mögliches Verbotsverfahren gegendie BDP gesprochen. Zu den letzten Wahlen <strong>im</strong> Jahre 2011 tratdie BDP <strong>im</strong> „Wahlbock für Arbeit, Demokratie <strong>und</strong> <strong>Freiheit</strong>“ [1]an.Mit den Studenten Mahir <strong>und</strong> Ata sprachen wir über die Politik derBDP <strong>und</strong> anderer türkischer Parteien.Mahir: Es besteht eine ständige Bedrohung für die BDP <strong>und</strong> es wirdDruck auf sie ausgeübt. Selbst die Menschen, die kleinste Aufgabenbei der BDP übernehmen, sind der Gefahr ausgesetzt, jederzeit festgenommenzu werden. In früheren Jahren sind sogar noch viel schl<strong>im</strong>mereDinge passiert, wie z.B. Entführungen oder Morde auf offenerStraße von vermeintlich „unbekannten Täter_innen“.Wir können nicht sagen, dass die BDP ihre Aufgaben <strong>um</strong>fassendwahrn<strong>im</strong>mt oder die Menschen vollends repräsentiert. Aber das ist derständigen Repressionen geschuldet, die dazu führen, dass die Partei dieMenschen nicht so repräsentieren kann, wie sie es möchte <strong>und</strong> war<strong>um</strong>sie ihre berechtigten Forderungen nicht zu Wort bringen kann. Aberauf der anderen Seite ist die BDP, abgesehen von einigen anderen kleinenParteien, die einzige Partei die die Rechte der Kurd_innen als einVolk fordert <strong>und</strong> zu Wort bringt.Wenn man sich anschaut wer bei der BDP aktiv ist, dann wird deutlich,dass diese auf unserer Seite stehen. Sie haben das Bedürfnis danachPolitik zu machen <strong>und</strong> sind deshalb ins Parlament eingezogen. Damitgibt es nur eine Partei die uns auf dieser Ebene vertritt, sich für unseinsetzt.Ata: Um die BDP zu beschreiben, will ich ihre Politik von der Politikder CHP, MHP <strong>und</strong> AKP abgrenzen. <strong>Die</strong> AKP repräsentiert denStaat. Was der Staat gegen die Kurd_innen alles untern<strong>im</strong>mt, ist offensichtlich.Viele Menschen haben ihr Leben verloren durch den Staat,besonders durch die ungeklärten Morde in den 90ern. Aber was hatsich mit der Regierungszeit der AKP geändert? Jetzt werden die Menschenvielleicht nicht mehr auf offener Straße getötet, aber es wird sichauch nicht <strong>um</strong> die Aufklärung dieser Fälle gekümmert, vielmehr wirdversucht diese zu vertuschen. <strong>Die</strong>s zeigt, dass die Politik dieser AKPüberhaupt keine Relevanz für die Kurd_innen hat. Genauso wie dievorherigen Regierungen z.B. die CHP zu Zeiten des Putsches keine Relevanzhatte. <strong>Die</strong> AKP hat jetzt ihren Platz eingenommen. Bei der CHPgab es manchmal Annäherungen an die Kurd_innen, aber <strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>esind sie in ihrer Ideologie konsequent. Vor ein paar Wochen erklärteeine Abgeordnete der CHP, dass Kurd_innen <strong>und</strong> Türk_innen nichtdie gleichen Rechte haben können. <strong>Die</strong>s zeigt, dass sie sich als höhere„Rasse“ betrachten.Und die MHP ist eine vollends faschistische Partei, mit der Ideologie:„ein Staat, ein Volk, eine Nation unter einer Flagge“. So etwas wieKurd_innen gibt es nicht – „Glücklich ist der, der sich Türke nennenkann“.[2] Wenn man die AKP <strong>und</strong> die MHP vergleicht, dann könnenwir sagen, dass in der MHP ein Denken <strong>und</strong> eine Mentalität vom „weißenTürkent<strong>um</strong>“ [3] dominiert. Das war der sogenannte weiße Faschismus.<strong>Die</strong> AKP heutzutage vertritt die gleiche Ideologie aber in grünerFarbe, also den islamistischen Faschismus. <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>gedanken sindgleich <strong>und</strong> die Ausführung ähnlich.Andere linke Parteien hingegen, wie z.B. die ÖDP [Özgürlük ve DayanışmaPartisi, dt.: Partei der <strong>Freiheit</strong> <strong>und</strong> Solidarität] oder sozialistischeParteien verteidigen <strong>und</strong> respektieren uns <strong>und</strong> messen uns eineBedeutung bei.Mahir: Über die MHP, AKP <strong>und</strong> CHP [4] kann man folgendes sagen:Für diese Parteien steht Staat, Macht, Herrschaft <strong>und</strong> Geld an vordersterStelle. <strong>Die</strong> Leute in der AKP sind nur auf ihren Gewinn aus. Siehaben die bestbezahlten Posten für sich eingenommen <strong>und</strong> verdienenextrem viel Geld. <strong>Die</strong> Kurd_innen in der AKP sind nicht dort, weil sieglauben dass die AKP die gesellschaftlichen Probleme lösen wird. IhreInteressen sind lediglich ökonomischer Art. Bei der BDP hingegen istdas Gegenteil der Fall: Dort stehen das Recht auf Leben zu verteidigen<strong>und</strong> die menschlichen Aspekte <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong>, ohne einen Unterschieddarin zu machen welche Religion, Sprache oder ethnische Zugehörigkeitman hat.[1]Das Programm des Wahlblocks für Arbeit, Demokratie<strong>und</strong> <strong>Freiheit</strong> ist zu finden unter:kurdsolsh.blogsport.de/<strong>im</strong>ages/WahlbndnisfrArbeitDemokratie<strong>und</strong>FriedenWahlmanifest2011.pdf[2]Der bekannte Spruch Mustafa Kemal Atatürks, „Glücklichist der, der sich Türke nennen kann“[türk.: „Ne mutluTürküm diyene“], drückt die national-faschistische,chauvinistische Ideologie des Kemalismus aus. <strong>Die</strong>seVorstellung steht konträr zur Utopie einer geschlechterbefreitenGesellschaft, weshalb wir es für nicht angebrachthalten, diesen Spruch zu gendern.[3]Angesichts der faschistoiden Ideologie, welche mit derVorstellung eines „weißen Türkent<strong>um</strong>s“ verb<strong>und</strong>en ist,verzichten wir an dieser Stelle auf das Gendern.[4]Zur CHP, MHP <strong>und</strong> AKP siehe 12. Glossar (S. 84)Weitere Teile des Gesprächs mit Mahir <strong>und</strong> Ata, über ihrepolitische Arbeit <strong>und</strong> Inhaftierung, finden sich unter:5.4. Im Gespräch mit ehemals inhaftierten Studierenden(S. 36)


22DIE KURDISCHE JUGENDBEWEGUNGGebäude Şahkulubey Konağı in Mardin(rechts)Historische Altstadt von Mardin„UNSER ZIEL IST ES,FREI ZU DENKEN UND FREIZU LEBEN!“<strong>Die</strong> <strong>kurdische</strong> Jugend ist mit ihrer eigenen Dynamik fester Bestandteil<strong>und</strong> tragende Kraft der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong>. <strong>Die</strong>s wird in vielen Bereichendeutlich. Sei es <strong>im</strong> Widerstand auf der Straße, <strong>im</strong> Aufbau vonJugendzentren, <strong>im</strong> organisieren von alternativen Bildungsformen, <strong>im</strong> erlernen<strong>und</strong> praktizieren der eigenen Kultur <strong>und</strong> Sprache <strong>und</strong> nicht zuletzt<strong>im</strong> bewaffneten <strong>Kampf</strong> der Guerilla.<strong>Die</strong> folgenden Artikel widmen sich diesen unterschiedlichen Bereichender Jugendbewegung.Blick aus der Altstadt Mardins


DAS MESOPOTAMISCHEJUGENDFORSCHUNGSZENTRUMJUGENDLICHE IM AUFBAU SELBSTVERWALTETER STRUKTUREN5.1 DAS MESOPOTAMISCHE JUGENDFORSCHUNGSZENTRUM25Während unseres Aufenthalts in Amed(türk.: Diyarbakır) lernten wir denJugendverein MEGAM-Der (MezopotamyaGençlik Araştırma Merkezi Derneği) kennen.Da wir uns <strong>im</strong> ständigen Austausch mit denJugendlichen vor Ort befanden, wurde dasZentr<strong>um</strong> zu einer zentralen Anlaufstellewährend unserer Tage in der Stadt.Das Gebäude des Vereins wird dem MEGAM-Der von der Stadtverwaltungzur Verfügung gestellt, welche auch die Strom- <strong>und</strong> Wasserversorgungübern<strong>im</strong>mt, was jedoch nur durch die in Amed regierendeBDP möglich geworden ist. <strong>Die</strong>s bedeutet allerdings nicht, dass dieArbeiten der Jugendlichen von der BDP beeinflusst werden. Sie sindnoch <strong>im</strong>mer eigenständig, nehmen aber hin <strong>und</strong> wieder an Sitzungender BDP teil, auf denen über spezifische Fragen, welche die Jugendlichenbetreffen, diskutiert werden. Darüber hinaus erhalten sie privateSpenden, durch welche sie ihre Arbeit z<strong>um</strong> Teil finanzieren können.Seit 2010 arbeitet MEGAM-Der daran, ein Zusammenleben unter derJugend aufzubauen, das sich kollektiv organisiert, die persönliche Kreativitätin den Mittelpunkt stellt <strong>und</strong> sich nicht an einem kons<strong>um</strong>-fokussiertenLebensstil orientiert. Dazu gehört der gemeinsame Aufbau<strong>und</strong> die Gestaltung von Freirä<strong>um</strong>en <strong>und</strong> die Selbstorganisation alternativerFormen von persönlicher Bildung.Um diesen gesellschaftlichen Wandel voranzubringen, stehen die Rä<strong>um</strong>edes MEGAM-Der bewusst allen Menschen offen. In Gremien mitarbeitenkönnen die Jugendlichen jedoch erst, wenn sie 15 Jahre altsind, die meisten Aktiven sind allerdings Studierende. Das Zentr<strong>um</strong>organisiert sich über einen gewählten Vorstand, der sich aus 5 Mitgliedernparitätisch zusammensetzt <strong>und</strong> einem erweiterten Vorstandmit weiteren 8 Mitgliedern. <strong>Die</strong>ser Vorstand trifft sich einmal <strong>im</strong> Monat<strong>und</strong> tauscht sich über den Fortschritt der Arbeiten aus. Gänzlichkurdisch ist der Verein nicht. „Es gibt auch türkische Fre<strong>und</strong>_innen,Kinder von Polizist_innen oder Soldaten, die <strong>im</strong> Verein arbeiten“, soÇekdar, eines der Vorstandsmitglieder. Und auch die sozialen Umständeder einzelnen Mitglieder sind nicht <strong>im</strong>mer die gleichen. Viele Jugendlichekommen aus prekären Verhältnissen, andere wieder<strong>um</strong> ausrelativ wohlhabenden.Das Projekt MEGAM-Der begann in einem kleinen Z<strong>im</strong>mer <strong>im</strong> SümerPark. Der Schwerpunkt der Arbeit der Jugendlichen lag damalsauf Ges<strong>und</strong>heitsfragen. Daneben gab es noch ein Projekt zur Zuchtvon Pilzen, welches allerdings vom Gouverneur der Provinz Diyarbakırverboten wurde. Begründet wurde das Verbot mit dem Arg<strong>um</strong>ent,dass die Zucht von Pilzen illegal sei, worauf sich die Jugendlichengezwungen sahen, das Projekt zu beenden. Viele hielten es nichtfür möglich, dass sich die Arbeiten der Jugendlichen auf lange Zeitetablieren würden, berichtet Çekdar. „<strong>Die</strong> dachten, mit ein paar Verhaftungenkönnen sie uns einschüchtern“. Doch auch die Inhaftierungeines der Gründungsmitglieder des Vereins <strong>und</strong> Ermittlungen gegenweitere Mitglieder aufgr<strong>und</strong> des Vorwurfs der Mitgliedschaft in derKCK [Koma Civakên Kurdistan, dt.: Gemeinschaft der GesellschaftenKurdistans], konnte die Jugendlichen nicht von ihrer Arbeit abbringen.Doch ständige Schikanen <strong>und</strong> Einschüchterungen machen dieArbeit schwer. Auf dem Weg z<strong>um</strong> Zentr<strong>um</strong> stehen <strong>im</strong>mer wieder Polizist_innen,die die Vereinsmitglieder willkürlich kontrollieren <strong>und</strong> hin<strong>und</strong> wieder kommt es zu Hausbesuchen, bei welchen den Eltern vorgeworfenwird, dass ihre Kinder mit der KCK zusammenarbeiten <strong>und</strong> fürdie Berge, gemeint ist die PKK, rekrutiert werden würden. Aufgr<strong>und</strong>dieser Repressionen wollen viele der betroffenen Familien ihre Kindernicht mehr in den Verein gehen lassen.Durch die Gründung dieses Zentr<strong>um</strong>s boten sich den Jugendlichenneue Möglichkeiten. Es bildeten sich Arbeitsgruppen (welche als Kommunenbezeichnet werden) zu verschiedenen Bereichen, die sowohlaus fachk<strong>und</strong>igen als auch aus nicht-fachk<strong>und</strong>igen Personen bestehen.<strong>Die</strong> Studierenden des Fachbereichs Medizin haben z.B. eine Arbeitsgruppegebildet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Menschen inden <strong>um</strong>liegenden Dörfern in Fragen der Ges<strong>und</strong>heit zu unterstützen,indem sie Aufklärungsarbeit leisten, Hygieneartikel austeilen, medizinischeUntersuchungen durchführen oder bei anderen Problemenhelfen. Nach den Besuchen in den Dörfern wird in der Arbeitsgruppe,zusammen mit dem Vorstand, diskutiert, welche Probleme <strong>im</strong> Dorf zuerkennen waren <strong>und</strong> wie diese gelöst werden könnten. Als beispielsweiseeine Mauer in einem Dorf zusammengefallen war, bildete sichnach Beschluss des Vorstands an der Universität eine circa 20-köpfigeGruppe, die sich dar<strong>um</strong> kümmerte, dass die nötigen Mittel z<strong>um</strong> Wiederaufbaubesorgt wurden. Auch eine Müllabfuhr wurde in einigenDörfern nach diesem Schema organisiert, da es diese bis dahin nichtgegeben hatte. Neben dem Fokus auf Probleme <strong>im</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbereich,entstanden auch Angebote <strong>im</strong> Unterrichten verschiedener Sprachenwie Englisch, Kurmancî <strong>und</strong> Kirmanckî (<strong>kurdische</strong> Sprachen),in der Mathematik <strong>und</strong> Musik, u.a. an den Instr<strong>um</strong>enten Erbane, Saz<strong>und</strong> Gitarre.Seit einiger Zeit befindet sich <strong>im</strong> Zentr<strong>um</strong> auch eine Kommune derFrauen <strong>und</strong> mit ihr ein eigener Frauenra<strong>um</strong>. <strong>Die</strong> Notwenigkeit für einesolche Gruppe resultiert aus den feudalen <strong>und</strong> patriarchaler Gesellschaftsstrukturen,welche dazu geführt haben, dass die Familien ihrenTöchtern verbieten, z<strong>um</strong> Verein zu gehen. Im Zusammenhang mit den„DIE DACHTEN, MIT EINPAAR VERHAFTUNGENKÖNNEN SIE UNSEINSCHÜCHTERN“.Sportplatz auf dem Geländedes MEGAM-Der


5.1 DAS MESOPOTAMISCHE JUGENDFORSCHUNGSZENTRUM265.1 DAS MESOPOTAMISCHE JUGENDFORSCHUNGSZENTRUM27bereits erwähnten Repressionen seitens der Polizei gab es Zeiten, in denennur sehr wenige Frauen das Zentr<strong>um</strong> für sich nutzten. Doch einigeGenossinnen haben sich weiterhin organisiert <strong>und</strong> die Frauen-Kommuneals Teil des Vereins aufgebaut. Ziel dieser ist es auch, mit allgemeingängigen sexistischen Bildern von der vermeintlich schwachen<strong>und</strong> nicht vertrauenswürdigen Frau zu brechen <strong>und</strong> ihre selbstständigeOrganisierung zu fördern. <strong>Die</strong> konkrete Arbeit der Frauen-Kommunebesteht aus dem Organisieren von Lesekreisen, Veranstaltungen<strong>und</strong> das Erstellen von Broschüren zur Aufklärung. Auch auf die Newroz-Feierbereiteten sie sich vor <strong>und</strong> gingen vom Zentr<strong>um</strong> gemeinsamz<strong>um</strong> Newroz-Platz. Es ist auch eine kleine Bibliothek mit feministischenBüchern <strong>im</strong> Aufbau. Für Männer, so Çekdar, sei der Ra<strong>um</strong>nicht zugänglich: „Das ist frauenbezogene Arbeit. Außerdem greifendie Männer <strong>im</strong>mer wieder in das Leben der Frauen ein, daher wollensie keine Männer in dem Ra<strong>um</strong> haben. Egal ob es sich <strong>um</strong> eine Diskussion,eine Lesung oder <strong>um</strong> andere Arbeiten handelt“.<strong>Die</strong> einzelnen Arbeitsgruppen veranstalten Plena, an denen auch derVorstand teiln<strong>im</strong>mt oder z<strong>um</strong>indest vertreten ist. Dort werden dannweitere Vorhaben besprochen. Wenn beispielsweise das Komitee derGymnasiast_innen ein Fußballturnier veranstalten möchte, so wirddies in der jeweiligen Sitzung besprochen <strong>und</strong> die Verantwortlichen inAbsprache mit dem Vorstand festgelegt. Anfangs habe dies allerdingsnoch nicht so gut funktioniert, erzählt der Genosse: „In den ersten fünfMonaten waren wir unorganisiert. <strong>Die</strong> Arbeitsgruppen haben sich untereinandernicht gekannt. Als wir dies <strong>im</strong> Vorstand bemerkt hatten,begannen wir über mögliche Lösungswege zu diskutieren“. Durch gemeinsameSitzungen lernten sich die Genoss_innen näher kennen <strong>und</strong>begannen sich auch untereinander auszutauschen. Gemeinsam organisiertensie ein Fußballturnier <strong>und</strong> beendeten damit die anfänglichvorhandenen Schwierigkeiten zwischen den Arbeitsgruppen.In einem Kunst- <strong>und</strong> Handwerksra<strong>um</strong> werden regelmäßig Ausstellungenorganisiert, welche aber auch außerhalb des Vereinshauses stattfinden.<strong>Die</strong> Kunstwerke werden verkauft <strong>und</strong> die Erlöse gespendet.Beispielsweise organisierte die Arbeitsgruppe während der Zeit, in derwir vor Ort waren, eine Ausstellung mit dem Namen „rê u rêç“ (dt.:„Weg <strong>und</strong> Spur“), deren Erlös als Spende nach Rojava (Westkurdistan/Syrien) ging. Einige Wochen vor unserem Besuch gab es eine ähnlicheVeranstaltung. Unter dem Namen „Hilfe für Rojava“ wurden derOberbürgermeister Osman Baydemir, weitere Abgeordnete <strong>und</strong> zivilgesellschaftlicheOrganisationen sowie Familien eingeladen <strong>und</strong> sahen<strong>im</strong> Theaterra<strong>um</strong> des Jugendzentr<strong>um</strong>s ein Theaterstück, das ebenfallsvon einer Arbeitsgruppe organisiert <strong>und</strong> gespielt wurde.Gr<strong>und</strong>lage zu schließen. Für den Verzicht auf Literatur von Öcalangibt es jedoch noch weitere Gründe: <strong>Die</strong> Jugendlichen sollen explizitauch andere Bücher lesen, <strong>um</strong> sich kritisch mit verschiedenster Literaturauseinandersetzen zu können.Das große Gelände dient außerdem weiteren Zwecken. So bietet es dieMöglichkeit, Basketball <strong>und</strong> Fußball zu spielen – der Fußball-Platzwird unter anderem auch vermietet – <strong>und</strong> der große Garten bietetPlatz für den Anbau von Gemüse sowie für das Halten von Hühnern.Zu den weiteren Rä<strong>um</strong>en des ehemaligen Schulgebäudes gehören einSchachz<strong>im</strong>mer, in dem spielerisch die Konzentration gefördert <strong>und</strong>durch anspruchsvolle Spielzüge z<strong>um</strong> Denken angeregt <strong>und</strong> ermutigtwerden soll, eine Küche z<strong>um</strong> gemeinsamen Kochen <strong>und</strong> Essen <strong>und</strong> einBüro mit Computer. <strong>Die</strong>ser soll aber eher selten genutzt werden, vielmehr sollen die Jugendlichen kreativ sein, lesen oder Sport treiben <strong>und</strong>an der frischen Luft spielen.Des Weiteren befindet sich <strong>im</strong> Haus eine eigene Bibliothek. Aufgr<strong>und</strong>der besonderen Gefahr der Kr<strong>im</strong>inalisierung, stehen hier extra keineBücher von Abdullah Öcalan, da die staatlichen Behörden diese Bücherals Beweisstücke nutzen könnten, dass das Jugendzentr<strong>um</strong> ‚terroristische’Ziele oder Gruppen unterstütze, <strong>um</strong> es dann auf dieser<strong>Die</strong> Musik-Gruppe des MEGAM-Derbe<strong>im</strong> Erbane spielenKunstra<strong>um</strong> des MEGAM-Der


5.1 DAS MESOPOTAMISCHE JUGENDFORSCHUNGSZENTRUM28Auch Teile der Altstadt von Amed (türk. Diyarbakır), Sur sind stark von Stadtentwicklungsprojekten betroffen.Dabei werden ganze Straßenzüge abgerissen <strong>und</strong> unter ökonomischen Gesichtspunkten neu gestaltet.„IN DEN ERSTEN FÜNF MONATEN WAREN WIRUNORGANISIERT. DIE ARBEITSGRUPPEN HABEN SICHUNTEREINANDER NICHT GEKANNT. ALS WIR DIES IMVORSTAND BEMERKT HATTEN, BEGANNEN WIR ÜBERMÖGLICHE LÖSUNGSWEGE ZU DISKUTIEREN“.Auf die Nachfrage, ob es noch andere Vereine dieser Art gebe, nenntÇekdar uns die „Vertreter_innen der kemalistischen Gesellschaft“(türk.: „Topl<strong>um</strong> Gönüllüleri“) welche sich aber eher mit Freizeitaktivitätenbeschäftigen würden <strong>und</strong> wie der Name schon sagt, dem Kemalismusfolgt. Ein dem MEGAM-Der auch politisch nahestehenderVerein ist der „Verein der Freien Studierenden der Dicle Universität“(DÜÖ-Der), welchen wir wenige Tage später besuchten.Für weitere Informationen:http://megamder.comDas Gebäude des MEGAM-Der(rechts) Unterrichtsra<strong>um</strong>


IM GEDENKEN AN ŞAHIN ÖNER5.2 IM GEDENKEN AN ŞAHIN ÖNER31Auf einer Hügelkette am Rande der StadtAmed pflanzen wir mit Jugendlichen ausdem MEGAM-Der Bä<strong>um</strong>e <strong>und</strong> errichten eineTafel, <strong>im</strong> Gedenken an den am 10. Februar2013 von der Polizei ermordeten JugendlichenŞahin Öner. Am Rande der Aktionsprechen wir mit einem Fre<strong>und</strong> von Şahin,der Zeuge seiner Ermordung wurde. Im Folgendenwerden wir Ausschnitte aus diesemGespräch wiedergeben.„DIESE BÄUMEPFLANZEN WIR, DAMITWIR IMMER DEM FREUNDŞAHIN GEDENKENWERDEN“.Delegation: Kannst Du uns erzählen wer Şahin Öner war?Genosse Şahin war 19 Jahre alt <strong>und</strong> ein sehr aktiver Fre<strong>und</strong>. Wir habenin unserem Stadtteil Şehitlik einen Gleichberechtigungsverein, in welchemsich Şahin mit seinen Fre<strong>und</strong>_innen oft aufgehalten hat. Er warein sehr geschätzter, aktiver <strong>und</strong> patriotischer[1] Genosse. Kennengelernthaben wir uns <strong>im</strong> Verein, in dem ich selber aktiv bin. Dort gibtes einen Jugendra<strong>um</strong> wo sich die Jugendlichen selber bilden können,wo er <strong>und</strong> seine Genoss_innen viel Zeit miteinander verbracht haben.Delegation: Was war das für eine K<strong>und</strong>gebung, in der Şahin z<strong>um</strong> Märtyrer[2]geworden ist?Es war eine K<strong>und</strong>gebung zur Verurteilung des „internationalen Komplotts“gegen Abdullah Öcalan.[3] Ich war Zeuge des Geschehens – eskommen mir die Tränen wenn ich davon berichte. Gegen 19 Uhr beganndie K<strong>und</strong>gebung. Während der K<strong>und</strong>gebung näherten sich zweiPanzer der Menschenmenge. Unsere Fre<strong>und</strong>_innen bauten eine Barrikade,kurze Zeit darauf fingen die Auseinandersetzung mit der Polizeian. Ich sah nur noch wie zwei gepanzerte Fahrzeuge vom Typ Skorpionin die Menge fuhren <strong>und</strong> den Genossen Şahin von hinten angefahrenhaben. Er wurde 15 Meter mit dem Fahrzeug mitgeschliffen. Ich liefsofort hin <strong>um</strong> zu helfen. Leider war ich ganz alleine! Wären wir zuzehnt gewesen, hätten wir Genosse Şahin aus den Händen der Polizeiretten können.Als sie ihn angefahren <strong>und</strong> mitgeschliffen haben, brachen sie ihm vierRippen. Als letztes sagte die Polizei, als sie ausstieg <strong>und</strong> gegen seinenKopf trat: „Bist du denn noch nicht verreckt“. 10 Minuten später ludensie ihn in den Skorpion ein. Genau in diesem Moment war ich dort.Sein Rücken war entblößt, es waren deutliche Verletzung <strong>und</strong> Schleifspurenzu sehen. Wie eine Leiche warfen sie ihn in das Fahrzeug <strong>und</strong>fuhren z<strong>um</strong> Revier. Dort hat man ihn etwa 35 Minuten lang auf demBoden liegen lassen, bis er an seinen Verletzungen starb. Anschließendbrachten sie ihn ins Krankenhaus.Rede der <strong>kurdische</strong>n Jugend <strong>im</strong> Gedenken an Şahin ÖnerDelegation: Gab es seitens der Polizei eine Erklärung zu dieser Tat?Eine halbe St<strong>und</strong>e später sagte der Gouverneur von Diyarbakır inder türkischen Presse, dass Şahin durch eine Bombe in seiner Hand<strong>um</strong>gekommen sein soll. Erst durch die <strong>kurdische</strong> Presse <strong>und</strong> unsereZeug_innenaussage ist die Wahrheit aufgedeckt worden. Auch durchdie Autopsie wurde festgestellt, dass er angefahren wurde. So war klar,dass die türkische Presse gelogen hatte.Delegation: Welche Bedeutung hat diese Aktion für Dich?<strong>Die</strong>se Bä<strong>um</strong>e pflanzen wir, damit wir <strong>im</strong>mer dem Fre<strong>und</strong> Şahin gedenkenwerden. Sie sind ein Symbol für uns, dass er niemals sein Lebenverloren hat. Solange es die Welt gibt, wird er bei uns sein. Immerwenn wir diese Bä<strong>um</strong>e sehen, werden wir spüren, dass er bei uns ist.Deswegen sind wir heute hier.Gedenktafel: „Şahin Öner Wald – Şahin Öner wurde bei Protesten gegen dasKomplott des 15. Februars von einem Polizeipanzer überfahren <strong>und</strong> ermordet“[1]Das <strong>kurdische</strong> Wort für „patriotisch“ ist „welatparez“. Essetzt sich zusammen aus dem Wort „welat“, He<strong>im</strong>at <strong>und</strong>„parez“, welches von dem Wort „biparezin“, „verteidigen“,kommt. Wörtlich bezeichnet „welatparez“ also einePerson, welche seine_ihre He<strong>im</strong>at verteidigt. Angesichtsder Unterdrückung der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> ist dieseVerteidigung als eine Selbstverteidigung zu verstehen <strong>und</strong>ist nicht gleichzusetzen mit dem Chauvinismus nationalistischer<strong>Bewegung</strong>en. So werden auch Kurd_innen als„welatparez“ bezeichnet, welche die <strong>Bewegung</strong> unterstützen.[2]In der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> werden alle Kämpfer_innen,aber auch Zivilist_innen, die bei politischen Aktionen <strong>um</strong>sLeben kommen oder aufgr<strong>und</strong> ihrer politischen Meinunggetötet wurden, als „Şehit“ [türkisch] bezeichnet. In derdeutschen Übersetzung ist das Wort gleichbedeutendmit „Gefallene_r“ oder „Märtyrer_in“. <strong>Die</strong> Bezeichnung„Şehit“ hat weniger eine religiöse, fanatische Konnotation,vielmehr ist es eine politische Bezeichnung.[3]Der sogenannte „internationale Komplott“ gegen Öcalanbegann <strong>im</strong> Herbst 1998, als die syrische Regierung aufmassiven Druck der Türkei Öcalan ihre Unterstützung<strong>und</strong> Schutz entzog. Daraufhin begann eine Reise Öcalansdurch mehrere Länder u.a. Russland, Griechenland, Italien<strong>und</strong> Kenia auf der Suche nach Asyl. Durch die internationaleZusammenarbeit von verschiedenen Gehe<strong>im</strong>dienstenwurde Abdullah Öcalan dann am 15. Februar 1999auf dem Gelände der griechischen Botschaft in Nairobifestgenommen <strong>und</strong> in die Türkei verschleppt. Jedes Jahrprotestieren Millionen von Menschen <strong>um</strong> den 15. Februarher<strong>um</strong> mit Demonstrationen <strong>und</strong> K<strong>und</strong>gebungen gegendiesen sogenannten ‚internationalen Komplott‘.


VEREIN DER FREIEN STUDIERENDENDER DİCLE UNIVERSITÄT„HUNDERTE UNSERER FREUND_INNEN, DIE AUCH BEI DÜÖ-DER AKTIV WAREN, SITZEN IN DEN GEFÄNGNISSEN“„VOR ALLEM WIR ALSSTUDIERENDE HABENDAS BEDÜRFNIS ETWASZU VERÄNDERN“.(rechts)Im Versamlungsra<strong>um</strong> der DÖU-Der:Plakat der drei in Paris ermordeten AktivistinnenSakine Cansız, Fidan Doğan <strong>und</strong> Leyla Şaylemez.“<strong>Die</strong> Blüten der <strong>Freiheit</strong> sind unsterblich”.Jugendliche <strong>und</strong> Studierende spielen in emanzipatorischen <strong>Bewegung</strong>enoft eine entscheidende Rolle – fühlen sie sich in ihrer <strong>Freiheit</strong>eingeschränkt, akzeptieren sie das nicht. Damit machen sie sichzu Gegner_innen derjenigen, die ein Interesse am Erhalt des StatusQuo haben. Auch die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> wird maßgeblich von derJugend getragen <strong>und</strong> die Geschichte der PKK ist eng verknüpft mitdem Bewusstsein der Jugend, gegen Unterdrückung <strong>und</strong> Ungerechtigkeitenaufstehen zu müssen. So bestand die erste Gruppe <strong>um</strong> AbdullahÖcalan aus <strong>kurdische</strong>n <strong>und</strong> türkischen Studiereden <strong>und</strong> Mitgliedernder Föderation der Revolutionären Jugend der Türkei (türk.: TürkiyeDevr<strong>im</strong>ci Gençlik Federasyonu).Und noch <strong>im</strong>mer sind Studierende inder Guerilla, Kommissionen, Stadträten <strong>und</strong> Organisationen eine derentscheidenden Stützen der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> – folglich war derVerein der Freien Studierenden der Dicle Universität (Dicle ÜniversitesiÖzgür Öğrenci Derneği - DÜÖ-Der) in Amed [türk.: Diyarbakır]ein wichtiges Ziel auf unserer Reise. In den Rä<strong>um</strong>en des Vereins treffenwir Studierende, von welchen wir erfahren wollten, wie der DÜÖ-Derarbeitet <strong>und</strong> was seine Ziele <strong>und</strong> Aufgaben sind.„DÜÖ-Der hat eine Vergangenheit von über 20 Jahren. Den Verein gibtes eigentlich schon seitdem es die Universität gibt. Wir wollen uns in derUniversität organisieren <strong>und</strong> strukturieren. <strong>Die</strong> fortschrittliche Mentalitätdie dort vorhanden ist, wollen wir nutzen, <strong>um</strong> den gesellschaftlichenWandel zu leben <strong>und</strong> diesen natürlich in die breite Gesellschaft zu tragen“.Der DÜÖ-Der möchte mit seiner Arbeit die Studierenden auf die<strong>kurdische</strong> Frage aufmerksam machen <strong>und</strong> die <strong>kurdische</strong> Geschichte,Kultur <strong>und</strong> Sprache fördern. Im Mittelpunkt der aktuellen Arbeit stehtdabei die Auseinandersetzung mit der <strong>kurdische</strong>n <strong>Freiheit</strong>sbewegung<strong>und</strong> der Friedensverhandlung zwischen dem türkischen Staat <strong>und</strong> AbdullahÖcalan als Vertreter der <strong>kurdische</strong>n Bevölkerung. DÜÖ-Dermöchte als Teil der <strong>kurdische</strong>n <strong>Freiheit</strong>sbewegung einen eigenständigen,universitären Beitrag zur politischen Veränderung leisten. Dabeibeschränken sich die Aktivitäten aber nicht nur auf die Hochschulpolitik.„Wir als DÜÖ-Der sind ein eingetragener Verein. Wir sind vom Gouverneurals Studierendenverein anerkannt <strong>und</strong> deswegen haben wir auchRechte an den Universitäten Aktivitäten durchzuführen <strong>und</strong> z.B. unserAnliegen be<strong>im</strong> Rektorat einzubringen. Aber da der Inhalt unserer Aktivitätenbekannt ist <strong>und</strong> man weiß welche politische Richtung <strong>und</strong> Wertvorstellungenwir verfolgen, wird versucht unsere Arbeiten zu verhindern,uns Steine in den Weg zu legen“.Dabei geht es DÜÖ-Der dar<strong>um</strong>, eine „alternative Lösung z<strong>um</strong> staatlichenSystem“ aufzuzeigen <strong>und</strong> zu diskutieren. <strong>Die</strong>s soll vor allem mitkritischer Bildung <strong>und</strong> Aufklärung über die eigene bzw. <strong>kurdische</strong> Geschichte<strong>und</strong> Identität – die in türkischen Schulen wie auch Medienkeine Beachtung findet bzw. geleugnet wird – erreicht werden.„Wir leisten Widerstand gegen die Ungerechtigkeit. Eine unserer Aktivitätenwar z.B. wöchentliche Demonstrationen für die Hungerstreikendenzu organisieren. Es wurde auch eine Newroz-Feier an der Universitätorganisiert. Aber vor allem wollen wir den <strong>kurdische</strong>n Studierendenzeigen, dass sie nicht alleine sind - nach diesen Zielen verläuft unsereArbeit. Wir treffen uns <strong>und</strong> werten die aktuelle Situation in der Türkei<strong>und</strong> in Kurdistan aus <strong>und</strong> diskutieren was wir machen können. UnsereAktivitäten richten sich <strong>im</strong>mer nach den aktuellen Ereignissen. Vor allemwir als Studierende haben das Bedürfnis etwas zu verändern. Der Staatversucht uns <strong>im</strong>mer in unseren Arbeiten zu behindern. Viele unsererFre<strong>und</strong>_innen sind in den Gefängnissen. Ohne irgendeinen wirklichenBeweis werden sie festgenommen. Das erschwert uns natürlich die Arbeit.Das besondere für DÜÖ-Der ist, dass Diyarbakır das Herz Kurdistansist, weshalb viele Menschen verfolgen was an der Dicle Universitätpassiert“.Dass die <strong>kurdische</strong>n Studierenden die „Avantgarde“ der <strong>kurdische</strong>nBefreiungsbewegung darstellen, lässt sich auch in der Angst des türkischenStaates vor ihnen ausmachen. Wie <strong>im</strong> Gespräch mit den Studierendenvon DÜÖ-Der <strong>im</strong>mer wieder deutlich wurde, sind sie ständigenRepressionen ausgesetzt, werden verfolgt, ins Gefängnis gesperrt<strong>und</strong> in ihrem Leben bedroht:„H<strong>und</strong>erte unserer Fre<strong>und</strong>_innen, die auch bei DÜÖ-Der aktiv waren,sitzen in den Gefängnissen. Ein Fre<strong>und</strong> von uns wurde in Amara vonden Polizisten erschossen, ein anderer wurde vor 3 Jahren auf der Feiervon Abdullah Öcalans Geburtstag, wo es Auseinandersetzungen mit derPolizei gab, erschossen. H<strong>und</strong>erte Fre<strong>und</strong>_innen von uns, die den Druckvom Staat nicht mehr ausgehalten haben, haben sich der Guerilla angeschlossen.Unser Ziel ist es frei zu denken <strong>und</strong> frei zu leben. Wir wollennur unsere Rechte, unsere Kultur ausleben können“.Auch die systematische Einschränkung von kritischer Lehre <strong>und</strong> Forschungkann als Ausdruck der Bemühungen des türkischen Staates gewertetwerden, Widerstand gegen das System, Widerstand gegen denUmgang mit der <strong>kurdische</strong>n Frage <strong>und</strong> die Auseinandersetzung mitalternativen Gesellschaftsmodellen zu unterbinden. So stellten wir unsdie Frage, ob nicht die Studierenden aus den Anfängen der <strong>kurdische</strong>n<strong>Bewegung</strong> nun als Lehrende an den Universitäten tätig sein müssten– ähnlich wie es in der BRD mit den Studierenden aus der 68er <strong>Bewegung</strong>ist, die nun z<strong>um</strong> Teil als Professor_innen an den Hochschulentätig sind.„Es gab schon Professor_innen hier die fortschrittliche Gedanken hatten,aber sie wurden von der Universität entfernt. Nun können wir die, diesich mit den Ideen der <strong>Bewegung</strong> identifizieren an einer Hand abzählen.Und auch sie haben weiterhin Schwierigkeiten an der Uni“.2008 wurde Ayşegül Jale Saraç in einer <strong>und</strong>emokratischen Wahl zurneuen Hochschulpräsidentin gewählt. Seitdem haben laut den Studierendendes DÜÖ-Der nur Professor_innen, die der AKP sehr nahe stehen,Lehraufträge erhalten.5.3 VEREIN DER FREIEN STUDIERENDEN DER DİCLE UNIVERSITÄT33„WIR HABEN EIGENTLICHGAR KEINE MÖGLICHKEITUNSERE DEMOKRATI-SCHEN AKTIVITÄTENAUF DEM CAMPUSDURCHZUFÜHREN“.


5.3 VEREIN DER FREIEN STUDIERENDEN DER DİCLE UNIVERSITÄT345.3 VEREIN DER FREIEN STUDIERENDEN DER DİCLE UNIVERSITÄT35[1]Türkische/<strong>kurdische</strong> Hizbollah<strong>Die</strong> türkische Hizbollah, auch als <strong>kurdische</strong> Hizbollahbezeichnet, ist nicht mit der Hisbollah <strong>im</strong> Libanon zu verwechseln.Sie ist besonders in den <strong>kurdische</strong>n Gebieten inder Türkei aktiv. Ihre Entstehung in den 80er Jahren <strong>und</strong>ihr schnelles Wachsen hing stark mit politischen Entscheidungendes türkischen Militärs <strong>und</strong> dem Gehe<strong>im</strong>dienstzusammen, die die Organisationen in ihrem <strong>Kampf</strong> gegendie PKK aufbauten. Daher wird sie von Teilen der Bevölkerungauch als Hisbo-Kontra bezeichnet, als bewaffnetesunnitisch-islamistische Kontra-Organisation gegen diePKK. Seit den 90er Jahren, ist sie für den Tod tausenderPKK Aktivist_innen <strong>und</strong> Anhänger_innen verantwortlich.Doch ihre politische Abhängigkeit vom Staat führte Anfangder 90er Jahre zu schweren internen Auseinandersetzungmit dem Flügel welcher eine staatlich-unabhängigereLine verfolgen wollte. So wurde auch Ende der 90er Jahrevon Seiten des Staates eine Neubewertung der Situationvorgenommen, da die Gefahr bestand, die Hizbollahkönnte eine unabhängige Linie einschlagen. Daraufhinwurden <strong>im</strong> Jahre 2000 eine Reihe von hohen HizbollahFunktionären getötet <strong>und</strong> Gefangen genommen. <strong>Die</strong> AKPversucht seitdem die Hizbollah in ihr islamisches Projektzu integrieren <strong>und</strong> regte sie an, sich neu zu formieren <strong>und</strong>ihre Aktivitäten auf die Arbeit in Vereinen, Stiftungen,Moscheen <strong>und</strong> zivilgesellschaftlichen Organisationenzu verlagern. <strong>Die</strong>se Strategie schien erfolgreich <strong>und</strong> sowurde die AKP auch bei den Parlamentswahlen von derHizbollah unterstütz <strong>und</strong> die Zahl der offensiven Tötungender Hizbollah nahmen ab. 2011 kam es zu weitreichendenHaftentlassungen für einige zentrale Mitgliederder Hizbollah. <strong>Die</strong>ser Schritt von Seiten der AKP wirdals zusätzlicher Angriff gegen das Projekt der DemokratischenAutonomie der Kurd_innen gewertet, da dieHizbollah durch die Freilassung an Handlungsfähigkeitgewann. Angesichts der aktuellen Entwicklungen scheintsich das Verhältnis zwischen dem türkischen Staat <strong>und</strong>der Hizbollah neu zu gestallten. So wurde <strong>im</strong> Dezember2012 die Hür Dava Partisi [dt.: Partei der Freien Sache]als neuer politischer Arm der Hizbollah gegründet. Auchscheint die Hizbollah den aktuellen politischen Kurs derAKP gegenüber Öcalan <strong>und</strong> der PKK nicht zu unterstützen,da sie <strong>im</strong> Zusammenhang einer sich entspannendenpolitischen Lage mit Bedeutungsverlust rechen muss.„Vor ca. 2 Jahren wurden die Professor_innen, die nicht der AKP nahestanden <strong>und</strong> auch mal Kritik geäußert haben, von der Uni entfernt. <strong>Die</strong>neuen Professor_innen sind absolut nicht fähig zu unterrichten <strong>und</strong> sindnur durch die Regierung hier rein gekommen. Das was sie uns beibringensind Sachen, die wir zur Schulzeit gelernt haben - sie lassen uns einfachirgendwelche Texte abschreiben oder sie lesen Texte vor. Mit Professionalitäthat das nichts zu tun. Auf diese Situation gibt natürlich Reaktionenin den Vorlesungen. Es werden Slogans gerufen, es gibt Aktionen,es wird kommentiert, viele stehen auf <strong>und</strong> gehen, wenn Sachen gesagtwerden, die einfach nicht passen. Als Alternative dazu, bieten wir z.B.Theatervorführungen, Filmvorstellungen <strong>und</strong> viele andere Dinge an <strong>und</strong>betreiben eine eigene Bücherei“.Wir erfuhren außerdem, dass von den Studierenden selbst organisierteVeranstaltungen <strong>und</strong> selbstverwaltete Rä<strong>um</strong>lichkeiten stark von Repressionenbetroffen sein. Solche Initiativen würden entweder kurzeZeit nach der Entstehung geschlossen oder die Personen verhaftet.„Es ist schon so weit, dass man wegen der Teilnahme an einer Pressekonferenzbis zu 20 Jahren Haft bekommen kann. Z<strong>um</strong> Beispiel wurdeCihan Kırmızıgül, der ein traditionell, <strong>kurdische</strong>s Kufiya-Tuch getragenhat, zu 11 Jahre Haft verurteilt. Das Tragen des Tuches wurde als Beweisder Mitgliedschaft einer terroristischen Organisation ausgelegt. Für solcheVerurteilungen gibt es unendlich viele Beispiele. Wir führen unsereArbeiten trotzdem weiter, auch wenn das Risiko besteht, dass auch wir irgendwannverhaftet werden. Oft ist es so, dass die Gefangenen jahrelangin Untersuchungshaft sind <strong>und</strong> nicht wirklich wissen, was ihnen vorgeworfenwird. Das wird gemacht, damit sie verunsichert werden <strong>und</strong> sichsomit von ihren Arbeiten distanzieren“.Diskr<strong>im</strong>iniert, verfolgt, hinter Gitter gebracht <strong>und</strong> erschossen – für dieTeilnahme an Demonstrationen, die Organisierung von Veranstaltungenoder für die Veröffentlichung von Pressemitteilungen.Aber nicht nur die staatlichen Sicherheitsorgane sind eine Gefahr fürdie Aktivist_innen der DÖÜ-Der. Mitte April diesen Jahres kam eszu mehrtägigen Auseinandersetzungen zwischen Anhänger_innender türkischen Hizbollah [1] <strong>und</strong> Studierenden der Dicle Universität.Nach Streitigkeiten griffen bewaffnete Anhänger_innen der HizbollahStudierende an. Daraufhin rief DÜO-Der dazu auf, gegen diese Angriffezu protestieren. Es sammelten sich am folgenden Tag aber nichtnur h<strong>und</strong>erte Studierende der Dicle Universität, sondern auch einGroßaufgebot der Polizei auf dem Universitätsgelände. <strong>Die</strong>se ging mitWasserwerfern, Tränengas <strong>und</strong> Barrikaden vor, <strong>um</strong> die Demonstrationzu verhindern. Unter dem Schutz der Polizei kam es außerdem zu erneutenAngriffen der Hizbollah-nahen Gruppe. <strong>Die</strong> Ausschreitungenhielten tagelang an <strong>und</strong> die Universität stellte für drei Tage den Lehrbetriebein. Am Ende kam es zu über 60 Festnahmen, dutzenden Verletzten<strong>und</strong> zu nachfolgenden Protesten mit Ausschreitungen an Universitätenunter anderem in Wan, Istanbul <strong>und</strong> Riha [türk.: Şanlıurfa].Laut der Zeitung Yeni Özgür Politika <strong>und</strong> der NachrichtenagenturFiratnews haben sich nach diesen Protesten allein 11 Studierende vonder Dicle Universität der <strong>kurdische</strong>n Guerilla angeschlossen. Bei einerErklärung in der Zeitung, in der auch ein Bild von diesen Studierendenabgedruckt war, konnten wir drei junge Männer erkennen, die unswährend unseres Aufenthaltes in Amed begleiteten oder uns in ihreWGs aufnahmen.<strong>Die</strong>se Ereignisse fallen genau in die sensible Zeit der Friedensverhandlungenzwischen türkischem Staat <strong>und</strong> Abdullah Öcalan als Vertreterder <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong>. Provokationen von politischen Kräften,die eine Lösung der <strong>kurdische</strong>n Frage nicht dulden, oder Sorge habenan Einfluss zu verlieren, sind in solchen Situationen wahrscheinlich.So kann es ka<strong>um</strong> ein Zufall sein, dass die Auseinandersetzungenan der Dicle Universität wie ein Wiederaufleben der Kämpfe aus den90er Jahren zwischen der türkischen Hizbollah – die größtenteils ausreligiösen Kurd_innen bestand <strong>und</strong> vom türkischen Staat <strong>im</strong> <strong>Kampf</strong>gegen die PKK unterstützt wurde – <strong>und</strong> der PKK anmuten. Sollen diesewieder heraufbeschwört werden, <strong>um</strong> die Kurd_innen zu spalten?Dazu kommt, dass der jetzige Polizeichef von Amed, Recep Güven, inden 90er Jahren eben in diesen Auseinandersetzungen als Informantdes Staats in der türkischen Hizbollah tätig war. Öcalan reagierte aufdiese Entwicklungen mit einem Aufruf an die Jugend, nicht auf dieProvokationen einzugehen, <strong>um</strong> die Friedensverhandlungen nicht zugefährden.Auch die Universitätsleitung spielt in solchen Auseinandersetzungeneine entscheidende Rolle, lässt die seit 2008 amtierende UniversitätspräsidentinAyşegül Jale Saraç es doch zu, dass die Polizei auf demUniversitätsgelände gegen die Studierenden vorgeht. Auch in unseremGespräch mit DÜÖ-Der wurde die Kritik an der Universitätsleitungdeutlich formuliert – <strong>und</strong> hat sich durch die AuseinandersetzungenMitte April wieder einmal mehr als bewahrheitet.„Eigentlich haben die Universitäten eine best<strong>im</strong>mte Struktur, die es verhindert,dass die Polizei auf den Campus kommt, bzw. kommen darf.Hier bei uns ist das ganz anders. Allein eine Presseerkonferenz von uns istGr<strong>und</strong> genug, dass h<strong>und</strong>erte Polizist_innen hier einmarschieren. Es gehtsogar so weit, dass sie mit Panzern <strong>und</strong> Wasserwerfern kommen <strong>und</strong> unseinschüchtern wollen. Wir haben eigentlich gar keine Möglichkeit unseredemokratischen Aktivitäten auf dem Campus durchzuführen“.Auch die offiziellen Wahlen der Vertreter_innen der Studierenden,läuft laut dem DÜÖ-Der alles andere als demokratisch ab. So wird dasAnstehen der Wahl nicht transparent <strong>und</strong> öffentlich kommuniziert,sondern nur best<strong>im</strong>mten Kreisen zugänglich gemacht, sodass es zuquasi internen Wahlen kommt – <strong>im</strong> Studienjahr 2012/2013 zwischenmehreren Kandidat_innen der Fethullah-Gülen-<strong>Bewegung</strong>, die somitletztendlich auch gewählt wurden <strong>und</strong> nun als offizielle Studierendenvertreter_innenagieren können.Aber auch <strong>kurdische</strong> Studentinnen <strong>und</strong> Studenten, die sich diesen Repressionennicht ausliefern wollen <strong>und</strong> sich in den Universitäten <strong>im</strong>Westen der Türkei einschreiben, entkämen der Diskr<strong>im</strong>inierung seitenstürkischem Staat <strong>und</strong> Nationalist_innen nicht. So erzählte uns einStudent vom DÜÖ-Der: „H<strong>und</strong>erte von denen, die <strong>im</strong> Westen studierthaben, sind Aufgr<strong>und</strong> des Drucks, dem sie dort ausgesetzt waren, wiederhierher zurückzukommen. Es gibt hier an der Uni aber keinen einzigenFall, wo türkische Student_innen, Aufgr<strong>und</strong> ihrer Identität, ihrerDenkweise unter Druck gesetzt oder gewaltsam angegriffen worden sind.Wenn wir Demokratie verteidigen, ist es inakzeptabel, dass wir Menschenwegen ihrer Identität unterdrücken“.In unserem Gespräch mit DÜÖ-Der bekamen wir einen Eindruck vonden Repressionen, denen die <strong>kurdische</strong>n Studierenden an der DicleUniversität <strong>und</strong> anderen Universitäten ausgesetzt sind. Nicht nur dieBemühungen, ihre Sprache, Kultur <strong>und</strong> <strong>kurdische</strong> Identität zu leben<strong>und</strong> ihre demokratischen Gr<strong>und</strong>rechte wie auch die Einhaltung derMenschenrechte einzufordern werden systematisch bekämpft. Sondernauch (oder gerade besonders) in ihrem Versuch, eine Alternativezur Idee der Nationalstaaten <strong>und</strong> des kapitalistischen Systems zu denken<strong>und</strong> zu leben, sind sie massiven Repressionen ausgesetzt. Und diesnicht nur in der Türkei. <strong>Die</strong> PKK findet sich auch auf der europäischen<strong>und</strong> amerikanischen Terrorliste wieder. Der Schritt des Europaratesin ihrem kürzlich veröffentlichten Monitoringbericht zur Situation inder Türkei, die PKK Mitglieder nicht mehr als PKK- „Terrorist_innen“,sondern PKK-“Aktivist_innen“ zu bezeichnen, sollte ein erster Anstoßsein, die Kr<strong>im</strong>inalisierung der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> durch die europäischen<strong>und</strong> nationalstaatlichen Institutionen zu beenden.„WIR FÜHREN UNSERE ARBEITEN TROTZDEM WEITER,AUCH WENN DAS RISIKO BESTEHT, DASS AUCH WIR IRGENDWANNVERHAFTET WERDEN“.Weitere Informationen zu studentischen Gefangenenin der Türkei unter:studierendehintergittern.wordpress.com


IM GESPRÄCH MIT EHEMALSINHAFTIERTEN STUDIERENDENAus der Zeit <strong>im</strong> Gefängnis: „Es gibt nur eine einzige Sache, die man machen kann, <strong>und</strong> zwar versuchen alles zu verstehen“.In einem Teehaus <strong>im</strong> Zentr<strong>um</strong> Ameds treffenwir zwei Studenten mit denen wir über ihreErfahrungen <strong>im</strong> Gefängnis, den Gr<strong>und</strong> ihrerInhaftierung <strong>und</strong> den Prozess ihrer Politisierungsprechen. Doch auch die Bedeutungsolcher Delegationsreisen <strong>und</strong> was dieseerreichen können, diskutieren wir.Wir sprechen mit Ata, einem 26 Jahre altenStudent von der Dicle Universität <strong>und</strong> Mahir,der Bauingenieurwesen studierte. Beidewaren für längere Zeit <strong>im</strong> Gefängnis. Mahirwar <strong>im</strong> dritten Jahr seines Studi<strong>um</strong>s als erinhaftiert wurde. <strong>Die</strong> letzten zwei Jahreseiner fünf jährigen Haft verbrachte er ineiner Einzelzelle.„WENN SIE WOLLEN,DASS MAN SEINEIDENTITÄT VERLEUGNET,DANN VERTEIDIGTMAN SIE“.Ata: Bevor ich beginne mich vorzustellen, würde ich gerne etwas fürmich sehr wichtiges sagen. Wir möchten nicht, dass unser Fall, unserepolitischen Aktivitäten <strong>und</strong> unsere Gefangenschaft, auf unser Studentenseinbeschränkt betrachtet wird. Es handelt sich dabei <strong>um</strong> einegesamtgesellschaftliche Problematik von der auch wir als Studierendebetroffen sind. Ich sage das nur, weil wir auch schon mit interessiertenMenschen gesprochen haben, die unsere Situation dann aber nur aufunser Studentensein beschränkten. Das möchte ich nicht...Mein Name ist Ata. Ich wurde am 10.04.2009 verhaftet <strong>und</strong> nach 14Monaten wieder entlassen. Der Gr<strong>und</strong> für meine Verhaftung warenAusschreitungen auf einer Demonstration. Wir protestierten gegendie Ermordung eines Studenten. Der gefallene Student, Mahsun Karaoğlan,wurde bei den am Geburtstag von Abdullah Öcalan in Amara[Öcalans Geburtsort. Red.] stattfindenden Feierlichkeiten von der Polizeierschossen. Ich kannte den Fre<strong>und</strong> Mahsun persönlich.Delegation: War<strong>um</strong> wurdest du verhaftet <strong>und</strong> was wurde dir vorgeworfen?Ata: <strong>Die</strong> erste Straftat die mir vorgeworfen wurde, war die „Mitgliedschaftin der PKK“. Danach warf man mir vor, Verbrechen für die Organisationbegangen <strong>und</strong> Propaganda für sie betrieben zu haben. Dazukam noch der Vorwurf der Beschädigung öffentlicher Güter.Wir haben damals diese Vorwürfe <strong>und</strong> Verhaftung nicht so ernst genommen.Vor 2009 gab es nicht so lange Haftstrafen für Studierende.Als Student_in war man max. fünf Monate <strong>im</strong> Gefängnis <strong>und</strong> kamdann wieder frei. Als unsere Fre<strong>und</strong>_innen nach der Festnahme unsbesuchen kamen, sagten sie auch: „Ja nach drei Monaten seid ihr wiederdraußen, macht euch keine Sorgen. Nutzt die Zeit gut <strong>und</strong> lest viel“.Es hatte sich aber etwas verändert, das wir nicht verstanden.[1]Delegation: Was genau ist auf der Protestaktion passiert?Ata: Wir sind in die verschiedenen Unterrichtssäle <strong>und</strong> haben dieStudierenden auf den Fall unseres gefallenen Fre<strong>und</strong>es aufmerksamgemacht <strong>und</strong> zur Trauerfeier aufgerufen <strong>um</strong> gegen das Vorgehen derPolizei zu protestieren. Daraufhin ist die Polizei in die Universität eingedrungen,hat uns mit Pfeffergas angegriffen. Sie haben die Türenverriegelt damit wir nicht fliehen konnten <strong>und</strong> die Fenster eingetreten.In meiner Akte wurde dann auch festgehalten, dass ich öffentlicheSachgüter beschädigt hätte. Aber auf den Videoaufnahmen konnteman deutlich erkennen, dass es die Polizist_innen gewesen waren, diedie Fenster eingetreten hatten. Be<strong>im</strong> Eintreten der Fenster hatte sichein Polizist am Fuß verletzt. Mir wurde dann vorgeworfen ihn verletztzu haben. Ich hatte aber keinerlei körperlichen Kontakt zu denPolizist_innen. Bei den Auseinandersetzungen wurden viele unsererFre<strong>und</strong>_innen festgenommen. Ich wurde vier Tage später in Untersuchungshaftgesteckt.Später hat man dann <strong>im</strong> Internet verbreitet, wir hätten ohne jeglichepersönliche Verbindung zu Mahsun diesen Protest organisiert <strong>und</strong> alsterroristische Organisation zu der Versammlung aufgerufen. Es gingeüberhaupt nicht <strong>um</strong> unseren gefallenen Fre<strong>und</strong>, sondern wir hättenals PKK z<strong>um</strong> Protest aufgerufen <strong>um</strong> die Ordnung an der Universitätzu stören.Delegation: Ist diese Form der Repression an den UniversitätenNormalität?Ata: Ja, diese Art von Repressionen erleben wir auch bei anderen Aktivitäten,wie bei öffentlichen Pressekonferenzen, oder irgendwelchenVeranstaltungen auf dem Campus. Dann sind dort mindestens dreibis vier Toma Fahrzeuge [gepanzerte Militärfahrzeug. Red.], 500 bis600 uniformierte <strong>und</strong> zivil gekleidete Polizist_innen. Normalerweiseist es verboten, dass diese sich auf dem Universitätsgelände befinden.Aber sie kommen trotzdem. <strong>Die</strong> Polizei hat sogar eigene Rä<strong>um</strong>e in derUniversität. Sie machen Videoaufnahmen vom gesamten Universitätsgelände.Also die Universität <strong>und</strong> die Polizei arbeiten eng zusammen.Vor drei Monaten etwa hat eine Hackergruppe diese Zusammenarbeitaufgedeckt <strong>und</strong> Beweise wie Sicherheitsdateien der Polizei veröffentlicht.Beispielsweise hat die Polizei Dateien zu Student_innen angelegt,in welchen festgehalten wurde, ob sie für den Staat gefährlich seien. Beieinem Fall hieß es, man habe keine Informationen über den Studentherausfinden können <strong>und</strong> deshalb wurde der Rektor der Universitätkontaktiert <strong>um</strong> Informationen zu erhalten.Mahir: <strong>Die</strong> meisten Verhaftungen erfolgen während den Prüfungsphasen.Damit wird eine zusätzliche Schikanierung betrieben.Delegation: Welche Rolle spielt es, politisch organisiert zu sein?Ata: Es bedeutet nichts, organisiert oder nicht organisiert zu sein. Mann<strong>im</strong>mt an diesen Protesten teil, weil man organisiert ist oder weil manaus menschlicher Hinsicht ein Bedürfnis danach hat. Auf der einen Seitebin ich ein politischer Mensch, möchte deswegen daran teilnehmen,auf der andern Seite war Mahsun ein sehr guter Fre<strong>und</strong>, mit dem ich<strong>im</strong> regelmäßigen Kontakt stand. Es ist <strong>im</strong>mer wieder wichtig sich klarzu machen, dass dort ein Mensch sein Leben verloren hat. Wie für vieleFre<strong>und</strong>_innen, war es auch für Genosse Fırat der erste Protest an demer teilnahm. Dafür wurde er zu 11 Jahren Haft verurteilt. Es gibt vielesolcher Fälle. Ich war mit einem Genossen Namens Mehmet Kocakayaauf einer öffentlichen Presseerklärung auf dem Campus. Es kam zuUnruhen <strong>und</strong> Auseinandersetzungen, wobei die Polizei eine Fre<strong>und</strong>inan den Haaren am Boden hinter sich her schleifte. Dem konnte mannicht mehr zusehen. So wie ich sagte, egal ob man organisiert ist oderob man eine best<strong>im</strong>mte politische Identität hat, so eine Aktion kannman aus menschlicher Sicht nicht mit ansehen. Man möchte eingreifen<strong>und</strong> die Fre<strong>und</strong>in befreien von dieser Qual. Der Fre<strong>und</strong> Mehmet hatdie Polizist_innen angeschrieen was sie denn da machen. <strong>Die</strong> habenihn daraufhin festgenommen. Er wurde zu sechs Jahren <strong>und</strong> acht Monatenverurteilt. Er ist dann in die Berge gegangen <strong>und</strong> hat sich derGuerilla angeschlossen. Später ist er in Silvan/Amed gefallen.5.4 IM GESPRÄCH MIT EHEMALS INHAFTIERTEN STUDIERENDEN37„MAN HAT DASBEDÜRFNIS ALLES ZUHINTERFRAGEN,VOM BEGINN BISZUM ENDE“.[1]<strong>Die</strong> <strong>im</strong> April 2009, unmittelbar nach den Kommunalwahlen,begonnene großangelegte Verhaftungswellegegen die <strong>kurdische</strong> <strong>Freiheit</strong>sbewegung <strong>und</strong> die darauffolgendenpolitischen Prozesse, stellte eine neue Qualitätder staatlichen Repressionen dar. Sie richtete sich gegenjegliche zivilgesellschaftliche Strukturen, weswegen sie alsKCK-Operationen bzw. KCK-Prozesse bezeichnet werden.Sowohl das Ausmaß der Verhaftungen, als auch das Strafmaßder Verurteilungen erreichte eine neue D<strong>im</strong>ension.Auch die Hochschulen wurden nichtausgenommen. <strong>Die</strong> massenhafte Inhaftierung von Studierendenwurde nicht zuletzt auch durch den damaligenPräsident des „Hochschulrats“ (türk.: „Yükseköğret<strong>im</strong>Kurulu“ - YÖK) Prof. Dr. Yusuf Ziya Özcan legit<strong>im</strong>iert,in dem er verbreitete das die Aktivitäten der PKK an denUniversitäten ein gefährliches Ausmaß angenommen hätten<strong>und</strong> das der Rat sehr besorgt über diese Entwicklungsei. Nur wenige Tage später begannen die Verhaftungenan Universitäten in der ganzen Türkei.Weitere Informationen gibt es bei der Kampagne„Studierende hinter Gittern“.studierendehintergittern.wordpress.comPortraitbild des getöteten Studenten Mahs<strong>um</strong> Karaoğlanin den Rä<strong>um</strong>en des DÖÜ-Der.


5.4 IM GESPRÄCH MIT EHEMALS INHAFTIERTEN STUDIERENDEN385.4 IM GESPRÄCH MIT EHEMALS INHAFTIERTEN STUDIERENDEN39[2]Als Kapitalistische Moderne bezeichnet die <strong>kurdische</strong><strong>Bewegung</strong> das jetzige Zeitalter, in der das kapitalistischeSystem große Teile der Gesellschaft in ihren Denk-, Handlungs-,<strong>und</strong> Wahrnehmungsmuster durchdrungen hat.Kapitalismus wird demnach nicht allein als eine Form derProduktionsweise verstanden, sondern als eine Herrschaftsform.<strong>Die</strong>se basiert auf Nationalstaaten, Profitstreben<strong>und</strong> Industrialismus. Durch Frauenunterdrückung,ökologische <strong>und</strong> ökonomische Ausbeutung, Machtdenken,Gewalt <strong>und</strong> Herrschaft führt die Kapitalistische Moderneseine Existenz fort.Delegation: Was hat euch politisiert? Was für konkrete Gründe gabes für diesen Prozess?Ata: Es gibt keine konkreten Gründe für die Politisierung. Es ist etwasnatürliches, das mit einem passiert.Mahir: Deine Identität als Kurd_in genügt, <strong>um</strong> diesen Repressionenausgesetzt zu sein. Sobald man die Universität betritt, ist man automatischein potentieller Beschuldigter. Und selbst wenn du nichts tust,stehst du <strong>im</strong>mer unter Beobachtung <strong>und</strong> Verfolgung. In einer solchenSituation möchte man sich mit Menschen zusammenfinden, die genausodenken wie man selbst. Und wenn diesen Personen etwas zustösst,dann ist das eine Art Schutzreaktion sich gegenseitig zu helfen<strong>und</strong> zu verteidigen. Dadurch kommt es zu gemeinsamen Aktionen.Auf der anderen Seite ist es die Verteidigung der eigenen Identität.Wenn sie wollen, dass man seine eigene Identität verleugnet, dann verteidigtman sie. Wenn sie wollen, dass man keine eigenen Gedankenentwickelt, entwickelt man eigenen Gedanken, weil man das verteidigenmöchte, was zu einem selbst gehört.Delegation: Welche Fragen haben euch beschäftigt? Welche Bücherhabt ihr in dieser Zeit gelesen <strong>und</strong> was waren <strong>und</strong> sind eure theoretischenBezugspunkte?Ata: Bevor ich ins Gefängnis kam war mir nur bewusst, dass etwasnicht in Ordnung ist <strong>und</strong> ich versuchte diesem auf physische Art entgegenzu treten. Aber auf einer theoretischen Ebene besitzt man nichtgenügend <strong>um</strong> es ganz zu verstehen. Z.B. ist es einem nicht möglich,dass was geschehen ist, geschichtlich einzuordnen. Im Gefängniswar es dann, dass ich an guten Tagen auch mal zwei Bücher las. <strong>Die</strong>Fre<strong>und</strong>_innen motivierten einander, viel <strong>und</strong> gut zu lesen.Mahir: Ich habe mich vermehrt mit der Weltgeschichte, Philosophie,Geschichte der Philosophie, verschiedenen Identitäten <strong>und</strong> weiterenWeltklassikern wie Marx, Engels, Lenin, Dostojewski, Tolstoy <strong>und</strong> EdwardSaid beschäftigt.Ata: Auf jedem Gebiet versucht man die Frage nach dem eigentlichenWesen zu stellen. Es geht dabei nicht nur dar<strong>um</strong>, die Fragen auf einerpsychologischen Ebene zu begreifen. Man muss sie in den Zusammenhanggesellschaftlicher Verhältnisse <strong>und</strong> der Geschichte stellen.Es geht dar<strong>um</strong>, das Wesen der Sache, eine best<strong>im</strong>mte Kraft zu verstehen.Wir befassten uns auch mit dem Ursprünglichsten, z.B. den Theorienvon Darwin. Ich meine nicht allein auf seine Theorien bezogen,sondern etwas weiter gefasste Meinung. Dort beginnend, setzten wiruns auch mit dem Neolitik<strong>um</strong>, den S<strong>um</strong>erern, der Staatenbildungen,der Machterlangung des Mannes, Religionsbildung <strong>und</strong> vielen ähnlichenThemen auseinander, die sich mit dem Wesentlichen beschäftigen– der Kapitalistischen Moderne [2].Mahir: Man kommt von der Universität in diese kleinen Zellen vonca. 30qm ....Ata: Das waren best<strong>im</strong>mt keine 30qm.Mahir: Ja, st<strong>im</strong>mt. Ich war auch lange Zeit in den kleineren Zellenuntergebracht. Und in diesen Zellen ist man dann mit drei bis fünfPersonen. Und es gibt nur eine einzige Sache die man machen kann,<strong>und</strong> zwar versuchen alles zu verstehen. Was ist das Leben? Was ist es,das mich hierher bringt? Man hat das Bedürfnis alles zu hinterfragen,vom Beginn bis z<strong>um</strong> Ende. Das beginnt bei der Frage nach einem göttlichenGeschöpf bis z<strong>um</strong> menschlichen Geschöpf. Und man beginntso einen Forschungsprozess. Wenn man ein Beispiel geben müsste <strong>um</strong>es verständlich zu machen, dann könnte man das Beispiel der Fraunennen. Wie ist ihre Situation erstanden, was ist das für ein Wesen, wiedefiniert man sie? Von der Vergangenheit bis in die Gegenwart.Zuvor gab es die Dinge die wir nur vom Hören her kannten <strong>und</strong> dieDinge die wir beigebracht bekommen <strong>und</strong> auswendig gelernt hatten.Wir sind ja Musl<strong>im</strong>e [In einem ironischen, lachenden Ton. Red.], mangeht in die Moschee <strong>und</strong> lernt den Koran...Ata: Ich muss erwähnen: als ich den Fre<strong>und</strong> Mahir <strong>im</strong> Gefängnis kennenlernte,hat er noch fünf mal am Tag gebetet [Lacht dabei. Red.]....Mahir: Also ich habe den Koran vier oder fünf mal auf arabisch gelesen.Bevor ich ins Gefängnis gekommen <strong>und</strong> lange Zeit alleine ineiner Zelle inhaftiert war, habe ich nicht sehr viel hinterfragt. Mann<strong>im</strong>mt es einfach an. Aber <strong>im</strong> Gefängnis ist man dann dazu gehaltenalles zu hinterfragen. Ich habe den Koran gelesen, aber was hat es ge-bracht? Ich habe mein Gebet abgehalten oder mich als Moslem erklärt.Man kommt dann an einen Punkt, an dem man das alles überwindenmuss. Der Punkt an dem ich jetzt angelangt bin ist, dass ich mich nichtmehr als Moslem definiere. Auch Musl<strong>im</strong>e sind für mich wichtige <strong>und</strong>wertvolle Menschen <strong>und</strong> zu respektieren. Aber ich selbst will mich alsMensch definieren <strong>und</strong> nicht als Moslem. Das Gefängnis ist also derGr<strong>und</strong> für so eine Veränderung geworden.Delegation: Was ist die besondere Rolle der Studierenden in der<strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong>?Mahir: <strong>Die</strong> Studierendenschaft ist mehr oder weniger der wissendeBevölkerungsteil – der der sich am ehesten in <strong>Bewegung</strong> setzt <strong>und</strong> etwastut. Deswegen sind Schüler_innen <strong>und</strong> Studierende <strong>im</strong>mer einepotentielle Bedrohung für das System. Und besonders wenn dies <strong>kurdische</strong>,linke, sozialistische Menschen sind. Als solcher ist man automatisch,selbst wenn man nur diese Ansichtsweise hat <strong>und</strong> nichts tut,ein potentieller Schuldiger.Delegation: Eingangs betont ihr, dass ihr keines Falls auf euer Studentenseinbeschränkt werden möchtet, sondern eure Situationauch <strong>im</strong> Zusammenhang einer gesamtgesellschaftlichen Problematikverstanden haben wollt. In welchem Verhältnis stehen eure unterschiedlichenIdentitäten, „Individu<strong>um</strong>“, „Student“ <strong>und</strong> „Teil der<strong>Bewegung</strong>“?Mahir: Wir haben die Probleme des <strong>kurdische</strong>n Volkes z<strong>um</strong> Ausdruckgebracht. <strong>Die</strong> Probleme einer unterdrückten <strong>und</strong> abgelehnten Identität.Man verteidigt diese Identität <strong>und</strong> fordert für sie genau die gleichenindividuellen <strong>und</strong> kollektiven Rechte, wie sie auch anderen Identitätenzugesprochen werden. Ein Beispiel: <strong>Die</strong> Kurd_innen möchtensich heute als Kurd_innen bezeichnet wissen. Sie wollen diese Identitätbesitzen. „Ich bin Kurd_in <strong>und</strong> nicht Türk_in“ sagen wollen. Und duals Individu<strong>um</strong> sagst, „ja das muss so sein“.Ata: Früher waren das Volk <strong>und</strong> die Studierenden getrennt. Aber daswas wir das Volk nennen, dazu gehören auch die Studierenden <strong>und</strong> dieMenschen auf den Straßen. Also die Identität als Student_in sollte keinenUnterschied machen. <strong>Die</strong>se sind genauso das Volk. Ich fand es gutdie verdammte Identität als Student los zu sein. Denn die Studierendendenken, ich bin Student_in, ich habe einen anderen Status, ich bin <strong>und</strong>weiß viele Dinge besser. Aber <strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>e weiß man ‚nen Scheiß. Undnachdem dann dieser Unterschied zwischen Studierenden <strong>und</strong> demrestlichen Volk aufgehoben wurde, fühlte ich mich befreiter.Um zu einem anderen Punkt zu kommen möchte ich euch ein Beispielnennen. <strong>Die</strong> Frau wird unterdrückt, sie erfährt Gewalt <strong>und</strong> sie wirdvon einem Mann gerettet. Aber eigentlich ist das eine falsche Denkweise.Denn der, der die Gewalt ausübt, ist auch der Mann. Um es zukonkretisieren: Ich hoffe, dass ihr unsere Situation nicht mit der orientalistischenDenkweise nach Edward Said betrachtet. Ich hoffe ihr seitnicht hier <strong>um</strong> uns zu „retten“, zu sehen in welcher schl<strong>im</strong>men Situationwir sind. Vielmehr hoffen wir, dass ihr hier seit wegen dem <strong>Kampf</strong>, denwir führen <strong>und</strong> <strong>um</strong> etwas gemeinsam zu erreichen. In der Auseinandersetzungmit unserer Situation kommt es meist nur zu Artikeln oderkurzen Uni-Arbeiten. Berichtet wird dann über Todesfälle, Schmerzen<strong>und</strong> eine Menge solcher Dinge. Solange die Auseinandersetzung abernicht über ein solches Maß hinaus geht, muss ich sagen, dass ich dasnicht sehr ernst nehme, ehrlich. Wann werden sich eure Artikel aufuns auswirken? Wie wird sich das uns konkret zeigen? Ihr seid Oppositionelle.Ihr seid hier <strong>um</strong> etwas gemeinsam zu gestalten. Aber inDeutschland über so ein Thema zu schreiben? Das ist so, wie wennich jetzt für Palästina etwas schreiben würde. Wenn ich mich eine Zeitdort aufhalte <strong>und</strong> das dort erlebte Unrecht hier offenlegen möchte.Aber der Staat ist sich dem Unrecht doch schon bewusst....Delegation: Wir wissen, dass wir selbst nicht viel bewegen können.Aber unser Ziel ist es die Öffentlichkeit in der BRD über die Situationzu informieren. Das ist zwar nicht viel, aber etwas das wir konkrettun können.Ata: <strong>Die</strong> PKK ist doch in Deutschland auch auf der Terrorliste <strong>und</strong>dort erleben die Kurd_innen doch auch starke Repressionen. Hab ihrbeispielsweise dagegen etwas gemacht?Delegation: In der Arbeit gegen staatliche Repressionen ist es wichtigkeine Unterschiede zu machen ob jemand Kurd_in, Deutsche_roder Türk_in ist. Es kommt darauf an, ob man eine linke Politikvertritt, politisch organisiert <strong>und</strong> engagiert ist oder eben nicht.„DIE FRAU WIRD UNTER-DRÜCKT, SIE ERFÄHRTGEWALT UND SIE WIRDVON EINEM MANN GE-RETTET. ABER EIGENT-LICH IST DAS EINEFALSCHE DENKWEISE.DENN DER, DER DIEGEWALT AUSÜBT,IST AUCH DER MANN“.


5.4 IM GESPRÄCH MIT EHEMALS INHAFTIERTEN STUDIERENDEN405.4 IM GESPRÄCH MIT EHEMALS INHAFTIERTEN STUDIERENDEN41„DIE PKK IST DOCH INDEUTSCHLAND AUCH AUFDER TERRORLISTE UNDDORT ERLEBEN DIEKURD_INNEN DOCH AUCHSTARKE REPRESSION.HABT IHR BEISPIELS-WEISE DAGEGEN ETWASGEMACHT?“[3]Im Fall von „FaschistInnen“ sehen wir es als angebracht,auf das gender_gap zu verzichten, da faschistische Ideologienkonträr zur Vorstellung einer Gesellschaft jenseitszugeschriebener Geschlechterrollen <strong>und</strong> des ausschließendenFrau/Mann-Schemas stehen.[4]Milli-Görüş (dt.: <strong>Die</strong> Nationale Sicht) ist eine islamistische<strong>Bewegung</strong>, welche Ende der 60er Jahre in der Türkeientstand. Mittlerweile hat die <strong>Bewegung</strong> internationaleBedeutung bekommen <strong>und</strong> ist auch in Deutschlandüber den Verein „IGMG - Islamische Gemeinschaft MilliGörüş“ <strong>und</strong> das betreiben von dutzenden Moscheen <strong>und</strong>Koranschulen präsent. Das Ziel der <strong>Bewegung</strong> in derTürkei, ist die Errichtung eines Staates auf der Gr<strong>und</strong>lagedes Islams. Ihr Gründer war der 2011 verstorbeneNecmettin Erbakan. Auch Recep Tayyip Erdogan kommtaus dieser <strong>Bewegung</strong>.Ata: Ich glaube die Frage wurde falsch verstanden. Ich wollte das nichtauf eine Nation oder Volkszugehörigkeit beziehen. Deswegen hatte ichauch das Beispiel mit Palästina genannt.Mahir: Ich möchte etwas konkretisieren. Wenn man sich heute dieWelt anschaut dann wird die Frau überall, auf allen Kontinenten, ausgebeutet<strong>und</strong> unterdrückt. Natürlich in unterschiedlicher Weise. Anmanchen Orten als Sexobjekt <strong>und</strong> anderswo auf eine andere Art, aberdas Gemeinsame ist, dass sie ausgebeutet wird. Und deshalb bedarfes eines gemeinsamen <strong>Kampf</strong>es. Ja, ich schaffe hier in Kurdistan eingewisses Bewusstsein, aber das wird nicht ausreichen. Wir müssen unsmit allen Menschen auf der Welt auf einen gemeinsamen Nenner bringen.Deswegen hat der Fre<strong>und</strong> diese Frage gestellt.Ata: Ich wollte die Arbeit der Fre<strong>und</strong>_innen nicht kritisieren. Wennes so verstanden wurde, dann möchte ich mich dafür entschuldigen.Ich respektiere eure Arbeit. Wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ichsolche Arbeit auch gerne machen – an einem anderen Ort, wenn diesesProblem in Kurdistan gelöst ist.Was ich eigentlich wissen wollte ist, wie wird sich eure Arbeit wiederbei uns bemerkbar machen? Ihr wart jetzt hier, wir haben euch einigeserzählt....Delegation: Wir werden eine Broschüre mit den von uns auf dieserReise geführten Gesprächen <strong>und</strong> unseren Eindrücken herausgeben.Außerdem wollen wir Informationsveranstaltungen in verschiedenenStädten in Deutschland organisieren.Ata: Vielleicht wäre es für euch auch interessant gewesen, mit einpaaranderen Menschen zu sprechen, <strong>um</strong> zu erfahren wie die denken. Z.B.mit FaschistInnen [3] oder anderen Leuten die nicht Linke sind. Dannwürde es euch konkreter vor Augen geführt werden, wie die Lage wirklichist.Delegation: Einige dieser Meinungen finden sich auch in der deutschenMainstream Presse wieder. So z.B. das die PKK eine terroristischeOrganisation sei, oder das Erdoğan eine gute Politik fürden Frieden mache... Auch sind die Grauen Wölfe in Deutschlandsehr aktiv. Und die Gülen-<strong>Bewegung</strong> <strong>und</strong> Milli-Görüş [4] sitzen invielen türkisch/ islamischen Räten <strong>und</strong> haben somit einen starkenEinfluss auf die Bildung <strong>und</strong> die migrantischen Communities inDeutschland.Ata: Dann können wir euch noch ein paar Beispiele geben, die vielleichtnicht in den Mainstream Medien auftauchen. In der Türkeierzählt man, dass die Kurd_innen sich deshalb Kurd_innen nennenwürden, weil es be<strong>im</strong> Laufen über den Schnee so ein „Kart Kurt“ Geräuschemacht. Ein anderes Beispiel ist, dass die Kurd_innen Bergtürkensein <strong>und</strong> einen Affenschwanz hätten <strong>und</strong> deshalb diese Pl<strong>und</strong>erhosentragen würden, <strong>um</strong> diesen zu verstecken. <strong>Die</strong>se Dinge standenauch in den offiziellen Lehrbüchern in der Türkei <strong>und</strong> wurden sogaran Universitäten gelehrt. Und als man den Menschen das beibrachte,haben sie es ernsthaft geglaubt. Interessant wäre zu erfahren, wie dasheute diese Menschen noch wahrnehmen. Wie sie reagieren würden,wenn ihr ihnen dann sagt, dass ihr euch selbst mit Kurd_innen unterhaltenhabt <strong>und</strong> diese Vorurteile <strong>und</strong> Lügen nicht zutreffen <strong>und</strong> diesedamit aufgedeckt werden würden. Aber noch mal zurück. Am Beispielder Unterdrückung der Frau haben wir vorhin auch von einemgemeinsamen <strong>Kampf</strong> gesprochen. Also z.B. gibt es ja in Deutschlandstarken Widerstand gegen Atomenergie. Aber die Menschen hier sinddoch auch davon betroffen. Wenn es also gemeinsame Probleme gibt,dann müssen sich die Menschen zusammentun <strong>und</strong> gemeinsam dagegenvorgehen.Delegationsteilnehmer_in: Ich erinnere mich an eine Konferenzenz<strong>um</strong> Thema Atomenergie. Dort habe ich auch Menschen aus derTürkei getroffen, mit welchen wir zusammen gearbeitet haben. Esist also nicht so, dass gar kein Austausch stattfindet. <strong>Die</strong>ser könnte<strong>und</strong> müsste natürlich viel stärker sein. Meine konkrete Frage wäre,wo es weitere Gemeinsamkeiten in unseren Kämpfen geben könnte?Ata: Ich möchte ein weiteres Beispiel nennen. In Kurdistan <strong>und</strong> <strong>im</strong>Schwarzmeergebiet werden vermehrt Staudämme zur Energiegewinnunggebaut. Im Schwarzmeergebiet wird die Natur zerstört <strong>um</strong> Energiezugewinnen. In Kurdistan werden diese an Orten gebaut, an denenhistorische Stätten unter Wasser gesetzt werden [5]. Und zu „nationalenSicherheitszwecken“ werden damit die Rückzugsgebiete der Guerillamin<strong>im</strong>iert.Mahir: Es gibt überall die gleichen Probleme, nur sind sie unterschiedlicherAusprägung. So wie auch mein Beispiel der Frau. Überall sindsie die ausgebeuteten <strong>und</strong> unterdrückten. Als Musterbeispiele der„Gleichheit“ werden aber dann <strong>im</strong>mer Europa oder die USA angeführt.Dabei sind das auch die Orte, an denen mit unter die schl<strong>im</strong>msteAusbeutung der Frau stattfindet.Delegation: Genau das ist die Frage. Wie können wir diese Kämpfezusammendenken <strong>und</strong> gemeinsame Strategien entwickeln. Wiekönnte ein konkreter Internationalismus aussehen?Ata: Da ihr von Internationalismus gesprochen habt... Möglich wäre,in einen ersten Austausch zu treten. Es gibt viele Themen die wir teilenkönnten. So z.B. das Konzept der Demokratischen Autonomie [6].Aber ich möchte auch gerne erfahren, was in der BRD passiert. Es hießvorhin ja zurecht, links oder oppositionell zu sein, hängt nicht von einembest<strong>im</strong>mten Land ab – <strong>im</strong> Sinne von Internationalismus. Ich denke,dass ich auch von euch viel lernen kann.„VIELMEHR HOFFEN WIR, DASS IHR HIER SEID WEGEN DEMKAMPF DEN WIR FÜHREN UND UM ETWAS GEMEINSAM ZUERRICHTEN“.Staudammbau in der Nähe des Dorfes Roboski[5]Eine dieser Städte, die von der Überflutung bedroht ist,ist die Stadt Heskif (türk.: Hasankeyf) am Fluss Tigris.Auch wir besuchten auf unserer Reise Heskif <strong>und</strong> sprachenmit dem örtlichen BDP Co-Vorsitzenden.Siehe Kapitel 10 (S. 76)[6]Seit 2010 ist der Aufbau der Demokratischen Autonomiedas zentrale Ziel der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong>. Das Konzeptversteht sich dabei nicht als Prozess des „Staat-Werdens“,sondern als Gegengewicht z<strong>um</strong> Staat. Z<strong>um</strong> einen ist damitdas Ziel der Demokratisierung des türkischen Staates,d.h. dass der Willen, die Bedürfnisse <strong>und</strong> das Rechtauf Selbstverwaltung der Bevölkerung respektiert wird,verb<strong>und</strong>en, z<strong>um</strong> anderen der Aufbau eines demokratischen,autonomen Kurdistans. Dem Konzept liegt dasVerständnis einer Gegensätzlichkeit zwischen „Demokratie“<strong>und</strong> „Staat“ zugr<strong>und</strong>e, welche jegliches Aufbauenstaatlicher Strukturen, als auch das Arrangieren mit demStaat ablehnt. Organisierungsmodell der DemokratischenAutonomie ist wieder<strong>um</strong> Rätebasiert <strong>und</strong> manifestiertsich in Nordkurdistan <strong>im</strong> DTK, dem DemokratischenGesellschaftskongress.


5.5 DIE AKADEMIE FÜR DEMOKRATISCHE POLITIK IN GEVER445.5 DIE AKADEMIE FÜR DEMOKRATISCHE POLITIK IN GEVER45„ICH BIN 53 JAHRE ALTUND WAR WÄHREND DESPUTSCHES 1980 IN AMEDIM GEFÄNGNIS. GLAUBTMIR, HEUTE HERRSCHTEIN GROSSER DRUCK AUFDEN MENSCHEN“.„WIR MÜSSEN LEIDERSAGEN, DASS IM LEBENDER KURD_INNEN DIEFEUDALITÄT SEHR VER-BREITET IST UND DASSDIE FRAUEN GROSSESLEID ERFAHREN“.Rüstem Demir.Im Hinterdr<strong>und</strong> die Fahne der BDP-Partei.Kollege: Unsere Möglichkeiten sind sehr eingeschränkt. Wir arbeitenunter sehr schwierigen Umständen. Gegen <strong>kurdische</strong> Unternehmen<strong>und</strong> Initiativen gibt es hier große Angriffe in letzter Zeit. So wird auchdie Unabhängigkeit der Bildungseinrichtungen <strong>im</strong>mer mehr eingeschränkt.Wir müssen auch rechtlich eine Akademie einer Partei - derBDP - sein <strong>und</strong> nach ihrer Satzung arbeiten. Zuletzt bringen es die Gesetzesoweit, dass sogar Spenden an unsere Akademie als ein terroristischerAkt gewertet werden. In Europa mag einiges vielleicht als Demokratisierunggewertet werden, was die AKP-Regierung in den letztenJahren getan hat. Ich persönlich sehe das nicht. Ich bin 53 Jahre alt <strong>und</strong>war während des Putsches 1980 in Amed <strong>im</strong> Gefängnis. Glaubt mir,heute herrscht ein größerer Druck auf den Menschen. Damals warenes Folter <strong>und</strong> Leugnung, aber heute sind es viel größere, ideologischeAngriffe. In diesem schmutzigen Krieg will man die Kurd_innen auchökonomisch vernichten.Demir: Allgemein können wir aber sagen, dass die DemokratischeAutonomie, die Arbeit unserer Straßen-, Jugend- <strong>und</strong> Frauenräte inGever in weiten Teilen funktioniert.Delegation: Was für Kurse werden hier angeboten? Wie ist die Schüler_innenschaftzusammengesetzt? Und wie sieht der Unterrichtkonkret aus?Demir: Wir bieten Kurse zu folgenden Themen an: Geschichte <strong>und</strong>Entstehung der Gesellschaften, Beginn der Zivilisation <strong>und</strong> ihr Werdegangbis heute, Geschichte Kurdistans, Geschichte der <strong>kurdische</strong>n<strong>Freiheit</strong>sbewegung, Natur, Emanzipation, Physik, Philosophie, Politik.Wir haben Kurse z.B. z<strong>um</strong> Demokratischen Konföderalismus [4],zur Demokratischen Autonomie, über die Position Öcalans <strong>und</strong> seineRolle. Wenn wir Veranstaltungen zur Entstehung <strong>und</strong> Geschichteder Gesellschaften anbieten, dann decken diese ein weites Feld ab: dieneolithische Gesellschaft, die Urgesellschaft <strong>und</strong> die europäische Gesellschaft.Wir unterrichten z.B. unsere Aktivist_innen in den Volksräten.Aber auch ältere Menschen, junge Menschen, Frauen <strong>und</strong> Schüler_innen.Wo es geht, unterrichten wir in gemischten Gruppen, woes notwendig ist in eigenständigen. Wir unterscheiden hier zwischenunseren Schüler_innen der Akademie <strong>und</strong> den Aktivist_innen aus denRäten <strong>und</strong> Vereinen. Derzeit unterrichten wir insgesamt 65 Schüler_innen. In den Klassen sind höchstens 20 bis 25 Personen. Wenn jemandzu einem Thema einen 20-tägigen Lehrgang besucht, bekommter bzw. sie ein Zertifikat. Andere Lehrgänge werden zu einzelnen Themengemacht, die kürzer sein können. Das bieten wir an, wenn z.B.Fre<strong>und</strong>_innen kommen <strong>und</strong> sagen, dass sie zu einem best<strong>im</strong>mten Themaetwas lernen wollen. <strong>Die</strong> Lehrgänge in den Straßenräten dauern oftmonatelang.Kollege: In der Akademie gibt es zu den Themen, die wir nannten,fünf mal die Woche Unterricht. Derzeit kommen aus den Frauenvereinenoder anderen Vereinen Lehrer_innen, die Unterricht geben. Wirwollen dieses Angebot in Zukunft noch erweitern.Delegation: Wer best<strong>im</strong>mt diesen Unterrichtsplan <strong>und</strong> wer wähltden Vorstand der Akademie?Demir: <strong>Die</strong> Akademien sind die Politikakademien der BDP. Ich weißnicht, wie das in Europa ist, aber in der Türkei hat jede Partei ihreeigenen Akademien, in denen sie ihre Ideologie lehrt. Unsere Akademieist die der Region Colemerg [türk.: Hakkari]. <strong>Die</strong> stellvertretendenKreisvorsitzenden der BDP in den Gemeinden Colemergs, also Colemergselbst, Gever <strong>und</strong> Şemzînan, sind gleichzeitig <strong>im</strong> Vorstand derPolitikakademien. Wir drei sind verantwortlich für die ideologischeArbeit der BDP auf den Straßen <strong>und</strong> gehören auch z<strong>um</strong> Vorstand derAkademien. Den konkreten Inhalt der Akademien best<strong>im</strong>mt jedochdie allgemeine Bildungskommission der BDP in den Provinzen. Dasheisst aber nicht, dass nur BDP-Mitglieder an unseren Akademien teilnehmendürfen. Es gibt keine Einschränkungen der Partizipation.Delegation: Gibt es Arbeiten der Akademie <strong>im</strong> Bezug auf die Befreiungder Frau?Demir: Wir müssen leider sagen, dass <strong>im</strong> Leben der Kurd_innen dieFeudalität sehr verbreitet ist <strong>und</strong> dass die Frauen großes Leid erfahren.Ich würde sogar sagen, dass auf der Erde die <strong>kurdische</strong>n Frauen zuden unterdrücktesten gehören. Wir können aber auch sagen, dass dieBefreiung der Frau zu einem großen Thema in Kurdistan geworden ist,dass es ein Aufwachen der Frauen gibt. Wir wollen, dass Frauen unsereGesellschaft ideell prägen. Und das braucht viel Zeit, auch <strong>im</strong> Rahmenunserer Akademie.Delegation: Was sind die Probleme der Jugendlichen hier in Gever?Demir: Vor einigen Jahren konzentrierten sich die Angriffe des Staatesauf uns <strong>und</strong> unsere physische Tötung. Seitdem die AKP an der Regierungist, konzentriert sie sich eher auf einen ideologischen <strong>Kampf</strong>, aufeinen <strong>Kampf</strong> der Ideen. Aus diesem Gr<strong>und</strong> haben die Kommunen, diein der Hand der BDP sind, seit einigen Jahren eigene kostenlose Nachhilfezentrenaufgebaut. Das andere Problem ist: Wir befinden uns hieran einem Knotenpunkt des Drogenhandels. Im Verständnis des Staatessind wir in Gever direkt an der Grenze – für uns ist das keine Grenze,weil das alles Kurdistan ist – z<strong>um</strong> Irak <strong>und</strong> Iran. Der Staat bringtbewusst durch die Polizei Drogen an Jugendliche in Umlauf, z.B. anSchulen, <strong>um</strong> sie ideologisch zu schwächen <strong>und</strong> politisch handlungsunfähigzu machen. Das sind die ideologischen Angriffe des Staates.Auch in Bezug auf die Befriedigung der Bedürfnisse der Jugendlichenhaben wir zu viele Defizite. So sind viele Jugendliche aufgr<strong>und</strong> vonArbeitslosigkeit in westliche Städte gegangen.Delegation: Ihr sprecht von ideologischen Angriffen auf die <strong>Bewegung</strong>.Was für Kurd_innen will die Staatsideologie der Türkei <strong>und</strong>die AKP?Demir: Es werden Kurd_innen gewollt, welche nicht ihrer selbst, nichtnatürlich sind. Gefälschte Kurd_innen, die sich <strong>und</strong> ihre Kultur nichtkennen, also sich ihrer Identität unbewusst sind. Man will Kurd_innen,die vom Staat abhängig sind. Wenn ich Beispiele geben darf:Solche wie Hüseyin Çelik, Mehdi Eker, Mehmet Metiner [5] will manschaffen. Das System will Kurd_innen wie Barzani <strong>und</strong> Talabani, wieKemal Burkay [6], die sich der AKP annähern. Das sind die Kurd_innen,die der Staat sich vorstellt.Als Öcalan festgenommen wurde, suchte das System eine neue Persönlichkeit,welche sie an die Stelle Öcalans setzten könnte <strong>und</strong> versuchtedies mit Osman Öcalan. Das führte z<strong>um</strong> Abspalten des Flügels <strong>um</strong>Osman Öcalan zwischen 2003-2005 [7]. Aber die Ideologie <strong>und</strong> dieJungend war stark genug <strong>und</strong> wir konnten uns wieder erholen.„SEITDEM DIE AKP ANDER REGIERUNG IST,KONZENTRIERT SICH DERSTAAT EHER AUF EINENIDEOLOGISCHEN KAMPF,AUF EINEN KAMPF DERIDEEN“.


5.5 DIE AKADEMIE FÜR DEMOKRATISCHE POLITIK IN GEVER465.5 DIE AKADEMIE FÜR DEMOKRATISCHE POLITIK IN GEVER47„IMMER NOCH WIRDJEDEN MORGEN IN DENSCHULEN `GLÜCKLICHIST DER, DER SICHTÜRKE NENNEN KANN ́GESCHRIEN“.Kollege: Wir hingegen wollen unabhängige Kurd_innen. Unsere Kraftschöpfen wir aus unserem Volk <strong>und</strong> nicht aus dem Kapital. UnsereBasis ist das Volk. Alle vorherigen Regierungsparteien sind zusammengebrochen,wie die von Bülent Ecevit <strong>und</strong> die der ANAP [8], weilihre Basis das Kapital war, das ihnen nach einer Zeit entzogen wurde.Wir werden Tag für Tag stärker. Wir sagen nicht, ihr müsst BDP sein,ihr müsst uns wählen. Wir drängen uns anderen nicht auf. Wir sagen:„Schaut euch die Geschichte an. Seht euch die natürlichen Gesellschaftenan. Menschen sind unterschiedlich, das ist natürlich. Verteidigt,was ihr seid“. <strong>Die</strong> AKP hingegen versucht sich als Vorbild zu zeigen,sich den Menschen aufzudrängen. Und in dieser Hinsicht sind wir aufrecht<strong>und</strong> stark.Delegation: Wie in der Geschichte ähnlicher Konflikte deutlichwird, glauben wir zu erkennen, dass auch in den <strong>kurdische</strong>n Gebietendie Kultur ausgehöhlt <strong>und</strong> versucht wird eine neue, eine konformeKultur zu schaffen. Z.B soll das Newroz-Fest gefeiert werdendürfen, aber sein Hintergr<strong>und</strong> soll dabei ausgeblendet werden. Wieseht ihr die aktuellen Lockerungen, was das Praktizieren von Teilender <strong>kurdische</strong>n Kultur betrifft?Demir: All das, was vom Staat den Kurd_innen angeboten wird, hatausschließlich unsere Leugnung z<strong>um</strong> Ziel. <strong>Die</strong> Wahlkurse in Schulenfür die <strong>kurdische</strong> Sprache, Fernsehsender, Radio <strong>und</strong> andere Lockerungen,wie z.B. das Newroz-Fest. Das Fest ist ein Symbol für die <strong>Freiheit</strong>,nicht nur für die Kurd_innen, sondern für alle Völker des Nahen<strong>und</strong> Mittleren Ostens. Das wird aber von der AKP nicht erwähnt. Genausowie überall auf der Welt die Wissenschaft <strong>und</strong> die Bildung inden <strong>Die</strong>nst des Systems gestellt wird, so versucht auch die AKP, Newroz<strong>und</strong> die gesamte <strong>kurdische</strong> Kultur in den <strong>Die</strong>nst der eigenen Interessenzu stellen. Das müssen <strong>und</strong> werden wir <strong>im</strong>mer wissen.Delegation: Wie können wir die Menschen in Europa aber auch inder Türkei davon überzeugen, dass die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> emanzipatorischeIdeen verfolgt?Demir: Wir führen hier einen <strong>Kampf</strong> für die Menschheit. Deshalbmuss dieser Terror-Stempel auf unserem Namen weg. Ihr seht selber:Sind wir Terrorist_innen? <strong>Die</strong>ser Vorwurf verletzt uns sehr. Wirwollen, dass über unseren <strong>Kampf</strong> richtig an den Schulen <strong>und</strong> Universitätenin Europa gesprochen wird. Wir wissen, dass ihr als unsereFre<strong>und</strong>_innen <strong>und</strong> aus befre<strong>und</strong>eten Organisationen hier seid. Erzähltwas ihr hier seht.Kollege: In der Geschichte gibt es selten Völker, die so viel Leid erfahrenhaben, wie die Kurd_innen. Dass ich heute meine Sprache sprechenwill, meine Identität beibehalten will, dass ich sagen will, „ichbin Kurd_in“, sollte mein Recht sein, wie es in Europa auch eines jedenMenschen Recht ist, sich als Deutsche_r, Serb_in, Albaner_in usw. zubezeichnen.Wir sehen, dass seit Jahrzehnten die politische Institutionalisierungder Kurd_innen in der Republik verhindert wurde. Schauen wir unsmal die Geschichte der BDP an: Alle Parteien, die die Kurd_innen seit1989 gegründet haben, wurden verboten. Ihre Institutionalisierungwurde verhindert. Genauso auch ihre Organisierung <strong>und</strong> ihre politischenAktivitäten. H<strong>und</strong>erttausende von Menschen sind deswegen inhaftiertworden. Derzeit befinden sich fast 10.000 Menschen aufgr<strong>und</strong>ihrer politischen Aktivitäten in Gefängnissen [Stand Mitte März 2013.Red.]. Das einzige Ziel dieses Staates ist ihre Vernichtung. <strong>Die</strong> RepublikTürkei gesteht in keinster Weise den Kurd_innen ihre Rechte zu.Immer noch wird jeden Morgen in den Schulen „Glücklich ist der, dersich Türke nennen kann“ [9] geschrien. Unsere Kinder müssen dasvorsingen <strong>und</strong> wenn ich dagegen bin, werde ich z<strong>um</strong> „Terroristen“.Wenn wir gegen diese Unterdrückung aufbegehren, werden wir auchvon Europa als terroristisch gebrandmarkt. Es gibt Menschen, die 1980zu 18 Jahren Haft verurteilt wurden, weil sie in ihren Autos Kassettenvon Şivan Perwer [10] gehört haben. Und deswegen haben wir Kurd_innen angefangen uns zu organisieren <strong>und</strong> uns selbst zu verwalten.Demir: Es wurde der Paradigmenwechsel [11] angesprochen. Ich binder Ansicht, dass die gr<strong>und</strong>legenden Ziele für die die Kurd_innenkämpfen, dieselben sind, wie zu Beginn der <strong>Bewegung</strong>. Öcalan selbstsagt, dass er die gleiche Linie verfolgt, die er 1976 verfolgte. Aber dieVerhältnisse <strong>im</strong> Mittleren Osten sind sehr instabil <strong>und</strong> empfindlichgeworden. <strong>Die</strong> Kurd_innen müssen sich diesen Umständen anpassen,damit sie sich <strong>im</strong> Mittleren Osten verteidigen können. Früher gab esviel Unterstützung aus Europa. Aber die Terrorisierung- <strong>und</strong> Kr<strong>im</strong>inalisierungspolitikdes Staates hat soweit gereicht, dass wir dort inzwischen als Terrorist_innen abgestempelt werden. Wir dürften nichtmal unsere demokratischsten Rechte in Anspruch nehmen. Wir haben<strong>im</strong>mer noch das Paradigma einer eigenständigen Verwaltung, einerdemokratischen Verwaltung, in der jede_r frei leben kann.Delegation: Von Seiten der Regierung wird seit dem Beginn der Gesprächemit Öcalan gesagt: „Legt die Waffen nieder <strong>und</strong> macht Politikauf demokratische Weise.“ Allerdings werden die, die sich <strong>im</strong>staatlichen, parlamentarischen System politisch betätigen, zu Tausendeneingesperrt. Trauen die Kurd_innen diesen Gesprächen?Kann es eine Waffenniederlegung ohne die Freilassung der politischenGefangenen <strong>und</strong> ohne die Schaffung von Möglichkeiten, legalPolitik betreiben zu können, geben?Demir: Unsere Herangehensweise an diesen Prozess ist folgende: Wirsind in einer Phase, in der die Umstände dafür geschaffen werden müssen,dass Gespräche überhaupt geführt werden können. Forderungenwerden erst dann auf den Tisch gelegt, wenn die Gespräche begonnenhaben. Das ist ein langer <strong>Kampf</strong>. Im letzten Jahr haben 20 jungeMenschen allein aus Gever ihr Leben in diesem <strong>Kampf</strong> verloren.Wenn es keine Generalamnestie für die zehntausend Kämpfer_innen<strong>und</strong> Gefangenen gibt, dann kann es auch keinen Frieden geben. Daswäre sonst nur die gleiche Ass<strong>im</strong>ilierungs- <strong>und</strong> Leugnungslinie. Es lebenheute zehntausende Menschen <strong>im</strong> Zwangsexil. Was wird aus ihnen?Wir wollen, dass diese Sachen in den Verhandlungen zur Sprachekommen. Das ist unsere Herangehensweise. Wir können nicht einfachsagen, dass wir Hoffnungen haben... Aber irgendwie müssen wir unsereHoffnungen auch behalten.Kollege: <strong>Die</strong>se Phase der politischen Situation, die wir jetzt erreichthaben, ist uns nicht von der AKP oder dem türkischen Staat gebilligtoder gegeben worden, sondern haben wir durch unseren eigenen Widerstand<strong>und</strong> <strong>Kampf</strong> erreichen können. Hätten wir diesen <strong>Kampf</strong> nichtgeführt, wären wir heute nicht an diesem Punkt. Wir vertrauen derAKP nicht. Den Prozess werden wir weiterhin so gestalten, wie wir esfür notwendig halten <strong>und</strong> ihn auch weiterhin mit unserem Widerstandbegleiten.Demir: Hier erwarten wir eure Solidarität <strong>und</strong> Unterstützung. Inunserer Akademie wird Unterricht zur Menschlichkeit gegeben. <strong>Die</strong>Kurd_innen vermissen seit Jahrzehnten Bildung. Wir wollen uns hierpolitisch bilden, weil wir unsere eigene gesellschaftliche Gr<strong>und</strong>lageschaffen wollen.„WENN ES KEINE GENE-RALAMNESTIE FÜR DIEZEHNTAUSEND KÄMP-FER_INEN UND GEFAN-GENEN GIBT, DANN KANNES AUCH KEINEN FRIE-DEN GEBEN“.(links)Gespendete Bücher in der neuen Bibliothek derPolitikakademie(rechts)Eingangsschild: „Partei für Frieden <strong>und</strong> Demokratie -Akademie für demokratische Politik <strong>und</strong> Politikschule derPartei, Büro Yüksekova“


Posten der Militärpolizei Jandarma auf dem Wegzwischen Gever <strong>und</strong> Colemêrg49AUSZÜGE AUS DEM GESPRÄCH MIT DEN SCHÜLER_INNEN XECİ, QANCU UND DİJWARDelegation: War<strong>um</strong> besucht ihr diese Bildungseinrichtung der Gemeinde?Xeci: Ich komme hierher, weil die Bildungsmöglichkeiten <strong>und</strong> dieDisziplin hier sehr gut sind <strong>und</strong> ich meine Persönlichkeit weiterentwickelnkann. Besonders kann ich hier meine <strong>kurdische</strong> Sprache <strong>im</strong> Kurdisch-Unterrichtverbessern <strong>und</strong> sie zu einem Teil von mir machen.Deshalb habe ich mich für diese Einrichtung entschieden.Qancu: Ich komme hierher, weil ich gegen das ausbeuterische Systemder privaten Bildungseinrichtungen bin, die pro Monat zwischen 800<strong>und</strong> 1000 Lira Gebühren verlangen [<strong>Die</strong>s entsprich ca. 300 bis 400Euro. Red.]. Hier sind die Lernbedingungen vielleicht nicht so gutaber viel wichtiger ist, dass der Unterricht in unserer Mutterspracheerfolgt. Außerdem soll der Erfolg, den ich durch die Unterstützung derBildungseinrichtung der Gemeinde erlange, auch auf die Gemeindezurückfallen.Dijwar: Ich komme hierher, weil ich persönlich etwas anderes machenwollte, als nur auswendig zu lernen. Hier kann der Mensch sich selbst<strong>und</strong> seine Persönlichkeit kennenlernen. Das ist etwas sehr schönes.In den privaten Bildungseinrichtungen läuft alles nach Plan, aber hierkann der Mensch sich selbst als Individu<strong>um</strong> entdecken.Delegation: Was wollt ihr in Zukunft machen?Xeci: Ich möchte Psychologin werden. Aber dieser Berufswunsch istausschließlich pragmatischen Gründen geschuldet. Eigentlich möchteich die <strong>kurdische</strong> Sprache <strong>und</strong> Geschichte erforschen, also Sprachwissenschaftlerinoder Historikerin werden. Aber dies ist innerhalb destürkischen Systems so momentan nicht möglich. Das wird erst möglichsein, wenn wir eine eigene Regierung oder z<strong>um</strong>indest größere Autonomieerreicht haben werden. Bis dahin bin ich Schülerin bei Kurdi-Der[12], dort forsche ich zur <strong>kurdische</strong>n Sprache <strong>und</strong> bilde michliterarisch <strong>und</strong> sprachlich auf Kurdisch weiter.Qancu: Ich war bis letztes Jahr in der Schule <strong>und</strong> hatte keine Ahnungüber meine eigene <strong>kurdische</strong> Vergangenheit. Als es Demonstrationengab, habe ich sofort dicht gemacht <strong>und</strong> mir gedacht „Sollen sie dochmachen was sie wollen, das interessiert mich nicht“. Nachdem ich hierhergekommen bin <strong>und</strong> mich informiert habe, hat sich meine Sichtweisesehr geändert. Ich habe gemerkt, dass es nichts bringt, ein Beamter,ein Mann des Staates zu werden. Ich wollte nicht mehr ein Büttel desSystems sein <strong>und</strong> habe mich dazu entschlossen, Kurdisch-Lehrer zuwerden.Delegation: Wie steht es <strong>um</strong> Geschlechterverhältnisse <strong>und</strong> Geschlechterrollenin den Kursen dieser Bildungseinrichtung?Xeci: Für uns sind Frauen <strong>und</strong> Männer gleich. Was in unseren Büchernsteht, setzen wir auch in die Praxis <strong>um</strong>. Aber es gibt hier einigereligiöse Glaubensgemeinschaften, die stehen außerhalb dieserEntwicklung. Sie unterrichten Frauen <strong>und</strong> Männer nicht zusammen,sondern trennen sie. Wir sind aber nicht wie diese. Wir sitzen in dengleichen Reihen, verbringen zusammen unsere Freizeit oder beteiligenuns gemeinsam an Veranstaltungen.Qancu: Wenn wir auf unsere eigene Geschichte zurückblicken, dannsehen wir, dass die Kurd_innen den Frauen <strong>im</strong>mer besonderen Wertbeigemessen haben. Es gibt am 8. März den Weltfrauentag <strong>und</strong> ammeisten wird dieser von den Kurd_innen gefeiert. Wenn wir am AbendNachrichten schauen, sehen wir, dass es <strong>im</strong> Westen der Türkei ein hohesMaß an Gewalt gegen Frauen gibt. Das ist bei uns nicht so. Es gibtin unserer Kultur zwar auch Gewalt gegen Frauen, das will ich nicht[12]Kurdi-Der, Verein zur Erforschung <strong>und</strong> Entwicklung der<strong>kurdische</strong>n Sprache, ist Teil eines Netzwerks von Vereinen,welche in weiten Teilen Nordkurdistans <strong>und</strong> in einigentürkischen Städten wie Mersin oder Adana Sprachunterrichtanbieten. Ihr Hauptbüro befindet sich in Amed.Für weitere Informationen über die Arbeit der Vereinesiehe: „demokratische autonomie in nordkurdistan -Rätebewegung, Geschlechterbefreiung <strong>und</strong> Ökologie in derPraxis“. (S. 172)


50DIE FRAGE DES GESCHLECHTSDIE KURDISCHE FRAUEN- UND LGBT-BEWEGUNG[13]Eğit<strong>im</strong>-Sen (Eğit<strong>im</strong> ve Bil<strong>im</strong> Emekçileri Sendikası, dt.:Gewerkschaft der Beschäftigten <strong>im</strong> Bereich Erziehung<strong>und</strong> Wissenschaft) entspricht der deutschen Gewerkschaftfür Bildung <strong>und</strong> Wissenschaft. KESK (Kamu EmekçileriSendikarları Konfederasyonu, dt.: Konföderation der <strong>im</strong>öffentlichen <strong>Die</strong>nst beschäftigten Arbeiter_innen) <strong>und</strong>DİSK (Devr<strong>im</strong>ci İşçi Sendikarları Konfederasyonu, dt.:Föderation der revolutionären Arbeiter_innengewerkschaften)sind linke Gewerkschaften des privaten <strong>und</strong> desöffentlichen <strong>Die</strong>nstes.Wandtafel am Eingang zu Politikakademie:“Was hier untersucht wird, ist nicht der Moment,sondern die Geschichte, ist nicht das Individu<strong>um</strong>, sonderndie Gesellschaft”.unterschlagen, das heißt aber nicht, dass diese dadurch legit<strong>im</strong>iertwird. Generell kommt der Frau in unserer Kultur eine hohe Rolle zu.Dijwar: Bei uns gibt es die Gleichberechtigung der Geschlechter. Auchwenn unsere Großväter <strong>und</strong> Väter noch nicht so waren, versuchen dieneuen Generationen so zu werden <strong>und</strong> die Gleichberechtigung zu leben.Delegation: Wie ist euer tagtägliches Leben hier? Unser Eindruckist, dass Yüksekova „befreites Gebiet“ ist <strong>und</strong> die Polizei sich in derStadt nur schwer bewegen kann.Xeci: In Yüksekova sind die Entwicklungen sehr positiv, vor allem inden letzten 15 Jahren sind die Menschen hier sehr bewusst geworden,vor allem bezogen auf die Ass<strong>im</strong>ilationspolitik. Früher konnte manhier nicht mal eine CD von Şivan Perwer anhören, wir mussten unsere<strong>kurdische</strong>n CD´s <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Boden vergraben oder anderweitigverstecken. Wir konnten unsere drei Farben, Rot, Gelb, Grün in keinerWeise verwenden. Wenn wir in der Schule Kurdisch gesprochenhaben, haben wir Strafen von unseren Lehrer_innen erhalten. Aberdas hat sich in der letzten Zeit geändert. Jede_r ist mutiger geworden.<strong>Die</strong> Menschen sprechen offen Kurdisch, hören <strong>kurdische</strong> Lieder. DerStaat setzt zwar seine repressive Politik bis heute fort, es gibt hier vieleAuseinandersetzungen <strong>und</strong> Tote, aber trotzdem geben wir nicht auf<strong>und</strong> leisten Widerstand. Vor allem die Jugendlichen. Es ist eh so, wennwir in Zukunft unseren eigenen Staat aufbauen, wird dieser von derJugend aufgebaut werden, denn die Jugend ist der dynamischste Teilder <strong>kurdische</strong>n Gesellschaft. Wir geben nie auf <strong>und</strong> das ist das schönean Yüksekova. Aber es ist auch zu kritisieren, dass es <strong>im</strong>mer noch Menschengibt, die das nicht sehen wollen <strong>und</strong> die Ass<strong>im</strong>ilationspolitik unterstützen.Aber das überwinden wir nach <strong>und</strong> nach, sei es mit unserenOrganisationen wie der Eğit<strong>im</strong>-Sen, KESK <strong>und</strong> DİSK [13], Kurdi-Deroder durch Veranstaltungen unserer Gemeinde. Dadurch gelingt esuns, die Menschen aufzurütteln.Ich bin mir sicher das wir zu einer schönen Zukunft kommen werden.<strong>Die</strong>se werden wir alle zusammen erreichen.Dijwar: Wenn ich auf die Entwicklungen der letzten zehn Jahre <strong>im</strong>Mittleren Osten zurückblicke, auf das, was in dieser Zeit erreicht wurde,ist mein Glaube daran, dass wir in dieser Region auch ohne Nationalstaatenleben können sehr gestiegen. <strong>Die</strong> Bewusstseinswerdungkann man auch daran erkennen, dass unsere gefallenen Kämpfer_innenmittlerweile von der ganzen Stadt empfangen werden <strong>und</strong> jede_ran den Beerdigungen teiln<strong>im</strong>mt. Heute weht der Wind des Aufstandesdurch diese Stadt, niemand will sich mehr der Ausbeutung <strong>und</strong> derHerrschaft des Staates unterwerfen. Das ist das Schöne an Yüksekova.<strong>Die</strong> <strong>kurdische</strong>n Farben als Dekoration z<strong>um</strong>Newroz-Fest, ergänzt durch die Farbe Lila alsSymbol der Frauenbewegung.Auch in Nordkurdistan ist die Gesellschaft geprägt von geschlechtlichenRollenzuschreibungen <strong>und</strong> patriarchalen Herrschaftsverhältnissen.Unter diesen Verhältnissen leiden nicht nur Frauen, sonderndie Vorstellung einer heteronormativen Gesellschaft mit ihren eingeschriebenenHerrschaftsverhältnissen unterdrückt auch Menschen,die eben nicht in ein solches Zweigeschlechtersystem hineinpassen(wollen), wie Intersexuelle <strong>und</strong> Transgender.Ihre politische Partizipation ist, wie in den meisten Teilen der Erde,keine Selbstverständlichkeit. Doch hat sich gegen diese Verhältnisse inden letzten Jahrzehnten die <strong>kurdische</strong> Frauenbewegung formiert <strong>und</strong>ist zu einer zentralen Säule der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> geworden. Undauch die LGBT-<strong>Bewegung</strong> hat an Bedeutung gewonnen.<strong>Die</strong> folgenden Artikel widmen sich diesen <strong>Bewegung</strong>en <strong>und</strong> ihrenKämpfen, Erfolgen <strong>und</strong> Problemen.


6.1 HEBÛN54LGBT Aktivist_innen für Führungs- <strong>und</strong> Delegiertenpositionen. VieleAktivist_innen von Hebûn stehen aber solche Quotierungen skeptischgegenüber, was vor allem zwei Gründe hat: Z<strong>um</strong> einen könnte die türkischeAKP Regierung die gesellschaftlichen Ressent<strong>im</strong>ents gegenüberschwullesbischen <strong>und</strong> transsexuellen Menschen gegen die unliebsamen<strong>kurdische</strong>n <strong>und</strong> türkischen Reg<strong>im</strong>ekritiker_innen für seine eigenenZwecke, die Schwächung der Opposition, instr<strong>um</strong>entalisieren,z<strong>um</strong> anderen lehnen einige Mitglieder der Organisation eine binäregeschlechtliche Trennung von Menschen in „Frauen“ <strong>und</strong> „Männern“ab <strong>und</strong> weisen auf den gesellschaftlichen Konstruktionscharakter vonGeschlecht (Gender) hin. Eine Quotenregelung würde dabei nicht nurdas System der Zweigeschlechtlichkeit, sondern auch sexistisch-patriarchalischeDiskurse reproduzieren. Da aber solche Theorien denwenigsten Menschen in der Türkei <strong>und</strong> Nordkurdistans bekannt sind,verwenden die Aktivist_innen von Hebûn aus pragmatischen Gründentrotzdem die Begriffsdichotomie „Mann/Frau“. Unterstützungerfährt Hebûn vor allem durch die pro<strong>kurdische</strong> Partei für Frieden<strong>und</strong> Demokratie (BDP), welche nicht nur LGBT Rechte fest in ihreSatzung integriert hat, sondern auch Gesetzesvorlagen für die Verbesserungder Situation in das türkische Parlament einbringt. <strong>Die</strong>se Hilfegeschieht aber wieder<strong>um</strong> eher subtil, da sich auch unter den BDPLGBT-Aktivist_innen auf der Newroz-Feier in AmedWähler_innen selbst Angehörige eines strengen konservativen Milieusbefinden, welches kein Verständnis für die Ausweitung von LGBTRechten aufbringt. Vor allem die AKP hat in ihrem ideologischen<strong>Kampf</strong> gegen die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> <strong>im</strong>mer wieder homophobe Propagandabetrieben, sodass die offene Unterstützung der BDP für eineLGBT Organisation eine willkommene Gelegenheit zur Diffamierungdieser darstellen könnte. Trotz der <strong>im</strong>mensen Wichtigkeit der BDP fürdie finanzielle Sicherung von Hebûn legt die Vereinigung explizit Wertdarauf nicht nur als „kurdisch“ wahrgenommen zu werden, wenn aucheine enge Verbindung zur <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> nicht zu leugnen ist.So engagierte sich Hebûn bei den zahlreichen Gezi-Park Protesten <strong>und</strong>erinnert u.a. an das Massaker vom 28. Dezember 2010 in den <strong>kurdische</strong>nOrt Roboski, der sich in der Provinz Uludere befindet <strong>und</strong> beidem 34 z<strong>um</strong>eist <strong>kurdische</strong> Jugendliche durch Bombardments von türkischen<strong>Kampf</strong>jets <strong>um</strong>s Leben kamen.Der breite Aktionsrahmen ihrer politischen Tätigkeiten ermöglichtHebûn einen stärker werdenden Bekanntheitsgrad gegenüber anderenparteilichen <strong>und</strong> zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei<strong>und</strong> in Nordkurdistan, wobei noch abzuwarten bleibt, ob sich tatsächlichauch eine breitere Masse des politischen Etablishments LGBTThematiken annehmen wird. Aber nicht nur innerhalb der Türkei <strong>und</strong>Nordkurdistans sucht Hebûn Aktivist_innen, die sich mit den Anliegender Gruppe solidarisieren. Demzufolge würde sich die Vereinigungeinen viel stärkeren Kontakt zu „westlichen“ LGBT Organisationenwünschen, der bisher doch eher marginal ausfällt. So liegt es auchan „westlichen“ LGBT Aktivist_innen selber, wie sie ihre Genoss_innenin der Türkei <strong>und</strong> Nordkurdistan unterstützen <strong>und</strong> ihnen einenPlatz <strong>im</strong> Diskurs einrä<strong>um</strong>en. <strong>Die</strong>ser Prozess bedarf aber auch einemhohen Maß an Selbstreflexion <strong>im</strong> Bezug auf die eigene Sprecher_innenposition<strong>um</strong>, wie bereits zu Beginn vermerkt, keine rassitischenDiskurse reproduzieren oder hegemoniale Verhaltensweisen gegenüber„nicht-westlichen“ LGBT Grupierungen legit<strong>im</strong>ieren zu können.Ohne solche Überlegungen könnte Solidarität zur Einbahnstraße werden<strong>und</strong> somit den Partizipations- <strong>und</strong> Verständigungsprozess negativbeeinflussen.Newroz-Feier in Colemêrg


IM GESPRÄCH MIT DER DEMOKRATISCHENFREIEN FRAUENBEWEGUNG„WIR WOLLEN FRAUEN ERMUTIGEN, SICH IN ALLEN BEREICHEN DES LEBENS ZU ORGANISIEREN, UM SICH SELBST ZU ERMÄCHTIGEN“.<strong>Die</strong> Demokratische Freie Frauenbewegung(türk.: Demokratik Özgür KadınHareketi – DÖKH) wurde 2003 vonmehreren h<strong>und</strong>ert Frauenaktivistinengegründet <strong>und</strong> versteht sich alsDachorganisation verschiedenster Frauenorganisationen<strong>und</strong> Vereine,die sich unterschiedlichen Themenwidmen – Kapitalismus, Sexismus <strong>und</strong>sexualisierte Gewalt, Nationalismus,Rassismus, Militarismus oder Ökologie –<strong>im</strong>mer in Bezug auf Geschlechterfragen,die un<strong>um</strong>gänglich verknüpft sind mitFragen <strong>und</strong> Auseinandersetzungen <strong>um</strong>gesellschaftlich <strong>im</strong>plementiertepatriarchale Strukturen <strong>und</strong> ungleicheMachtverhältnisse. In Amed trafen wirvier Aktivistinnen der DÖKH <strong>und</strong> sprachenmit ihnen über die Organisierungder DÖKH, ihre schwierigen Arbeitsbedingungen,sexualisierte Gewalt gegenFrauen als ein Schwerpunkt ihrerArbeitsfelder, die ideologische Ausrichtungder Organisation <strong>und</strong> der damiteinhergehenden „Befreiung der Frau“.Delegation: Wie ist die inhaltliche Ausrichtung der DÖKH? Wofürsteht ihr, wofür kämpft ihr <strong>und</strong> wie seid ihr organisiert?DÖKH-Aktivistin: <strong>Die</strong> DÖKH ist eine <strong>Bewegung</strong>, die erst in der Befreiungder Frau die Befreiung der Kurd_innen <strong>und</strong> aller Völker fürmöglich sieht. Wie sie es auch <strong>im</strong> Namen hat – <strong>Bewegung</strong> – will dieDÖKH in allen Bereichen des Lebens die Frau organisieren. Deshalbsind wir auch eine sehr breite <strong>Bewegung</strong>. Früher gab es zu den unterschiedlichenArbeitsfeldern einzelne Frauenkommissionen. In derDÖKH schlossen sich einige von diesen Kommissionen zusammen.Aus politischen Zusammenhängen ist beispielsweise der Frauenrat derBDP zu nennen <strong>und</strong> darüber hinaus die Frauen aus der HDK [HaklarınDemokratik Kongresi, dt.: Demokratischer Kongress der Völker]<strong>und</strong> aus dem DTK [Demokratik Topl<strong>um</strong> Kongresi, dt.: DemokratischerGesellschaftskongress]. Aus sozialen Kontexten sind alle unsereeigenständigen Fraueneinrichtungen innerhalb der DÖKH organisiert<strong>und</strong> außerdem einige gemischte Einrichtungen wie GÖC-Der [Selbsthilfeorganisationfür Flüchtlinge], TAY-Der [Verein zur Unterstützungpolitischer Gefangener] <strong>und</strong> MEYA-Der [1]. Darüber hinaussind Journalistinnen <strong>und</strong> die – in ihrer Organisierungsform weltweiteinmalig bestehende – Frauennachrichtenagentur JIN-HA [2] in derDÖKH organisiert. Auch Aktivistinnen aus verschiedenen kulturellenBereichen <strong>und</strong> Projekten sind bei uns vertreten. Zudem organisierensich bei uns auch die Frauenakademien, ein für uns sehr spannenderBereich der ideologischen Arbeit, bei der es <strong>um</strong> inhaltliche Diskussionen,die ideologische Ausrichtung der gesamten Organisation <strong>und</strong>ihrer Vermittlung in der Öffentlichkeit geht.Kommen wir zur Organisierung, welche auf Straßenräten <strong>und</strong> Frauenkommunenaufbaut. <strong>Die</strong> Idee dahinter ist, dass wir dagegen sind,wie einzelne Menschen über die Belange aller entscheiden, so wie esin Ankara praktiziert wird, ohne die Menschen selbst einzubeziehen.Unser Ausgangspunkt ist hingegen, dass wir meinen, dass Politik mitder Bevölkerung <strong>und</strong> der Frau <strong>um</strong>gesetzt werden muss. So sagen wirBeispielsweise, dass wir Frauen, die Gewalt erfahren, natürlich verteidigenmüssen. Wir wollen aber, dass wir uns gemeinsam verteidigen.Wir sagen nicht, dass wir als DÖKH-Aktivistinnen schon befreit sind,auf die Straßen gehen <strong>und</strong> dann andere Frauen befreien, sondern dasswir uns gemeinsam in einem Prozess befreien müssen.Delegation: Welche Rolle spielt diese Organisierung von Frauenhinsichtlich der Befreiung <strong>und</strong> Selbstermächtigung? Wird erwartet,dass die Frauen zu euch kommen <strong>und</strong> sich den Gruppen anschließen?DÖKH-Aktivistin: Wir erwarten nicht, dass die Frauen sich direktunserer <strong>Bewegung</strong> anschließen. Wir sind vielleicht aktive Mitarbeiterinnender DÖKH, können aber nicht von einer Frau auf der Straßeerwarten, dass sie genauso aktiv bei uns, bei der Partei oder einer anderenInstitution ist. Gr<strong>und</strong>lage der Arbeit ist unsere eigene Lebensphilosophie.Wollen wir unser Leben nach dieser Philosophie aufbauen,müssen wir das gemeinsam machen. Dabei ist einer unserer Hauptkritikpunkte<strong>und</strong> gleichzeitig zentrales Arbeitsfeld, die Sichtweise desStaates auf die Frau an sich. Wir als DÖKH verstehen den Staat als diegrößte Konzentration von Herrschaft. Das gilt nicht nur für den türkischenStaat, sondern für alle Staaten. Es geht <strong>um</strong> patriarchale Verhältnisse,die sich in allen Lebensbereichen von Frauen widerspiegeln <strong>und</strong>negativ auswirken. Sei es innerhalb der Familie oder auf der Arbeit, inder Öffentlichkeit, vor Gericht, in der Politik, in der Schule oder Universität,in den Medien usw. Wenn wir hier über den Staat sprechen,dann adressieren wir ihn nicht als Institution, sondern als Strukturbzw. System. Und nicht zuletzt meinen wir natürlich den Kapitalismus.Deshalb beginnen wir zuerst bei uns selbst – schaffen wir eine Alternative!Wir stellen die Frau in den Mittelpunkt des Lebens <strong>und</strong> verfolgeneine Politik, die auf Demokratie, Selbstermächtigung <strong>und</strong> Organisierungbasiert. Um ein anderes, soziales Leben aufzubauen, organisierenwir uns beispielsweise in Frauenräten. <strong>Die</strong>se Strukturen sind für unseine Alternative, sowohl Strategien als auch Handlungsoptionen gegenetablierte staatliche Herrschaftsinstr<strong>um</strong>ente zu erarbeiten.Doch es hat sich für uns nicht mit der Gründung von Räten getan. Ichbin zwar selber nicht Kurdin, aber wir können sagen, dass wir als <strong>kurdische</strong>Frauenbewegung heute an diesem Punkt angelangt sind, weilwir mit den Menschen diskutieren, mit ihnen Entscheidungen treffen<strong>und</strong> diese gemeinsam letztendlich <strong>um</strong>setzen. Nicht <strong>im</strong> Namen des Volkeswird entschieden, sondern mit den Menschen <strong>und</strong> allen voran mitden Frauen.DÖKH-Aktivistin: Ins Zentr<strong>um</strong> des Lebens stellen wir die Befreiungder Frau, Demokratie <strong>und</strong> Ökologie. Unserer These nach, gab es inder Geschichte eine jahrtausendenlange Natürlichen Gesellschaft [3],in welcher Krieg <strong>und</strong> Ausbeutung nur sehr selten <strong>und</strong> in geringemMasse auftraten. <strong>Die</strong>se Phase ging durch die Unterdrückung der Frau,durch das Ausbrechen aus dem ökologischen Leben <strong>und</strong> durch dasVerschwinden der demokratischen Ordnung über in die Sklavenhaltergesellschaft[4] <strong>und</strong> feudale Ordnung bis zu heutigen Staats- <strong>und</strong>Gesellschaftsformen. Wenn wir in diesen drei Punkten, der <strong>Freiheit</strong>6.2 IM GESPRÄCH MIT DER DEMOKRATISCHEN FREIEN FRAUENBEWEGUNG57[1]MEYA-DER steht für Mezopotamya Yakınlarını KaybedenlerleYardımlaşma ve Dayanışma Derneği [dt.: MesepotamischerVerein zur Unterstützung <strong>und</strong> Solidaritätder Familien von verschw<strong>und</strong>enen Angehörigen] <strong>und</strong>wurde <strong>im</strong> Jahre 2007 gegründet. Der Verein untersucht dieFälle von verschw<strong>und</strong>enen Guerilla-Kämpfer_innen <strong>und</strong>Morde mit s.g. unbekannten Tätern. Dabei erhebt der VereinDaten, strengt juristische Aufarbeitungen an, öffnetMassengräber <strong>und</strong> unterstützt die betroffenen Familienin juristischen Prozessen. Doch auch das Organisierenvon Veranstaltungen <strong>und</strong> Protesten z<strong>um</strong> Gedenken an dieVerschw<strong>und</strong>enen gehört zu ihren Aufgaben.[2]JINHA wurde am 8. März 2012 gegründet <strong>und</strong> ihr Sitzist in Amed. Das Ziel der Medien-Agentur ist es, dassgesellschaftliche Bild der Frau, welches gerade auch durchdie Medien vermittelt wird, gr<strong>und</strong>legend zu verändern <strong>um</strong>eine geschlechtergerechte Gesellschaft zu realisieren. Dabeiwill die Agentur mit der männlichen Dominanz in denMedien, sei es die männliche Sprache, die Auswahl derThemen oder dem Bild der Frau als sexuelles Objekt, brechen<strong>und</strong> frauenbezogene Pressearbeit zu machen. JINHAberichtet sowohl auf Türkisch, Kurdisch <strong>und</strong> Englisch <strong>und</strong>ist <strong>im</strong> Internet zu finden unter: jinha.com.tr[3]Z<strong>um</strong> Begriff der Natürliche Gesellschaft siehe 12. Glossar(S. 80)(Bild links) Info-Tafel der Frauengruppe <strong>im</strong> Eingang desMEGAM- Der. Auf dem Plakat in der Mitte steh:“<strong>Die</strong> kämpfende Frau befreit sich, die freie Frau wirdschön, die schöne Frau wird geliebt”[4]<strong>Die</strong> Sklavenhaltergesellschaft bezeichnet in derMarxschen Geschichtsauffassung die antikenGesellschaften. <strong>Die</strong>se sind gegenzeichnet durch einespezifische Produktionsweise, welche ihren Reicht<strong>um</strong>durch die Schaffung <strong>und</strong> Akk<strong>um</strong>ulation von Mehrwertdurch Sklavenarbeit produzierten.<strong>Die</strong> Sklavenhaltergesellschaft reiht sich somit in dieMarxsche Vorstellung gesellschaftlicher Entwicklungen,von der Urgesellschaft, oder auch Urkommunismus, überdie Sklavenhaltergesellschaft, den Feudalismus, Kapitalismus<strong>und</strong> schließlich den Sozialismus. Somit besteht eineÄhnlickeit zwischen der Sklavenhaltergesellschaft <strong>und</strong> derhierarchischen Gesellschaft. Trotz der Ähnlichkeiten inden Bezeichnungen, sieht die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> jedochdie starre Vorstellung der vorbest<strong>im</strong>mten gesellschaftlichenEntwicklung durch diese Stadien hindurch kritisch.


6.2 IM GESPRÄCH MIT DER DEMOKRATISCHEN FREIEN FRAUENBEWEGUNG62[5]Berichte zu verschiedenen Frauenkooperativen inNordkurdistan sind zu finden in der Broschüre:„demokratische autonomie in nordkurdistan - Rätebewegung,Geschlechterbefreiung <strong>und</strong> Ökologie in der Praxis“.(S. 90)Auf einer Demonstration in Istanbul zeigen Frauen-Aktivistinnen ein Bild des Mörders von Nazliye Sincar.Nazliye Sincar, Mitglied des BDP-Frauenrates in Istanbul<strong>und</strong> DÖKH-Aktivistin, wurde am 1. September diesenJahres auf dem Weg zur K<strong>und</strong>gebung anlässlich des Weltfriedenstagsvon ihrem Ex-Mann, Şeyh Zeydan Harman,auf offener Straße in Küçükçekmece/Istanbul mit siebenSchüssen ermordet. Wie in so vielen anderen Fällen auch,konnte der Täter fliehen. Erst drei Tage später begann diePolizei nach ihm zu fahnden, bisher jedoch ohne Erfolg.<strong>Die</strong> Kinder der Getöteten fordern für ihren Vater einelebenslange Haftstrafe: „Der Staat hat Frauenmörder nochnie ernsthaft verfolgt. Uns geht es aber auch nicht dar<strong>um</strong>,dass dieser Mann ebenfalls <strong>um</strong>gebracht wird, sondernvielmehr dar<strong>um</strong>, dass er festgenommen <strong>und</strong> angeklagtwird. Er soll sein Leben lang dafür bestraft werden, dasser unsere Mutter ermordet hat. Doch nicht nur er soll bestraftwerden, sondern alle, die ihm dabei geholfen haben“.Nachrichten Agentur Etkin Haber Ajansıvom 12.09.2013Delegation: In den meisten Fällen sind Frauen von ihren Ehemännernoder Vätern ökonomisch abhängig. Das zwingt sie oft in Verhältnissenzu leben, die für sie unerträglich sind. Natürlich nichtnur in Kurdistan oder der Türkei. Das ist ein universelles Problem,schließlich sind patriarchale Strukturen auch weltweit noch nichtüberw<strong>und</strong>en. Inwiefern unterstützt ihr z.B. die Weiterbildung vonFrauen als elementarer Teil ihrer ökonomischen Unabhängigkeit?DÖKH-Aktivistin: Wir haben, <strong>um</strong> die ökonomische Eigenständigkeitvon Frauen zu ermöglichen, Frauenkooperativen [5] gegründet.Beispielsweise hatten wir in Diyarbakır eine solche Kooperative. Inder Presse erschien, dass dieses Projekt ein Projekt der KCK sei <strong>und</strong>am nächsten Tag wurde die Kooperative von den staatlichen Behördengestürmt <strong>und</strong> geschlossen. Und das obwohl das Projekt von derEU-Kommission Fördergelder bekam <strong>und</strong> die Verwendung dieserGelder von der Kommission auf das Strengste überprüft werden <strong>und</strong>die Gelder über das Amt des Provinzgouverneurs [türk.: Vali] laufen.DÖKH-Aktivistin: Lasst uns eines noch einmal klarstellen. Wir sindnoch am Anfang des <strong>Kampf</strong>es. Wir haben als <strong>kurdische</strong> Frauen einenrichtigen Weg eingeschlagen, aber wenn wir all diese Einzelheiten betrachten,dann sehen wir, dass wir noch am Anfang unseres <strong>Kampf</strong>essind. Das ist nicht etwas, was so einfach überw<strong>und</strong>en werden kann.Wir müssen erst einmal gegen uns selber ankämpfen. Wenn ich alsFrau nicht mein eigenes Bewusstsein ändere, kann ich nicht den Anspruchstellen, jemand anderen zu organisieren oder zu befreien. UnserGr<strong>und</strong>arg<strong>um</strong>ent ist deshalb, dass wir zuerst bei uns selbst beginnen<strong>und</strong> dann mit der Zeit die Menschen in unserer Umgebung, miteinbeziehen.Wir haben hierfür unsere Institutionen <strong>und</strong> Akademien indenen wir regelmäßig <strong>und</strong> intensiv Fortbildungen durchführen. <strong>Die</strong>ersten, die wir durch diese Akademien erreichen können sind unsereeigenen Institutionen: Das Rathauspersonal, die Provinzleitungen, dieRäte in den Stadtteilen. Hier geben wir autonome <strong>und</strong> den jeweiligenEigenheiten zugeschnittene Bildung. Unsere Themen beginnen be<strong>im</strong>Neolitic<strong>um</strong> <strong>und</strong> gehen bis in unsere Gegenwart. Es wurde auch die Religionangesprochen. <strong>Die</strong> Religion spielt in der <strong>kurdische</strong>n Gesellschafteine wichtige Rolle. Und ich sage es ganz klar: unsere <strong>Bewegung</strong> istin diesem Punkt eine sehr tapfere <strong>Bewegung</strong>. Auch die Religion wirdhinterfragt <strong>und</strong> zur diskussion gestellt. Es ist eine andere Sache, wieweit wir das in die Städte <strong>und</strong> auf die Straßen tragen können. Was wirin erster Linie machen wollen ist, in den Köpfen ein Fragezeichen zuerzeugen. Das soll die Tür z<strong>um</strong> Suchen öffnen. Es wäre sehr gewagt zusagen, dass wir alles Rückständige überw<strong>und</strong>en hätten. Das wäre auchnicht realistisch.Gültan Kışanak, stellvertretende Parteivorsitzende der BDP,bei ihrer Newroz-Ansprache in ColemêrgDÖKH verurteilte diesen Mord als einen Angriff auf dengesamten <strong>Kampf</strong> der Frauenbewegung <strong>und</strong> rief die Frauendazu auf, ihre Selbstverteidigung zu organisieren. [2]DÖKH Erklärung,erschienen in ANF am 01.09.2013(rechts)Plakat der DÖKH zur 8 März Demonstration“Von Rosa zu Sakine.Eure Worte sind unsere Worte - Euer Weg ist unser Weg8. März weltweiter Frauensolidaritäts- <strong>und</strong> <strong>Kampf</strong>tag”Weitere Literatur zur <strong>kurdische</strong>n Frauenbewegung:„Widerstand <strong>und</strong> gelebte Utopien: Frauenguerilla, Frauenbefreiung<strong>und</strong> Demokratischer Konföderalismusin Kurdistan“.Anja Flach: „Frauen in der <strong>kurdische</strong>n Guerilla:Motivation, Identität <strong>und</strong> Geschlechterverhältnis in derFrauenarmee der PKK“


ŞÜKRÜ KIZILKAYAZUR LAGE DER KURDISCHEN POLITISCHEN GEFANGENENAls politischer Aktivist,ehemaliger Gefangener <strong>und</strong> bis vorwenigen Wochen Vorsitzender vonTUHAD-Fed (Tutuklu ve Hükümlü AileleriDernekleri Federasyonu), der Föderationder Vereine der Familien von Häftlingen <strong>und</strong>Verurteilten, kennt Şükrü Kızılkaya die Lageder <strong>kurdische</strong>n Gefangenen gut.„LEBEN HEISSTWIDERSTAND LEISTEN“.Er selbst ist seit seiner frühen Jugend politisch aktiv <strong>und</strong> wurde aufgr<strong>und</strong>seines Engagements 1983 in Untersuchungshaft genommen<strong>und</strong> in dieser 73 Tage lang gefoltert. Auch in der daran anschließenden2-jährigen Haft wurde er <strong>im</strong>mer wieder misshandelt <strong>und</strong>trug aus dieser Zeit dauerhafte ges<strong>und</strong>heitliche Schäden davon.Dennoch blieb er aktiv <strong>und</strong> konnte die Bedeutung politischen Engagementsweitergeben. So wurde seine Tochter für ihre politischeArbeit ebenfalls zu Haftstrafen verurteilt <strong>und</strong> befindet sich gegenwärtig<strong>im</strong> Rahmen der KCK-Prozesse (Koma Civakên Kurdistan,dt.: Union der Gemeinschaften Kurdistans) in Untersuchungshaft.TUHAD-Fed, die Organisation deren langjähriger Vorsitzender erwar, wurde 2003 gegründet <strong>und</strong> hat sich der Betreuung von politischen,vor allem <strong>kurdische</strong>n Gefangenen angenommen. Sie ist dieDachorganisation vieler Vereine, der in der ganzen Türkei, welche sichmit der Lage der Gefangenen auseinandersetzen. Besonders aktiv sinddiese jedoch in Nordkurdistan, z.B. in Siirt, Amed, Muş, Van, Batman<strong>und</strong> Doğubeyazıt. In der westlichen Türkei konzentriert sich die Arbeitder Vereine auf die großen Städte wie Adana, İzmir, Ankara <strong>und</strong>İstanbul. Der Verein untersucht Folter, Menschenrechtsverletzungen<strong>und</strong> Gesetzeswidrigkeiten in den Gefängnissen <strong>und</strong> unterstützt die<strong>kurdische</strong>n Gefangenen <strong>und</strong> ihre Familien. TUHAD-Fed kümmertsich in der politischen Arbeit <strong>und</strong> in der Arbeit mit den Inhaftiertenausschließlich <strong>um</strong> <strong>kurdische</strong> Gefangene, diejenigen die der <strong>kurdische</strong>n<strong>Bewegung</strong> angehören oder nahe stehen, bzw. die Ideen der <strong>Bewegung</strong>verfolgen.Im Gespräch mit Şükrü Kızılkaya:Delegation: Wer sind für TUHAD-Fed überhaupt politische Gefangene?Gibt es einen Katalog mit Kriterien bspw. Antifaschismus,Ant<strong>im</strong>ilitarismus oder Umweltaktivismus?Kızılkaya: Klar ist, TUHAD-Fed kann nicht alle Gefangenen unterstützendie sich für politische Gefangene halten, bspw. FaschistInnender „Arbeiterpartei“ [türk.: İşçi Partisi], die sich als Linke ausgeben.TUHAD-Fed beschäftigt sich nur mit <strong>kurdische</strong>n politischen Gefangenen,die der politischen Idee der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> folgen. Umdiejenige, die uns verraten <strong>und</strong> sich von uns getrennt haben kümmernwir uns nicht. Wir wünschen uns natürlich, dass wir allen linken politischenGefangenen helfen könnten, aber weil sie uns nicht kontaktieren,können wir auch nichts für sie tun. Aber die türkische Linkehat auch ihre eigenen Vereine der Familien von Gefangenen. Deshalbkommen sie nicht zu uns. Sobald sie uns bitten, werden wir ihnen helfen.Delegation: Im Baskenland werden die politischen Gefangenennicht als solche behandelt, weil dort zwischen den Gefangenennicht unterschieden wird. Außerdem werden die Gefangenen weitweg von ihren Familien untergebracht. Obwohl sie nicht den Statusvon politischen Gefangenen haben, sind sie mehr Belastungen ausgesetzt.Wie ist es hier?Kızılkaya: <strong>Die</strong> politischen Gefangenen sind von den „Kr<strong>im</strong>inellen“getrennt. Aber sonst ist es ähnlich, die Gefangenen werden weit wegvon ihren Familien untergebracht. Aber durch die Arbeit, derer sichTUHAD-Fed angenommen hat, erreichen wir viele Gefangene. Wirorganisieren beispielsweise einen Transport aus Diyarbakır, mit demwir die Familien nach Kacaelli-Gebze bringen können. <strong>Die</strong> Familienzahlen dabei max<strong>im</strong>al 150 TL [ca. 70 Euro. Red.]. Wenn Sie selbst hinfahrenwürden, müssten sie 800 TL [ca. 350 Euro. Red.] bezahlen. Einekomplette Familie kann also für 150 TL ihre Angehörigen besuchen.Delegation: Wie viele Familien erreicht <strong>und</strong> unterstützt der VereinTUHAD-Fed?Kızılkaya: Wie viele wir unterstützen kann ich als Zahl nicht benennen.Es gibt ca. 9000 <strong>kurdische</strong> politische Gefangene, von denen wirca. 60% über unsere lokalen Vereine erreichen <strong>und</strong> mit denen wir <strong>im</strong>Dialog stehen. <strong>Die</strong> Ergebnisse werden dann an die TUHAD-Fed weitergegeben.Auch wenn die Familien uns nicht erreichen können, bekommenwir Informationen über die Gefangenen.Delegation: Der Verein veröffentlicht regelmäßig einen Bericht zurSituation in den Gefängnissen, in welchem Menschenrechtsverletzungen<strong>und</strong> andere Rechtsverstöße dok<strong>um</strong>entiert werden. Gab esReaktionen seitens der Regierung oder der Medien auf diesen Bericht<strong>und</strong> inwieweit arbeiten sie mit Menschenrechtsorganisationenzusammen?Kızılkaya: Natürlich leiten wir den Bericht weiter. Besonders mit demİHD [İnsan Hakları Derneği, dt.: Menschenrechtsverein] arbeiten wireng zusammen. <strong>Die</strong> Verletzungen gegen Gesetze <strong>und</strong> Menschenrechteteilen wir dem İHD mit <strong>und</strong> versuchen gemeinsam die Probleme zulösen. So dok<strong>um</strong>entierten wir in letzter Zeit z.B. zunehmende Menschenrechtsverletzungenmit Durchsuchungen in drei Gefängnissen,in İzmir Şakran <strong>und</strong> in den F-Typ Gefängnissen in Bolu <strong>und</strong> Sincan.Wir leiten den Bericht auch an die Öffentlichkeit, an Medien, Radio<strong>und</strong> Fernsehsender weiter. Also kann jede_r davon erfahren, was inden Gefängnissen passiert.Delegation: Haben die <strong>kurdische</strong>n politischen Gefangenen dieMöglichkeit <strong>kurdische</strong> Bücher <strong>und</strong> Zeitungen zu lesen? Und welchenZugang haben sie zu Medien allgemein?Kızılkaya: Manche Gefängnisverwaltungen erlauben das Sprechenvon Kurdisch illegalerweise nicht. Das ist gegen die bestehenden türkischenGesetze. Und einige Gefängnisverwaltungen verhindern gezieltden Zugang zu pro-<strong>kurdische</strong>n Medien. Wir versuchen dann dem entgegenzu wirken <strong>und</strong> wenden uns an die Zuständigen. Manches gelingtuns <strong>und</strong> manches nicht.Insgesamt haben die Gefangenen schon <strong>im</strong>mer nur die Möglichkeitgehabt von der Gefängnisverwaltung best<strong>im</strong>mte, ausgewählte „colourpress“ [Boulevard-Presse. Red.], Kanäle wie ATV oder Show-TV zuempfangen. Das heißt keine fortschrittlichen Kanäle. Es gibt aber auchFälle in denen CNN oder NTV erlaubt werden. Manchmal gibt es dieMöglichkeit regionale, linksgerichtete Radiosender zu empfangen.Delegation: Sowohl in der Türkei als auch in der BRD lief kürzlichder Film „S<strong>im</strong>urg“ in den Kinos. Der Film thematisiert den großenHungerstreik in türkischen Gefängnissen Mitte der 1990er Jahre.Auch in den letzten Jahren kam es <strong>im</strong>mer wieder zu großen Hungerstreiksin den Gefängnissen. Chronische ges<strong>und</strong>heitliche Schädensind meist die Folge, wie bspw. das Wernicke Korsakof-Syndrom.Haben sie Fälle, in denen sie sich <strong>um</strong> die ges<strong>und</strong>heitlichen Schädendurch Hungerstreik kümmern?Kızılkaya: Krankheiten durch Hungerstreik liegen außerhalb unseresTätigkeitsbereichs. Wir sind keine Stiftung. Aber wenn die Menschenaus dem Gefängnis kommen, erfahren wir von ihren Krankheiten. Umdiese Krankheiten zu behandeln, arbeiten wir mit einer Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungzusammen, die sich <strong>um</strong> die Krankheiten der entlassenenGefangenen kümmert. Sie organisiert notwendige Behandlungen oderleitet Betroffene an die Universitätskrankenhäuser weiter.Delegation: Hat sich <strong>im</strong> Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen derTürkei in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren die Situation der Gefangenengeändert?Kızılkaya: Nein, es hat sich eigentlich nichts geändert. Der Druck aufdie <strong>kurdische</strong>n politischen Gefangenen geht weiter. Im Rahmen desEU-Beitritts hat die Türkei selbst keine Ziele, die Situation der Gefangenenzu verändern. Es haben sich in den letzen 10 Jahren ein paarSachen verbessert, die wir unserem <strong>Kampf</strong> verdanken. Wir haben einenSpruch: „Leben heißt Widerstand leisten“. Wir haben bis jetzt vielerrungen <strong>und</strong> werden weiter kämpfen <strong>um</strong> noch mehr zu erreichen.7. ŞÜKRÜ KIZILKAYA65„EINIGE GEFÄNGNIS-VERWALTUNGENVERHINDERN GEZIELTDEN ZUGANG ZUPRO-KURDISCHENMEDIEN“.


7. ŞÜKRÜ KIZILKAYA66„IM RAHMEN DESEU-BEITRITTS HAT DIETÜRKEI SELBST KEINEZIELE, DIE SITUATIONDER GEFANGENEN ZUVERÄNDERN“.[1]Vor dem Hintergr<strong>und</strong> patriarchaler Gesellschaftsstrukturen,spielt gerade der <strong>Kampf</strong> gegen eben diese Männerherrschaftfür politisierte Frauen eine entscheidende Rolle.<strong>Die</strong>ser <strong>Kampf</strong> endet in den Gefängnissen natürlich nicht.Auf Gr<strong>und</strong> ihrer politischen Sozialisation gelten vieleFrauen als starke Persönlichkeiten, was sich letztendlichauch in ihrem Umgang mit Repressionen <strong>und</strong> Haftstrafenablesen lässt. Andererseits spiegelt das hier gezeichneteBild der Frau die allgemeine Ideologie der <strong>kurdische</strong>n<strong>Bewegung</strong> wieder, in welcher sie als „Kämpferin“ ihrenPlatz <strong>im</strong> politischen Ra<strong>um</strong> einn<strong>im</strong>mt. Dabei wird sie„mutiger“ <strong>und</strong> „wehrhafter“ als Männer skizziert, wobeidies gleichzeitig mit einer stärkeren aufopfernden Haltunggegenüber der <strong>Bewegung</strong> verb<strong>und</strong>en ist. Kızılkayas Aussage,Frauen in Haft würden sich nicht einschüchtern oderunterdrücken lassen, verstehen wir somit nicht als Relativierunghinsichtlich der unbestrittenen unerträglichenHaftbedingungen, sondern als Ausdruck von Respekt <strong>und</strong>Bew<strong>und</strong>erung gegenüber allen politisch aktiven Frauen.Delegation: Wie oft dürfen die Gefangenen Besuch empfangen?Kızılkaya: Familien können in der Woche einmal ihre Gefangenenbesuchen. Das Gespräch findet geschlossen statt, d.h. die Leute sehensich, reden aber über ein Telefon. Einmal in der Woche wird ein10-minütiges Telefonat erlaubt. Außerdem gibt es einmal <strong>im</strong> Monatein offenes Gespräch, bei dem sich die Leute auch anfassen können.Familien aus dieser Region besuchen aufgr<strong>und</strong> der geringeren Distanzihre Gefangenen einmal die Woche. <strong>Die</strong> Gefangenen <strong>im</strong> Westen empfangenBesuche alle zwei Monate, da die Entfernung zu weit ist. Manchearme Familien können ihre Verwandten nur ein- bis zwe<strong>im</strong>al <strong>im</strong>Jahr besuchen.Delegation: Wird zwischen den männlichen <strong>und</strong> weiblichen <strong>kurdische</strong>npolitischen Gefangenen unterschieden?Kızılkaya: Wir unterscheiden nicht zwischen weiblichen oder männlichenGefangenen. Gefangene_r ist Gefangene_r <strong>und</strong> Verurteilte_r istVerurteilte_r. <strong>Die</strong> Frauen sind viel mutiger als die Männer. Außerdemkönnen die männlichen Gefangenen unterdrückt <strong>und</strong> eingeschüchtertwerden, nicht jedoch die weiblichen, weil sie sich sofort zur Wehr setzen.[1]Delegation: Wie werden die weiblichen Gefangenen betreut? Habendie weiblichen Gefangenen die Möglichkeit mit Frauen über ihre Situationzu reden? Gibt es psychologische Betreuung für die Frauen?Kızılkaya: TUHAD-Fed unterscheidet prinzipiell nicht zwischenMann <strong>und</strong> Frau. Der Verein unterstützt jede_n gleichermaßen die_derunterdrückt wird oder deren_dessen Menschenrechte verletzt werden.Bei den Menschenrrechtsverletzungen gegenüber Frauen sind wir jedochbesonders aktiv. Neben TUHAD-Fed, welcher sich <strong>um</strong> die Frauenin den Gefängnissen kümmert, gibt es die Zeitschriften „Hoffnungder Frau“ [kurd.: „Heviya Jine“] <strong>und</strong> „St<strong>im</strong>me der Frau“ [türk.: „Kadınınsesi“]. Es kommt auch zu Zusammenarbeit zwischen den beidenZeitschriften <strong>und</strong> TUHAD-Fed.Delegation: Viele der Gefangenen sind ja Studierende. Haben diesein den Gefängnissen die Möglichkeit ihr Studi<strong>um</strong> zu absolvieren<strong>und</strong> einen Beruf zu erlernen?Kızılkaya: In den Gefängnissen gibt es Studierende oder Gymnasiast_innen, die von ihrem Studi<strong>um</strong> oder von ihren Schulen ausgeschlossenwurden. Wenn diese Menschen wünschen, bekommen sie Unterstützung<strong>um</strong> ihr Studi<strong>um</strong> oder ihre Schule absolvieren zu können. Es gibtauch Beispiele dafür, dass Gymnasiast_innen über Fernunterricht ihrenAbschluss gemacht haben.Delegation: Z<strong>um</strong> Schluss würden wir Sie gerne fragen, was Sie vondiesem Gespräch erwarten?Kızılkaya: Mein Anliegen ist: wenn sie in ihr Land zurückkehren, erzählen<strong>und</strong> berichten sie von der Unterdrückung <strong>und</strong> Folter, der dieKurd_innen hier ausgesetzt sind. Wir sind uns bewusst, dass sie aufder Staatsebene nichts machen können. Aber wenn sich zwischen denMenschen etwas tut, würde mich das freuen.In der Provinz Şirnex (Türkisch: Şırnak);Militärposten auf der Spitze des Berges


DAS MASSAKER VON ROBOSKI„WIR SPRECHEN VON FRIEDEN, VON GESCHWISTERLICHKEIT DOCH SIE TÖTEN UNS“8. DAS MASSAKER VON ROBOSKI69„HÄTTE DIE TÜRKEIKEINE DROHNEN,WÄREN UNSERE KINDERVIELLEICHT NOCH AMLEBEN. DAHER FORDERNWIR DIE EU DAZU AUF,DIE WAFFENLIEFERUN-GEN AN DIE TÜRKEIEINZUSTELLEN UND SICHFÜR DIE LÖSUNG DESTÜRKISCH-KURDISCHENKONFLIKTESEINZUSETZEN“.Das Dorf Roboski liegt in der Provinz Şirnex(Türkisch: Şırnak), ist vergleichsweise jung <strong>und</strong> durchden Krieg zwischen der PKK <strong>und</strong> der türkischen Armeeentstanden. In den 90er Jahren rä<strong>um</strong>te der türkischeStaat alle Dörfer <strong>im</strong> Kreis Qilaban (Türkisch: Uludere).<strong>Die</strong> vertriebene Bevölkerung ließ sich in der Gegend ihrerVerwandten nieder – dem heutigen Roboski.In der Nacht vom 28. auf den 29. Dezember 2011 erhielten türkische<strong>Kampf</strong>flugzeuge den Befehl eine Gruppe Menschen <strong>im</strong> Grenzgebietz<strong>um</strong> Irak anzugreifen. Wenige St<strong>und</strong>en darauf waren 34 junge Menschentot – allesamt Zivilist_innen, die Benzin vom Irak in die Türkeitransportierten. Noch Tage nach dem Massaker sprach die türkischeRegierung von einem „erfolgreichen Schlag“ gegen die PKK. Erst alssich die Information, dass die Getöteten ausschließlich Zivilist_innenwaren nicht mehr zurückhalten ließ, wurden „nachrichtendienstlicheFehler“ eingerä<strong>um</strong>t. <strong>Die</strong> türkische Armee allerdings sprach weiterhindavon, dass es in dem Gebiet keine Zivilbevölkerung gäbe, sondernnur Basen der PKK.In türkischen Medien <strong>und</strong> der Öffentlichkeit wurde in den darauffolgendenTagen über Hergang <strong>und</strong> Rechtmäßigkeit des Einsatzesspekuliert. Auch Schmuggler_innen, die illegal die Grenze passierenwürden, seien nicht unschuldig, wurde von nationalistischer Seite vorgebracht.Und weiter wurde angemerkt, dass Schmuggel sowieso aufirgendeine Weise mit „dieser Bande“ - gemeint war die PKK - zu tunhaben müsste.[1] <strong>Die</strong> öffentliche Diskussion drehte sich allein <strong>um</strong> dieFrage, ob die getöteten Menschen nun Terrorist_innen oder Schmuggler_innengewesen seien. Dass sie jedoch „schuldig“ waren, stand fürden Großteil der Öffentlichkeit fest. Daran ändert auch nichts, dassdieser Handel von staatlicher Seite toleriert wird. Wie es zu einem solchemMassaker kommen konnte <strong>und</strong> wer dafür die Verantwortung zutragen habe, stand nicht zur Diskussion. Das jedoch hohe politische<strong>und</strong> militärische Ebenen von dem Angriff <strong>im</strong> Vorfeld wussten <strong>und</strong> fürden Einsatz verantwortlich waren, scheint nahliegend. Nicht zuletzt,weil der Angriff z<strong>um</strong> Teil auf irakischem Territori<strong>um</strong> stattfand <strong>und</strong> best<strong>im</strong>mtePersonen in Regierungskreisen von einer solchen GrenzübergreifendenOperation wissen mussten.Doch auch in Deutschland war das Medienecho verhalten <strong>und</strong> einseitig.In den wenigen Berichten der Mainstream Presse wurde voneiner „fatalen Verwechslung“ <strong>und</strong> einem „fehlgeschlagenen Angriff “gesprochen.[2]Um so wichtiger war es für uns, mit den Angehörigen <strong>und</strong> Bewohner_innendes Dorfes Roboski (türk.: Ortasu), dem He<strong>im</strong>atort aller ermordetenJugendlichen, zu sprechen <strong>und</strong> unser Beileid z<strong>um</strong> Ausdruckzu bringen.Ein Dorfbewohner erzählt uns von den Ereignissen des 28. Dezembers:Am Abend machten sich die Jugendlichen in zwei Gruppen, jeweilsnacheinander, auf den Rückweg vom Nordirak nach Roboski.Das türkische Militär begann sie mit Drohnen zu beobachten <strong>und</strong>kurze Zeit später wurde die erste Gruppe von Soldaten gestoppt <strong>und</strong>der Weg wurde versperrt. „In der Vergangenheit wurden wir oder derDorfvorsteher über solche militärischen Einsätze informiert. <strong>Die</strong>ses Malwurde der Weg ohne Ankündigung von den Soldaten gesperrt. Sie erhelltendie gesamte Gegend <strong>und</strong> <strong>um</strong> 20.35 Uhr begannen sie mit Flugzeugendie erste Gruppe zu bombardieren. Während wir z<strong>um</strong> Tatort eilten riefenwir die Behörden an <strong>und</strong> teilten ihnen mit, dass es unsere Kinder sein,die unterwegs sind“.Der zuständige Stationskommandant erwiderte, er wisse Bescheid, eshandele sich nur <strong>um</strong> eine „Einschüchterung“. Doch kurz darauf wurdeauch die zweite Gruppe bombardiert. <strong>Die</strong> Dorfbewohner_innenverständigten erneut das Militär <strong>und</strong> baten <strong>um</strong> Rettungskräfte. Derdiensthabende Kommandant weigerte sich jedoch einen Bergungshelikopterzu rufen, auch ein z<strong>um</strong> Tatort eilender Krankenwagen wurdevom Militär aufgehalten <strong>und</strong> zurückgeschickt.„Als wir am Tatort ankamen sahen wir ein Massaker. <strong>Die</strong> Bombenhatten sogar die Berge zersprengt. Überall lagen zerfetzte Körper, einigebrannten, wir hörten Geschreie. Es gab acht schwer Verletzt. Da wirkeine Fahrzeuge hatten <strong>und</strong> auch keine Hubschrauber zu Hilfe kamen,mussten wir sie auf unseren Rücken transportieren. Wir konnten leidernur einen retten.[3] <strong>Die</strong> anderen sieben sind durch die Kälte <strong>und</strong> ihre„WÄHREND WIR NACHGERECHTIGKEIT UNDBESTRAFUNG DERVERANTWORTLICHENVERLANGEN, HABENERDOĞAN UND DERGENERALSTAB IHRENPILOTEN ORDENVERLIEHEN“.Angehörige der getöteten Jugendlichen von Roboski[1]Yusuf Kanli am 30.12.11 in der türkischen TageszeitungDaily News.[2]Süddeutsche Zeitung <strong>und</strong> <strong>Die</strong> Welt vom 29.12.11.[3]Der einzige Überlebende des Massakers, Servet Encü, hatinzwischen mit seiner Familie Roboski verlassen <strong>und</strong> istnach Südkurdistan, in den Irak gezogen.


8. DAS MASSAKER VON ROBOSKI708. DAS MASSAKER VON ROBOSKI71„WIR HOFFEN SEHR,DASS DIE EU NUN DURCHDIESE DELEGATION UNDÖFFENTLICHKEIT ETWASFÜR UNS TUN WIRD“.Verletzungen gestorben. Hätte die Regierung an jenem Abend einenHubschrauber geschickt, hätten vielleicht unsere acht verletzten Genoss_innen heute bei uns sein können. So musste ich bis z<strong>um</strong> Morgengrauenmeine zwei Brüder <strong>und</strong> meinen Sohn, die unter den Felsen lagen, mitbloßen Händen ausgraben. Welcher Staat tut seinen Bürger_innen soetwas an?“.Am nächsten Tag wurden Militärkräfte z<strong>um</strong> Tatort beordert, <strong>um</strong> dierestlichen Kleidungsstücke, Leichenteile <strong>und</strong> Kanister zu sammeln<strong>und</strong> zu verbrennen. <strong>Die</strong>sem offensichtlichen Beseitigen von Beweisenfolgte lange Zeit nichts. Und nur durch das Drängen der BDP <strong>und</strong> CHPwurde der Vorfall überhaupt weiter untersucht. Doch auch in dem abschließendenUntersuchungsbericht der AKP-Regierung ist weiterhinvon einem Koordinationsfehler die Rede.Auch der ermittelnde Staatsanwalt erklärte, der Angriff sei aus Versehenpassiert <strong>und</strong> daher werde er keine Konsequenzen haben. <strong>Die</strong>Angehörigen verlangen seither, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaftgezogen werden, doch in den letzten 15 Monaten ist nichtsgeschehen. Ganz <strong>im</strong> Gegenteil: „Während wir nach Gerechtigkeit <strong>und</strong>Bestrafung der Verantwortlichen verlangen, haben Erdoğan <strong>und</strong> der Generalstabihren Piloten Orden verliehen, als ob sie 34 Terrorist_innengetötet hätten“. Auch fehlt bis heute jegliche Entschuldigung seitens derRegierung oder des Militärs bei den Dorfbewohner_innen <strong>und</strong> denAngehörigen. Und bis heute ist nicht einmal öffentlich geklärt, wer am28.12.2011 den Einsatzbefehl gab.„Der Premierminister Erdoğan <strong>und</strong> der Generalstab haben unsere Kinderanschließend beschuldigt Terrorist_innen zu sein, was uns zusätzlichschmerzte. Aber mein Sohn war 13 Jahre alt <strong>und</strong> in der siebten Klasse.Einige der Kinder brauchten die Einnahmen aus dem Schmuggel, <strong>um</strong>ihre Schulprüfungen <strong>und</strong> alltäglich notwendige Dinge zu bezahlen“.Durch den Jahrzehnte langen Krieg <strong>und</strong> die gezielte Politik des Staatesjegliche wirtschaftliche Entwicklung zu verhindern, ist die Bevölkerung<strong>im</strong> Landkreis Qilaban (türk.: Uludere) stakt verarmt. „Hier gibtes keine Fabriken, es gibt keine Agrarwirtschaft, keine Viehzucht. Unsbleibt nur der Grenzhandel von welchem wir seit vielen Jahren leben.Daneben gibt es keine Alternative Geld zu verdienen. Außer, dass wirDorfschützer [4] werden <strong>und</strong> dann verdienen wir unser Geld indem wirMenschen töten, <strong>und</strong> dass wollen wir nicht“.Und trotzdem sind einige aus dem Dorf zu Dorfschützern geworden.Das erklärt auch ihre Verbindung z<strong>um</strong> Militär, welches sie über Aktionennormalerweise <strong>im</strong> Vorfeld informierte. <strong>Die</strong>se Widersprüche,in denen sich das Dorf Roboski <strong>und</strong> deren Familien befinden, ist beispielhaftfür viele Orte in Kurdistan. So ist die verarmte Bevölkerungabhängig von staatlichen Geldern, wodurch sich der Staat die Loyalitätder Bevölkerung <strong>im</strong> <strong>Kampf</strong> gegen die PKK erkaufen kann. Doch wiedas Massaker zeigt, sind auch diese Menschen der Repressionen <strong>und</strong>Angriffe des Staates ausgesetzt. Das führt dazu, dass sich auch vielejunge Menschen aus Roboski der PKK anschließen. So sind es wieder<strong>um</strong>ihre Kinder, vor denen die Dorfschützer ihre Dörfer beschützensollen.Dorfbewohner_innen wichtig, auch über die Verantwortung der EUzu sprechen. „Es sind Flugzeuge <strong>und</strong> Waffen aus Europa die uns getötethaben. Hätte die Türkei keine Drohnen, wären unsere Kinder vielleichtnoch am Leben. Daher fordern wir die EU dazu auf, die Waffenlieferungenan die Türkei einzustellen <strong>und</strong> sich für die Lösung des türkisch-<strong>kurdische</strong>nKonfliktes einzusetzen. <strong>Die</strong> EU muss endlich Druck auf dieTürkei ausüben, damit hier Frieden herrschen kann <strong>und</strong> die Schuldigendes Massakers vor den Internationalen Strafgerichtshof kommen. Dochwar<strong>um</strong> sieht die EU die türkische Regierung als ihnen gleichberechtigt an<strong>und</strong> uns nicht?“.<strong>Die</strong> EU z<strong>um</strong> Handeln zu bewegen scheint jedoch schwer. „Seit 15 Monatenkommen aus Europa Delegationen <strong>und</strong> Journalist_innen <strong>und</strong> jedesMal berichten wir aufs Neue über unsere Leiden <strong>und</strong> Schmerzen.Doch bis heute hat die EU nichts für uns getan. Wir hoffen sehr, dassdie EU nun durch diese Delegation <strong>und</strong> Öffentlichkeit etwas für uns tunwird. Ich möchte der EU sage: `Wir haben solch eine Tat nicht verdient´“.Doch auch nach dem Massaker gehen die staatlichen Repressionen weiter.Gegen einige Angehörige wurden nach dem Massaker Haftbefehleerlassen <strong>und</strong> die Bewohner_innen durften das Dorf aufgr<strong>und</strong> einerverhängt Ausgangssperre nicht mehr verlassen. Bewohner_innen, diein den Medien öffentlich Auftraten, wurde vor laufender Kamera gedroht<strong>und</strong> das gesamte Dorf wurde von Nationalist_innen besch<strong>im</strong>pft.Je öfter die Dorfbewohner_innen öffentlich Gerechtigkeit fordern <strong>und</strong>mit Journalisten_innen sprechen, desto mehr Druck übt der türkischeStaat auf sie aus. Und diese Repressionen halten bis heute an.Aber nicht nur mit Drohungen <strong>und</strong> Gewalt wird versucht das Dorfz<strong>um</strong> schweigen zu bringen. Seitdem der öffentliche Druck auf die Regierunggestiegen ist, wurde den Familien für jede getötete Person <strong>um</strong>gerechnet60.000 Euro geboten - man wollte sich das Schweigen desDorfes erkaufen. <strong>Die</strong> Regierung ließ anschließend verlauten, man habe„Schadensersatz in Rekordhöhe“ an die Angehörigen gezahlt, obwohldie Bewohner_innen sich weigerten das Geld anzunehmen.[4]Dorfschützer (türk.: köy korucusu) sind vom Staat bezahlte<strong>und</strong> bewaffnete paramilitärische Milizen, welche sichaus <strong>kurdische</strong>n, sogenannten Familienclans rekrutieren<strong>und</strong> die Aufgabe haben, Dörfer vor der PKK zu verteidigen,d.h. gegen die PKK zu kämpfen. Besonders in den90er Jahren wurden Dörfer, dessen Bewohner_innen nichtDorfschützer werden wollten, entvölkert <strong>und</strong> zerstört. DasSystem <strong>um</strong>fasste Zeitweilig an die 100.000 Dorfschützer.In den laufenden Verhandlungen zwischen der PKK <strong>und</strong>dem türkischen Staat, ist das System der Dorfschützer einwichtiger Punkt. <strong>Die</strong> <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> fordert dieAuflösung dieses Systems.Gräber der getöteten Jugendlichen von RoboskiAllerdings ist es nicht nur der Konflikt zwischen der PKK <strong>und</strong> demtürkischen Staat, welcher das Leben der Bevölkerung in Roboski best<strong>im</strong>mt.Auch die internationalen Kräfteverhältnisse <strong>und</strong> Abhängigkeitensind für diese Situation mitverantwortlich. So ist es für die„Das einzige was wir verlangen ist, auch wie Menschen leben zu können“.


SARMAŞIKGEGEN DIE VERARMUNGSPOLITIK DES STAATESUnsere Delegationsreise führte uns auch zuSarmaşik, einem Verein zurArmutsbekämpfung <strong>und</strong> nachhaltigenEntwicklung in Amed.„ARMUT IST IN DERLAGE, SELBST DIEGRÖSSTE TUGENDZU ZERSTÖREN.SIE IST IN DER LAGE,ALLES ZU ZERSTÖREN“.Das Gebiet Mesopotamiens ist geprägt vom Krieg, der Armut <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit.Dabei ist die Region reich an Bodenschätzen <strong>und</strong> befindetsich in hervorragender geografischer wie auch kl<strong>im</strong>atischer Lage– <strong>und</strong> erfüllt somit eigentlich alle Bedingungen für eine gute Entwicklung<strong>und</strong> Wohlstand. Trotzdem ist diese Region schon seit Jahrzehntenvon großer Armut gekennzeichnet. <strong>Die</strong>s kann somit nicht (allein) natürlichenUrsachen geschuldet sein, sondern ist Folge einer bewusstenVerarmungspolitik seitens des türkischen Staates.Der Verein Sarmaşik wurde 2006 gegründet, <strong>um</strong> dieser bewusstenVerarmung in Nordkurdistan entgegen zu wirken. Der Verein ist einePlattform verschiedener regionaler Organisationen wie den regionalenVerwaltungen, der Industrie- <strong>und</strong> Handelskammer, Arbeitgebervereinen,Lehrer_innengewerkschaften <strong>und</strong> vielen anderen zivilenVereinigungen. Insgesamt sind 56 Organisationen unter dem Dachvon Sarmaşik versammelt, <strong>um</strong> dem Problem der Armut in Amed <strong>und</strong>der Region zu begegnen. Finanziert wird das ganze aus Spenden. 8.000Menschen – wobei die überwiegende Zahl der Spender_innen ausNordkurdistan kommt, aber auch viele Spenden aus der Türkei sowiedem Ausland – spenden monatlich einen Betrag in Höhe von 5 bis 10Euro; somit begründet sich der Verein auf einer sehr breiten Basis derSolidarität.<strong>Die</strong> Kernaufgabe des Vereins besteht aus fünf verschiedenen Unterstützungsprogrammen,die überwiegend von ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen– vor allem Ärzt_innen, Pädagog_innen, Sozialarbeiter_innen<strong>und</strong> Soziolog_innen geleitet werden. Zentral ist dieNahrungsmittelbank, in der jeden Monat 3.500 Familien Nahrungsmittel‚einkaufen‘ gehen können ohne zu bezahlen. Das Stipendienprogrammfür Kinder ab der 1. Klasse <strong>und</strong> bis z<strong>um</strong> möglichen Abschlusseines Doktor_innentitels unterstützt gezielt Kinder, deren Mütter <strong>und</strong>/oder Väter bei der Guerilla in den Bergen, <strong>im</strong> Gefängnis oder <strong>im</strong> Krieggefallen sind. Sie erhalten nicht nur Büchergeld, Kleidung <strong>und</strong> Stipendienfür Schule <strong>und</strong> Universitäten, sondern es werden auch soziale <strong>und</strong>kulturelle Veranstaltungen angeboten <strong>und</strong> psychologische Beratungzur Seite gestellt. Da Frauen meist die größere Last in den durch Krieg,Armut <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit zerrütteten Familien tragen, sind sie dieam stärksten von Armut betroffenen. So sind auch 94% der Antragsteller_innenweiblichen Geschlechts. Für diese Frauen wurde auch dasProgramm zur Ges<strong>und</strong>heitsförderung ins Leben gerufen. Dort werdenFrauen über Hygiene- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsfragen informiert <strong>und</strong> erhaltenkostenlos Hygieneartikel. Außerdem unterhält der Verein eine Ausbildungs-<strong>und</strong> Arbeitsplatzvermittlung sowie den Bereich der soziologischenFeldforschung, über den regelmäßig Berichte z<strong>um</strong> ThemaArmut herausgebracht werden.Auf unserer Delegationsreise hatten wir die Möglichkeit, den SarmaşikVerein in Amed zu besuchen. Im Gespräch mit Şerif Camcı, dem Vorsitzendenvon Sarmaşik, wurde die Notwendigkeit deutlich, den <strong>kurdische</strong>nBefreiungskampf nicht nur z<strong>um</strong> ideologischen Zweck zu führen,sondern vor allem auch als <strong>Kampf</strong> gegen die Armut <strong>und</strong> für Bildung zuverstehen – was zweifelsohne auch einen politischen <strong>Kampf</strong> darstellt.Ausschnitte des Gesprächs mit Şerif Camcı, dem Vorsitzenden vonSarmaşik:Delegation: Vielen Dank, dass wir die Möglichkeit haben mit Ihnenzu sprechen. Wir wissen bereits ein wenig über die konkreteArbeit des Vereins Sarmaşik. Wie aber lässt sich diese Arbeit gegendie Verarmung in die Geschichte des Konfliktes in dieser Regioneinordnen?Camcı: Das Ergebnis unserer Feldforschung hat ergeben, dass 5.000Familien, also 30.000 Menschen ohne Einkommen sind. Sie lebennicht nur unter der Armutsgrenze, sondern ohne jegliche Einkommen,sogar an der Hungergrenze.Seit Gründung der türkischen Republik wird eine gezielte Verarmungspolitikin Kurdistan betrieben. Aber besonders nach der Gründung derPKK <strong>und</strong> der damit entstehenden Massenbewegung in den 90er Jahrenhat der Staat versucht die Menschen, die er nicht durch politische Unterdrückungvernichten konnte, jetzt durch Hunger <strong>und</strong> Verarmung inŞerif Camcı, Vorsitzenden von Sarmaşikdie Knie zu zwingen <strong>und</strong> von sich abhängig zu machen. Der türkischeStaat versucht die gr<strong>und</strong>legenden Menschenrechte <strong>und</strong> die wirtschaftlicheEntwicklung – somit elementare Pflichten des Staates – als Mittelgegen den <strong>Kampf</strong> der Kurd_innen zu missbrauchen. <strong>Die</strong>se systematischePolitik führte auch zur Vertreibung von über 3 Mio. Menschenaus ihren Dörfern. <strong>Die</strong>se Menschen betrieben in ihren eigenen DörfernSubsistenzwirtschaft <strong>und</strong> versorgten sich selbst. Doch durch dieVertreibung in die großen Städte verloren sie ihre Einnahmequelle <strong>und</strong>sind nun dem Hunger ausgesetzt. Eine alte Frau, die uns bei unsererFeldforschung begegnet ist, hat dazu eine prägnante Aussage getroffen.Sie sagte: „Als wir uns in unseren Dörfern selbst versorgten, waren wirnoch wohlhabend, doch hier gehören wir zu den Ärmsten der Armen<strong>und</strong> kämpfen <strong>um</strong> das Überleben“. Aber uns ist auch bewusst, dass diesdie gezielte Politik des Staates ist. Der Staat betreibt damit eine Politikgegen unsere politischen Forderungen. Es muss eins ganz deutlich gesagtwerden: Was der Staat mit Mörsern <strong>und</strong> Granaten, Panzern, Folter,Vertreibungen <strong>und</strong> Morden nicht geschafft hat, dass die Kurd_innensich ergeben, das versucht er jetzt durch Hunger zu erreichen. DerSarmaşik Verein versucht dagegen anzukämpfen <strong>und</strong> eine Solidaritätzu schaffen für die an der Hungergrenze lebenden Kurd_innen. DerVerein versteht sich dabei nicht als Hilfs- oder Wohltätigkeitsverein.Wir unterstützen diese Menschen, weil es ihr gr<strong>und</strong>legendes Menschenrechtist. <strong>Die</strong>se Menschen haben einen Anspruch auf diese Unterstützung<strong>und</strong> es ist unsere Aufgabe <strong>und</strong> Pflicht, dies zu erfüllen.Delegation: <strong>Die</strong> AKP verfolgt die Politik, in Gebieten zu investieren,in denen sie noch nicht die Mehrheit hat. Sie hat somit mehr indie Infrastruktur in Nordkurdistan investiert als die vorangegangenenRegierungen. Hat die gezielte Verarmungspolitik der Vergangenheitsich in letzter Zeit verändert?Camcı: <strong>Die</strong> Legit<strong>im</strong>ität des türkischen Staates ist in Kurdistan nichtmehr vorhanden. Politisch <strong>und</strong> juristisch besitzen der Staat <strong>und</strong> seineEinrichtungen keinerlei Ernsthaftigkeit. <strong>Die</strong> 35 bis 40% der St<strong>im</strong>men,die sie bei der Wahl errungen hat, hat sie den Staatsbeamten, Soldaten<strong>und</strong> Polizist_innen zu verdanken. Ferner hat sie die finanziell abhängigenArbeitgeber_innen <strong>und</strong> die verarmte, an der Hungergrenze lebendeBevölkerung, die 5 bis 10% der gesamten Bevölkerung ausmacht,mit Versprechungen an sich geb<strong>und</strong>en. Der Staat erfüllt seine öffent-9. SARMAŞIK73„DER TÜRKISCHESTAAT VERSUCHT DIEGRUNDLEGENDENMENSCHENRECHTE UNDDIE WIRTSCHAFTLICHEENTWICKLUNG ALSMITTEL GEGEN DENKAMPF DER KURD_INNENZU MISSBRAUCHEN“.


9. SARMAŞIK749. SARMAŞIK75„WIR MÖCHTEN DENMENSCHEN DAS GEFÜHLGEBEN, DASS SIE DIESEARMUT NICHT VERDIENTHABEN UND DIE LAGE,IN DER SIE SICH BEFIN-DEN, NICHT IHRE SCHULDIST“.Im Lager der Nahrungsmittelbankvon Sarmaşikliche Aufgabe in die Region zu investieren nicht. Bei Spenden <strong>und</strong>wohltätigen Taten hingegen ist er sehr großzügig. Dadurch möchte dieRegierung die Abhängigkeit der Region an die Politik der Regierungbetonen <strong>und</strong> sich dadurch Wahlst<strong>im</strong>men sichern. <strong>Die</strong>se Wohltaten erfolgendann größtenteils an religiösen Feiertagen <strong>und</strong> vor Wahlen.Delegation: Der Sarmaşik Verein versucht die Abhängigkeit derMenschen von der Regierung zu min<strong>im</strong>ieren. Was für Reaktionen<strong>und</strong> welche Repressionen erfahrt ihr vom Staat?Camcı: Wir erfahren Repressionen <strong>und</strong> Menschen werden auch verhaftet.Es wird außerdem versucht, die Arbeit des Vereins durch gerichtlicheVerfahrenseröffnungen <strong>und</strong> Geldstrafen zu behindern. Esgibt somit vielerlei Repressionen, aber einen ernsthaften Gr<strong>und</strong>, denVerein zu schließen, wird der Staat aufgr<strong>und</strong> der Ziele des Vereins, dermenschlichen Nothilfe, nur schwer erreichen. Das liegt natürlich allesin der Hand des Staates, wenn sie wollten, könnten sie auch dastun. Aber sie scheuen sich vor den Reaktionen, da es sich <strong>um</strong> Nothilfehandelt. Deswegen versuchen sie es eher mit weicheren Methodenwie Geldstrafen, Hausdurchsuchungen <strong>und</strong> gerichtlichen Verfahren.Ein schwerer Schlag war allerdings, die von staatlicher Seite auferlegtePflicht, die von der Stadtverwaltung in Amed erhaltenen Hilfenan diese zurückzahlen zu müssen. Gemeinsame Projekte sind derzeitnicht möglich, weil der Staat dies verhindert. <strong>Die</strong> Stadtverwaltung vonAmed hatte uns aber für ein gemeinsames Projekt 400.000 Euro Unterstützungzukommen lassen. Der Staat hat dann beschlossen, dass wirdiese Hilfe zurückzahlen müssen. <strong>Die</strong>s hat uns finanziell sehr stark beeinträchtigt,da wir die Hilfen bereits an die Bedürftigen verteilt hatten.Delegation: Welche Gründe werden für die Repression vom Staatgenannt?Camcı: Im Rahmen der KCK-Verfahren hat man auch gegen uns ermittelt.Man hat uns <strong>im</strong> Polizeirevier vorgeworfen, dass der SarmaşikVerein auf Befehl der KCK gegründet wurde.Delegation: Ist es für die Familien, die weiter weg leben, nichtschwierig hierher zu kommen, <strong>um</strong> die Hilfe zu erhalten?Camcı: Wir haben die Entscheidung, dass die Familien hierher kommenmüssen, bewusst getroffen. Wenn wir wollten, könnten wir die Lebensmittelauch zu den Familien bringen. <strong>Die</strong>se Familien erleben aberin der Gesellschaft eine soziale Ausgrenzung. Manche haben keinenGr<strong>und</strong>, aus ihrer Wohnung herauszukommen <strong>und</strong> auch keine Energiesich gegen die soziale Ausgrenzung zu stellen. In unserer heutigen Zeitder Kapitalistischen Moderne ist das Einkaufen <strong>und</strong> der Kons<strong>um</strong> zueinem Gr<strong>und</strong>bedürfnis geworden. Deshalb wollten wir, dass die Familien,wenn sie sich schon das Einkaufen nicht leisten können, dochwenigstens hier ihre Nahrungsmittel wie K<strong>und</strong>_innen in unserer hiereingerichteten Lebensmittelbank „einkaufen“ können <strong>und</strong> sich nichtals Bettelnde oder Hilfeempfänger_innen sehen sondern als K<strong>und</strong>_innen.Wir möchten den Menschen das Gefühl geben, dass sie diese Armutnicht verdient haben <strong>und</strong> die Lage, in der sie sich befinden, nichtihre Schuld ist. Sie sollen das Gefühl bekommen, dass die Benutzungunserer Einrichtung ihr natürliches Recht ist.Delegation: Wie erfahren die Bedürftigen von der Unterstützungdes Vereins?Camcı: Zu Beginn unserer Tätigkeit haben wir <strong>im</strong> Rahmen unseres„Projekts zur Feststellung der Armutsverhältnisse in der Stadt“ [türk.:„Kent Yoksulluk Haritası Projesi“] einen Stadtplan erstellt <strong>und</strong> festgehalten,in welchen Gebieten sich die bedürftigen Familien befinden.Dabei haben wir direkten Kontakt zu 5.706 Familien (37.000 Personen)aufgenommen <strong>und</strong> die bedürftigen Familien ermittelt.Wir sind davon überzeugt, dass mit der Hilfe, die wir leisten, nicht dieArmut bekämpft werden kann. Man kann mit Hilfeleistungen Armutnicht verhindern oder beenden. Jetzt könnte man uns die Frage stellen,war<strong>um</strong> wir als Verein dann diese Arbeit leisten? Wir arbeiten in eineraußergewöhnlichen Situation, in der dringende, lebensnotwendigeBedürfnisse befriedigt werden müssen. Trotzdem versuchen wir nachunseren Prinzipien zu arbeiten <strong>und</strong> diese zu wahren. Beispielsweiseunterstützen wir keine Familien, in der auch nur ein Jugendlicher lebt,der das Einkommen der Familie unterstützen kann. Es gibt nämlichnoch ca. 1.000 Familien auf unserer Warteliste mit keiner einzigenarbeitsfähigen Person <strong>und</strong> gar keinem Einkommen. Somit sind wirgezwungen, uns an unsere Prinzipien zu halten <strong>und</strong> unsere begrenztenMittel <strong>und</strong> Möglichkeiten gut zu verwalten <strong>und</strong> zu verteilen. Wirmöchten auch niemanden, der in der Lage ist zu arbeiten, von unseremVerein abhängig machen.Delegation: Es wird <strong>im</strong>mer wieder von den Drogenproblemen inder Region gesprochen <strong>und</strong> davon, dass dieser bewusst von Polizei<strong>und</strong> Staat unterstützt wird, <strong>um</strong> die Jugend zu beeinflussen <strong>und</strong> die<strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> so zu schwächen. Wie ist der Drogenkons<strong>um</strong>in der Gegend <strong>und</strong> wie gezielt wird der von der Polizei gefördert?Camcı: Der Staat hat bei seiner geplanten Verarmung der Regiondas Mittel des Drogenkons<strong>um</strong>s <strong>und</strong> -handels mit eingerechnet. Eineverarmende Familie wird jeden Weg versuchen, <strong>um</strong> dieser Armut zuentfliehen. Besonders in einer Stadt wie Diyarbakır, in der 62% der Bevölkerungunter 26 Jahre alt sind, in einer so jungen <strong>und</strong> dynamischenGesellschaft, versucht der Staat mit Drogen eine betäubende, zerstörende<strong>und</strong> zermürbende Politik zu betreiben. Aber die Gerüchte, dassdie Polizei selbst Drogen vor Schulen <strong>und</strong> Parks verteilt <strong>und</strong> verkauft,sind übertrieben. Es ist gar nicht notwendig, dass die Polizei dies selbstmacht, denn es gibt genug Leute, die es für den Staat tun. <strong>Die</strong> Türkeiist ein Zentr<strong>um</strong> des internationalen Drogen-, Menschen- <strong>und</strong> Waffenhandels.Denn ohne diese schwarzen Märkte <strong>und</strong> Finanzquellen wärekein Staat in der Lage, nur mit „offiziellen“ Mitteln einen 30 Jahre dauernden,teuren <strong>und</strong> intensiven Krieg zu führen.Wir bedanken uns für euer Kommen <strong>und</strong> euer Interesse. Das <strong>kurdische</strong>Volk hat viel erleiden müssen <strong>und</strong> es muss noch <strong>im</strong>mer viel Leid<strong>und</strong> Ungerechtigkeit aushalten. Aber das Leid, das ihm durch Armutzugefügt wird, ist das verheerendste Leid. Denn Armut ist in der Lageselbst die größte Tugend zu zerstören. Sie ist in der Lage, alles zu zerstören.Wir würden uns daher wünschen, dass Ihr den Sarmaşik Vereinnach der Rückkehr in Eure He<strong>im</strong>at nicht vergesst <strong>und</strong> auf freiwilligerBasis unterstützt. Danke!Mit dem Besuch des Sarmaşik Vereins hat unsere Delegation einenEinblick in eine soziale Einrichtung erhalten, die <strong>im</strong> Gegensatz zuden meisten Einrichtungen in der BRD ihre Arbeit auch als politisch<strong>und</strong> ideologisch versteht <strong>und</strong> versucht, gesellschaftliche <strong>und</strong>staatliche Strukturen zu kritisieren. Im Gespräch mit Şerif Camcıwurde uns aber auch bewusst, dass best<strong>im</strong>mte (politische) Forderungen<strong>und</strong> der ideologische <strong>Kampf</strong> der <strong>kurdische</strong>n Gesellschaftnur dann Sinn <strong>und</strong> Berechtigung haben können, wenn z<strong>um</strong>indestgleichzeitig die Lösung der sozialen Probleme in den Fokus gerücktwird – von der Politik, aber auch den Angehörigen der <strong>Bewegung</strong>.„DER VEREIN VERSTEHTSICH DABEI NICHT ALSHILFS- ODER WOHLTÄ-TIGKEITSVEREIN.WIR UNTERSTÜTZENDIESE MENSCHEN, WEILES IHR GRUNDLEGENDESMENSCHENRECHT IST“.Mehr über die einzelnen Programme von Sarmaşik <strong>und</strong>Infos, wie Sarmaşik aus Deutschland unterstützt werdenkann, findet ihr auf der Homepage des Vereins:sarmasik-efeu.de (Seite auf Deutsch)sarmasik.org (Seite auf Türkisch)


DER KAMPF UM HASANKEYF„WER SEINE VERGANGENHEIT NICHT KENNT UND FÜR DIESE NICHT EINSTEHT, KANN DAS FÜR SEINE ZUKUNFT NIEMALS TUN“10. DER KAMPF UM HASANKEYF77Auf unserem Weg von Mardin nach Amedstoppten wir in Heskif (türk.: Hasankeyf) <strong>und</strong>führten ein Gespräch mit Mehmet Salih Çakardem dortigen BDP Co -Vorsitzenden.Obwohl Heskif, dessen Siedlungsgeschichtemehrere tausend Jahre zurückreicht, fast alleBedingungen erfüllt, <strong>um</strong> als Weltkulturerbevon der UNESCO anerkannt zu werden,wird der diesbezügliche Antrag seitens derTürkei nicht gestellt. Denn der türkischeStaat ist <strong>im</strong> Begriff, das Wasser des Tigris, andessen Ufer Heskif liegt, zu stauen <strong>und</strong> diemalerische Stadt mit ihren antiken Felsenwohnungenzu überfluten. In den folgendenAuszügen des Gesprächs gibt Mehmet SalihÇakar einen sehr persönlichen Einblick in diehistorische Bedeutung Heskifs, skizziert denWiderstand der Bevölkerung gegen dasStaudammprojekt <strong>und</strong> führt aus, wo dieeigentliche Motivation für den Bau desStaudammes zu verorten ist.<strong>Die</strong> Stadt Hasankeyf am Ufer des TigrisDelegation: Ist es in Ordnung, Deinen Namen zu nennen?Çakar: Das was ich hier sage, sage ich überall. Wenn sie uns verhaftenwollen, dann verhaften sie uns eh...Delegation: Worin besteht deiner Meinung nach die BedeutungHeskifs?Çakar: Heskif besteht nicht nur, so wie es aussieht, aus ein paar Höhlen<strong>und</strong> älteren Gebäuden. Es reicht nicht einmal aus, in Heskif selbstzu leben, <strong>um</strong> seine Bedeutung zu erfassen. Vielleicht sollte man sichvon Heskif entfernen, sich in Gedanken versinken <strong>und</strong> sich all die verschiedenenGebäude aus unterschiedlichen Jahrtausenden durch denKopf gehen lassen, <strong>um</strong> seinen Wert verstehen zu können. Heskif isteigentlich die Menschheit. Es ist unsere Zivilisation. Zivilisationen klärenMenschen auf, geben ihr eine Kultur <strong>und</strong> stellen sie in den <strong>Die</strong>nstder Menschheit. Sogar oberste Staatsbeamte, die das Staudammprojektleiten, kamen nach Heskif <strong>und</strong> verließen es unter Tränen. Es gibt soviele Menschen, die nicht wollen, dass Heskif geflutet wird.Delegation: Wie ist die Geschichte des Ortes Heskif?Çakar: Bei Ausgrabungen eines Siedlungsgebietes wurden hier ca.12.000 Jahre alte Skelette gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die Umrisse der ersten Siedlungenreichen 15.000 Jahre zurück. Laut Erzählungen sind diese nachder großen Flut zu der Zeit Noahs hier <strong>im</strong> Tigristal entstanden. Ein Beweisdafür, dass hier die ersten Menschen sesshaft wurden, sind jedochdie fast 5.000 sehr alten Höhlen.Bis ca. 1.130 herrschten hier die Eyübiden. Danach kamen die Artukiden<strong>und</strong> zu ihrer Zeit diente Heskif als Hauptstadt ihres Reiches.Insgesamt regierten hier 12 Dynastien. Viele historische Artefaktewurden zu der Zeit von Saladin dem Großen während der Kriegegegen die Kreuzfahrer nach Kairo gebracht. Viele dieser historischenGegenstände befinden sich nun in der Al Hazra Universität in Kairo.Hier [Mehmet deutet auf eine Ecke neben dem Gebäude, in dem wiruns befinden. Red.] gab es eine der ersten Universitäten auf der Welt.Es wird auch gesagt, dass ein Wissenschaftler namens El Hazra hierüber Mechanik <strong>und</strong> Robotik geforscht <strong>und</strong> gelehrt hat. Seine Büchersoll auch Leonardo da Vinci gelesen haben. Und jetzt zerstört der Staatmit seinen eigenen Händen diese Geschichte. Mehr noch: Alle Ausgrabungen,die derzeit geführt werden suchen nur Gegenstände, dieaus den Zeiten der musl<strong>im</strong>ischen Reiche stammen. Alles davor, wasz.B. aus den Zeiten des byzantinischen Reiches herrührt, wird nichtuntersucht. Das wird bewusst so durchgeführt. Dadurch soll verhindertwerden, dass die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam wird, dassHeskif von welthistorischer Bedeutung ist <strong>und</strong> einen Anspruch auf denErhalt von Heskif stellt.In der Nähe wird gerade eine Brücke gebaut. Bei den Bauarbeiten stießman auf ein Dorf mit Kirche, das jedoch wieder zugeschüttet wurde.Man vermutet, dass dieses Siedlungsgebiet aus den Zeiten der Assyrerstammt, eines der ältesten christlichen Völker. Das Dorf hieß Addafi.All diese historischen Reichtümer, auch die der islamischen Zeit,werden durch diesen Staudamm, zerstört. Wir teilen jedem mit, dassHeskif nicht nur eine islamische Geschichte hat, sondern ein welthistorischesErbe ist.Bis zur Zeit der Seidenstraße, die durch Heskif führte, war die Brücke[Ihre Ruinen sind noch zu sehen. Red.] der Dreh- <strong>und</strong> Angelpunktnach Damaskus, Bagdad <strong>und</strong> Teheran. Erst als die Brücke zerstört wurde,verlagerte sich diese Handelsroute nach Amed <strong>und</strong> die Stadt Heskifverlor an Bedeutung.Delegation: Was genau hat es mit der Diskussion <strong>um</strong> den Weltkulturerbe-Statusfür Heskif auf sich?„WENN NUR 50% DERKOSTEN, DIE FÜR DASSTAUDAMMPROJEKTBENÖTIGT WERDEN,IN DIE STROMNETZE DERTÜRKEI INVESTIERTWERDEN WÜRDEN,HÄTTEN WIR 15% MEHRSTROM ALS DER STAU-DAMM PRODUZIERENKÖNNTE“.Ortsschild Hasankeyf


10. DER KAMPF UM HASANKEYF7810. DER KAMPF UM HASANKEYF79[1]Eğit<strong>im</strong>-Sen (Egit<strong>im</strong> ve Bil<strong>im</strong> Emekçileri Sendikası, dt.:Gewerkschaft der Beschäftigten <strong>im</strong> Bereich Erziehung<strong>und</strong> Wissenschaft) entspricht der deutschen Gewerkschaftfür Bildung <strong>und</strong> Wissenschaft. KESK (Kamu EmekçileriSendikarları Konfederasyonu, dt.: Konföderation der <strong>im</strong>öffentlichen <strong>Die</strong>nst beschäftigten Arbeiter_innen) <strong>und</strong>DİSK (Devr<strong>im</strong>ci İşçi Sendikarları Konfederasyonu, dt.:Föderation der revolutionären Arbeiter_innengewerkschaften)sind Zusammenschlüsse linker Gewerkschaftendes privaten <strong>und</strong> des öffentlichen <strong>Die</strong>nstes. Petrol-İş(„Öl-Arbeit“) ist die türkische Gewerkschaft der Arbeiter_innen der Öl-, Chemie- <strong>und</strong> G<strong>um</strong>miindustrie.Çakar: Heskif erfüllt 9 von 10 Kriterien des UNESCO Weltkulturerbes.Das gibt es nirgendwo anders. Weil aber ein Antrag des Staatesfür eine Anerkennung als Weltkulturerbe notwendig ist, der Staat diesaber bewusst nicht macht, bekommt Heskif diesen Status nicht. Z<strong>um</strong>Vergleich: Andere historische Orte, wie z.B. die Pyramiden in Ägypten,erfüllen nur sechs dieser Kriterien.Delegation: Welche Gruppen <strong>und</strong> Parteien sind gegen das Projekt<strong>und</strong> welche befürworten es?Çakar: <strong>Die</strong> größten Unterstützer_innen dieses Staudammprojektssind die sich als Vorreiter_innen der Zivilisation ausgebenden westlichenStaaten. Aufgr<strong>und</strong> von Protesten haben zwar offiziell europäischeBanken ihre Bürgschaften zurückgezogen <strong>und</strong> türkische Bankenmüssen jetzt für dieses Projekt bürgen - aber <strong>im</strong> Verborgenen ziehen<strong>im</strong>mer noch europäische Banken an den Strippen.<strong>Die</strong>ses Projekt hat auch verheerende ökologische Folgen. <strong>Die</strong> Türkeihat einen Vertrag unterschrieben, der 153 Auflagen enthält, die bei derPlanung von Großprojekten erfüllt werden müssen. Darin ist u.a. derSchutz von Lebewesen, Ökologie <strong>und</strong> Geschichte enthalten. <strong>Die</strong>se Auflagengelten für Projekte, deren Planung nach 1980 begonnen wurde.Also hat der Staat den Beginn des Staudammprojektes in Heskif einfachauf vor 1980 datiert. Aber das oberste Verwaltungsgericht hat ineinem Verfahren entschieden, dass ohne die Erfüllung dieser Auflagennicht weiter gebaut werden darf. Trotzdem wird weitergebaut.Hier gibt es keine Arbeitsplätze, keine Ausbildungsmöglichkeiten, diejungen Menschen haben keine Perspektiven. Heskif liegt als Bezirkauf einem der letzten ökonomischen Ränge in der Türkei. Das Volkist arm <strong>und</strong> traut sich deshalb nicht zu protestieren. <strong>Die</strong> Menschenhaben Angst, dass die Gelder vom Bezirksgouverneursamt [türk.:Kaymakamlık] oder ihre Krankenversicherungen [türk.: Yeşil Kart]wegfallen könnten, wenn sie an Protesten teilnehmen würden. Früherhatte die Stadt durch den Kulturtourismus wichtige Einnahmequellen.Allerdings sind alle Stätten seit einigen Jahren geschlossen. Der Staatverhindert dadurch, dass Touristen hierher kommen <strong>und</strong> die Besucher_innenzahlensind dramatisch eingebrochen. An dem Fluss warenbis vor einigen Jahren 35 bis 40 Restaurants, die alle geschlossen wurden.<strong>Die</strong>s ist eine bewusste Politik, <strong>um</strong> uns zu verarmen, so dass wirvon hier wegwandern. Der Staat schürt die Ängste auch insofern, alsdass er alle, die gegen den Staudamm sind, unisono als Terrorist_innendeklariert. Unterstützt wird unserer Protest hingegen von zivilgesellschaftlicheOrganisationen <strong>und</strong> Gewerkschaften wie Eğit<strong>im</strong>-Sen,Petrol-İş, KESK, DSİK [1], BDP <strong>und</strong> einigen anderen fortschrittlichen<strong>und</strong> sozialistischen Parteien. In Heskif leben 3000 Menschen. <strong>Die</strong> BDPhat hier jedoch nur 250 St<strong>im</strong>men. Aber glaubt mir: Es sind mehr als90% der Menschen gegen diesen Staudamm. Unsere Forderung ist,dass all die verschütteten <strong>und</strong> überbauten historischen Gebäude ausgegrabenwerden, die Menschen deren Häuser dafür abgerissen werdenmüssen, entschädigt werden <strong>und</strong> das gesamte Heskif zu einer offenenMuse<strong>um</strong>sstätte wird.Wir sind nicht gegen dieses Projekt als Ganzes. Es gibt viele Alternativprojekte,die u.a. von den Universitäten TÜ-Istanbul [Teknik Üniversitesi]oder der ODTÜ Ankara [Orta Doğu Teknik Üniversitesi] entwickeltwurden, damit Heskif nicht geflutet werden muss. Beispielsweisedurch Senkung des Wasserlevels <strong>im</strong> Staudamm, durch mehrere kleinereStaudämme, durch Umleitungen des Wasser <strong>um</strong> Heskif her<strong>um</strong> <strong>und</strong>das wichtigste: Wenn nur 50% der Kosten, die für das Staudammprojektbenötigt werden, in die Stromnetze der Türkei investiert werdenwürden, hätten wir 15% mehr Strom als der Staudamm produzierenkönnte. Es gibt also viele Alternativen. Das Ziel ist hier nicht Stromzu produzieren, sondern diese Geschichte zu zerstören, den Irak <strong>und</strong>Syrien zu erpressen <strong>und</strong> sich auf die Wasserknappheit in der Zukunftvorzubereiten.Delegation: Was hat dieses Projekt mit der <strong>kurdische</strong>n Frage zu tun?Çakar: Wie gesagt: <strong>Die</strong>ser Staudamm, das weiß jeder, ist ein politischesProjekt. Es hat nicht das Ziel Wasser zu stauen <strong>und</strong> dadurchEnergie zu gewinnen. Der Staat gibt das auch offen zu: „Wir wollen dortdie politischen Kräfte, die BDP <strong>und</strong> die PKK marginalisieren, das Gebietentvölkern, den <strong>Bewegung</strong>sra<strong>um</strong> der Guerilla einengen, ihre Höhlen fluten“.Das ist das eigentliche Ziel, das mit dem Staudamm verfolgt wird.Denn sonst gäbe es zu diesem Projekt, wie bereits angesprochen, vielesinnvolle Alternativen. Mittlerweile nehmen auch Gruppen aus demIrak <strong>und</strong> Syrien an den Protesten teil, weil sie das wirkliche Ziel desProjektes erkannt haben.Delegation: Wie hat die Bevölkerung auf die Aktionen der PKK gegendas Staudammprojekt reagiert?Çakar: Niemand unter der Bevölkerung stellt sich gegen die Aktionender PKK, gegen das Projekt. Ihre Aktionsformen zielen auf Geräteab. Ziel ist es ökonomischen Schaden anzurichten, ohne Menschen zuverletzen. Es wurden hin <strong>und</strong> wieder auch Menschen, die von diesemProjekt groß profitieren wollen, entführt - diese jedoch nach einemVerhör wieder freigelassen.Delegation: Was macht speziell die BDP gegen das Projekt? Undwas ist Ihre Politik?Çakar: Was bedeutet denn der Staudamm überhaupt für mich? Ichmüsste meine Geschichte zurücklassen. <strong>Die</strong> Gräber meiner Vorfahrenwürden hier untergehen. Wir würden hier unser Leben zurücklassen.Für mich hat es also sowohl ökonomische als auch menschliche Folgen.Das sage ich als einer, der aus Heskif stammt. Zur BDP: <strong>Die</strong> BDPmuss natürlich viele andere Faktoren berücksichtigen. Sie beachtet dieUmweltfolgen <strong>und</strong> fordert die Einhaltung von Auflagen z<strong>um</strong> Schutzder Umwelt <strong>und</strong> dass die Bevölkerung auch entschädigt wird. Sie mussdie Schäden für die gesamte Bevölkerung aber auch die historischenVerluste berücksichtigen. [Mehmet holt das Parteiprogramm der BDPhervor. Red.] Hier <strong>im</strong> Parteiprogramm gibt es das Kapitel: „ÖkologischesGleichgewicht <strong>und</strong> unser Leben darin“. Daran hält sich die BDP<strong>und</strong> richtet ihre Politik danach aus. „Ein Mensch, der nicht an seineGeschichte, seine Umwelt <strong>und</strong> an seine Zukunft denkt, entfremdet sichvon seinem eigenen Menschsein“. Das steht hier in diesem Abschnitt<strong>und</strong> wird von der BDP bis z<strong>um</strong> Schluss auch verteidigt. Ich kann <strong>im</strong>Namen der Partei sagen, genauso wie die Partei will, dass das Volk freilebt, will sie auch, dass Heskif gerettet wird.Minarett in der historischenAltstadt Hasankeyf„DAS VOLK IST ARM UNDTRAUT SICH DESHALBNICHT ZU PROTESTIEREN.DIE MENSCHEN HABENANGST, DASS DIEGELDER VOM BEZIRKS-GOUVERNEURSAMT ODERIHRE KRANKEN-VERSICHERUNGEN WEG-FALLEN KÖNTEN, WENNSIE AN PROTESTENTEILNEHMEN WÜRDEN“.


10. DER KAMPF UM HASANKEYF80„DAS ZIEL IST HIERNICHT STROM ZUPRODUZIEREN, SONDERNDIESE GESCHICHTE ZUZERSTÖREN, DEN IRAKUND SYRIEN ZUERPRESSEN UND SICHAUF DIE WASSERKNAPP-HEIT IN DER ZUKUNFTVORZUBEREITEN.“Fels-Wohnungen in HasankeyfInfos zur internationalen Kampagne gegenden Bau des Ilisu-Staudamms:stopilisu.comDelegation: War<strong>um</strong> ist Heskif wichtig für die Jugend?Çakar: Aufmerksame, studierte, kultur- <strong>und</strong> geschichtsliebende Menschenkönnen nicht anders, als sich für Heskif einzusetzen. UnsereVorfahren sagten bereits: „Wer seine Vergangenheit nicht kennt <strong>und</strong>für diese nicht einsteht, kann das für seine Zukunft niemals tun“. SolcheMenschen verwahrlosen <strong>und</strong> werden ausgegrenzt. <strong>Die</strong> Jugend ist dieZukunft, genauso wie die Vergangenheit die Zukunft bildet. Ein jungerMensch, der sich für seine Vergangenheit nicht einsetzt, kann auchkeine Zukunft haben. Wir waren eine unbewusste Bevölkerung <strong>und</strong>gelangten erst seit den 1980er Jahren zu einem Bewusstsein.Vor 45 Jahren habe ich hier mit Murmeln, die ich in den Ruinen fandgespielt, als seien es wertlose Spielzeuge, weil es kein Bewusstsein dafürgab. Wenn heute mein Kind das macht, würde ich sie ihm aus derHand nehmen <strong>und</strong> an die Stelle legen, wo es sie gef<strong>und</strong>en hat. Aberheute hat sich das Bewusstsein stark gewandelt. Sogar kleine Kindersurfen <strong>im</strong> Internet, bekommen vieles mit <strong>und</strong> verstehen dadurch vielmehr,wie wertvoll ihre Geschichte eigentlich ist.Delegation: Was erwartest Du Dir von so einem Gespräch?Çakar: Setzt euch in Verbindung mit allen, die ihr kennt, z.B. über sozialeMedien. Ihr habt viel mehr Möglichkeiten. Ich sage auch zu meinenKindern heute: „Seid aufmerksam, kenne deine Kultur, Geschichte<strong>und</strong> Vorfahren. Sei jedem Menschen, mit dem du sprichst ein Vorbild.Sei vorbildlich, damit du sie beeindruckst <strong>und</strong> sie dir glauben. Und versuchedeine gesamte Umgebung zu erreichen“. Heskif darf nicht zerstörtwerden, Heskif darf nicht in diesen Zustand verfallen. Das ist unsereErwartung. Wir erwarten nicht, dass ihr herkommt <strong>und</strong> kämpft.Wenn zehn Menschen aus Heskif sich vor der Brücke erhängen, wirddas niemand mitbekommen. Wenn wir ein Jahr lang hier <strong>im</strong> Hungerstreikwären, würden wir nicht so viel Aufmerksamkeit bekommen,wie Tarkan bekommen hat, als er einmal hier war. Vielleicht ein Vorschlagvon mir, erreicht berühmte Persönlichkeiten <strong>und</strong> überzeugt sievon Heskif.SCHLUSSWORT DERDELEGATIONSTEILNEHMER_INNEN<strong>Die</strong> vorliegende Broschüre „<strong>Die</strong> <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> <strong>im</strong> <strong>Kampf</strong> <strong>um</strong><strong>Freiheit</strong> <strong>und</strong> Selbstbest<strong>im</strong>mung – Auf dem Weg in die DemokratischeModerne“, ist das Ergebnis unseres Versuches, die vielen Erfahrungen<strong>und</strong> Eindrücke der Delegationsreise zusammenzutragen <strong>und</strong> fürweitere Menschen zugänglich zu machen. Unser Ziel ist es, sich mitdieser Broschüre an der Diskussion innerhalb der emanzipatorischenGruppen in der BRD über die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> zu beteiligen, dieseDiskussion durch unseren Beitrag weiter zu beleben <strong>und</strong> eine tiefereAuseinandersetzung mit den unterschiedlichen Aspekten des <strong>kurdische</strong>n<strong>Kampf</strong>es anzustoßen. Denn – wir verstehen die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong>als Teil einer politischen Diskussion <strong>um</strong> Utopien, auf der Suchenach einer Gesellschaft jenseits von staatlichen, kapitalistischen <strong>und</strong>patriarchalen Herrschaftsformen. Und auch für uns sind dies zentraleFragen unserer politischen Arbeit. Wir hoffen, dass diese BroschüreMotivation <strong>und</strong> Kraft für eine weitere Suche nach gesellschaftlichenAlternativen, aber auch für praktische Solidarität mit der <strong>kurdische</strong>n<strong>Bewegung</strong> gegeben hat.<strong>Die</strong>se praktische Solidarität, so ist in vielen Interviews deutlich geworden,sollte sich gegen die militärische Zusammenarbeit zwischen derTürkei <strong>und</strong> der Europäischen Union wenden <strong>und</strong> sich dafür einsetzen,dass die PKK nicht mehr als terroristische Organisation deklariert,sondern als legit<strong>im</strong>e politische Kraft anerkannt wird. Angesichts derlaufenden Verfahren gegen Aktivist_innen in der BRD, welche aufgr<strong>und</strong>ihrer politischen Arbeit vor Gericht stehen bzw. bereits verurteiltwurden, bezieht sich diese Forderung nach Anerkennung sowohlauf die Türkei als auch auf Kurdistan, sowie auf europäische Länder.Eine ausführliche kritische Auseinandersetzung mit unserer eigenenRolle hat in dieser Broschüre nur wenig Platz gef<strong>und</strong>en. Doch es istwichtig zu reflektieren, dass auch unsere Perspektive auf die <strong>kurdische</strong><strong>Bewegung</strong> nicht frei von rassistischen <strong>und</strong> eurozentristischen Bildernist.Da wir diese auf Gr<strong>und</strong> unserer Sozialisation tief verinnerlicht haben,bleibt es unerlässlich sie kritisch zu hinterfrageninsbesondere, wennwir einen Internationalismus wollen, welcher <strong>Bewegung</strong>en in ihrenStärken, Schwächen <strong>und</strong> Unterschiedlichkeiten anerkennt <strong>und</strong> nichteinfach zu Projektionsflächen unserer Vorstellungen werden lässt.Wir als Delegationsgruppe freuen uns, mit euch all diese Fragen zudiskutieren. So waren wir seit der Delegationsreise bereits in verschiedenenStädten, <strong>um</strong> mit euch über unsere Erfahrungen zu sprechen -mit dieser Broschüre <strong>im</strong> Gepäck sollen nun noch weitere folgen. Auchwird es nächste Reisen nach Kurdistan geben, welche offen sind füralle, die die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> besser kennen lernen wollen.Zudem möchten wir allen Parlamentarier_innen der Partei <strong>Die</strong>Linke,sowie Mitgliedern des Münchener Kreisverbandes der DeutschenKommunistischen Partei für ihre finanzielle Unterstützung der Delegationsreiseunseren Dank aussprechen.Für Informationen über weitere Delegationsreisen, die Bestellung dieserBroschüre <strong>und</strong> bei Interesse, uns für eine Veranstaltung einzuladen,könnt ihr euch an folgende Adressen wenden:newroz2013@yxkonline.de oder info@yxkonline.de11. SCHLUSSWORT DER DELEGATIONSTEILNEHMER_INNEN81


EIN NACHWORTDES VERBANDES DER STUDIERENDEN AUS KURDISTAN - YXK ZU DIESER BROSCHÜRELiebe Leserinnen <strong>und</strong> Leser,liebe Fre<strong>und</strong>innen <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e,wir hoffen sehr, dass es euch Spaß gemacht hat, diese Broschüre zulesen <strong>und</strong> ihr neue, spannende, <strong>und</strong> anregende Eindrücke über die<strong>kurdische</strong> <strong>Freiheit</strong>sbewegung gewonnen habt.Vor allem Gegenwärtig – mit den Entwicklungen in Westkurdistan(Syrien) – hören wir sehr viel in den Medien, in der Öffentlichkeit <strong>und</strong>in politischen Diskussionen über die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong>. Vieles dabeibleibt oberflächlich oder ist von Vorurteilen geprägt. Oft wird überKurd_innen gesprochen, selten aber mit ihnen.Mit unserer alljährigen Newroz – Delegationsreise wollen wir einenpersönlichen Einblick in das Leben von Menschen in Kurdistan verschaffen<strong>und</strong> dadurch die Entfremdung, die hier in Europa entsteht,überwinden.<strong>Die</strong>se Broschüre soll eine Möglichkeit sein, unsere Erfahrungen in denpolitischen Diskurs in der BRD zu tragen, aber auch den Ideen <strong>und</strong>den St<strong>im</strong>men der Menschen in Kurdistan Ra<strong>um</strong> zu geben <strong>und</strong> sie hieröffentlich zu machen. Wir hoffen, das ist uns mit dieser Broschüre gelungen.Auch <strong>im</strong> nächsten Jahr wollen wir eine Newroz – Delegation nach Kurdistanschicken. Eine große Bereicherung war es sowohl für die Delegationsreiseals auch für die Ausarbeitung der Broschüre, dass an derDelegation 2013 junge Menschen aus verschiedenen kulturellen <strong>und</strong>politischen Hintergründen teilgenommen haben. Wenn ihr Interessehabt, bei der nächsten Newroz-Delegationsreise 2014 dabei zu sein,könnt ihr euch jederzeit bei uns melden.Mit solidarischen GrüßenYekîtîya Xwendekarén Kurdîstan – YXKAmeds Altstadt “Sur”


GLOSSARAKP<strong>Die</strong> „Adalet ve Kalkınma Partisi“ (dt.: „Partei für Gerechtigkeit <strong>und</strong>Aufschwung“) wurde <strong>im</strong> Jahr 2002 von Recep Tayyip Erdoğan gegründet,der auch noch <strong>im</strong>mer ihr Vorsitzender ist. Sie entstand aus der islamistischen„Tugendpartei“ (türk.: „Fazilet Partisi“), mit weiteren Personenwie Abdullah Gül <strong>und</strong> Bülent Arınç <strong>und</strong> aus einigen Mitgliedernder liberalkonservativen „Mutterlandpartei“ (türk.: „Anavatan Partisi“oder auch ANAP), vertreten durch Cemil Çiçek <strong>und</strong> Abdülkadir Aksu.Zu Anfang besaß die AKP noch das Image einer auf demokratischeReformen bedachten Partei, brachte hingegen <strong>im</strong> Laufe ihrer Regierungszeitweite Teile der Justiz <strong>und</strong> des Militärs unter ihre Kontrolle.Seit den Wahlen 2002 regiert die AKP mit Ministerpräsident Erdoğan<strong>und</strong> 327 der 550 Sitze der türkischen Nationalversammlung die Türkei.BDP<strong>Die</strong> „Barış ve Demokrasi Partisi“ (dt.: „Partei für Frieden <strong>und</strong> Demokratie“- BDP) ist eine links-sozialdemokratische, pro<strong>kurdische</strong> Partei,welche 2008 als Reaktion auf ein laufendes Parteiverbot gegen die„Demokratik Topl<strong>um</strong> Partisi“ (DTP), der „Partei der demokratischenGesellschaft“ gegründet wurde. Insgesamt ist die BDP damit die achte<strong>kurdische</strong> Partei, welche sich <strong>im</strong> Laufe der Zeit aufgr<strong>und</strong> <strong>im</strong>mer wiederneu verhängter staatlicher Parteiverbote gründete. Auch aktuell wirdin der Türkei wieder über ein mögliches Verbotsverfahren gegen dieBDP gesprochen <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> der „Anti-Terrorgesetze“ sind mehrereAbgeordnete der Partei derzeit <strong>im</strong> Gefängnis.Auch wenn offiziell Selahattin Demirtaş den Parteivorsitz inne hat, gibtes inoffiziell eine Doppelspitze mit Demirtas <strong>und</strong> der Co-VorsitzendenGültan Kışanak. Zu den letzten Wahlen, <strong>im</strong> Jahre 2011, trat die BDP<strong>im</strong> „Wahlbock für Arbeit, Demokratie <strong>und</strong> <strong>Freiheit</strong>“ an. Durch diesenBlock schafften es 36 unabhängige Kandidat_innen in die türkischenNationalversammlung einzuziehen.Unter dem Einfluss der BDP hatte sich <strong>im</strong> Oktober 2011 der HalklarınDemokratik Kongresi (HDK), der Demokratischen Kongresses derVölker gründet, welcher verschiedene linke Parteien, u.a. die BDP, die„Partei der Arbeit“ (türk.: „EMEP Partisi“) <strong>und</strong> die „Partei der sozialistischenDemokratie“ (türk.: „Sosyal Demokrat Partisi“ - SDP), vereint.Zu den kommenden Wahlen will der HDK als eine eigenständige„Kongress-Partei“ antreten, in welcher die verschiedenen Mitgliedsparteiendes HDK aufgehen könnten.CHP<strong>Die</strong> 1923, unter dem Namen „Halk Fırkası“ (dt.: „Volkspartei“) gegründete„C<strong>um</strong>huriyet Halk Partisi“, (dt.: „Republikanische Volkspartei“)geht auf den ersten türkischen Präsidenten Mustafa Kemal zurück<strong>und</strong> war somit die erste <strong>und</strong> bis 1945 die einzige erlaubte Partei inder Türkei. Ihre politische Gr<strong>und</strong>lage ist der Kemalismus <strong>und</strong> darananschließend der Republikanismus, Laizismus, Etatismus, <strong>und</strong> nichtzuletzt der Nationalismus. Mit 135 der 550 Sitze der türkischen Nationalversammlung,ist die CHP zur Zeit die stärkste Oppositionspartei.Ihr Vorsitzender ist Kemal Kılıçdaroğlu.DEMOKRATISCHE AUTONOMIESeit 2010 ist der Aufbau der Demokratischen Autonomie das zentraleZiel der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong>. Das Konzept versteht sich dabei nichtals Prozess des „Staat-Werdens“, sondern als Gegengewicht z<strong>um</strong> Staat.Z<strong>um</strong> einen ist damit das Ziel der Demokratisierung des türkischenStaates, d.h. dass der Wille, die Bedürfnisse <strong>und</strong> das Recht auf Selbstverwaltungder Bevölkerung respektiert wird <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ender Aufbau eines demokratischen, autonomen Kurdistans. Dem Konzeptliegt das Verständnis einer Gegensätzlichkeit zwischen „Demokratie“<strong>und</strong> „Staat“ zugr<strong>und</strong>e, welche jegliches Aufbauen staatlicherStrukturen, als auch das Arrangieren mit dem Staat ablehnt. Organisierungsmodellder Demokratischen Autonomie ist wieder<strong>um</strong> Rätebasiert<strong>und</strong> manifestiert sich in Nordkurdistan <strong>im</strong> DTK, dem DemokratischenGesellschaftskongress.DEMOKRATISCHER KONFÖDERALISMUSSo wird die von Abdullah Öcalan entwicklete Idee der Selbstverwaltungder Bevölkerung in Kurdistan genannt. Darin organisieren sichalle gesellschaftliche Identitäten wie religiöse oder ethnische Gruppen,die Jugend, Frauen, LGBT-Aktivist_innen, Handeltreibende jenseitsvon nationalen <strong>und</strong> staatlichen Grenzen in Dorf-, Stadteil-, Stadt- <strong>und</strong>Regionalräten. Gesellschaftliche Entscheidungsfindung beginnen beider Basis in den Räten. <strong>Die</strong>se Räte strukturieren sich in konföderalerForm von unten nach oben <strong>und</strong> versammeln sich unter dem Dach derKCK.DEMOKRATISCHE MODERNEAls Demokratische Moderne bezeichnet die <strong>kurdische</strong> <strong>Freiheit</strong>sbewegungdie Phase, in der die Kapitalistische Moderne überw<strong>und</strong>enwurde <strong>und</strong> eine demokratische, ökologische <strong>und</strong> geschlechterbefreiteGesellschaft aufgebaut wird. Aufgr<strong>und</strong> der Omnipräsenz der KapitalistischenModerne wird die Demokratische Moderne nicht als einEndzustand, sondern als ein <strong>im</strong>merwährender Prozess gesehen. DerDemokratische Konföderalismus skizziert das diesen Vorstellungenentsprechende Gesellschaftssystem.FETULLAH-GÜLEN-BEWEGUNG<strong>Die</strong> Fethullah-Gülen-<strong>Bewegung</strong> organisiert sich <strong>um</strong> Fethullah Gülen,einem islamischen Prediger, der in Pennsylvania lebt. Anfang der 70erJahre war Gülen maßgeblich an dem Aufbau antikommunistischerVereine <strong>im</strong> <strong>Kampf</strong> gegen fortschrittliche, sozialistische Kräfte in derTürkei beteiligt. Heute betreibt seine millionenstarke, islamisch-nationalistisch<strong>und</strong> neoliberal Ausgerichtete „Hizmet“-<strong>Bewegung</strong> einweltweites Netzwerk an Bildungseinrichtungen, Medienriesen <strong>und</strong>verschiedenen Wirtschaftsunternehmen. Zu diesem Netzwerk zählenu.a. auch die türkische Tageszeitung Zaman <strong>und</strong> der Fernsehsender SamanyoluTV. In der Türkei ist die Fethullah Gülen „Gemeinde“ (türk.:„Cemaat“), die einflussreichste islamische Strömung. Deren Anhänger_innenhaben inzwischen das Polizei- <strong>und</strong> Justizwesen unterwandert,weshalb Gülen <strong>und</strong> seine <strong>Bewegung</strong> als Mitverantwortliche fürdie Massenverhaftungen von <strong>kurdische</strong>n <strong>und</strong> linken Oppositionellen,regierungskritischen Journalist_innen <strong>und</strong> hohen Militärs gelten. Gülenruft zur militärischen Vernichtung der <strong>kurdische</strong>n <strong>Freiheit</strong>sbewegungauf, versucht aber gleichzeitig die sunnitischen Kurd_innen nachosmanischem Vorbild <strong>im</strong> Namen des Islams mit dem türkischen Staatauszusöhnen <strong>und</strong> zu ass<strong>im</strong>ilieren. Den alevitischen Glauben bezeichneteer als eine „Missentwicklung <strong>im</strong> Islam“. Auch in Deutschland istsein Netzwerk stark organisiert. Der FID e.V. (For<strong>um</strong> für interkulturellenDialog) in Frankfurt ist nur einer der ihm nahestehenden Vereine.Zahlreiche Kritiker_innen werfen der Gülen-<strong>Bewegung</strong> vor, unterdem Deckmantel von Dialog <strong>und</strong> Toleranz, schleichend die Gesellschaftzu islamisieren.KAPITALISTISCHE MODERNEAls Kapitalistische Moderne bezeichnet die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> dasjetzige Zeitalter, in der das kapitalistische System große Teile der Gesellschaftin ihren Denk-, Handlungs-, <strong>und</strong> Wahrnehmungsmusterdurchdrungen hat. Kapitalismus wird demnach nicht allein als eineForm der Produktionsweise verstanden, sondern als eine Herrschaftsform,die sich in verschiedenen Bereichen manifestiert. <strong>Die</strong>se basiertauf Nationalstaaten, Profitstreben <strong>und</strong> Industrialismus. Durch Gewaltgegen <strong>und</strong> Unterdrückung von Frauen, ökologische <strong>und</strong> ökonomischeAusbeutung, Machtdenken, Gewalt <strong>und</strong> Herrschaft führt die KapitalistischeModerne seine Existenz fort.KCKKCK ist die <strong>kurdische</strong> Abkürzung für „Koma Civakén Kurdistan“ (dt.:„Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans“) <strong>und</strong> steht für ein basisdemokratischesOrganisierungsmodel, welches auf Rätestrukturenaufbaut. <strong>Die</strong> Räte bestehen aus verschiedenen gesellschaftlichen, sichautonom organisierenden Gruppen wie z.B. Jugendliche, Frauen,ethnische <strong>und</strong> religiöse Gruppen, sowie anderen Identitäten, welchesich jedoch unter dem Dach der KCK vereinen. Ziel der KCK ist derAufbau des Demokratischen Konföderalismus auf der Gr<strong>und</strong>lage einerdemokratischen, ökologischen <strong>und</strong> geschlechterbefreiten Gesellschaft.Das KCK-Modell ist somit eine pyramidenförmige Organisierung,mit welcher versucht wird, gesellschaftliche Vorstellungen von unten,der politischen Basis <strong>und</strong> aus den einzelnen Räten, in die Komitees12. GLOSSAR85


12. GLOSSAR8412. GLOSSAR87<strong>und</strong> Ausschüsse zu transportieren. <strong>Die</strong> Komitees sind verschiedenenArbeitsbereichen zugeordnet, wie z.B. Aufklärung <strong>und</strong> Wissenschaftoder Verteidigung, über das die Verbindung zu den Volksverteidigungskräften(kurd.: Hêzên Parastina Gel - HPG) besteht. Neben demKCK-Modell, aber auf den gleichen Gr<strong>und</strong>lagen, organisiert sich die<strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> in Nordkurdistan <strong>im</strong> Demokratischen Gesellschaftskongress(Demokratik Topl<strong>um</strong> Kongresi - DTK). Auch die <strong>kurdische</strong><strong>Bewegung</strong> in Syrien orientiert sich an diesem System.MESOPOTAMIENMesopotamien ist das Gebiet zwischen den Flüssen Euphrat <strong>und</strong>Tigris. Der nördliche Teil Mesopotamiens wird das „vordere Mesopotamien“,der südliche Teil wird das „untere Mesopotamien“ genannt.Nach den Schriften Öcalans, worauf sich die <strong>kurdische</strong> <strong>Freiheit</strong>sbewegungberuft, ist das untere Mesopotamien das Gebiet, in dem derÜbergang von der ‚Natürlichen Gesellschaft‘ hin zur hierarchischenGesellschaft stattfand. Demnach begann dort die Herrschaft der s<strong>um</strong>erischenPriester in sog. Zikkurats, eine Art Kloster. <strong>Die</strong>se warenaufgeteilt in mehrere Stockwerke. Dazu Öcalan: „Sie ließen ihn in denH<strong>im</strong>mel wachsen, widmeten das oberste Stockwerk dem Gott <strong>und</strong> dasunterste den Knechten. <strong>Die</strong> mittleren Stockwerke öffneten sie für Vertreterder Mittelklasse“ (Abdullah Öcalan: „Jenseits von Staat, Macht<strong>und</strong> Gewalt“. S. 31). Öcalan vergleicht diese Herrschaftsform in seinenSchriften auch mit den heutigen Staatsformen.DIE NATÜRLICHE GESELLSCHAFTAls Natürliche Gesellschaft bezeichnet Öcalan die Gesellschaftsordnung<strong>im</strong> Zeitra<strong>um</strong> von der Abspaltung der menschlichen Art von denPr<strong>im</strong>aten bis zur Entwicklung der hierarchischen Gesellschaft. <strong>Die</strong>‚Natürliche Gesellschaft‘ ist nach Öcalan frei von Privilegien, Klassen<strong>und</strong> Hierarchien gewesen <strong>und</strong> basierte auf dem Prinzip der Solidarität,der <strong>Freiheit</strong> <strong>und</strong> Gleichheit. Zudem werden diese Prinzipien <strong>und</strong>Gr<strong>und</strong>lagen <strong>im</strong> Prozess f<strong>und</strong>amentaler Gesellschaftsveränderungennicht aus dem kollektiven Gedächtnis entfernt, sondern treten <strong>im</strong>merwieder dort auf, wo sich Gesellschaften beginnen hierarchisch<strong>und</strong> institutionell zu organisieren. <strong>Die</strong>ser Widerspruch zwischen dernatürlichen <strong>und</strong> der hierarchischen Gesellschaft stellt den zentralengesellschaftlichen Widerspruch der Menschheit dar. <strong>Die</strong> Vorstellungder Natürlichen Gesellschaft weist Ähnlichkeiten mit der Vorstellungdes Marxschen „Urkommunismus“ oder auch „Urgesellschaft“ <strong>und</strong>dem Begriff der „organischen Gesellschaft“ des Anarchisten MurrayBookchin auf.MHP<strong>Die</strong> „Milliyetçi Hareket Partisi“ (dt.: „Partei der Nationalen <strong>Bewegung</strong>“)ist eine ultranationalistische, faschistische Partei in der Türkei,der auch die paramilitärische Organisation „Graue Wölfe“ (türk.: „Bozkurt“)zuzuordnen ist. <strong>Die</strong>se Organisation ist für zahlreiche Morde anlinken <strong>und</strong> <strong>kurdische</strong>n Aktivist_innen, Intellektuellen <strong>und</strong> Politiker_innen verantwortlich. Auch in Deutschland treten die Grauen Wölfe<strong>im</strong>mer wieder in die Öffentlichkeit, besonders wenn es <strong>um</strong> den Konfliktin Kurdistan geht. Der Begründer der MHP <strong>und</strong> der Grauen Wölfe,Alparslan Türkeş, war Offizier <strong>im</strong> türkischen Militär <strong>und</strong> verfolgtedie Gründung eines türkischen Staates, welcher alle „Turkvölker“vereinen sollte <strong>und</strong> in seiner Vorstellung das Gebiet des Balkans überAnatolien bis nach Zentralasien <strong>um</strong>fassen sollte. Seit den 80er-Jahrenist die MHP bemüht, den politischen Islam in ihr Konzept zu integrieren.Versucht wird dies durch die Schaffung einer türkischen Identität,in der türkisch-nationalistische mit islamistischen Elementen verb<strong>und</strong>enwerden können. Heute sitzt die MHP als zweitgrößte Oppositionsparteiin der türkischen Nationalversammlung. Ihr Vorsitzender istDevlet Bahçeli.TÜRKISCH/KURDISCHE HIZBOLLAH<strong>Die</strong> türkische Hizbollah, auch als <strong>kurdische</strong> Hizbollah bezeichnet, istnicht mit der Hizbollah <strong>im</strong> Libanon zu verwechseln. Sie ist besondersin den <strong>kurdische</strong>n Gebieten in der Türkei aktiv. Ihre Entstehung inden 80er Jahren <strong>und</strong> ihr schnelles Wachsen hing stark mit politischenEntscheidungen des türkischen Militärs <strong>und</strong> dem Gehe<strong>im</strong>dienst zusammen,die sie in ihrem <strong>Kampf</strong> gegen die PKK aufbauten. Daher wirdsie von Teilen der Bevölkerung auch als Hizbo-Kontra bezeichnet, alsbewaffnete sunnitisch-islamistische Kontra-Organisation gegen diePKK. Seit den 90er Jahren, ist sie für den Tod tausender PKK Aktivist_innen<strong>und</strong> Anhänger_innen verantwortlich. Doch ihre politischeAbhängigkeit vom Staat führte Anfang der 90er Jahre zu schweren internenAuseinandersetzung mit einem der Flügel der Hizbollah, dereine unabhängigere Linie verfolgen wollte. So wurde auch Ende der90er Jahre von Seiten des Staates eine Neubewertung der Situation vorgenommen.Daraufhin wurden <strong>im</strong> Jahre 2000 eine Reihe von hohenHizbollah Funktionären getötet <strong>und</strong> gefangen genommen. <strong>Die</strong> AKPversucht seitdem die Hizbollah in ihr islamisches Projekt zu integrieren<strong>und</strong> unterstützt sie, sich neu zu formieren <strong>und</strong> ihre Aktivitäten aufdie Arbeit in Vereinen, Stiftungen, Moscheen <strong>und</strong> zivilgesellschaftlichenOrganisationen zu verlagern. <strong>Die</strong>se Strategie schien erfolgreich<strong>und</strong> so wurde die AKP auch bei den Parlamentswahlen von der Hizbollahunterstützt <strong>und</strong> die Zahl der offensiven Morde seitens der Hizbollahnahmen ab. 2011 kam es zu weitreichenden Haftentlassungenfür einige zentrale Mitglieder der Hizbollah. <strong>Die</strong>ser Schritt von Seitender AKP wird als zusätzlicher Angriff gegen das Projekt der DemokratischenAutonomie der Kurd_innen gewertet, da die Hizbollahdurch die Freilassungen an Handlungsfähigkeit gewann. Angesichtsder aktuellen Entwicklungen scheint sich das Verhältnis zwischen demtürkischen Staat <strong>und</strong> der Hizbollah neu zu gestalten. So wurde <strong>im</strong> Dezember2012 die „Hür Dava Partisi“ (dt.: „Partei der Freien Sache“) alsneuer politischer Arm der Hizbollah gegründet. Auch scheint die Hizbollahden aktuellen politischen Kurs der AKP gegenüber Öcalan <strong>und</strong>der PKK nicht zu unterstützen, da sie <strong>im</strong> Zusammenhang einer sichentspannenden politischen Lage mit Bedeutungsverlust rechen muss.Newroz-Feier in Colemerg


Newroz-Feier in Amed


Auch <strong>im</strong> März 2013 reiste wieder eine Delegation, überwiegend bestehend aus Jugendlichen, <strong>im</strong> Namen des Verbands der Studierenden aus Kurdistan –Yekîtiya Xwendekarên Kurdistan e.V. (YXK) nach Nordkurdistan (Südost-Türkei).Als Ergebnis dieser Reise veröffentlichen wir nun <strong>im</strong> Oktober die Bröschüre:„<strong>Die</strong> <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> <strong>im</strong> <strong>Kampf</strong> <strong>um</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>und</strong> Selbstbest<strong>im</strong>mung – Auf dem Weg in die Demokratische Moderne. Newroz 2013 – Erfahrungsberichteiner Delegationsreise“In der Broschüre wollen wir unsere persönlichen Erfahrungen mit Euch teilen <strong>und</strong> zur weiteren Diskussion über die <strong>kurdische</strong> <strong>Bewegung</strong> anregen.Im Mittelpunkt der Broschüre steht die Auseinandersetzung mit der <strong>kurdische</strong>n Jugend-, Frauen- <strong>und</strong> der LGBT-<strong>Bewegung</strong>. Darüber hinaus wollen wirauch über die versuchten (Friedens)Verhandlungen zwischen dem türksichen Staat <strong>und</strong> der <strong>kurdische</strong>n <strong>Bewegung</strong> berichten <strong>und</strong> viele weitere Organisationen<strong>und</strong> Initiativen, wie beispielsweise die Föderation der Vereine der Familien von Häftlingen <strong>und</strong> Verurteilten (TUHAD-Fed), oder Sarmaşik, einenVerein gegen die Verarmungspolitik des Staates, vorstellen.

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