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Franz Josef Furt wäng ler Gewerkschafter ... - Klartext Verlag

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Willy Buschak – <strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong><br />

Willy Buschak<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong><strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen<br />

Schriftenreihe A: Darstellungen<br />

Band 45<br />

Redaktion: Jürgen Mittag, Dimitrij Owetschkin<br />

Willy Buschak<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong><strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Willy Buschak<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong><br />

<strong>Gewerkschafter</strong>, Indienreisender,<br />

Widerstandskämpfer<br />

Eine politische Biografie<br />

Willy Buschak<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong><strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Die Umschlagabbildung zeigt <strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> in seinem Büro<br />

im ADGB-Bundesvorstand, 1923.<br />

Alle Abbildungen des Buches entstammen dem Archiv der sozialen Demokratie,<br />

Bonn.<br />

Die Drucklegung dieses Bandes wurde mit freundlicher Unterstützung<br />

der Hans-Böck<strong>ler</strong>-Stiftung ermöglicht.<br />

1. Auflage Dezember 2010<br />

Satz und Gestaltung: <strong>Klartext</strong> Medienwerkstatt GmbH, Essen<br />

Umschlaggestaltung: Frank Münschke dwb, Essen<br />

Druck und Bindung: Druckerei Strauss, Mörlenbach<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong>, Essen 2010<br />

ISBN 978-3-8375-0387-6<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

www.klartext-verlag.de<br />

www.isb.rub.de<br />

Willy Buschak<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong><strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Inhalt<br />

1. Ein Leben vol<strong>ler</strong> Brüche und Wendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

2. Jugend vor 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

Kleinstadt im Schwarzwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

Auf Wanderschaft durch Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

Maschinengewehrführer und Lazarettdolmetscher<br />

im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

3. Sprung in die Hauptstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

Der Spätheimkehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

Auf der Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main . . . . . . . . . . . . . 24<br />

Seiteneinsteiger im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund . . . 27<br />

„Die Gewerkschaften brauchen wissenschaftlich geschulte<br />

Mitarbeiter“: <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> provoziert eine Debatte . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

<strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> als Gewerkschaftsjournalist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />

… als Historiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />

… als Übersetzer und Dolmetscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

Mit Theodor Leipart auf Reisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

<strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />

4. Im Land des unverfälschten Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />

5. Begegnung mit Asien: Das werktätige Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />

Erste Begegnung mit dem Orient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />

In der merkwürdigsten Stadt der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60<br />

Quer durch Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61<br />

Das werktätige Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68<br />

Lebenshaltung der indischen Industriearbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . 72<br />

Verhältnisse in den Betrieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74<br />

Indische Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />

<strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> als Orientalist und Indien-Experte . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />

6. Koloniale Zwangsarbeit und internationale soziale Grundrechte . . . . 87<br />

7. Verein für das Deutschtum im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95<br />

8. Auf der Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107<br />

9. Gewerkschaftliche Außenpolitik<br />

zwischen Nation und Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />

Willy Buschak<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong><strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


10. Krisenjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129<br />

Strasser und der ADGB:<br />

Einheitsfront für den wirtschaftlichen Aufbau? . . . . . . . . . . . . . . . . . 131<br />

Verhandlungen zwischen <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> und Strasser? . . . . . . . . . . . . . 137<br />

Gefälschte Protokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143<br />

<strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s eigene Version, oder: Henryk Skrzypczak<br />

macht einen überraschenden Fund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146<br />

Der angebliche Besuch Strassers in der Bundesschule des ADGB . . . 149<br />

Reichskanz<strong>ler</strong> Schleicher, der ADGB und die „Gewerkschaftsfront“ . 151<br />

Der Gereke-Kreis: „Querfront“ im Kleinformat . . . . . . . . . . . . . . . . 156<br />

Was wäre denn passiert, wenn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> über die „Querfront“ – ein Rückblick . . . . . 164<br />

11. Zerschlagung der Gewerkschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167<br />

12. Exil in Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175<br />

13. Im Herz der Finsternis: Rückkehr nach Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 179<br />

Das deutsche Indienbild der 1930er und 1940er Jahre . . . . . . . . . . . 181<br />

Sonderreferat Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183<br />

Im Schatten des Zweiten Weltkrieges: Reise durch Ostasien . . . . . . . 186<br />

Subhas Chandra Bose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189<br />

<strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Arbeit im Auswärtigen Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194<br />

Das moderne Indien – Publikationsreihe des Sonderreferats . . . . . . . 198<br />

Auswirkungen der deutschen Indien-Propaganda . . . . . . . . . . . . . . . 201<br />

14. Widerstand gegen den Nationalsozialismus:<br />

Kreisauer Kreis, Sozialisten und Zwangsarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . 203<br />

15. Wiedergeburt nach Kriegsende: Die Akademie der Arbeit . . . . . . . . 211<br />

16. Der hessische Landtagsabgeordnete <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> . . . . . . . . . . . . . . . 223<br />

„Die unteren Bildungsanstalten dürfen nicht ausgelaugt werden“ –<br />

<strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Engagement für die Volksschule . . . . . . . . . . . . . . . . . 223<br />

„Die Entnazifizierung traf vor allem die Kleinen“ . . . . . . . . . . . . . . . 226<br />

Eine geheime Spionageorganisation in Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . 229<br />

„Allgemeine schallende Heiterkeit“ – <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> als Parlamentarier 231<br />

17. „Wider den Veitstanzkünst<strong>ler</strong> Elvis Presley und den bonnesischen<br />

Faschismus“: die 1950er und 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233<br />

Auswahlbibliografie der Schriften <strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s . . . . . . . . . . . 243<br />

Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247<br />

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265<br />

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267<br />

Willy Buschak<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong><strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


1. Ein Leben vol<strong>ler</strong> Brüche und Wendungen<br />

Aufgewachsen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im südlichen Schwarzwald,<br />

in Vöhrenbach, einer Kleinstadt, wo die Kinder morgens an Kuhfladen vorbei<br />

barfuß zur Schule zottelten, konnte <strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> nur die Volksschule<br />

besuchen. In späteren Jahren dagegen sprach er fließend Englisch und<br />

<strong>Franz</strong>ösisch, übersetzte Bücher aus dem Englischen ins Deutsche, dolmetschte<br />

auf großen, internationalen Kundgebungen, ja, er konnte sogar ganz passabel auf<br />

Hindostani reden. Er hat nie studiert, war aber dennoch in der Zwischenkriegszeit<br />

einer der renommiertesten europäischen Indien-Experten und schrieb eines der<br />

besten Bücher über die Lage der indischen Arbeiterschaft, das je erschienen ist.<br />

Nach dem Abschluss der Volksschule <strong>ler</strong>nte er Schlosser und sein Leben schien von<br />

da ab in festen Bahnen zu verlaufen. <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> hielt sich aber nicht daran. Er<br />

verließ seinen Heimatort, ging auf Wanderschaft ums Mittelmeer und blieb lange<br />

in Paris. Der Erste Weltkrieg, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, wurde für<br />

ihn zur großen Chance. In englischer Kriegsgefangenschaft konnte er sein Englisch<br />

perfektionieren und war im Berlin der 1920er Jahre der einzige Gewerkschaftsangestellte,<br />

der Englisch und <strong>Franz</strong>ösisch gleichermaßen beherrschte. In der zweiten<br />

Hälfte der 1920er Jahre reiste er durch Nordamerika und Indien. Anders als so<br />

viele Europäer hatte er einen vorurteilsfreien Blick. Er sah die Vorzüge der nordamerikanischen<br />

Gesellschaft und er wollte Indien aus sich selbst heraus verstehen.<br />

Sein Weltbild war alles andere als europazentriert. In den späten 1920er Jahren<br />

war <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund der Mann für<br />

besondere Aufgaben. „Lassen wir <strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> machen“, pflegte der Vorstand des<br />

ADGB bei heiklen Dingen zu sagen, etwa wenn es darum ging, Kontakte in die<br />

rechte Szene zu knüpfen. Für die Öffentlichkeit war <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> der Repräsentant<br />

einer neuen Generation im ADGB, der Frontsoldaten, die unkonventionelle<br />

Ideen über die Rolle der Gewerkschaften, über Nation und Sozialismus entwickelten.<br />

Die großen Zeitungen der Weimarer Republik, die „Vossische Zeitung“,<br />

die „Frankfurter Zeitung“, verbanden den Kurswechsel der Gewerkschaften in der<br />

Reparationspolitik gegen Ende der 1920er Jahre mit seinem Namen. 1934 musste<br />

er ins Exil gehen, wurde 1938 aus seinem Exilland Ungarn ausgewiesen und fing<br />

ausgerechnet beim Auswärtigen Amt in Berlin an. Während in Deutschland schon<br />

der Überfall auf die Sowjetunion vorbereitet wurde, Anfang 1941, saß <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

in der Transsibirischen Eisenbahn und rollte durch die Sowjetunion Richtung<br />

Ostasien, auf seiner zweiten großen Orientreise, mitten im Zweiten Weltkrieg,<br />

unterwegs für den deutschen Widerstand, um Kontaktleute in Asien auf dem<br />

Laufenden zu halten.<br />

Sein Leben war spannend, reich an Brüchen, an überraschenden Wendungen,<br />

mit einem Wort: sein Leben ist es wert, erzählt zu werden. Er stammte aus einer<br />

Kleinstadt, deren Gemeinderat seiner Zeit um Lichtjahre voraus war: In der Volksschule<br />

wurde obligatorischer Englisch- und <strong>Franz</strong>ösisch-Unterricht erteilt, und das<br />

im wilhelminischen Deutschland! <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> lebte anderthalb Jahre in Paris, was<br />

Willy Buschak<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong><strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

7<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Ein Leben vol<strong>ler</strong> Brüche und Wendungen<br />

einmal mehr die Bedeutung der ausländischen Arbeiter (unter denen die Deutschen<br />

einen großen Anteil darstellten) für den Aufstieg von Paris zur Weltstadt<br />

unterstreicht, der immer noch nicht ausreichend gewürdigt ist. Die Novemberrevolution<br />

1918/19 erlebte er nur aus der Ferne, er befand sich noch in englischer<br />

Gefangenschaft. Seine Rückkehr nach Deutschland erinnert ein wenig an die<br />

Rückkehr des Simplicius Simplicissimus aus dem Einsied<strong>ler</strong>dasein ins Leben: Viele<br />

Dinge im nachrevolutionären Deutschland kannte <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> nicht und verstieß<br />

immer wieder gegen den Comment, oft bewusst.<br />

Seine Biografie gestattet es, einen neuen und auch überraschenden Blick auf die<br />

Geschichte der Gewerkschaften in der Weimarer Republik zu lenken. <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

war der erste in Deutschland, der sich mit den sozialen Folgen der Globalisierung<br />

befasste, der sehr früh erkannte, welche Verschiebungen der Weltkrieg im<br />

weltwirtschaftlichen Gefüge verursachte und was das für die deutschen Arbeiter<br />

bedeuten sollte. Der junge Mann aus dem Schwarzwald analysierte scharfsichtiger<br />

als alle akademischen Koryphäen den Aufstieg Indiens zur Industriemacht<br />

und schlug die Entwicklung internationa<strong>ler</strong> Sozialstandards vor. Er war der erste<br />

Europäer, der Indien 1926/27 frei von allen orientalistischen Attitüden, die Edward<br />

Said so scharfsichtig beschrieben hat, durchquerte. <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> brachte keinen<br />

„Begriffsfilter für die westliche Sicht des Orients“ mit, sondern versuchte Indien<br />

aus sich selbst heraus zu verstehen. Auch „die Vorstellung einer allen anderen<br />

europäischen Völkern und Kulturen überlegenen europäischen Identität“ machte<br />

sich <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> ganz und gar nicht zu Eigen.1<br />

<strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> hatte weitreichende Verbindungen in die rechte Szene der Weimarer<br />

Republik. Er saß mit „rechten Leuten von Links“ mehr als einmal an einem<br />

Tisch, mit Nationalrevolutionären, die Arbeiter und Nation miteinander versöhnen<br />

wollten, er tummelte sich auf den Veranstaltungen des Vereins für das<br />

Deutschtum im Ausland, er stand mit dem Geopolitiker Haushofer, in dem manche<br />

einen geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus sehen, auf überaus gutem<br />

Fuß und verstand sich gut mit zwei der Rathenau-Attentäter aus der Organisation<br />

Consul. Dies mit Billigung und im Auftrag des ADGB und seines Vorsitzenden,<br />

Theodor Leipart. Ob <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> nun mit Gregor Strasser, dem zweiten Mann der<br />

NSDAP, verhandelt hat (wie der „Vorwärts“ im Juli 1932 behauptete, und mit ihm<br />

sehr viele Historiker) oder nicht, wird da fast zur zweitrangigen Frage. Aber auch<br />

auf diese Frage gibt es hier eine Antwort. <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Biografie zeigt auch, dass<br />

der ADGB lange bevor Kurt von Schleicher Reichskanz<strong>ler</strong> wurde, Kontakte in die<br />

rechte Szene knüpfte. Theodor Leipart hat nicht erst auf Schleichers „Querfront“<br />

und auch nicht auf die Aufforderung Hans Zehrers gewartet.<br />

<strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> zeichnet verantwortlich für einige der unsäglichsten Artikel, die<br />

1933 zur Machtergreifung der NSDAP geschrieben wurden. Hit<strong>ler</strong> bejubelte er als<br />

neuen Bismarck. Seitdem gilt er als „Rechter“ und „Anpasser“. Trotzdem kompromittierte<br />

er sich 1933 nicht und ging 1934 in die ungarische Steppe ins Exil, an<br />

einen wahrlich unwirtlichen Ort. <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Lebenslauf zeigt, dass man kei-<br />

1 Edward W. Said: Orientalismus, Frankfurt am Main 2009, S. 15, 16.<br />

8<br />

Willy Buschak<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong><strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Ein Leben vol<strong>ler</strong> Brüche und Wendungen<br />

neswegs mit den Wölfen heulen musste. Als er nach Deutschland zurückkam,<br />

stand das nationalsozialistische Regime hoch im Zenit seiner Macht. Nichts hätte<br />

näher gelegen, als sich unauffällig einzuordnen und mitzumachen. Genau das tat<br />

<strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> aber nicht. Er suchte und fand sofort Verbindung zum Widerstand.<br />

Vollends unglaublich wird sein Lebenslauf dann 1940. Ein ehemaliger Gewerkschaftsangestellter,<br />

frisch aus dem Exil zurückgekehrt, wird Mitarbeiter des Auswärtigen<br />

Amtes und betreut Subhas Chandra Bose, den ehemaligen Führer der<br />

indischen Kongresspartei, der nach Deutschland geflüchtet ist, weil er glaubt, von<br />

dort aus am Besten für die indische Unabhängigkeit kämpfen zu können. Gleichzeitig<br />

arbeitet <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> Seite an Seite mit Helmuth von Moltke und Adam von<br />

Trott zu Solz am Sturz Hit<strong>ler</strong>s, er wird zu einem wichtigen Bindeglied zwischen<br />

der zivilen und der militärischen Verschwörung gegen Hit<strong>ler</strong>, zwischen den Militärs<br />

und den Sozialisten. Auf abenteuerliche Weise kann er die Verfolgungswelle<br />

nach dem fehlgeschlagenen Attentat vom 20. Juli überleben.<br />

1946 bekommt er seinen Traumjob als Leiter der Akademie der Arbeit in<br />

Frankfurt am Main. <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> gehörte zu den Hörern des ersten Jahrgangs<br />

1921, er verdankte der Akademie viel. Vol<strong>ler</strong> Stolz geht er an den Wiederaufbau<br />

der Arbeiterakademie im zerstörten Frankfurt am Main. Seine Zeit dort wird zum<br />

Albtraum. Er wird regelrecht aus dem Job gemobbt. Seine Partei, die SPD, fängt<br />

ihn auf, er wird Abgeordneter im Hessischen Landtag, engagiert sich mit Feuereifer<br />

für die Volksschule und wird in die Aufdeckung eines großen Spionageskandals<br />

verwickelt, der uns die dunkelsten Seiten der jungen Bundesrepublik zeigt.<br />

<strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> publizierte in den 1950er Jahren ungemein viel, in Rowohlts<br />

renommierter „Deutscher Enzyklopädie“ (rde), arbeitete viel, für den Hessischen<br />

Rundfunk, und einige seiner Beiträge dort sind Muster von Klischees. Die Jugend:<br />

unpolitisch, nur an Comics interessiert. Die Gewerkschaften: früher war alles besser.<br />

Rockmusik: ein einziger Graus. Als „Veitstanzkünst<strong>ler</strong>“ hat er Elvis Presley<br />

mit seiner Musik abgekanzelt. Und dennoch: Sein bei rde publiziertes Bändchen<br />

gehörte zu den meist gelesenen Büchern der 1950er und 60er Jahre über die deutschen<br />

Gewerkschaften, aus <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Feder stammen einige der hellsichtigsten<br />

Kritiken der Adenauer-Jahre. Wie kein Zweiter versucht er in den 1950er Jahren,<br />

den Widerstand des 20. Juli zu verteidigen und vor allem die Erinnerung an die<br />

Rolle der Sozialisten und <strong>Gewerkschafter</strong> hochzuhalten. Etliche seiner Beiträge<br />

sind richtungsweisend. Geradezu gespenstisch aktuell für das beginnende 21. Jahrhundert<br />

ist <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Vorschlag, ein wirtschaftliches Strafgesetzbuch einzuführen,<br />

das der leichtfertigen Spekulation, der parasitären Bereicherung, der Schädigung<br />

des Gemeinwohls Grenzen setzt. Alles in allem: ein spannendes Leben, reich<br />

an Widersprüchen, mit dem sich die Beschäftigung lohnt.<br />

Die Quellenlage zu <strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> erleichtert den Zugang zu seiner<br />

Biografie jedoch nicht. Es gibt einen Nachlass im Archiv der sozialen Demokratie<br />

in Bonn, der aber nur sehr wenige Akten aus der Zeit vor 1933 enthält. Vor 1914<br />

ist man ganz auf <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s eigene Zeugnisse angewiesen: Versatzstücke, die<br />

sich hier und da in seinen Artikeln und Reden finden. Die wenigen Akten aus der<br />

Weimarer Zeit in seinem Nachlass hat <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> sich offensichtlich ausgeliehen,<br />

Willy Buschak<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong><strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

9<br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Ein Leben vol<strong>ler</strong> Brüche und Wendungen<br />

als er an der ÖTV-Geschichte saß, vielleicht beim Berliner Bebel-Institut, wo es<br />

einen Restbestand ADGB-Akten gab, und dann nicht zurückgegeben. Dass der<br />

Aktenbestand vor 1933 so kümmerlich ist, kann man anhand von <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s<br />

Lebensweg noch leicht nachvollziehen, schließlich ist er 1934 ins Exil gegangen.<br />

Was mit seinen Papieren, seinen Büchern, seiner Korrespondenz geschehen ist, ob<br />

er alles einer Vertrauensperson zur Aufbewahrung gegeben, ob er die Unterlagen<br />

vernichtet oder aber, was kaum wahrscheinlich ist, einige Stücke mitgenommen<br />

hat, wissen wir nicht. 1938 ging <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> zurück nach Berlin, aus Gründen der<br />

Vorsicht dürfte er seinen schmalen Briefwechsel mit Fritz Tarnow, Martin Plettl<br />

und anderen nicht mitgenommen haben. 1941 zog er noch einmal in Berlin um,<br />

was immer sich an privater Korrespondenz in seiner Wohnung befand, wird nach<br />

seiner Flucht 1944 verloren gegangen sein und was er an anderer Stelle unterbrachte,<br />

sei es vor seinem Exil 1934, sei es vor seiner Flucht 1944, ist mit hoher<br />

Wahrscheinlichkeit im Bombenkrieg verbrannt.<br />

Eher enttäuschend ist der Aktenbestand aber auch für die Zeit nach 1945.<br />

Der Nachlass <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s gibt den Eindruck einer Person, die sorgsam darauf<br />

bedacht war, nichts wegzuwerfen, das irgendeinen historischen Wert haben<br />

könnte. Dutzende von Vortragsmanuskripten haben sich erhalten, zum Teil noch<br />

mit seinen Marginalien versehen. Der Nachlass birgt das komplette Manuskript<br />

seiner ÖTV-Geschichte und seines bei Rowohlt veröffentlichten Buches über die<br />

Gewerkschaften. Er enthält eine Durchschrift von <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Manuskript über<br />

das Ende der deutschen Gewerkschaften 1933. Es finden sich alle <strong>Verlag</strong>sverträge.<br />

Aber es gibt fast nichts an Briefwechsel, keine Schriftstücke über <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s<br />

Zeit als Leiter der Akademie der Arbeit, nichts zu seiner Zeit als Mitglied des Hessischen<br />

Staatsgerichtshofes. Auch die vier Jahre als Abgeordneter des Hessischen<br />

Landtages spiegeln sich im Nachlass nicht wider. Jemand, der akribisch noch das<br />

kleinste Zettelchen aufbewahrt, auf dem er sich seine Gedanken zur Rundfunkvorträgen<br />

notierte, wirft seine Privatkorrespondenz nicht weg und wird sich auch<br />

nicht von den Akten trennen, die über seine Tätigkeit als Leiter der Akademie<br />

der Arbeit Auskunft geben. Der Nachlass muss vor Abgabe an das DGB-Archiv<br />

gesäubert worden sein. Von wem, und vor allem, wo die aussortierten Stücke abgeblieben<br />

sind, ließ sich leider nicht mehr herausbekommen. Nachfragen bei Klaus<br />

Mertsching, dem heutigen, und bei Dieter Schuster, dem seinerzeitigen Leiter des<br />

DGB-Archivs, führten zu keinem Ergebnis.<br />

Das jüngst von Ilse Fischer veröffentlichte Tagebuch Lothar Erdmanns gibt<br />

immerhin einigen Aufschluss über <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s erste Jahre beim ADGB. Mit<br />

den Restakten des ADGB, teilweise veröffentlicht in der Reihe „Quellen zur<br />

Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert“, lässt sich<br />

das Puzzle weiter ergänzen: <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Beziehungen zum VDA, die Diskussion<br />

um den Youngplan und die Reparationen, <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> im letzten Jahr der<br />

Weimarer Republik, 1932. In der Historischen Einwohnerkartei Berlins ließ sich<br />

die erste Anschrift der <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s ermitteln. Das Berliner Adressbuch war ein<br />

unverzichtbares Hilfsmittel, um <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Umfeld in Berlin näher zu kommen.<br />

Die Durchsicht der Presse war, wie immer in solchen Fällen, so unverzicht-<br />

Willy Buschak<br />

10<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong><strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

© <strong>Klartext</strong> <strong>Verlag</strong> 2010


Ein Leben vol<strong>ler</strong> Brüche und Wendungen<br />

bar wie mühselig. Das gilt für die beiden Zeitschriften des ADGB, die „Gewerkschaftszeitung“<br />

und die „Arbeit“, für das „Gewerkschaftsarchiv“, mehr noch für<br />

den „Vorwärts“, die Regionalzeitungen der SPD, vor allem für die großen Blätter<br />

der Weimarer Republik, die kommunistischen Zeitungen und die weit verzweigte<br />

Presse des VDA.<br />

Über <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Exil gibt es nur sehr spärliche Quellen: ein paar Briefe an<br />

Martin Plettl in den USA, die sich im Nachlass Plettls im Archiv der sozialen<br />

Demokratie erhalten haben, mehr nicht. Etwas reichlicher fließen die Quellen<br />

dann wieder für die sechs Jahre in Berlin, 1938 bis 1944. Im Politischen Archiv<br />

des Auswärtigen Amtes liegt noch <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Personalakte, die umfangreichen<br />

Akten des Sonderreferrats Indien gestatten es, ein gutes Bild von <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s<br />

Arbeit im Auswärtigen Amt zu gewinnen. Helmuth von Moltkes Briefe an seine<br />

Frau Freya belegen <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Kontakte zu Kreisau, über dessen weitere Arbeit<br />

im Widerstand sind wir aber, außer durch die Literatur über Adam von Trott zu<br />

Solz, nur durch <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s eigene Zeugnisse unterrichtet. Viele Fragen müssen<br />

notgedrungen offen bleiben.<br />

Das DGB-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, hat zwei Bestände,<br />

mit denen sich die komplizierte Geschichte von <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Zeit als Leiter der<br />

Akademie der Arbeit aufhellen ließ: den Bestand der Abteilung Bildung des DGB<br />

und den Nachlass von Georg Reuter. Der Bestand zum Hessischen Staatsgerichtshof<br />

im Hessischen Staatsarchiv, Wiesbaden, enthält leider nichts Relevantes über<br />

<strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>. Das Archiv des Hessischen Landtages dagegen hat noch die Unterlagen<br />

des Kulturausschusses. Die Landtagsprotokolle selbst sind in vorbildlicher<br />

Weise per Internet zugänglich. <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong>s Nachlass selbst steuert eine Vielzahl<br />

von Redemanuskripten bei – da <strong>Furt</strong> <strong>wäng</strong> <strong>ler</strong> es liebte, sich in historischen<br />

Assoziationen zu verlieren, findet man ganz unerwartet dann doch noch ein paar<br />

Details, etwa über seine Zeit in Paris, das Schützengrabenleben im Ersten Weltkrieg<br />

oder das Exil in Ungarn.<br />

Willy Buschak<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Furt</strong><strong>wäng</strong><strong>ler</strong><br />

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