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M . Audeoud, P. <strong>Lienhard</strong>»Aufwändig, aber gelingend!« – Alltagsstrategien HörgeschädigterAbb. 1: Selbstdeklariertes berufliches und soziale Integrationsempfinden hörgeschädigterjunger Erwachsener in der Deutschschweiz. Die grösste und gewichtigste Gruppe ist diejenige,die sich sowohl als sozial als auch als beruflich gut integriert einschätzt. Die meisten Betroffenen fühlen sich zwar integriert, können die Herausforderungenan ihr Alltagsleben also weitgehend in einem sinnhaften Gleichgewicht behalten.Dies aber meist nur, weil sie einen mehr oder weniger großen Aufwandleisten, um integriert zu werden oder zu bleiben und ihr Wohlbefinden zu erhalten.Man kann also sagen, dass sie im Sinne unserer Integrationsdefinition alssehr dynamisch gelten – eventuell schon fast zu dynamisch. Aus den Erzählungen und Angaben der Befragten konnten vier verschiedene Gruppenherausgearbeitet werden – Gruppen, die sich durch bestimmte Haltungen undAlltagsstrategien unterscheiden. Diese Typisierung ist für unsere weiteren Überlegungensinnvoll, auch wenn sie die Alltagsrealität verkürzt darstellt (Abbildung 1) 1 .In diesen vier Gruppen wird unterschiedlich mit Alltagshürden umgegangen. Essind verschiedene Bandbreiten von Alltagsstrategien feststellbar » ebenso verschiedenegrundlegende Haltungen, die zeigen, wie ein Mehraufwand gewertet wird.1Zur Erläuterung des Begriffs »sinnig unangepasst« im rechten unteren Quadranten: DiesePersonen in dieser Gruppe fordern sehr viel Anpassung von den Hörenden an die Hörgeschädigtenund finden, dass es sinnvoll ist, dies zu fordern. Damit machen sie sich oft unbeliebt, dennsie passen sich – aus der Sicht der Hörenden – nicht genügend an; sie sind unangepasst, weilsie gelingende Kommunikation fordern. Dies wird als »sinnig unangepasst« gesehen.249


M. Hintermair und C. Tsirigotis (Hrsg.)Empowerment und Ressourcenorientierung Aspekte wie Kommunikationsgelingen (verstehen und verstanden werden), allgemeineLebensorientierung (Haltungen, Persönlichkeit, Erfahrungswelten etc.) undIntegrationsleistung der hörenden Umwelt beeinflussen das Wohlbefinden. Wenndieses Wohlbefinden gestört wird, kann Stress entstehen – vorübergehend oderandauernd.StressStress – ein Begriff, der häufig und unterschiedlich verwendet wird und entsprechenddefinitorisch eingegrenzt werden muss. In unserem Verständnis wird Stressals ein Spannungszustand gesehen, bei dem ein normales Gleichgewicht zwischen– persönlicher oder von außen gestellter – Anforderung und Können nicht mehr gegebenist. Es muss eine vorübergehende innere Adaptionsleistung (Anpassung andie hörende Mehrheit) erbracht werden, damit wieder ein überdauerndes Gleichgewichtund Wohlbefinden herrschen. Wir nehmen damit eine transaktionale Perspektiveein: Person und Umwelt stehen in gegenseitiger Beeinflussung.Ebenso besteht eine gegenseitige Beeinflussung zwischen Seele und Körper. Zusammenhängezwischen Alltagsbelastungen und Gesundheitsproblemen (Herzkrankheitenetc.) können als erwiesen gelten. Je häufiger und intensiver Alltagsbelastungensind, desto schlechter ist die körperliche und mentale Gesundheit der Menschen.Dagegen wird festgestellt, dass mit abnehmenden Alltagsproblemen das Wohlbefindenwieder zunimmt (Chamberlain & Zika 1990).Hörgeschädigtenspezifischer StressForschungsresultate zeigen, dass wahrgenommener Stress bei Menschen, die benachteiligtenGruppen angehören, signifikant höher ist als bei der allgemeinen Bevölkerung:Menschen mit einem »tieferen sozioökonomischen Status [oder] Erwerbsloseund Behinderte, jene in Beschäftigungen mit relativ tiefem Status- oder Kontrollniveau,diejenigen die geschieden, getrennt oder nicht verheiratet sind, ethnischeMinderheiten, Frauen und Jugendliche« 2 (Cohen & Williamson 1988, zitiert inJones et al. 2006, S. 26). Sie leben täglich in Auseinandersetzung mit einer eventuelldiskriminierenden Umwelt, da sie sich ihr anpassen müssen. Diese Gruppen sinddurch ihre Situation gezwungen, eine erhöhte Adaptationsleistung zu erbringen, umökonomisch und sozial in ausreichendem Maß partizipieren zu können. Die Fragestellt sich nun, ob und inwieweit Hörgeschädigte zu dieser Gruppe zu zählen sind,also hörgeschädigtenspezifischen Stress haben.Bis jetzt ist in der hörgeschädigtenspezifischen Literatur das Thema Stress nichtbreit diskutiert worden. Ist deshalb davon auszugehen, dass die meisten Hörgeschädigteneine ähnliche Intensität und Bandbreite an Stressoren wahrnehmen wie Hörende?Jones, Ouellette und Kang (2006) bemerken, dass etliche hochgradig Hörgeschädigtemehr Stress haben als Hörende: »Einige mögen zusätzlichen Stress erfahrenim Zusammenhang mit Faktoren wie Unterbeschäftigung oder Erwerbslosig-2Original: Persons »with relatively low socioeconomic status ..., the unemployed and disabled,those in occupations with relatively low degrees of status and control, those who are divorced,separated, or never married, racial and ethnic minorities, females, and the young«.250


M . Audeoud, P. <strong>Lienhard</strong>»Aufwändig, aber gelingend!« – Alltagsstrategien Hörgeschädigterkeit, Schwierigkeiten in täglichen Interaktionen mit Hörenden in unzugänglichenSettings« 3 (S. 26). Gehörlosenspezifische Alltagshürden wie nicht gelingende Kommunikationund bestehende Barrieren bezüglich Zugang zu Informationen (öffentlicheVerkehrsmittel, Politik, Bildung 4 ) werden hier angesprochen, jedoch nicht genauercharakterisiert. Welche Alltagshürden diese Zugangsprobleme bewirken, wirdnicht erläutert. Hier besteht eine Lücke in der hörgeschädigtenspezifischen Literatur.Wichtig für die pädagogische Praxis aber ist ein Wissen um die Stress verursachendenSituationen. Mit unserer Studie haben wir damit begonnen, Alltagshürdenfestzuhalten, die als stressauslösende Situationen zu kategorisieren sind. Hierbeisind die oben genannten Probleme von Erwerbslosigkeit nicht erwähnt, sondern eherdie Schwierigkeiten in täglicher Interaktion und mangelndem Zugang. So entstehendurch Informationsmangel oder Missverständnis – in der Mehrzahl durch die UnwissenheitHörender – unsichere Situationen. Sogar bei richtigem Verstehen ist nie einetotale Kontrolle möglich, da immer die Frage bleibt: »Hab ich das wohl richtig verstanden?«.Unsichere Situationen werden dadurch verstärkt, dass unklar ist, wie vielvon wem gefordert werden darf oder kann.Das Nicht-Hören-Können wird von den Betroffenen nicht direkt als Alltagshürdebezeichnet. Vermutlich liegt dies daran, dass viele Betroffene hörgeschädigt geborenoder sehr früh ertaubt sind.Es werden eher Sekundärfolgen beschrieben: Kontaktschwierigkeiten, Sich-Erklären-Müssen(»outen«), Kommunikation gelingend aufbauen und beibehalten. Diegrundlegende Problematik ist Verstehen und Verstanden-Werden und, dass die Hörbehinderungan sich nicht klar einschätzbar ist: Gleichzeitiges Aufnehmen und Verarbeiten von Informationen (bei Gesprächenmit mehr als zwei Personen, eventuellen Störgeräuschen und störenden Lichtquellen,richtigem Zusammensetzen von Informationsbruchstücken etc.) kannein Sich-Eingeben erschweren. Ein weiteres Gefühl, das immer wieder beschriebenwird, ist das »Hinterherhinken«: Da Nebeninformationen aus informellen Gesprächen,den Medien oder auch verpasstes Allgemeinwissen und fehlende Bildungsinhaltenicht als Informationsgrundlagen bestehen, können Verstehenslückenoft nicht gefüllt werden. Durch die Unsichtbarkeit der Behinderung ist ein richtiges Einschätzen auf Seitender Hörenden schwer möglich. Je besser die Sprechkompetenzen der Hörgeschädigten,desto schwieriger die Akzeptanz Hörender, dass wirklich eine Kommunikationsbehinderungbesteht. Zudem wird durch das Unsichtbare oft die Behinderungwieder vergessen.3Original: »Some may experience additional stress related to such factors as underemploymentor unemployment, difficulties in daily interactions with hearing people in settings that are notaccessible«.4Tatsächlich haben Gehörlose durch eventuell nicht gleichberechtigten Bildungszugang das Problemder Erwerbslosigkeit (eher bei Gehörlosen mit tiefem Bildungsabschluss) oder Unterbeschäftigung(bei Gehörlosen mit höherem Bildungsniveau), bestätigt durch Long (1992) undSchirmer (2001) für die amerikanische Situation.251


M. Hintermair und C. Tsirigotis (Hrsg.)Empowerment und RessourcenorientierungHörgeschädigtenspezifischer Stress wird von uns als etwas gesehen, das zusätzlichzum »normalen« Alltagsstress (Nicht-Hörgeschädigter) besteht und als andauernderStress bezeichnet werden könnte, der primär mit dem Erlangen und Austauschvon Informationen im Zusammenhang steht. Der gewichtigste Stressor ist dieGleichzeitigkeit. Einzeln auftretende Stressoren können meist »gemanaged« undkompensiert werden; durch das gleichzeitige Auftreten verschiedener Stressorenkommt es zu erhöhter Anstrengung (Mehraufwand), es kann zu einem Spannungszustandkommen – und in der Folge möglicherweise zu einer Stresssituation.Es ist eine Frage der Bewertung dieses Mehraufwands. Drei Typen der Bewertungvon sich wiederholenden Alltagshürden sind wie folgt auszumachen (Audeoud & <strong>Lienhard</strong>2006): Es gibt keinen Mehraufwand im Alltag. Dieser wird verneint: »Aufwand, nein, daswürde ich jetzt nicht sagen« (S. 76). Es gibt einen Mehraufwand, der jedoch nicht als solcher gewertet wird, weil er zurGewohnheit, zur zweiten Natur, geworden ist: »Also [ich] habe eigentlich immermehr gemacht als andere, aber das war mir zur zweiten Natur geworden und[dann] habe ich das intuitiv gemacht, ... mittlerweile ist das kein Aufwand mehr,ich habe mich total daran gewöhnt« (a.a.O., S. 76). Es gibt einen klaren Mehraufwand, der sich in erhöhter Anstrengung zeigt. Derwird bewusst genannt: »Bestimmte Hörende sehen mich immer noch mit demDefizit, und um dieses Defizit auszugleichen, muss ich mehr leisten, mehr Aufwandbetreiben, das sage ich auch anderen Gehörlosen immer, ›wenn du hochkommen willst und zeigen willst was, du kannst, musst du einfach mehr Aufwandleisten‹, ... 150 Prozent Aufwand« (a.a.O., S. 76).Es ist eine Frage der Bewertung der anstehenden Anforderungen und der vorhandenen,bewussten Ressourcen, der Art und Weise, wie damit fertig zu werden ist.Alltagsstrategien und CopingEin Alltag ganz ohne Stress ist kaum denkbar: Alltagsstress gehört zum Leben.Jeder Mensch ist täglich mit mehr oder weniger Adaptation an die Umwelt konfrontiert.Doch wie kann damit umgegangen werden, wie kann immer wieder ein inneresGleichgewicht hergestellt werden, damit kein andauernder Spannungszustand entsteht?Der englische Begriff »coping« 5 bezieht sich auf den Prozess, mit den inneren undäußeren Anforderungen umzugehen, die als einschränkend oder überfordernd empfundenwerden. Lazarus und Folkman (1984) beschreiben in ihrem transaktionalenStressmodell, wie Stresssituationen kognitiv bewertet werden. Eine Situation wird ineiner primären Bewertung auf ihre mögliche Bedrohung untersucht, ob die SituationStress oder gar Angst auslöst oder ob sie keine Relevanz hat. Je nach Anforderungkann die Situation auch als Herausforderung gewertet werden.5Im Deutschen: zurechtkommen, fertig werden mit etwas.252


M . Audeoud, P. <strong>Lienhard</strong>»Aufwändig, aber gelingend!« – Alltagsstrategien HörgeschädigterIst die Situation Stress auslösend – es gibt also einen Stressor – werden in einersekundären Bewertung die zur Verfügung stehenden persönlichen und sozialen Ressourcenund Handlungsweisen oder Strategien ausgelotet. Es ist in dieser Phasewichtig abzuschätzen, welche Ressourcen aufzurufen sind: eigene Fähigkeiten nutzen(planvolle Lösung, positive Neubewertung, Selbstbeherrschung, Verantwortungübernehmen, Konfrontation, Distanzierung, Flucht oder Vermeidung) oder die Suchenach sozialer Unterstützung.Die Wahl der Copingstrategie ist abhängig von der Kontrollierbarkeit des Stressors.Ist kein wirklicher »Übeltäter« auszumachen und ist der Stressor nicht wirklichkontrollierbar, wird emotionsfokussiert vorgegangen: Das Unbehagen wird reduziert,indem eigene Gefühle und Gedanken verändert werden. Das Resultat ist oft eineNeubewertung der Situation. Wenn der Stressor veränderbar ist durch direkte Handlung,eventuell sogar in der Situation selbst, dann spricht man von problemfokussiertemCoping. Damit es gar nicht erst zu einem Spannungszustand kommt, kann präventivantizipatorisches Coping eingesetzt werden.Je mehr verschiedene Strategien zur Verfügung stehen, desto besser gelingen dasLösen des Spannungszustandes und ein Wiederherstellen von Wohlbefinden (Taylor& Clark 1986). Schon das Wissen, dass man eine Vielzahl von Copingstrategien hat,kann dazu beitragen, die tatsächliche Fähigkeit zu erhöhen, der Adaptation zu genügen(Bandura 1986).Es kann davon ausgegangen werden, dass Alltagsstrategien Hörgeschädigter gleichsystematisiert werden können wie die Hörender.Etwas Hörgeschädigtenspezifisches kann in der Zugehörigkeit zu verschiedenen»Welten« Hörgeschädigter bestehen. Diese »Welten« verkörpern verschiedene Haltungenund diese können den Alltag mit beeinflussen.Zugehörigkeit als beeinflussender Faktorfür gelingendes CopingIn einer Studie von Jambor und Elliott (2005) werden u. a. Strategien respektivedas Selbstkonzept gehörloser Studierender erfragt. Darin belegen die Autoren, dassdie identitätsstiftende Zugehörigkeit zu einer Minorität, hier also Gehörlosengemeinschaft,den Abbau von Stress ermöglicht: Die Betroffenen sind dort geschützt vornegativen Haltungen der hörenden Gesellschaft, können Auftanken und die »täglichenRückschläge, das Misslingen und die Zurückweisungen« 6 (Jambor & Elliott 2005,S. 63) besser kompensieren. Die Zugehörigkeit wäre also eine positive Grundhaltunggegenüber der eigenen Hörschädigung. Die Strategie wäre dann in der Zugriffsmöglichkeitauf soziale Ressourcen in der Gehörlosengemeinschaft zu sehen. Dieim vorhergehenden Kapitel erwähnte Zugehörigkeit zu einer Minderheit scheint zwarein Mehr an Stress zu bedeuten, jedoch gleichzeitig auch ein Mehr an sozialen Ressourcen.6Original: »daily setbacks, failure, and rejections«.253


M. Hintermair und C. Tsirigotis (Hrsg.)Empowerment und RessourcenorientierungDie Autoren bestätigen, dass Gehörlosen mit einer gehörlosenkulturellen oder bikulturellenIdentität das Coping besser gelingt als jenen, die sich der Gemeinschaftnicht zugehörig fühlen.Von Leigh und Pollard (2003, zitiert in Jones et al. 2006) wird zudem bestätigt,»dass Gehörlose mit einer marginalen Identität (definiert als weder zugehörig fühlendzu Hörgeschädigten noch zu Hörenden) mehr Schwierigkeiten mit Adaptation[haben]« 7 (S. 26). Drei Gruppen werden in der Studie von Jambor und Elliott herausgearbeitet,deren Mitglieder folgende Copingstrategien anwenden: jene, die sich in die Gemeinschaft zurückziehen und auftanken können (»withdrawal«), jene, die ihre Hörbehinderung verstecken (»covering«), wo die Gefahr des Auffliegensselbst schon einen Stressor darstellt, die bikulturelle Gruppe (»Deaf individuals who develop bicultural skills«), die inbeiden Kulturen funktionieren.Hierbei wird jedoch ein deutlich anderer Coping-Begriff verwendet, der eher imBereich der grundlegenden Haltung (Zugehörigkeit, Identität) zu verorten ist, dieohne Zweifel den Copingprozess beeinflussen.Eine schwerhörige junge Frau erzählt von der Erholungsmöglichkeit in der »eigenenWelt«: »Auch mit meinen hörgeschädigten Freunden, dann kann ich über meinenAlltag reden, kann über meine Probleme reden, nachher kommen sie [und sagen],›ja, das hatte ich auch‹ und dann ›ah! Ich war nicht die Einzige‹. ... und danntanke ich auch wieder ein bisschen Kraft, indem dass sie mir eben Tipps geben. Undäh, Kraft tanken kann ich auch, indem dass ich an diese Schule [Berufsschule fürHörgeschädigte] gehen kann, einmal in der Woche einfach weg von ... der normalenWelt, also von den Hörenden, und in meine Welt quasi zu gehen« (unveröffentlichtesOriginalzitat 8 ).Diese klare Verortung ist jedoch nur dann möglich, wenn von einer gefestigtenKultur gesprochen werden kann und eine Abgrenzung zur dominanten hörenden Gesellschaftim Wertesystem definiert ist. Von dieser Rückzugs- und Rückversicherungsmöglichkeitder Gemeinschaft sprechen einige der befragten Schwerhörigenauch, aber mit der Bemerkung, dass es keine wirkliche »Schwerhörigenwelt« gibt:»Also es gibt dann irgendwie schon eine dritte Welt, eine schwerhörige, aber diebesteht nicht wirklich, die ist nicht so groß wie die Gehörlosenwelt, ... also die Schwerhörigenkulturmüsste man aufbauen. Also langsam ist man ein bisschen dabei, langsamgibt es mehr Schwerhörigenvereine, auch Jugendschwerhörigenvereine, alsoauch für Junge, die sich engagieren, aber so wirklich eine Welt gibt es nicht« (unveröffentlichtesOriginalzitat). Die Situation der Schwerhörigen ist leider in diesem Gebietvon der Forschung vernachlässigt.7Original: »... that Deaf adults with a marginal identity (defined as unaffiliated with either deaf orhearing people) have more difficulty with adaptation«.8Im Folgenden werden alle im Kontext der von uns durchgeführten Studie gewonnenen Aussagen,die bislang noch nicht publiziert wurden, mit »unveröffentlichtes Originalzitat« gekennzeichnet.254


M . Audeoud, P. <strong>Lienhard</strong>»Aufwändig, aber gelingend!« – Alltagsstrategien HörgeschädigterBeispiele von Alltagsstrategien HörgeschädigterIm Rahmen unseres Forschungsprojektes ist eine erstaunliche Vielzahl an verschiedenenStrategien entdeckt worden. Genau wie bei Hörenden sind auch bei Hörgeschädigtenprimäre und sekundäre Bewertungsmuster auszumachen. Ebenso sindproblem- und emotionsfokussierte Strategien zu erkennen. Es soll ein kleiner Einblickgegeben werden in die positiven Beispiele.Es wurde uns oft erzählt, dass das »Sich-›outen‹-Müssen« eine Stresssituationdarstellt.Dabei wird von Betroffenen abgewogen, wie wichtig das »Outen« für das Gegenüberin der spezifischen Situation ist. Eine junge Frau erzählt eine Gegebenheit, diesie gestresst hat: »Gerade heute – peinlich! – gab es eine Situation, wo ich es erklärthabe. Ich musste Geld abheben und es waren zwei Bankomaten nebeneinander undneben mir war schon jemand und ich habe Geld abgehoben und war konzentriert. Eswar gerade an der Straße und ich habe nur den Straßenlärm gehört und dann habeich gemerkt, wie dieser Mann mich angeschaut hat, dann habe ich ihn dann gefragt,und er hat mich völlig komisch betrachtet, dann habe ich ihn gefragt, ob er irgendwasgesagt hatte. Da hat er gesagt ›ja‹, und dann habe ich ihm gesagt: ›Es tut mir leid, ichhöre nicht, können sie es bitte wiederholen?‹ und dann hat er auf Hochdeutsch dannwiederholt, er wollte nur wissen, ob man an meinem Automaten Euro beziehen kann,weil es am anderen nur Schweizerfranken gab. Und ich habe es nicht gehört« (unveröffentlichtesOriginalzitat). Hierbei wird deutlich, dass sich die junge Frau in einerSituation befand, die Stress auslöst: Es gibt störenden Hintergrundlärm, sie ist konzentriertauf die eigentliche Aufgabe mit dem Bankomat, sie bemerkt, dass sie eineInformation (Ansprechen des Mannes) verpasst hat. Dass sie diese Situation als»peinlich« empfunden hat und dies eingangs erklärt, kann als eine primäre Bewertunggesehen werden. Die Peinlichkeit ist Anlass für eine sekundäre Bewertung, indiesem Falle für eine »Outing«-Strategie.Es wird aber auch gefragt, »wie wichtig [die Person] ist und welche Bedeutung siefür mich hat, wenn ich spüre, da kommt etwas heraus aus dem Kontakt, das bringtetwas, dann lohnt es sich es zu erklären und zu sagen und ich spüre dann, wenn eineInteraktion kommt, ›ja, da läuft etwas zwischen ihm und mir‹. Wenn ich aber spüre,da kommt jetzt die alte Leier, ich erkläre und dann bringt es nichts, dann denke ich,›ach komm, der soll jemand anderen fragen‹ ... und dann lass ich es stehen« (unveröffentlichtesOriginalzitat). Dieses eine Beispiel zeigt die antizipatorische Bewertungeiner möglichen Situation. Die Haltung, dass man selbst die Situation beeinflussenkann, spielt hierbei eine wichtige Rolle. Schwierige Situationen wie Sitzungen mitmehreren Sprechern werden im Vornherein so organisiert, dass Hörbehinderte aufder sicheren Seite sind und es weniger zu Stresssituationen kommt: »Und ich schaueauch schon, wenn ich hinein komme, wo ich sitze ..., dass ich ein bisschen vorhergehe und dort schon meine Sachen platziere und so reserviere, dass ich auf jedenFall alle Leute sehe« (Audeoud & <strong>Lienhard</strong> 2006, S. 109). Einige lassen sich vorherInformationen geben und setzen technische Unterstützung ein (Mikrolink, etc.).Problemfokussierte Strategien sind sehr viel einfacher zu erheben als emotionsfokussierte.Dies liegt an der Offensichtlichkeit des Stressors und der daraus folgenden255


M. Hintermair und C. Tsirigotis (Hrsg.)Problemfokussierte Strategien Wenn möglich, Einzelgespräche suchen;als Informant/Partner jemandenaussuchen, den man versteht; Gegenüberaufklären; andere für sich gewinnenoder betroffen machen; hörgeschädigtengerechteKommunikationsregelnfordern; sich für eigene Rechtezur Wehr setzen. Technik gewählt einsetzen, SMS stattTelefon; am richtigen Ort sitzen. Visuellen Kanal zusätzlich benutzen,Lippenlesen, mehrere Modi benutzen;»puzzeln« (schnelle Kombinationsgabeeinsetzen); Hörgerät abschalten,wenn es zu laut ist; Störendes eliminieren. Mehrmals nachfragen, wenn es Unklarheitengibt; Informationen selbstaneignen oder bei anderen holen. Sich in anstrengenden Gesprächenaus- und wieder einklinken (Erholungssettingsschaffen). Etwas bieten, was andere nicht haben;ebenbürtig machen (Lärm / Schnelligkeit).Empowerment und RessourcenorientierungEmotionsfokussierte Strategien Situation annehmen. Erst mal abwarten und tief durchatmen,sich selbst Mut machen. Mit Gelassenheit oder mit Humor reagieren,offen und locker sein. Etwas auch mal gut sein lassen; sichsagen, war nicht so wichtig oder dassHörende es nicht besser wissen können;sich auch mal sagen, dass esnicht mehr das eigene Problem ist. Sich auf das konzentrieren, was manhat und kann.Tab. 1: Problemfokussierte und emotionsfokussierte Strategien HörgeschädigterMöglichkeit, damit fertig zu werden. Diese können deshalb auch leichter erzählt werden.Folgende Aufzählung gibt einen Überblick über die Breite der Palette (Tabelle 1):Vor allem bei emotionsfokussierten Strategien wird sichtbar, dass sie denen Hörenderwohl ähneln. Bei den problemfokussierten Strategien wird das Hörgeschädigtenspezifischeschon eher sichtbar (technische Hilfsmittel, Kompensation der Behinderungetc.).Besonders interessant sind institutionalisierte gehörlosenkulturelle Angebote zu gehörlosengerechterEntspannung (Freimuth 2003), die jedoch noch wenig bekanntsind.Wichtige Wahrnehmungsraster für die PraxisDie Erzählungen der Betroffenen 9 zeichnen ein erstaunlich positives Bild ihres nichteinfachen Alltagslebens – mit wenigen Ausnahmen. Wie kann diese positive Bewer-9Uns ist bewusst, dass bisher die positiven »Fälle« aufgezeigt wurden. Trotzdem ist auch diesepositive Haltung real.256


M . Audeoud, P. <strong>Lienhard</strong>»Aufwändig, aber gelingend!« – Alltagsstrategien Hörgeschädigtertung verstanden werden? Wie bleibt man relativ zufrieden und integriert, wenn dochtäglich Hürden verarbeitet oder überwunden werden müssen? Wie kann das in derhörgeschädigtenpädagogischen Praxis angegangen werden?Nebst der Kategorisierung von Strategien, die den Betroffenen helfen, ihren Alltagzu handhaben, soll nun versucht werden zu ergründen, wie wichtig die Haltung ist,wie wichtig die Wahrnehmung des Alltags ist – das scheint uns der springende Punktzu sein, um auch in der pädagogischen Praxis ressourcenorientierte Arbeit leisten zukönnen. Wir versuchen dies mit einem Beurteilungs- und Wahrnehmungsraster, dasdie Welt in einem salutogenetischen Licht sieht. Das von Antonovsky definierte Kohärenzgefühlals salutogenetischer Faktor gegen potentiell befindlichkeitsschädigendeStressoren lässt dies gut erklären, auch für die Situation Hörgeschädigter.Das Kohärenzgefühl wird definiert als »eine globale Orientierung, die ausdrückt, inwelchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamischesGefühl des Vertrauens hat« (Antonovsky 1997, S. 36). Es ist ein Zusammenspielvon drei Komponenten: Sinnhaftigkeit oder Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit undHandhabbarkeit. Antonovsky sagt selbst, »erfolgreiches Coping hängt vom Kohärenzgefühlals Ganzem ab« (a.a.O., S. 38). So werden nun folgend die Komponentenim Zusammenhang mit hörgeschädigtenspezifischem »Coping« erläutert.Sinnhaftigkeit der HörbehinderungBedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit werden als die grundlegende Haltung oder Motivationdefiniert, die das Leben und das eigene Tun als sinnvoll betrachtet: »DieAufgaben sind es wert, dass man Energie in ihre Lösungen investiert« (Bengel et al.2001, S. 143). Die Bedeutsamkeit einzelner Bereiche im Leben werden so gesehen,»dass wenigstens einige der vom Leben gestellten Probleme und Anforderungen eswert sind, dass man Energie in sie investiert, dass man sich für sie einsetzt und sichihnen verpflichtet, dass sie eher willkommene Herausforderungen sind als Lasten,die man gerne los wäre« (Antonovsky 1997, S. 35 f.).Eine Gruppe der Befragten zeigt sich »positiv, lebensbejahend, zuversichtlich, sinnhaft,offen, eher selbstbewusst, aktiv, Herausforderungen annehmend« (Audeoud &<strong>Lienhard</strong> 2006, S. 73). Vor allem ist interessant, dass einige ihre Hörbehinderung alsso positiv werten, dass sie daraus Energie schöpfen oder die Hörbehinderung alsetwas werten, das zu ihnen gehört und das sie nicht missen möchten (im Folgendenalles unveröffentlichte Originalzitate):»Manchmal braucht es mega viel Mut, zum Beispiel an einer Veranstaltung, woviele Leute sind, dann musst du als einzige schwerhörige Person sagen: ›Sie, ichhöre nicht so gut, könnten Sie alles aufschreiben‹ oder so. Aber das macht michirgendwie, das macht mein Selbstbewusstsein dann auch wieder stärker«.Der Mehraufwand (mutiges »Outen«) ist es Wert, so dass die Fraue ein Mehr anSelbstbewusstsein gewinnt; dieses Mehr würde sie nicht erlangen, hätte sie keineHörbehinderung.257


M. Hintermair und C. Tsirigotis (Hrsg.)Empowerment und Ressourcenorientierung»Klar, es gibt so immer wieder Situationen, in denen man benachteiligt ist, abereben, ich schaue einfach immer, ... in dem Negativen etwas Positives zu suchen, dasgibt mir Kraft und Selbstbewusstsein, ›ich hab es geschafft!‹«.»Also von dem her finde ich nicht, dass wir so einen großen Nachteil haben, weileben zum Beispiel, in der Nacht, da können wir die Hörgeräte abstellen und wir hörennichts! Die Hörenden hören Blitz, Donner, von dem höre ich nichts, das ist für michauch wieder ein Vorteil, ich habe eine ruhige Nacht. Und wenn ich Prüfungen machenmuss, dann kann ich das Hörgerät abstellen, im Zug, wenn ich lesen will, Hörgerätabstellen, ... es hat überall, es hat mega viel Vorteile«.»Also nur in der hörenden Welt könnte ich mir gar nicht vorstellen. Ich brauche, wiesagt man, eine Krafttankung mal bei den Schwerhörigen. Und das ist das ist sowertvoll für mein Leben, also ohne die möchte ich gar nicht mehr sein«.»Ich denke auch immer, wenn ich nicht schwerhörig wäre, würde ich all die vielenLeute, welche ich kenne, nicht kennen«.»Zum Beispiel jetzt bei einem Hörenden, wenn du ihn kennen lernst, in einer halbenStunde weißt du vielleicht mal, was er gemacht hat, was er jetzt macht, und wie er ist,und bei einem Schwerhörigen weißt du nachher das ganze Leben, und das finde ichmegaschön, oder, das berührt einen nachher auch, und zu den meisten hat mannachher auch eine tiefe Beziehung«.Die Sinnhaftigkeit der Hörbehinderung an sich wird hier klar dargestellt; die Bedeutsamkeitdes eigenen Lebens wird mit der Hörbehinderung fest verbunden. Eswird Energie aus dem Besonderen geschöpft, das ihnen widerfährt, weil sie hörgeschädigtsind.In unserer Studie wurde die Tendenz festgestellt, dass diejenigen mit einer positivenoder optimistischen Einstellung gegenüber ihrer Hörschädigung eine größerePalette von Strategien zeigen als diejenigen, die sich hinter ihrer Hörschädigung»verstecken«.Verstehbarkeit der SituationMenschen mit einem hohen Kohärenzgefühl werten ihre innere und äußere Weltals geordnet, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar: Die Verstehbarkeit »beziehtsich auf das Ausmaß, in welchem man interne und externe Stimuli als kognitiv sinnhaftwahrnimmt, als geordnete, konsistente, strukturierte und klare Information und nichtals Rauschen – chaotisch, ungeordnet, willkürlich, zufällig und unerklärlich« (Antonovsky1997, S. 34). Konfrontationen und Stressoren können erkannt und als anzugehengewertet werden oder als unwichtig weggelassen werden (primäre Bewertung).Wenn beispielsweise Missverständnisse vorliegen versuchen die meisten sofort,die Situation zu ordnen:»Versuchen, sofort das zu klären, weil um so länger ich warte, desto schlimmerkann es noch werden« (unveröffentlichtes Originalzitat).258


M . Audeoud, P. <strong>Lienhard</strong>»Aufwändig, aber gelingend!« – Alltagsstrategien HörgeschädigterSie versuchen zudem, über visuelle Wahrnehmung bestimmte Informationslückenzu kompensieren, so dass das Geschehen sinnhaft wird. Direktes Fordern von kommunikationsunterstützendenStrategien ist hilfreich.Antizipatorische Strategien werden dann angewandt, wenn die Situation voraussehbarist oder voraussehbar gemacht wird. Dadurch entstehende Sicherheit wirktwiederum vorsorgend für heikle, neu aufkommende Situationen.Handhabbarkeit von StresssituationenHandhabbarkeit wird von Antonovsky als das Ausmaß definiert, »in dem man wahrnimmt,dass man geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungenzu begegnen, die von den Stimuli, mit denen man konfrontiert wird, ausgehen. ›ZurVerfügung‹ stehen Ressourcen, die man selbst unter Kontrolle hat oder solche, dievon legitimierten anderen kontrolliert werden, ... von jemandem, auf den man zählenkann, jemandem, dem man vertraut« (1997, S. 35).Sich auf sich selbst zu verlassen, kann durchaus die Handhabbarkeit stärken:»Ich habe mich entschlossen, mich lieber auf das zu konzentrieren, was ich habe«(unveröffentlichtes Originalzitat)Sich zu entscheiden, ob man sich auf sich selbst verlässt oder ob man sozialeRessourcen anzapft, ist ein wichtiger Schritt in der Bewertung von Situationen:»Einerseits denke ich, ich brauche nur Informationen, die kann ich mir besorgen,mit Fragen Stellen, mit Lesen, mit Büchern, mit Internet, andere Sachen denke ich,brauche ich sicher von jemand anderem, Mensch, muss ich mit jemandem reden,muss ich eine andere Meinung haben« (unveröffentlichtes Originalzitat).Die Erfahrung, dass vorhersehbare chaotische Situationen mit Vorbereitung besserangegangen werden können, unterstützt das Forderndürfen.»Also, ich denke von dort an bin ich ziemlich selbständig gewesen und habe auchselber geschaut, dass ich das bekomme, was ich gern hätte« (unveröffentlichtesOriginalzitat).Mentales (emotionsfokussierte Strategien) und konkretes (problemfokussierte Strategien)Vorbereiten auf schwierige Situationen kann die gewünschte Strukturiertheitund Klarheit geben.Versuch für die PraxisUnsere Ergebnisse unserer Studie lassen erkennen, dass bestimmte Kategorisierungenund Wahrnehmungsmuster für die Alltagssituation Hörgeschädigter angewandtwerden können. Es sind keine grundlegend neuen Erkenntnisse – in der Praxisist dies Alltagswissen.Die herausgearbeitete Kategorisierung jedoch ist mehr als ein theoretischer Versuch:Verschiedene Arten der Handhabbarkeit im Alltag lassen eine Verstehbarkeit259


M. Hintermair und C. Tsirigotis (Hrsg.)Empowerment und Ressourcenorientierungfür das Spezifische und das Unspezifische hörgeschädigtenspezifischer VerhaltensweisenHörgeschädigter (und eigentlich auch Hörender) entwickeln, hinter dem einebestimmte Sinnhaftigkeit gesehen werden kann. Vielleicht kann damit die Tendenzergründet werden, warum so viele Hörgeschädigte so dynamisch und eben integriertzu sein scheinen.LiteraturAntonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen:DGVT-Verlag.Audeoud, M. & <strong>Lienhard</strong>, P. (2006). Mittendrin – und doch immer wieder draussen?Forschungsbericht zur beruflichen und sozialen Integration junger hörgeschädigterErwachsener. Luzern: SZH Edition.Bandura, A. (1986). Social foundations of thought and action: A social-cognitive theory.Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall.Bengel, J., Strittmatter, R. & Willmann, H. (2001). Was erhält Menschen gesund?Antonovskys Modell der Salutogenese – Diskussionsstand und Stellenwert. ImAuftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Köln: BzgA.Chamberlain, K. & Zika, S. (1990). The minor events approach to stress: Support forthe use of daily hassles. British Journal of Psychology, 81, S. 469–481.Freimuth, C. (2003). Mit den Augen sehen und dem Körper hören; eine visuell-taktileEntspannungstechnik für hörgeschädigte und gehörlose Menschen. Das Zeichen,64, S. 196–201.Jambor, E. & Elliott, M. (2005). Self-esteem and coping strategies among Deaf students.Journal of Deaf Studies and Deaf Education, 10, S. 63–81.Jones, E., Ouellette, S. & Kang, Y. (2006). Perceived stress among Deaf adults.American Annals of the Deaf, 151, S. 25–31.Long, N.M. (1992). Overview of services to traditionally underserved persons whoare deaf: A historical perspective. In: Long, N.M., Carr, N. & Carlstrom, K. (Hrsg.),Provision of services to traditionally underserved persons who are deaf (S. 8–11).Illinois: DeKalb.Lazarus, R. & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal and coping. New York: Springer.Schirmer, B.R. (2001). Psychological, social, and educational dimensions of deafness.Boston: Ally & Bacon.Taylor, S. & Clark, L. (1986). Does information improve adjustment to noxious events?Advances in Applied Social Psychology, 3, S. 1–31.260


ezensionenManfred Hintermair & Cornelia Tsirigotis (Hg.):„Wege zu Empowerment und Ressourcenorientierungin der Zusammenarbeit mit hörgeschädigten Menschen“Von anja wildemannDer Sammelband lässt sich in insgesamtdrei Themenbereiche gliedern,die neben einer Einführung in dieThematik Konzepte und Ansätze ausder Psychologie und Soziologie, Praxisbeispieleaus der Schule und einenBlick auf Lebenskontexte jungerErwachsener umfassen. Im Folgendenwerden die Beiträge im Einzelnenvorgestellt, um die thematischeBreite des Readers aufzuzeigen.GrundsätzlichesUntermauerung der Einsicht, dassMenschen sich in erster Linie eigenständigund aktiv entwickeln, führenschließlich auch in Wissenschaft undPraxis zum Umdenken. Hintermairund Tsirigotis sprechen in diesem Zusammenhangvon einem „Konzeptder Ermöglichungsdidaktik, […] derenbedeutsames Erfordernis die Abkehrvom Lehren und Vermitteln zugunstenvon Ermöglichen und demSchaffen von Raum für Selbstaneignung“ist (S. 16).156 DZ 81 09Manfred Hintermair& CorneliaTsirigotis (Hg.):Wege zu Empo w-erment und Ressourcenorientierungin der Zusammenarbeitmit hörgeschädigtenMenschen.Heidelberg:Median-Verlag2008 • 264 Seiten •€ 26,– • ISBN 978-3-922766-98-8Unter „Empowerment“ wird in derpsychosozialen Praxis die aktiveFörderung der (Wieder-)Entdeckungund Stärkung der eigenen Fähigkeitenverstanden. Es geht also nichtnur um die Einbeziehung ‚Betroffener‘in die pädagogische und therapeutischeArbeit, sondern darüberhinaus um die Abgabe äußerer Fürsorgemit dem Ziel der höchstmöglichenSelbstbestimmung. Das Buchvon Manfred Hintermair und CorneliaTsirigotis hebt darauf ab, die Zusammenarbeitmit hörgeschädigtenMenschen im Rahmen von Empowermentund Ressourcenorientierungauf mehreren Ebenen zu realisieren,um dem Anspruch einer Ausgewogenheitder Machtverhältnissegerecht zu werden. In insgesamt19 Beiträgen werden deshalb Formenvon Empowerment aus wissenschaftlicher,pädagogischer und therapeutischerPerspektive vorgestelltund diskutiert.Foto: Median-VerlagIn den ersten beiden Beiträgen skizzierendie Herausgeber eine „Landkarte“(Hintermair & Tsirigotis, S. 10)ihrer Vorstellungen von Empowermentals einer Abkehr von der Defizit-hin zu einer Ressourcenorientierung.Hierfür formulieren sie sogenannteLeitmotive, die den Erfordernissender Wissenschaft und Praxisgerecht werden (sollen). Dazu gehörtzunächst eine sozialpolitischeBetrachtung von Empowerment ausder Perspektive des Gesundheitssystems.Hier wird deutlich, dass zwischendem medizinischen Status einerHörschädigung als einem Defektund den daraus folgenden Zuschreibungenim Hinblick auf die Hilfsbedürftigkeitund Selbstständigkeit aufder einen Seite und der Sichtweiseder Hörgeschädigten selbst sowie derenWahrnehmung der Hilfsangebote,die von außen an sie herangetragenwerden, auf der anderen Seite eklatanteUnterschiede bestehen. Diesewurden in den letzten Jahren umsodeutlicher, als sich die Hörgeschädigtenselbst verstärkt gegen eine Bevormundungzur Wehr setzen, wobeiBewegungen wie „Deafhood“ Autonomiebestrebungenin allen Lebensbereichenzum Ziel haben. Diese Bestrebungensowie die theoretischeRessourcenorientierung inBeratung und PsychotherapieUnter diesem Themenkomplex sindacht Beiträge versammelt, in denendie psychische Entwicklung Hörgeschädigterim Allgemeinen (ManfredHintermair, S. 30 ff.), Inhalte derFrühförderung (Cornelia Tsirigotis,S. 45 ff.; Silke Beer, S. 63 ff.), psychotherapeutischeKinder- und Jugendarbeit(Eszter Jókay, S. 75 ff.; KarenJahn, S. 83 ff.), Aspekte der Gestalttherapie(Wolfgang Wirth, S. 91 ff.),die Beratung von Fachkräften (GerdaNerb, S. 102 ff.) und die Schulsozialarbeit(Doris Aumüller, S. 113 ff.)thematisiert werden. Auf den erstenBlick wird deutlich, dass Empowermentund Ressourcenorientierungim Rahmen der Psychotherapie inder ganzen Breite des Arbeitsfeldsbetrachtet werden.Auch hier bietet der Beitrag vonHintermair einen einführenden Blickin die Psychologie hörgeschädigterKinder, Jugendlicher und Erwachsener.Die bereits in dem grundlegenden,gemeinsam mit Tsirigotis verfasstenBeitrag (S. 13 ff.) vorgenommeneKontextualisierung von Hörschädigung,Lebensqualität und äußererHilfe erfährt an dieser Stel-Beitrag aus: DAS ZEICHEN 81/2009 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)


ezensionenle nochmals eine Vertiefung. Dabeigrenzt Hintermair die lange Zeit vorherrschendepathogenetische Betrachtungvon Hörschädigung voneiner zu favorisierenden salutogenetischenPerspektive ab, in der es darumgeht, die Rahmenbedingungenim Sinne einer Gesundheitsförderung(aller Menschen) zu verstehenund optimal zu gestalten. Die psychischeEntwicklung hörgeschädigterMenschen wird hierbei nicht vonvornherein als problematisch eingestuft,vielmehr steht hinter einer solchenHerangehensweise die Fragenach den Bedürfnissen und den Möglichkeiten,diesen gerecht zu werden.Laut Hintermair führt eine solch veränderteFragehaltung – auch in derWissenschaft – zu langfristigen Änderungenim Hinblick auf Prävention,Integration und Partizipation. Mit derFokussierung auf die psychische Gesundheithörgeschädigter Menschenplädiert er für eine Identitätsarbeitim Sinne identitätsstiftender Prozesse,die einerseits vor dem Hintergrundgesellschaftlicher Umwandlungenund andererseits als biografischeEreignisse und Erfahrungenzu verstehen sind. Die Identitätsarbeitwird somit zu einem lebenslangenProzess – im Sinne des „LifelongLearning“ –, dessen Anfänge in derfrühen Erziehung hörgeschädigterKinder liegen.Mit diesen frühen Anfängen beschäftigensich die Beiträge von Tsirigotisund Beer, in denen Voraussetzungenund Umsetzungsformen einerressourcenorientierten Frühförderungdargestellt werden. So plädiertTsirigotis für eine ressourcenorientierteHaltung in der Beratungvon Familien mit hörgeschädigtenKindern. Dabei gilt es nicht nur, dieRessourcen einer Familie ausfindigund für die Förderung nutzbar zu machen,sondern auch das eigene Verständnisin Bezug auf die Familie undderen Umgang mit einer Hörschädigungzu reflektieren. Eine ressourcenorientierteHaltung als Voraussetzungfür eine ressourcenorientierteFrühförderung beinhaltet somit dieBereitschaft, die eigene Haltung zurevidieren. Spezifika einer solchenHaltung veranschaulicht Tsirigotisanhand ausgewählter Fallbeispiele,die die fruchtbare Wechselwirkungvon theoretischer Fundierung undlangjähriger Praxiserfahrung verdeutlichen.Nicht zuletzt wagt sie einenBlick in die Schule, für die sie eineressourcenorientierte Vorgehensweisein unterschiedlichen Arbeitsfeldern(z. B. Lehrer-Schüler-Interaktionen,Lehrer-Lehrer-Interaktionen undInteraktionen zwischen Leitung undLehrern) aufzeigt.Der Beitrag von Beer setzt dieGrundsatzüberlegungen von Tsirigotisfort, indem er Erfahrungen der ressourcenorientiertenFrühförderungmithilfe des Video-Home-Trainingsdarstellt. Dabei geht es darum, dievorhandenen Fähigkeiten der Elternim Umgang mit ihrem Kind zu nutzenund zugleich eine Optimierungder Eltern-Kind-Interaktionen zu erreichen.Neben der Aufzeichnung derKommunikation und Interaktion zwischenEltern und Kind steht die anschließendeAuswertung im Vordergrunddieses kurzfristigen Trainings,wobei die gemeinsame Auswertungnach gelungenen Prozessen fragt undsomit ressourcenorientiert angelegtist. Eltern sollen sich als kompetenterleben und aus den positiven Erfahrungenneue Kräfte für weitere Entwicklungsschrittesammeln.Nach Kleinkindern und ihren Familienthematisiert der Sammelbandals nächstes die psychotherapeutischeArbeit mit Kindern und Jugendlichen.Jókay setzt sich in ihrem Beitragu. a. mit der Problematik psychologischerGrundannahmen aus denReihen hörender Psychologen undderen Übertragbarkeit auf die besondereSituation gehörloser Menschen,die gebärdensprachlich kommunizieren,auseinander. Sie betont, dassnicht die kommunikativen Kompetenzenund Vorlieben des Therapeutendie therapeutische Arbeit bestimmendürfen, sondern die Bedürfnisseund Wünsche des Klienten richtungsweisendsein müssen. Im Rahmendes Empowerment steht, Jókay zufolge,die Frage im Raum, ob Therapienmit Gehörlosen grundsätzlich auchvon gehörlosen Therapeuten durchgeführtwerden sollten. Tatsache ist,dass der Einsatz von Dolmetschernvon den Betroffenen oft als störendempfunden wird. Hier scheint dieDiskussion noch nicht abgeschlossenzu sein.Jahn liefert mit ihrem Erfahrungsberichteinen Einblick in die ressourcenorientierteArbeit innerhalb derKinder- und Jugendpsychiatrie. DerSchwerpunkt liegt in der identitätsstiftendenRessourcenorientierungund hier insbesondere in der Stärkungdes Selbstwertgefühls und damitverbunden der Akzeptanz derHörschädigung – auch aufseiten derEltern. Am Beispiel vielfältiger Umgangsformenmit dem eigenen Namenschildert sie die gegenseitige AnnäherungBetroffener und eine nachhaltigeAuseinandersetzung mit dereigenen Person.Wirth stellt einen weiteren ressourcenorientiertenAnsatz vor: dieGestalttherapie. Ausgehend von „erschwertenKommunikationsbedingungen“(S. 93) können – so WirthDZ 81 09157Beitrag aus: DAS ZEICHEN 81/2009 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)


ezensionen158 DZ 81 09– fehlende soziale Unterstützung,Ausgrenzung und erlebte Ablehnungbei hörgeschädigten Menschen zupsychischen Belastungen führen. Daranansetzend arbeitet die Gestalttherapievor allem mit der Herbeiführungund Gestaltung von Kontaktprozessen.Ziel ist es, gelingendeKontakte zu ermöglichen, wobeider Therapeut stützend tätig ist, ohnejedoch die Stütze zu sein. Vielmehrgeht es hier im Kontext von Empowermentund Ressourcenorientierungdarum, dass der Klient letztlich lernt,sich selbst zu stützen.Nerb thematisiert in ihrem Beitragdie Beratung von Fachkräften,die mit mehrfachbehinderten hörgeschädigtenKindern arbeiten. Auchsie entwirft – ähnlich wie Tsirigotis– Grundsätze für eine Ressourcenorientierung.Sehr treffend formuliertNerb ihren Anspruch aneine ressourcenorientierte Arbeitwie folgt: „Ressourcenorientierungheißt für mich nicht, nur noch dieStärken wahrzunehmen und zuzulassen,sondern in dem vorgegebenenRahmen unter Berücksichtigungder Grenzen alle Möglichkeiten auszuschöpfenund die Kompetenzenzu fördern“ (S. 103). Darüber hinausschildert sie anhand von systemischenMethoden, wie bspw. demNachzeichnen von Entstehungskontextenund dem Umdeuten, wie eineressourcenorientierte Beratung vonLehrern und Lehrerinnen erfolgenund darüber hinaus eine ressourcenorientierteHaltung bei denselbenangebahnt werden kann.In dem letzten Beitrag des erstenThemenkomplexes beschäftigtsich Aumüller mit der schulischenSozialarbeit an einer Hörgeschädigtenschulemit hohem Migrantenanteil.Sie beschreibt die besondere –oft schwierige – Lebenssituation, inder viele Migrantenfamilien leben(ungesicherter Aufenthaltstatus, Armut,erlebte kulturelle Divergenzen)und darüber hinaus die Kommunikationssituationin Familien, in deneneine andere Herkunftssprachegesprochen wird und zugleich einKind mit einer Hörschädigung aufwächst.Aumüller zeigt, wie es einerSchule gelingen kann, an den transkulturellenErfahrungen und Kompetenzenihrer Schüler und deren Familienanzuknüpfen und ein Netz derZusammenarbeit zwischen Schule,Elternhaus, Schülern und Jugendhilfezu realisieren.Empowerment aus der Sichtvon Schule und UnterrichtDer zweite thematische Schwerpunktwird mit dem Beitrag von UrsulaHorsch (S. 128 ff.) eingeleitet, der sichder Ressourcenorientierung in Schuleund Unterricht widmet. Horsch gehtvon den Bildungszielen der Schulefür Hörgeschädigte aus, die denender allgemeinen Schule entsprechenund damit auf Leistung und Kompetenzentwicklungausgelegt sind. Gemeinsamist beiden Schulformen –so Horsch – somit das Streben nachAutonomie. Nach einer Diskussionder Beziehung von Erziehung und Bildungund der Frage nach deren Kausalität,entwirft Horsch ein Modell einer„dialogischen Bildung“, demzufolgeBildung prozesshaft, dialogischund zirkulär angelegt ist. Dabei beziehtsie die „dialogische Bildung“ vorallem auf die (frühen) Dialoge zwischenEltern und Kind, die jedoch inder Lehrer-Schüler-Interak tion eineFortsetzung erfahren.Wie ressourcenorientierter Unterrichtaussehen kann, wird in den Beiträgenvon Sandra Meiser-Schwitzgebel(S. 143 ff.), Katharina Wagner(S. 162 ff.) sowie Saskia Bohl und NicoleReuß (S. 177 ff.) sehr anschaulichdargestellt.Bereits in der Schuleingangsphasemuss es – so Meiser-Schwitzgebel –darum gehen, die Kinder zu begleiten,ihnen Orientierungshilfen zu gebenund sie in ihrer Persönlichkeit zu bestärken.Selbstständigkeit ist das Ziel,das in einem Unterricht verfolgt wird,der neben offenen und selbstregulierbarenArbeitsformen äußere Strukturierungenbietet und damit eine Ausgewogenheitzwischen sozialer Verantwortlichkeitund Selbstbestimmunganstrebt. Darüber hinaus giltes im Sinne der Ressourcenorientierungaber auch, nicht nur das Kind,sondern das Kind in und mit seinemUmfeld in den Blick zu nehmen unddamit eine aktive und zugewandteFamilienarbeit zu leisten.Die Arbeit mit dem Kind auf dereinen Seite und mit den Eltern auf deranderen Seite wird auch von Wagnerin ihrem Konzept zur Förderung derIdentitätsbildung hörgeschädigterPrimarstufenschüler aufgezeigt. Dasvorgestellte Projekt, in dem die Auseinandersetzungmit der Hörschädigungim Zentrum steht, richtet sichsomit zwar primär an die Schüler undSchülerinnen, bezieht punktuell jedochdie Eltern mit ein. Auf insgesamtfünf Ebenen erfolgt eine sachliche,teilweise aber auch emotionaleAnnäherung an die Themen Hören,Hörschädigung, Hörhilfen, Kommunikationsformenund Kommunikationstaktiken.In dem vorgestelltenUnterrichtsprojekt wird über einenzeitlich begrenzten Zeitraum mitErstklässlern vorwiegend an der Thematik„Hörschädigung“ gearbeitet.Das damit verbundene Ziel eines „of-Beitrag aus: DAS ZEICHEN 81/2009 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)


ezensionenfensiven Umgangs mit der Hörschädigung“(S. 166) ist m. E. jedoch nochzu sehr auf die Orientierung an derhörenden Umwelt ausgerichtet.Eine andere Auffassung von ressourcenorientiertemArbeiten im Unterrichtmit hörgeschädigten Schülernund Schülerinnen vertreten Bohlund Reuß, die nach der Maxime „JedesKind hat ein Recht auf sprachlicheund somit kognitive Entwicklung“(S. 177) handeln. Exemplarischschildern sie in ihrem Beitrag Unterrichtsstrukturen,-formen und -inhalte,in denen selbstverantwortlichesHandeln im Sinne des Empowermentgefordert ist. Ob es die Klassendienstezu Beginn des Unterrichtstags sind,die Buchpräsentation vor der Klasse,das Rechnen in differenzierten Gruppen,die Wochenplanarbeit oder derKlassenrat – deutlich wird, Empowermentund Ressourcenorientierungsind hier keine aufgesetzten Förderziele,sondern immanente Bestandteiledes Unterrichts.Mit dem Beitrag von Wolfgang Lamersund Norbert Heinen (S. 191 ff.)wird der Blick ein zweites Mal aufmehrfachbehinderte hörgeschädigteKinder gerichtet. Sie stellen die Fragenach den Möglichkeiten und Grenzender Ressourcenorientiertheit imUmgang mit schwerstbehindertenKindern. Deutlich wird, dass eineZuschreibung von Ressourcen beischwerstbehinderten Kindern nichtunproblematisch ist und ggf. eineandere Sichtweise erfordert. Zudemmuss neben den inneren Ressourcenbei schwerstbehinderten Kindernverstärkt die Lernumgebung als äußereRessource berücksichtigt werden,denn sie ermöglicht die Auseinandersetzungdes Kindes mit seinerUmwelt und damit einen individuellenBildungsprozess.Ein Beispiel für schulische Filmarbeitals ressourcenorientiertem Lernenpräsentiert Evelyn Ueding in ihremBeitrag (S. 206 ff.). Sie setzt hierbeian den vielfältigen Begabungenund Interessen der Schüler und Schülerinnenan. Das Medium Film entsprichteinerseits den Alltagserfahrungenhörgeschädigter Jugendlicherund stellt andererseits eine Herausforderungim Hinblick auf dienötigen oder zu entwickelnden Fähigkeitendar. Anhand der angeführtenFilmprojekte wird deutlich, dassdie Schüler und Schülerinnen sichmit zunehmenden Kompetenzenauch vermehrt in die Prozesse derPlanung und Umsetzung einbringen.Hier wird also eine sukzessive Partizipationerreicht, bei der es zu einerechten Zusammenarbeit zwischenLehrern und Schülern kommt.Den Weg hin zu einer ressourcenorientiertenArbeit in einer HeilpädagogischenTagesstätte, in der Kinderund Jugendliche mit zusätzlichemFörderbedarf aufgenommen werden,beschreiben Monika Ebert und TrudiSchalkhaußer (S. 219 ff.). Da die Kinderund Jugendlichen bereits mit einer‚Defizitdiagnose‘ in die Einrichtungkommen, ist es umso wichtiger,nicht defizit-, sondern ressourcenorientiertzu arbeiten. Deshalb erfolgteine kollegiale Vernetzung zwischendem Psychologischen Fachdienst,den verschiedenen Therapeutenund den vor Ort tätigen Pädagogen.Auch hier gehört eine intensiveElternarbeit – auch im Sinne einer Elternbetreuung– zu den Aufgaben derEinrichtung. Dennoch ist es, vor allemaufgrund der gesellschaftlichenund politischen Rahmenbedingungen,immer wieder schwer – so dieAutorinnen –, von der ‚Störungsperspektive‘abzusehen und stattdessenzu einer Ressourcenorientierung zugelangen.Ressourcennutzungjunger ErwachsenerIm letzten Themenblock werden mitden Beiträgen von Anna Gutjahr(S. 237 ff.) und Mireille Audeoud und<strong>Peter</strong> <strong>Lienhard</strong> (S. 248 ff.) die ressourcenorientierteJugendarbeit und deralltägliche Umgang junger Erwachsenermit ihrer Hörschädigung thematisiert.Im Vergleich zu den vorherigenThemenschwerpunkten, diemit jeweils acht und sieben Beiträgeneindeutig dominieren, ist dieserdritte Teil eher recht überschaubar.Ganz im Sinne der Herausgeber wärehier in naher Zukunft eine Erweiterungwünschens- und sicherlich aucherstrebenswert. Hierfür liefern beideBeiträge eine gute Grundlage. Sostellt Gutjahr fest, dass es im Bereichder Sonderpädagogik nach wie vor aneiner ressourcenorientierten JugendundFreizeitarbeit mangelt, da diesevornehmlich auf schulische und familiäreFörderkonzepte ausgerichtetsei. Tatsächlich spielen die FreizeitkontakteJugendlicher aber eine wesentlicheRolle in der Entwicklung.Auch diesbezüglich scheinen Jugendlichemit Hörschädigungen stark benachteiligtzu sein, speisen sich ihreFreizeitkontakte doch häufig alleinaus den organisierten Freizeitangebotenbspw. der Deutschen Gehörlosen-Jugend(DGJ), des Deutschen Gehörlosen-Bunds(DGB) oder des DeutschenSchwerhörigenbunds (DSB).Diese tragen zwar maßgeblich zurIdentitätsbildung und zur Stärkungder Gemeinschaft Hörgeschädigterbei, beinhalten jedoch nur die eineSeite des Daseins. Es fehlt – so die Autorin– an der Vernetzung mit der Ju-DZ 81 09159Beitrag aus: DAS ZEICHEN 81/2009 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)


ezensionen160 DZ 81 09gendarbeit hörender Kinder und Jugendlicher,um möglichst alle Ressourcenzu nutzen.Abschließend stellen Audeoudund <strong>Lienhard</strong> die Ergebnisse ihrer Untersuchungzur Selbsteinschätzungder beruflichen und sozialen Integrationdurch hörgeschädigte Erwachsenevor. Sie haben über mehrere Jahrein der deutschsprachigen Schweiz Betroffenemittels einer Fragebogenerhebungund vertiefender Interviewsbefragt und konnten vier Gruppenvon wahrgenommener und erlebterIntegration herausstellen. Das Spektrumreicht hierbei von Hörgeschädigten,die sich weder beruflich noch sozialintegriert fühlen und bereits resignierthaben, bis hin zu Betroffenen,die zwar den eigenen Mehraufwandals Beitrag zur Integration sehr wohlsehen, sich aber dennoch beruflichund sozial gut integriert fühlen. Dabeiwird der Mehraufwand von denHörgeschädigten unterschiedlich bewertet.Während einige diesen als zusätzlichenStressfaktor erleben, scheinenandere mit den inneren und äußerenAnforderungen relativ problemloszurechtzukommen; sie verfügenüber sogenannte Copingstrategien,mit deren Hilfe das eigeneWohlbefinden immer wieder in Balancegebracht werden kann.ZusammenfassungDer von Hintermair und Tsirigotisherausgegebene Sammelband nähertsich dem Thema Empowerment undRessourcenorientierung in der Zusammenarbeitmit hörgeschädigtenMenschen auf vielfältige Weise. Nebeneiner theoretischen Verankerungwerden wissenschaftliche Erfordernissefestgestellt, aber auch erste Erkenntnissepräsentiert. Darüber hinauswerden in zahlreichen Beispielenaus der psychotherapeutischen undder schulischen Praxis Umsetzungsformeneiner ressourcenorientiertenZusammenarbeit aufgezeigt. Die hierin aller Kürze vorgestellten Beiträgesind jeder für sich genommen lesenswertund bieten eine Grundlage desUmdenkens im Hinblick auf den Umgangmit hörgeschädigten Menschen– nicht nur in Schule und Therapie.iProf. Dr. Anja Wildemann istausgebildete Gehörlosenpädagoginund derzeit an der HochschuleVechta als Juniorprofessorinim Bereich Didaktikder deutschen Sprache tätig.Ihre Arbeitsschwerpunkte sindSchriftspracherwerb, schriftsprachlicheEntwicklung hörgeschädigterKinder und Deutschals Zweitsprache sowie Mehrsprachigkeit.E-Mail: anja.wildemann@univechta.deBeitrag aus: DAS ZEICHEN 81/2009 • Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser (www.sign-lang.uni-hamburg.de/signum/zeichen/)

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