Deutscher Bundestag Unterrichtung
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Drucksache 16/10140 – 384 – <strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 16. Wahlperiode<br />
– Maßgeblichkeit der Auswirkungen des fraglichen Verhaltens<br />
bzw. der jeweiligen Transaktion auf das<br />
Marktergebnis (effects-based approach),<br />
– Durchführung einer umfassenden Einzelfallanalyse in<br />
problematischen Fällen (anstelle von undifferenzierten<br />
Per-se-Regeln),<br />
– durchgehende Zulassung des Effizienzeinwands und<br />
– Einsatz neuer ökonomischer Modelle, Erkenntnisse<br />
und quantitativer Untersuchungsmethoden.<br />
1078. Dieser von der EU-Kommission im Kartellrecht<br />
befürwortete more economic approach ist Gegenstand<br />
zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten und kontrovers<br />
geführter Diskussionen. Hieran wird sich die Monopolkommission<br />
im Rahmen dieses Sonderkapitels nicht beteiligen,<br />
sondern vielmehr die Chancen und Risiken der<br />
Anwendung eines more economic approach in der Beihilfenkontrolle<br />
bewerten. Um jedoch die Gemeinsamkeiten<br />
und Unterschiede zu verdeutlichen, die zwischen dem<br />
von der EU-Kommission einerseits im Kartellrecht und<br />
andererseits in der Beihilfenkontrolle angestrebten more<br />
economic approach bestehen, sollen die Merkmale der<br />
beiden Reformkonzepte im Folgenden einander gegenübergestellt<br />
werden.<br />
6.3.2 Charakteristika des von der EU-Kommission<br />
in der Beihilfenkontrolle<br />
angestrebten more economic<br />
approach im Vergleich zum<br />
Kartellrecht<br />
6.3.2.1 Leitbild<br />
Kartellrecht<br />
1079. Die Sicherung einer kompetitiven Marktstruktur<br />
und der Schutz der Freiheit des Wettbewerbs bilden die<br />
traditionellen Leitbilder des deutschen Wettbewerbsrechts,<br />
das über Jahrzehnte auch das europäische Wettbewerbsrecht<br />
beeinflusst hat. Demnach stellt der Wettbewerb<br />
als solcher bereits ein schützenswertes Gut dar.<br />
Dieses durch ordoliberales Gedankengut geprägte Verständnis<br />
basiert auf der Annahme, dass der Schutz des<br />
Wettbewerbs langfristig und mittelbar auch dem Endverbraucher<br />
zugute kommt und stellt darauf ab, ob das jeweilige<br />
Verhalten mit Handlungsbeschränkungen für<br />
Wettbewerber und Marktteilnehmer auf vor- bzw. nachgelagerten<br />
Marktstufen verbunden ist. Der Freiheitssicherung<br />
kommt nach diesem Ansatz ein eigenständiges Gewicht<br />
zu. Sie beinhaltet zwei Aspekte. Zum einen geht es<br />
um den Schutz individueller wirtschaftlicher Handlungsfreiheiten.<br />
Zum anderen soll die marktwirtschaftliche Privatrechtsordnung<br />
gegen die Gefährdungen geschützt werden,<br />
die ihr daraus erwachsen, dass Interessengruppen<br />
über den politischen Prozess Privilegien zu erwirken suchen.<br />
1080. Die EU-Kommission möchte im Zuge des more<br />
economic approach ein Leitbild im EU-Kartellrecht etablieren,<br />
bei dem insbesondere die ökonomischen Ergebnisse<br />
von Bedeutung sind. Danach soll die Effizienz der<br />
Marktergebnisse den maßgeblichen Zielparameter bilden.<br />
Zu betonen ist, dass Leitbilder nicht deskriptiv, sondern<br />
normativ sind. Da die EU-Kommission offenbar keine<br />
Änderung der primärrechtlichen Grundlagen durch den<br />
europäischen Gesetzgeber anstrebt, muss sich die von ihr<br />
geführte Leitbilddiskussion an den gesetzlichen Vorgaben<br />
orientieren. Diese Diskussion kann daher allenfalls eine<br />
veränderte Auslegung der bestehenden gesetzlichen Vorschriften<br />
und Merkmale (etwa des Merkmals der Wettbewerbsbeeinträchtigung<br />
in Artikel 81 Abs. 1 EGV) zum<br />
Ziel haben, wobei über diese Auslegungsfragen letztverbindlich<br />
die europäischen Gerichte zu entscheiden haben.<br />
Die EU-Kommission beabsichtigt, insoweit den Schutz<br />
der Konsumenten in den Mittelpunkt zu stellen (Konsumentenwohlfahrtsstandard).<br />
Der Wettbewerb soll somit<br />
nicht um seiner selbst willen und als Institution geschützt<br />
werden, sondern vielmehr als Mittel zur Erreichung dieses<br />
Ziels eingesetzt werden. 216<br />
1081. Die Etablierung eines Konsumentenwohlfahrtsstandards<br />
ist nicht unumstritten. So gibt es Stimmen in<br />
der Literatur, die sich ebenso wie die EU-Kommission für<br />
einen more economic approach aussprechen, in dem die<br />
Effizienz das Leitbild der Wettbewerbspolitik bildet.<br />
Gleichwohl wenden sie sich gegen den Konsumentenwohlfahrtsstandard<br />
und treten stattdessen für einen Gesamtwohlfahrtsstandard<br />
ein, der neben dem Nutzen für<br />
den Verbraucher auch die Vorteile für die Produzenten<br />
umfasst (total welfare standard). 217<br />
1082. Zur Begründung für den Standpunkt der EU-Kommission,<br />
nicht auf den sonst in der Ökonomie maßgeblichen<br />
Gesamtwohlfahrtsstandard, sondern auf den Konsumentenwohlfahrtsstandard<br />
abzustellen, wird darauf<br />
verwiesen, dass im Verhältnis zwischen der Wettbewerbsbehörde<br />
und den anmeldenden Unternehmen eine Informationsasymmetrie<br />
bestehe und zudem den Verbrauchern<br />
Möglichkeit und Anreiz fehlten, Lobbytätigkeiten auszuüben,<br />
die mit denjenigen finanzstarker Unternehmen vergleichbar<br />
wären. 218 Daher müsse bewusst eine Asymmetrie<br />
eingeführt und der Konsumentennutzen von den<br />
216 In seiner Rede auf der 13. Internationalen Kartellrechtskonferenz am<br />
27. März 2007 in München „Consumer Welfare and Efficiency –<br />
New Guiding Principles of Competition Policy?“ hat sich Generaldirektor<br />
Philip Lowe zur Leitbildfrage wie folgt geäußert: „Ladies and<br />
Gentleman, my overall message is short and simple. Yes, consumer<br />
welfare and efficiency are the new guiding principles of EU competition<br />
policy. Whilst the competitive process is important as an instrument,<br />
and whilst in many instances the distortion of this process<br />
leads to consumer harm, its protection is not an aim in itself. The ultimate<br />
aim is the protection of consumer welfare, as an outcome of the<br />
competitive process. And believe me that as head of the competition<br />
authority charged with protecting consumer welfare, I am at least as<br />
concerned about false negatives, i.e. under-enforcement, as I am<br />
about false positives, i.e. over-enforcement. I am therefore committed<br />
to make the new rules work in practice.“ , http://ec.europa.eu/<br />
competition/speeches/text/sp2007_02_en.pdf .<br />
217 Vgl. etwa Schmidtchen: Der „more economic approach“ in der Wettbewerbspolitik,<br />
Wirtschaft und Wettbewerb 56, 2006, S. 6–17, 6 f.<br />
218 Vgl. Röller, L.-H., Neven, D. J., Consumer Surplus vs. Welfare Standard<br />
in a Political Economy, Model of Merger Control, International<br />
Journal of Industrial Organization 23, 2005, S. 829–848;<br />
Heidhues, P., Lagerlöf, J., On the Desirability of an Efficiency Defense<br />
in Merger Control, International Journal of Industrial Organization<br />
23, 2005, S. 803–827.