Deutscher Bundestag Unterrichtung
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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 16. Wahlperiode – 369 – Drucksache 16/10140<br />
1014. Ein weiterer Unterschied zum Kartellrecht ist, dass<br />
die EU-Kommission in der Beihilfenkontrolle aufgrund<br />
der niedrigen Anforderungen, welche die europäischen<br />
Gerichte an das Vorliegen der meisten Tatbestandsmerkmale<br />
des Artikel 87 Abs. 1 EGV stellen, verpflichtet ist,<br />
Fällen von geringer Relevanz nachzugehen. Anders als<br />
im Kartellrecht gilt in der Beihilfenkontrolle nicht das<br />
Opportunitätsprinzip wie bei Verstößen gegen Artikel 81<br />
und 82 EGV (Artikel 11 Abs. 1 VO Nr. 1/2003) und es<br />
gelten keine hohen Aufgreifschwellen wie in der Fusionskontrolle<br />
(vgl. Artikel 1 Abs. 2 und 3 FKVO). Sobald die<br />
Prüfung der Informationen ergibt, dass möglicherweise<br />
eine rechtswidrige Beihilfe vorliegt, muss die EU-Kommission<br />
das Verfahren wie bei angemeldeten Beihilfen<br />
weiterführen und eine Entscheidung treffen (vgl.<br />
Artikel 13 in Verbindung mit Artikel 4 VVO). Nur die<br />
De-minimis-Verordnung, die einen sehr niedrigen<br />
Schwellenwert in Ansatz bringt (200.000 Euro innerhalb<br />
von drei Jahren) und die im Beihilfenbereich erlassenen<br />
Gruppenfreistellungsverordnungen sorgen für Entlastung.<br />
Unter der gegenwärtigen Wettbewerbskommissarin<br />
Kroes ist keine Reform der VVO geplant.<br />
1015. Das Beihilfenkontrollverfahren sollte nach Ansicht<br />
der Monopolkommission reformiert und in bestimmten<br />
Punkten dem Kartellrechtsverfahren angeglichen werden.<br />
So könnte der EU-Kommission anstelle des bisherigen<br />
Legalitätsprinzips (Artikel 10 Abs. 1 VVO) wie im Kartellrecht<br />
ein Aufgreifermessen eingeräumt werden. Das<br />
Opportunitätsprinzip sollte jedoch nur unterhalb eines näher<br />
zu definierenden Förderungsvolumens, der bei Einzelbeihilfen<br />
etwa bei 1 Mio. Euro angesetzt werden<br />
könnte, eingeführt werden. Hierdurch würde es der EU-<br />
Kommission ermöglicht, flexibel zu reagieren und Prioritäten<br />
durch eine Konzentration auf wichtige Beihilfenfälle<br />
zu setzen. Wettbewerbsverzerrungen, die durch<br />
niedrige Beihilfenbeträge hervorgerufen werden, sind regelmäßig<br />
geringer als bei höheren Beträgen. Diese Aussage<br />
muss allerdings bei kleinen, hoch konzentrierten<br />
oder in der Entstehung begriffenen Märkten nicht zutreffen.<br />
Ein Einschreiten der EU-Kommission kann hier vielmehr<br />
geboten sein. Eine wirksame Kontrolle und Beurteilung<br />
könnte dadurch ermöglicht werden, dass die EU-<br />
Mitgliedstaaten bei Beihilfen, die den festgesetzten<br />
Schwellenwert nicht überschreiten, eine Kurzmitteilung<br />
sowie eine Beschreibung der gewährten Beihilfen und ihres<br />
Empfängers an die EU-Kommission übermitteln müssen.<br />
Äußert die EU-Kommission innerhalb einer näher zu<br />
regelnden Frist (von z. B. zwei Monaten) keine Bedenken,<br />
könnte die jeweilige Begünstigung als genehmigt<br />
gelten. Sollte der Mitgliedstaat gegen diese Mitteilungspflicht<br />
verstoßen, sollte ein nachträgliches Einschreiten<br />
der EU-Kommission möglich bleiben.<br />
1016. Das Aufgreifermessen könnte durch die Einführung<br />
einer privaten Feststellungsklage zugunsten betroffener<br />
Wettbewerber bzw. ihrer Verbände flankiert werden.<br />
So könnte den Konkurrenten des begünstigten<br />
Beihilfenempfängers ein Klagerecht vor den Gemeinschaftsgerichten<br />
eingeräumt werden, wenn die EU-Kommission<br />
beschließt, aus Opportunitätsgründen kein<br />
Beihilfenverfahren durchzuführen. Damit das Aufgreif-<br />
ermessen der EU-Kommission nicht konterkariert und eine<br />
Klageflut vermieden wird, wäre zu erwägen, den privaten<br />
Feststellungsanspruch an die Voraussetzung zu knüpfen,<br />
dass der Konkurrent durch die Beihilfe in seiner Stellung<br />
im betreffenden Markt erheblich beeinträchtigt wird.<br />
1017. Darüber hinaus sollten die Verfahrensrechte der<br />
Beihilfenempfänger, der Konkurrenten und ihrer Verbände<br />
im Beihilfenverfahren gestärkt werden. Das Beihilfenverfahren<br />
sollte nicht als rein bilaterales Verfahren<br />
zwischen der EU-Kommission und dem jeweiligen Mitgliedstaat<br />
ausgestaltet bleiben, vielmehr sollten der Beihilfenempfänger<br />
als Partei und betroffene Wettbewerber<br />
(bzw. die entsprechenden Verbände) als Beteiligte bereits<br />
im vorläufigen Prüfverfahren zugelassen werden. Darüber<br />
hinaus sollten der EU-Kommission direkte Ermittlungsbefugnisse<br />
gegenüber Privaten eingeräumt werden.<br />
Hierdurch könnte die EU-Kommission einen verbesserten<br />
Zugang zu Informationen erhalten, die sie für eine ökonomisch<br />
fundierte Einschätzung der Wettbewerbssituation<br />
benötigt. Die Effizienz des Kommissionsverfahrens<br />
könnte zugleich durch die Einführung verbindlicher und<br />
kürzerer Verfahrensfristen gesteigert werden, bei deren<br />
fruchtlosem Verstreichenlassen eine Genehmigungsfiktion<br />
angeordnet wird. Dies erscheint allerdings nur dann<br />
angemessen, wenn die Mitgliedstaaten die Beihilfen ordnungsgemäß<br />
angemeldet haben und nicht schon unter<br />
Verstoß gegen das Durchführungsverbot des Artikel 88<br />
Abs. 3 Satz 3 EGV vorzeitig gewährt haben. Durch den<br />
– bereits gegenwärtig vorgesehenen – Verzicht auf Verfahrensfristen<br />
im Bereich formell rechtswidriger Beihilfen<br />
wird ein Anreiz zur Einhaltung der Anmeldepflicht<br />
gesetzt.<br />
5.4.2 Verfahren vor den Gemeinschaftsgerichten<br />
1018. Hat die EU-Kommission eine Entscheidung getroffen,<br />
in der sie die Beihilfe als unvereinbar mit dem Gemeinsamen<br />
Markt einstuft (Negativentscheidung), kann<br />
der jeweilige Mitgliedstaat dagegen Nichtigkeitsklage<br />
nach Artikel 230 Abs. 2 EGV vor dem EuGH erheben.<br />
1019. Auch die Untergliederung eines Mitgliedstaates<br />
kann gegen eine Negativentscheidung der EU-Kommission<br />
im Wege der Nichtigkeitsklage vorgehen. Dies<br />
kommt z. B. in Betracht, wenn ein Bundesland oder eine<br />
kommunale Gebietskörperschaft die jeweilige Beihilfe<br />
(zumindest teilweise) aus eigenen Mitteln gewähren<br />
möchte und hieran durch eine Negativentscheidung der<br />
EU-Kommission gehindert wird. Anders als die Mitgliedstaaten<br />
sind deren regionale Untergliederungen jedoch<br />
nicht privilegiert klagebefugt. Sie müssen vielmehr nachweisen,<br />
dass sie durch die Negativentscheidung unmittelbar<br />
und individuell betroffen sind (Artikel 230 Abs. 4<br />
EGV).<br />
1020. Das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit ist<br />
nach der Rechtsprechung dann zu bejahen, wenn sich der<br />
Gemeinschaftsrechtsakt ohne weiteren Durchführungsakt<br />
auf die Interessen- oder Rechtslage des Klägers auswirkt<br />
oder wenn die nationalen Behörden bei seiner<br />
Durchführung keinerlei Ermessen haben. Diese Voraus-