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Deutscher Bundestag Unterrichtung

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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 16. Wahlperiode – 357 – Drucksache 16/10140<br />

dungen, die primär privaten Haushalten zugute kommen,<br />

werden jedoch nicht erfasst. Gegenstand der Beihilfenaufsicht<br />

nach Artikel 87 ff. EGV sind nicht nur Beihilfen<br />

an private Unternehmen, sondern auch Beihilfen an öffentliche<br />

Unternehmen (Artikel 86 Abs. 1 EGV). Öffentliche<br />

Unternehmen sind wirtschaftlich handelnde Einheiten<br />

beliebiger Rechtsform, auf deren Geschäftsplanung<br />

oder Tätigkeit öffentliche Hoheitsträger (über Eigentum,<br />

Beteiligungsverhältnisse, Stimmrecht oder in sonstiger<br />

Weise) unmittelbar oder mittelbar bestimmenden Einfluss<br />

ausüben können (z. B. Deutsche Bahn AG). 70 Nimmt der<br />

Begünstigte ausschließlich ihm gesetzlich zugewiesene<br />

soziale Aufgaben wahr, ist nach der Rechtsprechung des<br />

Europäischen Gerichtshofs (EuGH) die Unternehmenseigenschaft<br />

im Sinne des Artikel 87 Abs. 1 EGV zu verneinen,<br />

soweit die Leistungserbringung von Gesetzes wegen<br />

unabhängig von der Beitragshöhe und unter<br />

vollständiger Umsetzung des Solidaritätsgedankens erfolgt<br />

(z. B. gesetzliche Krankenkassen). 71 Unter das Beihilfenverbot<br />

fallen nicht nur Begünstigungen an Unternehmen,<br />

sondern auch solche an ganze Produktionszweige.<br />

Dieser Begriff wird weit im Sinne von Branche oder Sektor<br />

ausgelegt und umfasst auch Dienstleistungsbranchen.<br />

5.2.2.2 Selektiver Vorteil<br />

970. Die jeweilige Maßnahme muss bestimmte Unternehmen<br />

oder bestimmte Produktionszweige begünstigen.<br />

Nur staatliche Maßnahmen mit selektivem Charakter stellen<br />

demnach eine Beihilfe dar. Das Tatbestandsmerkmal<br />

der Selektivität zieht die Grenze zwischen der Regelungskompetenz<br />

der Mitgliedstaaten für allgemeine wirtschaftspolitische<br />

Maßnahmen und der Kompetenz der<br />

Gemeinschaft zum Schutz des Wettbewerbs vor punktueller<br />

Intervention. Staatliche Leistungen, die alle Unternehmen<br />

des betreffenden Mitgliedstaats unterschiedslos<br />

begünstigen (z. B. allgemeine Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik,<br />

allgemeine Steuerregeln oder Infrastrukturmaßnahmen,<br />

die sämtlichen Unternehmen eines Mitgliedstaats<br />

zugute kommen), sind keine Beihilfen im<br />

Sinne von Artikel 87 Abs. 1 EGV.<br />

971. Unterschiedliche Ausgangsbedingungen und Wettbewerbsverzerrungen,<br />

die sich daraus ergeben, dass die<br />

Mitgliedstaaten von ihrer Kompetenz für entsprechende<br />

allgemeine wirtschaftspolitische Maßnahmen Gebrauch<br />

machen, können lediglich im Wege der Rechtsangleichung<br />

(Artikel 94 ff. EGV) beseitigt werden. Falls die jeweilige<br />

Maßnahme eine unterschiedliche Behandlung<br />

zwischen Unternehmen einführt, ist nach der Rechtsprechung<br />

entscheidend, ob diese Unterscheidung in der Natur<br />

oder im Aufbau des geltenden Systems angelegt ist.<br />

Ist die Unterscheidung auf andere als die mit dem allgemeinen<br />

System verfolgten Ziele zurückzuführen, wird<br />

70 Vgl. Artikel 2 Buchstabe b der Richtlinie 2006/111/EG der Kommission<br />

vom 16. November 2006 über die Transparenz der finanziellen<br />

Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den öffentlichen Unternehmen<br />

sowie über die finanzielle Transparenz innerhalb bestimmter<br />

Unternehmen (Transparenzrichtlinie), ABl. EU Nr. L 318<br />

vom 17. November 2006, S. 17.<br />

71 EuGH, Urteil vom 16. März 2004, Verb. Rs. C-264/01, C-306/01,<br />

C-354/01, C-355/01, AOK-Bundesverband u. a., Slg. 2004, I-2493,<br />

Rn. 48 ff.<br />

grundsätzlich angenommen, dass die fragliche Maßnahme<br />

als selektiv im Sinne des Artikel 87 Abs. 1 EGV<br />

einzustufen ist.<br />

972. Im Allgemeinen wird das Tatbestandsmerkmal der<br />

Selektivität (Begünstigung „bestimmter Unternehmen<br />

oder Produktionszweige“) von den EU-Organen sehr weit<br />

ausgelegt. 72 Danach werden nicht nur solche Vorteile der<br />

Beihilfenkontrolle unterzogen, die ein Mitgliedstaat individuell<br />

einem bestimmten Unternehmen oder einer bestimmten<br />

Branche zubilligt. Eine Maßnahme gilt vielmehr<br />

bereits dann als selektiv, wenn sich die Regelung<br />

– nur auf Unternehmen in einer bestimmten Größe – unabhängig<br />

von der Branche – (z. B. nur auf Großunternehmen<br />

oder kleine und mittlere Unternehmen),<br />

– nur auf Unternehmen, die physische Güter herstellen,<br />

oder<br />

– nur auf neu gegründete Unternehmen, die eine Investition<br />

in bestimmter Höhe tätigen und eine bestimmte<br />

Anzahl von Arbeitsplätzen schaffen,<br />

bezieht. Auch Maßnahmen zugunsten von Unternehmen<br />

benachbarter Branchen werden erfasst. Ferner wird Maßnahmen,<br />

die sämtlichen Unternehmen und Branchen in<br />

einer bestimmten Region zugute kommen, regelmäßig ein<br />

selektiver Charakter zugesprochen 73. Wenn also beispielsweise<br />

ein deutsches Bundesland allen Unternehmen,<br />

die sich dort ansiedeln bzw. ansässig sind, einen<br />

niedrigen Steuersatz einräumte, würde diese Maßnahme<br />

durch das Beihilfenverbot erfasst und unterläge der Kon-<br />

72 Vgl. EuG, Urteil vom 13. September 2006, Rs. T-210/02, British<br />

Aggregates Association/Kommission, Slg. 2006, II-2789, Rn. 104 ff.<br />

73 Im Azoren-Urteil vom 6. September 2006, Rs. C-88/03, Portugal/<br />

Kommission, hat sich der EuGH näher mit der Frage der Reichweite<br />

des Konzepts der regionalen Selektivität im Beihilfenrecht befasst.<br />

Er unterscheidet insoweit zwischen folgenden Fallgruppen:<br />

– Fall fehlender Devolution (d. h. einer fehlenden Übertragung von<br />

Hoheitsbefugnissen auf regionale Körperschaften): Die Zentralregierung<br />

beschließt für eine bestimmte Region einen Steuersatz (für<br />

alle Wirtschaftsteilnehmer), der von dem Steuersatz auf nationaler<br />

Ebene nach unten hin abweicht. Nach Ansicht des EuGH ist eine<br />

solche Maßnahme stets selektiv, da sie nur für einen Teil des geografischen<br />

Gebiets gilt, für das der Steuergesetzgeber zuständig ist.<br />

– Fall symmetrischer Devolution: Modell der aufgeteilten Steuerhoheit,<br />

in dem alle Gebietskörperschaften einer bestimmten Ebene in<br />

den Grenzen der ihnen verliehenen Zuständigkeiten befugt sind,<br />

den Steuersatz für ihr Zuständigkeitsgebiet frei zu wählen. Nach<br />

Ansicht des EuGH ist in solch einer Konstellation das Merkmal der<br />

Selektivität nicht erfüllt. Maßgeblicher Bezugsrahmen sei insoweit<br />

die regional zuständige Einheit und nicht der Gesamtmitgliedstaat.<br />

– Fall asymmetrischer Devolution: Eine regionale oder lokale Körperschaft<br />

setzt in Ausübung von eigenen Befugnissen einen unter<br />

dem nationalen Satz liegenden Steuersatz fest, der ausschließlich<br />

für die Unternehmen in ihrem Hoheitsgebiet gilt. Nach Auffassung<br />

des EuGH ist eine Steuermaßnahme in solch einer Konstellation<br />

nur dann nicht selektiv im Sinne des Artikel 87 Abs. 1 EGV, wenn<br />

die Körperschaft ausreichend autonom in institutioneller, prozeduraler<br />

und wirtschaftlicher Hinsicht ist. Der niedrige Steuersatz darf<br />

demnach nicht quersubventioniert sein. Vielmehr müssen die wirtschaftlichen<br />

Folgen dieser Steuersenkungen von der Region selbst<br />

getragen werden.<br />

Vgl. zu dem Urteil ausführlich: Arhold, C., Steuerhoheit auf regionaler<br />

oder lokaler Ebene und der europäische Beihilfenbegriff – wie<br />

weit reicht das Konzept von der regionalen Selektivität, Europäische<br />

Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 17, 2006, S. 717–721.

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