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Marcus LentzDie schulische Förderung einesschwerbehinderten Jugendlichenam Beispiel eines Schülers mitNBIA- SyndromErste Staatsexamensarbeit––– 2005 –––föpäd.netwww.foepaed.net

<strong>Marcus</strong> <strong>Lentz</strong>Die schulische Förderung einesschwerbehinderten Jugendlichenam Beispiel eines Schülers mitNBIA- SyndromErste Staatsexamensar<strong>bei</strong>t––– 2005 –––föpäd.<strong>net</strong>www.foepaed.<strong>net</strong>


Hinweise zum Urheber- und NutzungsrechtDas Urheberrecht am vorliegenden Texten liegt allein <strong>bei</strong>m Autor bzw. <strong>bei</strong> derAutorin.Der Nutzer bzw. die Nutzerin dürfen die vorliegende Veröffentlichung für denprivaten Gebrauch nutzen. Dies schließt eine wissenschaftliche Recherche ein. Fürdas Zitieren sind die entsprechenden Regelungen zu beachten (sieh unten).Der Nutzer bzw. die Nutzerin des vorliegenden Textes erkennen das Urheberrechtdes Autoren bzw. der Autorin an.Vervielfältigung und Verbreitung der vorliegenden Veröffentlichungen bedarf derGenehmigung des Autors bzw. der Autorin.Hinweise zum Zitieren von Online-DokumentenDie Veröffentlichungen auf den Seiten von föpäd.<strong>net</strong> sind ebenso wie Texte inDruckmedien zitierfähig.In der Quellenangabe müssen folgende Informationen enthalten sein: Name der Autorin bzw. des Autors, Titel (und eventuell Untertitel) Inter<strong>net</strong>-Adresse (URL), Abrufdatum.Beim Zitieren von Texten, die auf den Seiten von föpäd.<strong>net</strong> veröffentlicht sind, gebenSie bitte die Inter<strong>net</strong>-Adresse (URL) der pdf-Datei des von Ihnen zitierten Dokumentsan.Quellenangabe für diese Veröffentlichung:<strong>Lentz</strong>, <strong>Marcus</strong>: Die schulische Förderung eines schwerbehinderten Jugendlichen amBeispiel eines Schülers mit NBIA- Syndrom.Online im Inter<strong>net</strong>: URL: http://www.foepaed.<strong>net</strong>/volltexte/lentz/nbia.pdf


Inhaltsverzeichnis 3InhaltsverzeichnisEinleitung ..............................................................................................51 Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom .....................................71.1 Begriffserklärung und Definition .................................................................91.2 Diagnostik.................................................................................................121.3 Ätiologie....................................................................................................171.4 Verlauf der Krankheit................................................................................191.4.1 Frühkindliche klassische Erkrankung an NBIA mit PKAN...........................201.4.2 Späte atypische Erkrankung an NBIA mit PKAN ........................................211.5 Symptome ................................................................................................221.6 Häufigkeit und Vererbung.........................................................................261.7 Behandlungsmöglichkeiten und Therapien...............................................272 Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt ............................................332.1 Krankheitsverlauf und bisherige Therapien ..............................................342.2 Erfahrungsbericht .....................................................................................362.3 Entwicklung zur integrativen Beschulung nach der Diagnose NBIA.........392.4 Lernen wie alle anderen – Interview mit Stephan.....................................412.4.1 Durchführung ..............................................................................................412.4.2 Auswertung.................................................................................................433 Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung einesAbiturs .............................................................................................453.1 Gesetzliche und bildungspolitische Voraussetzungen..............................463.2 Interview mit der betreuenden Körperbehindertenpädagogin dersonderpädagogischen Förder- und Beratungsstelle Finsterwalde............493.2.1 Durchführung ..............................................................................................493.2.2 Auswertung.................................................................................................52www.foepaed.<strong>net</strong>


Inhaltsverzeichnis 43.3 Interview mit dem Einzelfallhelfer von Stephan ........................................533.3.1 Durchführung ..............................................................................................543.3.2 Auswertung.................................................................................................563.4 Vorstellung methodischer Ar<strong>bei</strong>ts- und Vorgehensweisen in ausgewähltenUnterrichtsfächern ....................................................................................573.4.1 Stundenverlaufsprotokoll im Fach Musik vom 06.12.2004 .........................593.4.2 Stundenverlaufsprotokoll im Fach Latein vom 06.12.2004 .........................613.4.3 Stundenverlaufsprotokoll im Fach Politische Bildung vom 13.12.2004 ......633.5 Interview mit dem Klassenleiter und Tutor................................................653.5.1 Durchführung ..............................................................................................653.5.2 Auswertung.................................................................................................704 Zusammenfassung und Fazit ..........................................................725 Literaturverzeichnis .........................................................................756 Inter<strong>net</strong>quellenverzeichnis...............................................................76www.foepaed.<strong>net</strong>


Einleitung 5EinleitungDie schulische Förderung eines Jugendlichen mit NBIA 1 - Syndrom ist Gegenstand meinervorliegenden Ar<strong>bei</strong>t. NBIA bedeutet Neurodegeneration with Brain Iron Accumulationund ist die Bezeichnung für eine sehr seltene, unheilbare, neurologische Erkrankung. Sieist durch eine abnorme Eisenspeicherung tief im Gehirn charakterisiert. Die eisenhaltigenAblagerungen setzten sich besonders in den Bereichen ab, welche Bewegungen, Muskelspannungund Muskeltonus steuern. Man spricht hier von Eisenablagerungen in den Teilendes Gehirns, die zu den Basalganglien oder auch Stammganglien gehören. Im Zusammenhangmit diesen Ablagerungen bilden sich sogenannte freie Radikale, welche zurfortschreitenden Degeneration des Nervensystems führen. Daher gehört das NBIA- Syndromin die Gruppe der neurodegenerativen Erkrankungen (vgl. KLUCKEN u. a. 2003, ÜberNBIA/ HSS. Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>).Ich habe vom Krankheitsbild und dem Begriff, NBIA- Syndrom, erstmals erfahren, als icham Janusz Korczak Gymnasium in Finsterwalde einen Jungen mit dieser sehr seltenenErkrankung kennen lernte. Er heißt Stephan. Im Rahmen meines Studiums wollte ich einförderpädagogisches Übungsgutachten erstellen. Ich hatte mir zum Ziel gesetzt seineAufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit zu testen. Doch die Untersuchungen zumGutachten konnten nicht planmäßig durchgeführt werden, denn Stephan bekam in diesemZeitraum die Bestätigung für einen Operationstermin im Universitätsklinikum Münster. Fürmich ergab sich dadurch jedoch die Möglichkeit, gezielt einiges über Stephan und seinenKrankheitsverlauf in Erfahrungen zu bringen. Im Bemühen mir weitere Kenntnisse zu verschaffen,suchte ich nach geeig<strong>net</strong>en Quellen. Ich wandte mich zunächst an Pädagogenund Mediziner, die sich mit der Erkrankung von Stephan schon intensiver befasst hatten.Ich habe sehr viel Interessantes erfahren und beschlossen, im Rahmen meiner wissenschaftlichenHausar<strong>bei</strong>t diese Thematik aufzugreifen und mich intensiv am konkreten Fallmit dem Krankheitsbild und seinen diversen Erscheinungen und Folgen auseinander zusetzen. Recherchen in Bibliotheken und im Inter<strong>net</strong> zeigten, dass deutschsprachige Literaturzum NBIA- Syndrom kaum vorhanden ist. Es finden sich lediglich Veröffentlichungendes Hoffnungsbaum e. V. sowie einige medizinische Dissertationen und Zeitschriftenartikel,die sich im Wesentlichen mit der Ursachenforschung beschäftigen.Über das Inter<strong>net</strong> sind vor allem amerikanische Schriften verfügbar, die ebenfalls überwiegendden Bereich der Medizin betreffen.1NBIA ist die verkürzte Schreibweise für das hier beschriebene Krankheitsbild Neurodegeneration with BrainIron Accumulation und wird im weiteren Verlauf dieser Ar<strong>bei</strong>t aus ökonomischen Gründen ausschließlich indieser Schreibweise verwendet.www.foepaed.<strong>net</strong>


Einleitung 6Meine Ar<strong>bei</strong>t beschäftigt sich im Schwerpunkt mit pädagogischen Gesichtspunkten undden Möglichkeiten der schulischen Förderung im Zusammenhang mit dem NBIA- Syndrom.Ich fokussiere in meinen Ausführungen vor allem die individuellen, spezifischen,pädagogischen und didaktischen Besonderheiten, die Stephan den Abschluss der SekundarstufeII mit dem Abitur ermöglichen. Es ist dazu zwingend notwendig, sich mit den medizinischenAspekten auseinander zu setzen. Im ersten Abschnitt meiner Ar<strong>bei</strong>t möchteich darauf eingehen. Im zweiten Teil dokumentiere ich Stephans speziellen Krankheitsverlaufbis zum aktuellen Zeitpunkt. Im abschließenden dritten Schwerpunkt meiner Ausführungenkonzentriere ich mich auf die schulische Förderung von Stephan. Die Möglichkeitender integrativen Beschulung am Janusz Korczak Gymnasium, mit dem Ziel, einemNBIA Erkrankten den Abschluss der gymnasialen Oberstufe zu ermöglichen, stehen imVordergrund meiner Betrachtungen.www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 71 Entwicklung vom HSS 2 zum NBIA- SyndromDas HHS, welches die offiziell verkürzte Schreibweise für das Hallervorden-Spatz-Syndrom ist, wurde zum ersten Mal 1922 von dem Gießener Neurologen Julius Hallervordenund dem Berliner Neuropathologen Hugo Spatz beschrieben und nach diesen <strong>bei</strong>denÄrzten benannt (vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>).Hallervorden war stark in das selektive Euthanasieprogramm involviert, das 1939 gestartetwurde. Schirmherr dieses Projekts war das Komitee für Forschung und Behandlungverschiedener ge<strong>net</strong>isch bedingter Krankheiten. Das Komitee wurde unter der Hitlerherrschaftgegründet. Allgemein konnte von einem „Ausrotten“ zurückgebliebener und missgebildeterKinder die Rede sein (vgl. WOOD 2001, A new name for HSS and HSSA. Übersetztung:LENTZ, M.). Ärzte registrierten diese Kinder und sandten sie in eine der 28Einrichtungen, die zur „Ausrottung“ gedacht waren. Schätzungsweise 5000 Kinder wurdenumgebracht. Einige der Kinder starben durch Erfrierungen, andere verhungerten. Wiederandere wurden mit Zyanid vergast oder bekamen Injektionen mit Morphium.Den Eltern der Kinder wurde erzählt, dass sie an unerwarteten Gebrechen gestorben seien,wie z.B. an einer Blinddarm- oder Lungenentzündung. Es wurden auch 70279 adulte,also erwachsene Patienten im Rahmen dieser Forschungsprogramme umgebracht, indemz.B. Kohlenstoffmonoxid in Duscheinrichtungen eingeleitet wurde. Weiter ist in dem obengenannten Artikel zu lesen, dass Ärzte die Erlaubnis hatten, den Gnadentod einzuleiten.Sie wurden nicht dazu gezwungen und auch nicht bestraft, wenn sie es verweigerten. Dasmacht die Aktionen von Hallervorden sehr umstritten. Ein Abschlussbericht vom amerikanischenNeurologen Leo Alexander im Sommer 1945 war Teil eines geheimen Berichts, indem Hallervorden über seine Rolle in diesem Programm sprach. Hallervorden können folgendeZitate zugeord<strong>net</strong> werden (vgl. WOOD 2001, A new name for HSS and HSSA. Ü-bersetzung: LENTZ, M.):„Als ich hörte, was sie vorhatten, bin ich zu ihnen gegangen und habe ihnen gesagt:‚Wenn ihr diese Leute tötet, dann nehmt wenigstens ihr Gehirn raus, damites als brauchbares Untersuchungsmaterial genutzt werden kann.’“„Es gab erstklassiges Material unter den Gehirnen, wunderschöne Schädigungen,Missbildungen und frühkindliche Krankheiten.“2HSS, ist die verkürzte Schreibweise, der veralteten Bezeichnung für das NBIA- Syndrom und wird im weiterenVerlauf dieser Ar<strong>bei</strong>t zum Teil auch in dieser Schreibweise verwendet.www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 8„Sie fragten mich: ‚Wie viele können sie untersuchen?’ Und so sagte ich ihnen:,Eine unbegrenzte Menge, je mehr, desto besser.’“„Ich gab ihnen die Anweisungen und das Material zum Fixieren (Einlegen) derGehirne.“„Die öffentlichen Krankeneinrichtungen brachten Gehirne in Zahlen von 150 bis250 auf einmal.“„Ich habe die Gehirne natürlich angenommen. Wo sie herkamen und wie sie zumir gelangten, war nicht mein Problem.“Aber Hallervorden tat noch mehr als nur passiv Autopsiematerial zu empfangen. Er trainierteÄrzte, die dafür zuständig waren, Patienten auszusuchen, diese dann umzubringenund das Gehirn zu präparieren. Er schickte sogar einen seiner Labormitar<strong>bei</strong>ter zu denHinrichtungsstätten, um dort zu assistieren. Hallervorden hatte Massen an Untersuchungsmaterial(vgl. WOOD 2001, A new name for HSS and HSSA. Übersetzung: LENTZ,M.).In dem bereits erwähnten Artikel von Frau WOOD zitiert Dr. Michael SHEVELL einen Brief,der von Hallervorden am 8. März 1944 an den Programmverantwortlichen geschriebenwurde: „Ich habe 697 Gehirne erhalten, einschließlich denen, die ich persönlich in Brandenburgpräpariert habe.“ An einem Tag kam Hallervorden nach Brandenburg, und untersuchte33 Kinder, vor ihrer Hinrichtung. Er forderte dann die Gehirne für ein Projekt an,das „Vererbte Schwachsinnigkeit“ hieß, so SHEVELL. SHEVELL erwähnt auch, dass HallervordenGehirne von ausgesuchten Opfern entfernte, gleich nachdem sie umgebrachtworden waren (vgl. SHEVELL 1992 und WOOD 2001, A new name for HSS and HSSA. Ü-bersetzung: LENTZ, M.).Hugo Spatz, der Chef und Mentor von Hallervorden, war gleichzeitig Direktor des Instituts,in dem Hallervorden ar<strong>bei</strong>tete. Seine Rolle ist nicht eindeutig zuzuordnen. Durch ihr menschenverachtendesVerhalten in der Zeit des Nationalsozialismus, waren diese Wissenschaftlerund Ärzte für den Tod vieler kranker und behinderter Menschen sowie der rassischenMinderheiten mitverantwortlich. Diese Tatsache ist unentschuldbar und verbietet esihre Namen für ein Krankheitsbild zu verwenden, obwohl die erste Beschreibung keinFehler an sich war (vgl. WOOD 2001, A new name for HSS and HSSA. Übersetzung:LENTZ, M.).www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 9Bis heute wird noch in vielen Artikeln von verschiedenen Wissenschaftlern diskutiert, dassHallervorden und Spatz bereits 1922 eine Krankheit dieser Art zum ersten Mal beschriebenhaben, bereits 17 Jahre vor der Ära des Nationalsozialismus in Deutschland. Trotzdemsollte die Krankheit ihre Namen nicht tragen. Ein Patient mit HHS könnte genausoein Opfer der Naziverbrechen geworden sein. In der Tat berichtete ein Assistent von Hallervorden1940, dass drei Patienten in einer Hinrichtungsstätte HSS gehabt haben könnten(vgl. WOOD 2001, A new name for HSS and HSSA. Übersetzung: LENTZ, M.).Nachdem diese Umstände bekannt wurden, sind auch im Ausland zunehmend Forderungenerhoben worden, das Hallervorden- Spatz- Syndrom umzubenennen. Vor allem inden USA, wo die Erforschung dieser seltenen Krankheit in den letzten Jahren beträchtlicheFortschritte gemacht hat, setzt man sich für die Umbenennung ein. Der neue Namesoll ausdrücken, welche Mechanismen der Erkrankung zugrunde liegen. Gleichzeitig soller Oberbegriff für ihre verschiedenen Formen sein. Weltweit setzt sich in der wissenschaftlichenLiteratur immer mehr der Begriff NBIA durch (vgl. KLUCKEN u. a. 2003,ÜberNBIA / HSS. Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>).1.1 Begriffserklärung und DefinitionDas NBIA- Syndrom ist eine seltene erbliche Krankheit mit Bewegungsstörungen infolgeeiner fortschreitenden Degeneration des Nervensystems, man spricht auch von einer neurodegenerativenKrankheit. NBIA betrifft männliche und weibliche Individuen gleichermaßen.Die Symptome entwickeln sich typischerweise während der Kindheit, können gelegentlichaber auch im späteren Jugend- oder Erwachsenenalter beginnen. DasKrankheitsbild gehört zu den autosomal rezessiven Erkrankungen. Bei diesen Krankheitenhat der Patient je ein nicht funktionierendes Gen von <strong>bei</strong>den Eltern erhalten. JederMensch trägt einen vollständigen Satz des ge<strong>net</strong>ischen Materials in den Zellen seinesKörpers. Die gesamte ge<strong>net</strong>ische Information ist in 46 Chromosomen enthalten. Diesebestehen aus 23 Paaren, wo<strong>bei</strong> ein Chromosom jeden Paares von der Mutter kommt unddas andere vom Vater. Weil alle unsere Gene paarweise vorhanden sind, eines von derMutter und eines vom Vater vererbt, besitzen wir normalerweise von jedem Gen zweifunktionierende Kopien. Wenn eine Kopie eines rezessiven Gens eine Veränderung trägt,welche auch als Mutation bezeich<strong>net</strong> wird, ist die betroffene Person normalerweise nochgesund. Diese Person wird auch als „Träger“ bezeich<strong>net</strong> (vgl. HAYFLICK/ CORYELL 2003,What is Hallervorden- Spatz- Syndrom? Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: KLUCKEN). RezessiveKrankheiten treten nur dann auf, wenn <strong>bei</strong>de Eltern Träger von Mutationen aufdemselben Gen sind und jeweils das veränderte Gen an ihr Kind weitergeben. Statistischwww.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 10gesehen liegt die Wahrscheinlichkeit <strong>bei</strong> 25%, dass zwei Träger ein krankes Kind bekommen;zu 50% wird das Kind ebenfalls Träger, aber klinisch gesund sein, und zu 25%erbt ein Kind die <strong>bei</strong>den gesunden Gene der Eltern (siehe dazu auch Kapitel 1.6 Häufigkeitund Vererbung), ist also klinisch und ge<strong>net</strong>isch normal (vgl. HAYFLICK/ CORYELL 2003,What is Hallervorden- Spatz- Syndrom? Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: KLUCKEN).Kürzlich wurde eine der ge<strong>net</strong>ischen Ursachen identifiziert. Es gibt jedoch wahrscheinlichweitere Gendefekte, die das gleiche Krankheitsbild verursachen können, aber noch nichtentdeckt wurden. Etwa die Hälfte der Patienten mit der klinischen Diagnose des NBIA-Syndroms haben Gen-Mutationen in PANK 2, welches eine Rolle im Stoffwechsel des VitaminB5 spielt. Dieses Gen codiert das Enzym Pantothen- Kinase, das eine Schlüsselrollein der Coenzym- A- Synthese spielt. Mutationen in PANK 2 führen entweder zu einemvollständigen Fehlen der Pantothen- Kinase oder bewirken einen deutlichen Mangel desEnzyms. (siehe auch Kapitel 1.3 Ätiologie) Beides führt im Zusammenhang mit Eisenablagerungenzu Nervenschädigungen durch oxidativen Stress (vgl. KLUCKEN 2003, DasHallervorden- Spatz- Syndrom (HSS)- NBIA. S.276).Diese an das Chromosom 20 gebundene NBIA- Erkrankungsform, der eine Störung imStoffwechsel der Pantothensäure, also Vitamin B 5, zugrunde liegt, heißt Pantothenate-Kinase Associated Neurodegeneration und wird offiziell medizinisch als PKAN 3 abgekürzt(vgl. KLUCKEN 2003, Das Hallervorden- Spatz- Syndrom (HSS)- NBIA. S.276). GemeinsamesMerkmal aller NBIA- Patienten ist eine abnorme Speicherung von Eisen im Hirngewebe,die eine fortschreitende Bewegungsstörung zur Folge hat. Die Patienten könnenüber längere Zeit in einem stabilen Zustand bleiben, der sich aber dann phasenweiserasch verschlechtert. Die Symptomatik ist von Fall zu Fall sehr unterschiedlich, wahrscheinlichdeswegen, weil die ge<strong>net</strong>ische Ursache nicht <strong>bei</strong> allen Familien dieselbe ist. Esgibt wahrscheinlich mehrere verschiedene Gene, die das NBIA- Syndrom verursachenkönnen. Unterschiedliche Mutationen innerhalb des gleichen Gens können zu einem mehroder weniger schwerwiegenden Krankheitsbild führen. Die Faktoren, die den Schweregradder Erkrankung und die Geschwindigkeit ihrer Progredienz bedingen, sind noch unbekannt(vgl. HAYFLICK/ CORYELL 2003, What is Hallervorden- Spatz- Syndrom? Online imInter<strong>net</strong>. Übersetzung: KLUCKEN). Typische Merkmale der Krankheit (siehe hierzu auchKapitel 1.5 Symptome) sind Dystonie, welche durch eine Störung des Muskeltonus charakterisiertist, Rigidität, <strong>bei</strong> der eine bleirohrartige Versteifung der Muskulatur zu beobachtenist und eine Spastik, die eine plötzliche Erhöhung der Muskelspannung <strong>bei</strong> akti-3PKAN, ist die verkürzte Schreibweise für Pantothenate- Kinase Associated Neurodegeneration, eine spezifischeForm des NBIA- Syndroms und wird im Verlauf dieser Ar<strong>bei</strong>t auch in dieser verkürzten Schreibweiseweiter verwendetwww.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 11ver oder passiver Bewegung zur Folge hat. Diese Störungen führen zu motorischer Ungeschicklichkeit,zu Gangstörungen, zu Schwierigkeiten der Bewegungskontrolle und zuSprechproblemen. Ein weiteres typisches Symptom ist die Degeneration der Retina, derNetzhaut, welche zu fortschreitender Nachtblindheit und zum Verlust des Sehvermögensin der Peripherie des Gesichtsfeldes führt. Grundsätzlich sind diese Symptome fortschreitendund werden im Laufe der Zeit schlimmer (vgl. HAYFLICK/ CORYELL 2003, What is Hallervorden-Spatz- Syndrom? Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: KLUCKEN).So heißt es <strong>bei</strong>spielweise in einem Artikel der führenden Wissenschaftler auf dem Gebietdes NBIA- Syndroms: „Neurodegeneration with Brain Iron Accumulation wird als Krankheitdefiniert, die extrapyramidal fortschreitend ist und durch konzentrierte Eisenablagerungenim Gehirn, genau genommen meistens in den Basalganlien radiographisch belegt werdenkann“ (HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration.Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.).Extrapyramidale Krankheiten definieren sich somit in Ahnlehnung an MÜLLER und VOITwie folgt: Der Erkrankung des extrapyramidalen Systems liegen pathologische Veränderungenin den Basalganglien oder den mit ihnen verbundenen subkortikalen und kortikalenNetzwerken zugrunde. Damit sind hier die Verbindungen bzw. Ver<strong>net</strong>zungen zwischenGroßhirnrinde und den Stammganglien gemeint. Diese können aufgrund ge<strong>net</strong>ischer Dispositionen,sekundärer Schädigungen oder anatomischer intrazerebraler Veränderungenentstehen (vgl. MÜLLER, VOIT 2001, Krankheiten des extrapyramidalen Systems, desKleinhirns und des Rückenmarks. S. 1320).Zusammenfassend lässt sich das NBIA- Syndrom als eine neurodegenerative Krankheitbeschreiben, <strong>bei</strong> der es zu einer Störung der Basalganglien, insbesondere des Globuspallidus und der Substantia nigra durch abnorme Eisenablagerungen kommt. Substantianigra ist der grau- schwarze Mittelhirnkern, der sich aus vier Teilen zusammensetzt (vgl.REUTER 2004, Springer- Lexikon Medizin. S. 2057). Beim Globus pallidus handelt es sichum einen Linsenkern, der zum extrapyramidal- motorischen System zählt (vgl. REUTER2004, Springer- Lexikon Medizin. S. 812). Die Eisenablagerungen in diesen bestimmtenHirnregionen können <strong>bei</strong> den meisten Patienten durch eine Mag<strong>net</strong>resonanztomographiediagnostiziert werden. Auf dem MRT 4 - Bild erkennt man das für NBIA bzw. PKAN typischeBild des Tigerauges, welches auch als Tigeraugenphänomen bezeich<strong>net</strong> wird (siehe auchKapitel 1.2 Diagnostik, Bild einer Mag<strong>net</strong>resonanztomographie S. 10). NBIA wird autoso-4MRT, ist die Abkürzung für Mag<strong>net</strong>resonanztomographie, ein bildgebendes Verfahren mit hoher Auflösungzur medizinischen Diagnostik, unter anderem auch zur Diagnose von NBIA , im weiteren Verlauf dieserAusführungen wird zum Teil auch diese verkürzte Schreibweise weiter verwendet.www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 12mal rezessiv vererbt. Die Krankheit beginnt meist gegen Ende der ersten Lebensdekademit einer langsamen progredienten Dystonie und zusätzlicher Rigidität. Die Krankheit gehtmit einer gewissen schleichenden Demenz einher, außerdem können zusätzliche Sehstörungenauftreten.Die Prognosen für Betroffene sind schlecht, der Verlauf progredient und außer einer symptomatischenBehandlung der neurologischen Krankheitsmerkmale gibt es derzeit keinekausale Therapie, das heißt es, gibt momentan keine effektiven Therapiekonzepte, die direktan den Ursachen von NBIA ansetzten (vgl. MÜLLER, VOIT 2001, Krankheiten desextrapyramidalen Systems, des Kleinhirns und des Rückenmarks. S. 1323).1.2 DiagnostikDie Diagnose des NBIA- Syndroms basiert auf einer genauen Erhebung der Vorgeschichte,einer gründlichen klinischen Untersuchung und einer Vielzahl spezieller Tests. Wie bereitsangedeutet, kann sie auch nach einer Mag<strong>net</strong>resonanztomographie gestellt werden,welche die typische Eisenspeicherung in bestimmten Hirnregionen besonders deutlichaufzeigt. Diese bestimmten Hirnregionen werden neurologisch mit den Begriffen Globuspallidus und Substantia nigra richtig bezeich<strong>net</strong> und steuern in erster Linie die menschlicheMotorik (siehe auch Kapitel 1.1 Begriffserklärung und Definition). Patienten mit PKANzeigen ein typisches Bild, das Tigeraugenphänomen genannt wird. Dieses findet sichnicht <strong>bei</strong> anderen Formen von NBIA. Die Mag<strong>net</strong>resonanztomographie kann also da<strong>bei</strong>helfen, zwischen PKAN und anderen Formen der NBIA ohne PKAN zu unterscheiden. Esist somit möglich einzelne Familienmitglieder gezielt und umfassend auf das diagnostizierteKrankheitsbild zu untersuchen (vgl. HAYFLICK/ CORYELL 2003, What is Hallervorden-Spatz- Syndrom? Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: KLUCKEN).www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 13Bild einer Mag<strong>net</strong>resonanz-tomographie:Aufder MRT-Aufnahme siehtman das für die PKAN-Form von NBIA typischeTigerauge oder Tigeraugenphänomen.(vgl.KLUCKEN 2003, Das Hallervorden-Spatz- Syndrom(HSS)- NBIA.S.277)Bei dem abgebildeten MRT- Foto (S.10) spricht man von einer T2 gewichteten MRT- Aufnahme,das heißt, dieses Bild wurde mit mindestens 1,5 Tesla oder mehr aufgenommen.Maßgeblich für die Auflösung eines MRT ist die von ihm erzeugte mag<strong>net</strong>ische Feldstärke,deren Einheit in Tesla angegeben wird. „Ein Tesla entspricht etwa der 20.000fachenStärke des Erdmag<strong>net</strong>feldes.“ (Doccheck Flexicon 2002, Kernspintomographie. Online imInter<strong>net</strong>) Somit ist der hell leuchtende Fleck umgeben von einem tief schwarzen Areal, alsodas „Tigerauge“, besonders gut zu erkennen. (vgl. GREGORY/ HAYFLICK 2004, Neurodegenerationwith Brain Iron Accumulation. Online im Inter<strong>net</strong>. S. 2, Übersetzung: LENTZ,M.). Die hellen Flecken auf der MRT- Aufnahme zeigen Signalverstärkungen an und diedunklen Bereiche verdeutlichen Signalminderungen (vgl. KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA /HSS. Diagnostik. Online im Inter<strong>net</strong>). Das Tigeraugenphänomen gilt inzwischen als eindeutigesDiagnosemerkmal für PKAN, das heißt für den Gendefekt in PANK 2 auf Chromosom20 (siehe hierzu auch Kapitel 1.1 Begriffserklärung und Definition). „Zeigen sichim gleichen Gehirnbereich nur dunkle Bereiche, also Signalminderungen, deutet dies aufEisenablagerungen mit bisher unbekannter Ursache hin“ (KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/HSS. Diagnostik. Online im Inter<strong>net</strong>). Es kann aber durchaus der Fall sein, dass das sogenannteTigeraugenphänomen in einem frühen Stadium der Krankheit nicht zu erkennenist. Unklar ist weiterhin, ob es zwischendurch oder im weiteren Verlauf vielleicht auch wiederverschwinden kann. Deshalb sollte auch <strong>bei</strong> undeutlichem MRT- Befund eine molekularge<strong>net</strong>ischeDiagnostik stattfinden, auf die in der weiteren Bear<strong>bei</strong>tung dieses Kapitelsnoch näher eingegangen wird (vgl. KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/ HSS. Diagnostik. Onlineim Inter<strong>net</strong>).www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 14Man kann also festhalten, dass die Diagnose NBIA mit Hilfe spezieller bildgebender Verfahrengestellt wird. Diese Möglichkeit der Diagnose gilt als eine der eindeutigsten im Bezugauf die Feststellung von NBIA und ihren verschiedenen Formen. Doch bevor man dieMöglichkeit hatte die spezifischen Eisenablagerung mittels einer MRT zu diagnostizieren,konnte diese Krankheit erst nach dem Tode festgestellt werden. Man spricht in diesenFällen von einer pathologischen Diagnose.Diesbezüglich beschreibt die Neuropathologische Literatur ungleiche Zustände, die letztendlichunter der Diagnose der Krankheit zusammengefasst werden. Zur damaligen Zeitwurde das Krankheitsbild noch als Hallervorden-Spatz Syndrom bezeich<strong>net</strong> und wurdehauptsächlich durch das Auftreten von rostbrauner Pigmentierung des Globus pallidusund der <strong>net</strong>zartigen Zone der Substantia nigra beschrieben. Eisen ist da<strong>bei</strong> der Hauptbestandteilder Pigmentierung.Bei PKAN ist die Eisenablagerung ebenfalls im Globus pallidus und in der schwarzenSubstanz zu finden. In verschiedener Literatur wird die Substantia nigra auch als schwarzeSubstanz bezeich<strong>net</strong>. In diesen Gebieten kommt dann annähernd drei mal so viel Eisenwie normal vor. Eisenstoffwechselprobleme waren Normalität und eine vollständigeAusbreitung von Eisen im Gehirn wurde nicht gefunden (vgl. HAYFLICK/ CORYELL/GREGORY 2004, Pantothenate Kinase- Associated Neurodegeneration. Online im Inter<strong>net</strong>.Übersetzung: LENTZ, M.). In den Gegenden der Eisenablagerungen wurden auch kugelförmigeGebilde gefunden. Sogar Axone, welche normaler Weise eine zylindrische Formhaben und zur Impulsweiterleitung zwischen Nervenzelle und anderen Zellen dienen, warenzum Teil kugelförmig (vgl. REUTER 2004, Springer- Lexikon Medizin. S. 209). Bei diesenkugelförmigen Axonen wird angenommen, dass es sich um geschwollene Axonehandelt. Das führte möglicherweise auch zu Transportproblemen <strong>bei</strong> der Impulsweiterleitungin den betroffenen Verbindungen. Diese abnormalen Axone hat man in der weißenund der grauen Substanz des Großhirns gefunden. Ihr Vorhandensein hängt aber nichtvon der Menge der Stellen mit Eisenablagerungen ab (vgl. HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY2004, Pantothenate Kinase- Associated Neurodegeneration. Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung:LENTZ, M.).Ein erster Verdacht auf das Vorliegen von NBIA beruht meistens zunächst auf der Beobachtungvon unkontrollierten Bewegungen eines Patienten, jedoch sind diese <strong>bei</strong> weitemnicht ausreichend um eine Diagnose mit Sicherheit stellen zu können. Der behandelndeArzt wird zunächst also verschiedene Möglichkeiten prüfen müssen, um die eventuellenUrsachen dieser Bewegungsstörungen eingrenzen zu können, denn es gibt eine Vielzahlvon Krankheiten, die mit einer Dystonie einhergehen. Das ist einer der Gründe, warumwww.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 15zum Prozess der NBIA- Diagnose ein Leitfaden zur klinischen Früherkennung entwickeltwurde. Treten <strong>bei</strong> Kindern im Alltag folgende Anzeichen gehäuft auf, kommt möglicherWeise NBIA in Frage (nach KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/ HSS. Diagnostik. Online imInter<strong>net</strong>). Das ist der Fall, wenn Kinder:• oft die Balance verlieren, extrem häufig fallen und sich da<strong>bei</strong> im Gesicht verletzen,vor allem <strong>bei</strong>m Stellungswechsel wie Anhalten, Loslaufen, Umdrehen• zu ruckartigen, Bewegungen neigen, sich z.B. auf den Stuhl „werfen“• öfters Dinge mit zurückgelehntem Oberkörper und gestreckten Armen erledigen• sich immer weniger im Rhythmus, Takt einer Musik bewegen können• auf der Stelle trampeln, bevor sie loslaufen• bestimmte Bewegungsabläufe manchmal nicht rechtzeitig stoppen können• sich mit einem seltsam, steifen Rücken hinsetzen, eine Untersuchung <strong>bei</strong>m Orthopädenaber ohne Befund bleibt• den Rücken und evtl. auch den Hals zunehmend nach hinten durchbiegen• mit den Armen oder Händen schraubende, „windende“ Bewegungen vollziehen• zunehmend auf den Zehenspitzen mit einem Fuß oder <strong>bei</strong>den Füßen laufen• Vermeidungsverhalten <strong>bei</strong> Alltagsanforderungen zeigen• Extremitäten und Rumpf verkrampfen, verkrümmen und verbiegen• gleichzeitig feinmotorische Störungen sowie Koordinationsstörungen aufweisen• Alltagsvorgänge stark verlangsamt und unkonzentriert bewältigen• undeutlich, verwaschen, explosiv, zu hastig oder zu langsam sprechen• sich häufig verschlucken und unwillkürlich grimassieren• Anzeichen von Nachtblindheit zeigen• zunehmend unleserlich schreibenwww.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 16• vergesslich werden und dazu neigen, unbeweglich in Denk- und Verhaltensmusternzu verharren• plötzliche Stimmungswechsel, Aggressionen und dem Alter unangemessenes Verhaltenaufzeigen und die genannten Merkmale häufiger und verstärkt auftreten odersich verschlimmern.Es lassen sich die Leitsymptome Zehenspitzengang, extrem häufige Stürze und Sprechproblemeableiten.„Zeigen Kinder nur einzelne dieser Merkmale, ist das möglicherweise nicht weiterbesorgniserregend. Je mehr allerdings zutreffen, desto wahrscheinlicher wird eineneurologische Ursache. Aber es bedarf umfangreicher differentialdiagnostischerUntersuchungen, um festzustellen, welche Erkrankung sich hinter derSymptomatik verbirgt.“ (KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/ HSS. Diagnostik. Onlineim Inter<strong>net</strong>)Auf eine ganze Reihe von neurologischen Erkrankungen im Kindesalter trifft ein Großteilder oben genannten Merkmale zu. Bestätigt hier die klinische Untersuchung allerdingsden Verdacht auf eine neurologisch bedingte Erkrankung, ist oft ein stationärer Aufenthaltin einem Universitätsklinikum erforderlich bzw. auch ratsam.Dort finden umfangreiche Tests statt, um die Ursache für die Bewegungsstörungen herauszufinden,angefangen <strong>bei</strong> den Laboruntersuchungen von Blutplasma, Urin und derRückenmarksflüssigkeit, welche auch als Liquor bezeich<strong>net</strong> wird, bis hin zu einer gründlichenStoffwechseldiagnostik. Weiterhin werden meistens Messungen der Nervenleitgeschwindigkeitenvorgenommen, dazu kommen auch noch viele andere Untersuchungenwie z.B. in den Fachgebieten Orthopädie und Kardiologie auch die bereits beschriebeneMag<strong>net</strong>resonanztomographie wird durchgeführt. NBIA ist deshalb außerordentlich schwerzu diagnostizieren, weil es für sie keine aussagekräftigen biochemischen Nachweismöglichkeitenin Blut, Urin und Liquor gibt (vgl. KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/ HSS. Diagnostik.Online im Inter<strong>net</strong>)Häufig zeigt sich <strong>bei</strong> einer augenärztlichen Untersuchung das charakteristische Mustervon Pigmentablagerungen im sehenden Teil des Auges, der als Retina bezeich<strong>net</strong> wird.Daraus leitet sich auch die Symptombezeichnung Retinopathia pigmentosa ab. Man findetsie zwar häufig <strong>bei</strong> NBIA Betroffenen, jedoch lässt sie sich auch <strong>bei</strong> mehr als fünfzig anderenKrankheiten und Krankheitsbildern nachweisen. Außerdem entwickeln nicht alle Patientenmit NBIA- Syndrom derartige Augenveränderungen. Es kann durchaus sein, dasswww.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 17in den Anfangsstadien der Krankheit noch keine Sehstörungen vorhanden sind. Es wirdsich aber <strong>bei</strong> einem Patienten mit Retinopathia oder Retinitis pigmentosa letztlich immereine Einschränkung des Gesichtsfeldes und eine sehr ausgeprägte Nachtblindheit entwickeln(vgl. HAYFLICK/ CORYELL 2003, What is Hallervorden- Spatz- Syndrom? Online imInter<strong>net</strong>. Übersetzung: KLUCKEN). Eine Netzhautuntersuchung ist damit eine weitere Möglichkeitum NBIA bzw. PKAN zu diagnostizieren. Um eine Verdachtsdiagnose durch eineNetzhautuntersuchung zu bestätigen, müssen noch weitere Messungen vorgenommenwerden. Diese zusätzlichen Messungen können auch das aktuelle Stadium der Retinopathiapigmentosa feststellen. Diese Messung wird als Elektroretinographie bezeich<strong>net</strong>(vgl. KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/ HSS. Diagnostik. Online im Inter<strong>net</strong>).Molekularge<strong>net</strong>ische Tests sind andere mögliche Verfahren um NBIA und seine verschiedenenFormen zu diagnostizieren. Diese Tests sind dann sinnvoller Weise einzusetzen,wenn <strong>bei</strong>spielsweise eine MRT- Untersuchung nur einen undeutlichen Befund liefern kannoder wenn aufgrund des klinischen Verlaufs nur der Verdacht auf NBIA oder PKAN besteht.Ein solcher Gentest stellt nicht nur fest, ob überhaupt Mutationen auf dem PANK 2-Gen zu finden sind, sondern gibt auch Aufschluss darüber welche es sind.Aus den Ergebnissen der bereits durchgeführten und kategorisierten Gentests lassen sichmöglicherweise erste Schlüsse über eine Restaktivität des Enzyms Pantothen- Kinaseziehen. Diese Erkenntnis gibt dann vielleicht auch Hinweise darauf, ob ein Therapieversuchmit Vitamin B5 Erfolg haben könnte oder eher nicht (vgl. KLUCKEN u. a. 2003, ÜberNBIA/ HSS. Diagnostik. Online im Inter<strong>net</strong>).1.3 ÄtiologieBei Patienten mit NBIA- Syndrom besteht, wie bereits in den vorangegangenen Ausführungenschon tangiert, sehr oft eine verstärkte Eisenspeicherung in bestimmten Hirnregionen.Diese sind im Falle einer Erkrankung besonders massiv in einigen Regionen derBasalganglien, nämlich dem Globus pallidus und der Substantia nigra, festzustellen. DieBasalganglien sind tief im Hirnstamm gelegene Strukturen, die eine wichtige Rolle <strong>bei</strong> derBewegungssteuerung haben. Der genaue Zusammenhang von Eisenspeicherung undden Symptomen des NBIA- Syndroms ist bis dato noch nicht vollständig geklärt.In einem Interview aus dem Jahre 2002 antwortet die führende Wissenschaftlerin auf diesemneurologischen Forschungsgebiet, Dr. Susan HAYFLICK, auf die Frage: “Was verursachtNBIA?” wie folgt :www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 18„NBIA ist eine seltene ge<strong>net</strong>ische Erkrankung, die Bewegungsstörungen und eineEisenspeicherung im Gehirn verursacht. Wir wissen nicht, warum dies so ist,aber die Forschung hat gezeigt, dass Eisen speziell in Hirnregionen abgelagertwird, die für die Kontrolle von Körperbewegungen verantwortlich sind, den Basalganglien.NBIA ist vor allen Dingen deswegen schwer zu verstehen, weil wir nochnicht wissen, ob die Eisenablagerungen die Krankheit verursachen, oder ob sieeine Reaktion des Gehirns auf den Krankheitsprozess sind, so wie eine Narbedie Reaktion der Haut auf eine Verletzung ist. In der Tat ist NBIA wahrscheinlichmehr als nur eine einzelne, bestimmte Krankheit. Es ist eher eine Gruppe untereinanderähnlicher Krankheiten mit ähnlichen Symptomen. Die häufigste ge<strong>net</strong>ischeVariante von NBIA wurde 2001 definiert, als Forscher an der Universität vonOregon zeigen konnten, dass mindestens die Hälfte der NBIA Patienten Mutationenim Gen PANK 2 haben. Die Krankheitsform von Patienten mit Mutationen indiesem Gen wird als Pantothenate Kinase Associated Neurodegeneration,PKAN, bezeich<strong>net</strong>.” (vgl. HAYFLICK/ CORYELL 2002, Interview. Online im Inter<strong>net</strong>.Übersetzung: KLUCKEN):Wie in dem Interview mit Frau Dr. HAYFLICK schon angedeutet, lassen auch die neuestenForschungsergebnisse aus den USA den Schluss zu, dass NBIA nicht eine einzige Erkrankungbezeich<strong>net</strong>, sondern eine Sammelbegriff für eine Gruppe von Erkrankungen ist.Somit wird durch die Entdeckung des PANK 2 Gens NBIA in zwei klinische Formen unterteilt(vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>). Diegrößte Patientenuntergruppe stellen Betroffene mit Fehlern, sogenannte Mutationen, imGen PANK 2 auf Chromosom 20 dar. Man spricht in diesem Fall des NBIA- Syndroms von„NBIA mit PKAN”. Diese Form des Syndroms wird wiederum in die „frühkindliche, klassischeErkrankung mit schneller Progredienz” und in die „späte, atypische Erkrankung mitlangsamer Progredienz” (KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild. Online imInter<strong>net</strong>) unterteilt. (siehe auch Kapitel 1.4 Verlauf der Krankheit)Das PANK 2 Gen wurde im Sommer 2001 entschlüsselt. Das war ein bedeutender Forschungserfolgauf dem Weg zu einer wirksamen Therapie. „Etwas völlig Überraschendestrat mit dieser Entschlüsselung zutage.” (KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild.Online im Inter<strong>net</strong>) „Die Eisenablagerungen sind nicht die eigentliche Ursachevon NBIA, sondern selbst Folge einer Störung im Stoffwechsel der Pantothensäure, auchbekannt als Vitamin B 5.” (KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild. Online imInter<strong>net</strong>) Das Gen PANK 2 codiert das Enzym Pantothen- Kinase, das eine Schlüsselrollein der Coenzym- A- Synthese spielt. Mutationen in PANK 2 führen entweder zu einemwww.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 19vollständigen Fehlen der Pantothen- Kinase oder bewirken einen deutlichen Mangel derEnzymaktivität. Bei der funktionierenden Pantothen- Kinase wird üblicherweise Cysteinverbraucht. Verhindern oder stören Genmutationen diesen Stoffwechselvorgang, reichertsich das nun nicht benötigte Cystein an und beginnt Eisen zu binden, was zu den charakteristischenAblagerungen führt, so ein Erklärungsmuster für den Entstehungsmechanismusder Krankheit. Herauszufinden, welche Prozesse da<strong>bei</strong> im Körper der Patienten ablaufenund wie man sie wirksam unterbrechen kann, ist nun die vordringliche Aufgabe derWissenschaftler in der Forschung. (vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild.Online im Inter<strong>net</strong>).Die Patienten, die diese Mutationen des PANK 2 Gens nicht aufweisen, leiden unter eineranderen Form von NBIA. ohne PKAN- Syndrome (siehe auch Kapitel 1.4 Verlauf derKrankheit). Die Ursachen für diese Erkrankungsform sind noch nicht bekannt. Ge<strong>net</strong>ischeGründe sind allerdings wahrscheinlich, da in den Familien häufig auch Geschwisterkinderbetroffen sind.Bei Durchführung einer MRT werden <strong>bei</strong> dieser Form des NBIA- Syndroms nur Signalminderungendurch dunkle Areale auf dem MRT- Bild sichtbar. Das heißt, es ist in diesenFällen kein Tigeraugenphänomen erkennbar (vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS.Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>).1.4 Verlauf der KrankheitDie Krankheit NBIA verläuft ausnahmslos progredient, das bedeutet fortschreitend. Jedochist der Verlauf nicht kontinuierlich, denn die Patienten erleben nach kurzen Phasenrascher Verschlechterung möglicherweise längere Phasen eines einigermaßen stabilenZustandes. Man bezeich<strong>net</strong> diese Abschnitte des kontinuierlichen Zustandes als ein Plateau.Wie schon angesprochen, sind die individuellen Verläufe im Einzelnen sehr unterschiedlichund bis jetzt keinesfalls vorhersagbar. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dasssich <strong>bei</strong>spielsweise Infektionen und Unfälle ungünstig auf den klinischen Verlauf auswirkenkönnen. Sie sind unter Umständen sogar wie eine Art Initialzündungen für die Symptomatik(vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>).In Fachbüchern der Neurologie ist bis heute vom tödlichen Ausgang der Krankheit <strong>bei</strong> denmeisten Betroffenen, etwa zehn Jahre nach Ausbruch der ersten Symptome die Rede.Von längeren Verläufen wird nur in seltenen Ausnahmefällen berichtet. Diese Aussagekann aber so nicht verallgemeinert werden. Tatsache ist, dass die Lebenserwartung starkeingeschränkt ist, viele Patienten jedoch länger leben als die meisten Ärzte den bestürz-www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 20ten Angehörigen <strong>bei</strong> der Diagnose prognostizieren. Doch hat sich bis heute folgende Thesemanifestiert: „Je früher NBIA ausbricht, um so schwerer und rascher fortschreitend istoft der Verlauf.“ (GARG/ HANNA 2002, Hallervorden-Spatz Disease. Online im Inter<strong>net</strong>. Ü-bersetzung: LENTZ, M.)Die Forschergruppe der Universität von Oregon um Frau Dr. HAYFLICK teilt die an NBIAerkrankten Patienten aufgrund ihrer Untersuchungen an 123 Patienten, <strong>bei</strong> denen bedeutsameBeziehungen zwischen der Art der Mutationen im PANK 2-Gen, den radiologischenBefunden durch eine MRT- Untersuchung und dem klinischen Verlauf beobachtetwurden, in drei Gruppen ein (vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild.Online im Inter<strong>net</strong>).1.4.1 Frühkindliche klassische Erkrankung an NBIA mit PKANDas Auftreten sowie die Merkmale laufen <strong>bei</strong> der klassischen PKAN sehr homogen ab.Erste Anzeichen treten in der frühen Kindheit, meist schon vor dem sechsten Lebensjahr,auf. Das Durchschnittsalter liegt etwa <strong>bei</strong> 3,4 Jahren. Die hier beschriebene klassischeForm der NBIA mit PKAN ist eine fortschreitende Krankheit. Der Grad des Fortschrittesder Krankheit steht im Zusammenhang mit dem Alter des Ausbruches. Patienten, diefrühzeitig Symptome aufweisen, <strong>bei</strong> denen schreitet die Krankheit auch schneller voran.Durch diese progrediente Verlaufsform der Krankheit werden die Fähigkeiten der Kinderzunehmend durch Spastik und Dystonie eingeschränkt. Die meisten Kinder, <strong>bei</strong> denen dieKrankheit sehr zeitig ausgebrochen ist, sitzen mit ungefähr 15 Jahren im Rollstuhl. EinigePatienten betrifft dies meist noch viel eher. Diese PKAN- Form hat eine ungleichmäßigfortlaufende Entwicklung. Betroffene Personen erfahren Zeiten des schnelleren Voranschreitens,die meist ein bis zwei Monate dauern. Es folgen dann Perioden längerer Stabilität.Das ist ein Phänomen, für das bis jetzt noch keine Erklärung gefunden wurde. VerloreneFähigkeiten, können im allgemeinen nicht wieder erlangt werden (vgl. HAYFLICK/CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration. Online imInter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.).Vorzeitiges Ableben gehört in den meisten Fällen von klassischer NBIA mit PKAN zu denHauptmerkmalen. Die Ursache für den Tod steht da<strong>bei</strong> nicht unmittelbar mit der NBIASymptomatik in Verbindung. Ein frühzeitiges Sterben der betroffenen Patienten könnteunter anderem durch Ernährungsschwierigkeiten wie z.B. Schluckprobleme oder in diversenImmunschwächen begründet sein. Trotzdem kann die Lebensdauer sehr unterschiedlichausfallen. Mit den heutigen verbesserten medizinischen Möglichkeiten erreichen Be-www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 21troffene mittlerweile das Erwachsenenalter (vgl. HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY 2004, PantothenateKinase-Associated Neurodegeneration. Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ,M.).1.4.2 Späte atypische Erkrankung an NBIA mit PKANDie klinischen Merkmale der später einsetzenden und langsamer voranschreitenden NBIAmit PKAN sind weitaus vielfältiger als die der klassischen Krankheitsform. Sie tritt alsKrankheit später auf und verläuft langsam. Einsetzen kann die Krankheit in den erstendrei Jahrzehnten, das Durchschnittsalter liegt hier <strong>bei</strong> 13,6 Jahren (vgl. HAYFLICK/CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration. Online imInter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.).Besonders auffällig <strong>bei</strong> dieser atypischen Form von NBIA mit PKAN ist ein gravierendesSprachproblem. Dieses Problem äußert sich durch das Wiederholen von Wörtern oderWortgruppen, das schnelle Sprechen von Wörtern oder Wortgruppen und einer Dysarthrie.Probleme des Ausdrucks bzw. eine undeutliche Aussprache werden in diesemZusammenhang als Dysarthrie bezeich<strong>net</strong> (vgl. REUTER 2004, Springer- Lexikon Medizin.S. 532).Psychiatrische Probleme wie zum Beispiel eine Persönlichkeitsänderung mit impulsivenund aggressiven Ausbrüchen, Depressionen und emotionale Labilität sind typisch für dieseForm von PKAN. Kinder und Jugendliche, die von dieser Form der Krankheit betroffensind, können auch motorische und verbale Ticks aufweisen. Ähnlich wie <strong>bei</strong> der klassischenForm können erfahrungsgemäß geistige Beeinträchtigungen Teil der Krankheitsein. Dazu sind jedoch noch fundierte tiefergehende Forschungen nötig. Motorisch gesehentreten erst in späteren Phasen der Krankheit Veränderungen auf. Obwohl Betroffenemit motorischen Einschränkungen in ihrer Kindheit erst nur als tollpatschig beschriebenwurden, kam es dann im jugendlichen Alter zu diagnostizierten Spastiken, Hyperflexienund andere Formen von schwerwiegenden Bewegungsstörungen bis hin zum höchstenGrad der Pflegebedürftigkeit kommen. Wie Parkinson- Erkrankte zeigen diese Patientenauch ein auffälliges Zittern. Retinopathie ist in der atypischen Form eher selten, und eineoptische Regeneration wurde im Zusammenhang mit dieser Form noch nicht beobachtet(vgl. HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration.Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.).Neben den oben genannten <strong>bei</strong>den klinischen Formen von NBIA mit PKAN gibt es auchnoch ein weitere eher unerforschte Krankheitsform. Es ist eine atypische Erkrankung oh-www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 22ne Mutation auf dem Gen PANK 2. Sie wird als NBIA ohne PKAN bezeich<strong>net</strong>. Wie bereitsangedeutet, sind die Ursachen dieser Form von NBIA noch nicht wissenschaftlich nachgewiesen.Die Krankheit beginnt oft in den ersten <strong>bei</strong>den Lebensjahrzehnten. Die Variationsbreitereicht von frühkindlichen Fällen mit Auftreten im Säuglingsalter bis hin zu Spätfällenim Erwachsenenalter. Auch hier stehen die oben genannten Symptome imVordergrund. Sprechprobleme als Leitsymptom wurden jedoch nicht beobachtet. Insgesamtist die Symptomatik <strong>bei</strong> atypischer NBIA sehr viel variabler. Anfallsleiden sind allerdingshäufiger als <strong>bei</strong> NBIA mit PKAN (vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild.Online im Inter<strong>net</strong>).1.5 SymptomeDie neurologischen Symptome, die <strong>bei</strong> allen Formen des NBIA- Syndroms in unterschiedlicherAusprägung auftreten können, werden mit den Begriffen Dystonie, Spastik und Rigiditätbeschrieben.Dystonie ist eine Gruppe von Störungen, die durch unwillkürliche Muskelaktivität abnormeund zum Teil auch sehr schmerzhafte Bewegungen oder Stellungen bedingt. Hier kannman also von einer Störung der Muskelspannung sprechen. Die Muskelspannung wirdauch als Tonus oder Muskeltonus bezeich<strong>net</strong>. So kommt es zu Verkrampfungen vonMuskelpartien, die dann eine Beeinträchtigung der Koordination während bestimmter Bewegungsabläufenach sich ziehen. Es kann sogar so akut werden, dass sich betroffeneKörperteile regelrecht verdrehen oder verbiegen. „Die häufigste Form der Dystonie ist diefokale Dystonie. Sie tritt hauptsächlich im Erwachsenenalter auf. Fokal heißt, dass jeweilsein einzelner, abgegrenzter Bereich des Körpers betroffen ist.“ (vgl. DEUTSCHE DYSTONIEGESELLSCHAFT E.V. 2002, Formen der Dystonie? Online im Inter<strong>net</strong>) Hat sich dieseKrankheit auf große Bereiche des Körpers ausgebreitet, wird sie als generalisierte Dystoniebezeich<strong>net</strong>. Als Folge der Fehlhaltungen können orthopädische Probleme entstehen,von Kontrakturen der ständig verkrampften Muskeln bis hin zu Knochenbrüchen. Die Ursachendafür liegen nicht in äußeren Einwirkungen, sondern in der Verminderung derKnochendichte. In medizinischer Fachliteratur werden Symptome der Dystonie am Anfangals „schleichend“ mit kaum wahrnehmbaren feinmotorischen sowie Gang- und Haltungsstörungenbeschrieben. Stürze häufen sich ohne ersichtlichen Grund, Ursache dafür kann<strong>bei</strong>spielsweise ein plötzlicher Tonusverlust sein. Stellreflexe sind unter anderem zunehmendbeeinträchtigt. Positionswechsel wie Loslaufen, Anhalten, Umdrehen usw. werdenzu einem Riesenproblem. Außerdem geht ein Balanceverlust meist mit einher. (sieheauch Kapitel 1.2 Diagnostik). Da die meisten Kinder sich im Fallen nicht mehr gut abfan-www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 23gen können, sind Verletzungen im Gesicht und am Kinn sehr typisch. Oft geht auch dieFähigkeit verloren, das Tempo von beliebigen Bewegungen willkürlich zu steuern. Die dadurchentstehende Verlangsamung von Bewegungen bezeich<strong>net</strong> man als Bradykinesie(vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>).Zehenspitzengang, eine andere Bezeichnung für die bekannte Spitzfußstellung, ist meistenseines der ersten charakteristischen Symptome, für den Fall, dass eine Dystonieerkrankungvorliegt. Erst später zeigen sich Merkmale und Folgen der Dystonie in denArmen. Bei starker Beeinträchtigung der oberen Extremitäten wird auch von einemSchreibkrampf gesprochen.Der Schreibkrampf ist eine aktionsspezifische Form der fokalen Dystonie und wird in dreiFormen unterteilt. Der einfache Schreibkrampf tritt ausschließlich <strong>bei</strong> der Ausführung derTätigkeit des Schreibens auf. Andere feinmotorische Tätigkeiten wie z.B. Nähen oder Ar<strong>bei</strong>tenmit einer Pinzette können problemlos ausgeführt werden. Wenn sich neben demklassischen Schreibkrampf auch krampfenden Bewegungsstörungen <strong>bei</strong>m Essen mitBesteck oder <strong>bei</strong>m Zuknöpfen von Hemden abzeichnen, handelt es sich aus medizinischerSicht um einen dystonen Schreibkrampf. Entwickeln sich aus einem Schreibkrampfdauerhafte verkrampfte Fehlstellungen, handelt es sich um einen progredienten Schreibkrampf(vgl. DEUTSCHE DYSTONIE GESELLSCHAFT E.V. 2002, Formen der Dystonie? Onlineim Inter<strong>net</strong>). Das klinische Krankheitsbild des NBIA- Syndroms wird meistens auch vonTorticollis und Blepharospasmus als weitere häufig auftretende Formen der Dystonie begleitet.Torticollis bedeutet Schiefhals und wird auch als zervikale Dystonie bezeich<strong>net</strong>.Durch überaktive Hals- und Nackenmuskeln wird hier eine abnorme Kopfstellung hervorgerufen,welche mit unwillkürlichen Kopfbewegungen einhergeht. Die Störung wird meistdurch gleichzeitige Aktivierung von zwei Muskelgruppen hervorgerufen. Die Abstimmungzwischen den einzelnen Muskelgruppen und ihren Gegenspielern, den Antagonisten, istda<strong>bei</strong> gestört. So werden <strong>bei</strong>de Muskelgruppen gleichzeitig beansprucht. Mit der Zeit wirdjede Bewegung des verkrampften Körpers für die Patienten zum äußerst anstrengendenKraftakt. Es kann da<strong>bei</strong> auch zu heftigen Schweißausbrüchen kommen. Die zervikaleDystonie wird ebenfalls kategorisiert. Hier<strong>bei</strong> gibt es vier Hauptgruppen, welche sichdurch die unterschiedliche Art des Bewegungsrhythmus sowie die unterschiedlichen Richtungender Kopfabweichungen charakterisieren lassen. Zum einen wird die Bewegungdes Kopfes als „sich drehend“ beschrieben. Außerdem gibt es noch die zur Schulter kippendeBeugung, die nach hinten überstreckte Form und die Beugung nach vorn zur Brust(vgl. DEUTSCHE DYSTONIE GESELLSCHAFT E.V. 2002, Formen der Dystonie? Online im Inter<strong>net</strong>).Die Dystonieform des Blepharospasmus wird in der Literatur als <strong>bei</strong>dseitiger Lid-www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 24krampf, der willkürlich nicht zu beherrschen ist, beschrieben. Ursache dieses Lidkrampfesist ein bestimmter Augenmuskel, der Musculus orbicularis oculi. Er ist zeitweilig oderständig unwillkürlich verkrampft. Diese Dystonieform kann die Mimik des Patienten erheblichentstellen. Hält die Kontraktion des Muskels über längere Zeit an, behindert diese dieSehfähigkeit des Patienten und kann zeitweise auch zur Blindheit führen (vgl. DEUTSCHEDYSTONIE GESELLSCHAFT E.V. 2002, Formen der Dystonie? Online im Inter<strong>net</strong>). Des Weiterenkann Dysarthrie die Folge einer Dystonie im Mund- und Rachenraum sein. Tritt eineDystonie in dieser Region auf, bezeich<strong>net</strong> man diese Form als Oromandibuläre Dystonie(vgl. DEUTSCHE DYSTONIE GESELLSCHAFT E.V. 2002, Formen der Dystonie? Online im Inter<strong>net</strong>)Sie kann mit einer verstärkten Neigung zu Wortwiederholungen beginnen. Dies nenntman Palilalie, diese Begrifflichkeit umfasst Artikulationsstörungen, Sprechblockaden, verwascheneAussprache, zu schnelles oder zu langsames bzw. auch zu lautes oder zu leisesSprechen (vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>).Außerdem wirkt das Sprechen sehr angestrengt. Verschlimmert sich die Dystonie indiesem Bereich, kann der Verlust der Sprechfähigkeit die Folge sein. Neben einer verwaschenenAussprache, der Dysarthrie, ist die Fähigkeit des Schluckens häufig ebenfallsbeeinträchtigt. Diese Schluckbeschwerden nennt man Dysphagie, was im Spätstadiumdazu führen, dass die Patienten künstlich ernährt werden müssen. Zunehmende Verkrampfungenim Mundbereich können auch dazu führen, dass sie sich regelmäßig in dieZunge <strong>bei</strong>ßen (vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>).Ist auch die Pyramidenbahn, also der corticospinal Trakt bzw. die Verbindung zwischenGehirn und Rückenmark, geschädigt, kommt meist Spastik hinzu. Das geschieht sehr oft<strong>bei</strong> Patienten mit NBIA- Syndrom. Die Übergänge zwischen Dystonie und Spastik sind ineinander übergehend, da <strong>bei</strong>de durch Tonuserhöhung zu Verkrampfungen der Muskulaturführen. Auch hier ist das harmonische Zusammenspiel von Beuge- und Streckmuskulaturgestört. Feine Bewegungen fallen schwer oder werden zum Teil ganz unmöglich. Die Beweglichkeitist ohnehin stark eingeschränkt. Es können spastische oder schlaffe Lähmunghinzukommen. Natürlich ist die Körperhaltung ohnehin oft stark beeinträchtigt (vgl.MEDTRONIC DEUTSCHLAND GMBH 2002, Informationen zur Gesundheit. Spastik. Online imInter<strong>net</strong>). Bei ruckartiger oder anhaltender Erhöhung der Muskelspannung können dieMuskeln der Arme und Beine teilweise steif wie Rohre werden. Dann spricht man von einerStörungsform, die als Rigidität bezeich<strong>net</strong> wird. Mit voranschreitender Zeit verlierendie Patienten völlig die Kontrolle über ihre Bewegungen und sind schließlich nicht mehr inwww.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 25der Lage sich selbstständig zu bewegen (vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS.Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>).Zusammenfassend zur Symptomatik ist festzuhalten: Die neurologischen Anzeichen frühzeitigeinsetzender, schnell voranschreitender NBIA mit PKAN sind in erster Linie extrapyrimidalund <strong>bei</strong>nhalten, wie ausführlich beschrieben, Dystonie, Dysarthrie und Rigidität.Dystonie ist immer zu finden und offenbart sich schon sehr zeitig. Oromandibuläre Dystonieist ebenfalls häufig und kann zu wiederkehrenden Traumata in der Zunge führen. Eskönnen aber auch atraumatische, sehr lange Knochenbrüche auftreten, die auf einerWechselwirkung von zu hoher Knochenbelastung und Knochenrückbildung beruhen.In vielen Fällen ist auch der corticospinal Trakt von einer Störung mit betroffen, Symptomedafür sind unter anderem Spastizität. Intellektuelle Veränderung kann, muss aber keinzwingendes Merkmal für NBIA mit PKAN sein. Retinale Degeneration, eine Netzhautrückbildungdes Auges, tritt <strong>bei</strong> zwei Drittel der betroffenen Personen auf. Diese Degenerationfolgt einem typischen klinischen Muster. Erst tritt Nachtblindheit auf, dann schränkt sichder periphere Blinkwinkel immer weiter ein, bis es letztendlich zur völligen Erblindungkommt. Optische Atrophie, das heißt, die Rückbildung der Sehorgane, kann in manchenFällen beobachtet werden. Das Ausbrechen der Erkrankung sowie das Auftreten der verschiedenenMerkmale laufen <strong>bei</strong> der klassischen PKAN sehr homogen ab (vgl. HAYFLICK/CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration. Online imInter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.). Die klinischen Merkmale der spät einsetzenden, langsamvoranschreitenden PKAN sind weitaus vielfältiger. Die einzelnen Symptome sind differenzierterund schreiten langsamer voran. Ganz spezifisch für die atypische Form vonPKAN sind die Sprachprobleme und die Einschränkungen <strong>bei</strong>m Schlucken sowie die Beeinträchtigungender gesamtem Gesichtsmotorik. Patienten dieses Syndroms können motorischeoder verbale Ticks aufweisen. Besonders charakteristisch für die später einsetzendePKAN sind auch psychische Auffälligkeiten wie z.B. Aggressionen, Wutausbrücheoder Depressionen, man spricht hier auch von emotionaler Labilität. (siehe auch Kapitel1.4 Verlauf der Krankheit). Außerdem ist das Erscheinungsbild teilweise durch starkes Zitterngeprägt, welches an die Parkinsonsche Krankheit erinnert. Diese Symptome könnenbis zu einer völligen Pflegebedürftigkeit des jeweiligen Patienten voranschreiten (vgl.HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration.Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.).www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 261.6 Häufigkeit und VererbungBisher konnten keine zuverlässigen Daten im Bezug auf diese seltene Krankheit gesammeltwerden. Eine Schätzung von 1- 3 NBIA- Betroffenen pro 1.000.000 Menschen wurdeaufgrund der Häufigkeit der Fälle in einer gewissen Population vorgeschlagen. Die kleineZahl an Fehldiagnosen und übersehenen Fälle sind eingeschlossen. Diese Vermutunglässt darauf schließen, dass in einer Population 1 von 275 bis 500 potentieller Träger dieserKrankheit ist. Bis jetzt gab es auch keine Hinweise, dass diese Krankheit gehäuft inspeziellen ethnischen Gruppen auftritt (vgl. HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY 2004, PantothenateKinase-Associated Neurodegeneration. Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ,M.).Doch sicher ist bis heute, dass NBIA eine der seltensten Krankheiten weltweit ist. Sie gehörtdamit zu den sogenannten „orphan diseases“, was wörtlich in unsere Sprache übersetztsoviel heißt wie „verwaiste Krankheiten“ (vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS.Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>). Nach KLUCKEN ist diese Bezeichnung durchaus zutreffend,denn „... Menschen, die an dieser Krankheit leiden, sind die Waisenkinder der Medizinversorgung.“(KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>)Ob die Schätzungen über die Häufigkeit von NBIA wirklich zutreffend sind, kann man ausverschiedenen Gründen nur wage vermuten, denn diese seltene Krankheit wird bis heutemeist erst in den späteren Stadien möglicherweise aber gar nicht oder fehlerhaft diagnostiziert.Daher ist auf alle Fälle eine Dunkelziffer anzunehmen. Das gilt auch für Deutschland.Hier gehen die Ärzte und Wissenschaftler von ungefähr 20 diagnostizierten Patientenaus (vgl. KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Krankheitsbild. Online im Inter<strong>net</strong>).NBIA gibt es aber in allen Teilen der Welt und es sind <strong>bei</strong>de Geschlechter gleichermaßenbetroffen.Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln schon erwähnt (siehe Kapitel 1.1 Begriffserklärungund Definition), gehören NBIA und ihre verschiedenen Variationen, wie z.B. dieklassische Form mit PKAN, zu den autosomal rezessiv vererbten Krankheiten. Bei derhier beschriebenen Erbkrankheit sind die Eltern eines betroffenen Kindes mit Sicherheitheterozygote, also mischerbige Träger dieser Krankheit, und verfügen somit auf alle Fälleüber ein mutiertes Gen. Man spricht in solchen Fällen auch von einer alternativen Zustandsformdes Gens, welches dann als Allel bezeich<strong>net</strong> wird (vgl. REUTER 2004, Springer-Lexikon Medizin. S. 66). Die heterozygoten Träger haben keinerlei Symptome desNBIA- Syndroms. Mutationen, die eine Fehlverteilung der Geschlechts-zellbildung zurFolge hatten, wurden bis heute noch nicht beobachtet (vgl. HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORYwww.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 272004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration. Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung:LENTZ, M.).Die Geschwister eines an NBIA erkrankten Patienten können zu 25% genauso betroffensein. Sie können zu 50% als autosomal rezessive Träger fungieren oder zu 25% generellohne Allelmutationen leben. Wenn ein Geschwisterkind potentieller Träger war, allerdingsnicht betroffen zu sein scheint, also ohne Symptome über das gefährdete Ausbruchsalterhinaus geblieben ist, steht das Risiko, für sie oder ihn Träger eines mutierten Allels zusein, <strong>bei</strong> etwa zwei Drittel (vgl. HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration. Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.).Bei anderen Familienmitgliedern, wie z.B. den Geschwistern der Eltern, also Onkel undTante eines an NBIA erkrankten Patienten, besteht zu 50% die Wahrscheinlichkeit, dasssie Träger eines mutierten Genes sind. Bei Nachkommen von erkrankten Probanden bestehtdie Gefahr einer Erkrankung an NBIA nur, wenn der andere Elternteil ebenfalls Trägereiner krankheitsverursachenden Genmutation ist. Allerdings sind Nachkommen in diesemFall sehr selten (vgl. HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration. Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.).Um Gewissheit zu bekommen, ob jemand eventuell Träger eines erkrankten Genes ist,können klinische Untersuchungen durchgeführt werden, wenn eine Allelmutation <strong>bei</strong> einemanderen Familienmitglied bereits nachgewiesen wurde. Diese Untersuchungen bezeich<strong>net</strong>man dann als Trägerbefund, welcher natürlich von enormer Wichtigkeit <strong>bei</strong> einerFamilienplanung ist. Nur durch eine solche Untersuchung lässt sich eindeutig klären, obman Träger eines bereits mutierten Genes ist. Für Schwangerschaften, <strong>bei</strong> denen zu 25%ein Risiko besteht, an einer Form von NBIA zu leiden, können pränatale Tests durchgeführtwerden. Hier kann die DNA analysiert werden, die von Fetalzellen stammt. DieseZellen können <strong>bei</strong> einer Fruchtblasenpunktion gewonnen werden können. Das geschiehtin der Regel in der 15. bis18. Schwangerschaftswoche. Beide Allele, die das hier beschriebeneKrankheitbild verursachen, müssen <strong>bei</strong> einem Familienmitglied mit dieserKrankheit gefunden werden, bevor eine pränatale Untersuchung durchgeführt werdenkann (vgl. HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration.Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.).1.7 Behandlungsmöglichkeiten und TherapienZum Abschluss meines ersten umfassenden Kapitels zu den theoretischen und medizinischenGrundlagen des NBIA- Syndroms möchte ich vertiefend auf Möglichkeiten der Be-www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 28handlung eingehen. Hierzu ist als erstes zu sagen, dass es Wissenschaftlern und Forschernbis heute noch nicht gelungen ist, eine Therapieform zu finden oder zu entwickeln,um das Voranschreiten von NBIA zu stoppen, zu verlangsamen oder rückgängig zu machen.Handhabungen, Behandlungsmöglichkeiten und Therapieformen sind in erster Linieimmer auf die jeweilige Symptomatik der verschiedenen NBIA- Formen fokussiert. Es istallerdings überaus wichtig, betroffenen Personen zu helfen, so viel Unabhängigkeit wiemöglich zu behalten. Empfehlenswert sind orthopädische Hilfsmittel, wie zum BeispielGehhilfen oder Rollstühlen, falls Gehprobleme auftreten. Mit modernen Kommunikationsmittelnkann Betroffenen geholfen werden, auftretende Verständigungsprobleme zu bewältigen.Für Kranke mit Retinopathie, einer Netzhautdegeneration des Auges, sollten geeig<strong>net</strong>eEingriffe zur Funktionsverbesserung gewagt werden. Patienten mit Symptomen einer Retinopathiebenötigen die Hilfe erfahrener Personen, um Blindenhilfe und gegebenenfallsFinanzprobleme zu klären. Betroffene, die sich immer wieder auf die Zunge <strong>bei</strong>ßen, verursachtdurch eine sogenannte oromandibuläre Dystonie (siehe auch Kapitel 1.5 Symptome),welche den Mund, die Wange und die Zunge betrifft, müssen sich meist einerzahnärztlichen Operation unterziehen. Alle Zähne müssen entfernt werden. Da es keinedauerhafte Heilung dieser Dystonieform gibt, ist das meist die einzig wirksame Methode.Klassische Mittel wie Beißringe oder Beißblocker helfen meist nicht. Beim Voranschreitender Krankheit können Perioden mit starken Beschwerden manchmal wochenlang andauern.In diesen Phasen ist es besonders wichtig, die Gründe der Schmerzen herauszufindenund zu behandeln. Größe und Gewicht sollten mit geeig<strong>net</strong>en Wachstumskurven aufgezeich<strong>net</strong>werden, um eventuelle Verschlechterungen der Ernährung rechtzeitigerkennbar zu machen. Augenuntersuchungen sollten routinemäßig durchgeführt werden,außerdem sollten Lauf- und Sprachfähigkeiten regelmäßig betrachtet und protokolliertwerden. (vgl. HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration.Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.).Wie schon angedeutet, verlaufen aktuelle Behandlungsschemata vorwiegend symptomabhängigund zielen somit hauptsächlich auf Dystonie ab. Eine solche Therapie ist allerdingserschöpfend und stressig, nicht nur für die Betroffenen, sondern oft auch für ihreBetreuer. (vgl. HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-Associated Neurodegeneration.Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.).Eine Möglichkeit, die Dystonie gezielt in einzelnen Muskelpartien zu lindern, sind Botox-Injektionen. Diese Injektionen enthalten Anteile von Botulinum Toxin, einem lähmendenGift. Diese Injektionen unterdrücken den ständig erhöhten Tonus des Muskels, indem siewww.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 29die Muskelaktivität herabsetzen. Man spricht auch von einer Schwächung der auftretendenMuskelkrämpfe. Nur ein Arzt, der mit den klinischen Symptomen von Dystonie,Spastik und den damit verbundenen unwillkürlichen Bewegungen des Patienten vertrautist, sollte die Injektionen geben. Botox wird hier mit einer winzigen Nadel direkt in den verkrampftenMuskel gesetzt. Es sind eine bis drei Injektionen pro Muskel. Eine örtliche Betäubungkann eingesetzt werden, damit entstehende Schmerzen durch die Injektion sogering wie möglich gehalten werden. Die Wirkung einer solchen Botox- Behandlung hältdurchschnittlich zwei bis drei Monate an. Die Injektionen können wiederholt gesetzt werden,jedoch können sie mit der Zeit ihre Wirkung verlieren.„Zeitweise Nebenwirkungen können Muskelschwäche, grippeähnliche Symptome undEmpfindlichkeit an der Injektionsstelle sein.“ (KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/ HSS. Behandlung.Online im Inter<strong>net</strong>). Außerdem besteht auch die Möglichkeit Baclofen zu injizieren.Das ist ein Mittel gegen Spastik. Es kann demzufolge auch die Dystonie verbessernund wirkt erfahrungsgemäß im Bereich der unteren Extremitäten und des Rückens effektiverals an Armen und Händen. Dieses Medikament kann auch oral eingenommen werden.Eine verbesserte Wirkung in einer geringeren Dosis erzielt es jedoch offenbar, wenn esdurch die intrathekale Baclofen- Pumpe regelmäßig der direkten Umgebung des Rückenmarkszugeführt wird. Wenn in diesem Zusammenhang von intrathekal gesprochen wird,bedeutet es, dass die Baclofen- Pumpe direkt im Liquorraum, dem Rückenmarkskanal,platziert wird, (vgl. REUTER 2004, Springer- Lexikon Medizin. S. 1058) wie auch das folgendegraphisch nachbear<strong>bei</strong>tete Modell der MEDTRONIC DEUTSCHLAND GMBH noch einmalverdeutlichen soll.(Abbildung: MEDTRONIC DEUTSCHLAND GMBH 2002, Informationen zur Gesundheit. Intrathekale Arzneimittelfunktion.Online im Inter<strong>net</strong>).www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 30Die Art der Arzneimittelverabreichung ist das Besondere an dieser Therapie. Eine kleinePumpe wird unter die Haut, meistens im Bauch, implantiert. Das Medikament, welchesüber einen dünnen flexiblen Schlauch, den man in diesem Fall als eine Art Katheter bezeichnenkann, direkt in den Raum abgegeben. Die medikamentöse Versorgung ist somitdirekt in Nähe der Nervenzellen, die unsere Muskelspannung steuern. Diese Nervenzellenbefinden sich im Rückenmark. So kann <strong>bei</strong> einer verhältnismäßig geringen Dosierung eineeffektive und erfolgreiche Spastikminderung erreicht werden (vgl. MEDTRONICDEUTSCHLAND GMBH 2002, Informationen zur Gesundheit. Intrathekale Arzneimittelfunktion.Online im Inter<strong>net</strong>). Eine plötzliche Unterbrechung der Baclofen- Zufuhr durch unsachgemäßeHandhabung hat leider bereits mehrfach zu schwerwiegenden Folgeschädengeführt (vgl. KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/ HSS. Behandlung. Online im Inter<strong>net</strong>).Chirurgische Eingriffe wie die stereotaktische Zerstörung bestimmter Areale im GlobusPallidus, eine ablative Pallidotomie und die Zerstörung spezifischer Thalamusstrukturenzur Therapie unstillbarer Schmerzen, auch bezeich<strong>net</strong> als Thalmotomie (vgl. REUTER2004, Springer- Lexikon Medizin. S. 00) haben <strong>bei</strong> manchen erkrankten Personen einenvorübergehenden Erfolg erbracht. Die Dystonie kehrt meist ein Jahr nach der Operationwieder zurück. Orale Medikation, die am besten zu wirken scheinen, enthalten Baclofenund Trihexyphenidyl, ein Antiparkinsonmittel (vgl. KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/ HSS.Behandlung. Online im Inter<strong>net</strong>). Chelation ist der Versuch, durch chemische Substanzen,welche als Chelatoren bezeich<strong>net</strong> werden, Eisen zu binden und das Eisen aus dem Körperzu leiten (vgl. KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/ HSS. Behandlung. Online im Inter<strong>net</strong>).Jedoch verhindert die Blut- Hirn- Schranke, eine Art Barriere zwischen Kopf und Körper,dass das Eisen dort verringert wird, wo es den Schaden anrichtet. Das heißt also konkret,das Eisen im Gehirn wird nicht verringert. Stattdessen besteht die Gefahr, dass die Eisenchelatorendas Eisen im Blut reduzieren, wo es aber dringend benötigt wird. Die Folgekann eine Eisenmangelanämie sein. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist diese Behandlungsehr kritisch zu betrachten. Frau KLUCKEN äußert sich sogar wie folgt: „Insgesamt gesehenhat sich die Behandlung mit Chelatoren als nutzlos erwiesen.“ (KLUCKEN u. a. 2003,Über NBIA/ HSS. Behandlung. Online im Inter<strong>net</strong>) Manche Eltern geben ihren erkranktenKindern ergänzend Vitamine und Antioxidantien wie z.B. Traubenkernextrakt und CoenzymQ 10. Eine positive Wirkung ist vielleicht nicht auszuschließen, bisher wissenschaftlichaber nicht belegt.Auf die Frage: „Wie behandeln Ärzte Patienten mit NBIA?“, gibt Frau Dr. HAYFLICK in einemInterview aus dem Jahre 2002 noch folgende vorsichtig formulierte Antwort:www.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 31„Ehrlicherweise muss man sagen, dass die Erfolge der Behandlungen von NBIAbislang enttäuschend waren. Es gibt mehrere Medikamente, die die unwillkürlichenBewegungen und die Muskelkrämpfe der NBIA- Patienten bessern können,jedoch gibt es bislang kein Behandlungsverfahren, das die Ursache der Krankheitbeheben würde. Die Behandlungspläne unterscheiden sich von Patient zuPatient. Ein bestimmtes Behandlungsregime ist nicht <strong>bei</strong> jedem Patienten gleichermaßenwirksam, da es verschiedene ge<strong>net</strong>ische Formen der Erkrankung gibtund das Ansprechen eines einzelnen Patienten auf die Medikamente unterschiedlichsein kann. Die Zusammenar<strong>bei</strong>t zwischen den betroffenen Familienund ihrem Neurologen ist notwendig, um Kombinationen und Dosierungen vonArzneimitteln zu finden, auf die der jeweilige Patient am besten anspricht“ (vgl.HAYFLICK/ CORYELL 2002, Interview. Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: KLUCKEN)Es wurde seit dem Sommer 2001 mit der Entschlüsselung des PANK 2 Gens an der Entwicklungeines Behandlungsverfahrens gear<strong>bei</strong>tet, welches als erstes die Ursachen vonNBIA bekämpfen sollte. Die Forschungen zur Vitamin B5 Therapie dauern bis heute an,da die Wirksamkeit bis dato noch nicht belegt ist. Dennoch entscheiden sich viele Elternnach Abwägung von Chancen und Risiken für die Gabe von B 5. Voraussetzung für einegewünschte Wirkung scheint <strong>bei</strong> NBIA- Patienten mit PKAN eine verbliebene Restaktivitätdes Enzyms Pantothen- Kinase zu sein. Frau Dr. HAYFLICK vermutet, dass durch Überschüttungmit Pantothensäure die Pantothen- Kinase stärker angeregt und so der Krankheitsverlaufvielleicht verlangsamt werden könnte. Wie bereits schon beschrieben, kanndurch einen Gentest nicht nur festgestellt werden, ob man PKAN hat, sondern auch, welcheMutationen vorhanden sind. (siehe auch Kapitel 1.2 Diagnostik) Daraus könnte mannun wiederum erste Schlüsse ziehen, ob noch eine Enzymaktivität vorhanden sein könnte.Auch hier ist eine Möglichkeit aus dem Gebiet der Diagnostik wieder hilfreich. Ein Gentestist in diesem Fall ratsam. Calciumpantothenat gibt es in Deutschland nicht fertig zukaufen. Man kann es mit einem Privatrezept des Arztes auf eigene Kosten aus den USAimportieren lassen. Oder der Arzt verschreibt es als Rezeptur, z.B. 100 Kapseln à 500 mgCalciumpantothenat. Diese Rezeptur wird auf Kosten der Krankenkasse in der Apothekehergestellt (vgl. KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/ HSS. Behandlung. Online im Inter<strong>net</strong>).Da Vitamin B 5 ein wasserlösliches Vitamin ist, werden nicht verbrauchte Überschüsseaus dem Körper ausgeschwemmt. Nebenwirkungen <strong>bei</strong> höheren Dosen können Magen-Darmprobleme sein. Dann sollte man das Vitamin absetzen und frühestens nach Abklingender Symptome mit niedriger Dosierung wieder beginnen. Weitere Nebenwirkungensind bisher nicht bekannt. Es gibt Hinweise darauf, dass man B 5 nicht mit Säuren inwww.foepaed.<strong>net</strong>


Entwicklung vom HSS zum NBIA- Syndrom 32Fruchtsaft oder ähnlichen einnehmen sollte, um eine eventuelle Wirksamkeit nicht zu beeinträchtigen(KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/ HSS. Behandlung. Online im Inter<strong>net</strong>). Bezüglichder Art der Wirkung gibt es noch keine genauen und nachprüfbaren Aussagen.Einige Patienten haben <strong>bei</strong> hohen Tagesdosen Verbesserungen <strong>bei</strong> einigen Symptomenerlebt, zum Teil aber nur zeitweise.„Möglicherweise sieht man auch gar keine Verbesserungen, sondern bemerktnur, dass NBIA insgesamt langsamer fortschreitet oder gar stagniert. Es ist jedochnoch nicht belegt, dass diese Veränderungen tatsächlich in Zusammenhangmit der Gabe von Vitamin B 5 stehen.“ (KLUCKEN u. a. 2003, Über NBIA/HSS. Behandlung. Online im Inter<strong>net</strong>)Auf jeden Fall ist die Einnahme der Pantothensäure bzw. des Vitamins B 5 zur Zeit dieeinzige Möglichkeit, NBIA mit relativ geringem Nebenwirkungsrisiko ursächlich zu bekämpfen.Abschließend möchte ich noch ein relativ neues operatives Therapieverfahren verweisen,welches sich Deep Brain Stimulation nennt. Das bedeutet elektrische Tiefenhirnstimulation.Sie wurde bis jetzt noch sehr selten angewandt, ist aber dennoch vielleicht erfolgversprechend.(vgl. HAYFLICK/ CORYELL/ GREGORY 2004, Pantothenate Kinase-AssociatedNeurodegeneration. Online im Inter<strong>net</strong>. Übersetzung: LENTZ, M.). Bei diesem weiteren invasivenTherapieansatz wird dem Patienten eine Art „Hirnschrittmacher“ unter die Hautgesetzt, der mit Hilfe einer Sonde elektrische Impulse direkt in die Basalganglien leitet.Dieses Verfahren wird in Deutschland bis jetzt nur an der Universitätsklinik in Münsterdurchgeführt. Bei zwei NBIA- Patienten wurde diese Methode mit Erfolg angewendet. Einerder <strong>bei</strong>den Behandelten ist Stephan, der Junge, dessen spezifischen Krankheitsverlaufich im folgenden Kapitel noch umfassend beleuchten werde. Außerdem steht natürlichnoch die schulische Förderung und das integrative Beschulungsprojekt von Stephanim Mittelpunkt meiner weiteren Ausführungen.www.foepaed.<strong>net</strong>


Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt 332 Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt1997 im Alter von elf Jahren wurde Stephan mit Verdacht auf Epilepsie in das Carl-Thiem- Klinikum Cottbus überwiesen. Dort befand er sich vom 25. 02. 1997 bis zum 12.03. 1997 in stationärer Betreuung. Umfangreiche neurologische Untersuchungen, unteranderem auch die Durchführung eines MRT, ergaben den ersten Verdacht auf NBIA. Dieerste Diagnose dieses Klinikaufenthaltes wurde am 18. 04. 1997 in einem Arztbrief wiefolgt formuliert.„Eine beginnende Epilepsie konnte anhand der umfangreichen Diagnostik ausgeschlossenwerden. Ebenso kommen eine ganze Reihe von Stoffwechselerkrankungennicht in Frage.Aufgrund des MRT Befundes ist am ehesten an eine Hallervorden- Spatz- Syndrom(NBIA) zu denken, das allerdings momentan nur bioptisch zu sichern ist.Da<strong>bei</strong> finden sich Metallsalzablagerungen im Bereich des Globus Pallidus. Sicherergeben sich <strong>bei</strong> Stephan weitere Hinweise aus dem weiteren klinischen Verlauf(progredienter Abbau der Bewegungsmuster, später mentaler Abbau, Krankheitsdauerbis zu zehn Jahren mit letalem Ende). Über die Langzeitprognosewurde mit den Eltern bisher nicht ausführlich gesprochen.“Um sich eine zweite Meinung über die NBIA- Diagnose einzuholen bzw. Stephan noch einzweites mal intensiv untersuchen zu lassen, wurde er auf Initiative der Eltern in die Klinikund Poliklinik für Kinderheilkunde in Münster eingewiesen. Dort befand er sich vom 14.09. 1997 bis zum 18. 09. 1997 auf der Neuropädiatrischen Station der Klinik. Nach diesemKlinikaufenthalt und den damit verbundenen Untersuchungen wurde die erste Verdachtsdiagnoseaus dem Klinikum Cottbus bestätigt. Die untersuchenden Ärzte kamenhier zu folgendem Urteil: Mit dem klinischen Bild der früh einsetzenden dystonen Bewegungsstörungen,die im Verlauf der letzten zwei Jahre deutlich progredient waren, zusammenmit den bereits seit einigen Jahren zuvor sich manifestierenden Ticks, wie Grunzen,Schütteln, Augenzwinkern sowie den symmetrischen Signalverstärkungen auf <strong>bei</strong>denSeiten des Globus Pallidus, dem sogenannten klassischen Tigeraugenphänomen, bestehtkeinerlei Zweifel an der Diagnose eines NBIA- Syndroms. Die Mediziner sind sich sicher,dass die Signalminderungen mit den zentralen, punktförmigen Signalanhebungen in denBereichen des Globus Pallidus die Folge einer vermehrten Eisenablagerung sind. Diesedurch ein T2- gewichtetes MRT erhobenen Befunde bestätigen somit eindeutig die obengenannte Diagnose. Im Anschluss an diese Untersuchungen in Münster fand erstmals einsehr langes und offenes Gespräch zwischen dem behandelnden Oberarzt Professor Kur-www.foepaed.<strong>net</strong>


Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt 34lemann und Stephans Eltern statt. Verständlicherweise erklärte der Arzt ihnen den progredientenund schwer beeinflussbaren Verlauf der Erkrankung ihres Sohnes. Nach dieserumfassenden Information waren die Eltern emotional über das zu erwartende Schicksalihres Sohnes sehr betroffen.2.1 Krankheitsverlauf und bisherige TherapienStephan ist das erste von drei Kindern. Seine verheirateten Eltern sind gesund. Der Bruderder Mutter und die Schwester des Vaters sind ebenfalls nicht krank. Stephans Brüdersind auch gesund. Ein Großvater von Stephan leidet an Hypertonie, der andere ist bereitsan Leukämie verstorben. Außerdem leidet ein Onkel väterlicherseits an unklaren cerebralenAnfällen. In der sechsunddreißigsten Schwangerschaftswoche wurde <strong>bei</strong> StephansMutter der Verdacht auf Toxoplasmose diagnostiziert. Sie wurde daraufhin behandelt.Stephan allerdings nicht. Die im Anschluss folgenden Verlaufskontrollen der Schwangerschaftwaren unauffällig. Die Geburt verlief ohne Komplikationen. In der Mitte des zweitenLebensjahres begann Stephan zu laufen. Seine Sprachentwicklung war unauffällig. Schonzur Kindergartenzeit wirkte Stephan sehr tollpatschig und motorisch ungeschickt. Im Altervon neun Jahren begannen Ticks wie <strong>bei</strong>spielsweise Grunzen, Augenzwinkern und Händeschütteln.Außerdem beobachtete man in diesem Alter zunehmende dystone Bewegungsmuster,welche obere und untere Extremitäten wechselseitig betrafen. In den ersten Schuljahrenwurde dann beobachtet, dass Stephan <strong>bei</strong> handschriftlichen Tätigkeiten über ein extremlangsames Ar<strong>bei</strong>tstempo im Gegensatz zu seinen Mitschülern verfügte. Schon zu dieserZeit wurden auch Anzeichen eines inkompletten Mundschlusses mit vermehrterem Speichelflussfestgestellt. Einige Jahre später wurde Stephan von der Benotung im Sportunterrichtfreigestellt. Seine schriftlichen Leistungen wurden nicht mehr bewertet. Bevor Stephandann mit Verdacht auf Epilepsie in das Carl- Thiem- Klinikum in Cottbuseingewiesen wurde, bemerkte man einen zunehmenden Gleichgewichtsverlust <strong>bei</strong> abruptenBewegungen bzw. Bewegungsänderungen. Progrediente, dystone Bewegungsstörungen,auffallend langsame Schrittfolge sowie der Gleichgewichtsverlust <strong>bei</strong> plötzlich einschießendenBewegungsmustern wurden auch während des zweiten Klinikaufenthaltes inMünster beobachtet. Bei <strong>bei</strong>den Klinikaufenthalten in Cottbus und in Münster wurde Stephanals mental altersentsprechend entwickelter Junge in einem klinisch guten Allgemeinzustandbeschrieben. Er war zu diesem Zeitpunkt im Alter von elf bzw. zwölf Jahren.www.foepaed.<strong>net</strong>


Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt 35Da die therapeutischen Ansätze <strong>bei</strong> einer Erkrankung an NBIA außerordentlich begrenztsind, wurde Stephan eine Medikamententherapie mit der Einnahme von Vigabatrin verord<strong>net</strong>.Dieses Medikament ist ein Antiepileptikum (vgl. REUTER 2004, Springer- LexikonMedizin. S. 2270) und soll eine Befundstabilisierung bzw. eine leichte Befundverbesserungbewirken. Vigabatrin wurde auch in einem weiteren Fall an der Klinik Münster mit Erfolgverord<strong>net</strong>. Zusätzlich berichtet Frau Dr. HAYFLICK über positive Ergebnisse dieser Behandlungsmethode.Bei der Schwere des sich hier entwickelnden Krankheitsbildes hieltman es außerdem für gerechtfertigt, die übrigen zur Verfügung stehenden Medikamentezur Therapie der dystonen Bewegungsstörungen einzusetzen. Sollten die erhofften Effekteallerdings ausbleiben, werden diese Medikamente wieder abgesetzt. Stephan bekamdann 1998 Narcom retard verschrieben, welches nach Angaben der Eltern wirksam ist.Wenn man dieses Medikament absetzen würde, käme es zu einer deutlichen Erhöhungdes Muskeltonus. In den folgenden Jahren machten sich die überwiegend progredientenSymptome der so seltenen Krankheit immer stärker bemerkbar. Er lief immer unsichererund stolperte sehr oft. Schnelle Abstützreaktionen im Falle eines Sturzes waren ihm nichtmehr möglich. In Folge dessen stürzte Stephan gegen Ende des zwölften Lebensjahresso schwer, dass er sich eine schwere Schädelbasisfraktur zuzog und für drei Tage imKoma lag. Die Beweglichkeit der Arme verschlechterte sich im Alter von vierzehn Jahrenakut. Außerdem kam es zu gravierenden Ausfällen der Sprech- und Kaufähigkeiten.Seit dem sechszehnten Lebensjahr kann Stephan keine längeren Strecken mehr selbstständiglaufen. Er zeigt in seinem Gangbild stark ausgeprägte choreatiforme Bewegungsmuster.Parallel dazu nahmen auch Stephans feinmotorische Fähigkeiten <strong>bei</strong>m Einsatzder Hände und Finger ab. Bis zum vierzehnten Lebensjahr war es Stephan nochmöglich mit zwei Fingern in der Schule am Computer mitzuschreiben, zwei Jahre späterschreibt er nur noch mit den Ellenbogen. Diese komplexe Verschlechterung des Zustandesbis zu seinem siebzehnten Lebensjahr führte dazu, dass <strong>bei</strong> einem planmäßigen stationärenAufenthalt im Universitätsklinikum Münster eine Implantation von Tiefenhirnstimulationselektrodenin der neurochirurgischen Abteilung vorgenommen wurde. Bei derAufnahmeuntersuchung beschrieben die Ärzte Stephan als einen freundlichen und kooperativenjungen Mann, der eine völlig normal entwickelte Intelligenz besitzt. Sein Erscheinungsbildist durch eine ausgeprägte Dysarthrophie, sowie eine athetotisch- choreatiformeBewegungsstörung charakterisiert. Eine Ataxie liegt nicht vor.Die Implantation der Elektroden wurde nach ausgiebiger Planung am 14. 08. 2002 erfolgreichdurchgeführt, auch der postoperative Verlauf war komplikationslos. Im Anschluss andiese Operation wurden regelmäßig Einstellungsveränderungen auf der neurochirurgi-www.foepaed.<strong>net</strong>


Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt 36schen Station vorgenommen. Bei einer übermäßigen Stimulation wurde mehrfach ein depressivesBefinden von Stephan beobachtet. Doch durch Rücknahme der Spannungsamplitude,welche für das Ausmaß der Stimulation verantwortlich ist, normalisieren sichauch wieder seine Befindlichkeiten. Stephan hat die Einstellungen sehr gut vertragen. DieTransplantation des Stimulators erfolgte knapp zwei Wochen später, am 30. 08. 2002,ebenfalls problemlos. Zusätzlich zu den Feineinstellungen begannen für Stephan ErgoundPhysiotherapie sowie Logopädie. Ein Zusammenwirken aller Behandlungen wurde fürdie zukünftige klinische Verbesserung des Gesamtzustandes als essentiell angesehen.Schon nach nur vier Wochen kam es zu einem deutlichen Nachlassen der Dystonie. Erkonnte besser laufen und seine Hände relativ gut bewegen. Die Bedienung seines Laptopsist bis heute wieder mit zwei Fingern möglich. Darüber hinaus kann Stephan selbstständigüber eine gewisse Distanz gehen. Seine Sprechfähigkeit verbesserte sich merklich.Eine Diagnose mit einem letalem Ende des Krankheitsverlaufes aus medizinischer Sichtzu beschreiben ist die eine Seite des Problems. Doch die sozialen und emotionalen Einschnitteim Leben von Betroffenen und Angehörigen sind die andere. Sie haben andereSichtweisen und Konflikte im Umgang mit der schweren Erkrankung eines Familienmitgliedes.Der Erfahrungsbericht von Stephans Mutter soll die familiäre Situation nach der Diagnoseund die Perspektiven des Zusammenlebens mit ihrem erkrankten Sohn verdeutlichen.2.2 ErfahrungsberichtDie Entwicklung von Stephan verlief bis zu seinem zehnten Lebensjahr zunächst unauffällig.Im vierten Schuljahr zeigten sich doch einige Unregelmäßigkeiten in seinem Schriftbild.Er konnte den Füllhalter nicht richtig halten und schaffte sein Pensum während derKlassenar<strong>bei</strong>ten nicht. Dazu kamen dann auch noch einige Ticks, wie das Händeschütteln,und es gab Auffälligkeiten <strong>bei</strong> schnellen Bewegungen. Dies spiegelten auch einigeÜbungen im Sportunterricht wider. Bei Ballspielen wie z.B. Handball, Volleyball und Fußballstürzte Stephan oft. Zur Behandlung der Ticks suchten wir Hilfe <strong>bei</strong> Kinder- und Jugendpsychologenin Lübben und Senftenberg (Anmerkung: Lübben und Senftenberg sindzwei frühere Kreisstädte in der näheren Umgebung von Stephans Wohnort Finsterwalde).Nach der Verordnung einiger beruhigender Medikamente änderte sich an der Situationvon Stephan erst einmal nichts. Zur Abklärung seiner Symptome wurde er durch eineKinderpsychologin nach Cottbus in das Carl- Thiem- Klinikum eingewiesen. Nach einemwww.foepaed.<strong>net</strong>


Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt 38werdenden Störungen der Bewegungsabläufe zurückzuführen war. Im Jahr 1999 mussteStephan nach einem Sturz mit einem Schädel- Hirn- Trauma und starken Gehirnblutungennotoperiert werden. Dazu musste Stephan bis zu drei Wochen im Krankenhaus Lübbenstationär behandelt werden. Aber auch durch längeren Schulausfall verpasste Stephannie den Anschluss in der Schule. Obwohl Stephan mit Hilfe des Laptops amUnterricht teilnehmen konnte, fiel ihm das Schreiben auf der Tastatur sehr schwer. Seinegesamten Mitschriften und die Klausuren in der zehnten Klasse verfasste Stephan mit denEllenbogen. Er bestand auch alle Prüfungen mit Zeitzugabe. Um weiteren Gefahren vorzubeugenwurde zu Beginn der elften Klasse eine Lehrerkonferenz einberufen. Hier wurdenun noch einmal die Bewältigung des Schulalltages diskutiert. Lehrer und Erzieherlehnten zunächst die Verantwortung ab, Stephan ständig zu beaufsichtigen. Untersuchungenzum Förderbedarf durch die zuständigen Pädagogen der Förder- und BeratungsstelleFinsterwalde brachten wichtige Ergebnisse und Anregungen zur weiteren Beschulungvon Stephan, die dann auch vom Gymnasium akzeptiert wurden. Man kam hiergemeinsam zu dem Entschluss, dass eine integrative Beschulung nur mit Unterstützungeines Einzelfallhelfers für Stephan effektiv realisiert werden kann.Auch im täglichen Leben zu Hause wurde es mit Stephan schwierig. Man musste ihn <strong>bei</strong>allen Verrichtungen am Tag behilflich sein. Seine Muskelkrämpfe wurden so stark, dass erauch kaum an außerschulischen Veranstaltungen teilnehmen konnte.Hierzu kamen, besonders in den Ferien, starke Stimmungsschwankungen bis hin zu Depressionen.Stephan wollte dann nichts mehr essen und war immer nur traurig. Seine Geschwisterkonnten überall alleine hin und er war immer auf unsere Hilfe angewiesen. ImAugust 2002 bekamen wir dann endlich die Bestätigung aus der Uni- Klinik Münster füreine Operation an Stephans Gehirn. Die Mediziner wollten <strong>bei</strong> Stephan Elektroden in dasGehirn implantieren, die mit einem Stimulator verbunden sind. Dieser wurde unter demSchlüssel<strong>bei</strong>n eingesetzt. Dadurch sollte die Motorik von Stephan unterstützt bzw. gesteuertwerden. Diese Operation dauerte acht Stunden. In unserer Familie konnten wiruns so abstimmen, das immer jemand <strong>bei</strong> ihm in der Klinik war. Das war für StephansGenesung sehr wichtig. Trotz der Schwere seines Krankheitsbildes und der ihm bevorstehendenOperation war er dem Klinikpersonal und seinen Mitpatienten gegenüber immersehr positiv denkend. Er hatte immer viel Mitgefühl mit Patienten, denen es auch sehrschlecht ging. Meistens waren es auch noch kleinere Kinder, deren Schicksal Stephansehr betroffen machten.Während des achtwöchigen Klinikaufenthaltes liefen am Janusz Korczak Gymnasium dieVorbereitungen um für Stephan einen geregelten Schulalltag zu gewährleisten. Die Anträ-www.foepaed.<strong>net</strong>


Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt 39ge zur Bereitstellung eines Einzelfallhelfers für Stephan wurden in dieser Zeit ebenfallsbewilligt. Der Stundenplan wurde für Stephan so gestaltet, dass die Wege zwischen denverschiedenen Fachräumlichkeiten so kurz wie möglich sind. Alle Lehrer sind bemühtStephan mit Disketten und Kopien zu unterstützen, damit er im Stoff weiterhin gut mitkommt,ohne alles im Unterricht mitschreiben zu müssen. Nach der Operation in Münsterhat sich der Gesundheitszustand von Stephan wieder etwas verbessert. In gewissen Abständenmüssen wir nun nach Münster fahren, damit dort die Elektroden nachgestelltwerden können. Nun hoffen wir, das Stephan allen Anforderungen gerecht wird und seinAbitur trotz seiner starken Einschränkung bestehen kann. Nach der Abiturprüfung wirdsich zeigen, wie es weitergehen wird. Sicherlich kommt ein Studium oder eine Ausbildungin unmittelbarer Nähe des Heimatortes in Betracht.2.3 Entwicklung zur integrativen Beschulung nach der Diagnose NBIAUnmittelbar nachdem die zweiten Untersuchungen zum Verdacht auf NBIA im KlinikumMünster beendet und alle Befunde ausführlich ausgewertet wurden, bestätigte im Oktober1997 ein Arztbrief die Diagnose NBIA <strong>bei</strong> Stephan endgültig. In diesem Schreiben desKlinikums werden den Eltern bereits erste Vorschläge und Empfehlungen für den weiterenSchulbahnverlauf ihres Sohnes unterbreitet.Man ist der Meinung, Stephan <strong>bei</strong> mental unauffälligem altersentsprechenden Befund eineSchulausbildung solange als eben mögliche zu garantieren. Bereits frühzeitig sollte aufeine adäquate Beschulung geachtet werden, damit Schule im Laufe der Zeit nicht zu einerzusätzlichen Belastung wird. Darüber hinaus ist auch dringend eine angemessene Hilfsmittelversorgungzu gewährleisten. Für Fragen wurde den Eltern eine Kontaktadresse derim Universitätsklinikum Münster integrierten Helen- Keller- Schule mitgeteilt. Diese städtischeSchule für kranke Kinder und Jugendliche, die sich über einen längeren Zeitraum instationärer Behandlung befinden, umfasst einen Primarbereich sowie die Sekundarstufe Iund II. Dort hatte die Familie nun vorerst die Möglichkeit, sich in einem Gespräch mit spezialisiertenPädagogen über die von Stephan benötigten Hilfsmittel für den Unterricht umfassendzu informieren. Ein Ergebnis aus diesem Gespräch war, dass man sich für Stephanum einen tragbaren Computer kümmern müsse. Damit ist es ihm zu ermöglichen,vorerst an einem geregeltem Schulleben weiterhin teilzunehmen. In Finsterwalde wurdenmit Unterstützung der sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstelle die entsprechendenAnträge gestellt. Es folgte die Begutachtung zum sonderpädagogischen Förderbedarf.Der Laptop wurde Stephan als adäquates Hilfsmittel für die Bewältigung desSchulalltages gewährt.www.foepaed.<strong>net</strong>


Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt 40Im Jahr 2002 wurde beschlossen, <strong>bei</strong> Stephan eine Implantation von Tiefenhirnstimulationselektrodendurchzuführen (siehe auch Kapitel 2.1 Krankheitsverlauf und bisherigeTherapien). Im Rahmen der Voruntersuchungen zu dieser geplanten Operation begabsich Stephan vom 13. 05. 2002 bis zum 16.05. 2002 in die Uni- Klinik- Münster und stelltesich unter anderem erneut zu einer Begutachtung in der Helen- Keller- Schule vor. DieErgebnisse dieser Untersuchungen und die daraus resultierenden Empfehlungen zu weiterenBeschulung wurden in einem Brief vom 16. 05. 2002 an die Schulleitung des JanuszKorczak Gymnasiums dokumentiert. Hier heißt es sinngemäß, dass Stephans allgemeinesLern- und Leistungsverhalten sowie seine kognitiven Leistungsfähigkeiten den Anforderungendes Gymnasiums entsprechen, obwohl seine Feinmotorik und seine Sprechfähigkeitenkrankheitsbedingt verlangsamt bzw. eingeschränkt sind. Beim Nachweis vonLeistungen ist Stephan erheblich benachteiligt, weil die Ergebnisse seine tatsächlichenKenntnisse und Fähigkeiten nur unzureichend widerspiegeln. Es wird empfohlen im Sinneder Gesetzgebung des Sozialgesetzbuches IX, dem Behindertengleichstellungsgesetzsowie dem Brandenburgischen Schulgesetz für einen Nachteilsausgleich zu sorgen. (siehehierzu auch Kapitel 3.1 Gesetzliche und bildungspolitische Voraussetzungen)Um auch weiterhin eine effektive integrative Beschulung am Janusz Korczak Gymnasiumfür Stephan zu gewährleistet, sollte in Zukunft die Zusammenar<strong>bei</strong>t mit einem Zivildienstleistendenzur Assistenz während der Schulzeit und als Hausaufgabenbetreuung in Betrachtgezogen werden. Der Einsatz entsprechender Hilfsmittel ist unabdingbar. Es geht inerster Linie um den Computereinsatz mit entsprechender Hard- und Software sowie Tastatureingabehilfenund Mausadaptationen. Außerdem kann es sehr hilfreich sein, Stephaneine Verlängerung der Bear<strong>bei</strong>tungszeiten <strong>bei</strong> bestimmten Leistungsnachweisen zu gewähren.Ziel aller Maßnahmen sollte es nach Meinung der Beteiligten sein, eine Förderung fürStephan zu gewährleisten, die im Wesentlichen seine Fähigkeiten und Neigungen berücksichtigt.Dazu gehört auch die Fortführung der bisherigen Schullaufbahn. Wie das imkonkreten Fall bewältigt wird, welche Hilfestellungen, Hilfsmittel und pädagogische DifferenzierungsmaßnahmenStephan da<strong>bei</strong> unterstützen, seinen Tagesablauf in der Schulezu bewältigen bzw. welche Vorraussetzungen auf gesetzlicher und bildungspolitischerEbene für ein solches Beschulungsprojekt generell erst einmal erfüllt werden müssen, sollim dritten Abschnitt dieser Ausführungen näher erläutert werden. Im anschließenden Kapitelmöchte ich zunächst die Sichtweise von Stephan auf Schule und das Schulleben inForm eines Interviews darstellen.www.foepaed.<strong>net</strong>


Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt 412.4 Lernen wie alle anderen – Interview mit StephanStephan ist durch eine gute Beratung und Betreuung in seine Schule und seine Kurseoptimal integriert. Seine Förderung ist individuell auf seinen Bedarf abgestimmt und allean der Hilfe Beteiligten beraten regelmäßig weitere Schritte und stimmen die Vorgehensweiseab. Stephan und seine Familie fühlen sich am Korczak Gymnasium gut aufgehoben.Viele seiner Mitschüler kennen Stephan aus der Grundschule, die Integration ist dadurcherleichtert worden. Die Kinder kannten auch den gesunden Jungen und warenschnell bereit sich auf ihn einzustellen. Im Interview schildert Stephan seine eigenen Erfahrungenund Empfindungen im Umgang mit seiner seltenen schweren Krankheit. Erschreibt über die damit verbundenen Anstrengungen, die er gerne auf sich nimmt, umsein Ziel, den Schulbesuch mit dem Abitur zu beenden, auch erreicht.Das Interview mit Stephan erfolgte auf seinen Wunsch in schriftlicher Form. Er bekam denFragebogen per E- Mail geschickt und ich erhielt seine Antworten auch auf diesem Wegzurück. Beobachtungsmöglichkeiten waren dadurch nicht gegeben. Seine momentane Situationist durch Abiturvorbereitungen gekennzeich<strong>net</strong>.Er unternimmt große Anstrengungen um allen Anforderungen gerecht zu werden und gehtda<strong>bei</strong> oft an seine eigenen Grenzen. Für ihn gilt die alte Weisheit: „ Der Weg ist das Ziel.“und das ist Motivation und gibt ihm Kraft.2.4.1 DurchführungWas hat sich für dich nach deiner NBIA- Diagnose am Schulleben verändert?„Die Diagnose NBIA wurde gestellt, als ich in der 5.Klasse war. Bis dahin konnteich noch ganz gut mit der Hand schreiben. Ab der 6. Klasse wurde es schwieriger,den Füllhalter zu halten. Auch hatte ich Probleme mit dem Gleichgewichtund stürzte einige Male auf der Treppe und auf dem Schulhof. Vom Sportunterrichtwurde ich mit einem Attest befreit. Ab der 7. Klasse bekam ich einen Laptop(den meine Eltern selber kauften) für den Schulunterricht. Auch war ich auf dieHilfe meiner Mitschüler angewiesen, die mir <strong>bei</strong>m Tragen der Schulbücher unddes Laptops behilflich waren.“Warum hast du dich für eine weitere Beschulung am Gymnasium und dem damit verbundenenAbiturprüfungen entschieden?www.foepaed.<strong>net</strong>


Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt 42„Meine schulischen Leistungen waren nach der 6. Klasse so, dass ich mich fürdas Gymnasium entschieden habe. Es sollte für mich eine Herausforderung sein.Nach einigen Zusammenkünften mit den Lehrern aus der Grundschule und meinenEltern und Bezug nehmend auf die Gutachten meiner behandelnden Ärzteund Professoren konnten wir zwischen zwei Gymnasien wählen. Wir entschiedenuns für das Janusz Korczak Gymnasium. Dort war natürlich meine Situation fürden Direktor und alle Lehrer Neuland. Außerdem fanden wir das Umfeld auf einemGymnasium am geeig<strong>net</strong>esten. Jetzt bin ich froh, dass ich es bis hierhin geschaffthabe. Wenn ich das Abitur in der Tasche habe, werde ich natürlich nochglücklicher sein.“Was bereitet dir momentan die größten Schwierigkeiten, wenn es um die Bewältigung vonUnterricht und Lernen geht?„Je höher der Stress in den Unterrichtsstunden z.B. <strong>bei</strong> Klausuren oder nach vielenStunden ist, um so mehr verkrampfe ich und es geht mir nichts von derHand.“Wie leicht oder wie schwer fällt es dir, Kernaussagen zu speziellen Unterrichtsinhaltenaus einem Unterrichtsgespräch zwischen deinem Lehrer und der Klasse herauszufiltern,für dich zu verar<strong>bei</strong>ten und auf deinem PC festzuhalten?„Mir fällt es nicht schwer die Kernaussagen im Kopf zu formulieren. Weil ich nurmit einer Hand auf dem Notebook schreiben kann, habe ich nur manchmal zeitlicheProbleme, diese aufzuschreiben. Das hängt davon ab, wie schnell der jeweiligeLehrer spricht.“Wie viel Zeit benötigst du um zu Hause Hausaufgaben bzw. Nachar<strong>bei</strong>tungen in Form vonKopien oder diversen Dateien aus dem Unterricht zu bear<strong>bei</strong>ten, richtig zu strukturierenoder fertigzustellen?„Wenn ich von der Schule nach Hause komme, bin ich manchmal ganz schöngeschafft. Das hängt ganz von dem Stress ab, den ich in der Schule hatte. Nacheiner kleinen Ruhepause benötige ich dann doch schon zwei bis vier Stunden umHausaufgaben zu machen, mich auf Klausuren vorzubereiten und die Nachbereitungenaus dem Unterricht zu bewältigen.“Welche speziellen Hilfsmittel kannst du nutzten um deinen Schulalltag erfolgreich zubestreiten, welche Besonderheiten kommen dir da<strong>bei</strong> zu Gute?www.foepaed.<strong>net</strong>


Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt 43„Erst einmal bin ich sehr froh, dass ich einen Einzelfallhelfer an meiner Seite habe,auf den ich mich verlassen kann. Durch ihn kann ich mich auf jede Stundeneu einstellen. Des Weiteren benutze ich einen Laptop mit Touchscreen undSprachausgabe. Dieses Gerät hat mir die Krankenkasse zur Verfügung gestellt.Alle Lehrer und Schüler sind sehr bemüht mir (z.B. <strong>bei</strong> Kurzvorträgen) mit Kopienund Disketten mit Lernstoffen zu helfen. Dafür bin ich meinen Lehrern und Mitschülernsehr dankbar.“Fühlst du dich von deinen Mitschülern akzeptiert, verspürst du evtl. Nachteile oder fühlstdu dich wegen deines Handicaps als Außenseiter, wenn ja durch welche Aktionen und inwelchen Situationen merkst du dies besonders?„Ich fühle mich überhaupt nicht als Außenseiter. Jeder auf dem Gymnasiumkennt mich und akzeptiert mich mit meinen Handicaps. Zur Zeit bin ich verantwortlichfür das Einscannen der Bilder für die Abizeitung.Etwas traurig war ich, als ich an der großen Klassenfahrt nach Italien nicht teilnehmenkonnte. Die Reise wäre für mich trotz Hilfe nicht zu bewältigen gewesen.Diese Fahrt hole ich nach dem Abitur im Sommer mit meiner Familie nach.“Welche Ziele hast du in naher Zukunft, wenn du dein großes Ziel, den Abschluss durchdas Abitur geschafft hast ?„Mein Ziel ist es natürlich, das Abitur zu schaffen. Das wird für mich noch einmalsehr anstrengend. Wenn ich es schaffen sollte, werde ich mich an einer nahe liegendenUni oder Fachhochschule um ein Studium der Informatik, der Mathematikoder der Physik bewerben.“2.4.2 AuswertungStephan hat sich über eine Woche Zeit mit der Beantwortung meiner Fragen gelassen.Ich gehe davon aus, dass er über seine Antworten intensiv nachgedacht hat. Das vorliegendeInterview verdeutlicht die guten geistigen Fähigkeiten von Stephan und zeigt, dassseine verbalen Sprachprobleme keine Rolle <strong>bei</strong> der Anwendung von Worten im Schriftbildspielen. Wenn es ihm auch gelegentlich durch die Verlangsamung bestimmter Prozesseschwer fällt, alles auf dem Laptop mitzuschreiben, ist er durchaus in der Lage alles zu erfassenund zu verstehen. Besonders gut beschreibt Stephan die Wahrnehmung desKrankheitsverlauf aus eigner Sicht. Die damit verbundenen Veränderungen und Belastun-www.foepaed.<strong>net</strong>


Stephan, am NBIA- Syndrom erkrankt 44gen nehmen einen breiten Raum ein. Hilfsangebote nimmt er gerne entgegen und bringtsich selbst entsprechend seiner Möglichkeiten in den Schulalltag mit ein. Stolz äußert ersich zum Nahziel, seinem Abitur, spricht aber mit gleicher Gewissheit auch über seine Zukunftals Student in der Region. Momentane Erschöpfungszustände und ein erhöhtes Ruhebedürfnissind vergessen, wenn es um seine Zukunftspläne geht. Die Rolle seines Einzelbetreuershebt er besonders hervor und für die Hilfestellungen und den zusätzlichenAr<strong>bei</strong>tsaufwand seiner Fachlehrer ist er dankbar. Seine Einbeziehung in die Vorbereitungder Feierlichkeiten zum Abitur ist selbstverständlich.Für besonders richtungsweisend halte ich die Aussage: „Ich fühle mich überhaupt nichtals Außenseiter. Jeder auf dem Gymnasium kennt mich und akzeptiert mich mit meinenHandicaps.“ Das zeigt deutlich, dass der Integrationsprozess in der Praxis gut zu gestaltenist.Voraussetzungen für das Gelingen von integrativen Maßnahmen sind die transparentePlanung und die nachvollziehbare Umsetzung aller Teilziele im Prozess der Förderung.Das Zusammenwirken von Betroffenen, Hilfeleistenden und sozialem Umfeld ist von besondererBedeutung für das Gelingen dieser Projekte.www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 453 Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung einesAbitursIm Verlauf der vorliegenden Ar<strong>bei</strong>t wurde bereits mehrfach von mir darauf hingewiesen,dass verschiedenste Voraussetzungen erfüllt werden müssen, um einen Schüler mit körperlichenBeeinträchtigungen in einer Sekundarstufe integrativ zu beschulen. Pädagogen,welche in den oberen Klassen unterrichten, waren häufig der Meinung, dass Integrationeher für den Kindergarten oder die Vorschule geeig<strong>net</strong> sei. Mittlerweile ist man sich darineinig, dass ein gemeinsamer Unterricht bis zur vierten Klasse relativ problemlos umsetzbarist. Die gemeinsame Beschulung von Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarfund Jugendlichen ohne diesen in einer weiterführenden Oberstufe bzw. an einemGymnasium halten viele für nicht realisierbar (vgl. SCHÖLER, J. 1999, IntegrativeSchule- Integrativer Unterricht. S. 259). Worin liegen dafür die Ursachen, welche Begründungengibt es? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen gestalten sich sehr vielseitigund sie fallen keineswegs eindeutig aus. „Offensichtlich ist in der Sekundarstufe auf demHintergrund eines selektiven dreigliedrigen Schulsystems das Spannungsverhältnis zwischenindividueller Förderung und gemeinsamen Unterricht noch größer als in der Grundschule.“(PREUSS- LAUSITZ U.; MAIKOWSKI R. 1998, Integrationspädagogik in der Sekundarstufe.Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Jugendlicher. S.219)Diese These ist im Kern ihrer Aussage auch auf die gymnasiale Oberstufe zu beziehen.An dieser Stelle zeichnen sich auch weitere wesentliche Probleme für die Fortführung vongemeinsamen Unterricht für alle Schüler in einer Sekundarstufe ab. Das gymnasialeKurssystem sowie das Fachlehrerprinzip erschweren nach Auffassung der meisten Lehrerinnenund Lehrern den Integrationsprozess an einer gymnasialen Oberstufe. Dazu kommendie relativ hohen Klassenfrequenzen und die Tatsache, dass Unterricht am Gymnasiumsehr eng an einen curricularen Ablaufplan gebunden ist.Weitere Antworten von Lehrern auf die Frage, warum es so schwer ist, allen Schülern imFachunterricht der Sekundarstufe gerecht zu werden, lauten: „Weil die stofflichen Anforderungenso hoch sind und es zu viel Stoff ist.“,„Weil das Unterrichtsangebot einseitig kognitiv überfrachtet ist,“ oder „Weil der Unterrichtstagzu sehr zergliedert ist“. (PREUSS- LAUSITZ U.; MAIKOWSKI R. 1998, Integrationspädagogikin der Sekundarstufe. Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderterJugendlicher. S.219)Dass integrativer Unterricht in einer Sekundarstufe trotzdem recht erfolgreich umgesetztwerden kann, inwiefern äußere und innerschulische Rahmenbedingungen geändert wer-www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 46den mussten und wie Unterricht mit Integration konkret praktiziert wird, sollen die folgendenAbschnitte verdeutlichen. Um für Stephan eine adäquate Beschulung am JanuszKorczak Gymnasium in Finsterwalde zu ermöglichen, waren verschiedenste Hilfestellungenund Unterstützungsformen von Nöten. Selbstverständlich basieren alle Hilfen und Unterstützungenfür eine erfolgreiche Integration eines schwerbehinderten Jugendlichen,egal ob es um einen Laptop als Unterrichtshilfe oder um die Begleitung durch den Einzelfallhelfergeht, auf umfassenden gesetzlichen Regelungen, die in den anschließendenAusführungen näher erläutert werden.3.1 Gesetzliche und bildungspolitische VoraussetzungenNeben einer Vielzahl von landesrechtlichen Regelungen, welche den Prozess einer integrativenBeschulung im gesetzlichen Rahmen steuern, gibt es auch Bestimmungen aufbundesrechtlicher Ebene. So heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik DeutschlandArtikel 3 Abs. 3 Satz 2: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.(BUNDESMINISTERIUM DER JUSTIZ 2002, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.Online im Inter<strong>net</strong>.). Im Folgenden möchte ich einige wesentliche Inhalte von Gesetzenund bildungspolitischen Grundsätzen darlegen, welche speziell für die Umsetzung der Integrationim Fall von Stephan von Bedeutung sind.Es steht da<strong>bei</strong> natürlich in Anlehnung an die Aussage aus dem Grundgesetz das allgemeineRecht auf Bildung für junge Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf imVordergrund. Das soll nach § 3 Abs. 4 des Brandenburgischen Schulgesetzes mit Vorrangfür den gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischenFörderbedarf in Grundschulen, weiterführenden Schulen und Oberstufenzentrenumgesetzt werden, wenn diese über eine entsprechende Ausstattungverfügen.Voraussetzung dafür ist allerdings, dass für den jeweiligen Einzelfall eine angemessenepersonelle, räumliche und sächliche Ausstattung vorhanden ist oder geschaffen werdenkann (vgl. MINISTERIUM FÜR BILDUNG, JUGEND UND SPORT DES LANDES BRANDENBURG2004, Brandenburgisches Schulgesetz (BbgSchulG). Online im Inter<strong>net</strong>.).Weitere Gesetzesgrundlagen, <strong>bei</strong>spielsweise zur Bereitstellung von Hilfsmitteln und zurWiedereingliederung von Menschen mit Behinderung, sind im Bundessozialhilfegesetzverankert. Es heißt im Unterabschnitt 7 zur Eingliederungshilfe für behinderte Menschengemäß § 39 Abs. 1: Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesell-www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 47schaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedrohtsind, ist Eingliederungshilfe zu gewähren, wenn und solange nach der Besonderheitdes Einzelfalles, vor allem nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht,dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Personen mit einer anderenkörperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung kann Eingliederungshilfe gewährtwerden (vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT UND SOZIALE SICHERUNG 2003, Bundessozialhilfegesetz.Online im Inter<strong>net</strong>.).Zu den Leistungen der Eingliederungshilfe zählen laut § 40 Abs. 4 auch Hilfen zu einerangemessenen Schulbildung, vor allem im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zumBesuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungenüber die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflichtbleiben unberührt (vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT UND SOZIALE SICHERUNG2003, Bundessozialhilfegesetz. Online im Inter<strong>net</strong>.).Das Kinder- und Jugendhilfegesetz ist ebenfalls ein Bundesgesetz und regelt die Finanzierungvon geeig<strong>net</strong>em Personal zur Eingliederung behinderter Kinder und Jugendlicher,wenn das von den Schulen bereitgestellte Personal nicht ausreicht. Einzelheiten sind hierim § 27 ff. festgehalten, außerdem kommt in diesem Fall § 35a zur Anwendung. Der besagt,dass Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe haben, wenn ihreseelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem fürihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaftbeeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Gleichzeitig istHilfe zur Erziehung zu leisten. So sollen Einrichtungen, Dienste und Personen in Anspruchgenommen werden, die geeig<strong>net</strong> sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfezu erfüllen als auch den erzieherischen Bedarf zu decken.Sind heilpädagogische Maßnahmen für Kinder in Tageseinrichtungen notwendig und sinddiese noch nicht im schulpflichtigen Alter, ist der Hilfebedarf so zu gewähren, dass Einrichtungenin Anspruch genommen werden, in denen behinderte und nichtbehinderte Kindergemeinsam untergebracht sind (vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN,FRAUEN UND JUGEND 2003, Sozialgesetzbuch- Achtes Buch. Kinder- und Jugendhilfe. Onlineim Inter<strong>net</strong>.).Auf der Basis dieses Gesetzestextes konnte der Bedarf der Einzelfallbetreuung für Stephanwährend des Unterrichts und der Schulzeit begründet bzw. realisiert werden. Um dieschulischen Anforderungen der gymnasialen Oberstufe trotz seiner körperlichen Beeinträchtigungenbewältigen zu können, war es für Stephan unabdingbar, mit Hilfe des För-www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 48derausschusses einen Antrag auf Nachteilsausgleich zu stellen. Im Sozialgesetzbuch IXwird der Nachteilausgleich im § 126 wie folgt definiert: Die Vorschriften über Hilfen für behinderteMenschen zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile oder Mehraufwendungen(Nachteilsausgleich) werden so gestaltet, dass sie unabhängig von der Ursacheder Behinderung der Art oder Schwere der Behinderung Rechnung tragen (vgl.BUNDESMINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT UND SOZIALE SICHERUNG 2004, Sozialgesetzbuch-Neuntes Buch. Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Online im Inter<strong>net</strong>.).Das heißt, laut der Verordnung über Unterricht und Erziehung für junge Menschen mitsonderpädagogischem Förderbedarf vom 26. März 2002, bezieht sich der Nachteilsausgleichauf die Veränderung der äußeren Bedingungen für eine mündliche, schriftliche oderpraktische Leistungsfeststellung <strong>bei</strong> Schülerinnen und Schülern mit einer erheblichenSprachauffälligkeit sowie mit Sinnes- oder Körperbehinderung. Diese Verordnung wirdauch als Sonderpädagogik- Verordnung (SopV) bezeich<strong>net</strong>. Weiter können Bestimmungenzum Nachteilsaugleich auch Veränderungen des zeitlichen Rahmens, Verwendungpersoneller und technischer Hilfsmittel, mündliche statt schriftliche Leistungsnachweiseoder eine individuelle Leistungsfeststellung in einer Einzelsituation <strong>bei</strong>nhalten. Zeitlich begrenztkann in einzelnen Fächern auf Beschluss der Klassenkonferenz die Ziffernbenotungdurch eine verbale Beurteilung der Leistungsentwicklung ergänzt werden. Dies giltjedoch nicht für die Jahrgangsstufen Zwölf und Dreizehn im Bildungsgang zum Erwerbder Allgemeinen Hochschulreife.Die Leistungsanforderungen müssen den Zielsetzungen der Rahmenlehrpläne und desbesuchten Bildungsganges entsprechen (vgl. MINISTERIUM FÜR BILDUNG, JUGEND UNDSPORT DES LANDES BRANDENBURG 2002: Verordnung über Unterricht und Erziehung fürjunge Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Sonderpädagogik- Verordnung-SopV). Online im Inter<strong>net</strong>.). Auf dieser Grundlage des § 15 Abs. 5 der Sonderpädagogik-Verordnung wurden für Stephan die individuellen Modifikationen der UnterrichtsundPrüfungsrichtlinien beantragt. Nach mehrmaliger Abstimmung mit dem MINISTERIUMFÜR BILDUNG, JUGEND UND SPORT DES LANDES BRANDENBURG und dem Förderausschusswurden dann <strong>bei</strong>spielsweise Zeitverlängerungen für schriftliche Klausuren, Ar<strong>bei</strong>ten undPrüfungen genehmigt.Nach diesem Einblick in die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die es für Stephan überhaupterst ermöglichen, seinen Schulalltag am Janusz Korczak Gymnasium zu bewältigen,möchte ich zwei Interviews anführen. Die Sichtweisen von Personen, die aktiv undindividuell an diesem Beschulungsprojekt beteiligt sind, ermöglichen es mir den komplexenProzess einer integrativen Beschulung umfassend und detailliert darzustellen. Zumwww.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 49einen hatte ich die Möglichkeit, mit der sonderpädagogischen Beratungslehrerin des Förderauschussesein Gespräch zu führen, zum anderen habe ich mit dem Einzelfallbetreuervon Stephan sprechen dürfen. Zielstellungen sowie der Verlauf der Interviews und diedaraus resultierenden Ergebnisse werden in den folgenden Kapiteln dokumentiert.3.2 Interview mit der betreuenden Körperbehindertenpädagogin der sonderpädagogischenFörder- und Beratungsstelle FinsterwaldeMit Frau Jäpel habe ich am 11.02.05 im Büro der sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstellein der Förderschule für geistig Behinderte in Finsterwalde gesprochen.Auf ihre Bitte hin hatte ich meine Fragen als E- Mail bereits einige Tage vorher an sie geschickt.So hatte sie die Möglichkeit sich vorzubereiten und konnte meine Fragen sehrpersonen- und sachbezogen beantworten. Gegenstand des so geführten problemzentriertenInterviews war es, über die bildungspolitischen Voraussetzung für diese Form der Integrationzu sprechen, die Zukunftschancen für Stephan aus der Sicht der speziell dafürausgebildeten Pädagogin zu erläutern und Erfahrungen für die weitere integrative Beschulungvon Behinderten abzuleiten sind Inhalt weiterer Fragen zu diesen Sachverhalten.Frau Jäpel ist, wie meine anderen Gesprächspartner auch, in alle wichtigen Entscheidungenum Stephans Förderung involviert.Sie kennt die Fakten zur Integration an der Schule sehr gut und verfügt über die nötigenfachlichen und sozialen Kompetenzen zur Einschätzung des Zustandes von Stephan. Ichhabe das Gespräch mit Zustimmung aufgezeich<strong>net</strong>.3.2.1 DurchführungWas ist individueller Förderbedarf und wie wird er ermittelt?„Man kann sagen, dass <strong>bei</strong> der Erhebung des Förderbedarfs die individuelleAusgangslage des Kindes und Jugendlichen, sein Lern- und Sozialverhalten,seine emotionale Befindlichkeit sowie das schulische und außerschulische Umfeldbetrachtet wird. Das Kind oder der Jugendliche ist da<strong>bei</strong> nicht nur unter demBlickwinkel seiner Beeinträchtigungen zu sehen, sondern als ganzheitlich Handelnderund Gestalter der eigenen Entwicklung. Die gewonnenen Erkenntnisseund Befunde gehen in die Beratung mit den Eltern, ggf. mit dem volljährigenSchüler, zur Entscheidungsfindung ein. Von einer im Förderschwerpunkt ausgebildetenLehrkraft werden die Erkenntnisse in einem Gutachten zusammengefasstund bewertet. Dieses Gutachten berücksichtigt die Stellungnahmen aller anwww.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 50der Förderung beteiligten Personen und wird der Schulaufsicht mit einer Empfehlungzur Entscheidung über notwendige sonderpädagogische Fördermaßnahmenvorgelegt. Bei der Entscheidung werden berücksichtigt: Art und Umfang des Förderbedarfs,Ergebnisse der Beratung mit den Eltern, ggf. auch mit dem Schülerund beratenden Gremien, Fördermöglichkeiten der allgemeinen Schule und derSonderschule, Verfügbarkeit des erforderlichen Personals, Verfügbarkeit technischerund apparativer Hilfsmittel sowie spezieller Lehr- und Lernmittel und eswerden baulich- räumliche Voraussetzungen berücksichtigt.“Wann wurde im konkreten Fall von Stephan Förderbedarf ermittelt?„Bei Stephan wurde mit dem Übergang von der Grundschule zum Gymnasiumein sonderpädagogischer Förderbedarf aufgrund seiner Körperbehinderung festgestelltund ein Nachteilsausgleich beantragt, dieser wurde dann auch durch dasSSA gewährt. Mit dem Übergang in Klasse Elf entstanden neue Anforderungen,die allein mit dem Nachteilsausgleich durch Stephans motorische Einschränkungennicht mehr zu erbringen waren. So wurden durch den Förderausschuss neueBedingungen für eine erfolgreiche integrative Beschulung erar<strong>bei</strong>tet und formuliert.“Welche Mitglieder gehören zum Förderauschuss?„Mitglieder des Förderausschusses sind im Fall von Stephan die Schulleitung, diestellvertretene Schulleitung und der Oberstufenkoordinator des Korczak Gymnasiums,weiterhin Stephans Tutor, seine Eltern, er selbst, der Schulrat, ein Vertreterdes Schulträgers und ich als Sonderpädagogin.“Welche bildungspolitischen Voraussetzungen waren für die integrative Beschulung vonStephan von besondere Bedeutung?„Für die Integration von Stephan war vor allem der Antrag zum Nachteilsausgleichvon großer Bedeutung. Da haben wir uns in erster Linie auf den § 15 Abs.5 der SoPV (Anmerkung: mit SopV ist hier die Sonderpädagogik- Verordnungbzw. die Verordnung über Unterricht und Erziehung für junge Menschen mit sonderpädagogischemFörderbedarf gemeint) bezogen, dort sind die gesetzlicheGrundlagen zum Nachteilsausgleich geregelt. Weiterhin gibt es da den § 3 Abs. 4des Brandenburgischen Schulgesetzes und eine ganze Reihe von bundesrechtlichenReglungen, das beginnt schon im Grundgesetz, dort steht im Artikel 3:‚Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.’“www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 51Gibt oder gab es in der Vergangenheit vergleichbare Projekte zur integrativen Beschulungvon Schülern mit körperlichen Beeinträchtigungen?„Seit der Wende gab und gibt es vergleichbare Projekte <strong>bei</strong> uns im Kreis in unterschiedlicherArt und Weise, wir haben Integrationsbeschulungen vom Beginn derGrundschule bis zur Sekundarstufe II. In meinem Aufgabebereich betreue ich zurZeit zwölf Integrationsprojekte von der zweiten bis zur dreizehnten Klasse, da<strong>bei</strong>reichen die Krankheitsbilder vom chronischen Rheuma über Minderwuchs bis hinzum Rückenmarksdefekt. Wie gesagt, die Art und Weise ist <strong>bei</strong> jedem Schülerindividuell geregelt. Doch Stephans Integration mit Einzelfallhelfer undNachteilsausgleich ist schon etwas Besonderes und in dieser Form einmalig.“Wie beurteilen Sie die Chance, dass sich ein solches oder ähnliches Beschulungsprojektin Zukunft im Elbe- Elster- Kreis bzw. im Land Brandenburg wiederholen könnte?„Wenn die gesetzlichen Grundlagen sich nicht ändern, steht einer Chance, dasssich ein solches oder ähnliches Projekt wiederholt, nichts im Wege.Von Seiten der Schulträger wurden für jeden Schultyp bauliche Veränderungengetroffen, damit jedes körperbehinderte Kind integriert werden kann. So kann anund für sich eine Integration direkt in der Heimatstadt oder wenigstens wohnortnaherfolgen. Allerdings sind weitere Integrationen noch von anderen Faktorenabhängig wie z.B. Mut, Bereitschaft und Engagement der Lehrer, Unterstützungdurch die Eltern, finanzielle Unterstützung durch den Schulträger und das Sozialamt.“Wie denken Sie über die Zukunftschancen von Stephan <strong>bei</strong> einem erfolgreichen Abschlussder Sekundarstufe II?„Über Stephans Zukunftschancen <strong>bei</strong> einem erfolgreichen Abschluss denke ichzweigeteilt, auf der einen Seite denke ich, dass Stephan, wenn sich sein Gesundheitszustandnicht verschlechtert, auch ein Studium schaffen könnte. Das istnatürlich nur möglich, wenn gleiche oder ähnliche räumliche, sächliche und personelleBedingungen geschaffen werden könnten. Auf der anderen Seite seheich, dass Stephan der familiäre Halt <strong>bei</strong> einem Studium nicht mehr gegeben ist,denn er kann ja nicht wohnortnah studieren. So wäre er vor und auch nach demStudium erst einmal auf sich allein gestellt , was praktisch völlig unmöglich ist, daer den Alltag ja ohne Hilfen nicht selbstständig bewältigen kann.“www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 52Wie könnte ein Beratungsgespräch zu evtl. Fragen des beruflichen Werdeganges verlaufen?Welche Hinweise und Empfehlungen könnten Sie geben?„Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten, da es mein Aufgabenbereich ist,Erziehung und Unterricht so zu organisieren, dass Schüler mit körperlichen Beeinträchtigungenim Rahmen ihrer Möglichkeiten erfolgreich daran teilnehmenkönnen. Ein Beratungsgespräch mit den Eltern könnte dann nur so verlaufen,dass schon im Vorfeld mit den Ar<strong>bei</strong>tsamt, mit sozialen Diensten, Einrichtungender Behindertenhilfe und Institutionen der Erwachsenenbildung oder den Gleichstellungsbeauftragtender Universitäten oder Hochschulen Kontakt aufgenommenwird, damit diese dann in erster Linie beratend tätig werden können.“3.2.2 AuswertungDie vorhandenen Gesetzlichkeiten im Interesse der Betroffenen umsetzen, erweist sich inder Praxis oft als schwieriger Prozess.Viele Gremien sind in die Entscheidungsfindung mit einbezogen und das führt häufig zueiner längeren Phase der Suche nach einer Lösungsvariante für den speziellen Fall. DieKoordination aller an Stephans Fall teilhabenden Institutionen und Personen wird durchdie sonderpädagogische Förder- und Beratungsstelle Finsterwalde organisiert. Das istbesonders wichtig, da, wie im Interview gesagt, "... <strong>bei</strong> der Erhebung des Förderbedarfsdie individuelle Ausgangslage des Kindes und Jugendlichen, sein Lern- und Sozialverhalten,seine emotionale Befindlichkeit sowie das schulische und außerschulische Umfeldbetrachtet wird". Die Organisation und Planung jeglicher Förderung muss in seiner Ganzheitlichkeiterfolgen. Die Ansatzpunkte und Ziele der notwendigen Hilfen sind durch ausgebildeteFachkräfte festzulegen. Es ist dadurch gewährleistet, dass die an der Hilfe Beteiligten<strong>bei</strong> allen auftretenden Problemen nachfragen können und sich selbst auchbetreut und beraten fühlen. Es ist im Verlauf der Betreuung des Einzelfalls nötig, in bestimmtenAbständen oder <strong>bei</strong> Veränderungen und Problemen des Umfeldes und der Personen,alle Hilfeleistenden zusammenzuführen und der Situation entsprechende Festlegungenzu treffen. In der Region Elbe- Elster sind zahlreiche Varianten der Integrationmöglich und sie werden auch je nach Bedarf im Einzelfall in vielfältiger Form angewendetund differenziert miteinander kombiniert. Den Hilfebedarf Vorort zu klären und viele in diegeplanten Vorhaben von Beginn an zeitlich und organisatorisch mit einzubeziehen, erweistsich für den Betroffenen, seine Familie, die Lehrer und andere Helfer als sehr vorteilhaft.www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 53Im Gespräch wurde mir besonders deutlich, wie komplex und trotzdem sehr spezifisch dieAufgaben der sonderpädagogischen Förder- und Beratungsstellen sind. Die Entscheidungenüber die angebrachte Hilfe, den Nachteilsausgleich, die damit verbundene Bereitstellungund Beschaffung geeig<strong>net</strong>er vorhandener oder speziell anzufertigender Hilfsmitteleinschließlich der Klärung der notwendigen Finanzierung obliegt dieser Einrichtung. DieBereitschaft, da<strong>bei</strong> auch immer wieder neue Wege zu gehen, um im Interesse des Behinderten,sein persönliches Leben weiter selbst gestalten zu können, ist ein hoher Anspruchan die Ar<strong>bei</strong>t dieser Institution. Stephan mit seinem Krankheitsbild und seiner Handicapsist auch hier Vorreiter für neue Wege und Möglichkeiten.Die Anwendung der im Land Brandenburg für die schulische Integration von körperbehindertenKindern und Jugendlichen erar<strong>bei</strong>teten Gesetze und die hohe Bereitschaft aller Beteiligten,<strong>bei</strong> dieser Aufgabe eng zusammen zu ar<strong>bei</strong>ten, sind wesentliche Voraussetzungen,die zum Gelingen einer solchen Hilfeplanung unabdingbar sind.Mit dem Erwerb des Abiturs ist zwar die schulische Integration abgeschlossen, es werdendann jedoch andere Hilfeleistungen notwendig sein. Weitere Institutionen z. B. die Agenturfür Ar<strong>bei</strong>t oder weiterführende Studieneinrichtungen werden in den Hilfeprozess einbezogenund müssen ihren Mitwirkungspflichten nachkommen.3.3 Interview mit dem Einzelfallhelfer von StephanDas Gespräch mit dem Einzelfallhelfer Herrn Krehe habe ich am Freitag, 28.01.05 im Bürodes Familienentlastenden Dienstes des Lebenshilfe e.V. Finsterwalde in der Westfalenstraßedurchgeführt.Schwerpunkte meines problemzentrierten Interviews als eine Variante des narrativen Interviewswar es, dem Befragten weitgehend Artikulationschancen einzuräumen und ihnzur freien Erzählung anzuregen. Da<strong>bei</strong> ist die von mir gewählte Form ein Kompromisszwischen leitfaden- orientierten und narrativen Gesprächsmethoden mit dem Ziel, möglichstunvoreingenommene Aussagen zum Sachverhalt zu bekommen (vgl. Stangl, W.2004, Das Interview. Online im Inter<strong>net</strong>). Herr Krehe betreut Stephan seit über zwei Jahren.Er wurde mit der Aufgabe betraut, als am Gymnasium ab der elften Klasse das herkömmlicheKlassensystem durch das Kurssystem ersetzt wurde. Seitdem begleitet erStephan täglich in der Schule. Ich kann <strong>bei</strong> meinem Interview davon ausgehen, dass meinGesprächspartner die wichtigen Fakten zur Integration von Stephan in der Schule sehrgut kennt und über die nötigen Kompetenzen zur Einschätzung der persönlichen Situationvon Stephan verfügt. Fragen zum Aufgabenfeld des Einzelfallhelfers, seiner persönlichewww.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 54Meinung zur Integration, zu den Kosten und Finanzierungsmöglichkeiten sowie den zwischen-menschlichenBeziehungen standen im Mittelpunkt meiner Befragung. Meine Tonträgeraufzeichnungen,mit denen mein Interviewpartner einverstanden war, ermöglichenmir die Antworten authentisch und präzise zu erfassen und wiederzugeben (vgl. Witzel, A.2000, Das problemzentrierte Interview. Online im Inter<strong>net</strong>).3.3.1 DurchführungSeit wann und <strong>bei</strong> welcher Einrichtung oder <strong>bei</strong> welchem Verein sind Sie in Finsterwaldeangestellt?„Ich bin seit drei Jahren <strong>bei</strong> der Lebenshilfe, <strong>bei</strong>m Familienentlastenden Dienst inFinsterwalde. Der Träger ist direkt der Lebenshilfe e.V. Finsterwalde.“Seit wann begleiten Sie Stephan während seines Schultages?„Stephan begleite ich seit dem Ende des ersten Halbjahres der elften Klasse unddas bis jetzt ohne Schwierigkeiten.“Wie standen Sie ihrem neuen Aufgabenfeld gegenüber, welche Erwartungen oder Befürchtungenhatten Sie, als Sie mit der neuen Aufgaben vertraut gemacht wurden?„Dem Aufgabenfeld habe ich mich positiv gegenübergestellt, es war meines Erachtensnicht weiter schwierig, mich hier zu betätigen. Ich hatte auch schon Erfahrungmit der Ausbildung von Jugendlichen und es hat sich eigentlich so weitganz gut entwickelt und läuft auch gut.“Beschreiben Sie mir kurz Ihre Zusammenar<strong>bei</strong>t mit Stephan während eines Schultages.Welche konkreten Aufgaben haben Sie?„Der Tagesablauf, also der Ablauf in der Schule, gestaltet sich wie folgt. Frühmorgens bringt Stephans Vater seinen Sohn zur Schule, dort nehme ich ihn inEmpfang. Wir gehen dann in das Gebäude bzw. entsprechend den Unterrichtsfächernin die bestimmten Räume. Dort zieht Stephan selbstständig seine Jackeaus, setzt sich hin und ich bereite seine Schulsachen vor, packe den Computeraus, schließe ihn ans Strom<strong>net</strong>z an, packe seine Hefter und Bücher aus unddann beginnt die Stunde. In den Pausen wechseln wir dann gemeinsam dieRäumlichkeiten entsprechend den jeweiligen Fächern. Das geht dann den ganzenTag eigentlich so. Ich unterstütze ihn in den jeweiligen Fächern, hole ihmwww.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 55z.B. bestimmte Bücher, wie das Musikbuch oder Wörterbücher, blättere in seinemHefter und mache ihm bestimmte Zeichnungen und Skizzen von Tafelbildernin Physik u.a. Fächern. Dann gehen wir zum Feierabend gemeinsam wiederrunter, wo ihn dann sein Vater wieder in Empfang nimmt.“Was halten sie allgemein von der Möglichkeit einen Schüler mit körperlichen Beeinträchtigungenan einer Regel- Schule zu unterrichten?„Es besteht zwar im Allgemeinen die Möglichkeit, das Schüler mit körperlichenBeeinträchtigungen eine normale Schule besuchen, aber wie gesagt, meine Meinungist, es ist sehr unterschiedlich.Man muss hier ganz genau abwägen, um welche Art Behinderung es sich handelt,um das in und mit den jeweiligen Klassen zu bewältigen. Denn viele Schülerhaben auf Grund der Behinderung schon Probleme z.B. alleine einen Raumwechselusw. zu vollziehen oder sich im Gebäude alleine zu bewegen und zu o-rientieren.“Wo sehen sie Probleme und Barrieren speziell <strong>bei</strong> der integrativen Beschulung von Stephan?„Die größten Probleme für Stephan sind wirklich, die Räumlichkeiten zu wechseln,er muss teilweise bis zu vier Etagen überwinden von einer Stunde auf dieandere, also rauf und runter, was ihm große Schwierigkeiten bereitet und auchviel Kraft kostet.“Welche Chancen rechnen Sie diesem Modell der Beschulung für die Zukunft zu? Wird esein Einzelfall bleiben oder sollte man mehr auf gleichartige Beschulungsprojekte zurückgreifen,um körperlich beeinträchtigten Schülern die Chance einer integrativen Beschulungbieten zu können?„Chancen für dieses Modell sehe ich zum Teil ja zum Teil nein. Es gibt da ja verschiedeneFälle. Bei Stephan speziell ist es so, dass er körperlich schon sehrstark beeinträchtigt ist, jedoch geistig keine gravierenden Rückschritte gemachthat. Leistungsmäßig gesehen hat es phasenweise auch schon ab und an etwasnachgelassen. Jedoch sind für ihn und die von ihm entgegengenommene Unterstützungin der Schule die Chancen recht gut. Ich kenne allerdings auch einenanderen Fall, <strong>bei</strong> dem ein Mädchen mit körperlichen Beeinträchtigungen ähnlichzur Schule gegangen ist, wie Stephan. Bei ihr ließen dann aber die schulischenwww.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 56Leistungen sehr stark nach. Als man sie dann auf eine behindertengerechteSchule brachte, sind ihre Leistungen wieder besser geworden. Auch hat sich dasKörperliche in diesem Fall wieder verbessert. Wahrscheinlich konnte ihr an dieserspezialisierten Einrichtung eine gezieltere Förderung geboten werden, als diesan einer normalen Schule möglich ist. Es ist also von Fall zu Fall, wie bereits gesagt,sehr unterschiedlich.“Wer kommt für die Bezahlung Ihrer Stelle auf, Stephans Eltern?„Die Bezahlung müssen nicht die Eltern übernehmen, das übernimmt alles dasSozialamt. Man muss dann eben immer wieder Anträge stellen, diese werdendann dort besprochen und bear<strong>bei</strong>tet und in der Regel wurden sie bis jetzt auchimmer ohne zusätzliche Auflagen bewilligt.“Haben Sie im Laufe der Zeit auch eine emotionale Beziehung zu Stephan aufgebaut? Wiewürden Sie mir ihr Verhältnis zu Stephan beschreiben?„Ich muss schon ehrlich sagen, die Beziehung die sich im Laufe der Zeit mit Stephanso aufgebaut hat, ist schon fast so, wie zu einem eigenen Kind. Denn manschaut ja auch immer und hofft auch mit, dass die schulischen Leistungen gutsind oder nicht schlechter werden. Das Verhältnis zu Stephan ist sehr gut, er istzwar sehr ruhig, dennoch ein sehr vernünftiger und <strong>net</strong>ter junger Mensch.“3.3.2 AuswertungDie Betreuung durch einen Einzelfallhelfer ist für Stephans Schulbesuch unerlässlich.Herr Krehe ist in vielerlei Hinsicht eine wichtige Bezugsperson geworden. Beide haben einsehr gutes Verhältnis zueinander entwickelt und verstehen sich oft ohne Worte. Das ist fürStephan und die mit seiner Krankheit in Verbindung zu bringenden Sprachstörungen vonbesonderer Bedeutung. Der Betreuer zeigt ein besonderes Feingefühl im Bezug auf dieWahrnehmung von nonverbalen Signalen. So erkennt er bereits am Morgen ob es demJugendlichen gut geht oder ob ihm etwas Probleme bereitet. Die Wahrnehmungen vonÜberlastungsreaktionen, Stress oder Konzentrationsschwächen sind auch wichtig, dennes können Ruhephasen eingelegt werden, die dann ein Nachar<strong>bei</strong>ten unter Aufsicht desHelfers erfordern. Die Unterstützung für den Schüler <strong>bei</strong> der Bewältigung seines Schulalltagsist über das bereits beschriebene Maß hinaus auch in praktischen Situationen nötig.Der Wechsel in die Fachräume ist nur mit Unterstützung zu gewährleisten. Das JanuszKorczak Gymnasium ist eine alte Schule mit vier Etagen, diese sind durch breite Treppenwww.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 57zu erreichen. Es gibt keine behindertengerechten Zugänge. Der Betreuer stützt Stephan<strong>bei</strong> der Überwindung der Stufen, trägt seine Schultasche und sorgt dafür das der Laptopin jedem Fachraum für die Benutzung bereitgestellt ist. Diese Aufgaben können in der Sekundarstufenicht von Mitschülern übernommen werden, denn sie haben durch das Kurssystemverschiedene Stundenpläne, wechseln in unterschiedliche Fachräume und bekommeneine Begleitung von Stephan in den Pausenzeiten nicht geregelt.Die Übernahme der unterstützenden Hilfen durch Zivildienstleistende, wie es anfänglichvorgeschlagen wurde, halte ich nach meinen Untersuchungen und dem Interview mit demEinzelfallhelfer für wenig geeig<strong>net</strong>. Behinderter und Helfer sollen sich aufeinander einstellen,ein Vertrauensverhältnis muss aufgebaut werden, dazu reichen die verkürzten Zivildienstzeitennicht mehr aus. Der gesetzlich geregelte Anspruch auf Übernahme und Gewährleistungvon Maßnahmen zur Integration eines körperbehinderten jungen Menschensind immer am konkreten Fall festzulegen und bleiben Entscheidungen die für die momentanenSituationen erforderlich sind. Einmal getroffene Festlegungen sind ständig aufdie Richtigkeit der Umsetzung zum Nutzen des Betroffenen zu überprüfen und zu korrigieren.Hervorheben möchte ich die Aussagen zu den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischenHelfer und Hilfesuchenden, die im Prozess der Integration positive Wirkungen erzeugenkönnen, wenn sie <strong>bei</strong>derseitig vorhanden sind. Es geht nicht darum einen Einzelfallbetreuereinzusetzen sondern den Helfer zu finden, der zur Person des Hilfesuchendenpasst, ihn verstehen und motivieren kann. Im Fall des Probanden ist das sehr gut gelungen.3.4 Vorstellung methodischer Ar<strong>bei</strong>ts- und Vorgehensweisen in ausgewähltenUnterrichtsfächernUm persönlich einen Überblick über didaktische Vorgehensweisen im Hinblick auf differenzierteAr<strong>bei</strong>tsmittel und Methoden in der Schule zu erhalten, begleitete ich Stephanwährend seines Unterrichts. Nach vorheriger Absprache mit Stephans Eltern, Anmeldung<strong>bei</strong>m Schulleiter des Janusz Korczak Gymnasiums und den Fachlehrern konnte ich meinebisherigen Untersuchungen mit Hospitationen und Erfahrungen aus der schulischen Praxisuntermauern. In der Zeit vom 06. 12. 2004 bis 10.01. 2005 hospitierte ich jeden Montag.So erhielt ich in den Fächern Latein, Mathematik, Physik, Informatik, Musik und PolitischeBildung ein recht detailliertes Bild über die Zusammenar<strong>bei</strong>t zwischen Lehrer,Einzelfallhelfer, Klassenkameraden und Stephan. Hier liegt eigentlich auch schon dieAntwort auf die Frage, wie kann eine Integration eines schwer körperbehinderten Schülerswww.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 58effektiv funktionieren. Es scheint auf den ersten Blick ein einfaches Konzept zu sein. GegenseitigeAkzeptanz, Hilfsbereitschaft sowie eine ausgeprägte Kommunikation und Interaktiondes gesamten an der Bildungs- und Erziehungsar<strong>bei</strong>t beteiligten Umfeldes bildendie Grundlage für eine erfolgreiche Integrationsbeschulung.Doch um Stephan zu integrieren, ihm das Lernen zu ermöglichen wie allen anderen, trotzseiner körperlichen Einschränkungen, ihm auch Erfolgerlebnisse zu verschaffen dazu gehörtweit mehr als nur positive Rahmenbedingungen im Klassenverband zu konstruieren.Die schulischen Gegebenheiten sind entsprechend den speziellen Erfordernissen zu optimieren.Stephan muss sich als Mensch angenommen und dazugehörig fühlen. Lehrerinnenund Lehrer müssen pädagogische Konzepte und Differenzierungsmaßnahmen soumsetzen, dass der Schüler durch seine motorischen Beeinträchtigungen im Unterricht zukeiner Zeit benachteiligt ist. Der besonderen Spezifik der schweren Erkrankung von Stephanist da<strong>bei</strong> immer wieder Rechnung zu tragen. Es ist erforderlich, <strong>bei</strong>spielsweise Aufgabenstellungen,Ar<strong>bei</strong>tsanweisungen, Tafelbilder und Formelsammlungen so zu bear<strong>bei</strong>tenund im Vorfeld abzustimmen, dass Stephan sie mit seinen Möglichkeiten undHilfsmitteln nutzen und verstehen kann. Aufgabe der Pädagogen ist es außerdem, ihm dieChance einzuräumen trotz erheblicher sprachlicher Einschränkungen sich im Unterrichtgenau wie seine Mitschüler zu profilieren. Ihm ist so eine reale und objektive Leistungsbewertunggesichert.Das Prinzip, welches dieser Unterrichtgestaltung zugrunde liegt, nennt man das Konzeptder inneren Differenzierung des Unterrichts, ein Modell das unter anderem 1985 vonKLAFKI entwickelt wurde (vgl. KLAFKI, W. 1985, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik.).Hier<strong>bei</strong> wird zwischen verschiedenen Differenzierungsformen unterschieden. DieZeit bzw. die Länge und die Anzahl der Aufgaben sind Unterscheidungskriterien. DerSchweregrad oder das Niveau der jeweiligen Anforderungen bieten auch Möglichkeitenzur Differenzierung. Außerdem kann nach Hilfsmitteln und Medien (mündlich, schriftlich,visuell, handelnd) sowie zwischen verschiedenen Sozialformen im Unterricht unterschiedenwerden (vgl. PREUSS- LAUSITZ U.; MAIKOWSKI R. 1998, Integrationspädagogik in derSekundarstufe. Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Jugendlicher.S.222)Um der Spezifizierung Rechnung zu tragen, löse ich mich von der Formulierung allgemeinerdidaktischer Gesichtspunke, meine Absicht ist es einen Einblick in den integrativenUnterricht der Sekundarstufe II des Janusz Korczak Gymnasiums geben. Zu diesem Zweckehabe ich den Stundenverlauf in drei verschieden Fächern unter unterschiedlichen pä-www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 59dagogischen Gesichtspunkten dokumentiert und werde mich im Folgenden zu konkretenHospitationsprotokollen äußern.3.4.1 Stundenverlaufsprotokoll im Fach Musik vom 06.12.2004Der Musikgrundkurs von Stephan umfasst sechszehn Schüler bzw. Schülerinnen. Dreimal pro Woche wird in der Klassenstufe dreizehn dieses Fach unterrichtet. Stephan bereitetder Unterricht große Freude, denn er hört auch in seiner Freizeit gerne Musik. Er bevorzugtkeine bestimmte Musikrichtung, sondern ist an verschiedensten Arten interessiert.In dieser Stunde möchte die Lehrerin zusammenfassend den Unterrichtsstoff der letztenStunden wiederholen und somit vertiefen. Das Rahmenthema der Stunde wird als „Diegroßen Virtuosen“ formuliert. Um eine abwechslungsreiche und interessante Umsetzungder Stunde zu gestalten werden verschiedenste Medien und Anschauungsmittel hinzugezogen.Wie und in welcher Form diese Medien effektiv eingesetzt werden, um für die gesamteKlasse einen geplanten Wissenszuwachs zu sichern, und mit welchen MethodenStephan einbezogen wird, soll das folgende Hospitationsprotokoll verdeutlichen. Die mittlerweileautomatisierte Zusammenar<strong>bei</strong>ten von Stephan und seinem Einzelfallhelfer fließenebenfalls in meine Betrachtungen ein.www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 60Fach: Musik Klassenstufe: 13Datum: 06.12.2004 Schüleranzahl: 16Fachlehrer: Frau MüllerZieleDidaktische MethodeTeilziele/ Ziele10.25h Vertiefung/ Wiederholungzum Thema:„Virtuosen“Lehrerzeigt Video mitdem Titel„Faranelli“10.45h Sicherung diktiert die wichtigstenbiographischenDaten10.50h Zusammenfassung,Test11.00h Auswertung, Lernzielkontrolleteilt Ar<strong>bei</strong>tsblättermit Kontrollaufgabenauslenkt dasUnterrichtsgespräch11.05h Abschluss spielt kurz Stückevon einigen VirtuosenanVerlaufstätigkeitenKlasse/ Stephanschaut sich denFilm aufmerksamanEinzelfallhelferschreibt die Datenfür Stephans UnterlagenmitStephan liest dieFragen und antwortetin kurzenSätzen,der Einzelfallhelfernotiert seine Antwortenauf derKopieStephan hört zuund gibt dem EinzelfallhelfereinZeichen, wenn eretwas auf der Kopieergänzen sollSchüler nennenden jeweiligenKomponistenSozialformen/MedienVideo und Videorecorderdafür war einRaumwechselnötig, bereitetaber keine Problemefür StephanHefter undStifteAr<strong>bei</strong>tsblätter mitKontrollaufgaben,StifteKlassen-Gespräch,Lehrer- Schüler-Interaktion,Ar<strong>bei</strong>tsblätter mitKontrollaufgabenCd- Player,Klassengesprächwww.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 613.4.2 Stundenverlaufsprotokoll im Fach Latein vom 06.12.2004Mit dem folgenden Hospitationsprotokoll aus dem Fach Latein möchte ich die differenzierteVorgehensweise in einem durch die Sprache geprägtem Unterrichtsfach darstellen. Ichmöchte aufzeigen, durch welche Mittel es der Lehrerin gelingt, Stephan trotz seinersprechmotorischen Einschränkung in ihren Unterricht erfolgreich zu integrieren. Für denFremdsprachenunterricht typische pädagogische Vorgehensweisen, wie z.B. Vorlesen,Nacherzählen, Wiedergabe von Vokabeln oder Dialogführung, sind auf Grund des Krankheitsbildesnicht möglich. Deshalb wird auf unterschiedlichste Ar<strong>bei</strong>ts- und Hilfsmittel zurückgegriffen.In erster Linie ar<strong>bei</strong>tet Stephan im Lateinunterricht mit Disketten, Kopienund verschiedenen Ar<strong>bei</strong>tsblättern. Außerdem wurde auf seinem Laptop ein Übersetzungsprogramminstalliert, was ihm das Ar<strong>bei</strong>ten an diversen Übersetzungen sehr erleichtert,denn das ständige Umblättern und Suchen von Wörtern in einem Wörterbuch fällt ihmdurch die Minderung seiner feinmotorischen Fähigkeiten äußerst schwer. Viele der Tafelbilderoder Zusammenfassungen von Texten bekommt er meist als Kopie für seinen Hefterund einmal als Word- Datei für den Laptop.Somit ist also gesichert, dass Stephan zum Ende einer Stundeneinheit über alle relevantenMitschriften, Texte oder Vokabeln verfügt. Das bringt auch Vorteile für die zeitlichePlanung des Unterrichts in einer Integrationsklasse, nicht nur für den Pädagogen, sondernauch für den Schüler.www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 62Fach: Latein Klassenstufe: 13Datum: 06.12.2004 Schüleranzahl: 18Fachlehrer: Frau WenzelZieleDidaktische MethodeTeilziele / Ziele9.25h Wiederholung vonKernaussagen undVokabeln aus einerÜbersetzung derletzten Stunde9.35h Übung undVertiefung derneuen Vokabeln9.45h Hinführung zumneuen Unterrichtstoff10.05h Kontrolle, Ergebnissicherung,VerlaufstätigkeitenLehrerKlasse/ Stephanlenkt das Unterrichtsgesprächder Einzelfallhelfersucht für Stephandurch gezielte Fragestellungendie Kopie mit demText der letztenStunde aus demHefter,Stephan hat seineÜbersetzung derletzten Stunde aufdem Laptop undvergleicht mit denAussagen seinerMitschülerschreibt Kernaussagenan die Tafelund geht da<strong>bei</strong> besondersauf dieneueneinVokabelnsagt an, ab welcherZeile die Klasseden Text weiterübersetzen solllenkt das UnterrichtsgesprächzurKontrolle,schriebt die Übersetzungfür allenoch mal sichtbaran die Tafel,Stephan bekommtdie Übersetzungauf Diskette undauf einer Kopiezum Mitlesen10.10h Stundenende gibt Ausblick aufdie nächste StundeKlasse übernimmtdas Tafelbild in dieHefter,Stephan schreibtauf seinem Laptop,schafft es abernicht, das Tafelbildzu übernehmenStephan liest sichden Text durchund notiert sichunbekannte Wörterauf seinem Laptop,um diese dann mitHilfe eines Übersetzungsprogrammszu übersetzenSchüler lesen abwechselndSatz fürSatz der Übersetzungvor,Stephan vergleichtund liest auf derKopie mit,zu Hause kannStephan dann seineÜbersetzungaus der Stunde mitder Datei auf derDiskette ergänzenund berichtigenSozialformen/MedienKlassengespräch,Kopien undTexte,LaptopFrontalunterricht,Tafel, Hefter,LaptopEinzelar<strong>bei</strong>t,Kopien undTexte,Wörterbücher,Laptop,Übersetzungsprogramm„Langenscheidte-Wörterbuch“Tafel,Kopien undTexte,Hefter,Laptop,Diskette mitWord-Datei,Unterrichtsgespräch,gesamteKlassewww.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 633.4.3 Stundenverlaufsprotokoll im Fach Politische Bildung vom 13.12.2004Mit diesem Verlaufsprotokoll des Faches Politische Bildung soll die Möglichkeit zur effektivenUnterrichtsgestaltung durch einen Wechsel der üblichen Sozialformen verdeutlichtwerden. Die Erar<strong>bei</strong>tung eines Schülervortrages zum Thema „Die Parteiendiktatur vonChina“ stand im Mittelpunkt dieser Unterrichtsstunde.Der Kurzvortrag soll in einer Partnerar<strong>bei</strong>t erstellt werden. Ergebnisse dieser Schülerar<strong>bei</strong>twerden dann in der nächsten Stunde vorgetragen. Die Sozialform der Partnerar<strong>bei</strong>tzeigt sich hier als nahezu ideale Differenzierungsmethode um eine erfolgreiche Ar<strong>bei</strong>tsweiseunter integrativen Aspekten in einer gymnasialen Oberstufe zu praktizieren. Eswerden neben der Entwicklung von individuellen Handlungsstrategien auch Formen dessozialen Lernens gefördert. Wie die Zusammenar<strong>bei</strong>t zwischen Stephan und seinem Ar<strong>bei</strong>tspartnerim Detail verlief und zu welchen Ergebnissen sie gekommen sind, zeigt dasfolgende Protokoll.www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 64Fach: Politische Bildung Klassenstufe: 13Datum: 13.12.2004 Schüleranzahl: 29Fachlehrer: Frau SpehriZieleDidaktische MethodeTeilziele/ Ziele13.20 Einleitung, Hinführungzum neuen Thema13.25 Aufgabenerläuterung vergibt die Aufgabenstellungenan die jeweiligenGruppen undverweist auf dievon ihr mitgebrachtenBücher,aus denensich die Schülerfür ihr Themaselbstständig diebenötigten Artikelheraussuchensollen13.30h agiert nur alsBeobachter undstiller HelferVerlaufstätigkeitenLehrerKlasse/ Stephanerklärt die Zielstellungder heu-entsprechend derSchüler setzen sichtigen Stunde, Einteilung um,teilt die Klasse Stephan kann aufpaarweise ein seinem Platz sitzenbleiben, sein Partnersetzt sich mit anseine Bank,der Einzelfallhelfersetzt sich auf einenfreien PlatzStephan und seinPartner sollen einenSchülervortrag überdie „Parteiendiktaturvon China“ anfertigen,Stephans Partnersucht für die Gruppedie Bücher zumThema herausdie Gruppe recherchiertgemeinsamdie Literatur, StephansPartner istihm <strong>bei</strong>m Umblätternbehilflich, dannteilen sie sich dieTexte in vier Unterthemen,jeder bear<strong>bei</strong>tetzwei, Stephanam Laptop, seinPartner handschriftlich,Stephan kannseinen Teil zu Hausebeenden undausdrucken,vorgetragen wird dieAusar<strong>bei</strong>tung dannin der nächstenStunde von seinemGruppenpartnerSozialformen/MedienFrontalunterricht,Organisationder SitzordnungBücherecke,erst Frontalunterricht,dann Partnerar<strong>bei</strong>tdiverseLiteratur,Laptop,Hefter14.05h Stundenende offenes Endewww.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 653.5 Interview mit dem Klassenleiter und TutorMit dem Tutor Herr Lorenz habe ich am 04.02.05 im Janusz Korczak Gymnasium in Finsterwaldeim Vorbereitungsraum Physik gesprochen.Herr Lorenz kennt Stephan schon sehr lange aus seinem Fachunterricht. Er hat sich vonBeginn der Integration an um Stephan gekümmert und ihn <strong>bei</strong> der Handhabung der Aufgabenerledigungam Computer unterstützt. Die enge Zusammenar<strong>bei</strong>t mit den anderenFachlehrern gehört ebenfalls zu seinen Aufgaben. Er gibt ihnen persönliche Hinweise, sodass seine Kollegen die Unterrichtshilfen für Stephan optimal gestalten und effektiv einsetzenkönnen. Der Fachlehrer für Physik ist für den Integrationsprozess ein kompetenterGesprächspartner. Mit meinem problemzentrierten Interview habe ich ihm von Beginn andie Möglichkeit gegeben, wesentliche Zusammenhänge ausführlich aus seiner Erfahrungheraus zu schildern (vgl. Stangl, W. 2004, Das Interview. Online im Inter<strong>net</strong>). Ich habeda<strong>bei</strong> besonders die Möglichkeiten dieser Interviewform zur Beobachtung meines Gesprächpartnersgenutzt und einige nonverbale Aspekte in die folgenden Ausführungen miteingear<strong>bei</strong>tet (vgl. Witzel, A. 2000, Das problemzentrierte Interview. Online im Inter<strong>net</strong>).Mit meinen Fragen wollte ich aus der Sichtweise eines Lehrers etwas zu seiner persönlicheAuffassung zur integrativen Beschulung, zu den damit verbundenen Problemen sowieden individuellen Besonderheiten für Aufgabenstellung und Benotung von Stephan erfahren.Die Antworten präzise im Wortlaut wiederzugeben ermöglichen mir auch hier meine Tonträgeraufzeichnungen.Der Interviewpartner hat dem Einsatz zugestimmt.3.5.1 DurchführungWo sehen Sie Vorteile in der integrativen Beschulung von Stephan, wo liegen Probleme?„Vorteile oder den größten Vorteil <strong>bei</strong> der ganzen Sache sehe ich darin, dassStephan bereits früher in diesem Kollektiv beschult worden ist, also bevor dieEntwicklung seiner Krankheit so akut wurde. Das heißt, er kannte sein Umfeld,das Umfeld kannte die Probleme von Stephan. Er konnte sich mit dem nötigenAufwand wieder problemlos in seine bekannte Umgebung eingliedern. Anfangswurde er von seinen Mitschülern unterstützt, das ist für ihn ganz wichtig gewesen.Mit dem Notwendigwerden einer Einzelfallbetreuung wegen des beginnendenKurssytems übertrugen die Schüler dies ohne darüber nachzudenken aufden Helfer.www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 66Was für Stephan auch noch wichtig ist, zumindest nach seinen eigenen Aussagen,interpretiere ich so, dass er sehr froh darüber ist, seinen häuslichen Bereich,seine Familie nicht verlassen zu müssen. Eine Beschulung an einer speziellenBildungseinrichtung kann ein Herauslösen aus dem Wohl- Fühl- Umfeld bedeuten.Für Stephan wäre das ein zusätzliches Problem. Das sind für mich zweiganz wichtige Punkte, die ich persönlich als Vorteile bezeichnen würde.“Unter welchen Bedingungen war die integrative Beschulung von Stephan an ihrer Schulenach der Diagnose NBIA weiter zu realisieren?„Die integrative Beschulung war nur durch weitere Unterstützung möglich. Zunächstgrößten Teils von Schülern, später dann durch beauftragte Mitar<strong>bei</strong>ter,wie z.B. Herrn Krehe. Weil es für Stephan einfach nicht möglich ist, ohne dieseBetreuung am Leben hier in der Schule mit teilzunehmen. Da spielen also dannSachen eine Rolle, wie Transport der Unterrichtsmittel, des Computers, die Bewältigungder Treppen, die wir hier im Gebäude haben, usw. Es ist also schonnotwendig gewesen, dass Stephan diese Unterstützung bekommt. Wir habenden Werdegang ja im Prinzip auch miterlebt. Das hat sich so abgespielt, dassStephan nach der 10. Klasse, als er aus Reha kam, zunächst vorläufig probeweisebetreut wurde. Wir haben dann mit der Schulverwaltung der Stadt Finsterwalde,mit dem Sozialamt des Elbe- Elster- Kreises und einigen anderen Vertreternberaten, wie das Ganze funktionieren kann. Was für mich da ein bisschen problematischwar, ist die Frage: Wer bezahlt was? Es wurde uns gesagt, wenn Stephanseine täglichen Verrichtungen <strong>bei</strong>spielsweise tätigen muss, also wenn ermal auf die Toilette muss, sich mal die Hände waschen will oder Ähnliches, dannist dafür die Rentenversicherung zuständig und für andere Sachen dann wiederdie soziale Schiene usw. (lacht). Das fand ich halt alles ein bisschen eigenartig.Aber das hat sich ja dann, Gott sei Dank, alles fast in Wohlgefallen aufgelöst, ha<strong>bei</strong>ch so den Eindruck. Letztlich gab es ja die Genehmigung für die Einzelfallbetreuungvon Stephan, die also auch unbedingt notwendig ist. Ohne diese würdedie Integration für Stephan heute nicht mehr funktionieren. Vorher ging dashalt immer noch durch die Mitschüler usw. aber heute wäre das so in dieser Formnicht mehr realisierbar.“Welche Probleme der Organisation und der Umsetzung gibt oder gab es?www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 67„Probleme, na ja, da gibt es eigentlich zwei Sachen. Zum einen besteht dieSchwierigkeit der mündlichen Kontrolle <strong>bei</strong> Stephan und zum anderen gibt es dasProblem der Ar<strong>bei</strong>tsgeschwindigkeit.Das sind so die zwei Sachen, die uns zum Teil Probleme bereiten die wir aberdurch verschiedene Maßnahmen auszugleichen versuchen. In verschieden Fächern,z.B. Deutsch oder Englisch, bekommt er die Texte auf Diskette und hat sodie Möglichkeit, die Texte direkt am Computer zu bear<strong>bei</strong>ten. Die Aufgabenstellungenfür Leistungskontrollen kommen auch gleich über Diskette. In Physik ha<strong>bei</strong>ch für Stephan Formelsammlungen erstellt, wo er dann gleich bestimmte Formelnherauskopieren kann, denn <strong>bei</strong> seinen motorischen Einschränkungen hat erauch Probleme <strong>bei</strong>m Umgang mit dem Tafelwerk. Bei Leistungskontrollen enthaltendiese Formelsammlungen dann zum Teil natürlich auch Formeln, die er überhauptnicht braucht (lacht). Es ist also nicht so, dass er nur die von mir auf Diskettegegebenen Formeln rauskopieren muss, er muss schon überlegen, welcheder Formeln er für die Lösung der jeweiligen Aufgabe benötigt. Somit ar<strong>bei</strong>tetStephan also unter den gleichen Bedingungen wie alle anderen auch. Darauf ist<strong>bei</strong> dieser Sache auch dringend zu achten, weil, wenn das nicht funktioniert, gibtes Diskussionen mit den anderen Schülern und das ist tunlichst zu vermeiden.Wenn die Schüler also merken, Stephan wird genauso bewertet wie jeder andereauch, dann akzeptieren sie das und es gibt auch keine Beschwerden. Die gab eseigentlich auch bisher über die ganzen Jahre hinweg noch nicht. Was das Ar<strong>bei</strong>tstempobetrifft, haben wir eine Ar<strong>bei</strong>tszeitverlängerung um hundert Prozent<strong>bei</strong> bestimmten Zusammenhängen, <strong>bei</strong>spielsweise <strong>bei</strong> größeren Tests oderKlausuren. Die anderen schreiben eine Stunde, Stephan schreibt dann zwei. Esmuss dann manchmal eben noch eine Stunde mit einem Kollegen getauschtwerden oder Stephan schreibt in einer seiner Freistunden weiter. Bis jetzt ist esuns immer gelungen, ihm die zustehende Ar<strong>bei</strong>tszeit auch zu gewähren. Beimündlicher Kontrolle ist es so, dass Stephan dann eine schriftliche Zusatzleistungerbringen muss, da eine mündliche Leistungskontrolle für Stephan nichtstattfinden kann.“Welche Differenzierungsmaßnahmen werden speziell im Unterricht für Stephan eingesetzt?„Da gehören auch die Dinge dazu, die ich vorher schon genannt habe. Sonst betrifftdas überwiegend die Ar<strong>bei</strong>tsmaterialien. Stephan wird betreut wie jeder andereauch, dass man immer mal rumgeht und guckt, wie läuft’ s oder läuft’ swww.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 68nicht, ist selbstverständlich. Wir können Stephan keine anderen oder wenigerAufgaben geben, denn das funktioniert im Abitur nachher auch nicht.Er muss genau die gleiche Abiturar<strong>bei</strong>t bewältigen, wie jeder andere Schülerauch, und wenn ich ihn jetzt vorher immer rausnehme, dann bekomme ich dasnachher im Abitur nicht mehr geregelt. Das ist auch eindeutig durch das Ministerium(Anmerkung: hier ist das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport desLandes Brandenburg gemeint) gesagt worden, es gibt nicht die Möglichkeit Teilaufgabenzu streichen, durch andere zu ersetzten oder was auch immer. Er mussgenau die gleichen Ar<strong>bei</strong>ten bewältigen um das Abitur zu bekommen. Deswegenhaben wir auch hier keine Abstriche gemacht, das ist auch das, was dann vonden anderen Schülern registriert wird. Wie ich vorhin schon gesagt habe, wirmüssen es vermeiden, Stephan eine Sonderrolle zuzuweisen. Erstens will Stephansowieso nicht in eine Art Sonderrolle gedrängt werden. Das hat keiner gerneund zum anderen gibt es dann auch keine Probleme im Kurs oder Ähnliches.Differenzierung erfolgt in erster Linie in den Unterrichtsmitteln. Das bedeutet natürlichauch für die Kollegen immer einen Mehraufwand. Wir haben dafür ein paarStunden gekriegt, gerade die Leistungskurslehrer, die ja fünf Stunden pro Woche<strong>bei</strong> ihm Unterricht haben. Sie haben dann eine Verfügungsstunde erhalten umdiese individuellen Dinge mit abzuwickeln.“Wo sehen sie Schwierigkeiten oder Probleme <strong>bei</strong> einer reellen Leistungsbeurteilung besondersim Hinblick auf Notengebung im Mündlichen und im Mitar<strong>bei</strong>tsbereich?„Die mündliche Leistungsbeurteilung wird eigentlich durch Aufträge im schriftlichenBereich weitestgehend abgedeckt. Bei der Mitar<strong>bei</strong>t ist es so, das sich dieKollegen anschauen, was er auch während der Schülerar<strong>bei</strong>tsphasen macht. Wirhaben schon ein paar mal erlebt, dass Stephan doch noch mehr aus sich rausgehen kann, sich meldet und auch antwortet. Natürlich nur kurze, stichpunktartigeAntworten gibt, was ja auch nicht verkehrt ist. Das könnte er ruhig noch öftermachen. Außerdem merkt man Stephan auch ziemlich genau an, ob er <strong>bei</strong> derSache ist oder nicht. Es gibt auch mal Zeiten z.B. donnerstags zur siebten, achtenStunde, da fällt es ihm mitunter schon sehr schwer. Die Ursachen dafür kennenwir und mit den Eltern ist es so geklärt, dass er, wenn es wirklich nicht geht,ruhig mal ein paar Tage zu Haue bleiben kann. Stephan ist das wiederum garnicht so lieb, denn er ist recht gerne in der Schule.“www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 69Unter welchen Bedingungen werden die Abiturprüfungen im schriftlichen Bereich realisiertund wo liegen die Besonderheiten der mündlichen Abiturprüfung?„Es ist praktisch so, dass Stephan die Klausuren auf dem Papier bekommt, sowie jeder Schüler auch. Zusätzlich bekommt er aber noch die Klausuren vom Ministeriumals Word- Datei zu Verfügung gestellt. Dann haben wir vor dem jeweiligenÖffnungstermin der Klausuren, der vom Ministerium bekannt gegeben wird,meistens sind das drei bis fünf Tage, die Möglichkeit, die Klausuren zu prüfen, obes besondere Probleme für Stephan geben könnte, so dass wir in einem solchenFall mit den Verantwortlichen noch Rücksprache halten können, um gegebenenfallsnoch etwas zu korrigieren. Das sind erst mal die Bedingungen, die von Seitendes Ministeriums abgesichert sein müssen. Dann gibt es für das schriftlicheAbitur eine Verlängerung der Ar<strong>bei</strong>tszeit um ca. fünfzig Prozent. Wo<strong>bei</strong> wir hierdavon ausgehen müssen, dass die reine Ar<strong>bei</strong>tszeit schon vier Zeitstunden beträgt,so dass es <strong>bei</strong> einer Verdopplung auf acht Zeitstunden zu einer starkenMinderung des Leistungsvermögens kommen würde. Deshalb haben wir das sogeplant, dass wir eine Unterbrechung der Ar<strong>bei</strong>tszeit nach drei Stunden vornehmen.Da hat Stephan die Gelegenheit sich auszuruhen. Er schläft dann wirklicheine Stunde und bear<strong>bei</strong>tet dann den Rest der Klausur noch mal in drei Zeitstunden.So wurde das bereits in den Vorklausuren praktiziert und hat nach meinemEmpfinden auch ganz gut geklappt. Aufgaben, <strong>bei</strong> denen er bestimmte Konstruktionmachen muss, z.B. in der Mathematik, muss er durch Beschreiben der Vorgehensweiseersetzen. Diagramme oder Ähnliches fertigt Stephan über eine Excel-Tabelle an, was hier keinesfalls eine Erleichterung darstellt, denn er mussauch hier Grundkenntnisse über Formeln, Größen und Gleichungen aufweisen,so dass hier wirklich nur das Zeichnen von Hand entfallen würde. Die mündlichePrüfung erfolgt in Form einer schriftliche Darlegung der Antworten. Alle Schülerhaben ja eine Vorbereitungszeit von zwanzig Minuten, <strong>bei</strong> Stephan beträgt dieVorbereitungszeit dann zwei Stunden . Im Anschluss findet dann ein Gesprächmit Stephan zu seinen schriftlichen Darlegungen statt. Er ist in der Lage, sichkurz zu bestimmten Sachverhalten zu äußern. Zum Teil auch nur mit Ja oderNein. Zwanzig Minuten zu einem bestimmten Thema etwas vorzutragen, ist ihmaber nicht möglich, deshalb also die Variante der schriftlichen Darlegung. Dassind eigentlich die wesentlichen Punkte, wie wir die Prüfung von Stephan organisierenwerden.“www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 703.5.2 AuswertungHerr Lorenz ist Fachlehrer für Mathematik und Physik. Er unterrichtet Stephan bereits seitlängerer Zeit. Bei der Umsetzung der Integrationsmaßnahmen am Janusz Korczak Gymnasiumist der Lehrer nicht nur für Stephan, sondern auch für alle in dieses Projekt miteinbezogenenKollegen und Schüler eine sehr wichtige Bezugsperson. Er hält die Fädenin der Hand, wenn es um Kontakte zur Schulleitung oder zur sonderpädagogischen Förder-und Beratungsstelle geht. Außerdem koordiniert der Tutor die Absprachen zwischenallen Fachlehrern, um nötige Unterrichts- und Hilfsmittel für Stephans Laptop fächerübergreifendeinsetzen zu können. Viele dieser individuellen Hilfen hat er selbst entworfenbzw. angefertigt. Herr Lorenz beobachtet seinen Schüler auch intensiv <strong>bei</strong>m Umgang mitseinem Computer und der Nutzung der zur Verfügung stehenden Medien. Im Interviewwird auch deutlich, dass es für ihn fast selbstverständlich ist, nach neuen Möglichkeitenzu suchen, um das Lernen für Stephan an seiner Schule leichter und effektiv zu gestalten.Er geht da<strong>bei</strong> immer vom Gleichheitsprinzip aus, wie er in seinen Antworten im Interviewauch mehrfach betont hat. Es ist für ihn sehr wichtig gleiche Bedingungen für alle Schülerzu schaffen. Nur so kann vermieden werden, Stephan unbewusst in eine Art „Sonderrolle“zu drängen und damit den Integrationsprozess negativ zu beeinflussen.Schwierig und für den Pädagogen kaum nachvollziehbar, war die Klärung der Frage: Werfür welche integrativen Hilfestellungen und zusätzliche Unterstützungen die entstehendenKosten übernimmt? In der ersten Phase des Beschulungsprojektes waren sich die zuständigenÄmter und Einrichtungen untereinander nicht einig, so kam es zu einem eherverwirrenden Finanzierungsplan, der aber mittlerweile relativ klar umstrukturiert wurde.Das Erkennen von zusätzlichem Hilfebedarf, wenn Stephan sich überanstrengt fühlt undverkrampft z.B. <strong>bei</strong> länger andauernden Konzentrationsphasen, führte zu der Entscheidungdie Bear<strong>bei</strong>tungszeiten <strong>bei</strong> Klausuren und vergleichbaren Leistungskontrollen zuverlängern. Die damit verbundenen zusätzlichen Ar<strong>bei</strong>tstunden für die jeweiligen Fachlehrerwerden durch kurzfristige Absprachen geregelt. Herr Lorenz sieht in der Übernahmesolcher Aufgaben keine zusätzliche Belastung. Er übt seinen Beruf mit Freude aus, erkenntpädagogische Möglichkeiten und Chancen für seine Schüler, fördert den geistig aktivenStephan und versucht ihn zu motivieren in dem er da<strong>bei</strong> vor allem auf seine Reservenverweist. Herr Lorenz praktiziert schulische Integration unter den Gesichtspunktendes „Fordern“ und „Fördern“.www.foepaed.<strong>net</strong>


Schulische Förderung mit Maßnahmen zur Ermöglichung eines Abiturs 71Förderung, heißt für ihn da<strong>bei</strong>, alle notwendigen Voraussetzungen zur Bewältigung derAnforderungen im Unterricht zu schaffen, um dann aber auch die Eigeninitiative <strong>bei</strong> derSuche nach Lösungen durch den Hilfebedürftigen zu erreichen.www.foepaed.<strong>net</strong>


Zusammenfassung und Fazit 724 Zusammenfassung und FazitWeltweit beschäftigen sich momentan ausgewählte Wissenschaftler in mehreren Forschungsprojektenmit den Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten des NBIA- Syndroms.Für die betreuenden Ärzte von Stephan bedeutet das, entsprechend des aktuellenKrankheitsbildes auf neue medizinische Forschungsergebnisse zu reagieren und diese anden Patienten weiterzuleiten. Es besteht nach wie vor die Möglichkeit, den progredientenKrankheitsverlauf durch neu gewonnene Erkenntnisse in der Zukunft positiv zu beeinflussen.In Dokumenten der Weltgesundheitsorganisation wird der Begriff der Körperbehinderungdurch drei Ebenen klassifiziert. Diese Kategorien bilden die Grundlage für meine abschließendenBetrachtungen. Die erste Ebene umfasst Schädigungen oder Abnormitätender organischen, anatomischen, physiologischen und psychischen Funktionen und Strukturendes Körpers. Einschränkungen von Funktionen und Fähigkeiten werden in der zweitenEbene beschrieben. Hier handelt es sich in erster Linie um Beeinträchtigungen vonFunktionen oder Fähigkeiten aufgrund von Schädigungen, die Alltagssituationen behindernoder unmöglich machen. In der dritten Ebene ist die Benachteiligung eines Menscheninfolge seiner Beeinträchtigung oder Schädigung definiert (vgl. SCHMID, I. 2003,Frühförderung körperbehinderter Kinder. S.131).„Kinder mit diesen Schädigungen sind unter anderem eingeschränkt im Aufbauvon Stell- und Gleichgewichtsreaktionen, in der Dosierung von Muskelkraft, in derKörperkontrolle und Muskelkraft, in der Bewegungsplanung, in der Koordinationvon Bewegungen, im Aufbau von Bewegungsmustern (Greifen, Laufen, Hüpfen,...).Dies wirkt sich vor allem aus als Einschränkung der Mobilität und derMöglichkeit, Handlungen selbstständig auszuführen. Entwicklung und Lernen findetdaher unter erschwerten Bedingungen statt.“ (SCHMID, I. 2003, Frühförderungkörperbehinderter Kinder. S.131).Diese von der Weltgesundheitsorganisation formulierte allgemein gültige Definition charakterisiertin ihren Kernpunkten auch das Erscheinungsbild meines Probanden.Förderung und Integration eines körperbehinderten Jugendlichen umfassen Ganzheitlichkeit,Familienorientierung, Interdisziplinarität, Regionalisierung und Koordinierung allerMaßnahmen.www.foepaed.<strong>net</strong>


Zusammenfassung und Fazit 73Aufgabenfelder, Ar<strong>bei</strong>tsgrundsätze und gemeinsame Zielsetzungen werden besonders inden Interviews mit der betreuenden Sonderpädagogin, dem Einzelfallhelfer und dem Tutordeutlich. Die Rolle der Familie sowie ihre Begleitung und Beratung sind im Prozess derIntegration besonders wichtig. Probleme, die da<strong>bei</strong> auftreten, werden im Erfahrungsberichtder Mutter geschildert. Die Ver<strong>net</strong>zung aller Angebote ist an den individuellen Lebensumständender Familienmitglieder zu orientieren. Die gewonnenen Informationen ausGesprächen und Berichten bilden die Vorausetzungen, um Möglichkeiten und Aussichtender schulischen Förderung eines körperbehinderten Schülers grundlegend und detailliertdarlegen zu können. Entsprechend der Beschlüsse der Kultusministerkonferenz von 1994erfolgt die Integration von Kindern und Jugendlichen mit einer Körperbehinderung im Wesentlichenin zwei Formen: Einzelintegration und Integrationsklassen (vgl.HAMMERSCHLAG- MÄSGEN, J. 2003, Unterricht und Förderung mit sogenannten körperbehindertenKindern und Jugendlichen im Sinne einer unterstützenden förderlichen LebensundLernbegleitung. S. 304ff). Das Konzept der Einzelintegration bildet für Stephan dieGrundlage eines gemeinsamen Unterrichts in der Sekundarstufe II des Janusz KorczakGymnasiums.Diese spezielle Form der Integration ermöglicht es Stephan, trotz seiner erheblichen motorischenBeeinträchtigungen am Schulleben geregelt teilzunehmen. Bis zum heutigenZeitpunkt ist dies der erste und einzige Beschulungsversuch im Land Bandenburg mitdem Ziel, einem Schüler mit diesem Krankheitsbild das Abitur zu ermöglichen. Die bildungspolitischenGesetzlichkeiten und Beschlüsse im Land Brandenburg begünstigen dieUmsetzung aller notwendigen Fördermaßnahmen für diesen Einzelfall. Im konkreten Fallheißt das: Die Bereitstellung eines an seine Bedürfnisse angepassten Computers alsHilfsmittel für Mitschriften und Leistungskontrollen, die unabdingbare Begeleitung durchden Einzelfallhelfer während des gesamten Schultages, eine Ar<strong>bei</strong>tszeitverlängerung <strong>bei</strong>Klausuren und Klassenar<strong>bei</strong>ten sowie die Bereitstellung fachlich individuell differenziertgestalteter Unterrichtsmittel. Das Engagement der Pädagogen, von denen Stephan unterrichtetwird, ermöglichen ihm eine aktive Teilnahme am Lernprozess. Entwicklungsimpulsewerden durch das Lehrpersonal reflektiert und führen dazu, diese der Situation angepasstenund modifizierten Lehrmethoden im integrativen Unterricht zu intensivieren undweiterzuentwickeln. Für Stephan werden die Pädagogen dadurch zu einer zuverlässigensozialen Basis.Integration und Zusammenar<strong>bei</strong>t in einer Sekundarstufe heißt aber auch leistungsorientiertund fachspezifisch zu lernen. Der herkömmliche Klassenverband wird durch dasKurssystem ersetzt. Das ließe die Vermutung zu, dass sich für Stephan eine soziale In-www.foepaed.<strong>net</strong>


Zusammenfassung und Fazit 74tegration als problematischer Prozess herausstellen könnte. Meine Beobachtungen habenjedoch gezeigt, dass sich die Eingliederung eines Schülers mit körperlichen Beeinträchtigungenpositiv auf das Sozialverhalten der Mitschüler auswirkt. Dieser durch Hilfsbereitschaftund Akzeptanz charakterisierte Integrationsprozess ermöglicht Stephan eineschnelle und problemlose Anpassung an neue Lern- und Kursbedingungen. Somit sind andiesem Gymnasium durch die Zusammenar<strong>bei</strong>t aller Beteiligter optimale innerschulischeBedingungen realisiert worden, die Stephan den Abschluss seiner Schullaufbahn mit demAbitur ermöglichen. Um gemeinsamen Unterricht erfolgreich umsetzen zu können, ist esnotwendig, dass sich alle in diesen Prozess involvierten Behörden, Ämter und Einzelpersonenmit der Grundidee des Konzeptes, der Integration identifizieren und entsprechendihrer Kompetenzbereiche unterstützend wirken. Auch das wird im Fall des Jugendlichenrelisiert.Die Übernahmen entstehender Kosten für notwendige Eingliederungshilfen sind hier<strong>bei</strong>nicht außer Acht zu lassen. Das sich gegenwärtig in der Umsetzungsphase befindlicheReformprogramm der Bundesregierung hat auch zur Streichung von finanziellen Mittelnauf der sozialpolitischen Ebene geführt. So bleibt die Frage offen, inwieweit sich dieseKürzungen auch auf diesen überwiegend kostenverursachenden Bereich der Bildungspolitikauswirken. Die Entwicklung der Angebote für den Gemeinsamen Unterricht und dieIntegration macht die hohe Abhängigkeit von gesellschaftlichen Rahmenbedingungensehr deutlich. Diese Rahmenbedingungen ergeben sich nicht zwangsläufig und müssenso auch immer individuell verändert werden (vgl. LELGEMANN, R. 2003, Zum Selbstverständniseiner Pädagogik für und mit Menschen mit Körperbehinderungen. S 348).„Pädagogik für und mit Menschen mit Körperbehinderung ist an unterschiedlichenOrten so möglich, dass Schülerinnen und Schüler gerne eine Grundschule,die Schule für Körperbehinderte, eine Haupt-, Gesamtschule oder jede andereSchule besuchen und sich dort als Menschen erleben, die wichtig sind für dieGestaltung unseres Lebens.“ (LELGEMANN, R. 2003, Zum Selbstverständnis einerPädagogik für und mit Menschen mit Körperbehinderungen. S 348)www.foepaed.<strong>net</strong>


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