Jung, gebildet, Berufspolitiker
Jung, gebildet, Berufspolitiker
Jung, gebildet, Berufspolitiker
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
46<br />
<strong>Jung</strong>, <strong>gebildet</strong>,<br />
<strong>Berufspolitiker</strong><br />
Eine Reportage von Matthias Wyssuwa und Carolin Burrer
Den Parteien fehlen junge Mitglieder – einerseits.<br />
Andererseits werden jüngere <strong>Berufspolitiker</strong> oft als<br />
Karrieristen oder Opportunisten gescholten.<br />
Vier Porträts junger Menschen zwischen dem<br />
Ska Keller sitzt in einer Tonne. Es ist heiß, ein Samstag von vielen<br />
Wahlkampfsamstagen. Tausende Menschen ziehen mit Einkaufstüten<br />
durch eine Kölner Einkaufsstraße, es riecht nach Schweiß und<br />
Zigarettenqualm, und Ska Keller sitzt in einer grünen Plastiktonne,<br />
ihr Kopf durch ein blaues Tuch gesteckt. Eine junge Frau schreit in<br />
ein Megafon, dass uns allen das Wasser bald bis zum Halse stehe,<br />
so wie den Grünen in der Tonne. Schuld sei der Klimawandel. Keller<br />
lächelt schief. Straßenwahlkampf sei nicht immer dankbar, sagt sie<br />
später. „Da gibt es angenehmere Sachen.“ Aber das Gespräch mit<br />
dem Wähler sei wichtig. Kaum aus der Tonne gekrochen, steht sie<br />
mit Wahlkampfzeitungen in der Hand im<br />
Menschenstrom. Schlank und klein, dunkle<br />
Haare und dunkle Augen. Zwei Fußgänger<br />
gehen an ihr vorbei, drei, fünf, sieben.<br />
Sie hält die Zeitungen weiter in den Strom<br />
hinein. Neun, elf, dann greift eine Hand<br />
zu, ein Mann, ein Lächeln, und schon ist er<br />
wieder weg.<br />
Vierzehn Grüne konnten Anfang Juni von<br />
der Liste ins Europaparlament einziehen,<br />
die Partei hatte gut zwölf Prozent erreicht.<br />
Auf Listenplatz sieben stand Ska Keller.<br />
Seitdem ist sie Mitglied des Europäischen<br />
Parlaments. Sie ist grüne Landesvorsitzende<br />
in Brandenburg, sie ist verheiratet,<br />
sie ist Studentin, sie ist 27 Jahre alt, sie<br />
verdient Geld mit der Politik, sie ist eine<br />
<strong>Berufspolitiker</strong>in.<br />
Ska Keller heißt eigentlich Franziska, nur<br />
mochte sie nicht Franzi genannt werden.<br />
Hobby und dem Beruf Politik.<br />
scripten 14 <strong>Jung</strong>, <strong>gebildet</strong>,<br />
<strong>Berufspolitiker</strong><br />
Ska Keller<br />
Wahlkampf, das heißt für sie: wochenlang<br />
mit dem Rollkoffer in ganz Deutschland<br />
unterwegs, von Ortsverein zu Ortsverein,<br />
von Wahlkampfstand zu Wahlkampfstand.<br />
Tübingen, Eberswalde, Köln. Nach<br />
wenigen Minuten nimmt sie das Megafon,<br />
junge Grüne steigen wieder in die Tonnen.<br />
Sie hält es ungelenk, weit fort von ihrem<br />
Mund. Was sie sagt, versteht man kaum.<br />
Die Menschen ziehen weiter an ihr vorbei.<br />
Sie stockt etwas. Eine weitere Wahlkämpferin<br />
bittet sie, doch lauter zu sprechen, nur<br />
etwas lauter.<br />
Lauter ist für Steffen Bockhahn kein Problem.<br />
Er spielt mit den Worten und mit<br />
der Lautstärke seiner Stimme. Wenn die<br />
Themen ernst werden, brummt er ein<br />
wenig, redet leise. Wenn er seine Konkurrenten<br />
angreift, dann wird er etwas lauter,<br />
manchmal lacht er auch. Er sitzt im Ros -<br />
tocker Rathaus, Podiumsdiskussion zu den<br />
47
Kommunalwahlen, neben ihm Spitzenkandidaten anderer Parteien.<br />
Er wird oft lachen an diesem Abend. Viele Stunden zuvor, am frühen<br />
Morgen noch, hat er in seiner Wohnung gesessen, gefrühstückt.<br />
Draußen wollte der Regen nicht aufhören. Bockhahn blätterte die<br />
Regionalzeitung durch, schmunzelte ab und an, rückte seine Brille auf<br />
„Ein gutes Personengedächtnis<br />
ist wichtig, um Erfolg<br />
48<br />
<strong>Jung</strong>, <strong>gebildet</strong>,<br />
<strong>Berufspolitiker</strong><br />
scripten 14<br />
Steffen Bockhahn<br />
in der Politik zu haben.“<br />
der Nase zurecht. Modell Porsche. Dann war<br />
der Kaffee alle. Er hat telefoniert, Parteiwerbung<br />
besprochen. Ein Blick auf die Uhr, keine<br />
Zeit mehr. Steffen Bockhahn ist im Wahlkampf,<br />
er ist Spitzenkandidat der Linkspartei,<br />
er ist Direktkandidat für die Bundestagswahl,<br />
und im Herbst will er Landesvorsitzender<br />
seiner Partei in Mecklenburg-Vorpommern<br />
werden.<br />
Kaum hatte der Regen nachgelassen, ist<br />
er über die glitzernd-feuchten Straßen der<br />
Innenstadt gelaufen, hin zum nahen Gewerkschaftshaus.<br />
Ein Gespräch mit den Seniorenvertretern<br />
der Gewerkschaften. Bockhahn<br />
ist 30 Jahre alt, seine Zuhörer könnten seine<br />
Großeltern sein. Sein Wahlkampfthema ist<br />
städtisches Eigentum. Rostock ist verschuldet,<br />
der Bürgermeister will Eigentum verkaufen.<br />
Bockhahn ist dagegen, die Senioren sind<br />
dagegen.<br />
„Da sind wir ganz dicht beieinander“, sagt er.<br />
Ein Stunde später ist auch hier der Kaffee alle.<br />
Bockhahn lächelt und geht. „Manchmal“, sagt<br />
er, „muss ich mir schon anhören, woher ich<br />
wissen will, was los ist, so jung wie ich bin.“
Meistens aber freuten sich zumindest seine<br />
Genossen, dass da noch ein <strong>Jung</strong>er ist. So<br />
viele Mitglieder unter 35 gibt es nicht in der<br />
Linkspartei.<br />
Am nächsten Abend muss er nicht viel<br />
reden, er darf zuhören. Klassiknacht im<br />
Rostocker Zoo, Lokalprominenz, Eintrittsgelder<br />
für einen guten Zweck. Bockhahn ist<br />
gut gelaunt, in der Lokalpresse wird über<br />
ihn und den Vorabend im Rathaus wohlwollend<br />
berichtet. Mit einem Bier steht er am<br />
Eingang zu der Wiese, auf der die Stuhlreihen<br />
stehen, und schüttelt viele Hände. „Ein<br />
gutes Personengedächtnis ist wichtig, um<br />
Erfolg in der Politik zu haben.“ Dann geht<br />
er mit seiner Frau zu seinen Plätzen. Im<br />
vergangenen Jahr noch musste er in der<br />
zweiten Reihe sitzen, diesmal wurde er in<br />
die erste geladen. In der ersten Reihe sitzen<br />
Bürgermeister, Bundestagsabgeordnete,<br />
Landespolitiker. In der ersten Reihe gibt es<br />
Schnittchen.<br />
Als Florian Toncar Schnittchen serviert<br />
werden, ist seine Zeit schon um. Zwei Stunden<br />
hat er sich in dem Konferenzraum in<br />
einem Computerunternehmen in Böblingen<br />
erklären lassen, wie Server gekühlt und<br />
Speicherplatten vergrößert werden. Und<br />
was die Firma über neue Gesetzesvorhaben<br />
denkt. Er bedankt sich für die „interessanten<br />
Einblicke“ und fährt davon. Seit 2005<br />
Ska Keller<br />
ist Toncar Bundestagsabgeordneter für die<br />
FDP. Da hatte er gerade sein Jura-Studium<br />
abgeschlossen. Auch jetzt kandidiert er<br />
wieder, seine Chancen stehen gut. Er ist 29<br />
Jahre alt und sitzt schon recht häufi g in der<br />
ersten Reihe.<br />
Zehn Minuten später steht er in einem Klassenraum,<br />
die Sonne fällt durch die Fenster,<br />
es riecht nach Füßen. Elftklässler haben<br />
Fragen vorbereitet, Toncar erteilt das Wort<br />
mit gestreckter Hand. Ihm wird ein Stuhl<br />
angeboten, doch er steht lieber. „So rede<br />
ich auch im Bundestag.“ Fragen zu Nordkorea,<br />
dann Iran, dann Bildungspolitik. Der<br />
Weg zur Antwort ist lang, führt über Einordnungen<br />
und Abwägungen. Sein Gesicht<br />
zeigt keine Regung, seine Hände zeichnen<br />
Kreise und Linien. Die Klasse ist ruhig.<br />
Schweißperlen laufen Toncar ins Gesicht,<br />
Haarsträhnen kleben an der Stirn. Er trägt<br />
Krawatte, das Sakko bleibt zu. Nach 60<br />
Minuten sind keine Fragen mehr übrig.<br />
Toncar sagt: „Seid nett zu euren Lehrern“<br />
und geht.<br />
Aufgewachsen ist Toncar im Stuttgarter<br />
Speckgürtel, dort, wo er heute für den Bundestag<br />
kandidiert. Die Eltern – der Vater<br />
Schulleiter, die Mutter Ärztin – sind der FDP<br />
nah, aber keine Mitglieder. Toncar trat 1998<br />
in die Partei ein, da ging er in die 13. Klasse.<br />
Klassensprecher sei er schon immer gewe-<br />
49
50<br />
Büro der Grünen in Potsdam<br />
Florian Toncar<br />
sen. „Ich mag es, Gruppen zu leiten und Entscheidungen zu treffen.“<br />
Und Extreme habe er abgelehnt. So sei er zur FDP gekommen. „Am<br />
Ende war das auch eine Bauchentscheidung.“ Er war der einzige<br />
Schüler in seinem Jahrgang, der zu den Liberalen gegangen ist. 1998<br />
war die FDP in der Krise. Händeringend habe sein Kreisverband nach<br />
jungen Leuten gesucht, sagt er. Als die FDP wenige Jahre später den<br />
Aufbruch schaffte und zunehmend junge Mitglieder gewinnen konnte,<br />
war Toncar schon in der Partei angekommen, saß im Kreisvorstand.<br />
1999 hat er den Europawahlkampf mitorganisiert. Pläne zu entwerfen,<br />
um Menschen zu überzeugen – ein großer Vorzug der Parteiarbeit,<br />
sagt er. „Probleme lösen könnte ich sonst auch an der Universität.“<br />
Neben der Arbeit im Kreisvorstand engagierte er sich bei den Julis,<br />
der Jugendorganisation der FDP. Sein Aufstieg war steil. Er wurde<br />
Landesvorsitzender. Geplant habe er das alles nicht, sagt er. Aber<br />
genutzt hat er seine Möglichkeiten. Immer wieder hat er sich wählen<br />
lassen, Stufe um Stufe hinauf, bis hinein in den Bundestag. Er könne<br />
es nicht ertragen, zum Zuschauen verdammt zu sein. „Ich bin jemand,<br />
der privat wie politisch unheimlich gerne eingreift ins Geschehen.“<br />
Und wer eingreifen will, braucht die Macht dazu.<br />
Steffen Bockhahns Eltern wohnen noch in der Wohnung, in der er<br />
aufgewachsen ist. Kleine Zimmer nahe dem Rostocker Stadthafen.<br />
Als er noch jung war, hingen Poster seiner Partei an seinem Kinderzimmerfenster.<br />
Heute liegen Flyer mit seinem Namen auf der Schuhablage.<br />
Die Erziehung seiner Eltern sei für seine politische Prägung<br />
entscheidend gewesen, sagt er. Beide sind Lehrer, beide führten FDJ-<br />
Gruppen, beide waren in der SED und sind heute in der Linkspartei.<br />
Auch Bockhahn war Klassensprecher.<br />
Eingetreten ist er in die PDS mit 16 Jahren, auch sein Aufstieg war<br />
steil, ein politisches Bilderbuchleben. Kreisvorstand, Delegierter auf<br />
Bundesparteitagen, stellvertretender Landesvorsitzender. Er sagt,
„Ich bin jemand, der privat wie<br />
politisch unheimlich gerne<br />
sein Alter habe ihm geholfen. Geplant<br />
haben will er nichts, und doch kenne er<br />
den Vorwurf, ein Karrierist zu sein, sehr<br />
gut. Vor zwei Jahren hat er sein Politikstudium<br />
abgeschlossen. Den Einstieg ins<br />
Berufsleben hat er reibungslos geschafft.<br />
Er ist Mitarbeiter bei Dietmar Bartsch, dem<br />
Bundesgeschäftsführer der Linkspartei,<br />
und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit<br />
seines Landesverbands. Er verdient<br />
sein Geld in der Politik, aber noch nicht mit<br />
der Politik. Der Landesvorsitz könnte das<br />
ändern oder der Einzug in den Bundestag.<br />
„Ich mache nicht Politik, um Geld zu verdienen,<br />
aber ich fi nde es in Ordnung, wenn ich<br />
damit Geld verdiene.“<br />
Katharina Caspary hat sich vorbereitet, an<br />
ihren Anträgen gefeilt, ihre Argumente<br />
sortiert. Es sind nur noch wenige Stunden<br />
bis zur Sitzung des Bezirksvorstands der<br />
<strong>Jung</strong>en Union Nordbaden, und die Hitze<br />
drückt in ihre Wohnung in Tübingen. Neues<br />
Mehrfamilienhaus, viel Glas, die Biografi<br />
e von Helmut Kohl im Bücherregal. Auf<br />
eingreift ins Geschehen.“<br />
dem Tisch liegen die Antragsformulare für<br />
den Abend. Vier Punkte möchte sie in dem<br />
Papier geändert haben, mit dem die <strong>Jung</strong>e<br />
Union in Baden-Württemberg ihre Erwartungen<br />
an die Bundespolitik bündeln will.<br />
Es geht meist um wenige Worte, um Statistiken,<br />
um Apotheken im ländlichen Raum.<br />
Und es geht um ihr wichtigstes Projekt: die<br />
Gesundheitskarte. Deren Einführung solle<br />
die <strong>Jung</strong>e Union fordern.<br />
Doch bis dahin ist der Weg noch weit. Sie<br />
muss ihren Bezirk am Abend überzeugen,<br />
danach geht es zum Landestag. Erst wenn<br />
ihre Vorschläge auch dort angenommen<br />
werden, kommen sie in das Papier mit dem<br />
Namen „Chance 2009“. „Im Kleinen kann<br />
man versuchen, die Partei so zu lenken, wie<br />
man es sich wünscht“, sagt Caspary. Sie ist<br />
keine Wahlkämpferin, sie ist Politikarbeiterin.<br />
Caspary ist 26 Jahre alt. Sie hat zwei Kinder,<br />
ist verheiratet, hat Medizin studiert, arbeitet<br />
in einer Klinik, promoviert. Und sie kann<br />
51
52<br />
Katharina Caspary<br />
fast eine Seite in ihrem Lebenslauf mit den<br />
Ämtern füllen, die sie schon in der Union<br />
innehatte. In Kreis- und Bezirksvorständen,<br />
in Ausschüssen und im Landesvorstand. Je<br />
mehr man sich für die Themen interessiere,<br />
sagt sie, umso mehr wolle man auch vorankommen.<br />
Wenn Freiwillige gesucht wurden,<br />
hat sie sich stets gemeldet. Ihre Mitarbeiterstelle<br />
beim Landesminister für Ernährung<br />
in Baden-Württemberg hat sie erst vor<br />
wenigen Wochen gekündigt. Gerade hat<br />
sie ihr zweites Kind bekommen. 2002 war<br />
Caspary Bundestagskandidatin. Sie scheiterte<br />
damals und sagt heute, sie bedaure<br />
es nicht. „Mir geht es nicht um Mandate“,<br />
sagt sie. „Ich will inhaltlich arbeiten.“ Überhaupt<br />
seien es nicht immer die Besten,<br />
die es nach oben schafften, und sie habe<br />
längst andere Prioritäten: Sie ist Mutter und<br />
Medizinerin. Politik ist ihr Hobby. Für ihren<br />
„Ich will inhaltlich arbeiten.“<br />
Mann aber ist es der Beruf. Seit 2004 sitzt<br />
er für die Union im Europäischen Parlament.<br />
Caspary ist die Erste in dem Restaurant<br />
nahe der Autobahn. Dunkle Farben, dunkles<br />
Holz, Tiergeweihe an den Wänden. Als<br />
sich der Raum füllt, sitzt sie schon ganz<br />
nah beim Vorsitzenden. 27 Männer und<br />
fünf Frauen, Weizenbier und Apfelschorle.<br />
Die Sitzung beginnt mit Personaldebatten,<br />
Auswertung von Treffen und Partys. Dann<br />
kommen die Antragsdiskussionen. Caspary<br />
trägt ruhig ihre Sätze vor.<br />
Beim ersten Antrag hakt es noch, sie muss<br />
eine Formulierung streichen. Es ist heiß.<br />
Alle Fenster sind offen, doch die Luft will<br />
sich nicht bewegen. Antrag zwei wird<br />
ohne Diskussion genehmigt, Antrag drei<br />
auch. Der Vorsitzende fächelt sich mit<br />
Antragspapieren Luft zu. Dann kommt die<br />
Gesundheitskarte. Casparys Augen suchen<br />
jene Mitglieder, von denen sie Widerspruch<br />
erwartet. Keine Reaktion, fast alle<br />
heben die Hand, der Antrag ist durch, und<br />
Caspary lächelt so breit wie noch nie an<br />
diesem Abend. „Die Hitze hat mir geholfen“,<br />
sagt sie später.<br />
Als Bockhahn die Änderungsanträge vorliest,<br />
steht er auf der Bühne in der Berliner<br />
Max-Schmeling-Halle. Wahlparteitag<br />
der Linkspartei, Bockhahn ist Sprecher
der Antragskommission. Eben noch hat<br />
Gregor Gysi zu den Delegierten gesprochen,<br />
mal lauter, mal leiser. Jetzt brechen<br />
einige Zuhörer auf, gehen nach Hause oder<br />
auf die Toilette. „Nach impulsivem Gerede“,<br />
beginnt Bockhahn, „kommt nun die trockene<br />
Antragsarbeit.“ Als Stunden später<br />
die Halle leer ist, sitzt er auf einer Tribüne<br />
und sagt, dass die Arbeit in der Antragskommission<br />
nicht gerade schädlich sei für<br />
Ansehen und Beliebtheit in der Partei. Er<br />
habe die Aufgabe übernommen, weil er<br />
gebeten wurde und weil er es könne. Weil<br />
er strukturiert arbeite und denke. Gelernt<br />
habe er das in vielen Jahren der Parteiarbeit.<br />
Bei ihm verhalte es sich so, sagt er,<br />
wie Luhmann es geschrieben habe: Er habe<br />
seine Fähigkeiten dem System angepasst,<br />
in dem er sich bewegt. Dabei vertrete man<br />
natürlich nicht immer, wozu man auch hundertprozentig<br />
stehe. „Hauptsache, ich kann<br />
danach noch in den Spiegel sehen.“<br />
Jahre der Parteiarbeit seien eine Herausforderung<br />
an die Persönlichkeit, sagt Toncar.<br />
„Da treffen menschliche Zu- und Abneigung<br />
aufeinander, und alles ist verbunden<br />
mit Sachfragen, die ja auch Konsequenzen<br />
haben.“ Er sitzt im Café auf dem Dach des<br />
Reichstags. Im Jakob-Kaiser-Haus gegenüber<br />
hat er sein Abgeordnetenbüro, in dem<br />
seine Mitarbeiter arbeiten. Er siezt sie, da<br />
sich sonst Berufl iches mit Privatem vermische.<br />
Wenn Siege und Niederlagen öffentlich<br />
sind, sagt er, kann das sehr verletzend<br />
sein. Viele empfänden es als Gesichtsverlust,<br />
wenn sie aus ihren Positionen abgewählt<br />
würden. Das könne einen Menschen<br />
verändern.<br />
Er sei sich dessen immer bewusst gewesen,<br />
sagt er, dass vielleicht irgendwann<br />
die Stimmen fehlen, die ihn wieder in den<br />
Bundestag bringen – in der Partei oder bei<br />
Wahlen.<br />
An seinem Verhalten bei Abstimmungen<br />
ändere das nichts. Als im Bundestag vor<br />
einigen Wochen über eine neue Schuldenbremse<br />
für Bund und Länder abgestimmt<br />
wurde, sollte seine Fraktion sich enthalten.<br />
Es war der Wunsch des Vorsitzenden<br />
Westerwelle. Das habe er als junger Abge-<br />
Katharina und Daniel Caspary<br />
53
54<br />
„Ich will nicht davon abhängig<br />
Steffen Bockhahn<br />
werden, Mandate zu gewinnen.“<br />
ordneter nicht verantworten können. Er hat mit „Ja“ gestimmt, als<br />
Einziger. Er sagt, das sei mutig gewesen.<br />
„Ich will nicht davon abhängig werden, Mandate zu gewinnen“, sagt<br />
Ska Keller. Und sie sagt, sie wolle nicht ihr ganzes Leben im Europaparlament<br />
sitzen. Ihr Studium der Turkologie will sie schnell abschließen.<br />
Wäre sie nicht gewählt worden, hätte sie wohl promoviert.<br />
Werde bloß nicht wie Niels Annen, habe man ihr gesagt. Annen sitzt<br />
für die SPD im Bundestag, hat sein Studium nach vielen Jahren abgebrochen<br />
und dann seinen Wahlkreis verloren. Als sie die Nachricht<br />
über das Europawahlergebnis und ihren Karrieresprung erreicht hatte,<br />
telefonierte sie im Foyer der Heinrich-Böll-Stiftung mit Jan Philipp<br />
Albrecht, ihrem Kollegen von der Grünen Jugend. Auch er hatte es<br />
ins Europäische Parlament geschafft, er ist 26 Jahre alt. Sie gratulierte<br />
ihm und gab dann das Handy weiter an einen jungen Mann<br />
neben ihr. „Du hast einen Job, Mann, und nicht den schlechtesten,<br />
den besten“, hat der ins Telefon geschrien. „Rock ‚n‘ Roll!“<br />
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH<br />
Alle Daten und Artikel sind urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung<br />
ist nur zum eigenen dienstlichen Gebrauch möglich. Nicht<br />
gestattet sind insbesondere jegliche Weitergabe an Dritte, Vervielfältigung<br />
sowie mechanische und oder elektronische Speicherung. Für<br />
die Richtigkeit und Vollständigkeit des Inhalts der Beiträge besteht<br />
keine Haftung und Gewährleistung.<br />
© Text: Matthias Wyssuwa Fotos: Carolin Burrer
Biografi e<br />
Matthias Wyssuwa wurde im Sommer 1982<br />
in Neubrandenburg in Mecklenburg geboren.<br />
Studium der Politikwissenschaft und<br />
Soziologie in Rostock, Lund und Konstanz.<br />
Volontariat bei der Frankfurter Allgemeinen<br />
Zeitung. Eintritt in die politische Nachrichtenredaktion<br />
der Zeitung am 1. April 2010.<br />
Florian Toncar in der Schule<br />
Carolin Burrer, geboren am 6. Juli 1978 in<br />
Augsburg, aufgewachsen in Oberschwaben.<br />
Nach dem Abitur und zahlreichen<br />
Auslandsreisen Beginn des Kommunikationsdesign-Studium<br />
in Hamburg.<br />
Ein Ful brightstipendium ermöglicht ihr<br />
2005/2006 einen Auslandsaufenthalt an<br />
der University of Columbia, Missouri mit<br />
anschließendem Praktikum in Kalifornien.<br />
Im Anschluss folgt ein Volontariat bei der<br />
Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seit April<br />
2010 Bildredakteurin bei ServusTV in Salzburg.<br />
55