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Jung, gebildet, Berufspolitiker

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<strong>Jung</strong>, <strong>gebildet</strong>,<br />

<strong>Berufspolitiker</strong><br />

Eine Reportage von Matthias Wyssuwa und Carolin Burrer


Den Parteien fehlen junge Mitglieder – einerseits.<br />

Andererseits werden jüngere <strong>Berufspolitiker</strong> oft als<br />

Karrieristen oder Opportunisten gescholten.<br />

Vier Porträts junger Menschen zwischen dem<br />

Ska Keller sitzt in einer Tonne. Es ist heiß, ein Samstag von vielen<br />

Wahlkampfsamstagen. Tausende Menschen ziehen mit Einkaufstüten<br />

durch eine Kölner Einkaufsstraße, es riecht nach Schweiß und<br />

Zigarettenqualm, und Ska Keller sitzt in einer grünen Plastiktonne,<br />

ihr Kopf durch ein blaues Tuch gesteckt. Eine junge Frau schreit in<br />

ein Megafon, dass uns allen das Wasser bald bis zum Halse stehe,<br />

so wie den Grünen in der Tonne. Schuld sei der Klimawandel. Keller<br />

lächelt schief. Straßenwahlkampf sei nicht immer dankbar, sagt sie<br />

später. „Da gibt es angenehmere Sachen.“ Aber das Gespräch mit<br />

dem Wähler sei wichtig. Kaum aus der Tonne gekrochen, steht sie<br />

mit Wahlkampfzeitungen in der Hand im<br />

Menschenstrom. Schlank und klein, dunkle<br />

Haare und dunkle Augen. Zwei Fußgänger<br />

gehen an ihr vorbei, drei, fünf, sieben.<br />

Sie hält die Zeitungen weiter in den Strom<br />

hinein. Neun, elf, dann greift eine Hand<br />

zu, ein Mann, ein Lächeln, und schon ist er<br />

wieder weg.<br />

Vierzehn Grüne konnten Anfang Juni von<br />

der Liste ins Europaparlament einziehen,<br />

die Partei hatte gut zwölf Prozent erreicht.<br />

Auf Listenplatz sieben stand Ska Keller.<br />

Seitdem ist sie Mitglied des Europäischen<br />

Parlaments. Sie ist grüne Landesvorsitzende<br />

in Brandenburg, sie ist verheiratet,<br />

sie ist Studentin, sie ist 27 Jahre alt, sie<br />

verdient Geld mit der Politik, sie ist eine<br />

<strong>Berufspolitiker</strong>in.<br />

Ska Keller heißt eigentlich Franziska, nur<br />

mochte sie nicht Franzi genannt werden.<br />

Hobby und dem Beruf Politik.<br />

scripten 14 <strong>Jung</strong>, <strong>gebildet</strong>,<br />

<strong>Berufspolitiker</strong><br />

Ska Keller<br />

Wahlkampf, das heißt für sie: wochenlang<br />

mit dem Rollkoffer in ganz Deutschland<br />

unterwegs, von Ortsverein zu Ortsverein,<br />

von Wahlkampfstand zu Wahlkampfstand.<br />

Tübingen, Eberswalde, Köln. Nach<br />

wenigen Minuten nimmt sie das Megafon,<br />

junge Grüne steigen wieder in die Tonnen.<br />

Sie hält es ungelenk, weit fort von ihrem<br />

Mund. Was sie sagt, versteht man kaum.<br />

Die Menschen ziehen weiter an ihr vorbei.<br />

Sie stockt etwas. Eine weitere Wahlkämpferin<br />

bittet sie, doch lauter zu sprechen, nur<br />

etwas lauter.<br />

Lauter ist für Steffen Bockhahn kein Problem.<br />

Er spielt mit den Worten und mit<br />

der Lautstärke seiner Stimme. Wenn die<br />

Themen ernst werden, brummt er ein<br />

wenig, redet leise. Wenn er seine Konkurrenten<br />

angreift, dann wird er etwas lauter,<br />

manchmal lacht er auch. Er sitzt im Ros -<br />

tocker Rathaus, Podiumsdiskussion zu den<br />

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Kommunalwahlen, neben ihm Spitzenkandidaten anderer Parteien.<br />

Er wird oft lachen an diesem Abend. Viele Stunden zuvor, am frühen<br />

Morgen noch, hat er in seiner Wohnung gesessen, gefrühstückt.<br />

Draußen wollte der Regen nicht aufhören. Bockhahn blätterte die<br />

Regionalzeitung durch, schmunzelte ab und an, rückte seine Brille auf<br />

„Ein gutes Personengedächtnis<br />

ist wichtig, um Erfolg<br />

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<strong>Jung</strong>, <strong>gebildet</strong>,<br />

<strong>Berufspolitiker</strong><br />

scripten 14<br />

Steffen Bockhahn<br />

in der Politik zu haben.“<br />

der Nase zurecht. Modell Porsche. Dann war<br />

der Kaffee alle. Er hat telefoniert, Parteiwerbung<br />

besprochen. Ein Blick auf die Uhr, keine<br />

Zeit mehr. Steffen Bockhahn ist im Wahlkampf,<br />

er ist Spitzenkandidat der Linkspartei,<br />

er ist Direktkandidat für die Bundestagswahl,<br />

und im Herbst will er Landesvorsitzender<br />

seiner Partei in Mecklenburg-Vorpommern<br />

werden.<br />

Kaum hatte der Regen nachgelassen, ist<br />

er über die glitzernd-feuchten Straßen der<br />

Innenstadt gelaufen, hin zum nahen Gewerkschaftshaus.<br />

Ein Gespräch mit den Seniorenvertretern<br />

der Gewerkschaften. Bockhahn<br />

ist 30 Jahre alt, seine Zuhörer könnten seine<br />

Großeltern sein. Sein Wahlkampfthema ist<br />

städtisches Eigentum. Rostock ist verschuldet,<br />

der Bürgermeister will Eigentum verkaufen.<br />

Bockhahn ist dagegen, die Senioren sind<br />

dagegen.<br />

„Da sind wir ganz dicht beieinander“, sagt er.<br />

Ein Stunde später ist auch hier der Kaffee alle.<br />

Bockhahn lächelt und geht. „Manchmal“, sagt<br />

er, „muss ich mir schon anhören, woher ich<br />

wissen will, was los ist, so jung wie ich bin.“


Meistens aber freuten sich zumindest seine<br />

Genossen, dass da noch ein <strong>Jung</strong>er ist. So<br />

viele Mitglieder unter 35 gibt es nicht in der<br />

Linkspartei.<br />

Am nächsten Abend muss er nicht viel<br />

reden, er darf zuhören. Klassiknacht im<br />

Rostocker Zoo, Lokalprominenz, Eintrittsgelder<br />

für einen guten Zweck. Bockhahn ist<br />

gut gelaunt, in der Lokalpresse wird über<br />

ihn und den Vorabend im Rathaus wohlwollend<br />

berichtet. Mit einem Bier steht er am<br />

Eingang zu der Wiese, auf der die Stuhlreihen<br />

stehen, und schüttelt viele Hände. „Ein<br />

gutes Personengedächtnis ist wichtig, um<br />

Erfolg in der Politik zu haben.“ Dann geht<br />

er mit seiner Frau zu seinen Plätzen. Im<br />

vergangenen Jahr noch musste er in der<br />

zweiten Reihe sitzen, diesmal wurde er in<br />

die erste geladen. In der ersten Reihe sitzen<br />

Bürgermeister, Bundestagsabgeordnete,<br />

Landespolitiker. In der ersten Reihe gibt es<br />

Schnittchen.<br />

Als Florian Toncar Schnittchen serviert<br />

werden, ist seine Zeit schon um. Zwei Stunden<br />

hat er sich in dem Konferenzraum in<br />

einem Computerunternehmen in Böblingen<br />

erklären lassen, wie Server gekühlt und<br />

Speicherplatten vergrößert werden. Und<br />

was die Firma über neue Gesetzesvorhaben<br />

denkt. Er bedankt sich für die „interessanten<br />

Einblicke“ und fährt davon. Seit 2005<br />

Ska Keller<br />

ist Toncar Bundestagsabgeordneter für die<br />

FDP. Da hatte er gerade sein Jura-Studium<br />

abgeschlossen. Auch jetzt kandidiert er<br />

wieder, seine Chancen stehen gut. Er ist 29<br />

Jahre alt und sitzt schon recht häufi g in der<br />

ersten Reihe.<br />

Zehn Minuten später steht er in einem Klassenraum,<br />

die Sonne fällt durch die Fenster,<br />

es riecht nach Füßen. Elftklässler haben<br />

Fragen vorbereitet, Toncar erteilt das Wort<br />

mit gestreckter Hand. Ihm wird ein Stuhl<br />

angeboten, doch er steht lieber. „So rede<br />

ich auch im Bundestag.“ Fragen zu Nordkorea,<br />

dann Iran, dann Bildungspolitik. Der<br />

Weg zur Antwort ist lang, führt über Einordnungen<br />

und Abwägungen. Sein Gesicht<br />

zeigt keine Regung, seine Hände zeichnen<br />

Kreise und Linien. Die Klasse ist ruhig.<br />

Schweißperlen laufen Toncar ins Gesicht,<br />

Haarsträhnen kleben an der Stirn. Er trägt<br />

Krawatte, das Sakko bleibt zu. Nach 60<br />

Minuten sind keine Fragen mehr übrig.<br />

Toncar sagt: „Seid nett zu euren Lehrern“<br />

und geht.<br />

Aufgewachsen ist Toncar im Stuttgarter<br />

Speckgürtel, dort, wo er heute für den Bundestag<br />

kandidiert. Die Eltern – der Vater<br />

Schulleiter, die Mutter Ärztin – sind der FDP<br />

nah, aber keine Mitglieder. Toncar trat 1998<br />

in die Partei ein, da ging er in die 13. Klasse.<br />

Klassensprecher sei er schon immer gewe-<br />

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Büro der Grünen in Potsdam<br />

Florian Toncar<br />

sen. „Ich mag es, Gruppen zu leiten und Entscheidungen zu treffen.“<br />

Und Extreme habe er abgelehnt. So sei er zur FDP gekommen. „Am<br />

Ende war das auch eine Bauchentscheidung.“ Er war der einzige<br />

Schüler in seinem Jahrgang, der zu den Liberalen gegangen ist. 1998<br />

war die FDP in der Krise. Händeringend habe sein Kreisverband nach<br />

jungen Leuten gesucht, sagt er. Als die FDP wenige Jahre später den<br />

Aufbruch schaffte und zunehmend junge Mitglieder gewinnen konnte,<br />

war Toncar schon in der Partei angekommen, saß im Kreisvorstand.<br />

1999 hat er den Europawahlkampf mitorganisiert. Pläne zu entwerfen,<br />

um Menschen zu überzeugen – ein großer Vorzug der Parteiarbeit,<br />

sagt er. „Probleme lösen könnte ich sonst auch an der Universität.“<br />

Neben der Arbeit im Kreisvorstand engagierte er sich bei den Julis,<br />

der Jugendorganisation der FDP. Sein Aufstieg war steil. Er wurde<br />

Landesvorsitzender. Geplant habe er das alles nicht, sagt er. Aber<br />

genutzt hat er seine Möglichkeiten. Immer wieder hat er sich wählen<br />

lassen, Stufe um Stufe hinauf, bis hinein in den Bundestag. Er könne<br />

es nicht ertragen, zum Zuschauen verdammt zu sein. „Ich bin jemand,<br />

der privat wie politisch unheimlich gerne eingreift ins Geschehen.“<br />

Und wer eingreifen will, braucht die Macht dazu.<br />

Steffen Bockhahns Eltern wohnen noch in der Wohnung, in der er<br />

aufgewachsen ist. Kleine Zimmer nahe dem Rostocker Stadthafen.<br />

Als er noch jung war, hingen Poster seiner Partei an seinem Kinderzimmerfenster.<br />

Heute liegen Flyer mit seinem Namen auf der Schuhablage.<br />

Die Erziehung seiner Eltern sei für seine politische Prägung<br />

entscheidend gewesen, sagt er. Beide sind Lehrer, beide führten FDJ-<br />

Gruppen, beide waren in der SED und sind heute in der Linkspartei.<br />

Auch Bockhahn war Klassensprecher.<br />

Eingetreten ist er in die PDS mit 16 Jahren, auch sein Aufstieg war<br />

steil, ein politisches Bilderbuchleben. Kreisvorstand, Delegierter auf<br />

Bundesparteitagen, stellvertretender Landesvorsitzender. Er sagt,


„Ich bin jemand, der privat wie<br />

politisch unheimlich gerne<br />

sein Alter habe ihm geholfen. Geplant<br />

haben will er nichts, und doch kenne er<br />

den Vorwurf, ein Karrierist zu sein, sehr<br />

gut. Vor zwei Jahren hat er sein Politikstudium<br />

abgeschlossen. Den Einstieg ins<br />

Berufsleben hat er reibungslos geschafft.<br />

Er ist Mitarbeiter bei Dietmar Bartsch, dem<br />

Bundesgeschäftsführer der Linkspartei,<br />

und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit<br />

seines Landesverbands. Er verdient<br />

sein Geld in der Politik, aber noch nicht mit<br />

der Politik. Der Landesvorsitz könnte das<br />

ändern oder der Einzug in den Bundestag.<br />

„Ich mache nicht Politik, um Geld zu verdienen,<br />

aber ich fi nde es in Ordnung, wenn ich<br />

damit Geld verdiene.“<br />

Katharina Caspary hat sich vorbereitet, an<br />

ihren Anträgen gefeilt, ihre Argumente<br />

sortiert. Es sind nur noch wenige Stunden<br />

bis zur Sitzung des Bezirksvorstands der<br />

<strong>Jung</strong>en Union Nordbaden, und die Hitze<br />

drückt in ihre Wohnung in Tübingen. Neues<br />

Mehrfamilienhaus, viel Glas, die Biografi<br />

e von Helmut Kohl im Bücherregal. Auf<br />

eingreift ins Geschehen.“<br />

dem Tisch liegen die Antragsformulare für<br />

den Abend. Vier Punkte möchte sie in dem<br />

Papier geändert haben, mit dem die <strong>Jung</strong>e<br />

Union in Baden-Württemberg ihre Erwartungen<br />

an die Bundespolitik bündeln will.<br />

Es geht meist um wenige Worte, um Statistiken,<br />

um Apotheken im ländlichen Raum.<br />

Und es geht um ihr wichtigstes Projekt: die<br />

Gesundheitskarte. Deren Einführung solle<br />

die <strong>Jung</strong>e Union fordern.<br />

Doch bis dahin ist der Weg noch weit. Sie<br />

muss ihren Bezirk am Abend überzeugen,<br />

danach geht es zum Landestag. Erst wenn<br />

ihre Vorschläge auch dort angenommen<br />

werden, kommen sie in das Papier mit dem<br />

Namen „Chance 2009“. „Im Kleinen kann<br />

man versuchen, die Partei so zu lenken, wie<br />

man es sich wünscht“, sagt Caspary. Sie ist<br />

keine Wahlkämpferin, sie ist Politikarbeiterin.<br />

Caspary ist 26 Jahre alt. Sie hat zwei Kinder,<br />

ist verheiratet, hat Medizin studiert, arbeitet<br />

in einer Klinik, promoviert. Und sie kann<br />

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Katharina Caspary<br />

fast eine Seite in ihrem Lebenslauf mit den<br />

Ämtern füllen, die sie schon in der Union<br />

innehatte. In Kreis- und Bezirksvorständen,<br />

in Ausschüssen und im Landesvorstand. Je<br />

mehr man sich für die Themen interessiere,<br />

sagt sie, umso mehr wolle man auch vorankommen.<br />

Wenn Freiwillige gesucht wurden,<br />

hat sie sich stets gemeldet. Ihre Mitarbeiterstelle<br />

beim Landesminister für Ernährung<br />

in Baden-Württemberg hat sie erst vor<br />

wenigen Wochen gekündigt. Gerade hat<br />

sie ihr zweites Kind bekommen. 2002 war<br />

Caspary Bundestagskandidatin. Sie scheiterte<br />

damals und sagt heute, sie bedaure<br />

es nicht. „Mir geht es nicht um Mandate“,<br />

sagt sie. „Ich will inhaltlich arbeiten.“ Überhaupt<br />

seien es nicht immer die Besten,<br />

die es nach oben schafften, und sie habe<br />

längst andere Prioritäten: Sie ist Mutter und<br />

Medizinerin. Politik ist ihr Hobby. Für ihren<br />

„Ich will inhaltlich arbeiten.“<br />

Mann aber ist es der Beruf. Seit 2004 sitzt<br />

er für die Union im Europäischen Parlament.<br />

Caspary ist die Erste in dem Restaurant<br />

nahe der Autobahn. Dunkle Farben, dunkles<br />

Holz, Tiergeweihe an den Wänden. Als<br />

sich der Raum füllt, sitzt sie schon ganz<br />

nah beim Vorsitzenden. 27 Männer und<br />

fünf Frauen, Weizenbier und Apfelschorle.<br />

Die Sitzung beginnt mit Personaldebatten,<br />

Auswertung von Treffen und Partys. Dann<br />

kommen die Antragsdiskussionen. Caspary<br />

trägt ruhig ihre Sätze vor.<br />

Beim ersten Antrag hakt es noch, sie muss<br />

eine Formulierung streichen. Es ist heiß.<br />

Alle Fenster sind offen, doch die Luft will<br />

sich nicht bewegen. Antrag zwei wird<br />

ohne Diskussion genehmigt, Antrag drei<br />

auch. Der Vorsitzende fächelt sich mit<br />

Antragspapieren Luft zu. Dann kommt die<br />

Gesundheitskarte. Casparys Augen suchen<br />

jene Mitglieder, von denen sie Widerspruch<br />

erwartet. Keine Reaktion, fast alle<br />

heben die Hand, der Antrag ist durch, und<br />

Caspary lächelt so breit wie noch nie an<br />

diesem Abend. „Die Hitze hat mir geholfen“,<br />

sagt sie später.<br />

Als Bockhahn die Änderungsanträge vorliest,<br />

steht er auf der Bühne in der Berliner<br />

Max-Schmeling-Halle. Wahlparteitag<br />

der Linkspartei, Bockhahn ist Sprecher


der Antragskommission. Eben noch hat<br />

Gregor Gysi zu den Delegierten gesprochen,<br />

mal lauter, mal leiser. Jetzt brechen<br />

einige Zuhörer auf, gehen nach Hause oder<br />

auf die Toilette. „Nach impulsivem Gerede“,<br />

beginnt Bockhahn, „kommt nun die trockene<br />

Antragsarbeit.“ Als Stunden später<br />

die Halle leer ist, sitzt er auf einer Tribüne<br />

und sagt, dass die Arbeit in der Antragskommission<br />

nicht gerade schädlich sei für<br />

Ansehen und Beliebtheit in der Partei. Er<br />

habe die Aufgabe übernommen, weil er<br />

gebeten wurde und weil er es könne. Weil<br />

er strukturiert arbeite und denke. Gelernt<br />

habe er das in vielen Jahren der Parteiarbeit.<br />

Bei ihm verhalte es sich so, sagt er,<br />

wie Luhmann es geschrieben habe: Er habe<br />

seine Fähigkeiten dem System angepasst,<br />

in dem er sich bewegt. Dabei vertrete man<br />

natürlich nicht immer, wozu man auch hundertprozentig<br />

stehe. „Hauptsache, ich kann<br />

danach noch in den Spiegel sehen.“<br />

Jahre der Parteiarbeit seien eine Herausforderung<br />

an die Persönlichkeit, sagt Toncar.<br />

„Da treffen menschliche Zu- und Abneigung<br />

aufeinander, und alles ist verbunden<br />

mit Sachfragen, die ja auch Konsequenzen<br />

haben.“ Er sitzt im Café auf dem Dach des<br />

Reichstags. Im Jakob-Kaiser-Haus gegenüber<br />

hat er sein Abgeordnetenbüro, in dem<br />

seine Mitarbeiter arbeiten. Er siezt sie, da<br />

sich sonst Berufl iches mit Privatem vermische.<br />

Wenn Siege und Niederlagen öffentlich<br />

sind, sagt er, kann das sehr verletzend<br />

sein. Viele empfänden es als Gesichtsverlust,<br />

wenn sie aus ihren Positionen abgewählt<br />

würden. Das könne einen Menschen<br />

verändern.<br />

Er sei sich dessen immer bewusst gewesen,<br />

sagt er, dass vielleicht irgendwann<br />

die Stimmen fehlen, die ihn wieder in den<br />

Bundestag bringen – in der Partei oder bei<br />

Wahlen.<br />

An seinem Verhalten bei Abstimmungen<br />

ändere das nichts. Als im Bundestag vor<br />

einigen Wochen über eine neue Schuldenbremse<br />

für Bund und Länder abgestimmt<br />

wurde, sollte seine Fraktion sich enthalten.<br />

Es war der Wunsch des Vorsitzenden<br />

Westerwelle. Das habe er als junger Abge-<br />

Katharina und Daniel Caspary<br />

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„Ich will nicht davon abhängig<br />

Steffen Bockhahn<br />

werden, Mandate zu gewinnen.“<br />

ordneter nicht verantworten können. Er hat mit „Ja“ gestimmt, als<br />

Einziger. Er sagt, das sei mutig gewesen.<br />

„Ich will nicht davon abhängig werden, Mandate zu gewinnen“, sagt<br />

Ska Keller. Und sie sagt, sie wolle nicht ihr ganzes Leben im Europaparlament<br />

sitzen. Ihr Studium der Turkologie will sie schnell abschließen.<br />

Wäre sie nicht gewählt worden, hätte sie wohl promoviert.<br />

Werde bloß nicht wie Niels Annen, habe man ihr gesagt. Annen sitzt<br />

für die SPD im Bundestag, hat sein Studium nach vielen Jahren abgebrochen<br />

und dann seinen Wahlkreis verloren. Als sie die Nachricht<br />

über das Europawahlergebnis und ihren Karrieresprung erreicht hatte,<br />

telefonierte sie im Foyer der Heinrich-Böll-Stiftung mit Jan Philipp<br />

Albrecht, ihrem Kollegen von der Grünen Jugend. Auch er hatte es<br />

ins Europäische Parlament geschafft, er ist 26 Jahre alt. Sie gratulierte<br />

ihm und gab dann das Handy weiter an einen jungen Mann<br />

neben ihr. „Du hast einen Job, Mann, und nicht den schlechtesten,<br />

den besten“, hat der ins Telefon geschrien. „Rock ‚n‘ Roll!“<br />

Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH<br />

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gestattet sind insbesondere jegliche Weitergabe an Dritte, Vervielfältigung<br />

sowie mechanische und oder elektronische Speicherung. Für<br />

die Richtigkeit und Vollständigkeit des Inhalts der Beiträge besteht<br />

keine Haftung und Gewährleistung.<br />

© Text: Matthias Wyssuwa Fotos: Carolin Burrer


Biografi e<br />

Matthias Wyssuwa wurde im Sommer 1982<br />

in Neubrandenburg in Mecklenburg geboren.<br />

Studium der Politikwissenschaft und<br />

Soziologie in Rostock, Lund und Konstanz.<br />

Volontariat bei der Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung. Eintritt in die politische Nachrichtenredaktion<br />

der Zeitung am 1. April 2010.<br />

Florian Toncar in der Schule<br />

Carolin Burrer, geboren am 6. Juli 1978 in<br />

Augsburg, aufgewachsen in Oberschwaben.<br />

Nach dem Abitur und zahlreichen<br />

Auslandsreisen Beginn des Kommunikationsdesign-Studium<br />

in Hamburg.<br />

Ein Ful brightstipendium ermöglicht ihr<br />

2005/2006 einen Auslandsaufenthalt an<br />

der University of Columbia, Missouri mit<br />

anschließendem Praktikum in Kalifornien.<br />

Im Anschluss folgt ein Volontariat bei der<br />

Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seit April<br />

2010 Bildredakteurin bei ServusTV in Salzburg.<br />

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