Anthony Cragg dinge im kopf / Things on the mind skulpturen ...

AkAdemos
<strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong>
<strong>dinge</strong> <strong>im</strong> <strong>kopf</strong> /
<strong>Things</strong> on the mind
skulpturen, Zeichnungen, Grafiken /
sculptures, drawings, Graphic Art
mit Beiträgen von / with contributions by
Walter smerling, Thomas A. Lange, siegfried Gohr,
Jon Wood und / and <strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong>
eine Ausstellung der / An exhibition of the
stiftung für kunst und kultur e.V. Bonn
Wienand

Inhalt / Contents
s. 7 / p. 12
Full of Life – <strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong> <strong>im</strong> / in the
mkm museum küppersmühle
Walter smerling
s. 19 / p. 21
<strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong> <strong>im</strong> Fokus des kultur engagements der / in the
spotlight of the Cultural Commitment of NATIoNAL-BANk
Thomas A. Lange
s. 24 / p. 36
<strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong>, die Anderen und er selbst / <strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong>,
the others and H<strong>im</strong>self
siegfried Gohr
s. 48 / p. 74
das innere spiel: Zu Titeln und Titelgebung
bei Tony <strong>Cragg</strong>s Plastiken / The Internal Game: on Titles and
Titling in Tony <strong>Cragg</strong>’s sculpture
Jon Wood
s. 93 / p. 107
<strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong> <strong>im</strong> Gespräch mit / in Conversation
with Walter smerling
s. 120 / p. 125
Figure out, Figure In
<strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong>
s. / p. 130
Verzeichnis der abgebildeten Werke /
List of illustrated works
s. / p. 134
Biografie / Ausstellungen (Auswahl) /
Biography / exhibitions (selection)
5 s t a c k , 1975

U n t i t l e d , 1999
<strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong> in the spotlight of the Cultural Commitment of NATIoNAL-BANk
Firstly, in economically difficult t<strong>im</strong>es there is
a danger that support for the visual arts outside
the major museums will dry up. In the
context of a cost-benefit analysis the decision
is often made either to make possible a major
exhibition, or else to withdraw from any cultural
commitment. secondly, supporting the
mkm is in accord with the aspiration towards
real sustainability, for we have enjoyed a
long-standing partnership with the museum
over many years, in the context of which we
have already made possible exhibitions of
works by Günther Uecker, stephan Balkenhol,
Jörg Immendorff and Gerhard Richter.
Thirdly, we can also defend our support for
this project because in 2011 we are celebrating
the 90 th anniversary of the foundation
both of our bank and also of the duisburger
Bankverein AG, likewise established in 1921,
which we took over in 1942.
Founded in Berlin in 1921 by the Christliche
Gewerkschaftsbewegung [Christian Trade
Union movement], we have been based in
essen since 1922. As one of the leading independent
private regional banks nationwide
which caters to demanding private and corporate
customers, we face up to our business
responsibilities out of conviction. We feel
a bond between us and the state of North
Rhine-Westphalia and its people. our success
is inseparably bound up with the healthy
development of the economic, social and cultural
environment. Through our social commitment
in and for North Rhine-Westphalia,
we see ourselves as part of a whole whose
elements are interlocking and influence each
other in numerous ways.
And so we should like to wish you the necessary
peace and calm on your visit to the exhibition,
as well as a wide variety of insights
into, and perspectives onto, the <strong>im</strong>pressive
œuvre of <strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong>.
Thomas A. Lange
spokesman of the Board
NATIoNAL-BANk
22 23 P a c i f i c , 1998

A f r i c a n C u l t u r e m y t h , 1984
<strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong>,
die Anderen und er selbst
siegfried Gohr
die Vielfalt des Werkes von <strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong>
und die Frage nach dem, was alles zusammenhält,
ist öfter diskutiert worden. es war die
Rede von <strong>Cragg</strong>s materialismus, was sowohl
eine Haltung als auch die Grundlage seiner
Bildhauerei meinen kann. Außerdem wurde
manchmal seine Nähe zur Wissenschaft, ja
zur Philosophie festgestellt, was nicht zuletzt
durch die erhellenden Texte nahegelegt
wurde, die der künstler selbst verfasst hat.
Unabhängig davon, ob der Interpret die skulpturen
gleichsam aus einem Urschlamm hervorgehen
sieht oder als exper<strong>im</strong>ente für eine
zu erforschende Zukunft, also als regressiv
oder progressiv, bleibt als konstanter eindruck
durch alle Werkphasen hindurch derjenige
einer emergenz von energie. Insofern
bildet das Werk von <strong>Cragg</strong> einen Gegensatz
zu vielen konzepten von skulptur, die seit der
Renaissance entwickelt worden sind.
Am wenigsten entspricht seine Arbeit der Tradition
der »statue«, auch wenn manche seiner
Arbeiten auf den ersten Blick ihr zu entsprechen
scheinen. denn die traditionelle statue
hat in der Regel eine Hauptschauseite, auch
wenn alle details ausgearbeitet sind. <strong>Cragg</strong>s
skulpturen besitzen stattdessen eine Tendenz
zur Allansichtigkeit. diese errungenschaft der
modernen skulptur wurde in Auguste Rodins
Werk (Großer Iris<strong>kopf</strong>, 1891. Abb. 1, s. 26)
vorbereitet und von Constantin Brancusi (Endlose
Säule, 1937. Abb. 2, s. 27) wohl zum ersten
mal konsequent realisiert. einen indirekten
Hinweis auf diese neue eigenschaft von
skulptur bildet die Tatsache, dass die Werke
gerade dieser beiden künstler einige Fotografen
zu Aufnahmen inspiriert haben, die
vielfältige d<strong>im</strong>ensionen der entsprechenden
Werke <strong>im</strong> Wortsinn ausleuchten. Als schließlich
unter dem einfluss von Pablo Picasso
(Ohne Titel, 1914. Abb. 3, s. 29) und marcel
duchamp (Flaschentrockner, 1914. Abb. 4,
s. 40) die objektkunst nach 1910 als eine neue
möglichkeit dreid<strong>im</strong>ensionaler Arbeiten entstand,
hatte sich der Betrachterstandpunkt
als sicht von vorne ganz aufgelöst.
R i o t , 1987
24 25 <strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong>, die Anderen und er selbst
eine andere eigenschaft des konzeptes »statue«, nämlich ihr Verweis auf die
d<strong>im</strong>ension der Zeit durch Gesten, Haltungen, Wahl des Augenblicks einer Handlung,
Ausdehnung über die sockelfläche hinaus, konnte <strong>Cragg</strong> nicht mehr in
Betracht ziehen, da diese konzeption an figürliche darstellungen <strong>im</strong> engeren
sinne gebunden bleibt. dies schließt jedoch nicht aus, dass »Zeit« auf eine andere
als die an Narration gebundene Weise in seinen Werken Gestalt findet.
seine entsprechenden Lösungen entstanden stattdessen aus der Visualisierung
von energie, die <strong>im</strong> material entsteht. Hierfür gibt es historische Vorstufen, die
nicht als einfluss <strong>im</strong> sinne von Abhängigkeit zu betrachten sind, sondern als
momente der entwicklung der skulptur, die deren Feld verändert haben. Zwei
Namen sind wichtig: medardo Rosso (Der Buchmacher, 1894. Abb. 5, s. 43)
und Umberto Boccioni. Rosso wird häufig als Bildhauer dem Impressionismus

das innere spiel: Zu Titeln
und Titelgebung
bei Tony <strong>Cragg</strong>s Plastiken
Jon Wood
U n t i t l e d , 1995 U n t i t l e d , 1995
»Verstrickt in ein komplexes Verhältnis mit der oberfläche oder dem Volumen,
auf die er sich bezieht, kann der Titel eines Gemäldes oder einer skulptur als
Name des jeweiligen objektes angesehen werden. er ist nachweislich in das
Bedeutungsvermögen des Werkes einbezogen und liefert in seiner deskriptiven
Formulierung einen Leitbegriff für die kontextgeschichte.« 1
Wer sich für die Historie von Werktiteln und ihre wechselvolle Rolle in der Bild-
und Textgeschichte der modernen kunst interessiert, der findet in John Welchmans
faszinierendem Band Invisible Colors: A Visual History of Titles (1997) ein
wertvolles erstes Referenzwerk. Auch wenn es dort um Betitelungen geht, werden
ebenfalls die allgemeinen Beziehungen zwischen kunst und sprache in der
moderne sowie die rivalisierenden Impulse des Betrachtens und Lesens behandelt.
dabei liegt der schwerpunkt von Welchmans erörterungen auf der malerei.
die Plastik findet vor allem in Bezug auf die Ready-mades von marcel duchamp
und das Werk von Alberto Giacometti, david smith und Tony Caro erwähnung.
doch geschieht dies auf eine Art und Weise, die indirekt die subtilen Unterschiede
zwischen Titelfunktionen in malerei und skulptur und den Wandel in ihren
jeweiligen semantischen kriterien und kontexten deutlich werden lässt.
In den 1960er und 1970er Jahren tritt dieser Unterschied am dramatischsten hervor,
als der eigens »für den Titel reservierte (Nicht)-ort« in der formalistischen
kritik verkompliziert und hinterfragt wird. 2 Als die option »ohne Titel« für künstler
das innere spiel: Zu Titeln und Titelgebung bei Tony <strong>Cragg</strong>s Plastiken
48 49 s c r i b e , 2009

Loyalität zur und Befragung der natürlichen Welt für <strong>Cragg</strong> stets <strong>im</strong> Vordergrund
stand. seine Aussage zu den »Forminifera«-Arbeiten von 2004 ruft uns dies in
erinnerung: »später wurden diese Arbeiten zu einem Werk weiterentwickelt, das
ich ›Forminifera‹ nannte, die Bezeichnung für ein mikroskopisch kleines fossiles
skelett. Von diesen Formen existieren milliarden von unterschiedlichen Varianten.
keine zwei gleichen einander, was mich von Anfang an in staunen versetzte.
Unter diesen Foraminiferen finden sich meines Wissens die allerersten organismen
mit mineralisiertem Gewebe, wobei kalzium karbonat vom Gewebe auf-
m c C o r m a c k , 2007
U n t i t l e d , 1993
60 61 das innere spiel: Zu Titeln und Titelgebung bei Tony <strong>Cragg</strong>s Plastiken
genommen und in knochen, muschelschale
oder anderes umgewandelt wird, um so
eine struktur auszubilden … Bei meiner Arbeit
geht es mir nicht um eine Nachahmung
der Natur oder evolution, <strong>im</strong> mittelpunkt
stand vielmehr schon <strong>im</strong>mer das enge Festhalten
an den Grundlagen der strukturfindung.«
7
die »Grundlagen der strukturfindung« führten
zur einführung von oberbegriffen für ganze
Werkgruppen, etwa bei den kleineren serien
Atmos (s. 60 / 61), Fruit Bottles, Flotsam,
Ferryman, Wirbelsäule und Wooden Crystal,
aber auch bei größeren und jüngeren Werkkomplexen
wie Early Forms (s. 55, 58 / 59),
Columns, Rational Beings und Relatives.
Wenn <strong>Cragg</strong>s Titel analog zur Formensprache
seiner skulpturen vom biologischen und
evolutionären denken geprägt sind, dann
ergeben sich innerhalb dieses Ansatzes wiederum
enge Beziehungen zwischen sprachlichen
und plastischen Formen. so wie er
die entwicklung skulpturaler Formen in diversen
kulturen verfolgt, erkennt er auch kulturübergreifende
etymologische Prozesse in der
sprache. damit werden Worte skulptural und
ihrerseits zum material; eine Vorstellung,
die <strong>Cragg</strong>s Titelfindung und seinen Gebrauch
von Titeln charakterisiert. Was ihn als Bildhauer
zur Beobachtung solcher Übereinst<strong>im</strong>mungen
befähigt, ist seine beeindruckende
mehrsprachigkeit, denn er beherrscht neben
englisch, deutsch und Französisch auch
Italienisch, spanisch und schwedisch. Regelmäßig
verwendet er nicht englische und
dann vor allem deutsche Titel wie etwa »die
Predigt«, »menschenmenge«, »eichelhäher«,
»Hildener kreuz«, »eine Wucht in Tüten«,
»Wirbelsäule« und »Unschärferelation« (s. 39).
da er seit 1977 in deutschland lebt, ist er
mit der deutschen sprachkunst gut vertraut,
was sein essay zu »Wirbelsäule« noch einmal
deutlich macht. 8 Auch die klassischen Bildungssprachen
spielen eine Rolle, obwohl
<strong>Cragg</strong> in der schule weder Griechisch noch
Latein gelernt hat. 1991 benutzte er mit »Terris
Novalis« einen seltenen lateinischen Titel,
um so auf eine technische errungenschaft
aufmerksam zu machen, die <strong>im</strong> 16. Jahrhundert
als messinstrument diente. 9
derlei Assoziationen sensibilisieren auch das
Bewusstsein für die körperlichkeit von sprache
sowie für ihre Tiefe und ihren Umfang.
Nachdem <strong>Cragg</strong> wiederholt die »Physikalität
von sprache« erwähnt hatte, führte er dies
2004 weiter aus, als er über seine <strong>im</strong>aginative
Auseinandersetzung mit etymologie und seine
Freude an mehr sprachigen Wortassoziationen

o u t s p a n , 2008
62 63 U n t i t l e d , 2010

Bronzeguss gehört zur frühen Early Formserie
des künstlers. statt nun den Titel dieser
spezifischen Werkgruppe zu übernehmen, hat
er sich für einen eigentitel entschieden, und
zwar interessanterweise für eine Form des Pa-
lindroms. eine »sprechende Geste« also, die
den Betrachter dazu einlädt, die schlingenbildung
und kreisrhythmen des Titels »kolbenblock«
über die Zunge rollen zu lassen, während
er gleichzeitig die schlingenbildung und
diagonale Bewegung der gedehnten, lippenartigen
Öffnung der Bronze skulptur betrachtet.
Hier ist die sprache des Titels gewissermaßen
ein gleichwertiges Verhältnis zur Formensprache
der Plastik eingegangen, indem
sie mit oberfläche und struktur korrespondiert,
und beide warten darauf, von einem
aufmerksamen und an<strong>im</strong>ierten Publikum in
der Zusammenschau aktiviert zu werden.
das »innere spiel«, von dem <strong>Cragg</strong> sprach,
ist hier vom künstler auf den Betrachter übergegangen,
der die Verbindung aus Titel und
skulptur idealerweise be<strong>im</strong> Lesen und Betrachten
durch den <strong>kopf</strong> kreisen lässt. Auf
diese Weise sollen skulptur und Titel gemeinsam
eine gesteigerte phänomenologische
Reaktion be<strong>im</strong> Zuschauer auslösen.
»kolbenblock« demonstriert, dass es bei
<strong>Cragg</strong>s Titeln gleichermaßen um struktur wie
um oberfläche geht. sie folgen auch dem
konzept der Textentsprechungen, die die einbildungskraft
des Betrachters anregen und
kanalisieren, ihn von der banalen Lesefähigkeit
zum erkennen von plastischen Qualitäten
und zum Würdigen von Formen und Bedeutungen
hinführen sollen. Anders ausgedrückt,
der künstler will, dass sein Publikum zu begreifen
sucht, dass es seine skulpturen und
die damit verbundenen Ideen erfasst und
sich mit ihnen befasst. Hier hat man es mit
einer kraftvollen metapher der Hand zu tun,
einer metapher, die sich <strong>im</strong> gesamten plastischen
Werk von <strong>Cragg</strong> und seinen Titelgebungen
wiederfindet. sie zeigt sich in seinen
Secre tions-Arbeiten und ihren belebten oberflächen
aus Hunderten handgedrechselten
Würfeln ebenso wie in der komplexen textuellen
Pa tina seiner Prägeobjekte, für die Formulation
mit seinen unzähligen Textelementen
ein gutes Beispiel ist. doch vor allem zeigt sie
sich in den skulpturen, die mit Haken und
Griffen versehen sind, mit Vor richtungen also,
die ähnlich wie Titel einen besseren Ansatz
zum Werk ermöglichen.
Bei Unschärferelation (s. 39) sind Holzgriffe
und Holzknäufe, wie man sie von kleinen
Türen, schränken und kommoden kennt,
auf sämt liche oberflächen von Tisch, stuhl,
Hammer, stock und kiste aufgeschraubt.
das innere spiel: Zu Titeln und Titelgebung bei Tony <strong>Cragg</strong>s Plastiken
70 71 L a r g e s t a n d i n g F i g u r e , 2008

I can’t pursue every option, so I follow just one
possibility, carry it through, and at the end
of a further chain of decisions, finally there’s
a result. Afterwards I start to consider what
would have happened if at this or that crossroads
I had taken a different direction. somet<strong>im</strong>es
it’s not at all clear to me what direction
the work would then have taken. These de cisions
are often unconscious, and just run on
their own for a few days. Then I think: »Good
God, <strong>Anthony</strong>, you’re a clown. If you had
done such and such at this juncture, something
quite different would have emerged.«
And then I just have to try everything out to
see how the result would have differed.
That’s actually a task you s<strong>im</strong>ply can’t fulfil.
WS: What happens before you start working
on a sculpture? Do you have a drawing?
What <strong>im</strong>portance do drawings have for you?
AC: When I’m drawing I experience an incredible
freedom. Not all drawings have to
lead to an end product. Just put pencil to paper
and the journey can lead anywhere. And
with relative ease compared with making a
sculpture – that really isn’t easy. For sculpture
you need quite a bit of infrastructure, a room,
tools, material and the necessary energy.
When you’re drawing you can change themes
and emotions from one second to the next.
It’s a preparatory phase.
The actual work on the sculpture starts for me
by looking at the material. It is <strong>im</strong>portant to
me that my work develops from a whole variety
of decisions and not just from three or four
schematic decisions. I think one must always
keep open the option of continual alteration
and variation during the course of the work.
WS: So a drawing is not the precondition
for a sculpture? You could also make sculptures
without drawings?
AC: The precondition for the sculpture is unambiguously
the sculpture that preceded it.
The drawing is certainly <strong>im</strong>portant for me, but
it’s an activity woven into the total process.
In the phase where I’m at now, my thoughts
are somet<strong>im</strong>es too complicated for me. And I
only get to understand them by drawing quite
a lot. I <strong>im</strong>agine particular sculptures, particular
shapes, and after a few mental steps they
become difficult to follow. When that happens,
the drawing is the only hope. This has
been much more the case in recent years
than it used to be. The necessity of the drawing
for the process of my sculptural work has
definitely increased.
WS: You’ve been working as an artist,
a sculptor, for 40 years now. How have your
role and position changed over the years?
<strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong> in Conversation with Walter smerling
m e a n d e r, 1990
110 111
P a s s e r s - b y , 1998
Your attitude to art and your aspirations may not have changed, but today
your œuvre has to be judged differently from 1970. Can we talk about a <strong>Cragg</strong>
tradition, or is it still like it was on the first day, purely exper<strong>im</strong>ental, and tomorrow
may be quite different?
AC: There are always two stories to tell, a personal one and an art-historical
one. When I started as a student, I needed material and looked for it everywhere.
during this search, though, I also found it exciting to see where the l<strong>im</strong>its
of the material lay and where I could still discover something new. Art-historically,
of course, it’s a fact that the path of these new materials had already been trodden
by duchamp and many other art movements. I didn’t register that in detail,
but I picked it up in the cultural atmosphere. Later, in the 1970s and 1980s, I did
a lot of installations. For my first exhibition too I was continually without material,
but then I found the material and themes so that I could work in the context
on the basis of installations. After a few years I ceased to find that satisfactory.
Too often I stood there with an object or some material in my hands and needed
more t<strong>im</strong>e to do something with it, to find a form for it. That was already the case
in 1981/82, a t<strong>im</strong>e when I was doing very many exhibitions with installations,
and in consequence was doing a lot of travelling, which was very nice. even so
I increasingly felt the need to go back to my studio, to learn new techniques, and
to develop new, autonomous forms with the material. That was for me not only
a major change, but also a necessary step. That too is a personal story as well as
an art-historical one. For already in the late 1970s and early 80s it was clear

Figure out,
Figure In
<strong>Anthony</strong> <strong>Cragg</strong>
ein paar Bücherstapel, einige schachteln und eine Packung Batterien, <strong>kopf</strong>schmerztabletten,
Farbtuben, Cds, Füller und stifte, dIN-A4-seiten mit viel
zu viel Text, Visitenkarten, Zeichenpapier, Fotografien, mehrere mappen, kleingeld,
schlüssel an einem Ring, noch mehr schlüssel, eine Tasse mit Untertasse,
ein Wein- und ein Wasserglas, zwei Flaschen, jede menge kabel für elektrogeräte,
eine kamera, Telefon, ein iPod, mein Computermonitor und die Tastatur,
die ich benutze, <strong>kopf</strong>hörer, eine Leuchte, ein metallbehälter, eine große schraube
mit mutter, ein Fernglas, ein Vergrößerungsglas, mehrere seltsame knöpfe,
meine Uhr und noch viel, viel mehr, die ganze Unordnung auf der glatten Holzoberfläche
meines schreibtischs. Alles in allem eine Ansammlung von Quadraten,
Rechtecken, kreisen, ebenen und Geraden, die gemeinsam Würfel-,
Quader-, Zylinder- und Rohrformen bilden.
darunter ein Gegenstand aus milliarden Zellulosemolekülen in langen unregelmäßigen
Fasern, die zu einem Vlies gepresst, gewässert, mit Festigungsmitteln
und Weißmachern behandelt und dann als Bogen zum Trocknen ausgerollt
werden. Unglaublich feste, flache, sechseckige Plättchen aus kohlenstoffatomen,
Abrieb von einer Bleistiftspitze, der sich <strong>im</strong> dickicht der Holzfasern verfangen
hat. eine Zeichnung.
Wir finden Wege für die Beschreibung von materialstrukturen und -stoffen,
weil sie allesamt auf einer gewissen ebene geometrisch oder ganz allgemein
mathematisch beschreibbar sind – für kristalle, Fasern und Nanostrukturen gilt
das ebenso wie für komplexe organische moleküle, Atome, ihre entsprechenden
energieformen und selbst die menschliche Gestalt. dies ist natürlich nur der
Beginn; um die komplexitäten von Biochemie, Relativitätstheorie, stringtheorie
und m-Theorie greifbar zu machen, müssen sie von jemandem (nicht von mir
übrigens) in hoch komplizierten mathematischen Ausdrücken beschrieben werden.
Hier stellt sich naturgemäß die Frage, ob die von uns benutzte mathematik
universelle eigenschaften der Realität erfasst oder bloß den kriterien der
menschlichen Wahrnehmung und Intelligenz entspricht. etwa in der Weise, wie
wir die Welt innerhalb eines gewissen Farbenspektrums sehen, das faktisch
jedoch sehr begrenzt ist, wenn man die große Bandbreite an energiefrequenzen
– und damit potenziellen Farben – in der Wirklichkeit ringsum bedenkt.
Ganz gleich wie die Antwort auf diese Frage lautet: mathematik und der rationale
denkprozess gehören heute zu den wichtigsten Instrumenten bei unserer
suche nach einsicht in die uns umgebende Welt.
Figure out, Figure In 120 121 m a n i p u l a t i o n s , 2007