Die Bedrohung durch physische Gewalt

Die Bedrohung durch physische Gewalt Die Bedrohung durch physische Gewalt

18.08.2012 Aufrufe

132 Kapitel 10 daß, wenn es dem Gruppenleiter gelingt, weiterhin davon auszugehen, daß der Patient nur Phantasien vom Zerstückeln hat, es nicht in die Tat umgesetzt werden würde. Ein übereilter Versuch die Patientin entwaffnen zu wollen, könnte die Gewalt sehr real werden lassen. Eine der Aufgaben des Therapeuten ist es, die Gruppenmitglieder davor zu beschützen, sich selbst oder andere zu verletzen. Gedanken werden dem Therapeuten möglicherweise durch den Kopf schießen. Wie verläßlich sind diese Gedanken? Unerwartete Gewaltausbrüche führen in der Regel nicht zu kühlem, geordnetem Denken. Im ersten Augenblick der Bedrohung wird der Therapeut einen Impuls zum Reagieren verspüren. Ein großer Adrenalinstoß wird bei dem Therapeuten zweifellos Bauchschmerzen, zitternde Hände, rasenden Puls und schwache Knie hervorrufen. Der Therapeut wird eine starke Neigung verspüren, zu kämpfen oder zu fliehen. Das könnte sich in dem starken Wunsch manifestieren, entweder den Fliehenden zu folgen oder die Herausforderung anzunehmen und dem Bösewicht gleichermaßen zu begegnen. Nur indem der Therapeut diesen Impulsen widersteht, kann er hoffen, wieder Zugang zu seiner therapeutischen Haltung zu finden und so zu einer reflektierteren und kreativeren Antwort zu kommen. Wird dafür im Eifer des Gefechts jedoch genügend Zeit bleiben? Wenn der Therapeut in der Vergangenheit bereits Erfahrung mit Impulsdurchbrüchen gemacht und diese verarbeitet hat, dann mag die Zeit ausreichen. Das erwünschte Ergebnis ist umso wahrscheinlicher, wenn der Therapeut in der Lage ist zu verdeutlichen, daß er seine eigene Wut und Angst unter Kontrolle hat und daß er wirklich einen Dialog wünscht. Der Therapeut muß versuchen, sowohl in ihm selbst als auch im Patienten eine Verzögerung zwischen dem Impuls und der darausfolgenden Aktion zu bewirken. Somit gewinnt er Zeit zum Nachdenken. Üblicherweise ist es in solchen Situationen besser, zweimal zu überlegen anstatt dem ersten, von Impulsen durchsetzten Gedanken zu folgen. Sollte es sich als unmöglich erweisen, eine solche Verzögerung zu bewirken, dann ist die Schlacht verloren und der therapeutische Rahmen zerstört. Im zweiten Teil dieses Kapitels wird klar, daß einige der Therapeuten selbst ins Agieren geraten, um diesem speziel-

Die Bedrohung durch physische Gewalt 133 len Ungleichgewicht der Patientin zu begegnen. Ein erster wohlüberlegter Gedanke ist: „Wie kann ich die Gruppe in Sicherheit zusammenhalten?“ Der Therapeut muß die Situation entschärfen, ohne die Gelegenheit zu verpassen diese therapeutisch zu nutzen, da das Ausagieren eine dramatische Form der Kommunikation ist und oft versteckte Themen ausdrückt, die für lange Zeit unter Kontrolle gehalten wurden. Eine Methode, das Agieren zu entschärfen, ist die, den Konflikt oder die Phantasie zuvor im richtigen Augenblick zu deuten, die am wahrscheinlichsten ausagiert wird. Das richtige Timing ist entscheidend für den Erfolg einer Intervention, die verhindert, daß destruktives Agieren stattfindet. Als Präventivmaßnahme ist es ebenso von beträchtlicher Bedeutung, daß man in engem Kontakt mit den inneren Prozessen eines Borderline-Patienten steht und daran arbeitet, eine gegenseitig vereinbarte Realität zu erhalten, um eine extreme Übertragungsverzerrung zu vermeiden. Diese Präventivmaßnahmen können innerhalb eines sorgfältig erhaltenen therapeutischen Bündnisses einen deutlichen Wandel erleichtern. Wenn das nicht möglich oder noch nicht erreicht ist, muß sich der Therapeut für den besten Weg entscheiden, mit dem Agieren umzugehen, wenn es auftritt. Der Therapeut muß sich schließlich fragen, was die Bedeutung dieses Verhaltens ist. Wie schon Freud ursprünglich feststellte, müssen die, die ihre Vergangenheit nicht erinnern und verstehen, diese blind wiederholen. Wenn Patienten agieren ist es wichtig, sich aufmerksam der Botschaft dieses Verhaltens zu widmen, so daß die Psychopathologie deutlich wird und Ansätze zum Wandel der Agierenden gefunden werden können – durch das Verstehen der Assoziationen zur Vergangenheit, die sich zusammen mit dem impulsiven Agieren entfalten. Freilich muß man sich im Klaren über die Ziele und die Reife des Patienten sein und das was aufgedeckt wurde, akzeptieren und nutzen. Es wurde diskutiert, daß Agieren ein irrationales Verhalten ist, welches oft destruktiv ist und, wenn nicht analysiert, verstanden und verarbeitet bevor und nachdem es aufgetreten ist, einen sehr kleinen therapeutischen Effekt hat. Der Therapeut aus der o. g. Situation muß den verborgenen geistigen Kontext ergründen, der die Patientin schließlich motivierte, eine Rasierklinge zu präsentieren und mit Gewalt zu drohen. Ebenso wichtig ist das Verständnis der symbolischen

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daß, wenn es dem Gruppenleiter gelingt, weiterhin davon auszugehen,<br />

daß der Patient nur Phantasien vom Zerstückeln hat, es<br />

nicht in die Tat umgesetzt werden würde. Ein übereilter Versuch<br />

die Patientin entwaffnen zu wollen, könnte die <strong>Gewalt</strong> sehr real<br />

werden lassen.<br />

Eine der Aufgaben des Therapeuten ist es, die Gruppenmitglieder<br />

davor zu beschützen, sich selbst oder andere zu verletzen.<br />

Gedanken werden dem Therapeuten möglicherweise<br />

<strong>durch</strong> den Kopf schießen. Wie verläßlich sind diese Gedanken?<br />

Unerwartete <strong>Gewalt</strong>ausbrüche führen in der Regel nicht zu<br />

kühlem, geordnetem Denken. Im ersten Augenblick der <strong>Bedrohung</strong><br />

wird der Therapeut einen Impuls zum Reagieren verspüren.<br />

Ein großer Adrenalinstoß wird bei dem Therapeuten zweifellos<br />

Bauchschmerzen, zitternde Hände, rasenden Puls und schwache<br />

Knie hervorrufen. Der Therapeut wird eine starke Neigung<br />

verspüren, zu kämpfen oder zu fliehen. Das könnte sich in dem<br />

starken Wunsch manifestieren, entweder den Fliehenden zu folgen<br />

oder die Herausforderung anzunehmen und dem Bösewicht<br />

gleichermaßen zu begegnen. Nur indem der Therapeut diesen<br />

Impulsen widersteht, kann er hoffen, wieder Zugang zu seiner<br />

therapeutischen Haltung zu finden und so zu einer reflektierteren<br />

und kreativeren Antwort zu kommen. Wird dafür im Eifer des<br />

Gefechts jedoch genügend Zeit bleiben? Wenn der Therapeut in<br />

der Vergangenheit bereits Erfahrung mit Impuls<strong>durch</strong>brüchen<br />

gemacht und diese verarbeitet hat, dann mag die Zeit ausreichen.<br />

Das erwünschte Ergebnis ist umso wahrscheinlicher, wenn<br />

der Therapeut in der Lage ist zu verdeutlichen, daß er seine eigene<br />

Wut und Angst unter Kontrolle hat und daß er wirklich<br />

einen Dialog wünscht. Der Therapeut muß versuchen, sowohl<br />

in ihm selbst als auch im Patienten eine Verzögerung zwischen<br />

dem Impuls und der darausfolgenden Aktion zu bewirken. Somit<br />

gewinnt er Zeit zum Nachdenken. Üblicherweise ist es in<br />

solchen Situationen besser, zweimal zu überlegen anstatt dem<br />

ersten, von Impulsen <strong>durch</strong>setzten Gedanken zu folgen. Sollte<br />

es sich als unmöglich erweisen, eine solche Verzögerung zu bewirken,<br />

dann ist die Schlacht verloren und der therapeutische<br />

Rahmen zerstört.<br />

Im zweiten Teil dieses Kapitels wird klar, daß einige der<br />

Therapeuten selbst ins Agieren geraten, um diesem speziel-

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