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Geschichte von Kindern in Fremdunterbringung historisch betrachtet

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<strong>Geschichte</strong> <strong>von</strong> <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> <strong>in</strong> Fremdunterbr<strong>in</strong>gung<strong>historisch</strong> <strong>betrachtet</strong>0725590 Rezsni Barbara0725676 Suchy Carmen


1 ALTERTUM................................................................................................................................................ 32 MITTELALTER ......................................................................................................................................... 32.1 HOSPITÄLER ......................................................................................................................................... 42.2 FINDEL- UND WAISENHÄUSER .............................................................................................................. 43 NEUZEIT..................................................................................................................................................... 53.1 ARMENSCHULE..................................................................................................................................... 63.2 ZUCHT- UND ARBEITSHAUS .................................................................................................................. 73.2.1 Stuttgarter Waisenhaus ................................................................................................................... 73.3 DAS NÜRNBERGER FINDELHAUS .......................................................................................................... 83.4 HALLESCHE WAISENHÄUSER................................................................................................................ 93.4.1 Darmstädter Waisenhaus .............................................................................................................. 104 ZEITALTER DER AUFKLÄRUNG....................................................................................................... 114.1 INDUSTRIE- UND LEHRSCHULEN (WURDEN DORT KINDER AUCH UNTERGEBRACHT? – GEHÖRT DASÜBERHAUPT DAZU?).......................................................................................................................................... 115 19. JAHRHUNDERT ................................................................................................................................ 125.1 PRIVATE JUGENDFÜRSORGE ............................................................................................................... 125.1.1 Rettungshaus ................................................................................................................................. 135.1.2 Lutherhof <strong>in</strong> Weimar ..................................................................................................................... 155.1.3 Erziehungsvere<strong>in</strong>e ......................................................................................................................... 155.2 ÖFFENTLICHE JUGENDFÜRSORGE ....................................................................................................... 156 VOM BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS BIS ZUM NATIONALSOZIALISMUS ...................... 166.1 HEIMERZIEHUNG NACH AUGUST AICHHORN UND JULIUS TANDLER................................................... 166.2 PFLEGEFAMILIEN ................................................................................................................................176.2.1 Taubesches System der Ziehk<strong>in</strong>derüberwachung <strong>in</strong> Leipzig ......................................................... 176.2.2 Ziehk<strong>in</strong>dordnung aus dem Jahr 1919............................................................................................ 186.2.3 Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) ..................................................................................... 197 DIE ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS......................................................................................... 207.1 HEIMERZIEHUNG ................................................................................................................................207.2 PFLEGEKINDERWESEN ........................................................................................................................ 208 DIE ZEIT AB 1945.................................................................................................................................... 218.1 LANDPFLEGE ...................................................................................................................................... 228.2 SOS-KINDERDORF.............................................................................................................................. 228.3 HEIMERZIEHUNG IM WIEDERAUFBAU................................................................................................. 228.4 SPARTAKUSAUFSTAND UND WIENER HEIMENQUETE.......................................................................... 238.5 ENTSTEHUNG DER ERSTEN WOHNGEMEINSCHAFTEN.......................................................................... 258.6 STADT DES KINDES............................................................................................................................. 258.7 HEIM 2000.......................................................................................................................................... 269 BIBLIOGRAFIE ....................................................................................................................................... 27


1 AltertumSchon seit je her wuchsen K<strong>in</strong>der nicht immer bei den leiblichen Eltern auf. Die Gründe dafürwaren vielfältig: der Tod <strong>von</strong> Vater und Mutter, der Ausfall der Sippe, Armut, Not oderVerwahrlosung. Die Versorgung <strong>von</strong> <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> außerhalb der eigenen Familie war schon vorJahrtausenden e<strong>in</strong> zentrales Thema <strong>in</strong> der Gesellschaft. Als das erste namentlich erwähntePflegek<strong>in</strong>d, gilt Moses aus dem Alten Testament. 1 Die Ursprünge dieser humanenVorgehensweise f<strong>in</strong>det man im Alten Ägypten. Die Verpflichtung zur Wohltätigkeit zählte zue<strong>in</strong>em sehr wesentlichen Grundsatz ihrer Staatsverwaltung. Die K<strong>in</strong>destötung und dasAussetzen <strong>von</strong> <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> waren strengstens verboten und wurden hart bestraft, woh<strong>in</strong>gegenman die Unterstützung der Waisen als Pflicht und Ehre ansah. 2 Bereits im CodexHammurabi 3 , e<strong>in</strong>em der ältesten Gesetzestexte der Welt, tauchte der Begriff der Pflegemutter,der so genannten Säugamme, auf. Aber auch die Adoption, als Möglichkeit den Fortbestande<strong>in</strong>er Familie zu sichern, wurde hier erstmals erwähnt. In der Antike wird dies zur gängigenMöglichkeit, sich um Bedürftige zu kümmern. 4Seit Menschengedenken bestand also die Verpflichtung, für verwaiste und hilfsbedürftigeK<strong>in</strong>der zu sorgen. Während im Altertum vorwiegend die Sippe, für die vor allem leiblicheVersorgung zuständig war, entwickelte sich erst im späten Mittelalter e<strong>in</strong>e öffentlichorganisierte Fürsorge, die sich solcher Fälle annahm.2 MittelalterObwohl man <strong>in</strong> jeder Epoche versuchte, Hilfsbedürftige zu unterstützen, veränderten sich dieE<strong>in</strong>stellung und das Verhalten gegenüber den <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> im Mittelalter. Vermutlich bed<strong>in</strong>gtdurch die katastrophalen hygienischen Zustände, Armut und e<strong>in</strong>er hohenSäugl<strong>in</strong>gssterblichkeitsrate wurden K<strong>in</strong>der vorwiegend als Objekt gesehen. Man hat sieverkauft, als Sicherheit für Schulden übergeben oder als billige Arbeitskräfte verliehen. Auchder K<strong>in</strong>desmord, oder das Aussetzen und Verschenken <strong>von</strong> <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> waren im Mittelalterke<strong>in</strong>e Seltenheit. Der Begriff der Familie und der <strong>in</strong>terne Zusammenhalt verloren imVergleich zum Altertum an Bedeutung. Stand im Altertum noch die Unterstützung der1 Vgl. Trede 2002 S. 647-650Moses wurde nach se<strong>in</strong>er Geburt am Ufer des Nils ausgesetzt. Die Tochter des Pharaos hat das Neugeborenegefunden, ließ es <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er Amme aufziehen und nahm das K<strong>in</strong>der anschließend als eigenen Sohn <strong>in</strong> der Familieauf.2 Vgl. Buchkremer 2009 S.195-1963 König Hammurabi 1810-1750 v. Chr.4 Vgl. Jugendamt der Stadt Wien 1989 S. 37-38


Waisen im Vordergrund, so diente die Aufnahme <strong>von</strong> <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> im Mittelalter oft nur derErhaltung des Familiennamens und des Erbes. 52.1 HospitälerMan unterschied im Wesentlichen zwischen zwei Gruppen <strong>von</strong> hilfsbedürftigen <strong>K<strong>in</strong>dern</strong>. Jenedie <strong>von</strong> ihren Eltern verlassen wurden oder sie verloren hatten, und jene deren Eltern zu armwaren um sich ausreichend um sie zu kümmern. Die armen K<strong>in</strong>der wurden nicht sonderlichbeachtet, sie und ihre Familien hatte man lediglich durch Almosen unterstützt. Mit größererFürsorge wurden die elternlosen K<strong>in</strong>der bedacht. Da es zu Beg<strong>in</strong>n noch ke<strong>in</strong>e speziellenE<strong>in</strong>richtungen gab, wurden die K<strong>in</strong>der mit Alten, Kranken oder Irren <strong>in</strong> den so genanntenHospitälern untergebracht. 6 Wie aus dem St. Gallener Spitalsstiftungsbrief <strong>von</strong> 1228hervorg<strong>in</strong>g, wurden die Waisen und F<strong>in</strong>delk<strong>in</strong>der <strong>in</strong> diesen Anstalten solange betreut, bis sie<strong>in</strong> der Lage waren, sich durch Almosen selbst zu versorgen. E<strong>in</strong>e Ausbildung oder Erziehunggab es <strong>in</strong> den Hospitälern nicht. 72.2 F<strong>in</strong>del- und WaisenhäuserErst durch die Spezialisierung des Spitalwesens und als Reaktion auf die zahlreichenK<strong>in</strong>dstötungen wurden im 13. Jahrhundert, <strong>von</strong> kirchlichen Stiftungen, verstärkt F<strong>in</strong>del- undWaisenhäuser <strong>in</strong> den Städten gegründet, die sich um die Versorgung der verlassenen K<strong>in</strong>derkümmerten. 8 Es wurden jedoch nur jene Waisen aufgenommen, für die wirklich niemandmehr sorgte, denn auch im Mittelalter war <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie, wenn möglich, die Sippe, d.h. dieGroßfamilie oder e<strong>in</strong>e zugehörige Zunft, für die Vormundschaft verantwortlich. In diesenAnstalten f<strong>in</strong>det man bereits die noch heute aktuellen Möglichkeiten der Fremdunterbr<strong>in</strong>gung.Familienpflege und Anstaltserziehung wurden <strong>in</strong> den mittelalterlichen Waisenhäusernkomb<strong>in</strong>iert. Aufgrund e<strong>in</strong>er erhöhten Sterblichkeit <strong>in</strong> den Anstalten, wurden die Säugl<strong>in</strong>gerasch außer Haus <strong>in</strong> die Pflege e<strong>in</strong>er Amme gegeben. Diese befand sich meist auf dem Landund kümmerte sich gegen e<strong>in</strong>en Ziehlohn um die Pflege der K<strong>in</strong>der bis zu e<strong>in</strong>em Alter <strong>von</strong>5 Vgl. Jugendamt der Stadt Wien 1989 S. 376 Darunter verstand man im Mittelalter Fürsorgee<strong>in</strong>richtungen, welche sich um Hilfsbedürftige kümmerten, diesich aufgrund ihrer körperlichen Verfassung nicht durch Betteln ernähren konnten. Besonders hervorzuhebens<strong>in</strong>d hier die Heiligen-Geist-Spitäler, die sich neben der Versorgung der Kranken hauptsächlich der Fürsorge <strong>von</strong>F<strong>in</strong>delk<strong>in</strong>dern annahmen. E<strong>in</strong>e Besonderheit f<strong>in</strong>det man im 1198 gegründeten großen Hospital St. Spiritus <strong>in</strong>Rom, das erstmals die so genannte rota, e<strong>in</strong>e Drehlade für ausgesetzte K<strong>in</strong>der, aufwies. Die Neugeborenenkonnten dort unbemerkt abgegeben werden. Zog man die F<strong>in</strong>delglocke, so wurde das K<strong>in</strong>d im Innern des Spitalsaufgenommen.7 Vgl. Scherpner 1979 S. 16-208 Vgl. Trede 2002 S. 650


fünf bis sieben Jahren. Danach waren sie stark genug um wieder <strong>in</strong> der Anstalt aufgenommenzu werden. 9Aus e<strong>in</strong>er Nürnberger F<strong>in</strong>delordnung vom beg<strong>in</strong>nenden 16. Jahrhundert g<strong>in</strong>g hervor, dass dieK<strong>in</strong>der dort e<strong>in</strong>e ausreichende körperliche Pflege erhielten. Alle acht Tage e<strong>in</strong> Bad undsaubere Kleidung aus e<strong>in</strong>fachen Stoffen. Bei öffentlichen Auftritten, wie beispielsweise <strong>in</strong> derKirche oder beim Almosen sammeln, hatten die Waisenk<strong>in</strong>der sogar e<strong>in</strong>e besondere Tracht,die <strong>in</strong> den Farben der Stadt gehalten war um die Hilfsbereitschaft der Bürger anzusprechen.Obwohl die Anstalten meist eng und überfüllt waren, achtet man dennoch auf e<strong>in</strong>e guteLüftung der Räume, und Fenster die Sonnenlicht <strong>in</strong>s Innere ließen. Die hygienischeAusstattung <strong>in</strong> den Waisenhäusern des späten Mittelalters war, den damaligen Möglichkeitenentsprechend, weit aus besser als <strong>in</strong> den späteren Jahren.Über die erzieherischen Maßnahmen ist nicht viel bekannt. Aus Dokumenten g<strong>in</strong>g jedochhervor, dass die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>en religiösen Unterricht erhielten und zum Bettelnund Gottesdienstbesuchen angehalten wurden.„Die K<strong>in</strong>der, vor allem die Mädchen, waren an der Hausarbeit beteiligt. An Sonn- undFesttagen besuchten sie den Gottesdienst, und e<strong>in</strong>ige <strong>von</strong> ihnen wurden ‚vor die Kirchengesetzt’, um milde Gaben <strong>von</strong> den Gläubigern zu erbitten.“ 10Zucht und Gehorsam hatten oberste Priorität und wurden bei Nichte<strong>in</strong>halten mit der Gertebestraft. Im Wesentlichen war die Erziehung der K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Waisenhäusern mit jenenvergleichbar, die bei ihren leiblichen Eltern <strong>in</strong> den untersten Schichten aufwuchsen. Erst zuBeg<strong>in</strong>n der Neuzeit mit dem E<strong>in</strong>setzen der Reformation stiegen die Ansprüche im H<strong>in</strong>blickauf Ausbildung, Unterricht und Erziehung. 113 NeuzeitPolitische und wirtschaftliche Umstrukturierungen <strong>in</strong> der Gesellschaft markierten denÜbergang <strong>in</strong> e<strong>in</strong> neues Zeitalter. Bed<strong>in</strong>gt durch den Fernhandel und der aufkommendenGeldwirtschaft, gewannen die Städte und ihr Bürgertum immer mehr an Bedeutung und löstensich zunehmend <strong>von</strong> der kirchlichen Bevormundung. Die Arbeit und der Ertrag galten <strong>von</strong>9 Vgl. Jordan 2005 S. 1810 Scherpner 1979 S. 2511 Vgl. Scherpner 1979 S.24-25


nun an als Symbol e<strong>in</strong>es gottgefälligen Lebens. 12 In der beg<strong>in</strong>nenden Neuzeit hatte sichdemnach e<strong>in</strong> Wandel <strong>in</strong> der Auffassung der Armen vollzogen. Während noch im Mittelalterdie Armut als <strong>von</strong> Gott gewollt, und freiwillige Armut als Lebensideal gesehen wurde, galt sienun als Ausdruck <strong>von</strong> persönlichem Versagen und Arbeitsscheu. Der Arme wurde <strong>von</strong> nun anals betrügerischer Bettler, Schw<strong>in</strong>dler oder Gauner <strong>betrachtet</strong>. Diese Veränderungen und neuegeistige Strömungen, wie beispielsweise der Humanismus, führten zu e<strong>in</strong>er höherenBewertung der Arbeit und folglich auch zu e<strong>in</strong>er verstärkten Arbeitspflicht <strong>in</strong> derGesellschaft.3.1 ArmenschuleAls Vertreter dieser neuen Bewegung ist der Humanist Johann Ludwig Vives anzusehen, der1526 mit se<strong>in</strong>er Schrift über das Armenwesen e<strong>in</strong>en Wandel e<strong>in</strong>läutete. Ihm und se<strong>in</strong>enZeitgenossen war bewusst, dass e<strong>in</strong>e Veränderung <strong>in</strong> der Gesellschaft und e<strong>in</strong>e Erziehung h<strong>in</strong>zur Arbeit nur erfolgreich se<strong>in</strong> würden, wenn man bei den <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> beg<strong>in</strong>nt. Er strebteerstmals e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Erziehung der F<strong>in</strong>del- und Waisenk<strong>in</strong>der mit den <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> derArmen an. Nach dem Beispiel der Armenschule <strong>in</strong> Brügge forderte er e<strong>in</strong> eigenes Spital <strong>in</strong>dem die K<strong>in</strong>der bis zum sechsten Lebensjahr <strong>von</strong> Frauen aufgezogen wurden undanschließend an e<strong>in</strong>er öffentlichen Schule, ähnlich e<strong>in</strong>em Internat, unterrichtet werden sollten.Die K<strong>in</strong>der wurden <strong>in</strong> Lesen, Schreiben, christlicher Frömmigkeit und der rechtenAnschauung <strong>von</strong> den D<strong>in</strong>gen unterrichtet. Begabte Knaben wurden zu Lehrern ausgebildetund die anderen erlernten, ihren Talenten entsprechen, handwerkliche Berufe. Dadurchkonnten die K<strong>in</strong>der, die als Individuum immer mehr an Bedeutung erlangten, vommoralischen und sittlichen Verfall ferngehalten werden. Obwohl es Anfang des 16.Jahrhunderts <strong>in</strong> den Bettelordnungen bereits das Bestreben gab, den <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> der Armen e<strong>in</strong>eArbeitsstelle zu vermitteln, klafften <strong>in</strong> der Praxis Wunsch und Realität ause<strong>in</strong>ander. Das siche<strong>in</strong> Wandel <strong>in</strong> der Anschauung vollzogen hatte, wird deutlich wenn man den St. GallenerSpitalstiftungsbrief <strong>von</strong> 1228 und die Nürnberger Armenordnung <strong>von</strong> 1522 vergleicht.Wurden die Waisenk<strong>in</strong>der früher <strong>in</strong> den Hospitälern solange aufgezogen, bis sie selbst bettelnkonnten, so war es den Leuten nun e<strong>in</strong> Anliegen, dass sich die K<strong>in</strong>der selbst durch eigeneArbeit und nicht durch Almosen ernähren konnten.12 Vgl. Jordan 2005 S. 18-19


3.2 Zucht- und ArbeitshausDurch die frühkapitalistische Wirtschaft, d.h. e<strong>in</strong>er Wirtschaft die vorwiegend <strong>von</strong>Unternehmern <strong>in</strong> Gang gebracht wurde, entstand e<strong>in</strong> erhöhter Bedarf an Arbeitskräften.Ausgehend <strong>von</strong> England, Frankreich und den Niederlanden entwickelten sich im 16. und 17.Jahrhundert zunehmend Zucht- und Arbeitshäuser als neue Unterkunft für verwaiste und armeK<strong>in</strong>der, aber auch Bettler und Landstreicher. Durch diese Zwangsarbeitshäuser versuchte mane<strong>in</strong>erseits das Armutsproblem zu reduzieren und den Insassen moralische Werte zuvermitteln, andererseits konnte man dadurch die nötigen Arbeitskräfte für die Maufakturensichern. 13 In diesem neuen Anstaltstyp, bei dem die Arbeit im Vordergrund stand, fanden dieUnternehmer ideale Verhältnisse für ihre neuen Produktionsstätten vor. Von den <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> undJugendlichen wurden die gleichen Lebens- und Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen verlangt wie <strong>von</strong> denErwachsenen. Karge Mahlzeiten, e<strong>in</strong> langer und harter Arbeitstag <strong>von</strong> fünf Uhr morgens bisacht Uhr abends und dazwischen geme<strong>in</strong>same Gebete. 14 Im Vergleich dazu entwickelte sich1596 <strong>in</strong> Amsterdam e<strong>in</strong> spezielles Arbeitshaus nur für K<strong>in</strong>der und Jugendliche, das jedochke<strong>in</strong>en Bezug zur Armenpflege aufzeigte, sondern lediglich als Erziehungsanstalt fürungehorsame Jugendliche verstanden wurde. Sie wurden moralisch gebessert und zunützlichen Arbeitskräften der neuen Wirtschaftpolitik erzogen. 153.2.1 Stuttgarter WaisenhausDieser Grundste<strong>in</strong>legung gehen Jahrzehnte lange Überlegungen voraus. Kirchliche Behördenwünschten sich e<strong>in</strong> Armen- und Waisenhaus, erkannten aber auch den Nutzen e<strong>in</strong>es ArbeitsundZuchthauses. Durch die E<strong>in</strong>berufung e<strong>in</strong>es Rates, der nach e<strong>in</strong>gehender Prüfungentscheiden sollte, wurde die Anstalt zur Angelegenheit des Landes. Nach e<strong>in</strong>er zweitätigenSitzung kam man zu dem Schluss, die E<strong>in</strong>richtung nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zuerrichten. 1720 wurde das neue Waisen- Zucht- und Arbeitshaus als wirtschaftlichesUnternehmen gegründet. Aufgenommen wurden nur gesunde K<strong>in</strong>der im Alter <strong>von</strong> sechs bisvierzehn. Trotz guter Verpflegung herrschten sehr schlechte hygienische Zustände vor.Krankheit und Ungeziefer führten zu hohen Sterblichkeitsraten und <strong>in</strong> weiterer Folge Endedes 18. Jahrhunderts zum so genannten Waisenhausstreit.13 Vgl. Scherpner 1979 S. 27-4014 Vgl. Jordan 2005 S. 19-2015 Vgl. Scherpner 1979 S. 46-47


3.3 Das Nürnberger F<strong>in</strong>delhausObwohl sich im 17. Jahrhundert aufgrund des 30jährigen Krieges e<strong>in</strong>e Fürsorge fürhilfsbedürftige K<strong>in</strong>der sehr schwierig gestaltete, versuchte man sie dennoch so weit wiemöglich aufrecht zu erhalten. Als beispielhaft galt hierfür die Stadt Nürnberg, die aufgrundzahlreicher Urkunden, ihren Umgang mit Waisen- und F<strong>in</strong>delk<strong>in</strong>dern dokumentierte. Wiebereits im Mittelalter wurden die K<strong>in</strong>der im Nürnberger F<strong>in</strong>delhaus untergebracht und dieFürsorge auf alle Not leidenden und schutzlosen K<strong>in</strong>der ausgeweitet. Die Unterbr<strong>in</strong>gungerfolgte wiederum <strong>in</strong> der Anstalt bzw. wurden die Säugl<strong>in</strong>ge und Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>der beiPflegefamilien untergebracht. E<strong>in</strong>erseits bed<strong>in</strong>gt durch Seuchen und dem andauernden Krieg,andererseits durch ungenügende Beaufsichtigung <strong>in</strong> den Familien, reduzierte sich die Zahl derPflegestellen und man versuchte die Versorgung der K<strong>in</strong>der außerhalb des F<strong>in</strong>delhausese<strong>in</strong>zuschränken. Aufgrund der rasant ansteigenden Zahl an versorgungsbedürftigen <strong>K<strong>in</strong>dern</strong>und e<strong>in</strong>er dadurch hervorgerufenen f<strong>in</strong>anziellen Notlage, konnten jedoch ke<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der mehraufgenommen werden. Um die überfüllten Waisenhäuser zu entlasten versuchte man etwaigeentfernte Verwandte ausf<strong>in</strong>dig zu machen und sie gegebenenfalls durch e<strong>in</strong>en Ziehlohn beidiesen Familien auf Dauer unterzubr<strong>in</strong>gen.Die K<strong>in</strong>der die im F<strong>in</strong>delhaus verbleiben konnten wurden <strong>in</strong> zwei Gruppen unterteilt. DieKle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>der bis zum sechsten bzw. siebten Lebensjahr wurden <strong>von</strong> der so genanntenK<strong>in</strong>dsmagd versorgt und erzogen, die älteren K<strong>in</strong>der waren im gleichen Gebäudeuntergebracht, jedoch strikt nach Burschen und Mädchen getrennt. Das Leben <strong>in</strong> diesenHäusern wurde durch e<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>delordnung streng geregelt Die K<strong>in</strong>der standen um halb sechsUhr morgens auf, nach e<strong>in</strong>em Frühstück und Bittgebet g<strong>in</strong>gen die sie vormittags- undnachmittags je zwei Stunden zur Schule. Sie erhielten Unterricht im Lesen, Schreiben, S<strong>in</strong>genund Religion. Begabten Burschen wurde der Besuch e<strong>in</strong>er Late<strong>in</strong>schule ermöglicht undkünstlerische Fähigkeiten wie Zeichen und Malen gefördert. Die Mädchen erhieltenUnterricht im stricken, flicken und waschen. Nach der Schule mussten sowohl Burschen alsauch Mädchen bei der Land- und Hauswirtschaft mithelfen. Mitte des 17. Jahrhunderts wurdeauch die gewerbliche Arbeit im Waisenhaus immer bedeutender und die K<strong>in</strong>der mit typischennürnbergschen Handwerksarbeiten vertraut gemacht. Entgegen der Tendenzen <strong>von</strong>Großbetrieben und dem Wunsch nach günstigen Arbeitskräften, versuchte man dennoch dieK<strong>in</strong>der später <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lehre unterzubr<strong>in</strong>gen.Um 1630 herrschten im Nürnberger F<strong>in</strong>delhaus aufgrund der Überfüllung sehr schlechteZustände vor. Viele K<strong>in</strong>der erkrankten und mussten sich die Betten mit mehreren Waisen


teilen. Indem man die sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> angrenzendes Kloster auslagerte, versuchte man der SituationHerr zu werden, denn bed<strong>in</strong>gt durch zahlreiche Flüchtl<strong>in</strong>ge und Seuchen stieg die Anzahl derK<strong>in</strong>der, die aufgenommen werden mussten, <strong>von</strong> 30 auf 294 an. Dies hatte auch zur Folge,dass der Unterricht e<strong>in</strong>gestellt wurde und sich e<strong>in</strong>e entsprechende Pflege der K<strong>in</strong>der als immerschwieriger erwies. Erst nach Beendigung des Krieges 1648 verbesserten sich die Zuständewieder. 163.4 Hallesche WaisenhäuserEnde 17. Jahrhunderts entwickelte sich als Reaktion auf den Zusammenbruch nach dem30jährigen Krieg, e<strong>in</strong>e neue, sich auf religiöse Traditionen berufende, Strömung.Kennzeichnend für den Pietismus war e<strong>in</strong>e konservative E<strong>in</strong>stellung, bei der diegesellschaftliche Ordnung als <strong>von</strong> Gott gewollt angesehen wurde. Als e<strong>in</strong>er der wichtigstenAufgaben sahen die Pietisten die Versorgung der Hilfsbedürftigen, sowie ihre seelische undreligiöse Rettung durch christliche Unterweisung und religiöse Erziehung an. Betteln wurdezu dieser Zeit als Sünde angesehen. E<strong>in</strong>er der wichtigsten Vertreter, der die Entwicklung derFürsorge nachhaltig bee<strong>in</strong>flusst hat, war Pfarrer August Hermann Francke. Er gründete 1695die Hallschen Waisenhäuser als Antwort auch die bis dah<strong>in</strong> weit verbreiteten Zucht- undArbeitshäuser. Francke galt als e<strong>in</strong>er der ersten Unternehmer auf diesem Gebiet und alsMitbegründer der privaten Fürsorge. Bei der F<strong>in</strong>anzierung vertrauter Francke auf die HilfeGottes, der nach se<strong>in</strong>em Glauben, e<strong>in</strong>er guten Sache die notwendigen Mittel zukommenlassen würde.Um der Verwahrlosung und den schlechten Zuständen nach dem Krieg entgegen zu wirken,gründete Francke nach niederländischem Vorbild und <strong>in</strong> Anlehnung an Vives Vorstellungen,e<strong>in</strong>e Armenschule. Aufgrund der guten Erziehung brachte nach und nach auch das Bürgertumihre K<strong>in</strong>der gegen e<strong>in</strong>e Schulgebühr dort unter und es folgte e<strong>in</strong>e Unterteilung <strong>in</strong> Bürger undArmenschule. Größere Spenden ermöglichten die Grundste<strong>in</strong>legung e<strong>in</strong>es Waisenhauses, dassich nach Franckes Ansichten laufend den erforderlichen Bedürfnissen anpassen müsste. Soentstand im Laufe der Zeit e<strong>in</strong>e Anlage mit Schulgebäuden, Werkstätten, Gärten und e<strong>in</strong>erApotheke. Leben und Unterricht waren streng nach der Religion ausgerichtet, neben Gebetenund Gottesdienstbesuchen wurde auch das Lesen und Schreiben anhand <strong>von</strong> Bibelsprüchengelernt und ausschließlich geistliche Musik gelehrt. Es wurde großen Wert auf dieRe<strong>in</strong>lichkeit der Anstalt und auf die Pflege und Gesundheit der K<strong>in</strong>der gelegt. Jedes hatte e<strong>in</strong>16 Vgl. Scherpner 1979 S. 50-60


eigenes Bett zu Verfügung. Geschwächte K<strong>in</strong>der wurden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vom Waisenhaus getrenntenKrankenanstalt untergebracht. Weiters wurden die K<strong>in</strong>der Tag und Nacht beschäftigt undbeaufsichtigt um sie „[…] vor der Sünde […] und den Verlockungen der Welt[…]“ 17 zuschützen. Auch die Mitarbeiter im Waisenhaus mussten sich an gewisse Regeln halten,Francke verlangte <strong>von</strong> ihnen sich nicht wie Aufseher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zuchthaus zu verhaltensondern wie Väter.„Wegen des Lernens durfte ke<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d bestraft werden, wohl aber bei Bosheit undsonderlich bei Lügen, jedoch niemals im Zorn, sondern <strong>in</strong> erbarmender Liebe“ 18Trotz dieser strengen auf Zucht, Arbeit und Religion ausgerichteten Lebensführung versuchteman das Individuum zu stärken und die K<strong>in</strong>der ihren Talenten entsprechend zu fördern. Somitwird das Hallsche Waisenhaus zum Vorbild vieler Neugründungen, wenn auch im Laufe derZeit die Erziehung immer stärker <strong>von</strong> der Arbeit verdrängt wurde.3.4.1 Darmstädter WaisenhausPfarrer Eberhadt Philipp Zühl gründete, re<strong>in</strong> aus religiöser Motivation, <strong>in</strong> Anlehnung anFranckes Vorstellungen e<strong>in</strong> Waisenhaus das sich ebenfalls aus freiwilligen Spenden unddurch Gottes Hilfe f<strong>in</strong>anzieren sollte. Die Ungeduld des Pfarrers, der bereits vierzig Waisenaufnahm ohne e<strong>in</strong> Haus für die Unterbr<strong>in</strong>gung zur Verfügung zu haben, und der Rückgang derSpenden führten <strong>in</strong> weiterer Folge zu e<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>anziellen Notlage und zur Versetzung <strong>von</strong> Zühl.Von nun an wurde die Leitung <strong>von</strong> ehrenamtlichen Inspektoren der geistlichen und weltlichenBehörde übernommen. Die Eigenständigkeit des Waisenhauses gegenüber Staat und Kircheg<strong>in</strong>g somit verloren und die Erziehungs- und Förderungsmaßnahmen wurden immer stärker<strong>von</strong> wirtschaftlichen Faktoren <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund gedrängt. Durch die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>esWirtschaftsbetriebes versuchte man die f<strong>in</strong>anzielle Lage der Anstalt zu bessern, e<strong>in</strong>e ArbeitsundBerufserziehung der K<strong>in</strong>der wurde <strong>von</strong> Beg<strong>in</strong>n an unterbunden.Dem Waisenhaus wurden Werkzeuge und Wolle sowie e<strong>in</strong> großer Arbeitssaal zu Verfügunggestellt. Nach dem Unterreicht, je zwei Stunden am Vormittag und Nachmittag, mussten dieK<strong>in</strong>der arbeiten. Nach dem Mittag- und Abendessen hatten sie jeweils e<strong>in</strong>e Stunde Freizeit zuVerfügung <strong>in</strong> der sie jedoch nicht spielen durften, sondern die anstehende Haus- undGartenarbeit erledigen mussten. Trotz des guten Rufes herrschten schlechte hygienischeZustände vor. Kranke und gesunde K<strong>in</strong>der konnten wegen Platzmangels nicht <strong>von</strong>e<strong>in</strong>andergetrennt werden, die K<strong>in</strong>der mussten übere<strong>in</strong>ander liegen, es gab e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Ernährung,17 Scherpner 1979 S. 7618 Scherpner 1979 S. 78-79


schlechte Lüftung und ke<strong>in</strong>e Waschmöglichkeiten im Haus. Es wird deutlich, dass sich dasWaisenhaus immer stärker <strong>von</strong> der religiösen Erziehung entfernte und zu e<strong>in</strong>emWirtschaftsunternehmen wurde.4 Zeitalter der Aufklärung1773 sah man die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, den schlechten Lebensbed<strong>in</strong>gungen und der hohenSterblichkeitsrate entgegenzuwirken dar<strong>in</strong>, die K<strong>in</strong>der der Waisenhäuser <strong>in</strong> Pflegestellen aufdem Land unterzubr<strong>in</strong>gen und sie <strong>in</strong> der Dorfschule zu unterrichten. Im Zuge desWaisenhausstreits wurden die Vor- und Nachteile der Anstaltserziehung und Familienpflegeimmer heftiger diskutiert. Pädagogische Überlegungen traten stärker <strong>in</strong> den Vordergrund.Kritisiert wurde zwar nicht vorwiegend die Arbeit der K<strong>in</strong>der, da sie zu dieser Zeit auf Grundder wirtschaftlichen Entwicklung als normal angesehen wurde, sondern vielmehr dieunhygienischen Zustände, die Gesundheitsgefährdung, die nicht k<strong>in</strong>dgerechte Behandlungund die Art der religiösen Erziehung. Folglich wurden Ende des 18. Jahrhunderts vermehrtsolche Waisenhäuser aufgelöst, und auch unter dem Aspekt der Kostenersparnis, dieE<strong>in</strong>richtungen zur Familienpflege umgewandelt.In Weimar beispielsweise versuchte man die K<strong>in</strong>der an ihren Heimatorten unterzubr<strong>in</strong>gen umsie nicht aus der gewohnten Umgebung zu reißen. Sie wurden vorwiegend bei Verwandtenuntergebracht oder bei Eltern gleichen Standes, wenn Vater und Mutter verstorben waren. DieAufsicht der Pflegk<strong>in</strong>der übernahm am Land der Prediger und <strong>in</strong> der Stadt wurden Vormünderbestellt. Durch e<strong>in</strong>e jährliche Berichterstattung und persönliche Besuche bei denPflegefamilien, überzeugte sich der Direktor des Waisen<strong>in</strong>stitutes vom Wohlergehen derK<strong>in</strong>der. Durch das Aufkommen der Aufklärungszeitschriften, <strong>in</strong> denen diese Vorgehensweisebeschreiben wurde, konnten sich diese neuen Erziehungsideale verbreiten. 194.1 Industrie- und LehrschulenDie gesellschaftlichen Veränderungen die sich zu Zeiten der Aufklärung vollzogen, brachtenauch e<strong>in</strong> neues Verständnis gegenüber der K<strong>in</strong>dheit mit sich. Das Interesse an Erziehung,Bildung und Obsorge wurde immer stärker und führten <strong>in</strong> weitere Folge zum aufkommen19 Vgl. Scherpner S. 61-96


e<strong>in</strong>er verpflichtenden Schulbildung. 20 Von nun an versuchte man das Armenwesen dieserneuen Philosophie anzupassen und Betteln nicht mehr zu unterdrücken, sondern dieErziehung der Armen <strong>in</strong> den Vordergund zu stellen. Aber die Zwangsarbeit, wie sie oft <strong>in</strong>Zucht- und Armenhäusern vorherrschte, sollte nun e<strong>in</strong>er freiwilligen Arbeitserziehungweichen. 1784 entwickeln sich die ersten Industrieschulen <strong>in</strong> der die Armenk<strong>in</strong>der undWaisen neben dem normalen Unterricht auch <strong>in</strong> praktischer Arbeit unterrichtet wurden, umsie auf das spätere Arbeitsleben vorzubereiten. Die Arbeiten sollten schnell und e<strong>in</strong>fachdurchführbar se<strong>in</strong> und rasch zu e<strong>in</strong>em Verdienst führen. Der Lohn der K<strong>in</strong>der war meistKleidung. 21 Die Besonderheit dieser Schulen lag dar<strong>in</strong>, sich <strong>von</strong> der Zwangsarbeit zudifferenzieren und die Entwicklung des K<strong>in</strong>des zu fördern. Die Aufsicht übernahmen <strong>in</strong>diesem Fall nicht mehr Fabrikanten sondern Pädagogen, körperliche Strafen gab es nichtmehr. 22 Die Grenzen zwischen Schulerziehung und K<strong>in</strong>derfürsorge verschwammen immermehr. Der reguläre Schulunterricht setzte sich immer stärker durch und wurde <strong>von</strong> der sogenannten Schuldeputation überwacht. 235 19. Jahrhundert5.1 Private JugendfürsorgeRobert Malthus, starker Gegner der öffentlichen Armenpflege, verbreitete 1798 e<strong>in</strong>e neueBevölkerungslehre <strong>in</strong> Europa. Er war der Me<strong>in</strong>ung, dass man mit der Unterstützung derArmen nur noch mehr Elend erzeugte. Aus diesem Grund, und bed<strong>in</strong>gt durch die Anfänge desFrühliberalismus, der die <strong>in</strong>dividuelle Freiheit als Gesellschaftsgrundlage forderte, hatte manke<strong>in</strong> Recht mehr <strong>in</strong> das Leben e<strong>in</strong>er Familie e<strong>in</strong>zugreifen und die Fürsorge beschränkte sichlediglich auf die Schaffung <strong>von</strong> Schulen. Diese Reduzierung der Führsorge führte zu e<strong>in</strong>ergroßen Zahl an verwahrlosten <strong>K<strong>in</strong>dern</strong>. Da <strong>von</strong> öffentlicher Seite kaum Hilfe für dieBedürftigen zu erwarten war, bildeten sich private Initiativen, welche die K<strong>in</strong>derfürsorge des19. Jahrhunderts bestimmten. Dies ist der Beg<strong>in</strong>n der Rettungshausbewegung die sich derverwahrlosten und verlassenen K<strong>in</strong>der annahm. Die Ursprünge f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> Zeiten derAufklärung, bei Johann He<strong>in</strong>rich Pestalozzi, der e<strong>in</strong>e Verbesserung der Verhältnisse forderte<strong>in</strong> dem man bei der kle<strong>in</strong>sten Zelle – der Familie – beg<strong>in</strong>nt.20 Vgl. Jugendamt der Stadt Wien 1989 S. 3821 Vgl. Scherpner 1979 S. 96-11022 Vgl .Jordan 2005 S. 2323 Vgl .Scherpner 1979 S. 110-113


5.1.1 RettungshausE<strong>in</strong>e christliche Neuorientierung, die sich gegen den Rationalismus und die Aufklärungaussprach, förderte Missionierungsarbeiten die vor allem die Notlage der Armenk<strong>in</strong>der undKriegswaisen betraf. Es folgte 1820 die Gründung des Armenk<strong>in</strong>dervere<strong>in</strong>s, der e<strong>in</strong>efreiwillige Armenschullehrer- und Armenk<strong>in</strong>deranstalt aufbaute. Hier tauchte erstmals derVere<strong>in</strong> als neue Organisationsstruktur <strong>in</strong> der Fürsorge auf. 24Nur durch die Initiative E<strong>in</strong>zelner konnten Rettungshäuser errichtet werden, wie auch jenes1819 <strong>von</strong> Graf Adelberdt <strong>von</strong> der Recke. In e<strong>in</strong>em ehemaligen Kloster entstand e<strong>in</strong>e großeAnlage mit Werkstätten. Von nun an entstand e<strong>in</strong>e neue Organisationsform die sich <strong>von</strong> denArmen- Waisen- Zuchthäusern sowie Industrieschulen differenziert, welche sich aus demmittelalterlichen Hospital entwickelten. Die alten Vorbilder wichen e<strong>in</strong>er neuenErziehungsform, bei der die Familie im Vordergrund stand. Während früher die Anstalten <strong>von</strong>Inspektoren geleitet wurden, übernahmen jetzt Hauseltern die Pflege der K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erfamiliären Atmosphäre. Um sich <strong>von</strong> der Zwangsanstalt zu differenzieren und unabhängigvom Staat zu bleiben, wurden nur freiwillige K<strong>in</strong>der aufgenommen. Die Besonderheit ware<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Erziehung <strong>von</strong> Burschen und Mädchen, aber auch die Anzahl deraufgenommen K<strong>in</strong>der wurde auf ca. 40-50 begrenzt, damit „[…] das e<strong>in</strong>zelne K<strong>in</strong>d, zumGenusse des Vater- und Mutterherzens komme“ 25 Somit konnte sich auch e<strong>in</strong>e echte B<strong>in</strong>dungzwischen K<strong>in</strong>d und Hauseltern entwickeln. Da sich die privaten Institutionen selbst versorgenmussten, war die Arbeit e<strong>in</strong> wichtiger Bestandteil des Lebens. Es handelte sich jedoch imWesentlichen um landwirtschaftliche Tätigkeiten, da die Industriearbeit abgelehnt wurde.Trotz der Arbeit blieben die erzieherischen Zielsetzungen <strong>in</strong> den Rettungshäusern immermaßgebend.Der Alltag der K<strong>in</strong>der wechselte zwischen praktischen Tätigkeiten, welche die Arbeitsfreudefördern sollten, und Erholung. Freizeitbeschäftigungen wurden erstmals <strong>in</strong> dieRegelmäßigkeit des Anstaltslebens e<strong>in</strong>geführt um die Aktivität der K<strong>in</strong>der zu erhalten. Dazugehörten geme<strong>in</strong>same Wanderung, Ausflüge <strong>in</strong> die Stadt, das Spielen im Garten, der Besuch<strong>von</strong> Freunden oder das Feiern <strong>von</strong> Festen. Beispielsweise wurde das jährliche Anstaltsfestauch dazu genutzt, den großen Bekannten- und Freundeskreis <strong>in</strong> der Öffentlichkeit e<strong>in</strong>zuladenund somit das Leben <strong>von</strong> draußen <strong>in</strong> die Anstalt zu br<strong>in</strong>gen. Körperliche Strafen gab es nurbei starken Vergehen. Mann versuchte immer e<strong>in</strong>en Bezug zwischen Strafe und fehlerhaften24 Neben Kirche, Stiftung oder Anstalt entwickelt sich der Vere<strong>in</strong>, als e<strong>in</strong> Zusammenschluss <strong>von</strong>Gleichges<strong>in</strong>nten, welche sich ohne Rücksicht auf Standesunterschiede geme<strong>in</strong>sam um e<strong>in</strong>e Verbesserung derZustände bemühten und verschiedenste Vere<strong>in</strong>e zur Unterstützung gründeten.25 Scherpner 1979 S. 126


Verhalten herzustellen, beispielsweise musste der Faule mehr arbeiten und der Unordentlicheöfter aufräumen. Mit der Konfirmation wurden die K<strong>in</strong>der entlassen, durften dasRettungshaus jedoch immer als Heimat und Zufluchtsstätte verstehen.Immer mehr entwickelt sich das Rettungshaus und se<strong>in</strong>e Strukturen weiter. Maßgebend daranbeteiligt war Johann H<strong>in</strong>rich Wichern, der 1833 durch freiwillige Spenden den Bau e<strong>in</strong>esRettungshauses, dem so genannten Rauhen Haus, <strong>in</strong>itiierte. Er forderte e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelleErziehung der K<strong>in</strong>der, <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Gruppen, bei völliger Freiheit. Se<strong>in</strong> Wunsch war es e<strong>in</strong>Erziehungsdorf aufzubauen – im Zentrum e<strong>in</strong> Betsaal und r<strong>in</strong>gsum kle<strong>in</strong>e Familienhäuser, <strong>in</strong>denen zehn bis zwölf K<strong>in</strong>der mit e<strong>in</strong>em Erwachsenen unter e<strong>in</strong>em Dach lebten. Wichtiger alsdie Darstellung e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen großen Familie, zwar ihm das geme<strong>in</strong>same Zusammenlebenmehrer Familien. Die Anzahl der K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haushalt wurden beschränkt um jedeme<strong>in</strong>zelnen Liebe und <strong>in</strong>dividuelle Betreuung zukommen zu lassen. E<strong>in</strong> Ehepaar als Betreuerfür die e<strong>in</strong>zelnen Häuser sah er aufgrund der erhöhten Wohnansprüche und der möglicheneigenen K<strong>in</strong>der als nicht geeignet. Die Leitung übernahmen junge unverheiratet Mitarbeiter,Trotz dem Verzicht auf offizielle Unterstürzung, um die Unabhängigkeit zu wahren, wuchsdas Dorf relativ rasch. Im Mutterhaus lebte Wichern mit se<strong>in</strong>er Frau und rund herumgruppierten sich Familienhäuser, denen jeweils unterschiedliche Namen wie beispielsweiseFischerhütte, Schweizerhaus oder Bienenkorb zugeteilt wurden.Neben der <strong>in</strong>dividuellen Betreuung <strong>in</strong>nerhalb der Ersatzfamilie wurde die Kommunikationmit anderen bei der täglichen Arbeit und im Unterricht gefördert. Über die Entwicklung derK<strong>in</strong>der wurden wöchentlich Notizen gemacht, <strong>von</strong> Wichern durchgearbeitet und bei e<strong>in</strong>erWochenkonferenz mit allen besprochen. Dadurch erhielten alle Mitarbeiter Informationenüber die aktuellen Vorkommnisse. E<strong>in</strong>e Aufnahme <strong>in</strong> die Anstalt erfolgte <strong>in</strong> den meistenFällen nur auf freiem Entschluss der Eltern, wodurch sie alle elterlichen Rechte auf dieAnstalt übertrugen. Der Kontakt und die Verb<strong>in</strong>dung zu den Angehörigen sollten aberdennoch, durch regelmäßige Besuche, gepflegt werden. Das Leben gestaltete sich wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ernormalen Familie, jedes K<strong>in</strong>d bekam für die Woche e<strong>in</strong>e Hausarbeit zugeteilt die zu erledigenwar, zum Unterricht g<strong>in</strong>gen die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> ihre jeweilige Klassen, nach drei Stunden Schulearbeiten sie <strong>in</strong> Werkstätten oder der Landwirtschaft mit, bis zum geme<strong>in</strong>samen Essen <strong>in</strong> derFamilie. Danach konnten sie sich auf eigens angelegten Spielplätzen austoben. Feste diegeme<strong>in</strong>sam und mit den anderen Familien gefeiert wurden, stärkten das


Zusammengehörigkeitsgefühl. Das Erziehungssystem der <strong>in</strong>dividuellen Pflege jedes K<strong>in</strong>deshatte sich bewährt und wurde zum Vorbild vieler Neugründungen.5.1.2 Lutherhof <strong>in</strong> WeimarZeitgleich dazu entwickelte sich e<strong>in</strong>e andere Form der Ersatzerziehung, und zwar jene derPflegefamilien. Dieser Ausbau wurde notwendig, aufgrund zahlreicher Anstaltsauflösungenwährend des Waisenhausstreits. Johannes Falk setzte die Familienpflege <strong>in</strong> den Mittelpunktder K<strong>in</strong>derfürsorge und nahm 1828 erstmals selbst K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em eigenen Haus auf. Erversuchte Handwerksfamilien und Familien auf dem Land da<strong>von</strong> zu begeistern Pflegek<strong>in</strong>deraufzunehmen, obwohl se<strong>in</strong> Haus immer Mittelpunkt blieb. Dort lernten sich die K<strong>in</strong>derkennen und blieben so lange bis e<strong>in</strong>e geeignete Familie gefunden wurde. Jedes K<strong>in</strong>d standunter der Aussicht e<strong>in</strong>es ehrenamtlichen Helfers. E<strong>in</strong> großes Anliegen war Falk dieH<strong>in</strong>führung der Menschen zur Nächstenliebe. Trotz dieser Ideen wurde die Anstalt 1820 nachöffentlicher Kritik <strong>von</strong> der Kirchenbehörde geschlossen. Se<strong>in</strong>e Visionen verbreiten sichjedoch relativ rasch und führten zu e<strong>in</strong>er neuen überwachten Familienpflege, der so genanntenErziehungsvere<strong>in</strong>e.5.1.3 Erziehungsvere<strong>in</strong>eZiel war es ebenfalls die verwahrlosten und verlassenen K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> christlichen Familienunterzubr<strong>in</strong>gen. Freiwillige Beiträge ermöglichten es sogar den Pflegeeltern e<strong>in</strong>e Vergütungzu zahlen. Im Laufe der Zeit vergrößerte sich die Anzahl der Mitglieder und der Vere<strong>in</strong>begann verstärkt überörtlich zu arbeiten. Er schickte Reiseagenten, Vorläufer der heutigenFürsorger<strong>in</strong>nen, zu den Pflegefamilien um sie zu betreuen, <strong>in</strong> Erziehungsfragen zu beratenund den Kontakt zur Zentrale aufrecht zu erhalten. Dadurch entwickelten sich Familien, dieüber Generationen h<strong>in</strong>weg, Pflegek<strong>in</strong>der bei sich aufnahmen. Nach e<strong>in</strong>er sorgfältigenBeobachtung der K<strong>in</strong>der, wurden entsprechend ihren Bedürfnissen, die geeignetenPflegefamilien ausgewählt. 265.2 Öffentliche JugendfürsorgeVon Seiten des Staates bestand zu Beg<strong>in</strong>n des Jahrhunderts ke<strong>in</strong> sonderliches E<strong>in</strong>greifen <strong>in</strong>die Jugendfürsorge. Die Arbeit der zahlreichen privaten E<strong>in</strong>richtungen wurden jedoch mitInteresse verfolgt und bei der Aufdeckung <strong>von</strong> Missständen, Rettungshäuser geschlossen.26 Vgl. Scherpner 1979 S. 117-149


Zwar ließ der Staat Maßnahmen aufstellen, die der Verwahrlosung <strong>von</strong> <strong>K<strong>in</strong>dern</strong>entgegenwirken sollte, diese konnten sich jedoch nicht so richtig durchsetzen. Somit wurde erzum Handeln gezwungen und erließ Mitte des 19. Jahrhunderts e<strong>in</strong>e Reihe <strong>von</strong>Schutzvorschriften.Auch der Zustand der Pflegek<strong>in</strong>der wurde immer schlechter. Dies führte 1840 dazuPflegestellen erst nach polizeilicher Erlaubnis und Beaufsichtigung, sowie genauer Prüfungder Pflegemutter, zuzulassen. Die Aufnahme der so genannten Haltek<strong>in</strong>der war also nur nachpolizeilicher Genehmigung möglich. Unterstützt wurde diese dabei durch die Mitarbeitehrenamtlicher Helfer aus den privaten Erziehungsvere<strong>in</strong>en. 1878 entwickelte sich das ersteGesetz zum Schutz der Pflegek<strong>in</strong>der. Der Staat beteiligt sich jetzt immer stärker an derunmittelbaren Jugendfürsorge. Vormundschaftsgerichte entschieden über die Unterbr<strong>in</strong>gungder K<strong>in</strong>der, welche durch e<strong>in</strong>e Erziehungsbehörde überwacht wurden. 276 Vom Beg<strong>in</strong>n des 20. Jahrhunderts bis zum Nationalsozialismus6.1 Heimerziehung nach August Aichhorn und Julius TandlerNach dem Ende des Ersten Weltkrieges versuchte man durch pädagogischeErziehungsmethoden unterstützende Angebote für jedes K<strong>in</strong>d zu schaffen. Großen E<strong>in</strong>flussauf diese Bewegung hatten August Aichhorn und Julius Tandler.Durch den Zerfall der Österreichischen Monarchie nahmen die Verbrechen undVerwahrlosungen drastisch zu. August Aichhorn vertrat die Me<strong>in</strong>ung, dass man denVerwahrlosten alle<strong>in</strong> durch Milde, Güte und Liebe helfen könnte und so entstand <strong>in</strong>Oberhollerbrunn e<strong>in</strong>e Anstalt für Verwahrloste K<strong>in</strong>der, deren Kennzeichen es war, dass dieK<strong>in</strong>der nicht geprügelt oder misshandelt wurden.Tandlers Ideen waren für se<strong>in</strong>e Zeit sehr fortschrittlich. Er sprach <strong>von</strong> Familienerhalt,professionellen Helfern, Wiedere<strong>in</strong>gliederung <strong>in</strong>s Berufsleben, etc. Anstelle <strong>von</strong> Drill standenpädagogische Pr<strong>in</strong>zipien an erster Stelle und auf jedes K<strong>in</strong>d sollte <strong>in</strong>dividuell e<strong>in</strong>gegangenwerden. 28 Auch verlangte Tandler e<strong>in</strong>e Ausbildung für Erzieher<strong>in</strong>nen, die nach e<strong>in</strong>er27 Vgl Scherpner 1979 S. 156-16328 Vgl. Chloupek S. 10 – 11


zweijährigen Berufspraxis mittels e<strong>in</strong>es viermonatigen Kurses auf ihre Dienstprüfungvorbereitet wurden. Dieser Kurs be<strong>in</strong>haltete Themen wie Pädagogik, Heilpädagogik,Psychologie, Gesundheitslehre, Erste Hilfe, Wohlfahrtswesen und Anstaltsverwaltung. 296.2 Pflegefamilien6.2.1 Taubesches System der Ziehk<strong>in</strong>derüberwachung <strong>in</strong> LeipzigAusgehend vom „Taubeschen System der Ziehk<strong>in</strong>derüberwachung <strong>in</strong> Leipzig“ entwickeltensich zu Beg<strong>in</strong>n des 20. Jahrhunderts erste Ansätze zu e<strong>in</strong>em Pflegek<strong>in</strong>dwesen unter„führsorglicher Perspektive“. So forderte Stadtrat Pütter aus Halle die e<strong>in</strong>heitliche Aufsichtaller fremduntergebrachten K<strong>in</strong>der und deren Unterstellung unter den Geme<strong>in</strong>deweisenrat,„dem als Organ e<strong>in</strong> Ziehk<strong>in</strong>derarzt und e<strong>in</strong>e besoldete Waisenpfleger<strong>in</strong> beizugeben s<strong>in</strong>d“.Diese Forderung wurde bald <strong>von</strong> vielen Städten übernommen und so heißt es beispielsweise:Zur Pflege des K<strong>in</strong>des:„ In den beiden ersten Monaten ist das gesunde K<strong>in</strong>d täglich warm, nicht zu heiß zu baden(…) Mund und Ohren s<strong>in</strong>d nicht mit dem Badewasser, sondern mit re<strong>in</strong>em Wasserauszuwaschen.“ „Zulpe und Gummisauger mit Zucker gefüllt s<strong>in</strong>d gänzlich wegzulassen. Nurbei unruhigen und zahnenden <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> ist e<strong>in</strong> sauberer, heiler oder mit e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong>en Kork festabgeschlossener Gummihut ohne Zucker…gestattet. Die Ziehmutter soll das Gummihütchennie mit dem eigenen Mund anfeuchten…“.Zur Erziehung der K<strong>in</strong>der:„Zwar steht den Pflegeeltern das väterliche Züchtigungsrecht zu, aber nie darf das K<strong>in</strong>d mitder Faust, Stöcken, Stricken, Riemen oder anderen Werkzeugen auf den Kopf, Gesicht,Rücken geschlagen werden, nur auf die Hände s<strong>in</strong>d mit e<strong>in</strong>er schwachen birkenen Rute nichtzu starke Schläge, sodass nie Striemen entstehen, bei e<strong>in</strong>em älteren K<strong>in</strong>d gestattet.“Weitere Reglungen gab es betreffend der Wohnung, Bettung und Kleidung, des Schul- undKirchenbesuches, des Verbots für schwere Arbeiten, des Umgangs der Pflegeeltern mit denMüttern der K<strong>in</strong>der, etc.29 Vgl. Chraiger S. 52


Generell gesagt sollten nun nicht mehr die Bedürfnisse der Pflegeeltern nach Unterhalt undEntlastung und die kostengünstigeren Lösungen im Vergleich zu Heimerziehung imVordergrund stehen, sondern die Bedürfnisse der K<strong>in</strong>der, betreffend den Schutz vorAusbeutung und Ausnutzung. Die K<strong>in</strong>der sollten durch die Teilnahme an den täglichenVerrichtungen e<strong>in</strong>er Familie lernen, was für die Führung e<strong>in</strong>es Haushaltes notwendig ist.Die Praxis der tatsächlichen Pflegefamilien entsprach dieser Idealvorstellung aber kaum.In vielen Gebieten war es nach wie vor war üblich, K<strong>in</strong>der an den meistbietenden Bauern alsbillige Arbeitskraft zu schicken. Auch kam es zu oftmaligen Wechsel – fünf oder mehr s<strong>in</strong>dke<strong>in</strong>e Seltenheit - <strong>von</strong> Familien.Im Zuge des Ersten Weltkrieges entwickelten der „Ausschuss für Kriegswitwen- undWaisenfürsorge“ die Idee, Waisen und Pflegek<strong>in</strong>der <strong>in</strong> k<strong>in</strong>derlose oder K<strong>in</strong>derarmeAussiedlerfamilien <strong>in</strong> den Ostprov<strong>in</strong>zen zu schicken, um der Landflucht vorzubeugen und dieRückwanderung zu beschleunigen. Diesen <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> fehlte meist e<strong>in</strong>e geregelteBerufsausbildung und sie nahem die Stelle des „Prügelknaben“ <strong>in</strong> der Familie e<strong>in</strong>. 306.2.2 Ziehk<strong>in</strong>dordnung aus dem Jahr 1919In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kam es <strong>in</strong> Österreich zu e<strong>in</strong>er enormen Verbesserungder Familienfürsorge. Julius Tandler erneuerte nicht nur die Wiener Fürsorge, sondern sah diePflegefamilie stets als e<strong>in</strong>en Bestandteil e<strong>in</strong>es geschlossenen Systems <strong>in</strong> der Familienfürsorgean. Mit der Ziehk<strong>in</strong>dordnung aus dem Jahr 1919 wurden die rechtlichen Grundlagen für dieAufnahme e<strong>in</strong>es Pflegek<strong>in</strong>des geregelt. Sie umfasste folgende Punkte:1. Die Pflegeeltern dürfen nicht mehr auf das erhaltene Pflegegeld angewiesen se<strong>in</strong>,sondern müssen auch so genügend E<strong>in</strong>kommen aufweisen.2. Die Pflegemutter sollte <strong>in</strong> bester gesundheitlicher Verfassung se<strong>in</strong>.3. Die Familie sollte e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>wandfreie Lebensführung aufweisen können.4. Es sollte entsprechend auf Hygiene geachtet werden.5. Das Pflegek<strong>in</strong>d sollte e<strong>in</strong>e eigene Schlafstelle zur Verfügung haben.6. Die Pflegemutter sollt aufgrund ihrer eigenen Berufstätigkeit nicht zu wenig Zeit fürdas Pflegek<strong>in</strong>d haben. 3130 Vgl. Blandow S. 35-4331 Vgl. Chloupek S. 52 - 53


6.2.3 Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG)1922 kam es zum Erlass des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) und damit zu e<strong>in</strong>ervölligen Neuordnung des Pflegek<strong>in</strong>dwesens. Als erstes wird als Aufgabe des mit dem RJWGbegründeten Jugendamtes als e<strong>in</strong>heitliche Behörde für alle behördlichen Maßnahmen zur„Förderung der Jugendwohlfahrt (Jugendpflege und Jugendfürsorge)“ der „Schutz derPflegek<strong>in</strong>der“ benannt. Erstmals <strong>in</strong> der <strong>Geschichte</strong> wird die bisherige Unterscheidung nach(privat untergebrachter) Haltek<strong>in</strong>dern und behördlich untergebrachten Pflegek<strong>in</strong>dernaufgegeben und <strong>von</strong> den Jugendämtern e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitlicher Schutz für alle Pflegek<strong>in</strong>der, nämlich„K<strong>in</strong>der unter 14 Jahren, die sich dauernd oder nur für e<strong>in</strong>en Teil des Tages jedochregelmäßig, <strong>in</strong> fremder Pflege bef<strong>in</strong>den, es sei dann, dass <strong>von</strong> vornhere<strong>in</strong> feststeht, dass sieunentgeltlich <strong>in</strong> vorübergehende Bewahrung genommen werden“ verlangt.Im Regelfall ist nun vor der Aufnahme des K<strong>in</strong>des die Erlaubnis des Jugendamtes e<strong>in</strong>zuholen.Obwohl es <strong>in</strong> der Praxis nach wie vor nicht ganz so ideologisch ablief, leitete das Gesetzdennoch e<strong>in</strong>en paradigmatischen Wandel im Pflegek<strong>in</strong>dwesen e<strong>in</strong>. An die Stelle materiellerMotive bei der Aufnahme waren nun „psychologische“ getreten. 3232 Vgl. Blandow S. 40 - 43


7 Die Zeit des Nationalsozialismus7.1 HeimerziehungDurch die Machtübernahme der Nationalsozialisten brachen alle <strong>in</strong>novativen Ansätze derHeimerziehung zusammen und die Ideen e<strong>in</strong>iger bedeutender Reformer, wie beispielsweiseAichhorn und Tandler wurden verboten. Aus e<strong>in</strong>er auf das K<strong>in</strong>d ausgerichtetenHeimerziehung wurde nun e<strong>in</strong>e paramilitärische Organisation mit anonymemMassenunterricht. Adolf Hitler vertrat die Ansicht, dass <strong>in</strong> der Erziehung zu viel Wert aufgeistige und seelische Ausbildung gelegt würde, was die K<strong>in</strong>der nur verweichlicht.Stattdessen sollte es um das „Heranzüchten kerngesunder Körper“ gehen, um Zucht undOrdnung. K<strong>in</strong>der und Jugendliche wurden wie kle<strong>in</strong>e Erwachsene behandelt.Alle privat geführten E<strong>in</strong>richtungen wurden unter öffentliche Verwaltung gestellt und eserfolgte e<strong>in</strong>e Selektion der K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> förderungswürdige und –unwürdige K<strong>in</strong>der undJugendliche. Zu letzteren gehörten erbgeschädigte, rassenfremde, stark verwahrloste undschwererziehbare K<strong>in</strong>der und Jugendliche. Diese wurden als Belastung angesehen und ausdiesem Grund waren Aufbewahrungsanstalten ausreichend. E<strong>in</strong>ige wurden für mediz<strong>in</strong>ischeZwecke missbraucht oder <strong>in</strong> Euthanasieprogramme gesteckt. 337.2 Pflegek<strong>in</strong>derwesenWährend des Nationalsozialismus wurde das System der Pflegefamilien immer beliebter. Siewurden sehr stark propagiert und dienten als Erziehung ausschließlich dem Staate. DieFamilien selbst wurden <strong>in</strong> ihren Rechten und Möglichkeiten beträchtlich e<strong>in</strong>geschränkt. 34So musste beispielsweise vor Inpflegenahme e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des e<strong>in</strong> Nachweis über dieAbstammung desselben und der Bewerber vorgelegt werden, mit dem vor allem die„rassenmäßige“ Eignung geprüft wurde. Im Erlass für Fälle vom „Rassenverschiedenheit“heißt es etwa:„Ist e<strong>in</strong> Vertragsteil Jude oder mit e<strong>in</strong>em Juden verheiratet, der andere Vertragsteildeutschblütig oder Mischl<strong>in</strong>g zweiten Grades, so ist der Bestätigung des Annahmevertrageszu widersprechen. Ist e<strong>in</strong> Vertragsteil Ausländer, so ist mir zunächst unter Beifügung derVorgänge zu berichten.“33 Vgl. Chloupek S. 12 – 1434 Vgl. Chloupek S. 53 – 55


Derartige Bestimmungen gab es für diverse Nationalitäten. Des Weiteren wurde empfohlen zuüberprüfen, ob „schwierige K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> ihrer Erbmasse nur leicht gem<strong>in</strong>dert oder durch äußereUmstände geschädigt oder ob sie als tatsächlich erbkrank anzusprechen s<strong>in</strong>d“. Auf alle Fällemussten sich die Pflegeeltern dazu bereit erklären, das K<strong>in</strong>d nationalsozialistisch zu erziehen.Bereits ab 1933 fiel die „erzieherische Kontrolle“ der Pflegefamilien <strong>in</strong> die Zuständigkeit derNationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und somit <strong>in</strong> die Nähe desnationalsozialistischen Machtapparates. Man begann beispielsweise Bewerber<strong>in</strong>nen <strong>in</strong>Zusammenarbeit mit dem „Reichsmütterdienst“ zu schulen oder Pflegeeltern <strong>in</strong>Pflegeelterngruppen zusammenzufassen.E<strong>in</strong>erseits wurde aufgrund der ideologischen Wertschätzung der Familie, sie galt alsKeimzelle der gesunden Volksgeme<strong>in</strong>schaft, die Familienerziehung der Heimerziehungvorgezogen, andererseits wurden Pflegefamilien immer als zweitrangig <strong>betrachtet</strong>, da sie nichtdem „Band der Blutverwandtschaft“ und dem „<strong>in</strong>st<strong>in</strong>ktiven Verbundense<strong>in</strong> zwischen Elternund <strong>K<strong>in</strong>dern</strong>“ entsprach. Durch die große Bedeutung, die der Familie zugesprochen wurde,sollte Fremdunterbr<strong>in</strong>gung soweit wie möglich vermieden werden. 35Dieser Gedanke, und die Tatsache, dass es zu e<strong>in</strong>er vermehrten Kontrolle der Pflegeelterndurch die nationalsozialistische Volkswohlfahrt kam, nahm die Zahl der <strong>in</strong> Pflegefamilienuntergebrachten K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> dieser Zeit erheblich ab. 368 Die Zeit ab 1945Aufgrund der allgeme<strong>in</strong>en Notstände war <strong>in</strong> den ersten Jahren nach dem Ende des ZweitenWeltkrieges und damit auch des nationalsozialistischen Regimes an e<strong>in</strong> geordnetesPflegek<strong>in</strong>dwesen nicht zu denken. 3735 Vgl. Blandow S. 43 – 4736 Vgl. Chloupek S. 5437 Vgl. Blandow S. 49-50


8.1 LandpflegeIn den Nachkriegsjahren führten der Mangel an Nahrung, Bekleidung und Heizmaterialien,das Wohnen <strong>in</strong> beengten Verhältnissen und die Tatsache, dass die Inpflegenahme <strong>von</strong>bedürftigen <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> nicht gerade attraktiv gemacht wurde (Pflegegeld nur <strong>in</strong> Höhe derM<strong>in</strong>destunterhaltsrente) zu e<strong>in</strong>em großen Mangel an Pflegefamilien und so zuUnterbr<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> teureren und schlecht ausgestatteten K<strong>in</strong>derheimen.Vor allem <strong>in</strong> Großstädten galt die „Landpflege“ wieder, wie schon oft im Laufe der<strong>Geschichte</strong>, als Alternative zu städtischen Pflegefamilien. Ihre Vorteile lagen im größerenWohnraum, der Sicherstellung <strong>von</strong> Nahrung und der Beschäftigung <strong>von</strong> <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> <strong>in</strong> Zeiten derJugendarbeitslosigkeit. Neben der Dauerunterbr<strong>in</strong>gung wurden diese ländlichen Standorteauch als „Erholungsfürsorge“ für K<strong>in</strong>der aus verelendeten Familien oder für Heimk<strong>in</strong>dergenutzt. Aus vielen solchen Ferienfamilien wurden dauerhafte Pflegefamilien 388.2 SOS-K<strong>in</strong>derdorf1949 gründete Hermann Gme<strong>in</strong>er den Vere<strong>in</strong> SOS-K<strong>in</strong>derdorf. Am 15. April 1951 wurde daserste Haus („Haus Frieden“) <strong>in</strong> Imst <strong>in</strong> Tirol eröffnet.8.3 Heimerziehung im WiederaufbauDie teilweise zerstörten Heime standen somit e<strong>in</strong>er enorm großen Zahl an bedürftigen<strong>K<strong>in</strong>dern</strong> gegenüber. da es zu dieser Zeit noch ke<strong>in</strong> geordnetes F<strong>in</strong>anzierungssystem gab,konnten die K<strong>in</strong>der lediglich dank Lebensmittelspenden, Volksküchen, Schulspeisungen undCarepaketen aus den USA mit dem notwendigsten ausgestattet werden.Alle K<strong>in</strong>derheime dieser Zeit hatten Großheimcharakter und aus diesem Grund konnten dieIdeen <strong>von</strong> Aichhorn und Tandler nicht umgesetzt werden.Stattdessen glich das Heim e<strong>in</strong>er Erziehungsanstalt mit autoritären Strukturen,unqualifizierten Personal und teilweise heim<strong>in</strong>ternen Unterricht. Den <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> wurde ke<strong>in</strong>erleiFreiraum gelassen, der wichtige Kontakt zu Gleichaltrigen außerhalb des Heimes blieb ihnenverwehrt und die Integration <strong>in</strong> die eigene Familie wurde nicht ermöglicht.38 Vgl. Blandow S. 49-52


Alle Reformen <strong>von</strong> 1930 wurden übergangen und man orientierte sich wieder an den altenWerten. Nur langsam kam es zu neuerlichen fachlichen Diskussionen. Vor allem die Praktikertraten für e<strong>in</strong>e Heimerziehung e<strong>in</strong>, die sich weniger an Großgruppen, sondern anKle<strong>in</strong>gruppen mit ständig anwesender Bezugsperson orientierten. Des Weiteren wurdequalitativ und quantitativ besser ausgestattetes Personal und die Integration dieserInstitutionen <strong>in</strong> die Gesellschaft.Aufgrund der fehlenden F<strong>in</strong>anzierung aber auch aus Mangel an Interesse der Öffentlichkeitkonnten diese Ideen nicht <strong>in</strong> die Realität umgesetzt werden. Erst e<strong>in</strong>ige Zeit später, Ende dersechziger Jahre brachte e<strong>in</strong>e kritische Öffentlichkeit <strong>in</strong> Form <strong>von</strong> Studenten, Intellektuellenund ehemaligen Heimk<strong>in</strong>dern dieses Thema wieder zur Diskussion. 398.4 Spartakusaufstand und Wiener HeimenqueteDurch die Studentenbewegung im Jahr 1968 wurde die Frage der Heimerziehung so auch dergroßen Öffentlichkeit bekannt. Dieser „Spartakusaufstand“ bezeichnete die Heime alsSchande für das System und als Zuchthäuser, trat für Befreiungs- und Ausbruchsversuche derJugendlichen aus den Heimen e<strong>in</strong>. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass die Studenten dieProbleme der Jugendlichen unterschätzt hatten. Es genügte nicht bloß freundlich zu se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>evollkommene Reform der K<strong>in</strong>derheime musste erfolgen.1971 fand im Wiener Rathaus die erste Enquete über die „Aktuellen Fragen derHeimerziehung“ statt.Zu den erschwerenden Faktoren <strong>in</strong> der Heimerziehung zählten:1. Durch die abgeschiedene Lage der Heime außerhalb der Stadt waren die K<strong>in</strong>derisoliert <strong>von</strong> den sozialen Kontakten zu Familie und Freunden.2. Die beruflichen Möglichkeiten waren e<strong>in</strong>geschränkt, da die K<strong>in</strong>der kaum dieMöglichkeit hatten das zu erlernen, was sie auch <strong>in</strong>teressierte.3. Durch den oftmaligen Wechsel <strong>von</strong> Pflegepersonal und <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> wurde die sozialeIntegration enorm gestört.4. Es herrschte Bedarf an ausreichend qualifiziertem Personal.5. F<strong>in</strong>anzielle Unterstützung vom Staat für bessere Ausstattung stand kaum zurVerfügung.39 Vgl. Chloupek S. 14 – 16


Um e<strong>in</strong>e Verbesserung herbeizuführen wurde e<strong>in</strong> Forderungskatalog zusammengestellt. Auchwenn e<strong>in</strong>ige Wünsche nur schwer <strong>in</strong> die Praxis umgesetzt werden konnten, war es dochmöglich e<strong>in</strong>ige sehr rasch umzusetzen.So wurden beispielsweise die Heimplätze stark reduziert und die K<strong>in</strong>der und Jugendlichenwurden nun vermehrt <strong>in</strong> Pflegefamilien untergebracht.Die Gruppengrößen <strong>in</strong> den Heimen wurden enorm gesenkt, auf e<strong>in</strong>e Anzahl <strong>von</strong> acht biszwölf <strong>K<strong>in</strong>dern</strong>. Dadurch wurde e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensivere Beziehung zwischen <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> und Betreuernmöglich. Außerdem sollte es <strong>in</strong>nerhalb der Gruppe zu e<strong>in</strong>er größeren Alters- undIntelligenzstreuung kommen.Die K<strong>in</strong>der sollten die Möglichkeit haben, Ausstellungen, Jugendgruppen undVeranstaltungen zu besuchen. Gleichzeitig wurde versucht, das Interesse der Öffentlichkeitfür dieses Thema zu steigern.Die Eltern wurden nun mehr <strong>in</strong> den Entwicklungsprozess der K<strong>in</strong>der mite<strong>in</strong>bezogen undteilweise wurde auch versucht, die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> ihre eigenen Familien wieder zurückzuführen.Die Betreuer versuchten die Individualität e<strong>in</strong>es jeden K<strong>in</strong>des zu f<strong>in</strong>den um so mit ihnen <strong>in</strong>Beziehung zu treten.Ambulant arbeitende Stellen, wie sozial-therapeutische Institute, sozialpädagogischeBeratungsstellen und Familien<strong>in</strong>tensivbetreuung wurden e<strong>in</strong>gerichtet.Die Heime selbst sollten neben Erziehungspersonal auch Psychologen und K<strong>in</strong>derpsychiaterbeschäftigen.Nach der Entlassung e<strong>in</strong>es Jugendlichen bei Volljährigkeit gab es e<strong>in</strong>e Nachbetreuung <strong>in</strong>Form <strong>von</strong> Sozialpädagogen, die sie e<strong>in</strong>ige Zeit begleiteten und unterstützten.Spezielle E<strong>in</strong>richtungen wie Ergotherapie oder Logotherapie sollten vermehrt angeboten undgenutzt werden.Bestrafungen sollten nicht kollektiv und willkürlich se<strong>in</strong>.Generell kann man sagen, dass sich durch die Wiener Heimenquete die gesamteHeimlandschaft veränderte und so die Situation der K<strong>in</strong>der und Jugendlichen <strong>in</strong> den Heimenschlagartig verbessert wurde. 4040 Vgl. Chloupek S. 16 – 19


8.5 Entstehung der ersten Wohngeme<strong>in</strong>schaftenMitte der siebziger Jahre kam es zur erstmaligen Errichtung der SozialpädagogischenWohngeme<strong>in</strong>schaften und damit zum Sprung <strong>in</strong> die derzeit bestehende Form derFremdunterbr<strong>in</strong>gung.Im Jahr 1974 siedelte e<strong>in</strong>e Familiengruppe <strong>in</strong> das damalige Lehrl<strong>in</strong>gsheim In Werd 19, im 2.Wiener Geme<strong>in</strong>debezirk. Das Zuständige Team bestand aus neun Erziehern undErzieher<strong>in</strong>nen, die eng mit e<strong>in</strong>em zuständigen Psychiater und auch externen Speziallistenzusammenarbeiteten.Die Wohngeme<strong>in</strong>schaften befanden sich Mitten <strong>in</strong> der Stadt und waren organisatorisch an e<strong>in</strong>Heim angeschlossen.Unabhängig da<strong>von</strong>, ob e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d nun <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Heim oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wohngeme<strong>in</strong>schaftuntergebracht wurde, bestand das Ziel immer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em möglichst kurzen Aufenthalt. DieUnterbr<strong>in</strong>gung bis zur Volljährigkeit sollte, soweit möglich, vermieden werden. Gesprächemit Eltern, <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> und Sozialpädagogen sollten e<strong>in</strong>e Rückführung <strong>in</strong> die Familieermöglichen. In solchen Fällen konnten die Familien auch durch Nach- oderIntensivbetreuungen unterstützt werden.Im Lauf der Zeit wurden immer mehr Wohngeme<strong>in</strong>schaften gegründet, was e<strong>in</strong>e sukzessiveSchließung der Heime mit sich brachte. Schon 1985 wohnten <strong>in</strong> den acht WienerWohngeme<strong>in</strong>schaften 64 K<strong>in</strong>der, die <strong>von</strong> 32 Sozialpädagogen betreut wurden. 418.6 Stadt des K<strong>in</strong>desBeispielhaft für diese Reformbestrebungen war die 1974 eröffnete Stadt des K<strong>in</strong>des <strong>in</strong> Wien.Deren Leitung übernahm e<strong>in</strong> eigens gegründetes Kuratorium.Die Stadt des K<strong>in</strong>des bot Platz für 260 K<strong>in</strong>der zwischen drei und fünfzehn Jahren, die <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em <strong>von</strong> fünf Familienhäusern untergebracht waren. Jugendliche zwischen 15 und 19wohnten <strong>in</strong> sogenannten Jugendhäusern.Die Betreuung erfolgte <strong>in</strong> Gruppen mit bis zu zwölf <strong>K<strong>in</strong>dern</strong>. Diese Gruppen waren räumlich<strong>von</strong>e<strong>in</strong>ander getrennt und sollten durch Freizeitaktivitäten wie Sport Bezug untere<strong>in</strong>anderherstellen. 4241 Vgl. Chraiger S. 121-12342 Vgl. Chraiger S. 121


8.7 Heim 2000Am 24. Jänner 1991 fand e<strong>in</strong>e Enquete des Amtes für Jugend und Familie statt, die sich mitden aktuellen Problemen der Heimerziehung beschäftigte. Arbeitstitel dieser Reform lautete„Heim 2000“ und <strong>in</strong> den folgenden Jahren kam es zu e<strong>in</strong>er Reihe <strong>von</strong> Tagungen undArbeitskreisen. Im Zuge dieser Reform wurden Wiens Großheime wie, das HeimBiedermannsdorf und das Charlotte-Bühler-Heim geschlossen und die dort lebenden K<strong>in</strong>der<strong>in</strong> Wohngeme<strong>in</strong>schaften übersiedelt. 2002 zog die letzte Wohngruppe der Stadt der K<strong>in</strong>der <strong>in</strong>e<strong>in</strong>e Wohngeme<strong>in</strong>schaft. Die dafür vorgesehenen Immobilien den Sozialen Wohnbaus s<strong>in</strong>dzwischen 160 und 190 m2 groß. Jeweils acht K<strong>in</strong>der werden hier <strong>von</strong> Sozialpädagogen unde<strong>in</strong>er Wirtschaftshelfer<strong>in</strong> betreut. Alltägliche Arbeiten, wie Wäsche waschen, kochen,e<strong>in</strong>kaufen, etc. werden <strong>von</strong> den Jugendlichen selbst übernommen.Weiters wurden regionale Krisenzentren eröffnet, die den <strong>K<strong>in</strong>dern</strong> und Jugendlichen, denender Verbleib <strong>in</strong> den eigenen Familien nicht möglich war als erst Anlaufstelle dienten. Diedortige Aufenthaltsdauer war auf sechs Wochen begrenzt und ihr Ziel ist die Rückführung <strong>in</strong>die Familie.Auch noch nach der offiziellen Beendigung der Reform im Jahr 2003 kommt es laufen zuAuse<strong>in</strong>adersetzungen mit der Problematik <strong>von</strong> fremd untergebrachten <strong>K<strong>in</strong>dern</strong>. 43Als erstes urbanes SOS-K<strong>in</strong>derdorf <strong>in</strong> Österreich wurde im Jahr 2006 das SOS-K<strong>in</strong>derdorfWien <strong>in</strong> Floridsdorf/Jedlesee eröffnet. Die SOS-K<strong>in</strong>derdorf-Familien leben hier Tür an Türmit anderen Wiener Familien <strong>in</strong> neu errichteten Wohnhausanlagen.43 Vgl. Chraiger S. 142-150


9 Bibliografie[1] Blandow, Jürgen: Pflegek<strong>in</strong>der und ihre Familien – <strong>Geschichte</strong>, Situation undPerspektiven des Pflegek<strong>in</strong>dwesens, München 2004[2] Buchkremer, Hansjosef [Hrsg.]: Handbuch Sozialpädagogik – E<strong>in</strong> Leitfaden <strong>in</strong> dersozialen Arbeit, Darmstadt 2009³.[3] Chloupek, Carmen: E<strong>in</strong>e pädagogische Analyse der <strong>Geschichte</strong> und derStrukturbed<strong>in</strong>gungen <strong>von</strong> Heimen, Pflegefamilien und sozialpädagogischenWohngeme<strong>in</strong>schaften, Wien 2001[4] Craigher, Andrea: Fremdunterbr<strong>in</strong>gung im Wandel der Zeit – <strong>von</strong> Julius Tandler bis„Heim 2000“, Wien 2006[5] Jordan, Erw<strong>in</strong>: K<strong>in</strong>der- und Jugendhilfe – E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> <strong>Geschichte</strong> undHandlungsfelder, Organisationsformen und gesellschaftliche Problemlagen, We<strong>in</strong>heim2005².[6] Jugendamt der Stadt Wien: Gesellschaft, Jugend und Jugendwohlfahrt im Wandel derZeit, Wien 1989.[7] Scherpner, Hans: <strong>Geschichte</strong> der Jugendfürsorge, Gött<strong>in</strong>gen 1979².[8] Trede, Wolfgang: Adoption und Vollzeitpflege, <strong>in</strong> Schröer, Wolfgang [Hrsg]: HandbuchK<strong>in</strong>der- und Jugendhilfe, We<strong>in</strong>heim 2002.

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