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SFT 2/84 - Science Fiction Times

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12 <strong>Science</strong> <strong>Fiction</strong> <strong>Times</strong> 2/19<strong>84</strong> <strong>Science</strong> <strong>Fiction</strong> <strong>Times</strong> 2/19<strong>84</strong>13NACHRICHTENIVColin Wilson bezeichnet A VOYAGETO ARCTURUS in seinem Essay „Lindsayas Novelist and Mystic“ als ein Werkder Wissenschaft (science) und nicht derEinbildungskraft (imagination). DieseFormulierung scheint mißverständlich,denn was ist Wissenschaft ohne Einbildungskraft?Wilson unterstützt indessenseine Behauptung durch die Unterscheidungvon subjektiver und objektiverWeltauffassung. Er beruft sich dabei aufEinstein. „Einstein once said that his aimwas ‚perception of the world by thoughtleaving out everything subjective‘. Thisis the great drive behind science.“Lindsays Buch sprengt die emotionalenFesseln, die die meisten Menschendie längste Zeit ihres Lebens umgeben,und führt zur Erkenntnis der wahren Naturdes Menschen. Insofern steht hinterEMOTIONALEFESSELNseiner Imagination ein objektives Erkenntnisinteresse,das an keine bestimmteForm gebunden ist. „This obsessionwith the objective may no take a scientificform; it may be an obsession withmusic, painting, literature, nature, eventravel. It may also express itself as thereligious or mystical impulse. But it isalways the desire to escape the narrow,the personal, the contingent… 17 In diesemSinne gehört Lindsays Werk auchzur <strong>Science</strong> <strong>Fiction</strong> – nicht als literarischemGenre, sondern als seiner „Literaturerkenntnisbezogener Verfremdung“(Darko Suvin), deren Traditionen bis aufdie Mythen des Altertums zurückgehen.Lindsay kann historisch und genrespezifischwie Wells und Samjatin, dessen RomanWIR im gleichen Jahr erschien wieA VOYAGE TO ARCTURUS, als Vorläufereiner Gattung angesehen werden,der er trotz einer gewissen Gleichzeitigkeitniemals angehörte, wie die Entwicklungdieser Autoren einerseits und dieder <strong>Science</strong> <strong>Fiction</strong> als Massenliteraturandererseits deutlich macht.Hierbei steht A VOYAGE TO ARC-TURUS in einem klaren Gegensatz zuden Extrapolationen eines Wells und dernegativen Utopie Samjatins. Die sozialenund technologischen Innovationen,die integraler Bestandteil von WIR sind,liegen außerhalb der metaphysischenVON NIRGENDWODietrichWachlerÜber Dichtungund Visionim WerkDavidLindsays(Fortsetzung aus Heft 1/ 19<strong>84</strong>)und phantastischen Dimensionen derWelt des ARCTURUS. Dabei ist Lindsay– wie eine neuere Untersuchungvon Robert Scholes und Eric S. Rabkingezeigt hat – radikaler als seine sozialkritischenZeitgenossen: „Zamyatinrelentlessly applied science in his fictionto make us feel the frightening importanceof existential ambiguity; Lindsay,countryman of Shelley and Wells, cavalierlyovercomes science to arrive at theconsequences of that ambiguity: moralparalysis.“ 18Moralische Paralyse überfällt nichtnur Maskull, nachdem er, in der Mittedes Buches – im Kapitel „Tydomin“ –auf geheimnisvolle Weise nach Londonund in den Raum der Seance zurückversetzt,sich selbst als Jüngling erblickt hat(denn er selbst war offenbar das sich materialisierendePhantom) und von Kragerwürgt wird, um dann auf Tormanceweiterzuleben und Tydomin zu töten.Moralische Paralyse scheint das Gesetzzu sein, das auf diesem Planetenherrscht, das nur Täter und Opfer, nurMörder und Ermordete kennt. Es ist dieschreckliche Vision des großen Herrn„Jedermann“, – mag er nun Napoleon,Hitler oder Stalin heißen – der eine blutigeSpur durch die Geschichte zieht undmeint, das Recht auf seiner Seite zu haben.Moralische Paralyse ist schließlichauch der Kampf Surturs gegen den Kristallmannund ein metaphysisches Paradoxon:die Entzweiung der göttlichenAllmacht.Moralische Paralyse ist nur eine derKonsequenzen, die entstehen, wenn derhartnäckigsten aller menschlichen Illusionen,dem Glauben an eine irdischeoder überirdische Gerechtigkeit, derBoden entzogen wird. Bei Scholes/Rabkinheißt es: „Lindsay performs an evenmore radical reduction than Zamyatin’scollapse of technology in the symbol ofthe knife. Thus, he begins to create a frameworkof questions that need not concernscience at alt. When we finally seethe journey as a moral odyssey, and feelMORALISCHEPARALYSEthe despair of its painful message, thenLindsay has succeeded in entering thegreat flux of Western religious debate_He exploited fantasy to extend the rangeof science fiction into ultimately seriousmyth.“ 19Am Ende der metaphysischen Wanderungin A VOYAGE TO ARCTURUS,die zugleich eine moralische Odyssee ist,steht keine Antwort, sondern ein großesFragezeichen. Man möchte von einernegativen Theodizee sprechen. Aber esist vielleicht noch mehr. Es ist die Fragenach den Existenzgrundlagen einerabendländischen Menschheit, die sichauf Antike und Christentum beruft undheute vor der Möglichkeit ihrer physischenund moralischen Selbstvernichtungsteht. Die Frage, die Jean Paul inder „Rede des toten Christus vom Weltgebäudeherab, daß kein Gott sei“ stellte,und die Nietzsche aufwarf, als er Zarathustrazu sich selbst sagen ließ: „Solltees denn möglich sein! Dieser alte Mannhat in seinem Walde noch nichts davongehört, daß Gott tot ist.“ 20Nietzsche war es bekanntlich, der sichfür den ersten konsequenten NihilistenEuropas und zugleich für den Überwinderdes modernen Nihilismus hielt. Dieallumfassende Krise, der durch „Umwertungaller Werte“ entgegengearbeitetwerden soll, hat vor der Literatur nichthaltgemacht und in Lindsays Werk einenadäquaten Ausdruck gefunden. Das BeispielA VOYAGE TO ARCTURUS zeigtauf unübertreffliche und eindrucksvolleWeise die Ambivalenz des Mythos in einerglaubenslosen Zeit. In mythisch-allegorischerDarstellung wird uns die Erkenntnisvermittelt, daß die alten Tafelnund Werte – ganz im Sinne Nietzsches –keine Geltung mehr haben und daß selbstReligionen und Mythen nur vorläufigeBeschreibungen oder Umschreibungendessen sind, was wir für ewige Wahrheitengehalten haben und halten. Unterdiesem prinzipiellen Aspekt erscheinteine literarische Plazierung Lindsaysund seines ungewöhnlichen Oeuvres, dieEXISTENZ-GRUNDLAGE DERABENDLÄNDISCHENMENSCHHEITsprach in einem sehr viel engeren Sinnedem Bewußtsein ihrer Generation oderdes modernen bzw. sich modern gebärdendenEuropäers mit der skeptischenGrundeinstellung, die bei aller WachundBewußtheit dem Irrationalen gelegentlichwieder in die Arme läuft, als dieLindsays. Bei allen Widerständen, diebisher nur ansatzweise versucht wurde,vielleicht nicht mehr so schwierig. Lindsayfüllt in der englischen literatur seinerZeit und Generation eine Lücke aus, dieselbst durch einen William Butler Yeats,durch James Joyce, Virginia Woolf, D_H. Lawrence oder T. S. Eliot nur unzulänglichgeschlossen wurde, obgleichgerade die literarische Geltung dieserAutoren, zwischen denen und Lindsaytrotz der zeitlichen Nachbarschaft wenigQuerverbindungen bestehen, unbestrittenist. Was für umwälzende Neuerungenvor allem sprachlicher Art für Prosa undLyrik beispielsweise das Erscheinen desULYSSES (1922) von Joyce oder vonT. S. Eliots THE WASTE LAND (1922)zur Folge hatte, braucht hier lediglichfestgestellt zu werden, um das beinahegleichzeitige Erscheinen der beidenersten Romane von David Lindsay – AVOYAGE TO ARCTURUS (1920) undTHE HAUNTED WOMAN (1922) –in ein geistiges Niemandsland fallen zulassen. Der Grund für diese auffallendeDivergenz zwischen inhaltlicher Aussageund Wirkung scheint vor allem inder sprachlich-literarischen Attitüde zuliegen. Joyce und Eliot waren „Modernisten“– wenn auch sehr traditionsbewußte–, die Sprache und Syntax erneuertenund teilweise zerstörten, um neue Ausdrucksmittelzu finden. Ihre Diktion ent-SPRACHLICH-LITERARISCHEATTITÜDEetwa Joyce zu Lebzeiten und noch späterfand, entsprach seine Meinung, daßdie normale Syntax, Grammatik etc. unddie Strukturen des traditionellen Romans– Identität und Linearität von Personenund Handlungen – nicht ausreichten, umdas auszudrücken, was er der Welt mitzuteilenhabe, genau der Ansicht jenerSchicht von Intellektuellen, die glauben,es genüge vor allem, eine kompliziertePsyche zu haben und dies andere wissenzu lassen, um so die Welt mittels des ei-Die Fensterleibung bot wegen der Dickeder Außenmauer reichlich Platz …Zu seiner Verblüffung entdeckte er,daß es kein Fenster war … (er) sahzwei sehr helle Sterne … und in ihrerNähe ein …planetarisches Objekt.David Lindsay,DIE REISE ZUM ARKTURUSgenen Interessantheitsgrades und der ungeheuerlichenSchwierigkeiten, die manhat, das zu sagen, was man sagen möchte– vorausgesetzt, man hat überhauptetwas zu sagen –, einen Schritt weiter·zubringen.Demgegenüber schreibt Lindsay in einereinfachen, nüchternen und ungebrochenenSprache, bedient sich traditionellerErzählstrukturen und verläßt nirgendsdie gewöhnliche Syntax. Es gibt wenig„unusual words“ bei diesem Autor, unddoch wirken alle seine Romane, je häufigerund je genauer man sie liest, ganzund gar „unusual“. Er scheint in einerungebrochenen Tradition der englischensogenannten „metaphysical poets“ – alsoJohn Donnes, John Miltons, John Bunyansund William Blakes – zu stehen, obgleicher – wie Visiak bezeugt hat – jedeArt von „poetry“ (oder was man zu seinerZeit darunter verstand) ablehnte.Ein moderner metaphysischer Dichteralso, der Dichtung ablehnt und stattdessenErkenntnistheorie betreibt? Daserscheint widersinnig und unmöglich,wenn wir nicht wiederum auf das Beispielund möglicherweise auch VorbildNietzsches verweisen könnten, der denDichtern mißtraute und gleichzeitig einDichter war. Nietzsche wußte also auseigener Erfahrung, mit wem er zu tunhatte, als er den Dichtern vorwarf, sielögen zu viel. Und Lindsay, ein englischerNachfahre Miltons und Blakes,der PARADISE LOST, die PROPHE-TIC BOOKS und THE MARRlAGEOF HEAVEN AND HELL gelesen undverstanden hatte, zog es vor, die Botschaftseiner Vorgänger unmittelbar indie Gegenwart weiterzutragen, auf dieGefahr hin, nicht verstanden zu werden,weil sie einem Bewußtsein, das sich dem„stream of consciousness“ ausgelieferthatte, nicht adäquat war und philosophisch-psychologischen Bedenken bezüglichseiner „Modernität“ nicht standhielt.Wir haben hier den ganz seltenenFall eines Propheten, der in seinem Vaterlandnichts galt und gilt, obwohl oderweil er kein Prophet sein wollte. DieLüge, die es auch in der Literatur gibt –an solchen Gestalten wird sie offenbar.Das „Genie“ dieses Dichters – ich wählediese Bezeichnung mit dem gleichen Bedacht,mit dem sie seine drei englischenEntdecker, Pick, Wilson und Visiak, verwandthaben – mußte unerkannt bleibenin einer Zeit, die sich so ganz andersverstand, wobei die Frage unbeantwortet

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