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Download - juridikum, zeitschrift für kritik | recht | gesellschaft

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justiz und randgruppenschule bewusst wahrgenommen werden, wie sie diese beidenFaktoren im Rahmen der Gutachtenserstellung bewerten undwelchen Stellenwert sie ihnen zumessen, welche Erwartungenund Bedürfnisse die ProbandInnen aufweisen und wie sie dieBegutachtungssituation erleben.Das Risiko von GefährlichkeitsprognosenPrognostizieren ist eine Alltagstätigkeit, die sich in sämtlichenBereichen des Lebens findet und unser Handeln und seine Auswirkungbestimmt. Wie man im täglichen Leben zu einer Prognosedes Verhaltens kommt, ist relativ wenig untersucht. Jedezielgerichtete soziale Aktion basiert auf einer Prognose der Aktionund Reaktionen anderer Beteiligter. Im Alltag handelt essich gewöhnlich um bestimmte Situationen, die das Verhalteneines anderen interessant machen. Die verschiedenen Situationseinflüsse,auch des eigenen Einflusses darauf, sind weitgehendbekannt, die Reaktion anderer darauf lassen sich aufgrundvon Erfahrungen einschätzen. Wir prognostizieren dabei in ersterLinie die Stärke einer Gewohnheit und nicht das Auftreteneines gänzlich neuen Verhaltens (Steinert 1969). Im Falle einerGefährlichkeitsprognose ist die Situation aber komplexer: dieReaktion des Betroffenen in Situationen, in die er kommenkann oder sich bringen wird, ist wie sein Verhalten in diesenSituationen unbestimmt. Auch der Effekt der verfügbaren therapeutischenoder anderer Maßnahmen wird damit beurteilt.Gleichzeitig ist jede mitgeteilte Prognose auch eine Rollenzuschreibung,die als solche ebenfalls Wirkung hat: man kann dieVoraussagbarkeit benützen, um das voraussagbare Verhaltenzu beeinflussen, zu verändern. Die Prognose wird umso unzuverlässigerausfallen, je weiter sie in die Zukunft gerichtet ist.Menschliches Verhalten ist ein Verhalten in einer unvorhersagbarenUmwelt, es folgt einer innerpsychischen Dynamik, diesich einer objektiven Beurteilung weitgehend entzieht. Die Angemessenheitder Zielsetzung, nämlich menschliches Verhaltenvorauszusagen, kann unter diesem Blickwinkel nur in Fragegestellt werden. Es ist menschlichem Verhalten nicht angemessen,es als prognostizierbar zu betrachten. Für die Politik unddie Gesetzgebung steht die Angemessenheit der Zielsetzung jedochaußer Frage.Bei der vom Gesetz geforderten Prognoseerstellung handeltes sich um eine normative Beurteilung bestimmter Risikosachverhalte.Strafbares Verhalten und diesbezüglicheRückfälligkeit sind jedoch nicht ident mit Gefährlichkeit. Gefährlichkeitwird von anderen wahrgenommen auf der Basisvon dem, was eine Person gesagt oder getan hat. Daraus wirdkünftiges gefährliches Verhalten abgeleitet. Gefährlichkeit istein soziales Konstrukt, keine psychiatrische Diagnose. Es verwundertdaher auch nicht, dass PsychiaterInnen bei der Prognosevon künftigem gefährlichem Verhalten nicht besser abschneidenals Laien. Der Baxstrom-Fall in den USA eröffnetedurch die Entlassung von als gefährlich eingestuften PatientInnendie Möglichkeit, die Einschätzung der „irrtümlich“für gefährlich gehaltenen Personen zu überprüfen. Baxstromwurde aufgrund eines Verfahrensfehlers entgegen den Empfehlungender PsychiaterInnen entlassen. Aufgrund dieserEntscheidung wurden weitere 967 als gefährlich eingestufteTäterInnen entlassen. Lediglich 20 % dieser TäterInnen wurdenwieder gewalttätig (Monahan 1973).Die Analyse von Vollzugslockerungsentscheidungen undEntlassungsgutachten im Maßnahmenvollzug – wo die Abnahmeder Gefährlichkeit als entscheidende Entlassungsvoraussetzunggilt – zeigt darüber hinaus, dass trotz aller Forschungsbemühungen,nach wie vor das aktuelle Delikt sowie die Vorstrafenmehr die Gefährlichkeitsbeurteilung beeinflussen, alspsychiatrische Daten. Dieser Umstand macht eine psychiatrischeBegutachtung eigentlich überflüssig, da das Gericht dieseFakten auch ohne Unterstützung eines/einer Sachverständigenbeurteilen könnte.Gefährlichkeitsprognosen sind zweifellos riskant, denn siesind ungeeignet, menschliches Verhalten in einer unbekanntenZukunft vorauszusagen. Ihre Gefährlichkeit besteht letztendlichin der Vortäuschung einer falschen Sicherheit, dennGefährlichkeitsprognosen tragen kaum zur öffentlichen Sicherheitbei. Nur bei einer kleinen und extrem selektiertenMinderheit der Bevölkerung findet überhaupt eine Gefährlichkeitsbeurteilungstatt: bei psychisch Kranken und Personen,die Gewaltdelikte begangen haben. Gefahren und Gewalttätigkeitsind jedoch so verbreitet und drohen der Gesellschaftvon verschiedenen Seiten (rücksichtsloses Autofahren,Ignorieren von Sicherheitsbestimmungen von Fabriken, Fluglinien,etc.), dass der Effekt eine ausgewählte Minderheit dahingehendzu untersuchen und wegzusperren, insignifikantfür die Sicherheit im allgemeinen ist. Das Risiko der Gefährlichkeitsprognoseist kein Methodenproblem. ZuverlässigePrognosen gibt es nicht. Es geht mehr um eine politische Fragestellungals um eine psychiatrische: Wieviel Risiko ist zumutbarund wer soll es tragen? Wenn sich etwa das prognostizierteVerhalten Gewalttätigkeit – wie im oben zitierten Baxstrom-Fall– nur bei jedem/jeder fünften TäterIn bestätigt, soist es in erster Linie eine Frage des <strong>gesellschaft</strong>lichen Konsenseszu entscheiden, ob riskiert wird, dass 4/5 der TäterInnentrotz unzutreffender Prognose weiter in Haft sind oderdass jeder/jede fünfte TäterIn rückfällig wird. In diesem Zusammenhangsind GutachterInnen und JuristInnen aufgefordert,auch aktuelle politische Entwicklungen zu hinterfragen.Werden psychiatrische Gutachten in Zukunft aus anderen Anlässenals bisher angefordert werden? Etwa im Sinne einer Sicherheitspolitik,die sich weg vom Gedanken der Behandlungund Resozialisierung hin zur Identifizierung von für „gefährlich“gehaltener Gruppen wie AusländerInnen, Drogenabhängigen,psychisch Kranken etc. entwickelt und sich damit <strong>gesellschaft</strong>spolitischerEntscheidungen entledigen und diese anExpertInnen delegieren möchte?Begutachten und urteilenAuch der Frage nach der Fähigkeit von RichterInnen undStaatsanwältInnen, fehlerhafte Gutachten zu erkennen, wurdein einigen Untersuchungen nachgegangen. Während Plewig(1983) konstatierte, dass sich JuristInnen der Argumentationvon Sachverständigen häufig ausgeliefert fühlen, wurde in eineranderen Untersuchung (Dittmann 1988) eine hohe Kritikfähigkeitgegenüber Gutachten feststellt. Interessant ist eineUntersuchung von Wolff (1995), der anhand einer Diskursanalysezu folgendem Schluss kommt: "Aus soziologischer Sichtreduziert sich die Rolle der Psychiatrie in juristischen Verfahrenweder auf die Bereitstellung von Diagnosen, erfahrungswissenschaftlichenErgebnissen und Gesetzen, noch darauf, derJustiz nach dem Munde zu reden. Vielmehr arbeitet die Psychiatriean der praktischen Bewältigung bestimmter zentraler Systemproblemejuristischer Verfahren mit, die in keinem unmit-<strong>juridikum</strong> 2004 / 4 Seite 205

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