echt & <strong>gesellschaft</strong>der Aufgabenstellung der Bezirksvertretungen,nur die unmittelbaren Lebensbedingungenim Bezirk zu regeln,begegnet.5. Das ErkenntnisDer VfGH gab der Anfechtung Rechtund hob die Bestimmungen zur Einführungdes Wahl<strong>recht</strong>s auf Bezirksebenefür Drittstaatsangehörige mit Entscheidvom 30.06.2004 (G 218/03) als verfassungswidrigauf. Er setzte sich nur mitder Frage des Wahl<strong>recht</strong>s auseinander,die anderen in der Anfechtung genanntenPunkte blieben unbehandelt.Die Argumentation des VfGH ist bedenkenswert.Er stellt zuerst fest, dassdas wahl<strong>recht</strong>liche Homogenitätsprinzipein in den Grundzügen einheitlichesWahl<strong>recht</strong> für alle allgemeinen Vertretungskörpernverlange (S. 35 f) und zuklären sei, ob die Wiener Bezirksvertretungensolche allgemeine Vertretungskörperseien. Nach einer Analyseder entsprechenden Bestimmungen derWiener Landesgesetze zählt er die Argumenteauf, die dafür sprechen, ohnesich jedoch festzulegen. In der Folgestellt er fest, dass das das Wahl<strong>recht</strong> zuden Bezirksvertretungen bei Unionsbürgernals Realisierung des ihnen zustehendenWahl<strong>recht</strong>s zu einer „lokalenGebietskörperschaft der Grundstufe“gelte, man hier sehr wohl davonausgehe, dass diese die Repräsentationsorganeauf unterster politischer undadministrativer Stufe seien (S. 46). Allerdingsverfolgt der VfGH dieses Argument,das deutlich gegen die Argumentationslinieder Stadt Wien spricht,die die Bezirksvertretungen nicht alsallgemeine Vertretungskörper qualifiziert,nicht weiter. Möglicherweisedeshalb, da diese Debatte unausweichlichzur Frage geführt hätte, ob nachdem EU-Beitritt Österreichs und derAusweitung des Kommunalwahl<strong>recht</strong>sauf UnionsbürgerInnen die Argumentationeiner wahl<strong>recht</strong>lichen Homogenitätnoch so ohne weiters auf<strong>recht</strong>erhaltenwerden kann.Statt dessen übernimmt der VfGH diePerspektive der Wiener Landesregierung,dass die ausdrücklichen verfassungsgesetzlichenRegeln nur für die imB-VG genannten Vertretungskörpergelten, aus dem B-VG also für die Beantwortungder Frage des Charaktersder Bezirksvertretungen nichts zu gewinnensei. (S. 47).Dieser Abwägung, aus der prima vistaeine Rückweisung der Anfechtungfolgen müsste, folgt jedoch ein Argumentationsschwenk,der aus einemLehrbuch des Nationalismus des 19.Jahrhunderts stammen könnte. Der Vf-GH fährt fort (S. 47 f):„Von entscheidender Bedeutung istaber – und insoferne sind die Antragstellermit ihrer Anfechtung im Recht – dassdie genannten Bestimmungen ..., die dasWahl<strong>recht</strong> zum Nationalrat, zu denLandtagen und zu den Gemeinderäten… österreichischen Staatsbürgerinnenund Staatsbürgern vorbehalten, ihrerseitsnur eine nähere Ausgestaltung desdemokratischen Grundprinzips der österreichischenBundesverfassung darstellen.Dieses ist im Art. 1 B-VG wiefolgt geregelt:‚Österreich ist eine demokratischeRepublik. Ihr Recht geht vom Volk aus.’Der in dieser Bestimmung verwendeteBegriff des Volkes knüpft aber – wieder Verfassungsgerichtshof schon inseinem Erkenntnis VfSlg. 12.023/1989im Zusammenhang mit dem Begriff desBundesvolkes iSd Art. 26 B-VG dargetanhat – an die österreichische Staatsbürgerschaftan. … ‚Auch eine Bedachtnahmeauf Art. 8 Abs. 1 des Staatsvertragsvon Wien, BGBl. 152/1955 …macht … deutlich, dass der Besitz derösterreichischen Staatsbürgerschaft dasmaßgebliche Kriterium für die Zugehörigkeitzum Bundesvolk darstellt.’Die Änderung, die Art. 1 B-VG durchden Abschluss des EU-Beitrittsvertrags… erfuhr und der zu Folge das „Recht“der Republik Österreich nunmehr nichtallein vom „Volk“, sondern zum Teilvon Gemeinschaftsorganen „ausgeht“,ist hier ohne Belang.“Mit diesem Argument verknüpft derVfGH den demokratischen CharakterÖsterreichs mit dem Staatsbürgervorbehaltbeim Wahl<strong>recht</strong> und distanziertsich damit weit von der Demokratieentwicklungin anderen europäischen Ländern,die ua auch durch eine Ausweitungdes kommunalen Wahl<strong>recht</strong>s aufDrittstaatsangehörige gekennzeichnetist. Zudem beruft sich der VfGH auf einvor dem Beitritt Österreichs zur EU ergangenesErkenntnis, ohne die durchden EU-Beitritt eingetretenen Änderungenzu reflektieren. Die Gleichsetzungdes Volksbegriffs mit der Summeder Staatsbürger ist nicht nur ein Rückschrittin eine völkische Staatskonzeptiondes 19. Jahrhundert, die schon zuBeginn des 20. Jahrhunderts massiv kritisiertwurde (sieh zB Jellineks Kritikaus 1914, zit in Feik 2003, FN 24), sondernwiderspricht auch dem im Vertragvon Maastricht zu Recht gewordenemKonzept der Europäischen Bürgerschaft,das EU-BürgerInnen mit Staatsangehörigen,ua beim kommunalenWahl<strong>recht</strong>, weitgehend gleichstellt unddamit die Gleichung Staatsvolk = Summeder StaatsbürgerInnen klar bricht.Schon gar nicht nimmt das Urteil Notizvon den Schlussfolgerungen des EuropäischenRats von Tampere, demgemäßDrittstaatsangehörige nach einer bestimmtenAufenthaltsdauer <strong>recht</strong>lichweitestgehend mit Staatsangehörigengleichgestellt werden sollten. Dass derVfGH nicht auf die Bedeutung der Ausweitungdes kommunalen Wahl<strong>recht</strong>sauf UnionsbürgerInnen für das wahl<strong>recht</strong>licheHomogenitätsprinzip eingeht,sondern stattdessen apodiktischfesthält, dass der Beitritt zur EUschlicht keine Rolle spiele, ist ein weiteresZeichen dafür, dass das Hohe Gerichtmit seiner wortorientierten Auslegungdes Art 1 B-VG noch nicht ganzin Europa angekommen ist: Bei Kommunalwahlensind UnionsbürgerInnenzweifelsohne Teil des Souverän, undnicht umsonst schlug der Präsident desVfGH, Karl Korinek, nach dem BeitrittÖsterreichs zur EU eine entsprechendeAdaptierung des Art 1 B-VG vor.6. Causa finita?Was bedeutet dieses Erkenntnis auf politischerEbene, welche Strategien könnennun eingeschlagen werden?Nachdem mit dem VfGH-Erkenntnisdie Teilnahme von Drittstaatsangehörigenan Kommunal- und Bezirksvertretungswahlenausgeschlossen ist und derVfGH zudem ein zutiefst nationalistischesVerfassungsdenken zeigte, ist eshöchst an der Zeit, dass das Thema„Wahl<strong>recht</strong> für Drittstaatsangehörige“auf die Tagesordnung des Verfassungskonventskommt. Bisher haben sich wederSPÖ noch Grüne dafür besondersstark gemacht, beide kündigen jedochin Reaktion auf das Erkenntnis an, neueSchritte setzen zu wollen. Hierbei wärees vor allem nötig, die Debatte mit dereuropäischen Diskussion der Entwicklungeiner europäischen Zivilbürgerschaftzu verknüpfen, die als Zwischenstatuszwischen AusländerInnen undSeite 180 <strong>juridikum</strong> 2004 / 4
echt & <strong>gesellschaft</strong>StaatsbürgerInnen langansässige MigrantInnenim Wesentlichen mit UnionsbürgerInnengleichstellen sollte. DieEuropäische Kommission hat in diesemZusammenhang mehrfach auf die Bedeutungdes kommunalen Wahl<strong>recht</strong>sals Integrationsinstrument hingewiesen,und eine Gleichstellung mit UnionsbürgerInnenmüsste logischerweiseauch das kommunale Wahl<strong>recht</strong> beinhalten.Dazu ist jedoch innerstaatlicheine Verfassungsänderung nötig, undder zurzeit tagende Konvent bietet einegute Möglichkeit, die Diskussion voranzutreiben.Ob eine derartige Verfassungsänderungpolitisch realisierbar ist, ist jedochfraglich. Daher bedarf es als zweites einerErgänzungsstrategie, nämlich derDurchsetzung leichterer Einbürgerung.Auch in diesem Bereich ist Österreichein europäisches Schlusslicht mit langenWartezeiten, hohen Kosten undschwierigen sonstigen Voraussetzungen.Zudem ist Österreich eines der wenigenLänder Europas, das Doppelstaatsbürgerschaftnicht duldet – es gibtalso genug Handlungsbedarf. Da derZugang zur Unionsbürgerschaft übersehr unterschiedliche nationalstaatlicheEinbürgerungsregeln erfolgt, hat dieEuropäische Kommission hier zwarnoch keine <strong>recht</strong>liche Kompetenz, aberdurchaus einen Fuß in der Tür. Sie plantdaher die regelmäßige Veröffentlichungvon „good practices“ und will so einenKoordinierungsprozess in Gang setzen,dem sich auch Österreich nicht entziehenkönnen wird.Last, but not least, könnten die zukünftigenErweiterungsrunden das Problemquantitativ entschärfen: Mit einemBeitritt der Türkei und später der Balkanländerwürde, da UnionsbürgerInnenja automatisch das kommunale Wahl<strong>recht</strong>besitzen, die quantitative Dimensionder Thematik deutlich schrumpfen,ohne dass das grundlegende Problemgelöst würde.Welche Strategie die meisten Erfolgschancenhat, hängt ganz massiv vomEngagement der VertreterInnen vonSPÖ und Grünen im Konvent sowie davonab, ob sie Reformen in diesem Bereichzu einer Bedingung für die Regierungsteilnahmenach den nächstenWahlen machen. Sowohl die SPÖ wiedie Grünen forderten im Konvent mehrfachdas kommunale Ausländerwahl<strong>recht</strong>für MigrantInnen, dies stieß jedochbei den Regierungsparteien auftaube Ohren. Die kürzlich bestellte WienerIntegrationsstadträtin Sonja Wehselygriff das Thema in mehreren Interviewsund Presseaussendungen engagiertauf, doch bisher fanden dieseVorschläge im Konvent keine Mehrheit.Allerdings forderte kürzlich auch derGrazer ÖVP-Bürgermeister das kommunaleAusländerwahl<strong>recht</strong>, was möglicherweiseauf ein Aufbrechen der starrenLinie in der ÖVP hinweisen könnte.Realistisch gesehen, dürfte die Fragewohl erst nach den Wahlen 2006 bei denKoalitionsverhandlungen geklärt werden.Es ist zu hoffen, dass dann nichtwahltaktische Manöver, sondern dieSorge um die politischen Teilhabe<strong>recht</strong>eeines großen Teils der Bevölkerung dieEntscheidungen bestimmen werden,denn sonst wird es wohl bis nach denletzten Erweiterungsrunden brauchen,bis die größten Gruppen der MigrantInnenzumindest auf kommunaler Ebenemitbestimmen können. Wer dann nochDrittstaatsangehörige/r ist, hat Pech gehabt– denn auch im 21. Jahrhundert istder rote Pass die entscheidende Voraussetzungdafür, eine Wahl zu haben.Literatur:Feik, Rudolf (2003). Staatsbürgerschaftals Mittel oder als Folge der Integrationeiner nichtösterreichischen Person.Zugleich eine Besprechung derStaatsbürgerschaftsgesetz-Kommentarevon Brugger/Unterweger und Matzka/Bezdeka.In: Journal für Rechtspolitik11, S. 96–112.Koja, Friedrich (1988). Das Verfassungs<strong>recht</strong>der Österreichischen Bundesländer.Wien (Springer).Ponzer, Josef/Cech, Gerhard (2000).Die Verfassung der BundeshauptstadtWien. Wien (Orac).Dr. Bernhard Perchinig,Research Fellow am Institut fürEuropäische Integrationsforschungder ÖsterreichischenAkademie der Wissenschaften;bernhard.perchinig@oeaw.ac.at.<strong>juridikum</strong> 2004 / 4 Seite 181