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DIE NEUE ORDNUNG - Tuomi

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<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong><br />

<strong>ORDNUNG</strong><br />

begründet von Laurentius Siemer OP<br />

und Eberhard Welty OP<br />

Nr. 3/2003 Juni 57. Jahrgang<br />

Editorial<br />

Wolfgang Ockenfels, Die Entdeckung des<br />

Gemeinwohls<br />

Manfred Spieker, Der Krieg gegen Saddam<br />

Hussein. Zur Ethik des Irak-Konflikts<br />

Ursula Nothelle-Wildfeuer, „Frieden ist<br />

möglich“ – Ist Frieden möglich?<br />

Hans Thomas, Vom gentechnischen Segen<br />

zum Klonen des Menschen<br />

Johannes Christian Koecke, Zur bioethischen<br />

Debatte. Argumentationsstrategische<br />

Überlegungen<br />

Klaus Friedrich Kempfler, Rechtsbewußtsein<br />

und Rechtserziehung<br />

Bericht und Gespräch<br />

Lothar Roos, Wahre und falsche „Laizität“.<br />

Zur „politischen Note“ Roms<br />

Hubert Hüppe, „C“-Positionen in der CDU<br />

Paul Johannes Fietz, Säkularisation und<br />

Säkularisierung. Zum 38. Essener Gespräch<br />

Besprechungen<br />

162<br />

164<br />

181<br />

194<br />

204<br />

212<br />

223<br />

228<br />

232<br />

236<br />

Herausgeber:<br />

Institut für<br />

Gesellschaftswissenschaften<br />

Walberberg e.V.<br />

Redaktion:<br />

Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />

Heinrich Basilius Streithofen OP<br />

Bernd Kettern<br />

Redaktionsbeirat:<br />

Stefan Heid<br />

Martin Lohmann<br />

Edgar Nawroth OP<br />

Herbert B. Schmidt<br />

Günter Triesch<br />

Rüdiger von Voss<br />

Redaktionsassistenz:<br />

Andrea und Hildegard Schramm<br />

Druck und Vertrieb:<br />

Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />

53708 Siegburg<br />

Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />

Die Neue Ordnung erscheint alle<br />

2 Monate<br />

Bezug direkt vom Institut<br />

oder durch alle Buchhandlungen<br />

Jahresabonnement: 25,- €<br />

Einzelheft 5,- €<br />

zzgl. Versandkosten<br />

ISSN 09 32 – 76 65<br />

Bankverbindungen:<br />

Sparkasse Bonn<br />

Konto-Nr.: 11704533<br />

(BLZ 380 500 00)<br />

Postbank Köln<br />

Konto-Nr.: 13104 505<br />

(BLZ 370 100 50)<br />

Anschrift der<br />

Redaktion und des Instituts:<br />

Simrockstr. 19<br />

53113 Bonn<br />

Tel. + Fax Redaktion: 0228/222323<br />

Tel. Institut: 0228/21 68 52<br />

Fax Institut: 0228/22 02 44<br />

Unverlangt eingesandte Manuskripte und<br />

Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />

Verlag und Redaktion übernehmen keine<br />

Haftung<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />

geben nicht unbedingt<br />

die Meinung der Redaktion wieder.<br />

Nachdruck, elektronische oder photomechanische<br />

Vervielfältigung nur mit<br />

Genehmigung der Redaktion<br />

http://www.die-neue-ordnung.de<br />

161


Editorial<br />

162<br />

Die Entdeckung des Gemeinwohls<br />

Ein klassisches, scheinbar konservatives Ordnungsprinzip wird wiederentdeckt.<br />

Wenn alle Stricke reißen, an denen unser Sozialsystem und auch unser künftiger<br />

Wohlstand hängen, kommt man gerne wieder auf das gute alte Gemeinwohl zu<br />

sprechen: Um die Opfer zu rechtfertigen, die nun für das größere Ganze gebracht<br />

werden sollen. Um die widerstreitenden Interessen ein wenig zu disziplinieren<br />

und die hohen Ansprüche zu beschneiden. Kurzum, der Ordnungsrahmen des<br />

Staates soll eine straffere Façon erhalten, nach der seine Bürger zwar nicht selig,<br />

aber etwas ruhiger werden und sicherer leben.<br />

Nie hätten sich die Achtundsechziger damals auf das Gemeinwohl berufen, das<br />

bei ihnen unter Ideologieverdacht stand. Erst wer in vorgerücktem Alter zur<br />

politischen Herrschaft und zur Einsicht gelangt, daß die utopischen Blütenträume<br />

von Autonomie und Emanzipation, von Fortschritt und Wachstum auf Dauer<br />

nicht in Erfüllung gehen, wird bescheiden und konzentriert sich auf das Gemeinwohl.<br />

Dieses strenge Prinzip markiert den Ernst des politischen Lebens, den<br />

Abschied von Träumen und Visionen, für die das Geld nicht mehr reichte, den<br />

langsamen Abschied auch vom Leben auf Pump.<br />

Jetzt muß das Gemeinwohl für das ökonomisch Notwendige herhalten, als Bremse,<br />

die überzogene Forderungen drosselt. Besser hätte man es rechtzeitig als Maß<br />

für das sozialethisch Wünschenswerte ernstgenommen. Nämlich als prinzipielles<br />

Ziel einer Ordnung, die nicht allen mehr, noch mehr und immer mehr Wohlfahrt<br />

verheißt, sondern gerechte Teilhabe an den Rechten und Pflichten gewährt. Die<br />

sozialpolitischen Reformen ereignen sich einstweilen noch in Form der vielen<br />

kleinen Korrekturen, die euphemistisch als „Modernisierung“ ausgegeben, aber<br />

doch nur als Abstriche von mühsam erkämpften Errungenschaften wahrgenommen<br />

werden. Die schmerzhaften Einzeleingriffe der staatlichen Reparationsanstalt<br />

werden dann gerne mit dem Hinweis auf das Gemeinwohl gerechtfertigt,<br />

das gerade von den Modernisierern als Trostpflaster mißbraucht wird. Dabei<br />

wäre es nötig, mithilfe dieses Ganzheitsprinzips endlich einmal die Gesamtentwicklung<br />

unserer Gesellschaftsordnung in den kritischen Blick zu nehmen.<br />

Dies betrifft vor allem die prekäre Rolle des Staates, der als Rechtsstaat moralisch<br />

abgedankt und sich als Sozialstaat moralisch und finanziell übernommen<br />

hat. Er schwankt zwischen Dirigismus und Chaos, zwischen dem Machtwort<br />

„Basta!“ und den „Nachbesserungen“ aufgrund des gesellschaftlichen Drucks.<br />

Bei den Rückzugsgefechten des Sozialstaats verwickeln sich vor allem die Interessenverbände<br />

in immer neue und schärfere Verteilungskämpfe. Da stellt sich<br />

erneut die Frage nach einem übergeordneten Schiedsrichter, der nicht Partei oder<br />

Interessenvertreter ist. Und nach einem Integrationsfaktor, der nicht nur Freiheitsrechte<br />

gewährt, sondern auch in die soziale Pflicht zu nehmen weiß.


Beim Gemeinwohl geht es ums Ganze, d.h. um das gemeinsame Wohl aller in<br />

einer Gesells chaft. Wir brauchen eine staatliche Ordnung, die das Wohl der einzelnen,<br />

das vom Wohl aller abhängt, im Gemeinwohl integriert. Die „vaterlose“<br />

antiautoritäre Gesellschaft tut sich freilich schwer, einem Staat auch die nötige<br />

Autorität einzuräumen, damit er die konkurrierenden Interessen und Machtansprüche<br />

so koordinieren kann, daß sie dem Wohl aller zugute kommen. Gleichwohl<br />

ruft dieselbe Gesellschaft ständig nach dem „Vater Staat“, wenn es darum<br />

geht, eigene Rechte zu wahren und lästige Pflichten auf andere abzuwälzen.<br />

Nach christlicher Tradition bedeutet das gemeinsame Wohl von freien Personen<br />

für den Staat, daß er der Eigenverantwortung seiner Bürger zunächst den Vortritt<br />

läßt. Das Gemeinwohl ist also nicht zentralistisch, sondern nach dem Subsidiaritätsprinzip<br />

aufzubauen. Daran sind alle Interessenten, vor allem Gruppen und<br />

Verbände zu beteiligen. Wir benötigen diese zivilgesellschaftlichen Akteure und<br />

intermediären Instanzen, die zwischen Individuen und Staat vermitteln, für die<br />

staatliche Entscheidungsfindung. Weil der Staat nicht allwissend ist.<br />

Über das, was zum Gemeinwohl führt oder nicht, herrscht eine bunte Vielfalt<br />

von Vorstellungen, die sich widersprechen und miteinander konkurrieren. Während<br />

die Verbände nur für ihre Mitglieder sprechen, darf sich der Staat auf das<br />

Wohl und den Willen aller Bürger berufen. Er rundet die gesellschaftliche Willensbildung<br />

ab und erklärt einen politischen Gesamtwillen als verbindlich, der<br />

als gemeinwohldienlich anerkannt werden soll. Das macht den Staat keineswegs<br />

allmächtig. In der Demokratie ist politische Macht vielfältig geteilt und kontrolliert.<br />

Sie ist hierzulande völlig eingeschränkt, weil es zu gegenseitigen Blockaden<br />

der Gewalten kommt. Politikern bleibt oft nur noch die Rolle derer, die<br />

„Verantwortung tragen“, während die eigentlichen Entscheidungen in anonymen<br />

Gremien der Bürokratie, der Wissenschaft und der Interessenverbände gefällt<br />

werden. Hier werden ständig neue korporatistische Konsens-Kommissionen,<br />

Räte, Bündnisse und Ausschüsse gebildet, die die Probleme nicht lösen, sondern<br />

durch faule Kompromisse verdecken oder auf die lange Bank schieben.<br />

Dieser Umstand verdankt sich nicht zuletzt dem Einfluß, den mächtige Interessenverbände<br />

auf die politischen Verantwortungsträger ausüben. Es sind die<br />

„Staaten im Staat“, die das Regieren behindern. Das Druck- und Drohpotential<br />

von Leistungsverweigerung und Loyalitätsentzug bildet hier das Hauptproblem.<br />

Konfliktfähigen und kampfbereiten Interessenverbänden stehen sehr wirksame<br />

Waffen zur Verfügung, die sie gegen die staatlichen Instanzen richten können.<br />

Somit zeugt es schon fast von einer heroischen Gemeinwohlmoral, wenn sich<br />

Politiker gegen den Widerstand der Interessenverbände durchsetzen und sich<br />

zum Anwalt derer machen, die kaum organisierbar und damit schwach vertreten<br />

sind: Arbeitslose etwa, oder Hausfrauen und kinderreiche Familien, auch Ungeborene<br />

und Behinderte. Sie können ihre berechtigten Belange kaum öffentlich<br />

artikulieren und machtvoll zur politischen Geltung bringen. An ihrem Schicksal<br />

vor allem zeigt sich, ob ein entscheidungs- und handlungsfähiger Staat überhaupt<br />

noch existiert und seinen eigenen Gemeinwohlzweck erfüllt.<br />

Wolfgang Ockenfels<br />

163


164<br />

Manfred Spieker<br />

Der Krieg gegen Saddam Hussein<br />

Zur Ethik des Irak-Konflikts<br />

I. Die bellum-iustum-Lehre auf dem Prüfstand<br />

Im Pro und Contra einer militärischen Intervention im Irak steht die Lehre vom<br />

gerechten Krieg erneut auf dem Prüfstand. Läßt sich ein Krieg gegen Saddam<br />

Hussein sittlich rechtfertigen? Ist die Lehre vom bellum iustum überhaupt tauglich<br />

zur Beantwortung dieser Frage?<br />

Schon in den Reaktionen auf die Terroranschläge von New York, Washington<br />

und Pennsylvania am 11. September 2001 stand die bellum-iustum-Lehre zur<br />

Debatte. In ihrem Manifest „What we’re fighting for“ vom Februar 2002 erklärten<br />

59 amerikanische Politologen und Publizisten den Anti-Terror-Krieg zu einem<br />

„just war“. 1 Zu den Unterzeichnern des Manifests gehörten Samuel Huntington,<br />

Francis Fukuyama, Amitai Etzioni, Michael Walzer, aber auch zahlreiche<br />

prominente Katholiken wie Michael Novak, George Weigel, Mary Ann<br />

Glendon, Robert P. George und Robert Royal. Ihnen antworteten deutsche Intellektuelle,<br />

darunter Hans-Peter Dürr, Walter Jens, Dorothee Sölle und Friedrich<br />

Schorlemmer: „Der Krieg der so genannten Anti-Terror-Allianz in Afghanistan<br />

ist kein ‚gerechter Krieg‘ – ein unglückseliger historischer Begriff, den wir nicht<br />

akzeptieren“. Der Anti-Terror-Krieg sei vielmehr ein geostrategischer Krieg zur<br />

Festigung der amerikanischen Hegemonie. 2 Die Erklärung, ein bestimmter Begriff<br />

sei „historisch“ oder „unglückselig“ und man akzeptiere ihn nicht, ist zwar<br />

kein Argument, das den Anforderungen eines rationalen Diskurses entspricht,<br />

aber auch als Bekenntnis markiert sie die gegensätzlichen Standpunkte.<br />

In der Debatte um den Krieg gegen Saddam Hussein ist die Spaltung der Intellektuellen<br />

nicht weniger manifest. Während Richard Land, ein führender Vertreter<br />

der Südlichen Baptisten in den USA einen solchen Krieg für gerecht, ja für<br />

einen „Akt der christlichen Nächstenliebe“ hält, 3 nennt ein deutscher Philosoph<br />

einen solchen Begründungsversuch einen Rückfall ins Mittelalter. Die Renaissance<br />

der Lehre vom gerechten Krieg bedeute eine „moralische Aufrüstung gegen<br />

das geltende Völkerrecht“. 4 Auch der seit 1. Oktober 2002 amtierende Präsident<br />

des Päpstlichen Rates Justitia et Pax, Erzbischof Renato Martino, erklärte<br />

die bellum-iustum-Lehre für überholt. Er zog eine Parallele zur Todesstrafe, die<br />

im Katechismus der katholischen Kirche von 1993 zwar noch „in schwerwiegendsten<br />

Fällen“ akzeptiert worden sei, 5 von Papst Johannes Paul II. aber in<br />

seiner Enzyklika Evangelium Vitae 1995 für nicht mehr notwendig erklärt wurde.<br />

6 Dies gelte auch, so Martino, für den Fall des Krieges. Die moderne Gesell-


schaft verfüge über die Mittel, um den Krieg zu vermeiden. 7 Welche Mittel dies<br />

sind, darauf ging Martino nicht ein.<br />

Hans Küng dagegen kannte diese Mittel. Er empfahl auf einem Kongreß der<br />

Bundeszentrale für politische Bildung am 6. März 2003 sein „Weltethos“, das<br />

alle Religionen und Kulturen zum Dialog, zu Solidarität, Gewaltlosigkeit, Toleranz<br />

und Gleichberechtigung verpflichte. Er tadelte den „frommen Kriegstreiber<br />

Bush“, daß er dieses Weltethos noch nicht zur Kenntnis genommen habe. Im<br />

Gegensatz zu Erzbischof Martino hielt er die bellum-iustum-Lehre aber nicht für<br />

obsolet. Sie sei entwickelt worden, um ungerechtfertigte Kriege zu verhindern.<br />

An ihr müsse sich die Politik von Bush messen lassen. Als Ergebnis dieser Prüfung<br />

verkündet Küng: Bushs Irak-Politik erfülle kein einziges der Kriterien der<br />

bellum-iustum-Lehre. Deshalb sein ein Krieg gegen Saddam Hussein unmoralisch.<br />

8 Auch der Salzburger Weihbischof Andreas Laun, in moralischen und<br />

dogmatischen Fragen gewiß kein Gefolgsmann Küngs, kommt nach seiner Prüfung<br />

der Frage, ob ein Irak-Krieg ein gerechter Krieg sein könne, erstaunlich<br />

schnell zu dem eindeutigen Ergebnis: „Nein, dieser Krieg, ... ist kein ‚gerechter<br />

Krieg‘, sondern ein ebenso ungerechter wie schlecht überlegter Krieg“. 9 Differenzierende<br />

Anwendungen der bellum-iustum-Lehre auf den Krieg gegen den<br />

Terrorismus und auf den Irak-Konflikt sind in Deutschland selten. „Der ‚gerechte<br />

Krieg‘ hat einen schlechten Ruf in Deutschland“, so beginnt Karl Graf Ballestrem<br />

sein Plädoyer für die Erklärung amerikanischer Intellektueller „What<br />

we’re fighting for“, um sich dann hinter diese Erklärung zu stellen und zu zeigen,<br />

daß der Pazifis mus als Handlungsprinzip für Staaten abzulehnen ist, „weil<br />

er theoretisch unbefriedigend und im Ergebnis unmoralisch ist“. 10<br />

Was ist Gegenstand und Ziel der bellum-iustum-Lehre? Warum ist sie so umstritten<br />

und weshalb führt sie zu so unterschiedlichen Ergebnissen? Ist sie überhaupt<br />

geeignet zur Bewertung militärischer Konflikte, wenn sich die Befürworter<br />

militärischer Interventionen ebenso auf sie berufen wie deren Gegner? Die bellum-iustum-Lehre<br />

ist die Frucht einer seit Cicero, mithin seit 2000 Jahren anhaltenden<br />

ethischen Reflexion über die Frage, wann der Einsatz militärischer Mittel<br />

gerechtfertigt werden kann. Wie jede ethische Reflexion fragt sie nach den Bedingungen<br />

richtigen Handelns, mithin nach den Bedingungen, die erfüllt sein<br />

müssen, soll der Einsatz militärischer Mittel legitim sein. Sie ist nicht eine Strategie<br />

zur Rechtfertigung, sondern zur Verhinderung von Kriegen, sowie zu deren<br />

Begrenzung, wenn die Verhinderung mißlungen ist. Thomas von Aquin erörtert<br />

sie im 13. Jahrhundert in seiner Summa theologica im Kapitel über die Nächstenliebe,<br />

zu der um des Gemeinwohles willen die Fürsorgepflicht der Regierenden<br />

für die ihnen anvertrauten Menschen gehört. 11<br />

Daß sich in der Geschichte auch Kriege finden lassen, in denen diese Lehre zur<br />

Rechtfertigung eines Angriffs mißbraucht wurde, ist noch kein Argument gegen<br />

diese Lehre, wie ja auch niemand bis 1989 die Benutzung des Begriffs „Volksdemokratie“<br />

durch Staaten mit kommunistischer Einparteiherrschaft als Argument<br />

gegen die Demokratie gelten ließ. Eine Ethik der Friedenssicherung, die<br />

sich auf die bellum-iustum-Lehre stützt, schließt den Einsatz militärischer Mittel<br />

zur Sicherung des Friedens bzw. zur Verteidigung existentieller Güter nie aus.<br />

165


Aber sie sieht sich andererseits auch nicht in der Lage, jeden Waffeneinsatz des<br />

Angegriffenen oder Bedrohten zur Abwehr der Aggression bzw. der Bedrohung<br />

zu rechtfertigen. Es kann Situationen geben, in denen das Unrecht eines Angriffs<br />

oder einer Annexion oder eine Bedrohung hinzunehmen ist, wenn klar voraussehbar<br />

ist, daß die Abwehr der Bedrohung oder die Wiederherstellung des status<br />

quo einen unverhältnismäßig hohen Preis kosten würde.<br />

Das Recht, sich mit militärischen Mitteln zu verteidigen, hat der Angegriffene<br />

also nach der von Augustinus im 5. Jahrhundert systematisierten bellum-iustum-<br />

Lehre nur unter ganz bestimmten Bedingungen:<br />

Die Aggression bzw. die Bedrohung muß das Leben oder die existentiellen<br />

Rechte und Güter Unschuldiger gefährden. Der Einsatz militärischer Mittel muß<br />

durch die rechtmäßige politische Autorität angeordnet sein. Alle anderen Möglichkeiten,<br />

die Aggression bzw. die Bedrohung abzuwehren, müssen ausgeschöpft<br />

sein. Der Zweck des Einsatzes militärischer Mittel muß sich auf die<br />

Abwehr der Aggression bzw. die Beseitigung der Bedrohung beschränken, darf<br />

sich also nicht seinerseits in eine Aggression verwandeln. Mit der Möglichkeit<br />

eines Erfolgs muß gerechnet werden können. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit<br />

der Mittel muß beachtet werden, d. h. das Schadensrisiko des Einsatzes<br />

militärischer Mittel zur Abwehr der Aggression bzw. der Bedrohung ist abzuwägen<br />

gegen das Schadensrisiko einer hingenommenen Aggression bzw. einer<br />

fortdauernden Bedrohung. Schließlich muß das zur Hegung von Kriegen entwickelte<br />

Kriegsvölkerrecht, das ius in bello im Unterschied zum ius ad bellum,<br />

beachtet werden, d. h. a) die Wirkung der eingesetzten Waffen muß kontrollierbar,<br />

mithin auf militärische Zwecke begrenzbar bleiben, und b) die Immunität<br />

der Nichtkombattanten muß gewahrt werden können.<br />

Diese sieben Bedingungen lassen sich in drei Fragen zusammenfassen, die jeder<br />

bejahen können muß, der den Einsatz militärischer Mittel zur Sicherung oder<br />

Wiedergewinnung des Friedens in Erwägung zieht: Ist der Grund für den Waffeneinsatz<br />

gerecht? Wird ein Ziel verfolgt, das gerecht is t? Sind die Mittel, mit<br />

denen dieses Ziel verfolgt wird, angemessen? Nur wenn alle drei Fragen positiv<br />

beantwortet werden können, läßt sich der Einsatz militärischer Mittel rechtfertigen.<br />

Der Entwicklung der bellum-iustum-Lehre liegen zwei Voraussetzungen zugrunde,<br />

die auch eine Ethik des Irak-Krieges in Erinnerung rufen muß und die in<br />

Spannung zueinander stehen: erstens die Überzeugung, daß jeder Krieg, der Irak-<br />

Krieg ebenso wie der Golfkrieg 1991 oder die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts,<br />

ein Übel ist, ein unheilschwangerer Akt der Gewalt, der Zerstörungen,<br />

Elend und Tod mit sich bringt, der auf Grund der ihm innewohnenden Eigendynamik<br />

nicht nur militärische, sondern auch politische Risiken birgt und bei den<br />

Menschen – Soldaten wie Zivilisten – Ängste auslöst, der möglicherweise auch<br />

mehr neue Probleme schafft als alte löst. Zweitens die Überzeugung, daß die<br />

Alternative zum Einsatz militärischer Mittel oft nicht der Friede ist, sondern<br />

Unterdrückung, Erpressung und fortdauernde Bedrohung, die Überzeugung, daß<br />

auch der Pazifismus den Frieden nicht sichern kann, daß er gelegentlich das, was<br />

er verhindern will, gerade erst provozieren kann.<br />

166


II. Der Irak-Krieg<br />

Wer den Irak-Konflikt erst im Herbst 2002 mit der Resolution 1441 des Sicherheitsrates<br />

der Vereinten Nationen vom 8. November beginnen läßt, unterliegt<br />

einem folgenreichen Irrtum. Er rückt die bescheidenen, aber immerhin vorhandenen<br />

Fortschritte bei den Abrüstungsinspektionen der UNO in den Mittelpunkt<br />

seiner Betrachtung. Er hält die viermonatige Tätigkeit von UNMOVIC und IA-<br />

EA im Irak für ebenso unabgeschlossen wie erfolgversprechend und bewertet die<br />

am 20. März 2003 beginnende militärische Intervention der Vereinigten Staaten<br />

und ihrer Verbündeten als Angriffskrieg.<br />

Der Irak-Konflikt aber begann am 2. August 1990. Damals überfiel die Armee<br />

Saddam Husseins das kleine, aber reiche Nachbarland Kuwait. Am 28. August<br />

1990 erklärte der Irak Kuwait zur 19. Provinz seines eigenen Staatsgebietes. Der<br />

Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stellte noch am 2. August 1990 in seiner<br />

Resolution 660 unter Bezugnahme auf Kapitel VII der UN-Charta („Maßnahmen<br />

bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“) fest, daß<br />

die irakische Invasion einen Bruch des internationalen Friedens und der Sicherheit<br />

darstellt. Er forderte den sofortigen und bedingungslosen Rückzug des Irak.<br />

Der Resolution 660 folgten im Laufe der nächsten vier Monate elf weitere, in<br />

denen unter anderem gegen die Geiselnahme der Ausländer sowie die Irakisierung<br />

Kuwaits protestiert und ein Wirtschaftsembargo verhängt wurde. Mit der<br />

Resolution 678 vom 29. November 1990 wurden schließlich die Kuwait unterstützenden<br />

Mitgliedsstaaten ermächtigt, „to use all necessary means to uphold<br />

and implement resolution 660 and all subsequent relevant resolutions and to<br />

restore international peace and security in the area“, wenn der Irak bis zum 15.<br />

Januar 1991 nicht aus Kuwait abzieht. Aller Welt war klar, daß die Ermächtigung<br />

„to use all necessary means“ eine Ermächtigung zum Einsatz militärischer<br />

Mittel bedeutete.<br />

Nachdem die Embargo-Politik ebenso erfolglos geblieben war wie zahlreiche<br />

diplomatische Bemühungen, kam es in der Nacht vom 16. auf den 17. Januar<br />

1991 zum Einsatz der alliierten Luftwaffe und am 24. Februar zur Landoffensive<br />

gegen die irakischen Truppen in Kuwait und ihre Nachschubbasen im südlichen<br />

Irak. Die militärische Intervention zwang den Irak innerhalb von vier Tagen zur<br />

Kapitulation und zur bedingungslosen Annahme aller Resolutionen des Sicherheitsrates.<br />

Die Truppen Saddam Husseins verließen plündernd, mordend und<br />

brandschatzend Kuwait. Am 28. Februar wurden die Kämpfe eingestellt. Am 3.<br />

März wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet und am 3. April beschloß der<br />

Sicherheitsrat in seiner Resolution 687 ein umfangreiches Programm zur Abrüstung<br />

und Kontrolle des Irak. Er forderte die Zerstörung bzw. Unschädlichmachung<br />

der chemischen und biologischen Waffen, der entsprechenden Produktionsanlagen,<br />

der Raketen mit einer Reichweite über 150 Kilometer, die Beendigung<br />

des Programms zur Entwicklung von Nuklearwaffen, die Einstellung jeglicher<br />

Unterstützung des internationalen Terrorismus, die Freilassung aller Gefangenen<br />

und die Rückgabe kuwaitischen Besitzes. Er bekräftigte seine Absicht,<br />

weitere Schritte zur Durchsetzung dieser Resolution und zur Ge währleistung von<br />

167


Frieden und Sicherheit in der Region zu beschließen, wenn solche notwendig<br />

werden sollten.<br />

Im Laufe der 90er Jahre geriet der durch den Krieg und das Embargo geschwächte<br />

Irak an den Rand des westlichen Interesses. Zweimal, 1993 und 1998,<br />

flogen die Alliierten Luftangriffe gegen den Irak, weil er die Bedingungen des<br />

Waffenstillstandes verletzt hatte. Niemand hielt damals eine eigene Ermächtigung<br />

durch den Sicherheitsrat für notwendig. Der Generalsekretär der UNO<br />

Boutros Ghali erklärte vielmehr am 14. Januar 1993, er könne bestätigen, daß<br />

diese Luftangriffe im Einklang mit der Resolution 687 des Sicherheitsrates und<br />

der Charta der Vereinten Nationen stehe. Aber das Regime Saddam Husseins,<br />

der sich wider alle westlichen Erwartungen auch nach dem verlorenen Krieg an<br />

der Macht halten konnte, stellte die Kooperation mit den Inspektoren der UNO<br />

ein. Der Irak betrachtete sie als Spione der USA. Im Dezember 1998 zwang<br />

Saddam Hussein sie, den Irak zu verlassen. Dabei erklärte der Leiter der UN-<br />

Sonderkommission für die Vernichtung der Massenvernichtungswaffen im Irak<br />

(UNSCOM), Richard Butler, die Zerstörung des Raketen- und Chemiewaffenprogramms<br />

habe kurz vor dem Abschluß gestanden, die Vernichtung der biologischen<br />

Waffen sei dagegen noch nicht erfolgt. Drei Jahre blieb der Rauswurf<br />

folgenlos.<br />

Daß sich das Interesse der USA und des Sicherheitsrates im Laufe des Jahres<br />

2002 wieder auf den Irak konzentrierte, ist nicht zuletzt auf die Terroranschläge<br />

des 11. September 2001 und auf den Regierungswechsel in den USA von Clinton<br />

zu Bush zurückzuführen. Nicht daß das Regime Saddam Husseins beschuldigt<br />

wurde, die Anschläge vom 11. September begangen oder initiiert zu haben, aber<br />

die Tatsache, daß er die in der Resolution 687 geforderte kontrollierte Abrüstung<br />

nicht durchgeführt und den Inspektoren der UNO den bedingungslosen, unbeschränkten<br />

Zutritt verweigert hat, entzog dem am 3. März 1991 unterzeichneten<br />

Waffenstillstand den Boden. Dies stellte der Sicherheitsrat denn auch in seiner<br />

Resolution 1441 am 8. Novemb er 2002 fest: Der Irak habe seine Verpflichtungen<br />

aus Resolution 687 sowie weiteren Resolutionen nicht erfüllt. Erfülle er sie<br />

nicht innerhalb einer bestimmten letzten Frist von wenigen Wochen, müsse er<br />

mit „serious consequences“ rechnen. Daß „serious consequences“ bedeutete,<br />

militärische Mittel einzusetzen, war allen Beteiligten ebenso klar wie bei jener<br />

Formulierung in der Resolution 678 am 29. November 1990, „to use all necessary<br />

means“.<br />

Der erneute Einsatz militärischer Mittel am 20. März 2003 kann deshalb weder<br />

als Angriffskrieg noch als Präventivkrieg bewertet werden. 12 Vor dem Hintergrund<br />

der 21 Resolutionen des Sicherheitsrates der UNO zwischen dem 2. August<br />

1990 und dem 8. November 2002 war er eine Suspendierung des Waffenstillstandes<br />

vom 3. März 1991, mithin eine Fortsetzung des damals unterbrochenen<br />

Krieges gegen Saddam Hussein.<br />

Dennoch bleiben kritische Fragen. Die Logik der Resolutionen des Sicherheitsrates<br />

kann eine Bewertung des Krieges anhand der sieben Kriterien der bellumiustum-Lehre<br />

nicht ersetzen. War der Grund für die Wiederaufnahme militäri-<br />

168


scher Handlungen sittlich zu rechtfertigen? Waren bzw. sind die Ziele des Krieges<br />

legitim und die Mittel angemessen?<br />

III. Der Grund, die Ziele und die Mittel des Krieges<br />

Um die Frage nach dem gerechten Grund für die Wiederaufnahme militärischer<br />

Handlungen zu beantworten, sind die ersten drei Kriterien der bellum-iustum-<br />

Lehre auf den Krieg gegen Saddam Hussein anzuwenden. Wie stand es um die<br />

Bedrohung Unschuldiger durch Saddam Hussein, um die Rechtmäßigkeit der<br />

Entscheidung zum Einsatz militärischer Mittel und um die Ausschöpfung aller<br />

friedlichen Mittel zur Abwehr der Bedrohung?<br />

1. Die Aggression bzw. die Bedrohung muß das Leben oder existentielle Rechte<br />

und Güter Unschuldiger gefährden.<br />

Die Frage, ob das Regime Saddam Husseins eine Gefahr für das Leben Unschuldiger<br />

darstellte, war Anfang 2003 schwieriger zu beantworten als 1991. Wie<br />

skrupellos dieses Regime damals mit dem Leben Unschuldiger umging, zeigten<br />

seine Kriege gegen den Iran, gegen Kuwait und Israel, sein Kampf gegen Kurden,<br />

Schiiten und christliche Assyrer im eigenen Staatsgebiet und nicht zuletzt<br />

sein wiederholter Einsatz chemischer Waffen, dem allein in Halabdscha im März<br />

1988 cirka 5000 Kurden zum Opfer fielen. Niemand hatte genaue Zahlen, aber es<br />

waren Hunderttausende, wenn nicht zwei Millionen, denen die Kriege und Gewalttaten<br />

Saddam Husseins das Leben gekostet haben. Seine Feindschaft gegen<br />

die USA, Israel und den Westen ist vielfach dokumentiert – nicht zuletzt am 11.<br />

September 2001. Aber welche Gefahr ging vom Regime Saddam Husseins im<br />

Jahr 2002 aus? Spricht Hans Küng nicht für viele, wenn er feststellt, daß „eine<br />

bloß vermutete und im Entstehen begriffene Bedrohung ... kein Kriegsgrund“<br />

ist? 13<br />

Wenn dem aus der Perspektive der USA entgegengehalten wird, die Terroranschläge<br />

vom 11. September 2001 hätten bewiesen, daß es sich beim Terrorismus<br />

nicht bloß um eine „vermutete“, sondern um eine sehr reale Bedrohung handle,<br />

der an jenem Tag über 3100 Unschuldige zum Opfer gefallen sind, werden die<br />

Kritiker der militärischen Intervention entgegnen, daß zwar der Terrorismus für<br />

die USA eine Bedrohung sein mag, aber nicht der Irak. Wie aber ist der Bedrohung<br />

des Terrorismus zu begegnen und hat der Irak nichts mit ihm zu tun? Der<br />

Terrorismus ist für die Politik, das Völkerrecht und die bellum-iustum-Lehre<br />

eine neue Herausforderung. Er ist nicht eine neue Form organisierter Kriminalität,<br />

sondern eine offensive politisch-militärische Strategie, die weniger auf die<br />

physischen Folgen der Gewaltanwendung als vielmehr auf die davon ausgehenden<br />

psychischen Effekte abzielt. 14 Er signalisiert dem Angegriffenen, daß er auch<br />

bei größter ökonomischer, technologischer und militärischer Überlegenheit jederzeit<br />

und an jedem Ort verwundbar ist.<br />

Terroristische Netzwerke operieren global und sie können dies nur, wenn sie<br />

Staaten bzw. Regierungen hinter sich wissen, die sie unterstützen oder wenigstens<br />

tolerieren. Die Unterstützung des Terror-Netzwerkes von Al Kaida durch<br />

das afghanische Taliban-Regime war offenkundig. Deshalb war der Krieg gegen<br />

169


dieses Regime legitim. Er war auch völkerrechtlich vertretbar. Der Sicherheitsrat<br />

der Vereinten Nationen hat die Terroranschläge in seiner Resolution vom 12.<br />

September 2001 ausdrücklich als eine Bedrohung des internationalen Friedens<br />

und der Sicherheit eingestuft. „Der Terrorismus“ ist insofern zu einer Gefahr<br />

geworden, die dem Angriff mit militärischen Streitkräften eines Staates „vergleichbar<br />

ist“. 15 Der Krieg gegen Saddam Hussein aber konnte sich nicht auf<br />

eine direkte Verbindung seines Regimes zum Terrornetzwerk Osama bin Ladens<br />

stützen. Dennoch war es keine bloße Behauptung der Regierung Bush, daß auch<br />

das Regime von Saddam Hussein Verbindungen zum Terrorismus – nicht zuletzt<br />

der Palästinenser – hat. So beklagte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen<br />

schon am 3. April 1991 in seiner Resolution 687, daß der Irak sich in seiner<br />

Kriegsführung terroristischer Mittel bedient hat. In seiner Resolution 1441 hat<br />

der Sicherheitsrat erneut festgestellt, daß der Irak seine Verpflichtung aus Resolution<br />

687, jegliche Verbindung zum Terrorismus einzustellen, nicht erfüllt hat.<br />

Als der amerikanische Außenminister Powell im Februar 2003 diese Verbindungen<br />

sowie die verbotenen Waffenprogramme nachzuweisen suchte und die anderen<br />

Mitgliedsstaaten, vor allem Frankreich, Deutschland und Rußland, Zweifel<br />

auf Zweifel häuften, schienen sie die Feststellungen des Sicherheitsrates in den<br />

Resolutionen 687 und 1441 völlig verdrängt zu haben.<br />

Worin besteht die Herausforderung des Terrorismus für die Politik, die Militärstrategie<br />

und die bellum-iustum-Lehre? Sie besteht in einer Veränderung der<br />

Kampfkonstellation. Der Angreifer versucht, sich unsichtbar und damit unangreifbar<br />

zu machen. Er bedarf aber der heimlichen Unterstützung bestimmter<br />

Staaten oder staatenähnlicher Gebilde wie des palästinensischen Autonomiegebietes,<br />

in denen seine Operationsbasen und Terrorzellen unangetastet bleiben.<br />

Der Krieg wandelt sich so von einem „symmetrischen“ zu einem „asymmetrischen<br />

Krieg“. 16 Im „symmetrischen“ Krieg stehen sich Staaten oder Koalitionen<br />

von Staaten gegenüber. Im „asymmetrischen“ Krieg steht dem Opfer terroristischer<br />

Attacken kein klar identifizierbarer Angreifer, der Uniform trägt, gegenüber,<br />

sondern ein global oder regional operierendes Netzwerk von Terroristen,<br />

die zivile Kleidung tragen, Unschuldige ermorden und Zivilflugzeuge in Massenvernichtungswaffen<br />

verwandeln. In dieser Situation muß der Verteidiger<br />

nicht nur sein Waffenarsenal und seine Militärstrategie überprüfen, er wird auch<br />

in jedem den Terrorismu s unterstützenden Staat selbst einen Angreifer sehen.<br />

Für die bellum-iustum-Lehre bedeutet dies, daß ein Grund für den legitimen<br />

Einsatz militärischer Mittel, der in den 50er Jahren aufgrund der Nuklearwaffen<br />

aus den Gründen für einen legitimen Waffeneinsatz herausgenommen worden<br />

war, nämlich die Sanktionierung von Regimen, die den Frieden bedrohen, wieder<br />

ins Blickfeld rückt und Legitimität beansprucht. 17 Wenn es „outlaw“- oder „rogue“-states,<br />

sog. Schurkenstaaten gibt, die durch ihre mehr oder weniger heimliche<br />

Unterstützung des Terrorismus einen unerklärten Krieg gegen die USA oder<br />

„den Westen“ führen, haben die Angegriffenen, und das heißt primär ihre Regierungen,<br />

nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, ihre Bürger gegen eine derartige<br />

tödliche Gefahr zu schützen. Die Frage nach einem gerechten Grund für einen<br />

legitimen Einsatz militärischer Mittel muß deshalb in Erwägung ziehen, den<br />

170


Begriff „Bestrafung des Bösen“ (punishment for evil) neu zu bedenken und in<br />

die legitimen Kriegsgründe einzubeziehen. Schon die humanitären Interventionen<br />

der 90er Jahre in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Somalia haben<br />

die gerechten Gründe für den Einsatz militärischer Mittel über die Verteidigung<br />

gegen einen unmittelbaren Angriff hinaus ausgeweitet. 18 Die Frage, ob das Regime<br />

Saddam Husseins eine unmittelbare Gefährdung für das Leben Unschuldiger<br />

außerhalb der Grenzen des Iraks darstellt, kann mithin bejaht werden, wenn<br />

sowohl der neue Charakter terroristischer Bedrohungen und asymmetrischer<br />

Kriege als auch die Geschichte der Resolutionen des Sicherheitsrates gewürdigt<br />

werden. Aber sofort stellt sich die Frage, ob die Regierung Bush allein befugt<br />

war, diese Bedrohung festzustellen, oder ob dies nicht in die Kompetenz des<br />

Sicherheitsrates der Vereinten Nationen fällt.<br />

2. Der Einsatz militärischer Mittel muß durch die rechtmäßige politische Autorität<br />

angeordnet sein.<br />

Der Sicherheitsrat ist als völkerrechtliches Organ kollektiver Sicherheit nach<br />

Kapitel V bis VII der UNO-Charta ohne Zweifel die privilegierte Autorität zur<br />

Anordnung des Einsatzes militärischer Mittel in einem Konflikt. Seine Resolution<br />

678 vom 29. November 1990, die ausdrücklich auf Kapitel VII der Charta<br />

Bezug nahm, war eine solche Anordnung, bei deren Umsetzung er dann allerdings<br />

nicht auf eigene Streitkräfte zurückgreifen kann. Er bleibt auf die Armeen<br />

der Mitgliedsstaaten angewiesen, die zur Ausführung solcher Beschlüsse bereit<br />

sind. In der Regel sind dies die USA, die dann mehr oder weniger breite Koalitionen<br />

anführen. Die Ermächtigung zum Einsatz militärischer Mittel in Resolution<br />

678 galt allen „Mitgliedsstaaten, die mit der Regierung Kuwaits zusammenarbeiten“.<br />

Die Resolution 1441 enthielt zwar keine unmittelbare Anordnung zum<br />

Einsatz militärischer Mittel, aber sie drohte dem Irak mit „ernsthaften Konsequenzen“<br />

im Falle der fortgesetzten Weigerung, die Verpflichtungen aus Resolution<br />

687 zu erfüllen. Sie bestätigte darüber hinaus ausdrücklich das Mandat zum<br />

Waffeneinsatz in Resolution 678. Ob deshalb nach Ablauf der dem Irak gesetzten<br />

Fristen eine weitere Resolution des Sicherheitsrates überhaupt notwendig<br />

gewesen wäre, um den Einsatz militärischer Mittel anzuordnen, ist umstritten.<br />

China, Rußland und Frankreich hielten eine solche Resolution für notwendig,<br />

Großbritannien wünschte sie mehr aus politischen als aus völkerrechtlichen<br />

Gründen, obgleich der britische Generalstaatsanwalt Lord Goldsmith sie in seiner<br />

Antwort auf eine parlamentarische Anfrage nicht für notwendig hielt 19 , und<br />

die USA hielten sie ebenfalls nicht für notwendig. 20 Eine neue Resolution scheiterte<br />

schließlich an der Uneinigkeit des Sicherheitsrates. Daß mit den „serious<br />

consequences“ im Falle der Nichterfüllung der Verpflichtungen aus Resolution<br />

687 aber nicht eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Abrüstungsinspektionen,<br />

sondern nur eine militärische Intervention gemeint sein konnte, kann kaum<br />

bezweifelt werden.<br />

Bei der Wiederaufnahme der militärischen Intervention am 20. März 2003 war<br />

deshalb ein Rückgriff auf Art. 51 der UNO-Charta, der jedem Mitgliedsstaat<br />

„das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“<br />

zugesteht, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der<br />

171


internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“, gar nicht<br />

mehr notwendig. Daß einzelnen Staaten oder Staatenbündnissen ein solches<br />

Recht nicht genommen werden kann, wenn der Sicherheitsrat blockiert oder<br />

desinteressiert ist, wie er das die meiste Zeit seiner bald 60jährigen Geschichte<br />

war, findet zwar nicht ungeteilte Zustimmung. Vor allem die Evangelische Kirche<br />

in Deutschland reserviert die Entscheidungskompetenz immer wieder der<br />

UNO. 21 Auch die Deutsche Bischofskonferenz hat in ihrer Erklärung zum Irak-<br />

Konflikt vom 13. März 2003 jede „militärische Gewaltanwendung, die ohne<br />

Mandat des Sicherheitsrates... erfolgte“, als eine „Abkehr vom Völkerrecht“<br />

bezeichnet. 22 Dieses Mandat lag mit der in Resolution 1441 bestätigten Resolution<br />

678 vor.<br />

In vielen Konfliktfällen würde ein Monopol des Sicherheitsrates dazu zwingen,<br />

dem Unheil zuzusehen. Die katholische Kirche bringt deshalb zwar in vielen<br />

Dokumenten und päpstlichen Ansprachen ihre Wertschätzung für die Vereinten<br />

Nationen zum Ausdruck, reserviert die Kompetenz zur Entscheidung über den<br />

Einsatz militärischer Mittel aber nicht dem Sicherheitsrat. Die Kompetenz zu<br />

entscheiden, ob alle Kriterien der bellum-iustum-Lehre erfüllt sind, kommt vielmehr<br />

„dem klugen Ermessen derer zu, die mit der Wahrung des Gemeinwohls<br />

betraut sind“. 23 Die Wahrung des Gemeinwohls aber ist in erster Linie die Pflicht<br />

der Regierung. Im Falle humanitärer Interventionen, die meist ohne UNO-<br />

Beschlüsse realisiert werden, haben sie nicht nur das Recht, sondern die Pflicht,<br />

einzugreifen, wenn die Institutionen kollektiver Sicherheit blockiert sind. „Wenn<br />

einmal alle von diplomatischen Verhandlungen gebotenen Möglichkeiten, alle<br />

durch Übereinkünfte und internationale Organisationen vorgesehenen Prozesse<br />

erschöpft sind und trotzdem ganze Volksgruppen dabei sind, den Schlägen eines<br />

ungerechten Angreifers zu erliegen“, erklärte Kardinal Sodano in Vertretung des<br />

Papstes beim Neujahrsempfang für das beim Hl. Stuhl akkreditierte Diplomatische<br />

Korps 1993, „haben die Staaten kein ‚Recht mehr auf Gleichgültigkeit‘. Es<br />

scheint vielmehr, daß ihre Pflicht in der Entwaffnung dieses Angreifers besteht,<br />

nachdem alle übrigen Mittel sich als unwirksam erwiesen haben. Die Grundsätze<br />

der Souveränität der Staaten und der Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten<br />

– die ihren vollen Wert behalten – dürfen keine Schutzwand bilden,<br />

hinter der man foltern und morden darf“. 24<br />

3. Alle anderen Möglichkeiten, die Aggression bzw. die Bedrohung abzuwehren,<br />

müssen ausgeschöpft sein.<br />

Die Beantwortung der Frage, ob alles getan wurde, um die Bedrohung auf friedlichem<br />

Weg abzuwehren, wird immer strittig bleiben. Wer kann je sagen, er habe<br />

alles getan? Die Überzeugung, auf den friedlichen Ebenen der Diplomatie, der<br />

Inspektionen, der Embargo-Politik und der Abschreckung sei alles getan worden,<br />

um Frieden und Sicherheit am Golf wiederherzustellen, ist schwer zu belegen.<br />

Noch schwerer aber ist nachzuweisen, daß nicht alles getan wurde. Überzeugende<br />

Argumente, daß eine Verlängerung der Inspektionen um drei oder vier Monate<br />

das Problem gelöst hätte, sind nicht bekannt geworden. Schon vor der Militärintervention<br />

1991 war der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich<br />

Genscher der Meinung, nie zuvor seien einem Aggressor so viele Gelegenheiten<br />

172


zum Einlenken gegeben worden wie Saddam Hussein. Dies gilt erst recht 2003.<br />

Schließlich hatte er seit der Resolution 687 zwölf Jahre Zeit, seine Abrüstungsverpflichtungen<br />

zu erfüllen.<br />

Wer den Irak-Konflikt erst mit der Resolution 1441 beginnen läßt, wird die Frage,<br />

ob alle friedlichen Mittel ausgeschöpft wurden, verneinen. Er wird auf die<br />

vom UNMOVIC-Chef Blix mehrfach bestätigten Fortschritte in der Kooperationsbereitschaft<br />

des Irak verweisen und darauf, daß die Inspekteure selbst erklärten,<br />

sie benötigten noch einige Monate, um die Inspektionen abzuschließen. Das<br />

Plädoyer für verlängerte Inspektionen übersieht jedoch zum einen die 13-jährige<br />

Geschichte des Irak-Konflikts und zum anderen die Tatsache, daß Saddam Hussein<br />

die Inspektoren im November 2002 nur deshalb wieder ihre Arbeit aufnehmen<br />

ließ, weil die USA und Großbritannien bereits rund 100.000 Soldaten am<br />

Golf stationiert hatten. Saddam Husseins Kooperationsbereitschaft war nicht die<br />

Folge eines politischen Kurswechsels im Irak, sondern des Druckes, den die<br />

USA mit ihren Truppenverlegungen auf ihn ausübten. Da diese Truppenverlegungen<br />

auch während der Inspektionen fortgesetzt wurden, kam es mehrfach zu<br />

kleinen Fortschritten bei der Kooperation, die Hans Blix aber nicht davon abhalten<br />

konnten, vor dem Sicherheitsrat wiederholt über die mangelhafte Kooperationsbereitschaft<br />

des Iraks zu klagen. Inspektionen, die nur unter dem Druck einer<br />

Armee von mehreren 100.000 Soldaten durchgeführt werden können, sind gewiß<br />

nicht mehr jene Inspektionen, die der Sicherheitsrat in seiner Resolution 687<br />

dem Irak auferlegt hatte.<br />

Die Entwicklung des Irak-Konflikts seit dem Waffenstillstand 1991 ist eine fast<br />

unendliche Geschichte von diplomatischen Verhandlungen in der UNO, von<br />

Resolutionen im Sicherheitsrat, von Luftwaffeneinsätzen der Alliierten im Irak<br />

wegen Verletzung der Verpflichtungen aus dem Waffenstillstandsvertrag und<br />

von Inspektionen. Ein letztes Ultimatum von Präsident Bush zur Vermeidung<br />

eines Krieges verlangte am 17. März 2003 von Saddam Hussein, daß er mit seinen<br />

beiden übel beleumdeten Söhnen den Irak innerhalb von zwei Tagen zu<br />

verlassen habe. Das Ultimatum wurde zurückgewiesen. In Anbetracht dieser<br />

Fakten fällt es schwer, von einem voreiligen Krieg zu sprechen. Das Kriterium,<br />

daß ein Einsatz militärischer Waffen zwecks Abwehr einer Bedrohung nur ultima<br />

ratio sein dürfe, wurde nicht verletzt.<br />

Aber wie steht es mit den Zielen dieses Krieges? Entsprechen sie dem Kriterium<br />

der recta intentio, der rechten Absicht und gibt es Chancen, diese Ziele, wenn sie<br />

denn sittlich vertretbar sind, zu erreichen? Um diese Frage zu beantworten, sind<br />

die mit der militärischen Intervention verbundenen Ziele an den Kriterien vier<br />

und fünf der bellum-iustum-Lehre zu messen.<br />

4. Der Zweck des Einsatzes militärischer Mittel muß sich auf die Abwehr der<br />

Aggression bzw. die Beseitigung der Bedrohung beschränken, darf sich also<br />

nicht seinerseits in eine Aggression verwandeln.<br />

Im Golfkrieg 1991 galt die Befreiung Kuwaits als primäres Ziel. Die Alliierten<br />

vertrieben die Armee Saddam Husseins aus Kuwait und schlossen nach sechswöchigem<br />

Krieg am 3. März einen Waffenstillstand, der dem Irak mit den Ab-<br />

173


üstungsverpflichtungen, den Inspektionen und Flugverbotszonen zwar besondere<br />

Auflagen machte, das Regime von Saddam Hussein aber nicht antastete. Ein<br />

Regimewechsel galt damals als politisch erwünschtes, aber als völkerrechtlich<br />

nicht legitimes Kriegsziel. Die Verteidigung der Souveränität Kuwaits sollte sich<br />

nicht in eine Aggression gegen den Irak verwandeln. So unterließen es die alliierten<br />

Streitkräfte, Bagdad zu besetzen und ein Besatzungsregime zu errichten.<br />

Die Hoffnung, daß der Diktator seine Vertreibung aus Kuwait und die Zerstörung<br />

seines offensiven Rüstungspotentials nicht lange überleben würde, erfüllte<br />

sich nicht, und schon im Konflikt um die Inspektionen 1998, in dem sich Saddam<br />

Hussein durchsetzte, erwies sich die Zurückhaltung der Alliierten 1991 als<br />

Fehler. Die Beseitigung des irakischen Aggressionspotentials und der vom Regime<br />

Saddam Husseins ausgehenden Bedrohung ließ sich ohne Regimewechsel<br />

nicht erreichen.<br />

Im März 2003 erklärte der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld,<br />

die Kriegsziele der Vereinigten Staaten seien, „das amerikanische Volk zu<br />

verteidigen, die Massenvernichtungswaffen des Iraks zu vernichten und das<br />

irakische Volk zu befreien“. Die Militäroperationen seien deshalb auf mehrere<br />

Teilziele ausgerichtet, darunter zunächst darauf, „dem Regime von Saddam Hussein<br />

ein Ende zu setzen“. 25<br />

Gegen dieses Ziel erhob sich die Kritik. Es sei durch die Beschlüsse des Sicherheitsrates<br />

nicht gedeckt. Diese Beschlüsse zielten lediglich auf die Beseitigung<br />

der Massenvernichtungswaffen. Diese Kritik ist jedoch nicht begründet. Da die<br />

Massenvernichtungswaffen auch zwölf Jahre nach dem Waffenstillstand noch<br />

nicht beseitigt waren, kann die Feststellung, daß der Regimewechsel eine Vo raussetzung<br />

für deren Beseitigung ist, kaum als Verstoß gegen die Resolution 687<br />

bezeichnet werden, zumal der Sicherheitsrat selbst in dieser Resolution und auch<br />

schon in Resolution 678 erklärt hatte, daß es ihm nicht nur um Abrüstung, sondern<br />

auch um die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in der Region<br />

gehe. Die Vereinten Nationen seien entschlossen, alles zu unternehmen, „to<br />

secure peace and security in the region“. 26 Das Ziel des Krieges gegen Saddam<br />

Hussein im Frühjahr 2003, die Befreiung des Irak durch einen Regimewechsel,<br />

kann deshalb als gerechtes Ziel bezeichnet werden, das in der Logik aller Resolutionen<br />

des Sicherheitsrates liegt.<br />

Ob dieses Ziel schon bedeutet, eine stabile demokratische Ordnung im Irak zu<br />

etablieren, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Wenn die Regierung Bush<br />

ihr Kriegsziel derart umschreibt oder gar auf eine demokratische Neuordnung<br />

des gesamten Nahen Ostens ausweitet, muß sie damit rechen, daß ihr im alten<br />

Europa bestenfalls Naivität, schlimmstenfalls Imperialismus vorgeworfen wird.<br />

Die politischen Systeme aller Staaten im Nahen Osten sind mit Ausnahme Israels<br />

so weit von demokratischen Ordnungen entfernt, daß eine Demokratisierung der<br />

Region wohl nur über eine amerikanische Militärherrschaft angestrebt werden<br />

könnte. Dies aber wäre ein Widerspruch in sich.<br />

Mit dem Ziel einer Demokratisierung der ganzen Region können sich die USA<br />

vermutlich nur übernehmen, mithin blamieren. Dieses Ziel würde nicht nur eine<br />

Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein im Irak, sondern auch eine Lö-<br />

174


sung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern sowie eine andere<br />

politische Kultur voraussetzen. Weder der militärische Sieg über Saddam Hussein<br />

noch eine längere amerikanische Militärverwaltung aber gewährleisten eine<br />

neue politische Kultur. Daß die Demokratisierung Deutschlands nach dem 2.<br />

Weltkrieg über eine Militärherrschaft der Alliierten gelang, ist noch kein Argument<br />

für eine Militärverwaltung im Irak. Deutschland hatte eine demokratische<br />

Tradition aus der Weimarer Republik, die 1945 noch nicht völlig abgerissen war,<br />

und eine politische Kultur, die wesentlich zum Erfolg des Besatzungsregimes<br />

beitrugen. Beides fehlt im Irak, so daß eine Militärverwaltung schnell zu einer<br />

Besatzungsherrschaft werden könnte. Sie würde die Demokratisierungschancen<br />

aber schnell weiter vermindern. Sollte sie gar zu einer Spaltung des Iraks in ein<br />

nördliches Kurdistan und in einen mit dem Iran verbündeten südlichen Schiitenstaat<br />

führen, wäre das Ende schlimmer als der Anfang. Ein Schiitenreich mit<br />

Massenvernichtungswaffen würde die Machtbalance am Golf zerstören, demokratische<br />

Entwicklungen im Nahen Osten weiter erschweren und die Operationsbasen<br />

für terroristische Netzwerke ausweiten.<br />

Wenn das Kriegsziel „Demokratisierung der Region“ mittels einer längeren<br />

amerikanischen Militärverwaltung somit als unrealistisch, ja kontraproduktiv<br />

kritisiert wird, so bedeutet dies jedoch nicht, daß der Krieg gegen Saddam Hussein<br />

als unverantwortlich abgelehnt werden muß. Die Befreiung des Irak blieb<br />

ein sittlich legitimes Ziel. Dieses Ziel wurde innerhalb von vier Wochen erreicht.<br />

Nun folgt die nicht weniger schwierige Aufgabe der Neuordnung des politischen<br />

Systems, die nicht nur eine Aufgabe der USA ist. Sie ist auch eine Aufgabe der<br />

Vereinten Nationen, die sich an ihr beteiligen müssen, nicht um die Rolle der<br />

USA zu relativieren, sondern um das Ziel der eigenen Resolutionen zu erreichen,<br />

Frieden und Sicherheit in der Region zu gewährleisten. Mit der Sicherheitsratsresolution<br />

vom 22. Mai 2003, mit der die Handelssanktionen gegen den Irak aufgehoben<br />

und die USA und Großbritannien als Besatzungsmächte anerkannt wurden,<br />

ist auch die Beteiligung der Vereinten Nationen am Wiederaufbau des Landes<br />

beschlossen worden.<br />

Gelegentlich war den USA vorgeworfen worden, es ginge ihnen in diesem Krieg<br />

vor allem um ökonomischen Interessen, mithin um die Sicherung der irakischen<br />

Ölquellen. Die Regierung Bush wurde mit dem Pathos der Entlarvung als Öl-<br />

Lobby präsentiert. Dieser Vorwurf war und ist unseriös. Zum einen sind ökonomische<br />

Interessen nicht eo ipso unsittlich. An der Freiheit des Ölhandels sind<br />

nicht nur die USA, sondern auch die Kriegsgegner, die OPEC-Staaten und die<br />

Entwicklungsländer interessiert. Zum anderen geht es im Krieg gegen Saddam<br />

Hussein wie schon im Golfkrieg 1991 nicht primär um Öl, sondern um die<br />

Durchsetzung der legitimen Kriegsziele des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen<br />

aus der Resolution 687. Im übrigen zeigen auch die amerikanischen Interventionen<br />

im Kosovo 1999, in Korea 1950 und in Deutschland 1941, daß der<br />

Vorwurf, es ginge den USA immer nur um ökonomische Interessen, falsch ist.<br />

5. Mit der Möglichkeit eines Erfolges muß gerechnet werden können.<br />

Diese Frage hatte bereits vier Wochen nach Kriegsbeginn nur noch historische<br />

Bedeutung, wenn denn unter Erfolg nur die Beseitigung des Regimes von Sad-<br />

175


dam Husseins verstanden wird. Aber der Erfolg besteht nicht nur in der Beseitigung<br />

des tyrannischen Regimes und der Vernichtung der Massenvernichtungswaffen,<br />

sondern in der Errichtung eines politischen Systems, das Frieden und<br />

Sicherheit in der Region gewährleistet. Dazu gehört ein Verhältnis der Kooperation,<br />

des Vertrauens und der gesicherten Grenzen, in das alle Staaten der Golfregion,<br />

Israel und die Palästinenser, die Türkei und die Kurden, einbezogen sind.<br />

Erst wenn sich kein Land und kein Volk im Nahen Osten einem institutionalisierten<br />

Friedensprozeß, einer Art Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />

im Nahen Osten verschließt, kann von einem Erfolg gesprochen werden. Ein<br />

derartiges Ziel liegt nicht außerhalb jeglicher Reichweite. Es liegt unterhalb des<br />

Zieles einer Demokratisierung des ganzen Nahen Ostens, dem keine realistische<br />

Chance eingeräumt werden kann. Aber es liegt über dem Ziel einer bloßen Beseitigung<br />

der Tyrannei Saddam Husseins. Um es zu erreichen, ist die Kooperation<br />

der irakischen Opposition und darüber hinaus der irakischen Bevölkerung<br />

notwendig.<br />

6. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel muß beachtet werden, d. h.<br />

das Schadensrisiko des Einsatzes militärischer Mittel zur Abwehr der Bedrohung<br />

ist abzuwägen gegen das Schadensrisiko einer fortdauernden Bedrohung.<br />

Die Verhältnismäßigkeit der Mittel im Laufe einer noch nicht abgeschlossenen<br />

militärischen Auseinandersetzung zu bestimmen, ist schwierig, aufgrund einer<br />

häufig wenig objektiven Nachrichtenlage geradezu unmöglich. Normativ ist der<br />

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht schwer zu bestimmen. Das, was gerettet<br />

bzw. befreit werden soll, darf im Laufe der militärischen Intervention nicht zerstört<br />

werden. Deshalb ist jede Kriegshandlung, die unterschiedslos auf die Ve rnichtung<br />

ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung abzielt, ungeachtet<br />

der eingesetzten Waffen, ein sittlich verwerflicher Verstoß gegen diesen<br />

Grundsatz. Ein gezieltes Bombardement auf die Zivilbevölkerung Bagdads, um<br />

sie zum Verlassen der Stadt zu bewegen, wäre nicht zu rechtfertigen.<br />

Aber sind 10.000 Luftangriffe noch verhältnismäßig, 100.000 dagegen nicht<br />

mehr? Sind vier Wochen Kriegsdauer verhältnismäßig, vier Monate dagegen<br />

nicht mehr? Eine ethische Erörterung des Irak-Krieges kann diese Fragen allein<br />

nicht beantworten. Sie bleibt, wenn sie am Recht auf eine militärische Durchsetzung<br />

der Resolution 687 und auf Beseitigung des terroristischen Bedrohungspotentials<br />

Saddam Husseins festhält, auf die Kompetenz einer möglichst objektiven<br />

militärischen Lagebeurteilung angewiesen. Im allgemeinen gilt: Je länger der<br />

Krieg dauert, je unkalkulierbarer sein Verlauf ist, desto zahlreicher sind die Opfer<br />

unter Zivilisten wie Soldaten, desto größer die Zerstörungen, desto tiefer die<br />

physischen und seelischen Wunden. Aber die Alternative zum Einsatz militärischer<br />

Mittel war und ist nicht der Frieden, sondern die Tyrannei des Regimes<br />

Saddam Husseins, sein Krieg gegen die Kurden und Schiiten und die terroristische<br />

Bedrohung der Nachbarn, Israels und der westlichen Welt. Die Beendigung<br />

dieser Übel unter Einhaltung der oben genannten Grenze und des ius in bello<br />

muß die Verhältnismäßigkeit der Mittel bestimmen. Wenige Wochen nach der<br />

Beendigung der militärischen Handlungen läßt sich, auch wenn noch nicht genau<br />

176


zu überblicken ist, welche Opfer und Schäden sie verursacht haben, wohl feststellen,<br />

daß offenkundige Verletzungen dieses Grundsatzes nicht vorliegen.<br />

7. Das zur Hegung des Krieges entwickelte ius in bello muß beachtet werden:<br />

a) Die Wirkung der eingesetzten Waffen muß kontrollierbar, mithin auf militärische<br />

Zwecke begrenzbar bleiben und<br />

b) die Immunität der Nichtkombattanten muß gewahrt werden können.<br />

Auch dieses Kriterium bereitete Schwierigkeiten. Einerseits war die Kontrollierbarkeit<br />

und d. h. die Zielgenauigkeit der eingesetzten Waffen seit dem Golfkrieg<br />

1991 noch beträchtlich weiterentwickelt worden. Die technischen Möglichkeiten,<br />

sie genau ins Ziel zu lenken, erleichterten die Einhaltung des Prinzips der Immunität<br />

der Nicht-Kombattanten ebenso wie die des Grundsatzes der Verhältnis -<br />

mäßigkeit. Andererseits bedeutete dies nicht, daß Zivilisten nicht zu Schaden<br />

kamen. Bilder von Opfern der Zivilbevölkerung, von verletzten oder getöteten<br />

Kindern und von Zerstörungen der Wohnviertel beunruhigen. Auch wenn sie<br />

häufig nicht eo ipso bewiesen, was sie beweisen sollten, mithin selbst als Waffe<br />

im Kriegsgeschehen eingesetzt wurden, bleibt die Beunruhigung. Die Opfer<br />

unter der Zivilbevölkerung, wenn sie denn wirklich von der kriegführenden Koalition<br />

verursacht wurden, können ungewollte Nebenwirkungen oder gar Fehlsteuerungen<br />

der eingesetzten Waffen sein. Auch bei Präzisionswaffen kann es<br />

ein Versagen der Technik geben.<br />

Entscheidend für die Einhaltung des ius in bello ist nicht nur die technische Kontrollierbarkeit<br />

der eingesetzten Waffen, sondern auch die nachweisbare Intention<br />

der kriegführenden Koalition, die Immunität der Zivilbevölkerung zu achten. Ein<br />

gezielter Einsatz der Waffen gegen die Zivilbevölkerung ist sittlich verwerflich.<br />

Die kriegführende Koalition hätte damit rechnen müssen, daß ein derartiger<br />

Verstoß gegen die bellum-iustum-Lehre ihrer militärischen Intervention die Legitimität<br />

entzieht und die öffentliche Meinung demokratischer Gesellschaften<br />

(noch mehr) gegen sie aufbringt. Es wäre für sie auch keine Entschuldigung<br />

gewesen, wenn das Regime Saddam Husseins fortgefahren wäre, in seiner Kriegführung<br />

gegen das Kriegsvölkerrecht zu verstoßen, die eigene Zivilbevölkerung<br />

als Geisel zu nehmen und zum Instrument einer zynischen Kriegführung zu machen,<br />

zivile und militärische Einrichtungen untrennbar zu vermischen, Soldaten<br />

in Zivilkleidung kämpfen zu lassen, Kriegsgefangene unmenschlich zu behandeln,<br />

Selbstmordattentäter als Waffe zu benutzen und chemische Waffen einzusetzen.<br />

Eine derartige Kriegsführung hätte für die Koalition nach den Erfahrungen<br />

mit Saddam Hussein im Golfkrieg 1991 und im Krieg gegen den Iran keine<br />

Überraschung sein können. Und selbst wenn sie es wäre, sie befreit die Koalition<br />

nicht von der Pflicht, alle Kriterien der bellum-iustum-Lehre einzuhalten.<br />

IV. Schlußfolgerungen<br />

Welche Schlußfolgerungen sind aus der Anwendung der Kriterien der bellumiustum-Lehre<br />

auf den Irak-Krieg zu ziehen?<br />

177


1. Die bellum-iustum-Lehre ist weiterhin nicht nur gültig, sondern auch geeignet,<br />

um die Frage nach der Legitimität einer militärischen Intervention zu beantworten.<br />

Wenn eine Entwicklung der Waffentechnologie, wie jener der Kernwaffen,<br />

oder der Kriegführungsstrategie, wie jener der humanitären Interventionen oder<br />

asymmetrischen Kriege im Zeitalter eines globalen Terrorismus, die Einhaltung<br />

des einen oder anderen Kriteriums auf den ersten Blick erschwert oder gar unmöglich<br />

macht, dann kann die Schlußfolgerung nur lauten, daß ein Krieg unter<br />

diesen Umständen nicht mehr zu legitimieren ist. Aber deshalb ist noch nicht die<br />

bellum-iustum-Lehre überholt. Im Gegenteil, sie wird gerade bestätigt und der,<br />

der sie ablehnt, beruft sich nichtsdestotrotz auf ihre Kriterien. 27<br />

Der Präsident des Päpstlichen Rates Justitia et Pax Erzbischof Renato Martino<br />

wird der Lehre der katholischen Kirche nicht gerecht, wenn er behauptet, die<br />

bellum-iustum-Lehre sei wie die Todesstrafe überholt, oder wenn er meint, ein<br />

gerechter Krieg sei absolut unmöglich. Er übersieht, daß Regierungen in ihrer<br />

Verantwortung für das Gemeinwohl nicht nur das Recht, sondern die Pflicht<br />

haben, ihre Bürger zu verteidigen – notfalls mit Waffen, wenn ihr Leben oder<br />

ihre existentiellen Rechte bedroht sind. Diese Pflicht zur Notwehr unterstreicht<br />

nicht nur der Katechismus der Katholischen Kirche 28 , von dem Martino meint, er<br />

sei durch die Enzyklika Evangelium Vitae von Johannes Paul II. überholt. Auch<br />

in Evangelium Vitae weist der Papst auf diese Pflicht hin 29 und in seiner Neujahrsansprache<br />

an das Diplomatische Korps beim Hl. Stuhl am 13. Januar 2003<br />

schloß er, trotz seines engagierten Einsatzes für den Frieden im Nahen Osten das<br />

Recht auf militärische Mittel als ultima ratio nicht aus: Der Krieg darf, wenn es<br />

um die Sicherung des Gemeinwohls geht, zwar „nur im äußersten Fall und unter<br />

sehr strengen Bedingungen gewählt werden“, aber er darf gewählt werden. 30<br />

2. Die Frage nach der Möglichkeit einer sittlichen Rechtfertigung der militärischen<br />

Intervention der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten im Irak läßt<br />

sich mit den ethischen Kriterien der bellum-iustum-Lehre allein nicht beantworten.<br />

Dazu bedarf es auch einer kompetenten Analyse der politischen, völkerrechtlichen<br />

und militärischen Entwicklungen im Irak und im Nahen Osten. Erst wenn<br />

eine solche Analyse und die sittliche Orientierung zusammenkommen, ist eine<br />

ethische Reflexion, mithin eine Rechtfertigung oder Mißbilligung der militärischen<br />

Intervention im Irak mö glich. Auch auf der Basis hoher Kompetenz aber<br />

werden die Analysen der politischen und militärischen Entwicklungen sowie die<br />

Interpretationen des Völkerrechts nicht immer zu identischen Ergebnissen führen.<br />

31 Es ist ein Gebot des inneren Friedens in einer demokratischen Gesellschaft,<br />

abweichende Meinungen dann nicht des Fundamentalismus, der Häresie,<br />

des Imperialismus oder gar der sittlichen Verderbtheit zu bezichtigen.<br />

3. Die Politik hat es in der Regel nicht mit der Entscheidung zwischen Licht und<br />

Finsternis, zwischen einem großen Gut, genannt Frieden, und einem großen<br />

Übel, genannt Krieg, sondern mit der Wahl zwischen zwei Übeln zu tun. Dies<br />

gilt für die Politik des amerikanischen Präsidenten und der Alliierten im Irak<br />

ebenso wie für die Politik Chiracs, Schröders oder Putins. Die Alternative zum<br />

Irak-Krieg war nicht der Frieden, sondern die Fortdauer der despotischen Herrschaft<br />

Saddam Husseins, seiner terroristischen Bedrohung und seiner Mißach-<br />

178


tung der 21 Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. In einem<br />

solchen Dilemma zwischen zwei Übeln das kleinere Übel zu wählen, ist die<br />

Kunst der Politik und eine sittliche Entscheidung dazu.<br />

Anmerkungen<br />

1) What we’re fighting for, in: Politisches Denken: Jahrbuch 2003, hrsg. von Karl Graf<br />

Ballestrem u. a., Stuttgart 2003, S. 223ff. Auszüge in: Blätter für deutsche und internationale<br />

Politik (2002), S. 756ff.<br />

2) „Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus“ – Eine Antwort auf<br />

das Manifest „Gerechter Krieg gegen den Terror“ vom 2.5.2002, in: Blätter für deutsche<br />

und internationale Politik, (2002), S. 763ff.<br />

3) Richard Land, Die Zeit ruft nach Gewalt, in: Rheinischer Merkur vom 13.2.2003.<br />

4) Thomas Kater, Moral zur Unzeit, in: Rheinischer Merkur vom 13.2.2003.<br />

5) KKK 2266.<br />

6) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 56.<br />

7) Renato Martino, Interview mit John L. Allen, in: National Catholic Reporter vom<br />

5.2.2003.<br />

8) Hans Küng, Weltpolitik und Weltethos. Zum neuen Pradigma internationaler Beziehungen,<br />

in: www.bpb.de, 15.3.2003. Vgl. auch sein Interview mit dem Spiegel „Rechtswidrig<br />

und unmoralisch“, in: Der Spiegel vom 17.3.2003, S. 61ff.<br />

9) Andreas Laun, Gott bewahre uns vor diesem Krieg!, in: Kirche heute 2/2003, S. 6;<br />

ders., Amerika gegen Irak: Ein gerechter Krieg?, in: Die Tagespost vom 11.1.2003.<br />

10) Karl Graf Ballestrem, Eine Theorie des gerechten Krieges ist unverzichtbar, in: Politisches<br />

Denken: Jahrbuch 2003, a. a. O., S. 249ff.<br />

11) Thomas von Aquin, Summa theologica, II-II qu 40 a 1. Vgl. auch Josef Rief, Die<br />

bellum-iustum-Theorie historisch, in: Norbert Glatzel / Ernst Josef Nagel, Hrsg., Frieden<br />

in Sicherheit, Freiburg 1981, S. 95ff.<br />

12) Die Deutsche Bischofskonferenz meinte in einer Erklärung vom 20.1.2003 den bevorstehenden<br />

Krieg gegen Saddam Hussein so bewerten zu müssen. Vgl. die Erklärung des<br />

Ständigen Rates „Im Widerspruch zum Völkerrecht“ in: Die Tagespost vom 23.1.2003.<br />

Vgl. auch Thomas Hoppe, Gewaltprävention statt Präventivkriege. Die Lehren des Irakkriegs<br />

und das Bischofswort zum „Gerechten Frieden“, in: Herder-Korrespondenz, 57. Jg.<br />

(2003), S. 227ff. Die amerikanischen Bischöfe neigen in ihrem Statement on Iraq vom<br />

13.11.2002 ebenfalls zu dieser Auffassung, in: www.nccbuscc.org/bishops/iraq. Daß es<br />

sich weder um einen Angriffs- noch um einen Präventivkrieg handelt, unterstreichen dagegen<br />

Lothar Roos, Völkerrecht durchsetzen, in: Rheinischer Merkur vom 13.2.2003 und<br />

G. Weigel, The Just War Case for the War, in: America, vol. 188, Nr. 11 vom 31.3.2003,<br />

S. 8.<br />

13) Hans Küng, Weltpolitik und Weltethos, a.a.O., S. 11; Spiegel-Interview, a.a.O., S. 61.<br />

14) Herfried Münkler, Über den Krieg, Weilerswist 2002, S. 257.<br />

15) Jochen A. Frowein, Terroristische Gewalttaten und Völkerrecht, in: FAZ vom<br />

15.9.2001.<br />

16) Michael Novak, „Asymmetrical Warfare“ and Just War, A moral obligation, in:<br />

www.nationalreview.com vom 10.2.2003. Vgl. auch H. Münkler, a. a. O., S. 252ff.<br />

17) George Weigel, Moral Clarity in a Time of War. The Second Annual William E. Simon<br />

Lecture, in: www.eppc.org<br />

179


18) Vgl. M. Spieker, Zur Aktualität der Lehre vom „gerechten Krieg“. Von nuklearer Abschreckung<br />

zur humanitären Intervention, in: Die Neue Ordnung, 54. Jg. (2000), S. 4ff.<br />

Vgl. auch die Botschaft Papst Johannes Pauls II. zum Weltfriedenstag am 1.1.2000, Ziffer<br />

11.<br />

19) Statement by the Attorney General Lord Goldsmith, in answer to a parlamentary question<br />

vom 18.3.2003, in: www.fco.gov.uk<br />

20) Für Bruno Simma, „Präventivschläge brechen das Völkerrecht“, Interview mit der<br />

Süddeutschen Zeitung vom 1./2.2.2003, war die Resolution 1441 ein „typischer Formelkompromiß“,<br />

der beide Schlußfolgerungen zuließ, die Frankreichs, Chinas und Rußlands,<br />

die ein eigenes „Mandat zum Krieg“ verlangten und die der USA, die dieses Mandat aus<br />

der Resolution 1441 ableiteten. Keinen Auslegungsspielraum sieht dagegen Dietrich<br />

Murswiek, Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, in: Neue<br />

Juristische Wochenschrift 2003, S. 1014ff. in der Resolution 1441. Sie enthalte in keinem<br />

Fall eine Ermächtigung zum Krieg.<br />

21) Vgl. Rat der EKD, „Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik“ vom<br />

6.1.1994, Hannover 1994, S. 28. Auch D. Murswiek, a. a. O., S. 1017 spricht vom „Monopol<br />

des Sicherheitsrates, Zwangsmaßnahmen ... zu treffen“.<br />

22) Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum Irak-Konflikt vom 13.3.2003, in:<br />

www.dbk.de/presse.<br />

23) KKK 2309. Vgl. dazu auch G. Weigel, a. a. O., S. 4 und ders., The Just War Case for<br />

the War, a. a. O., S. 7ff.; M. Novak, a. a. O., S. 1; Rudolf Pesch, „Der Krieg ist nicht einfach<br />

Schicksal“, in: Heute in Kirche und Welt, 3. Jg. (2003), S. 1.<br />

24) Angelo Kardinal Sodano, Ansprache beim Neujahrsempfang für das Diplomatische<br />

Korps am 16.1.1993. Nr. 13, in: Osservatore Romano (deutschsprachige Wochenausgabe)<br />

vom 29.1.1993, S. 9. Vgl. auch Giuseppe Mattai/Bruno Marra, Dalla guerra all‘ ingerenza<br />

umanitaria, Turin 1994, S. 123ff.<br />

25) Dokumentation der Rede von D. Rumsfeld über die offiziellen Kriegsziele der USA,<br />

in: FAZ vom 24.3.2003.<br />

26) Resolution 687, Punkt 34; Resolution 678, Einleitung.<br />

27) Ein markantes Beispiel für einen solchen Widerspruch ist der Hirtenbrief der deutschen<br />

Bischöfe „Gerechter Friede“ vom 27.9.2000. In Ziffer 1 erklären die Bischöfe, die<br />

Lehre vom gerechten Krieg sei an ein Ende gekommen, in den Ziffern 150 bis 161 bestätigen<br />

sie sie wie selbstverständlich in ihrer Rechtfertigung humanitärer Interventionen.<br />

Vgl. dazu M. Spieker, „Gerechter Friede“. Kritische Anmerkungen zum Hirtenbrief der<br />

deutschen Bischöfe vom 27. September 2000, in: Die Neue Ordnung, 55. Jg. (2001), S.<br />

467ff.<br />

28) KKK 2265.<br />

29) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 55.<br />

30) Johannes Paul II., Ansprache an das beim Hl. Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps<br />

am 13.1.2003, in: Osservatore Romano (deutschsprachige Wochenausgabe) vom 24.1.<br />

2003, Ziffer 4.<br />

31) Darauf weisen auch die amerikanischen Bischöfe in ihrem Statement on Iraq vom<br />

13.11.2002 hin.<br />

Prof. Dr. Manfred Spieker lehrt Christliche Sozialwissenschaften an der Universität<br />

Osnabrück.<br />

180


Ursula Nothelle-Wildfeuer<br />

„Frieden ist möglich“ – Ist Frieden möglich?<br />

Würde heute noch irgendein ernstzunehmender Zeitgenosse zu sagen wagen, was<br />

vor knapp 20 Jahren Franz Alt mit dem Titel seines heftig umstrittenen Buches<br />

ausdrückte, nämlich: „Frieden ist möglich!“? (F. Alt 1983) Scheint sich nicht derzeit<br />

das Gegenteil eher zu bewahrheiten? Jedes Jahr feiern wir Weihnachten, das<br />

Geburtsfest des menschgewordenen Go ttessohnes. Engel auf dem Felde verkünden<br />

den Menschen den Frieden auf Erden – „Pacem in terris“. Was ist das aber für ein<br />

Frieden, auf den die Menschen seit 2000 Jahren warten und hoffen? Bleibt er reine<br />

Utopie – Utopia im Sinne des Thomas Morus, also ohne Ort, ohne tatsächliche<br />

Realisierungschance in dieser Welt? Oder ist das Gegenteil richtig: Kann der Frieden<br />

hier auf Erden vollständig realisiert werden, wenn die Menschen ihn nur ernsthaft<br />

wollen? Könnte also ein „ewiger Friede“ tatsächlich Wirklichkeit werden?<br />

Für beide Standpunkte scheint es Belege zu geben: Denken wir nur an den nach<br />

1989 sehr schnell wieder geplatzten Traum von einer neuen friedlichen Weltordnung<br />

oder an die Vielzahl der derzeit schwelenden oder ausgebrochenen kriegerischen<br />

Konflikte. All dies scheint Beleg genug dafür zu sein, daß der Friede –<br />

zumindest der vollkommene Friede – tatsächlich ohne Realisierungschance ist und<br />

bleibt. Auf der anderen Seite gibt es die zahlreichen Bemühungen um Lösungen<br />

auf politisch-diplomatischem Weg, die humanitären Interventionen der UNO-<br />

Schutztruppen, die Bemühungen um kleine Schritte auf dem Weg zu Friedensverträgen<br />

und - umfassender - zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität weltweit. All dies<br />

signalisiert zumindest, daß Friede nicht gänzlich ortlos ist, daß Fortschritte auf den<br />

Frieden hin möglich sind und auch realisiert werden.<br />

Pointiert gefragt: Was ist also – gerade und speziell aus christlicher Perspektive –<br />

unter Frieden zu verstehen, wenn nicht, wie schon der differenziertere Blick in die<br />

Realität zeigt, die beiden Alternativen „ewiger Friede“ oder „ewige Kriegsgefahr“<br />

zur Bestimmung geeignet sind? Und ferner: Welche Chancen und Grenzen hat eine<br />

christliche Friedensethik heute? Kann sie überhaupt und wenn ja, welchen Beitrag<br />

kann sie zum weltweiten Friedensprozeß unter den komplexen gegenwärtigen<br />

Konditionen leisten, im Kontext einer säkularisierten und individualisierten Gesellschaft,<br />

in der einerseits das Bewußtsein einer christlich-abendländischen Einheit<br />

weitgehend geschwunden ist, in der es einen begrenzten und partikularen, aber<br />

zugleich immer wieder bedrohten und gefährdeten Abrüstungsprozeß gibt, in der<br />

das Vertrauen in die „selbstregulierende Kraft der Faktoren des technischen Zeitalters“<br />

(O. Kimminich 1972, 1118) geschwunden ist, in der andererseits große Hoffnungen<br />

auf kleinen Schritten ruhen, in der das Engagement für sozialethisch<br />

grundgelegte, strukturelle Maßnahmen zur Sicherung des Friedens groß ist und in<br />

der Stück für Stück unverzichtbare Bausteine für eine Kultur des Friedens entwickelt<br />

werden?<br />

181


182<br />

I. Elemente des biblisch-christlichen Friedensverständnisses<br />

Das Verhältnis von Krieg und Frieden war die gesamte Geistesgeschichte über<br />

immer wieder Gegenstand der Reflexion – wenn auch mit unterschiedlicher<br />

Schwerpunktsetzung. So geht die griechisch-römische Antike, etwa seit Homer,<br />

davon aus, daß der Krieg der Normalzustand ist und der Friede lediglich dessen<br />

von den Göttern verfügte Unterbrechung – also eine Art unproduktives „Pausenprogramm“<br />

der Weltgeschichte, das eigentlich gar nicht wünschenswert war, weil<br />

doch galt: „polemos pater hapanton“ – „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, wie<br />

der griechische Philosoph Heraklit im 5. Jahrhundert vor Christus meint. Erst im<br />

Laufe der weiteren Entwicklung wuchs dann langsam die Einsicht in das Unwesen<br />

des Krieges, so daß man allmählich zu einer positiveren Wertung des Friedens kam<br />

bis hin zu der Auffassung bei Hesiod, daß die „Eirene (die Göttin des Friedens),<br />

zusammen mit Eunomia (der Göttin des guten Auftrags, der guten Ordnung ...) und<br />

Dike (der Göttin der Gerechtigkeit) zu den das menschliche Tun umhegenden<br />

Mächten zählt“ (E. Biser 1972, 1115). Wichtig daran ist: Friede ist nicht das Produkt<br />

menschlicher Friedfertigkeit, sondern schicksalhaftes Geschenk.<br />

Im Alten Testament fungiert das Wort „shalom“ in ähnlicher Weise als Bezeichnung<br />

für die umfassende daseinssichernde Funktion des Friedens – dies sowohl als<br />

Gegenbegriff zu den äußeren Formen wie z. B. Krieg, Kampf und Streit als auch<br />

zu den inneren Übeln wie Angst, Schrecken und Sünde (vgl. ebd.). Frieden ist<br />

darum bereits hier – und das erweist sich als ein bleibendes Element der Bedeutungsgeschichte<br />

– mehr als bloß die Abwesenheit von Krieg. Frieden ist für die<br />

Menschen des alten Bundes Ausdruck für das Leben „in Freiheit, Gerechtigkeit<br />

und Sicherheit. Diesen Frieden sahen sie im Bund mit Gott gewährleistet“ (Die<br />

Deutschen Bischöfe 1983, Gerechtigkeit schafft Frieden, 12), und dessen Kommen<br />

erwarteten sie ausschließlich durch Gottes geschichtsmächtiges Wirken. Die neutestamentlichen<br />

Schriften lassen bei aller Unterschiedlichkeit in der Akzentuierung<br />

klar erkennen, daß die christliche Heilsbotschaft insgesamt als die Botschaft vom<br />

Frieden zu verstehen ist. „Jesus ist der Friedensbote Gottes, der in seinem Wirken,<br />

in Wort und Tat, Gottes befreiende Königsherrschaft nahe bringt und damit<br />

zugleich neue Beziehungen unter den Menschen ermöglicht.“ (Ebd., 14) Der Frieden<br />

mit Gott durch Jesus Christus ist ein Frieden, den die Welt nicht geben kann;<br />

er basiert auf Kreuz und Auferstehung Jesu Christi. Neutestamentlich wird dieser<br />

Frieden verstanden als endgültige Versöhnung mit Gott, durch die ein neues Ve rhältnis<br />

des Menschen zu Gott, zu den Mitmenschen und zu sich selbst begründet<br />

wird. „Wo die Menschen Gott zu seinem Recht kommen lassen, da sind die notwendigen<br />

Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben gegeben.“ (F.<br />

Böckle 1986, 751)<br />

Da Frieden gleichsam zum Synonym für das Heilswerk Jesu Christi geworden ist,<br />

folgt daraus für die Menschen in der Nachfolge Jesu, daß die Sorge um den Frieden<br />

und das dementsprechende Friedenshandeln, so unvollkommen es auch bleiben<br />

mag, deren vordringlichste Aufgabe ist. Diese christlich-theologischen Motive<br />

sind es, die die Entwicklung der Reflexion über den Frieden und die Entstehung<br />

verschiedener Theorien maßgeblich und vorrangig beeinflußt haben. Dabei gab es


ein dialektisches Fortschreiten, das sich bewegte zwischen einer stärker paulinisch<br />

begründeten Akzentuierung der Subjektivität des Friedens, seiner Verortung im<br />

Herzen des einzelnen und einer stärkeren Betonung der Vorstellung vom Frieden<br />

als einer universalen sozialen Friedensordnung der Welt, eine Friedensvorstellung,<br />

wie sie sich alttestamentlichen Wurzeln verdankt.<br />

Es gibt also einen tugendethischen und einen institutionell-strukturell-politischen<br />

Friedensbegriff. Aber es ist letztlich erst die Zusammenschau beider Dimensionen<br />

– der eher individuellen und der mehr sozialen –, die die Bedeutung der christlichen<br />

Botschaft für die Frage nach dem Frieden angemessen und umfassend in den<br />

Blick bringt. Ganz entsprechend dem christlichen Verständnis vom Menschen als<br />

Individual- und Sozialwesen sind sowohl das Friedensethos des einzelnen als auch<br />

das Bemühen um Strukturen zur Friedenssicherung, -erhaltung und -förderung im<br />

Sinne des umfassenden Friedensauftrages des Evangeliums unverzichtbar. Zudem<br />

weiß der christliche Glaube auch darum, daß der Mensch von Anbeginn an in einer<br />

durch seine Freiheit gegebenen Spannung lebt: „Die ganze Geschichte der<br />

Menschheit durchzieht ein harter Kampf gegen die Mächte der Finsternis, ein<br />

Kampf, der schon am Anfang der Welt begann und nach dem Wort des Herrn bis<br />

zum letzten Tag andauern wird“ (GS 37).<br />

Das bedeutet, daß der Mensch „mit dem Feuer … nicht nur (hat) wärmen und<br />

kochen, sondern auch verbrennen und brandschatzen können; mit dem Stein …<br />

Nahrung vorbereiten und schneiden …, aber auch den Mitmenschen verwunden<br />

und töten (hat) können. Menschwerden heißt immer Aufbrechenkönnen in sehr<br />

verschiedene, ja gegensätzliche Möglichkeiten. So kann der Mensch ‚dem Menschen<br />

zum Wolf’, aber auch zum Bruder werden.“ (Gerechtigkeit schafft Frieden,<br />

38 f). Die christliche Lehre vom Menschen weiß mithin um die Sündhaftigkeit des<br />

Menschen und zugleich um sein Erlöstsein in Christus. Dies bedeutet für unsere<br />

Frage nach dem Frieden, daß der endgültige Friede nicht vom Menschen herstellbar<br />

ist, sondern von Gott geschenkt wird, daß er sich auch nicht in irgendeiner von<br />

Menschen erdachten und konstruierten politischen Ordnung realisiert, denn auch<br />

jeder Ordnung haftet der Makel der Fehlbarkeit und Unvollkommenheit an.<br />

Um diese theologische Deutung der Friedensmöglichkeit besser verstehen zu können,<br />

die auf den ersten Blick nicht sehr euphorisch klingt, muß man auf das Element<br />

der eschatologischen Spannung verweisen, in das alles Handeln des Menschen<br />

eingebunden ist. Gott hat uns erlösungsbedürftigen Menschen den Frieden in<br />

und durch seinen Sohn endgültig verheißen, er ist zwar jetzt bereits angebrochen,<br />

aber noch nicht vollendet. Das bedeutet, daß Gott uns mit seiner Friedensbotschaft<br />

dazu auffordert, diesen Frieden in den konkreten irdischen Verhältnissen Wirklichkeit<br />

werden zu lassen, dies aber in dem vertrauensvollen und gläubigen Wissen<br />

darum, daß auch ein „Minimalprogramm“ in der Welt schon Achtung verdient, daß<br />

dann also auch „schon viel gewonnen (ist), wenn das Schlimmste verhindert wird,<br />

der Krieg nicht ausbricht, grobe Ungerechtigkeiten beseitigt werden, bestimmte<br />

Grundwerte anerkannt sind und die Menschen um die Verbesserung der Verhältnisse<br />

ringen“ (L. Roos 1984, 106). Gemildert wird dadurch zugleich auch der „moralische<br />

Hochleistungsdruck“, der in der christlich-theologisch voll und ganz zu<br />

unterstützenden Forderung nach Engagement für den Frieden entstehen kann – dies<br />

183


auch in der zutiefst christlichen und entlastenden Überzeugung, daß das Reich<br />

Gottes letztlich nicht vom Menschen abhängt und von Menschenhand zu produzieren<br />

ist, sondern umfassend von einem anderen her geschenkt und vollendet wird.<br />

Andererseits darf natürlich gerade der Christ angesichts der bleibenden Herausforderung<br />

durch den Frieden nicht die Hände in den Schoß legen und resignieren,<br />

sondern muß darauf vertrauen, daß sein Tun nicht sinnlos ist, sondern daß alles,<br />

was er zur Verbesserung irdischer Verhältnisse beiträgt, zumindest eine „adumbratio“<br />

(GS 39) ist, einen „Schimmer“ (LE 27) des neuen Himmels und der neuen<br />

Erde erfahrbar machen wird.<br />

184<br />

II. Grundelemente einer christlichen Friedensethik<br />

Diese skizzierten biblisch-theologischen Elemente, die Erkenntnis also, daß nicht<br />

„ewiger Frieden“ von uns machbar, sondern ein Geschenk ist, daß aber Schritte auf<br />

dem Weg zur Realisierung von Frieden grundsätzlich möglich und deswegen auch<br />

notwendig sind, bilden die Grundlage und Motivation für jedes christliche Friedensengagement.<br />

Weil der Friede grundsätzlich möglich ist, ist er, so Papst Paul<br />

VI. in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 1973, auch eine Pflicht. Es war aber<br />

bereits sein Vorgänger im Papstamt , Johannes XXIII., der 1963 in dem päpstlichen<br />

Rundschreiben „Pacem in terris“ die moderne theologisch-kirchliche wie sozialethische<br />

Antwort auf die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Krieg und<br />

Frieden geprägt hat. Die Veröffentlichung dieser sog. Friedensenzyklika jährt sich<br />

in diesem Jahr mithin zum vierzigsten Mal. Sie ist nach der Enzyklika „Mater et<br />

magistra“ von 1961, die von der Frage nach der gesellschaftlichen Ordnung – auch<br />

mit Bezug auf die internationale Ebene – handelt, die zweite Sozialenzyklika des<br />

Konzils -Papstes. Sie wurde kurze Zeit nach Beginn des II. Vatikanums und wenige<br />

Monate vor dem Tod Johannes XXIII. veröffentlicht und fällt – politisch betrachtet<br />

– in die Hochzeit des Kalten Krieges und in die Zeit des weltweiten Schocks, den<br />

die Kuba-Krise ausgelöst hatte. Die Enzyklika stellt im Konzert der sog. „Sozialenzykliken“<br />

der Päpste, deren erste im Jahr 1891 unter dem Titel „Rerum novarum“<br />

erschien, thematisch ein Novum dar: Ging es bis dahin – wenn auch in stets<br />

erweiterter Form – doch immer um die „klassischen“ sozialen Fragen etwa im<br />

Sinne der Frage nach den Arbeitern, nach der Gesellschaftsordnung und der gesellschaftlichen<br />

Entwicklung, so kommt nun mit dem Bereich der politischen Ethik<br />

und speziell des Friedens als Ziel der Politik ein ganz neuer, gerade damals hochaktueller<br />

Fragenkreis in den Blick der Sozialverkündigung der Kirche. Damit markiert<br />

sie einen Wendepunkt in der kirchlichen Lehre zum Thema Frieden. Man<br />

kann sie als die entscheidende neuzeitliche Antwort von Theologie und Kirche auf<br />

die Frage nach dem Frieden bezeichnen, in deren Tradition alle weiteren kirchlichen<br />

und theologischen Äußerungen zu dieser Thematik zu lesen sind. Was ist nun<br />

das Neue an dieser Enzyklika, das fortan als Bausteine einer christlichen Friedensethik<br />

der Gegenwart unverzichtbar geworden ist?<br />

1. Abwendung von der Dominanz der iustum-bellum-Lehre<br />

Ein erster Akzent läßt sich mit Blick auf die klassische Lehre vom „gerechten<br />

Krieg“ formulieren. Diese „iustum bellum“-Theorie, die im christlichen Kontext


erstmals von Augustinus formuliert und dann vor allen Dingen von Thomas von<br />

Aquin, aber auch von den Spätscholastikern in ihrer christlichen Gestalt weiter<br />

ausgearbeitet wurde, geht davon aus, daß „jeder Krieg ein Übel und deshalb zu<br />

vermeiden ist, es sei denn, es erweise sich zur Abwehr eines schweren Unrechts als<br />

unumgänglich.“ (M. Spieker 2000, 6) Damit aber auf keinen Fall leichtfertig dieser<br />

Fall konstruiert werde, wurden im Kontext dieser Lehre einige sehr klare Kriterien<br />

entwickelt, die erfüllt sein müssen, um überhaupt den Einsatz von Waffen zu erlauben,<br />

Kriterien wie z. B. Anordnung durch eine rechtmäßige staatliche Autorität,<br />

Abwehr einer lebens- oder rechtsbedrohlichen Aggression, der Krieg als ultima<br />

ratio, also als letzte Möglichkeit, nachdem alles andere versucht wurde, die Ve rhältnismäßigkeit<br />

der Mittel, die Erfolgswahrscheinlichkeit, die Kontrollierbarkeit<br />

des Waffeneinsatzes und die Immunität der Nichtkombattanten. An dieser Stelle<br />

soll und kann nun nicht behauptet werden, diese Lehre sei einfachhin abgeschafft 1 ,<br />

spielt sie doch bleibend eine Rolle im Fall eines Angriffs oder – und damit kommt<br />

eine neue Dimension hinzu – im Kontext der Debatte um die Abwehr schlimmster<br />

Menschheitsverbrechen, wie eines Völkermordes (vgl. Erklärung der Deutschen<br />

Bischofskonferenz zum Irak-Krieg 2003), also hinsichtlich der Begründung von<br />

humanitären Interventionen. In Anlehnung an und zugleich in bewußter und pointierter<br />

Unterscheidung von der klassischen Lehre vom „gerechten Krieg“ geben<br />

auch die deutschen Bischöfe im Jahr 2000 ein friedensethisches Schreiben mit dem<br />

Titel „Gerechter Frieden“ heraus. Aber die Enzyklika „Pacem in terris“ setzt andere,<br />

fundamentalere Akzente.<br />

2. Krieg im Atomzeitalter<br />

Erstmalig wird hier deutlich die Erkenntnis artikuliert, „daß Krieg im Atomzeitalter<br />

nicht als Instrument zur Lösung von Konflikten eingesetzt werden darf“ (G.<br />

Crepaldi 2003, 10). „Es darf nicht gestattet werden“, so schreibt Papst Johannes<br />

XXIII. mit Bezug auf seinen Vorgänger Pius XII., „daß das Grauen eines Weltkrieges<br />

mit seiner wirtschaftlichen Not, seinem sozialen Elend und seinen sittlichen<br />

Verirrungen zum dritten Mal über die Menschheit komme“ (PT 112).<br />

3. Die (An)Erkenntnis der Bedeutung der Menschenrechte für den inneren und<br />

äußeren Frieden als Novum christlicher Friedensethik<br />

Angesichts dieser qualitativ neuen Situation kann nun nicht länger – (neu)scholastischer<br />

Naturrechtslehre gemäß – gelten, daß der Krieg – wenn auch als ultima<br />

ratio – lediglich die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist bzw. – klassischem<br />

Völkerrecht gemäß – daß das Recht zum Krieg als Konsequenz der staatlichen<br />

Souveränität gesehen wurde. Will die Kirche nun ihrer umfassenden Ve rpflichtung<br />

zur Sorge um den Frieden nachkommen unter den Konditionen unserer<br />

zunehmend globalisierten und pluralistischen Gesellschaft, in der es kein einheitliches<br />

Verständnis von „Gerechtigkeit“ mehr gibt, gilt es folglich, einen anderen<br />

Ansatz für eine Friedensethik zu finden.<br />

Das Kernstück und absolute Novum der Enzyklika bildet dabei der umfassende<br />

und differenzierte Rekurs auf die Menschenrechte als entscheidender Schritt, um<br />

Frieden im Zusammenleben zwischen den Völkern zu begründen und zu sichern.<br />

Hier kristallisieren sich alle drei menschenrechtlichen Grundformen als relevant<br />

185


heraus: sowohl die individuellen Freiheitsrechte, die politischen Teilhaberechte als<br />

auch die sozialen Grundrechte. Die Sicherung dieser Menschenrechte ist nach<br />

„Pacem in terris“ die entscheidende Voraussetzung des inneren wie äußeren Friedens<br />

des politischen Gemeinwesens. Dabei werden die Menschenrechte von ihrer<br />

Grundstruktur als naturgegebene, zu respektierende, unteilbare und allgemeingültige,<br />

nicht nur auf die einzelnen Personen bezogen, sondern auch in analoger Weise<br />

auf Nationen und staatliche Gemeinschaften übertragen.<br />

Diese Aussage von der Bedeutung der Menschenrechte für den inneren und äußeren<br />

Frieden ist, wenn man so will, die These der Sozialenzyklika. Stellen die Menschenrechte<br />

nun – wie der Mainzer Sozialethiker Arno Anzenbacher formuliert –<br />

das Projekt der Moderne dar, so hat die Kirche damit endgültig ihren in der weltanschaulich<br />

theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzung bedingten<br />

Vorbehalt gegenüber dem Menschenrechtsdenken überwunden, die<br />

Menschenrechte in umfassender Weise rezipiert und folglich mit der Neuzeit ihren<br />

Frieden geschlossen. Dies ist noch einmal von besonderer Relevanz, wenn man<br />

sich daran erinnert, „wie bis weit in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts (sc.<br />

des 20. Jahrhunderts. Anm. d. Verf.) katholischerseits die Idee der Menschenrechte<br />

als Sache der ‚Aufklärung’ verdächtigt, die Pressefreiheit als Forderung ‚liberaler’<br />

Gesellschaftsauffassung, überhaupt die Vereinbarkeit der freiheitlichen Demokratie<br />

mit der katholischen Soziallehre bestritten wurde.“ (J. Messner 1963, 349)<br />

Mit dem Bemühen von „Pacem in terris“, die Menschenrechte in einen christlichen<br />

und damit von anderen Deklarationen unterscheidbaren Zusammenhang zu integrieren,<br />

wurde eine wesentliche Entwicklung im Sinne einer Annäherung an die<br />

bereits zweihundert Jahre existierende Menschenrechtsbewegung in Gang gesetzt:<br />

Nachdem die Einseitigkeit der Menschenrechte – in der französischen Revolution<br />

rationalistisch verengt gegen die Religion und politisch verengt dem Staat gegenüber<br />

– aufgehoben bzw. weitgehend gemildert worden war, hat die Kirche sich nun<br />

„die .. Menschenrechte ... zu eigen gemacht“. Theologisch korrekter muß man<br />

sagen, daß die Kirche auf diesem Wege „die wohlverstandenen Menschenrechte<br />

als echte, nur eine Zeitlang verschüttet gelegene Bestandteile ihres eigenen Menschenbildes<br />

wiedererkannt“ (Nell-Breuning 1983, 113) hat.<br />

4. Die Würdigung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948<br />

15 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 gibt die<br />

Kirche mit der Enzyklika „Pacem in terris“ mithin ihrerseits eine (kirchliche) Menschenrechtserklärung<br />

ab. Johannes XXIII. verweist dabei auf diese „Allgemeine<br />

Erklärung der Menschenrechte“ als „Akt von höchster Bedeutung. … In der Präambel<br />

dieser Erklärung wird eingeschärft, alle Völker und Nationen müßten in<br />

erster Linie danach trachten, daß alle Rechte und Formen der Freiheit, die in der<br />

Erklärung beschrieben sind, tatsächlich anerkannt und unverletzt gewahrt werden.“<br />

(PT 143) Zwar verweist der Text in der nächsten Nummer der Enzyklika darauf,<br />

„daß gegenüber einigen Kapiteln dieser Erklärung mit Recht von manchen Einwände<br />

geäußert worden sind.“ Ein entscheidendes Problem, das hier aber nicht<br />

näher angesprochen wird, betrifft wohl die Tatsache, daß in dieser Erklärung der<br />

Vereinten Nationen mit keinem Wort und an keiner Stelle Bezug auf Gott genommen<br />

wird. Dies war wohl der entscheidende Grund für das lange Schweigen der<br />

186


Päpste zu der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, wobei dies<br />

keine prinzipielle Ablehnung der Menschenrechtsidee prinzipiell (mehr) bedeutete,<br />

denn bereits Papst Pius XII. hatte während des Zweiten Weltkrieges mehrmals<br />

ausdrücklich die Einhaltung der Menschen- und Grundrechte gefordert. „Pacem in<br />

terris“ kommt nun aber zu einer ausdrücklichen Würdigung dieser Erklärung, die<br />

„gleichsam als Stufe und als Zugang zu der zu schaffenden rechtlichen und politischen<br />

Ordnung aller Völker auf der Welt“ (PT 144) betrachtet wird. „Denn durch<br />

sie wird die Würde der Person für alle Menschen feierlich anerkannt, und es werden<br />

jedem Menschen die Rechte zugesprochen, die Wahrheit frei zu suchen, den<br />

Normen der Sittlichkeit zu folgen, die Pflichten der Gerechtigkeit auszuüben, ein<br />

menschenwürdiges Dasein zu führen.“ (PT 144)<br />

5. Die Fundierung der Menschenrechte in der persona humana als Spezifikum<br />

christlicher Friedensethik<br />

Wenn auch die Liste der in der Enzyklika aufgezählten Rechte der Liste der einzelnen<br />

Menschenrechte, wie sie sich in der Erklärung der Vereinten Nationen<br />

findet, stark vergleichbar ist, so handelt es sich bei „Pacem in terris“ doch um<br />

wesentlich mehr als um eine bloße Abschrift dieser Erklärung. Die christlichlehramtliche<br />

Interpretation der Menschenrechte hat – wie die bereits zitierten Stellen<br />

aus der Enzyklika belegen – ihren Ansatzpunkt ausdrücklich bei dem Ve rständnis<br />

des Menschen als Person. Die Menschenrechte basieren darauf, „daß jeder<br />

Mensch seinem Wesen nach Person ist.“ Sie hat, so heißt es in der Enzyklika weiter,<br />

„eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist“ (PT 9). Damit<br />

bildet die persona humana, d. h. der Mensch als moralisches, zur Verantwortung<br />

fähiges Subjekt die konstitutive Kategorie christlichen Menschenrechtsdenkens<br />

und damit auch christlicher Friedensethik. Bei der Grundlegung des Personbegriffs<br />

geht Johannes XXIII. dann auch – nicht vorrangig, aber dennoch unüberhörbar<br />

– einen spezifisch theologischen Weg, indem er die Würde der menschlichen<br />

Person christologisch und soteriologisch herleitet, erst durch das Erlösungsgeheimnis<br />

wird dem Menschen – wie es später die Pastoralkonstitution des II.<br />

Vatikanums formulieren wird – seine Würde erst wieder geschenkt und voll bewußt<br />

gemacht. 2<br />

Daß als Konsequenz dieser Würde des Menschen die Menschenrechte überpositiv<br />

sind, d. h. sie als transzendenter Grund den einzelnen positiven Gesetzesnormen<br />

vorausliegen und von den Staaten nur anerkannt, nicht aber großzügig gewährt<br />

bzw. bei vorgeblicher politischer Notwendigkeit auch wieder abgeschafft werden<br />

können, ist ein zentraler Punkt in diesem Verständnis der Menschenrechte. Wenn<br />

auch die Allgemeine Erklärung aufgrund des Bemühens um Offenheit für plurale<br />

Deutungen keine Autoritäts- und Begründungsquelle angeben konnte, so ist dort<br />

dennoch in ganz ähnlicher Weise die Rede von der „Anerkennung“ der Würde und<br />

Rechte des Menschen als Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden.<br />

6. Die gleichursprüngliche Betonung der Rechte und Pflichten des Menschen als<br />

Spezifikum der christlichen Friedensethik<br />

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erklärt sich auch ein weiterer Gesichtspunkt<br />

zur spezifischen Konzeption in „Pacem in terris“: Waren die Menschenrech-<br />

187


te ursprünglich, zumindest in ihrer französischen und sich daran anschließenden<br />

deutschen Ausformung, konzipiert als Block, der die sie fordernden Menschen in<br />

eine Abwehrhaltung dem Staat und der Gesellschaft gegenüber brachte und ihnen<br />

zugleich Schutz vor diesen bieten sollte, so greift in dieser Enzyklika nun eine eher<br />

integrierende Vorstellung: Die im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende personale<br />

Realität des Menschen ergibt sich eben durch die gleichzeitige und das bedeutet<br />

gleichursprüngliche Beachtung der Rechte und Pflichten. Den Pflichten widmet<br />

der Text am Ende eines jeden Teils jeweils ein eigenes Kapitel. Zwischen beiden –<br />

den Rechten und den Pflichten – besteht eine Reziprozität sowohl bezüglich des<br />

Verhältnisses zwischen den eigenen Rechten und den entsprechenden Pflichten der<br />

anderen als auch des Verhältnisses zwischen den Rechten und Pflichten des jeweiligen<br />

Trägers selbst.<br />

Allerdings ist hier dennoch ein gravierender Unterschied zwischen den Rechten<br />

und Pflichten zu bedenken: Die Pflichten sind eher auf einer überpositiven Ebene<br />

anzusiedeln, denn entspräche dem jeweiligen Freiheitsrecht eine adäquate Pflicht,<br />

so wäre genau die Freiheit gefährdet, um deren Schutz es geht. Die Rede von den<br />

Pflichten vermittelt in differenzierter Form eine bedeutende Aufforderung an die<br />

einzelnen, ihre moralische Verantwortung für das Gemeinwohl wahrzunehmen. (K.<br />

Hilpert 1991, 162-167)<br />

Durch diese fundamentale soziale Einbindung ist der Gefahr gewehrt, daß die<br />

Kirche sich einem liberalistischen Individualismus, der überdies längst an Relevanz<br />

verloren hat, anpaßt. Diese spezielle, auf Integration von Individuum und<br />

Sozialgebilde ausgerichtete Akzentuierung der Konzeption erfährt noch einmal<br />

eine deutliche Bestätigung durch die Betonung eines Rechts, das sich in den anderen<br />

„profanen“ Erklärungen kaum findet, nämlich das „mit der Würde der menschlichen<br />

Person“ verknüpfte „Recht ..., am öffentlichen Leben aktiv teilzunehmen<br />

und zum Gemeinwohl beizutragen.“ (PT 26) Es handelt sich hierbei um ein soziales<br />

Grundrecht, neuere Dokumente der kirchlichen Soziaverkündigung sprechen in<br />

dem Bemühen, das damit ausgedrückte Verständnis von sozialer Gerechtigkeit<br />

adäquat wiederzugeben, von „partizipativer“ resp. von „kontributiver“ Gerechtigkeit.<br />

Damit wird zugleich der Bogen geschlagen zu der Definition des Thomas von<br />

Aquin, demzufolge Frieden das Werk der Gerechtigkeit ist.<br />

7. Der friedensethische Ansatz bei den Menschenrechten als spezifisch sozialethischer<br />

Ansatz<br />

Daß die Kirche in und mit „Pacem in terris“ ihren Frieden mit der Neuzeit gemacht<br />

hat, dokumentiert sich auch darin, daß mit dem Ansatz bei den Menschenrechten<br />

im Unterschied zum klassischen, eher individualethischen ein spezifisch sozialethischer<br />

Zugang zur Friedensproblematik gewählt worden ist: „(I)m Zuge der neuzeitlichen<br />

‚Wende der Vernunft nach außen’“ erkennt sich der Mensch „als Subjekt<br />

der ihm zur Erkenntnis und Gestaltung aufgegebenen Wirklichkeit.“ (W. Korff<br />

1999, 213). Nicht mehr nur rein tugendethisch orientiertes Handeln des Menschen<br />

in einer fest gefügten Gesellschaftsordnung „prästabilierter Harmonie“ ist die Aufgabe<br />

des Menschen, sondern die „gesellschaftliche Realität mit ihren mannigfaltigen<br />

handlungsbestimmenden Strukturen“ (W. Korff 1999, 213) selbst ist Gegenstand<br />

menschlichen Erkennens und Handelns. Genau diese sozialstrukturelle Seite<br />

188


der ethischen Frage ist Gegenstand der christlichen Sozialethik. Die Menschenrechte<br />

stellen nun die fundamentalen Strukturelemente dar, auf deren Basis eine<br />

gesellschaftliche Ordnung rekonstruiert werden kann, die sich an der regulativen<br />

Idee des Friedens orientiert. Dem voraus- und zugrunde liegt die Würde des Menschen,<br />

die den beständigen Bezugs- und Orientierungspunkt dieses Handelns konstituiert.<br />

Frieden läßt sich – und diese Erkenntnis ist das Fundament von „Pacem in terris“ –<br />

also in der Komplexität und Vernetzung, wie sie die Weltsituation seit dem 2.<br />

Weltkrieg und speziell die gegenwärtige kennzeichnen, nicht (mehr) allein durch<br />

Appelle an die Moralität und an das sittlich verantwortete Verhalten der einzelnen<br />

Bürger bewerkstelligen. So hatte etwa Thomas von Aquin – lange wegweisend –<br />

die Friedensthematik in der „Summa theologiae“ im Kapitel über die Tugenden<br />

abgehandelt.<br />

Wenngleich dieser Zugang durchaus von Bedeutung bleibt, so lenkt „Pacem in<br />

terris“ den Blick primär – der Struktur modernen Handelns gemäß – auf die Strukturen,<br />

auf die politische und rechtliche Dimension der Problematik, d. h. auf die<br />

Bedingungen, unter denen tugendhaftes friedvolles Verhalten der Bürger stattfinden<br />

kann. „Pacem in terris“ sucht also mit dieser spezifischen Akzentuierung, auf<br />

der Basis unverzichtbarer ethischer Standards politisch und rechtlich verantwortbare<br />

Lösungen zu finden für ein Problem, das die Menschheit von alters her belastet.<br />

Zugleich zeigt diese Betonung der Dimension der gerechten Strukturen sowie des<br />

Zusammenhangs von der Achtung der Menschenrechte und dem Frieden eine grosse<br />

Nähe zu jenem Friedenskonzept des Völkerrechts und besonders zur Charta der<br />

Vereinten Nationen an, das abzielt auf „eine an der Rechtsidee orientierten institutionellen<br />

Gestaltung internationaler und globaler Politik“. (K. Dicke 2000, 29 f)<br />

III. Implementation der christlichen Friedensethik<br />

Eine Friedensethik bleibt immer unvollständig, wenn nicht Überlegungen zur Implementierung<br />

der ethischen Aspekte und Forderungen im gesellschaftlichen Denken<br />

und Handeln angestellt werden. Abschließend sollen hier einige unverzichtbare<br />

Elemente einer Kultur des Friedens entwickelt werden.<br />

Dabei ist formal auszugehen von einer Ethik-Konzeption, die sowohl Elemente<br />

eines individuellen, auf den Habitus der einzelnen abzielenden Friedensethos enthält,<br />

als auch institutionelle, strukturelle und rechtliche Aspekte.<br />

1. Dialog<br />

„Ein Krieg beginnt nie erst, wenn geschossen wird; er endet nicht, wenn die Waffen<br />

schweigen. Wie er längst vor dem ersten Schuß in den Köpfen und Herzen von<br />

Menschen begonnen hat, so braucht es lange Zeit, bis der Friede in den Köpfen<br />

und Herzen einkehrt.“ (Gerechter Frieden, Nr. 108) Wenn die Waffen aber schweigen,<br />

bedarf es zunächst des Dialoges, damit der Frieden in die Herzen und Köpfe<br />

der Menschen einkehren kann. Nicht von ungefähr wendet sich „Pacem in terris“<br />

erstmalig in der Reihe der Adressaten auch an „alle Menschen guten Willens“, lädt<br />

also ein zum Dialog mit allen Menschen auf der Welt einzutreten, die mit den<br />

Christen die Sorge um das Leben der Menschen, die Gestaltung von gesellschaftli-<br />

189


cher und internationaler Ordnung und das Bemühen um Frieden auf der Erde teilen.<br />

Daß dies gerade nach den Ereignissen des 11. September 2001 höchste Priorität<br />

auf der Agenda hat, liegt auf der Hand. Zur Friedenssicherung und zum Friedenserhalt<br />

sind vor allem auch alle Formen des institutionalisierten Dialogs unverzichtbar.<br />

Die innerstaatliche Demokratie bedarf der öffentlichen Debatte und dokumentiert<br />

damit gleichzeitig die Korrekturfähigkeit im Blick auf wirtschaftliche,<br />

politische und gesellschaftliche Entscheidungen. Auf internationaler Ebene sind<br />

hier die Einrichtungen wie OSZE und UNO mit ihren institutionalisierten Formen<br />

der Konsultation und Kooperation zu nennen.<br />

2. Gemeinwohl und Menschenpflichten<br />

Die Menschenrechtskonventionen können – und hier klingt das hinreichend bekannte<br />

Böckenförde-Dilemma an – die sittlichen Voraussetzungen, von denen sie<br />

und damit auch der Frieden leben, nicht selber produzieren und garantieren. Es<br />

bedarf also notwendig der Moralität der Gesellschaftsmitglieder, des Gemeinsinns,<br />

eines Grundkonsenses bezüglich des Wertesystems. Dieser Grundkonsens darf in<br />

keiner utilitaristischen Weise einem möglichen Mehrheitsvotum der Gesellschaft<br />

geopfert werden, daß die Menschenwürde und Menschenrechten anderen Interessen<br />

unterzuordnen versucht.<br />

Die Etablierung einer Kultur des Friedens auf der Basis von Menschenrechten hat<br />

viel mit der Glaubwürdigkeit der Beteiligten zu tun (vgl. K. Dicke 2000). Ein kurzer<br />

Blick auf die Gesellschaft der Bundesrepublik zeigt, daß sich im Blick auf die<br />

Grundrechte zunehmend eine Haltung breit macht, die Grund- und Bürgerrechte<br />

nur noch als (Rechts-)Ansprüche interpretiert (vgl. K. Dicke 2000, 31). Das Bewußtsein<br />

für die Pflichten ist nahezu völlig geschwunden ist. Damit ist die moralische<br />

Basis der Menschenrechte von Erosion und Verfall bedroht.<br />

An dieser Stelle setzt zur Lösung dieses uralten und immer wiederkehrenden, jetzt<br />

aber neu und intensiv diskutierten Problems des Verhältnisses zwischen Rechten<br />

und Pflichten etwa der Versuch an, die Pflichten der Menschen zu dekretieren – so<br />

etwa die Menschenpflichtenerklärung von 1997. Deren Intention ist es, durch eine<br />

Besinnung auf die Menschenpflichten die Realisierung der Menschenrechte zu<br />

fördern. „Eine Menschenpflichten-Erklärung“, so heißt es dazu bei Hans Küng, der<br />

intensiv an der Entstehung dieser Erklärung beteiligt war, „unterstützt und untermauert<br />

die Menschenrechte-Erklärung vom Ethos her“. (H. Küng 1997, 97.)<br />

Zugleich zeigt aber ein Blick in die Geschichte, wie groß die Gefahr ist, daß autoritäre<br />

Regime auf der Basis eines verpflichtend gemachten Tugend- und Pflichteethos<br />

Terror ausüben. Aus der Perspektive der Ethik erwächst genau an dieser<br />

Stelle ebenfalls ein Problem, denn das Menschenrechtsethos ist ein Ethos der Freiheit<br />

und der Selbstbestimmung, mit dessen Intention es sich im Kern nicht vereinbaren<br />

läßt, Pflichten zu dekretieren.<br />

3. Die Kodifikation von Menschenrechtsstandards<br />

Zur Implementierung des geforderten Menschenrechtsbewußtseins bedarf es ferner<br />

– ganz im Sinne der oben genannten spezifisch sozialethischen, auf Strukturen<br />

angelegten Sichtweise – der Kodifikation von Menschenrechtsstandards in nationa-<br />

190


len und internationalen Abkommen, wie dies vielfach im Sinne einer Fortschreibung<br />

und Konkretisierung der Menschenrechte schon geschehen ist.<br />

4. Demokratie und Sozialstaat<br />

Thomas von Aquin bestimmt den Frieden als Werk der Gerechtigkeit. Versteht man<br />

nun Gerechtigkeit als Bemühen, dafür Sorge zu tragen, daß jeder Mensch ein Leben<br />

in Würde führen kann und sich in seiner Existenz angemessen entfalten kann,<br />

dann schließt sich der gedankliche Kreis zur Rolle der Menschenrechte. Wenn der<br />

Staat diese Aufgabe erfüllt, dann kommt die sozialstaatliche und demokratische<br />

Dimension des Gemeinwesens zum Tragen und es wird offenkundig, welche bedeutende<br />

Rolle diese Dimensionen für die Friedenssicherung spielen.<br />

5. Humanitäre Interventionen<br />

Zur Implementierung eines Menschenrechtsethos und -bewußtseins als Fundament<br />

des Friedens gehören notwendig auch strukturelle politische oder rechtliche Maßnahmen<br />

zur Durchsetzung der Menschenrechte. Daraus ergibt sich nun die Notwendigkeit,<br />

über das im Rahmen unserer Überlegungen zum Frieden fundamentale<br />

Problem der humanitären Interventionen nachzudenken:<br />

Aufgrund von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen stellt sich zunehmend<br />

die Frage, ob Menschenrechte zur Not auch mit Gewalt, mit militärischer<br />

Gewalt durchgesetzt werden können und wie sich dieser Eingriff mit dem Selbstbestimmungsrecht<br />

der Völker und dem Interventionsverbot – als Prinzipien der<br />

UN-Charta – vereinbaren läßt. Die heutige vorherrschende Meinung und Interpretation<br />

tendiert dahin, Menschenrechte vorrangig vor dem Gebot der Staatensouveränität<br />

zu behandeln. Begründet wird diese Tendenz mit dem Argument, daß infolge<br />

der Bestimmungen der UN-Charta und der Resolution 688 3 dort die Souveränität<br />

eines Staates an ihre Grenzen stößt, wo die Menschenrechtsverletzungen und -<br />

mißachtungen zu einer allgemeinen Friedensbedrohung werden oder sich die Souveränität<br />

durch Massen- oder Völkermord selbst negiert.<br />

Hier geht es – sozialethisch gesprochen – um eine globale Solidaritätsverpflichtung,<br />

die letztlich nur theologisch-anthropologisch auf der in „Pacem in terris“<br />

gelegten Basis zu begründen ist: „Wenn die Würde des Menschen und die sich aus<br />

ihr ergebenden angeborenen Rechte massiv verletzt werden, innerstaatliche Institutionen<br />

zu deren Schutz definitiv ausfallen und diplomatische Mittel versagen, dann<br />

ist die Gemeinschaft der Völker zu solidarischem Handeln verpflichtet“. (M. Spieker,<br />

2000, 11)<br />

Auch und gerade Papst Johannes Paul II., dem es so sehr um den Schutz des<br />

Rechts auf Leben geht und der sich genau aus dem Grund immer wieder gegen<br />

Krieg und in den vergangenen Monaten speziell sehr deutlich gegen einen Krieg<br />

gegen den Irak ausgesprochen hat, spricht von „humanitärem Eingreifen“ als einer<br />

Verpflichtung für die Völkergemeinschaft, wenn ein Volk, das angegriffen wird<br />

und dessen Recht auf Leben mit Füßen getreten werde, sich nicht selber verteidigen<br />

könne. In diesen Fällen gibt es kein ‚Recht auf Gleichgültigkeit’ mehr (vgl.<br />

Kardinalstaatssekretär Sodano 1993). Dieser Dienst an der Einhaltung, Sicherung<br />

und ggf. Wiederherstellung der Menschenrechte ist zutiefst ein unverzichtbarer<br />

191


Friedensdienst, eigentlich ein Dienst an den Fundamenten der Zivilität bedrohter<br />

Gesellschaften und damit der globalen Weltgesellschaft.<br />

192<br />

Utopie oder regulative Idee?<br />

Um zur anfangs gestellten Frage zurückzukehren: Ist der Frieden eine Utopie oder<br />

eine regulative Idee? In Anlehnung an Kant lautet die Antwort: Die Idee des Friedens<br />

ist – wie auch die etwa der sozialen Gerechtigkeit – eine moralisch-regulative<br />

Idee. Solche Ideen sind nicht in Vollkommenheit, sondern nur partiell, punktuell<br />

und im Fragment realisierbar. Das macht sie nicht utopisch oder gar funktionslos.<br />

Denn würden wir auf sie wegen dieser prinzipiell bloß fragmentierten Realisierbarkeit<br />

verzichten wollen, so wäre der Schaden immens. Denn solche Ideen sind<br />

motivierend und zielorientierend, indem sie in der Vielzahl kleiner Schritte größere<br />

Zweckzusammenhänge aufzeigen. Wir können mithin gar nicht ernsthaft wollen,<br />

auf moralisch-regulative Begriffe zu verzichten. Denn regulative Ideen sind normative<br />

Richtungsvorgaben sowohl für das eigene Handeln wie auch für die politische<br />

Auseinandersetzung. Sie dienen der Beurteilung von Handlungsoptionen und<br />

sind als solche unverzichtbar, auch wenn die konkreten, individuellen wie kollektiven<br />

Handlungsresultate, gemessen an der regulativen Idee, immer begrenzt und<br />

mangelhaft sind und damit revisionbedürftig bleiben. Sie haben mithin eine heuristische<br />

Funktion als Richtungsindikatoren für moralisch rechtfertigbare Entscheidungen<br />

unter hoch- und hyperkomplexen Realitätsbedingungen, die eine Eindeutigkeit<br />

der Beurteilung und der Lösungsfindung per se nicht zulassen.<br />

Wird Friede als eine regulative Idee verstanden, dann besteht die Aufgabe nicht<br />

darin, den archimedischen Punkt zu finden, an dem der Hebel anzusetzen wäre, um<br />

die Welt aus den Angeln zu heben und in einen friedvollen Zustand zu versetzen,<br />

sondern in einem offenen Such-, Lern- und Gestaltungsprozeß stückweise Frieden<br />

immer wirklicher zu machen, auch wenn die konkrete Praxis dem Ideal immer<br />

hinterherhinkt. Und – theologisch gesprochen: auch hinterherhinken darf.<br />

Die Verheißung des vollkommenen, ewigen Friedens, wie Gott ihn gibt, ist die<br />

regulative Idee, die uns als Ziel in ihrer endgültigen Gestalt vor Augen steht, deren<br />

Vollendung wir aber aufgrund menschlicher Fehlbarkeit und Endlichkeit nicht<br />

leisten können und auch nicht leisten müssen, sondern die uns von Gott her geschenkt<br />

wird. Die Verheißung des vollkommenen, ewigen Friedens ist es aber<br />

zugleich auch, was uns gerade nicht ruhen läßt, sondern motiviert, uns – in Gottes<br />

Namen – zu engagieren für Frieden, für Menschenrechte, für das menschenwürdige<br />

Leben aller Menschen und Völker, für „Pacem in terris“.<br />

Anmerkungen<br />

1) Vgl. dazu Gerechtigkeit schafft Frieden, 1983: „Da indessen Gewaltanwendung nicht<br />

auszuschließen ist und, anders als im binnenstaatlichen Herrschaftsbereich, ein internationales<br />

Gewaltmonopol mit Sanktionsvollmachten faktisch nicht existiert, kann einem Staat<br />

unter bestimmten Bedingungen das Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung nicht abgesprochen<br />

werden.“ Vgl. ferner Gerechter Frieden, 152-154.


2) PT 10: „Wenn wir die Würde der menschlichen Person nach den Offenbarungswahrheiten<br />

betrachten, müssen wir sie noch viel höher einschätzen: Denn die Menschen sind ja<br />

durch das Blut Jesu Christi erlöst, durch die himmlische Gnade Kinder und Freunde Gottes<br />

geworden und zu Erben der ewigen Herrlichkeit eingesetzt.“<br />

3) Die Resolution 688 des UN-Sicherheitsrates vom April 1991 wurde verabschiedet, als<br />

eben diesem Sicherheitsrat die Verfolgung der Kurden im Nordirak durch Saddam Hussein<br />

eine Bedrohung des internationalen Friedens zu sein schien und er sich damit in<br />

seiner Zuständigkeit herausgefordert sah.<br />

Literatur<br />

Alt, F. 1983: Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt, München.<br />

Biser, E. 1972: Art.: Friede, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie,<br />

Basel / Stuttgart, Bd. 2, 1114-1117.<br />

Böckle, F. 1986: Art.: Frieden III. Theologisch, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon,<br />

Freiburg, Bd. 2, 750-752.<br />

Crepaldi, G. 2003: Interview mit Seiner Exzellenz Monsignor Giampaolo Crepaldi, Sekretär<br />

des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, in: Arbeitshilfen „Pacem in<br />

terris: Eine bleibende Aufgabe.“ Welttag des Friedens 2003 165, 9-14.<br />

Dicke, K. 2000: Die Frage nach dem Recht des Menschen im Schnittpunkt politischer,<br />

rechtlicher und ethischer Diskurse, in: T. Hoppe (Hrsg.), Friedensethik und internationale<br />

Politik. Problemanalysen - Lösungsansätze – Handlungsperpektiven, Mainz, 17-33.<br />

Die Deutschen Bischöfe, 1983: Gerechtigkeit schafft Frieden. Wort der Deutschen Bischofskonferenz<br />

zum Frieden, Nr. 34, Bonn.<br />

Die Deutschen Bischöfe, 2000: Gerechter Friede. Wort der Deutschen Bischofskonferenz<br />

zum Frieden, Nr. 66, Bonn.<br />

Hilpert, K. 1991: Die Menschenrechte. Geschichte – Theologie – Aktualität, Düsseldorf.<br />

Kimminich, O. 1972: Art.: Friede, ewiger, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch<br />

der Philosophie, Basel/Stuttgart, Bd. 2, 1117-1119.<br />

Korff, W. 1999: Der sozialethische Paradigmenwechsel: Voraussetzungen und Konsequenzen,<br />

in: W. Korff u.a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik. Verhältnisbestimmung<br />

von Wirtschaft und Ethik, Gütersoh, Bd. 1, 212-225.<br />

Küng, H. 1997: Keine Angst vor dem Ethos, in: H. Schmidt (Hrsg.), Allgemeine Erklärung<br />

der Menschenpflichten. Ein Vorschlag, München, 73-95.<br />

Messner, J. 1963: Der naturrechtliche Gehalt von Pacem in terris, in: Die Neue Ordnung<br />

17, 334-353.<br />

Nell-Breuning, O. v. 1983: Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente,<br />

Wien.<br />

Roos, L. 1984: Dimensionen christlicher Weltverantwortung, in: Lebendige Seelsorge 35,<br />

97-106.<br />

Spieker, M. 2000: Zur Aktualität der Lehre vom „gerechten Krieg“. Von nuklearer Abschreckung<br />

zur humanitären Intervention, in: Die Neue Ordnung 54, 4-18.<br />

Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Lehrstuhlvertreterin im Fach „Christliche<br />

Gesellschaftslehre und Pastoralsoziologie“ an der Universität Bonn.<br />

193


194<br />

Hans Thomas<br />

Vom gentechnischen Segen<br />

zum Klonen des Menschen<br />

Einige Stichwörter, die uns laufend die Tagespresse serviert: Genomsequenzierung,<br />

Gentechnik, Gentherapie, In-vitro-Fertilisation, Retortenbaby, überzählige<br />

oder „verwaiste“ Embryonen, Kryokonservierung, Embryonenforschung,<br />

Stammzellen (embryonale – ES/GS – und adulte), Gewebezüchtung aus Stammzellkulturen,<br />

„therapeutisches“ Klonen, reproduktives Klonen, Pränataldiagnostik,<br />

Präimplantationsdiagnostik. Wer nicht ständig damit befaßt ist, schaut nicht<br />

mehr durch. Das gilt auch für Parlamentarier.<br />

Es gilt in gewissem Sinne auch für Ärzte. Es sieht zwar vordergründig so aus, als<br />

handle es sich bei den genannten Stichwörtern um deren ureigenste Sache. Das<br />

ist aber nicht so. Nur eine verschwindende Minderheit der Ärzte hat praktisch<br />

Berührung mit dem einen oder anderen der genannten Sachverhalte. Die diskutierten<br />

Relativierungen des Tötungsverbots, ob an Ungeborenen, Sterbenden<br />

oder nunmehr Embryonen, nagen aber am beruflichen Selbstverständnis.<br />

I. Was wird gemacht? Was ist Zukunftsvision?<br />

Sehen wir uns die Stichwörter an: Genomsequenzierung und Stammzellenforschung<br />

sind Grundlagenforschung. Gentechnik ist ein Allgemeinbegriff. Embryonenforschung<br />

auch. Zukunftsvision sind Gentherapie und Ersatzgewebe aus<br />

Stammzellen. Und noch ist reproduktives Klonen des Menschen Science Fiction.<br />

Reproduktives Klonen beim Tier hat seit dem Schaf Dolly Konjunktur. Gegenwärtige<br />

Praxis beim Menschen sind: In-vitro-Fertilisation, Retortenbaby, überzählige<br />

Embryonen, Kryokonservierung, „therapeutisches Klonen“, Pränatal-<br />

und Präimplantationsdiagnostik. In Deutschland sind bislang verboten: jegliches<br />

Klonen beim Menschen sowie Gewinnung von Stammzellen aus Embryonen und<br />

Präimplantationsdiagnostik. Ich beschränke mich auf die umkämpften Komplexe<br />

Stammzellen, „therapeutisches“ Klonen und Präimplantationsdiagnostik. Vorab<br />

gehört aber die In-vitro-Fertilisation (Befruchtung im Labor) zu den Agenda.<br />

Denn sie ist einerseits in der Reproduktionsmedizin Routine, andererseits die<br />

Einstiegstechnik zu allem weiteren, weil sie ja überhaupt erst den Zugriff auf den<br />

frühen Embryo ermö glicht. Zu den Sachverhalten – in Kurzform:<br />

II. In-vitro-Fertilisation (IvF)<br />

Louise Brown, das erste Retortenbaby, wurde 1978 durch Kaiserschnitt geboren.<br />

Die Vorarbeiten von Robert Edwards und Patrick Streptoe seit 1960 sind eine<br />

unerquickliche Geschichte hemmungslosen „Verbrauchs“ von Embryonen. Mit


dem „Durchbruch“ von 1978 war sie historisiert und vergessen. Heute leben<br />

weltweit über 300.000 Kinder aus der Retorte, in Deutschland 8-10.000. Legitimiert<br />

und propagiert wurde die Methode mit dem Kinderwunsch unfruchtbarer<br />

Paare. Die IvF mit anschließendem Embryo-Transfer (ET) in die Gebärmutter ist<br />

aber keine Therapie. Weder die Unfruchtbarkeit der Frau noch die Impotenz des<br />

Mannes wird behandelt. Es handelt sich um eine Umwegtechnologie, oft bezeichnet<br />

als „Substitutionstherapie“. Nicht nur bei der Verfahrensentwicklung,<br />

auch beim Verfahren selbst werden zahlreiche Embryonen geopfert. Weil nur<br />

wenige übertragene Embryonen eine Schwangerschaft bewirken, werden eine<br />

ganze Anzahl Eizellen entnommen und befruchtet. Das Embryonenschutzgesetz<br />

verbietet, mehr als 3 Embryonen gleichzeitig zu implantieren. Statistisch bedarf<br />

es dann, um zu einer Geburt zu kommen, 5 bis 10 Implantationen. 14 bis 29<br />

Embryonen sterben. Hinzu kommen die sogenannten „überzähligen Embryonen“,<br />

die entweder wegen Krankheit oder Sinneswandel der Frau nicht eingepflanzt<br />

werden oder für einen erneuten Ve rsuch während des nächsten Zyklus<br />

der Frau kryokonserviert (eingefroren) wurden.<br />

Das Verfahren ist für die Frau belastend. Physisch aufgrund der nachhaltigen<br />

hormonellen Stimulationen. Psychisch wegen der oft frustrierenden Fixierung<br />

auf einen „Erfolg“: ein Kind. Die Vorstellung vom „Recht auf ein Kind“ breitet<br />

sich aus. Auch ist ein Wandel der Indikation Kinderwunsch zur Metaindikation<br />

Wunschkind unübersehbar. Wo erlaubt, werden einzeitig auch weit mehr als 3<br />

Embryonen implantiert. Infolge der starken Hormonstimulation kommt es dann<br />

auch häufiger zu Vierlings-, Fünflings- und Mehr-Schwangerschaften. Die resultierenden<br />

Gefahren für die Mutter werden abgewendet durch gezielten Fetozid:<br />

Einige Föten werden getötet – mittels Spritze ins Herz durch die Bauchdecke der<br />

Mutter – und dann abgetrieben. In der Fachsprache: „Reduzierung höhergradiger<br />

Mehrlingsschwangerschaft“.<br />

Zu den Begleitphänomenen der In-vitro-Fertilisation gehören Samenbanken (in<br />

den USA nach Katalogangeboten). Dort fragen auch gelegentlich Witwen den<br />

Samen des verstorbenen Ehemanns nach, weil sie noch ein Kind von ihm wünschen.<br />

Schon 1987 erwähnte eine Informationsbroschüre des Bonner Justizministers<br />

zu Fortpflanzungsmedizin und Recht den Fall eines weißen englischen Ehepaars:<br />

Die Befruchtung war aus Versehen mit dem Sperma eines schwarzen<br />

Spenders durchgeführt worden. Eine weitere Folge ist gespaltene Mutterschaft –<br />

genetische Mutter und Ersatz- oder Leihmutter. Schlagzeilenreife Fakten: Großmutter<br />

gebiert eigene Enkel; Lesbisches Paar mit gemeinsamem Kind – Spendersamen<br />

anonym. Erzbischof Johannes Dyba kommentierte: „Früher hatten viele<br />

Eltern vier Kinder. Heute haben viele Kinder vier Eltern.“<br />

Die Technik der In-vitro-Fertilisation war in Deutschland der Anlaß für das am<br />

13.12.1990 beschlossene Embryonenschutzgesetz. Es ist seit dem 1.1.1991 in<br />

Kraft. Schon seine Vorgeschichte hatte reichlich Beispiele regelrechter Vergewaltigung<br />

der Sprache geliefert. Bei Frauen, die sich der IvF unterzogen, war bis<br />

in Stellungnahmen der Ärzteschaft hinein von „Patientinnen“ die Rede, obwohl<br />

selbstverständlich nur gesunde Frauen zugelassen werden und eine Krankheit als<br />

Kontraindikation gilt. Der 56. Juristentag in Berlin 1986 wollte vor allem die<br />

195


Herstellung von Embryonen und die Verwendung von überzähligen Embryonen<br />

zu Forschungszwecken verhindern und formulierte in seinen Beschlüssen:<br />

„Verwaiste Embryonen dürfen nur zur Implantation bei einer anderen Frau verwendet<br />

werden. Fehlt eine Implantationsmöglichkeit, sind sie ihrem Schicksal zu<br />

überlassen.“ – „Verwaist“ sind demnach Embryonen, deren Eltern zwar noch<br />

leben, an ihrem Zustandekommen aber nicht unmittelbar beteiligt waren und für<br />

ihre Nachkommen keine Verwendung mehr haben. Und „Schicksal“? Wurde das<br />

Schicksal nicht mit dem Subjekt des Schicksals im Labor programmiert?<br />

An Stammzellen oder Implantationsdiagnostik dachte 1990 niemand. Aus heutiger<br />

Sicht ist es interessant, daß bei allen damaligen Meinungsverschiedenheiten<br />

kaum jemand den Beginn des menschlichen Lebens mit Verschmelzen von Ei-<br />

und Samenzelle bestritten hat. Heute tauchen plötzlich merkwürdigste Spekulationen<br />

zum Beginn des Menschseins auf – bis hin zu mittelalterlichen Vorstellungen<br />

von der Spätbeseelung. Zum Bemerkenswerten der damaligen Diskussion<br />

gehört auch, daß es abgesehen von der Instruktion „Donum Vitae“ der Glaubenskongregation<br />

der katholischen Kirche von 1987 wohl nur einen weiteren<br />

Text mit der bündigen Formulierung gegeben hat: „Die künstliche Befruchtung<br />

außerhalb des Mutterleibs ist unzulässig.“ Es handelt sich dabei um einen Antrag<br />

der SPD-Fraktion im Landtag von NRW (Drucksache 10/3683 v. 13.10.1988). In<br />

der Begründung ist von Entpersonalisierung der Zeugung die Rede.<br />

196<br />

III. Präimplantationsdiagnostik<br />

Befruchtung im Labor, Zellteilung. Ab 12-16-Zellenstadium (4. Tag) Entnahme<br />

einer nun nicht mehr totipotenten Zelle zur genetischen Untersuchung. Die Diagnose<br />

ergibt eine Erbanomalie. Was tun? Welche Indikation? Eine Therapie<br />

gibt es nicht. Anders gefragt: Wozu Diagnose, wenn es eine Therapie nicht gibt?<br />

Derzeit besteht der einzige Sinn der Präimplantationsdiagnostik darin, im Falle<br />

mutmaßlich erblicher Behinderung den Embryo auszusondern: Selektion (Auslese).<br />

Was die diagnostische Sicherheit anlangt, drei Feststellungen: a) Trotz richtiger<br />

Diagnose ist die Manifestation der Behinderung im späteren Leben nicht<br />

sicher vorhersagbar. b) Irrtümliche Diagnosen werden nie mehr überprüft. c)<br />

Überprüft werden vielmehr in der Regel unter der Schwangerschaft durch eine<br />

Pränataldiagnostik (an Fruchtwasserzellen oder Chorionzottenbiopsie) Diagnosen,<br />

nach denen kein Gendefekt vorliegt – und sei es, um Haftungsansprüchen zu<br />

entgehen. Sollte doch eine Behinderung zu erwarten sein, kann noch abgetrieben<br />

werden: Spätabtreibung rechtmäßig. Nach bisher vorherrschender Auslegung<br />

verbietet das Embryonenschutzgesetz die Präimplantationsdiagnostik. Die Diskussion<br />

um die Zulassung ist gespalten. Der Präsident der Deutschen Ärztekammer<br />

ist persönlich dagegen, hält aber ein Verbot für nicht haltbar. Nachdem die<br />

Pränataldiagnostik gesellschaftlich akzeptiert sei, handle es sich um eine vorgezogene<br />

Pränataldiagnostik, die selbstverständlich für die Frau weniger belastend<br />

sei.<br />

Die eigentliche Gegenposition bildet die Forderung nach einer erweiterten Indikation<br />

der In-vitro-Fertilisation. Nicht nur unfruchtbaren Paaren soll die IvF


zugänglich sein, sondern – eben wegen der Möglichkeit der Präimplantationsdiagnostik<br />

– auch fruchtbaren Paaren mit einem gravierenden Erbschaden-Risiko.<br />

Ganz im Sinne einer „Qualitätssicherung“ (womit das angebliche „Recht auf ein<br />

Kind“ sich erweitert zum „Recht auf ein gesundes Kind“).<br />

Stammzellen: Knochenmarkszellen, aus denen unterschiedlichste Blutzellen<br />

hervorgehen, sind seit langem bekannt. Das sind Stammzellen: Undifferenzierte<br />

Zellen, aus denen sich verschiedene Zelltypen entwickeln können. Leukämiekranke<br />

werden durch Übertragung gesunden Knochenmarks nach Vernichtung<br />

des eigenen durch Bestrahlung oder Chemotherapie oft geheilt.<br />

In den letzten Jahren hat man solch „pluripotente“ (Vielkönner-)Zellen in vielen<br />

Geweben und Organen entdeckt. So im Nabelschnurblut, sogar im Gehirn: Adulte<br />

Stammzellen (AS). Bekanntlich sind aber die befruchtete Eizelle und die Zellen<br />

der folgenden Teilungsstadien des frühen Embryos nicht nur Vielkönner,<br />

sondern Alleskönner: „totipotent“. Aus ihnen gehen ja sämtliche Zellen, Gewebe<br />

und Organe des erwachsenen menschlichen Organismus hervor (was doch eher<br />

dafür spricht, daß die befruchtete Eizelle schon der Mensch ist, als dafür, daß sie<br />

noch etwas anderes ist). Ab der vierten Zellteilung – 16-Zellen-Stadium – sind<br />

die embryonalen Zellen nicht mehr Alleskönner, aber Sehr-viel-Könner: Embryonale<br />

Stammzellen (ES). Ähnliche Sehr-viel-Könner-Zellen lassen sich aus den<br />

Keimzellen abgetriebener Föten gewinnen: embryonale Germ-Stammzellen<br />

(GS). Wegen ihrer Vielseitigkeit sind viele Forscher besonders auf diese Zellen<br />

aus – womöglich voreilig, wenn sie ihre Verheißungen, in Zukunft bislang unheilbare<br />

Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer, Multiple Sklerose u.a.m. heilen<br />

zu können, ganz an diese Zellen knüpfen.<br />

Die Adulten Stammzellen (AS), die Vielkönner-Zellen in den verschiedenen<br />

Körpergeweben, haben, wie gesagt wird, zwar den Nachteil, sich weniger leicht<br />

vermehren zu lassen, aber wiederum den gewaltigen Vo rteil, daß aus ihnen gezüchtete<br />

Gewebe keine Abstoßung in dem Organismus, dem sie entstammen,<br />

hervorrufen würden. Ihre Gewinnung ist unproblematisch, während für Embryonale<br />

Stammzellen Embryonen geopfert werden müssen. Das ist in Deutschland<br />

verboten. Entsprechend beschloß der Deutsche Bundestag am 30.01.2002 unter<br />

dem Titel eines Verbotes auch des Imports von Stammzellinien, eben deren<br />

Import zuzulassen – ausnahmsweise und unter Auflagen, versteht sich.<br />

IV. „Therapeutisches“ Klonen:<br />

1997 brachte das Schaf Dolly aus dem Edinburgher Roslin-Labor unerwartet<br />

Bewegung in die Szene: Erstens bedeutete ab sofort Klonen nicht mehr die Herstellung<br />

altersgleicher Zwillinge durch künstliche Teilung der Blastomere (frühestes<br />

Furchungs-/Teilungsstadium der befruchteten Eizelle). Die neugeborene<br />

Dolly war Zwilling eines erwachsenen Schafes. Denkbar war das zwar auch<br />

schon bei Zwillingsembryonen, wenn der eine implantiert und der andere eingefroren<br />

wird. Aber Dolly war entstanden durch Einfügung des Kerns einer Zelle<br />

eines erwachsenen Schafes in eine entkernte Eizelle. Das war völlig neu.<br />

197


Die bloße Vorstellung, daß – übertragen auf den Menschen – ein Erwachsener<br />

sich genetisch kopieren läßt, löste europaweit moralische Empörung aus. Ihre<br />

Emotionen waren so stark wie ihre Argumente schwach. Inzwischen wurden,<br />

nicht zuletzt von Dollys Laborvater Jan Wilmut, als Gegenargumente handfeste<br />

Mißbildungs- und Tumor-Risiken nachgeliefert. (Dolly war unter 237 Versuchen<br />

der einzig überlebende „Erfolg“). Den Klonankündigungen öffentlichkeitssüchtiger<br />

Außenseiter wie Antinori, Zavos und der Raelianer-Sekte werden nunmehr<br />

diese Risiken entgegengehalten. Ihre Pläne reproduktiven Klonens, das genetische<br />

Kopien von Menschen in die Welt setzt, stößt auf breite Ablehnung.<br />

Von diesem reproduktiven Klonen wurde – zweitens – bald ein Klonen menschlicher<br />

Embryonen nach dem Dolly-Verfahren unterschieden, bei dem die Embryonen<br />

gar nicht überleben sollen. Sie sollen der Forschung dienen – und dann<br />

auch der Herstellung von Stammzellkulturen, aus denen sich hoffentlich Ersatzgewebe<br />

für kranke Körperorgane züchten läßt. Die Anwendung des Dolly-<br />

Verfahrens zur Herstellung von Embryonen, die gar nicht überleben sollen, wird<br />

irreführend als therapeutisches Klonen bezeichnet. Grund für den Euphemismus<br />

ist allein die Zuversicht, daß der therapeutischen Einsatz solcher Ersatzgewebe<br />

einmal gelingt.<br />

Ersatzgewebe, die sich aus einem Körperzellkern (Dolly-Verfahren) des Patienten<br />

herleiten, haben, wie solche aus Adulten Stammzellen, gegenüber solchen<br />

aus Stammzellen fremder Embryonen den unschätzbaren Vorteil, nach Trans-<br />

oder Implantation beim Patienten keine Abstoßungsreaktionen hervorzurufen.<br />

Das heißt: Wer auf Embryonale Stammzellen setzt, setzt auch auf „therapeutisches“<br />

Klonen. Daß die Forschung am „therapeutischen Klonen“ und erst recht<br />

seine medizinische Anwendung zugleich die Techniken reproduktiven Klonens<br />

erkundet und diesem zum Wegbereiter wird, soll nur vermerkt werden.<br />

Drittens lenkte der Fall Dolly die Aufmerksamkeit auf die offenkundige Möglichkeit,<br />

daß differenzierte Körperzellen sich hier biologisch rückprogrammieren.<br />

Wie und unter welchen Bedingungen? Und: Läßt sich das steuern? Ein neues<br />

Forschungsgebiet, dessen Ergebnisse noch keineswegs absehbar sind. Es ist<br />

selbstverständlich von höchstem Interesse, zumal für zukünftige Erweiterungen<br />

des Leistungs- und Einsatzspektrums der Adulten Stammzellen zur Züchtung<br />

von Ersatzgeweben, die ebenfalls keine Immunsupression verlangen. Hinzu<br />

kommt, daß ihr Einsatz die aufwendige Klontechnik einspart.<br />

198<br />

V. Gentechnik: gut oder böse?<br />

Viele halten Gentechnik per se für Teufelszeug. Weil ich denen nicht zustimme,<br />

beginnt der Titel meines Beitrags mit „Vom gentechnischen Segen“. Als die<br />

Gentechnik noch grün war, begegneten sich der Optimismus der Macher und die<br />

Skepsis der Ängstlichen. Die einen kauften die lang haltbare transgene Tomate,<br />

die anderen nannten sie „Killertomate“. Mein Zutrauen zur grünen Ge ntechnik<br />

war lange Zeit für mich vor allem eine Stütze gegen die Weltbevölkerungsplaner,<br />

deren Ideologie aber inzwischen passé ist. Bestärkt hat mein Zutrauen dann die<br />

Bekanntschaft mit Professor Klaus Hahlbrock, Vizepräsident der Max-Planck-


Gesellschaft und Biochemiker am Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung<br />

in Köln. Tatsächlich sind gentechnische Verfahren Jahrtausende alt. Sie gehören<br />

zum Bestand menschlicher Kulturentwicklung seit den Zeiten der Sammler und<br />

Jäger und sind Voraussetzung unseres Lebensstandards. Der über lange Zeiträume<br />

zielgerichteten, planvollen Auslesezüchtung verdanken wir die genetische<br />

Eigenart sämtlicher uns bekannten Nutzpflanzen und Nutztiere. Auch sämtliche<br />

Hunderassen, die sich ausnahmslos aus der Wildform Wolf herleiten. Auch übrigens<br />

die Bakterien und Hefen zur Veredelung und Haltbarmachung unserer Nahrungsmittel,<br />

ob Brot, Käse, Wein oder Bier. Aus heutiger Sicht handelte es sich<br />

um eine gewissermaßen noch blinde Form der Gentechnik.<br />

Zweck der Riesenanstrengungen waren stets bessere Nahrungsqualität, größere<br />

Ernteerträge und dem Menschen dienlichere Nutz- und Haustiere. Der Preis war<br />

stets geringere Vitalität als die der Wildformen und entsprechender Bedarf an<br />

Schutz und Pflege seitens des Menschen. Ohne diese Vorgeschichte könnte die<br />

Menschheit heute gar nicht überleben. Und die Entwicklung von Heilmitteln für<br />

Krankheiten und die Schonung der Umwelt haben wir noch gar nicht erwähnt.<br />

Revolutionär ist der Übergang von zufallsabhängiger Auslesezüchtung zur gezielten<br />

Veränderung der molekular definierten Merkmale der Organismen. Ris ikolos<br />

ist das nicht. Wie bei jeder Technik muß Umsicht walten, müssen Gefahren<br />

frühzeitig erkannt und entsprechende Vorkehrungen getroffen werden. Hierzu<br />

gibt es durchaus Kriterienkataloge. Den Risiken gegenüber stehen segensreiche<br />

Ergebnisse wie Insekten-, Krankheits- und Herbizidresistenz von Kulturpflanzen,<br />

höhere Toleranz gegenüber Temperatur, Trockenheit oder Salzgehalt<br />

des Bodens. Nach den Vervielfachungen des Ertrags der Reispflanze seit dem II.<br />

Weltkrieg ist ihre jüngst vollendete Genomsequenzierung ein kaum zu überschätzender<br />

weiterer Meilenstein auf dem Weg nachhaltiger Welternährung.<br />

Ertragssteigerungen sparen Anbaufläche, Stickstoffixierung Kunstdünger, imp fstoffhaltige<br />

Früchte aufwendige Impfprogramme, veränderte Holzeigenschaften<br />

Umweltschäden bei der Papierherstellung. Medizinisch sei nur das Beispiel gentechnischer<br />

Herstellung von Insulin genannt.<br />

VI. Auslesezüchtung beim Menschen?<br />

Gibt es eigentlich – analog zur skizzierten Geschichte der „noch blinden“ Auslesezüchtung<br />

bei Pflanze und Tier – ähnliches beim Menschen? Natürlich abgesehen<br />

davon, daß Männer schon immer lieber schöne Frauen und Frauen schon<br />

immer lieber starke Männer geheiratet haben, und daß die Aristokratie stets sorgfältigste<br />

Heiratsplanung betrieb.<br />

In Deutschland sind zwar nahezu alle mit dieser Frage aufgerufenen Begriffe seit<br />

den Nationalsozialisten prekär belastet. Aber vielleicht ist es gerade deshalb<br />

wichtig, einmal jenseits der 12 unseligen Jahre nach der Tradition des Themas zu<br />

fragen. In Sachen systematischer Auslesezüchtung beim Menschen liefert die<br />

Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts reichlich Stoff. Dabei prägen, vor allem in<br />

England, zwei Stränge die Entwicklung: der Sozialdarwinismus und die Eugenik.<br />

199


Am Anfang des Sozialdarwinismus steht der Philosoph und Soziologe Herbert<br />

Spencer (1820-1903), der 1864 die Formulierung vom „survival of the fittest“<br />

prägt, geht von der Vererbung erworbener Eigenschaften aus. Anders als Darwin<br />

betrachtet Spencer das Selektionsprinzip weniger individuell als im Sinne einer<br />

evolutionären Besserung der Gesellschaft, wenn sie diejenigen zurückdrängt, die<br />

„unfit“ sind. Da hierzu beispielsweise die Armen gehören, sollten sie nicht unterstützt<br />

werden.<br />

Der Begriff „Eugenik“ stammt von dem angesehenen Biologen Sir Francis Galton<br />

(1822-1911), einem Halbschwager von Charles Darwin. Auch Galton ist<br />

überzeugt, daß geistige Fähigkeiten ererbt sind. Vor allem aber überträgt auch er<br />

die Kategorien von Qualität und Defizit des Erbguts von der individuellen auf<br />

eine kollektive, gesellschaftliche, gar nationale Ebene.<br />

Durch Galtons Ansehen findet die Eugenik schließlich Eingang in den Wissenschaftsbetrieb.<br />

1904 errichtet das London University College einen Lehrstuhl für<br />

Eugenik, 1907 entsteht das „Galton Research Institute for National Eugenics“<br />

und 1908 die „Eugenics Education Society“. Das Interesse ist bald international.<br />

1908 gibt es in den USA eine „Connecticut Society for Mental Health“, 1910 ein<br />

Archiv für Eugenik.<br />

Was Deutschland anlangt, interessiert mit Blick auf das spätere Reichsgesetz zur<br />

Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.07.1933 dessen intellektuelle Vo rgeschichte.<br />

Der hessische Landtagsabgeordnete Roland Rösler beschreibt detailliert,<br />

daß Prof. Dr. Ernst Rüdin, Psychiater und Direktor des Kaiser-Wilhelm-<br />

Institutes für Genealogie und Demographie der Deutschen Forschungsanstalt in<br />

München, einer der Bearbeiter des Gesetzes und dessen besonderen Förderer,<br />

sich durchaus internationaler Zustimmung sicher sein konnte, so seitens Margret<br />

Sanger, American Birth Control League. Im April 1933 erschien ein Aufsatz<br />

Rüdins unter dem Titel „Eugenische Sterilisation: eine dringende Notwendigkeit“<br />

in ihrer amerikanischen Birth Control Review. Rockefeller unterstützte<br />

Rüdin in den 20er Jahren. Rüdin war Schüler des Schweizer Psychiaters August<br />

Forel, der, seinen Zuchtwahl- und Auslesevorstellungen folgend, schon 1892<br />

Sterilisierungen vornehmen ließ. 1903 fordert Rüdin Sterilisierung bei Trinkern.<br />

1904 gründet, gemeinsam mit Rüdin, ein Dr. Alfred Ploetz die „Zeitschrift für<br />

Rassen- und Gesellschaftsbiologie“, 1905 Dr. Ploetz die „Gesellschaft für Rassenhygiene“<br />

– später mit dem Zusatz (Eugenik). Rassenhygiene und Eugenik<br />

galten als synonym.<br />

Wie stark schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Interesse am Thema war,<br />

mag aus einem Preis erhellen, den im Jahr 1900 Alfried Krupp auf Anregung<br />

Ernst Haeckels ausschrieb für die beste Arbeit zum Thema „Vererbung und<br />

Auslese“. Gewinner war ein Arzt Wilhelm Schallmayer: Durch „Vervollkommnung<br />

der organischen Erbwerte“ gelte es, einen „Menschentyp mit heiterem<br />

Temperament zu züchten und ihn mehr und mehr zu verallgemeinern“. 1920<br />

erschien dann bekanntlich das Buch von Karl Binding und Alfred Hoche: „Die<br />

Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form.“<br />

Seine Ausgangsfrage: Inwieweit soll der Staat die Pflege „nicht nur absolut wertloser,<br />

sondern negativ zu wertender Existenzen betreiben?“<br />

200


VII. Die Nationalsozialisten und danach ...<br />

Erfunden haben die Nazis demnach eigentlich nichts. Sie haben allerdings das<br />

Vorgedachte, das durchaus international Vorgedachte, rücksichtslos ausgeführt.<br />

Auf das Gesetz zur Ve rhütung erbkranken Nachwuchses folgte später die Euthanasie-Aktion<br />

T 4 und folgten demographische Kampfmaßnahmen (z. B. „Generalplan<br />

Ost“). Auch die Sprachregelung war bereits entwickelt. Geht es darum,<br />

das Tötungsverbot zu relativieren, wird das ganze Repertoire des Mitleids aufgeboten<br />

– vom „Recht auf ein würdiges Sterben“ bis zum „Gnadentod“ (z. B.<br />

Spielfilm „Ich klage an“). Kommt die Sache in politisch-administrative Bahnen,<br />

wird die Gesellschaft „von belastenden Pflegefällen befreit“. Selbst Vokabeln<br />

wie „Ballastexistenzen“ und „Menschenhülsen“ waren schon vor 1933 geläufig.<br />

Nach dem II. Weltkrieg war in Deutschland alles, was mit Demographie, Rasse,<br />

Genetik, etc. zu tun hatte, verpönt und verdächtig. Und international? Auf dem<br />

berühmten oder je nachdem berüchtigten CIBA-Symposium in London 1962 war<br />

von diesem Tabu wenig zu spüren. Um dort J.S. Huxley zu zitieren: „Theoretisch<br />

könnte der Pegel der allgemeinen Intelligenz durch eugenische Selektion angehoben<br />

werden; und selbst ein leichter Anstieg könnte einen merklichen Zuwachs<br />

an ...“ Sollte nun ausgerechnet nach der biologischen Revolution, die zunehmend<br />

gezielte Eingriffe in das Genom ermöglicht – und angesichts bereits unumkehrbarer<br />

Alterung der Bevölkerung und der damit verbundenen Krise der<br />

Sozialsysteme –, der verführerische Reiz von Selektion und Manipulation am<br />

Erbgut des Menschen verblassen?<br />

VIII. Permissive Strategien<br />

In der Bundesrepublik ist Auslesezüchtung beim Menschen mit Schwangerschaftsabbruch<br />

nach Pränataldiagnose wieder gesellschaftsfähig. Und Routine.<br />

Aber die politisch-gesellschaftlich akzeptierte Praxis des Schwangerschaftsabbruchs<br />

ist nicht unser Thema. Auch nicht die Euthanasie (Beispiel Niederlande).<br />

Beide beeinflussen allerdings nachhaltig unser Thema. Das muß bewußt bleiben.<br />

Beide höhlen die Achtung vor dem menschlichen Leben aus, genauer: die Achtung<br />

des Menschen. Im übrigen offenbaren beide Komplexe exemplarisch die<br />

semantischen Verschleierungen der Wirklichkeit, der die permissiven Strategien<br />

dienen (ob gewollt oder ungewollt). Hier wie dort werden schmerzvolle Realitäten<br />

schmerzlos geredet. Im Diskurs um die sogenannte Tötung auf Verlangen<br />

beginnen die Beispiele „schmerzloser Sprache“ mit dem Begriff Euthanasie und<br />

reichen über „Sterbehilfe“, „Recht auf den eigenen Tod“ und „es geschieht im<br />

Interesse des Patienten“ über die Rede von der „Selbstbestimmung des Patienten“<br />

bis zur aggressiveren Diktion, „den Patienten doch nicht zum Weiterleben<br />

zu zwingen“. Entsprechend nennen sich die professionellen Todesbringer gern<br />

„Gesellschaft für humanes Sterben“. Folgendes semantische Kunststück lieferte<br />

am 25.4.1991 die Abgeordnete van Hemeldonck im Europaparlament ab: „Was<br />

das Menschenleben ausmacht, ist die Würde, und wenn ein Mensch nach langer<br />

Krankheit, gegen die er mutig angekämpft hat, den Arzt bittet, sein Leben zu<br />

201


eenden, das für ihn jede Würde verloren hat, und wenn sich der Arzt dann nach<br />

bestem Wissen und Gewissen dafür entscheidet, ihm zu helfen und ihm seine<br />

letzten Augenblicke zu erleichtern, indem er es ihm ermöglicht, friedlich für<br />

immer einzuschlafen, so bedeutet diese ärztliche und menschliche Hilfe (die<br />

manche Euthanasie nennen) Achtung vor dem Leben.“<br />

Auch die Reden zur Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs, die uns noch<br />

geläufig sind, trieften geradezu von „Menschlichkeit“ und „Humanität“. Hieran<br />

schließen in der gegenwärtigen Debatte um Stammzellenforschung und Präimplantationsdiagnostik<br />

Peter Hintzes „Ethik des Heilens“ und Jürgen Rütgers’<br />

„Barmherzigkeit“ unmittelbar an (sie hindert ihn, „Frauen zu zwingen, einen<br />

erbkranken Embryo in den Mutterleib zu transferieren“). Gleichwohl fiel der<br />

Beschluß des Bundestages zum Import von Stammzellinien sehr restriktiv aus<br />

gemessen an dem, was in Nachbarländern längst Praxis ist. Das deutsche Embryonenschutzgesetz<br />

vom 13.12.1990 ist sogar restriktiver als zahlreiche Ethiker<br />

damals meinten empfehlen zu sollen. Denn schon im Vorfeld des Gesetzes stach<br />

ein offenkundiger Widerspruch ins Auge: Recht streng schützt das Gesetz frühe<br />

Embryonen in der Petrischale, die bald darauf im Mutterleib straflos getötet<br />

werden dürfen. Der besondere Konflikt der Frau, der diese Tötung legitimiere, so<br />

lautet die juristische Erklärung, sei im Labor eben nicht gegeben. Solch intellektuelle<br />

Glasperlenspiele bleiben allerdings schlichteren Gemütern unzugänglich.<br />

202<br />

IX. Ethik?<br />

Politiker pflegen in Reden über die ethischen Implikationen wissenschaftlichtechnischen<br />

Fortschritts gern mit gewichtiger Mine die Frage zu wiederholen, ob<br />

der Mensch alles darf, was er kann. Wenn es konkret wird, heißt es dann, hierüber<br />

müsse eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung erfolgen. Was ist<br />

davon zu erwarten? Kaum je zuvor dürfte – öffentlich wie in Kommissionen und<br />

Räten – soviel über Ethik geredet worden sein wie in den letzten Jahren. Diese<br />

Ethikdiskussionen haben nahezu alle moralischen Gewißheiten beseitigt. Mindestens<br />

haben sie sie relativiert. Selbst den Grundsatz von der Unverfügbarkeit<br />

des menschlichen Lebens. Die „Heiligkeit des menschlichen Lebens“ sei ein<br />

außerwissenschaftliches, vornehmlich religiöses Vorurteil, so belehren uns Ethiker,<br />

Philosophen, Juristen und Naturwissenschaftler wie Peter Singer, Norbert<br />

Hoerster, Hubert Markl. Wie sie heute verstanden und verhandelt wird, ist die<br />

Ethik zu dem Problem geworden, das sie lösen sollte. Das Thema kann hier nicht<br />

vertieft werden. Ich möchte aber drei Gründe hierfür nennen:<br />

Jeder Ethik liegt eine Ontologie zugrunde. Aus einem bestimmten Welt- und<br />

Menschenbild folgt – bewußt oder unbewußt – die jeweilige Ethik. Im Pluralismus<br />

der Wertvorstellungen gehört es aber zum Comment der Ethikdiskussion,<br />

das Welt- und Menschenbild des Gesprächspartners nicht zur Diskussion zu<br />

stellen. Der Ethikdiskurs soll voraussetzungslos sein. Als voraussetzungslos<br />

gelten nur der Positivismus und der Szientismus. Daß beide auch von – durchaus<br />

metaphysischen – Vorannahmen abhängen, also ihrerseits weltanschaulich geprägt<br />

sind, bleibt so verborgen. Als Prototyp von Naturwissenschaft gilt die Phy-


sik als exakte, wertfreie Wissenschaft. Diesen Ruf nehmen viele Wissenschaften<br />

gern für sich in Anspruch. Auch die Medizin, zumal die in der Forschung tätigen<br />

Mediziner und ihre Lobby. Die Medizin ist aber weder eine Naturwissenschaft<br />

noch ist sie wertfrei. Sie nutzt zwar die Naturwissenschaften, ist aber selbst eine<br />

auf Werten gegründete Disziplin. Schon Gesundheit und Krankheit sind Wertbegriffe.<br />

Zweck der Disziplin ist das Heilen von Krankheit, das Lindern des<br />

Leidens, also ein ethisch-moralischer: Hilfe, Fürsorge. Ohne diese ethische Bindung<br />

ist Medizin bloße Biotechnik.<br />

Im ärztlichen Berufsethos artikuliert sich dieser ethisch-moralische Charakter der<br />

Medizin. Das Arztethos verpflichtet den Arzt in erster Linie gegenüber der konkreten<br />

Person, die in seine Obhut gelangt. Erst in zweiter Linie, und soweit es die<br />

Erstverpflichtung nicht konterkariert, gegenüber Dritten oder der Allgemeinheit.<br />

Die Umkehrung der Reihenfolge korrumpiert das Arztethos. (Beispiel: Die Rede<br />

der Nationalsozialisten vom „gesunden Volkskörper“ war die verführerische<br />

Fangleine, mit der ansehnliche Teile der damaligen deutschen Ärzteschaft für<br />

arztfremde Kollektivzwecke gewonnen wurden). Mit der damaligen Ideologie ist<br />

der heutige Pragmatismus nicht vergleichbar. Jetzt steht das klassische ärztliche<br />

Berufsethos unter dem Druck des herrschenden Pluralismus der Wertvorstellungen<br />

und eines neuen Trends zur Vergesellschaftung der Gesundheit. Die liberale<br />

Botschaft, Moral sei Privatsache, „befreit“ zwar den Arzt von ethischen Außenbindungen.<br />

Er wird zum Anbieter gesellschaftlich nachgefragter biotechnologischer<br />

Dienstleistungen am Markt. Dieser Markt ist aber bei uns schon jetzt im<br />

höchsten Maße reguliert. Zudem bindet private Moral nicht den Staat. Also sagt<br />

er den Ärzten, was gilt und was zu tun ist – im Interesse der Gesellschaft. Abtreibung,<br />

Euthanasie, In-vitro-Fertilisation, selektierende Präimplantationsdiagnostik,<br />

„therapeutisches“ Klonen sind sämtlich nicht-ärztliche Dienstleistungen.<br />

Der Staat behält sie ausnahmslos den Ärzten vor. Verweigern sie sich nicht,<br />

werden sie zu Funktionären der Politik.<br />

Die Treue zum klassischen Arztethos hat der Ärzteschaft über die Jahrhunderte<br />

Vertrauen und Ansehen verschafft. Das hat ihnen den freien Berufsstand bewahrt.<br />

Lockerungen der Berufsethik unterwerfen die Ärzteschaft der Fremdbestimmung,<br />

sei es staatlichen Eingriffen in ihre Berufsausübung oder solchen der<br />

Krankenkassen, sei es den Forderungen des Marktes. Das moralische Subjekt<br />

Arzt wird in die Rolle des Erfüllungsgehilfen fremden Willens gedrängt.<br />

Ich glaube, die Ärzte beginnen das zu bemerken. Ihre Willfährigkeit in Sachen<br />

Schwangerschaftsabbruch hat sie in das häßliche Geschäft der Spätabtreibung<br />

manövriert. Jetzt macht sie ihnen die Verweigerung der Präimplantationsdiagnostik<br />

schwer. Die Akzeptanz der In-vitro-Fertilisation verwickelt die Ärzte in<br />

immer unabsehbarere Gewissensfragen. Im Sommer 2001 hat der Deutsche Ärztetag<br />

in Ludwigshafen den Import von Stammzellinien mit großer Mehrheit<br />

abgelehnt.<br />

Dr. med. Hans Thomas leitet das Lindenthal-Institut in Köln.<br />

203


204<br />

Johannes Christian Koecke<br />

Zur bioethischen Debatte<br />

Argumentationsstrategische Überlegungen<br />

I.<br />

Es gibt Sprachexperimente, die sind gefährlich, man bewegt sich mit ihnen auf<br />

dünnem Eis, und sie sind deswegen aufschlußreich. In einer Diskussion bemerkte<br />

einmal ein Moralist, also einer, der den Boden moralischer Sprache verläßt, um<br />

moralische Mißstände anzuprangern, eine eigentümliche konnotative Asymmetrie:<br />

Warum, so gab er zu bedenken, könne man gemeinhin problemlos von „verbrauchender<br />

Embryonenforschung“ sprechen, bekäme aber das Wort „verbrauchende<br />

Ausländerforschung“ seiner Ungeheuerlichkeit wegen (vor allen Dingen der Ungeheuerlichkeit<br />

der Zustände wegen, die man hinter dem Wort vermuten muß) nur<br />

schwer über die Lippen? Warum also sei das eine mit üblen Konnotationen verbunden,<br />

das andere aber schon in den Sprachgebrauch übergegangen? Handelt es<br />

sich doch in beiden Fällen um die Tötung von Leben, dem der volle Schutz der<br />

Menschenwürde zukommt.<br />

Weitere irritierende Fragen schließen sich an: Warum sind ca. 140.000 erfaßte (!)<br />

Abtreibungen im Jahr für die meisten kein Skandalon, obwohl dies, veranschaulicht,<br />

der Einwohnerzahl von Potsdam entspricht? Warum kann – eine Umdrehung<br />

weiter gedacht – eine Partei als einzige im Deutschen Bundestag geschlossen gegen<br />

den Import von Stammzellinien stimmen und gleichzeitig die Fristenlösung in<br />

der Abtreibung anstreben? Warum – noch schärfer gefragt – hat die katholische<br />

Kirche, genauer, die Deutsche Bischofskonferenz, jahrelang eine Debatte um den<br />

Beratungsschein geführt und konnte bei der Stammzellfrage sofort Übereinstimmung<br />

erzielen?<br />

Man könnte es sich einfach machen und tadelnd davon sprechen, es würde eben<br />

mit zweierlei Maß gemessen: das geborene Leben anders als das ungeborene; das<br />

Töten zu Forschungszwecken anders als das Töten in Konfliktsituationen. Hier soll<br />

es aber darum gehen, warum es zu unterschiedlichem Maß kommt, bzw. was der<br />

Maßstab dieses Maßes ist und wie er sich verändert hat. Ziel ist dabei nicht eine<br />

Ontologie oder Theologie des Embryos, also eine Feststellung seines Status – das<br />

ist aus berufenerem Munde und geübterer Feder schon viel besser geleistet worden.<br />

Das Anliegen dieses Beitrags ist praktisch, also moralisch: nämlich im ersten<br />

Schritt zu erkennen, was das oben erwähnte zweierlei Maß bewirkt, um im zweiten<br />

Schritt Empfehlungen zu geben, wie Bewegung in den festgefahrenen Diskurs zu<br />

bringen ist.<br />

Ich möchte also zunächst einmal den Blick abwenden von der Frage, was der Embryo<br />

„eigentlich“ sei – ontologisch, juristisch, theologisch, anthropologisch – und


hinwenden zu der Frage, welche Vorstellungen, Überzeugungen, Vorurteile, Obsessionen<br />

usw. die öffentliche Debatte bestimmen. Im näheren heißt das: Welche<br />

Vorstellungen verhindern bzw. erschweren, daß der Embryo mit Verschmelzung<br />

von Ei- und Samenzelle als voll der Menschenwürde teilhaftige Person anerkannt<br />

wird bzw. was führt dazu, daß der abgetriebene, getötete Embryo weniger Affekte<br />

auslöst als der in der Petrischale „verbrauchte“? Im Umkehrschluß entsteht natürlich<br />

dann auch eine Vorstellung vom Status des Embryos. Die folgenden Hinweise<br />

können darüber hinaus auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit bzw. Systematik<br />

erheben.<br />

II.<br />

Zunächst einmal sollen die eher politisch-ideologischen Aspekte zur Sprache<br />

kommen, also jene Aspekte, die in der Hierarchie logischer Bedeutsamkeit wegen<br />

ihrer Zeitgebundenheit und Vorläufigkeit nicht sehr hoch stehen, aber vielleicht<br />

gerade deshalb so wirkmächtig sind.<br />

1. Die Rolle der deutschen Geschichte<br />

Es ist auffällig, welche Diskrepanz in der öffentlichen Bewertung von Abtreibung/Stammzellforschung<br />

und Euthanasie besteht. Warum is t Abtreibung politisch<br />

und gesellschaftlich seit Jahrzehnten weitgehend akzeptiert und Euthanasie/aktive<br />

Sterbehilfe in Deutschland noch immer ein Tabu? Warum ist das letztere in Staaten,<br />

die sich frei von der Schuld am Nationalsozialismus wähnen dürfen, nicht<br />

mehr der Fall (Niederlande, Belgien, Großbritannien, Australien)? Der Verdacht<br />

liegt nahe, daß die Tabuisierung der Sterbehilfe ganz erheblich prädisponiert ist<br />

von dem Horrorbild des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms. Nur so läßt<br />

sich erklären, daß „Fortschrittliche“ und „Liberale“ in Deutschland in der Sterbehilfedebatte<br />

noch zum Status quo und zum Lebensschutz stehen und es nicht ausgemacht<br />

ist, daß die bisherige Regelung in dieser Legislaturperiode zur Disposition<br />

gestellt wird. Auch die Vermeidung des Begriffs „Euthanasie“ in Deutschland im<br />

Gegensatz zu dessen Gebräuchlichkeit in anderen Sprachen ist aufschlußreich.<br />

Aber der anti-nationalsozialistische Affekt hat eine offene Flanke. Solange Euthanasie<br />

als staatlich-diktatorische, menschenverachtende Vernichtung von Minderheiten<br />

erscheint, setzt der antinationalsozialistische Warnschmerz ein, und er ist so<br />

stark, daß er auf die heutige Sterbehilfediskussion, die ja nichts mit staatlich verordneter<br />

Euthanasie zu tun hat, ausstrahlt. Aber wie lange noch? Die heutige Sterbehilfedebatte<br />

ist nämlich anders gelagert: Da geht es um den Konflikt zwischen<br />

individueller Autonomie der Person, über ihr Leben verfügen zu können, und der<br />

christlich motivierten Haltung der Unverfügbarkeit von Leben. Haben die „Liberalen“<br />

erst mal das antifaschistische „Tiergartensyndrom“ abgeschüttelt und wittern<br />

einen Kampf von Autonomie gegen „Reaktion“, ist die Schlacht geschlagen. Es sei<br />

denn, man könnte nachweisen, daß auch ohne eine faschistische Diktatur Sterbehilfe<br />

zur Herrschaft von Menschen über Menschen entartet und damit die Autonomie<br />

nachgerade auf besondere Weise gefährdet ist. Denn in einer Gesellschaft, in der<br />

Euthanasie akzeptiert ist, verlieren Sterbenskranke genau dann ihre Handlungsautonomie<br />

wenn sie in ihre Tötung einwilligen, weil sie meinen, anderen nicht mehr<br />

205


„zur Last fallen“ zu sollen, wenn also der indirekte Druck der Umgebung auf dem<br />

Kranken lastet, wenn zwischen Angehörigen und Ärzten sich ein Konsens entwickelt,<br />

der (einwilligungsunfähige) Kranke könne doch gar nicht anders wollen als<br />

„einen schönen Tod“ zu haben.<br />

Warum ist aber die Abtreibung gesellschaftlich stärker akzeptiert? Warum ist sie<br />

zum Signal der Befreiung und der Selbstbestimmung geworden? Wovon hat man<br />

sich damit befreit? Auch darin gibt es nämlich eine Nazi-Dimension, dieselbe, die<br />

heutzutage das Thema „Bevölkerungspolitik“ und die gesamte Debatte um die<br />

Verformung der Alterspyramide belastet: Kinder Bekommen gerät im Lichte des<br />

nationalsozialistischen Mutterkultes zu etwas staatlich Verordnetem, zu einer<br />

Funktion innerhalb eines reaktionären Ganzen. Abtreibung, d. h. die bewußte Entscheidung<br />

über die Beendigung der Mutterschaft, ist in diesem Lichte also ein Akt,<br />

mit dem man sich scheinbar außerhalb dieses Funktionierens setzt und seine<br />

angebliche Rolle verweigert.<br />

Die strategische Chance der Abtreibungsgegner liegt nun darin nachzuweisen, daß<br />

die Entscheidung gegen die Mutterschaft, z. B. für das Berufsleben, unter den<br />

Bedingungen gegenwärtiger Lebensverhältnisse gerade nicht die Abwendung von<br />

Fremdbestimmung, sondern die Einordnung in einen Funktionszusammenhang<br />

bedeutet, der sich so verselbständigt hat, daß Frauen nicht mehr völlig frei sind,<br />

sich für oder gegen die Berufsausübung zu entscheiden. Kinder als Chance, zu sich<br />

selbst zu finden und sich außerhalb fremder Ansprüche zu stellen, das wäre – überzeugend<br />

durchdacht – eine ungeheure Verführung für die Frauenbewegung und<br />

hätte große Auswirkungen auf die Abtreibungsproblematik.<br />

2. Rolle der Frau<br />

Überhaupt nimmt die Frage nach der Rolle der Frau in der bioethischen Debatte<br />

eine Schlüsselstellung ein. Von Lebensschützern wird die Relevanz des Themas<br />

zuwenig beachtet, von den „Fortschrittlichen“ ideologisch übersteigert – beides zu<br />

Lasten des ungeborenen Lebens. Der Lebensschutz hat auf unabsehbare Zeit keine<br />

Chance, wenn er nicht die Gedankenwelt junger Frauen – sei sie prima vista noch<br />

so konträr – in sich aufnimmt und – das ist das Entscheidende – erkennt, welches<br />

Potential darin zur Verwirklichung der eigenen Ziele steckt.<br />

In der bioethischen Diskussion der letzten Zeit hat es dabei schon eigentümliche<br />

Allianzen gegeben: Der Deutsche Ärztinnenbund z. B. lehnt wie die katholische<br />

Kirche die PID und die Herstellung von Stammzellinien ab, während er noch bei<br />

der Abtreibungsfrage „für die Interessen der Frau“ plädiert. Dieser ablehnenden<br />

Haltung z. B. der PID gegenüber liegt der Verdacht zu Grunde, die gesamte Fortpflanzungsmedizin<br />

sei letztlich ein Instrument in der Hand von Männern zum<br />

Zwecke der Herabwürdigung der Frau: als medizinisches Experimentierfeld und<br />

als Produzentin von biologischem Material.<br />

Der teleologische Punkt ist also wieder die Autonomie und Selbstbestimmung der<br />

Frau, für die – befremdlich genug – die Abtreibung als Erweis gesehen wird. Dies<br />

führt zu einer Grunderkenntnis, die auch in einem pragmatisch-strategischen Sinne<br />

von höchster Wichtigkeit ist: Der bioethische Konflikt zwischen lebensschützerischen<br />

und „liberalen“ Positionen ist kein Gegensatz zwischen Moral/Werten und<br />

206


Unmoral/fehlenden Werten, sondern von Moral versus Moral, und das macht die<br />

Sache so schwierig. Selbst der hierzulande so verfemte Singer hat einen moralischen<br />

Impuls, er ist kein bloßer Zyniker. Vielleicht stürzt er die gesamte bisherige<br />

Ethik nur deswegen in den Abgrund, weil er der Meinung ist, sie schütze die Tiere<br />

nicht genug, weil er „ein Herz für Tiere“, insbesondere die höher entwickelten hat.<br />

Die praktische Bedeutung dieser Erkenntnis ist, daß es in dieser Konstellation<br />

überhaupt keinen Sinn macht, der anderen Seite Moral abzusprechen, sie wird sich<br />

dagegen erfolgreich wehren können. Es kommt statt dessen alles darauf an, in die<br />

eigene Argumentation die tieferen Motive der anderen Seite mit aufzu nehmen, um<br />

sie in der eigenen Position aufzuheben. Am Beispiel Abtreibung und Sterbehilfe<br />

läßt sich das demonstrieren: Man kann den Nachweis führen, daß weder das eine<br />

noch das andere letztlich (also erst in zweiter Hinsicht) das Selbstbestimmungsrecht<br />

stärken, sondern im Gegenteil in die Heteronomie führen. In die Abhängigkeit<br />

einer funktional geschmiert laufenden Gesellschaft, die keine Störungen ihrer<br />

Optimierung mehr dulden will, sei es in Form von Pflegefällen, sei es in Form von<br />

Kindern.<br />

3. Antikatholizismus<br />

Ein weiterer reflexionsstörender Affekt in der Debatte ist aber der Antikatholizismus<br />

bzw. der Antipapismus. Dies kennt jeder: Die typische Sitzung, in der angeblich<br />

Argumente ausgetauscht werden, in der aber letztlich Personen mit Personen<br />

ringen und in denen eine Position sich nicht durchsetzen kann, nur weil sie von<br />

einer bestimmten Person vorgetragen wird. Dem „Liebhaber der Wahrheit“ muß es<br />

nun befremdlich vorkommen, daß dies nicht nur für Geschäfts-Meetings, Bundestagssitzungen<br />

und Familiengespräche gilt, sondern auch für so übergreifende Jahrhundertdebatten<br />

wie die Bioethik. Für die lebensschützerische Position oder genauer<br />

formuliert: für die Position der strengen Schutzwürdigkeit des Embryos von<br />

Anbeginn an ist es meist nicht sehr hilfreich in der öffentlichen Debatte, daß sie in<br />

einem hohen Maße als „katholische“ Position wahrgenommen wird.<br />

Damit wird ein Ressentiment geweckt, daß die sachliche Argumentation überstrahlt<br />

und die strittige Frage aus minderen Beweggründen heraus in eine bestimmte<br />

Richtung hin zum Abschluß bringt. Nun ist niemandem damit gedient, wenn<br />

persönliche konfessionelle Hintergründe geleugnet werden. Auch sollte nicht verkannt<br />

werden, daß tatsächlich in der sachlichen ethischen Debatte konfessionelle<br />

Unterschiede z. B. in der Bewertung des Naturrechts eine Rolle spielen. Aber auf<br />

dieser Ebene ist die erwähnte Obsession ja auch nicht gelagert.<br />

Es ist daher um so wichtiger, daß katholische und evangelische Christen gemeinsam<br />

ihr Engagement für den Lebensschutz demonstrieren. Denn beide Konfessionen<br />

haben in der Tat einen erheblichen Bereich von Deckungsgleichheit, der nur<br />

besser herausgestellt werden müßte, und dessen Eindeutigkeit leider häufig an dem<br />

antipapistischen Ressentiment der evangelischen Seite krankt.<br />

4. „Nationale Froschperspektive“ vs. „Kosmopolitismus“<br />

Als letztes Beispiel für eine eher oberflächliche „Dis kursinterferenz“ ist das Vorurteil<br />

zu nennen, die Position der strikten Schutzwürdigkeit des Embryos sei eine aus<br />

207


der nationalen Froschperspektive gewonnene Haltung, was umgekehrt evoziert,<br />

daß der Kosmopolit eine solche Haltung ablegen müßte.<br />

Zwar ist richtig, daß ein Blick über unsere Grenzen hinweg und auf dortiges staatliches<br />

Handeln nicht gerade hoffnungsvoll stimmt. Aber genauso richtig ist, daß<br />

der notwendige internationale und interkulturelle Dialog über den Schutz des Lebens<br />

noch gar nicht richtig begonnen hat. Kennen wir hierzulande schon die Diskussion<br />

in den USA genau genug? Wissen wir, wie Juden, Muslime, Hindus und<br />

Buddhisten darüber denken? Mag sein, daß in einem solchen interkulturellen Dialog<br />

der Bioethik unterschiedliche Beweggründe für den Schutz des Lebens zusammentreffen.<br />

Aber im Sinne dieses Schutzes wäre auch die Unterstützung von<br />

Vertretern anderer Kulturen gerechtfertigt, selbst wenn diese dabei „nur“ ihre Kritik<br />

an der Globalisierung ausdrücken wollten.<br />

208<br />

III.<br />

Logisches Muster der bisher erwähnten Diskursfallen, die letztlich den moralischen<br />

Status des Embryos gefährden, ist, daß die Argumentation auf einen Nebenschauplatz<br />

(z. B. „historische Verantwortung“) gezogen und dort, nicht da, wo sie<br />

hingehört, zum Abschluß gebracht wird. Es ist wichtig, diesen Mechanismus zu<br />

kennen, um sich ihm möglichst entziehen zu können. Was nun im folgenden zur<br />

Sprache kommen soll, dem kann man sich nicht mehr so leicht entziehen. In einer<br />

kurzen erläuternden Aufzählung sollen Grundzüge des heutigen Denkens vorgestellt<br />

werden, die nach Einschätzung des Autors die bioethische Debatte hintergründig<br />

bestimmen. Sie sind so kategoriell, daß ihre Widerlegung eines langen<br />

philosophischen oder theologischen Atems bedarf, und es ist das Verdienst von<br />

Wissenschaftlern wie Robert Spaemann, Dietmar Mieth oder Eberhard Schockenhoff,<br />

dies zu einer ihrer zentralen Aufgaben gemacht zu haben.<br />

1. Die Hypertrophierung von Krankheitsbefund und Gesundheitsanspruch<br />

Wir erleben heute eine grundlegende Verschiebung der Begriffe von Krankheit<br />

und Gesundheit. Immer mehr Menschen sagen von sich selbst, sie seien nicht gesund,<br />

und diese immer größer werdende Zahl stellt immer höhere Ansprüche an<br />

die medizinische Versorgung. Schon im Bereich der klassischen Medizin sorgt<br />

dies dafür, daß die de facto existierende, aber bisher tabuisierte Kluft zwischen<br />

denen, die sich Gesundheit und Heilung leisten können und denen, die auf Transferleistungen<br />

angewiesen sind, offenkundig wird und durch eine grundlegende<br />

Umwandlung der Finanzierung medizinischer Ve rsorgung aufgefangen werden<br />

muß.<br />

Es ist unmittelbar einleuchtend, daß diese Situation durch neue medizinische Ve rfahren,<br />

so wie sie in der Biomedizin gefunden werden sollen, nur verschärft werden<br />

kann. Aber nicht daß es eine Welt geben könnte, in denen es sich einige leisten<br />

können, bisher unheilbare Krankheiten behandeln zu lassen und andere es sich<br />

nicht leisten können, ist hier die Frage. Für die Frage der Statusgefährdung des<br />

Embryos ist entscheidend, daß der ungeheure Erwartungsdruck an die umfängliche<br />

Gewährleistung von Gesundheit einen Sog auf bisherige moralische Restriktionen


erzeugt. In der Abwägung der Güter kommt es bei einer Schwerpunktverlagerung<br />

zum universalen Gesundheitsanspruch hin leichter dazu, daß bisher schwerwiegende<br />

Bedenken wie der Embryonenschutz als zu leicht befunden werden.<br />

Es ist stark zu bezweifeln, daß im Gegensatz zu den vorhin genannten Punkten in<br />

dieser Frage leicht Abhilfe zu schaffen ist, geht doch die Verschiebung des Gesundheitsbegriffs<br />

hin zu einer umfassenden leiblichen Perfektion einher mit dem<br />

Verlust des Bedürfnisses nach spirituell-geistlicher Wohlbehaltenheit und hat starke<br />

Strukturähnlichkeit mit anderen Optimierungsvorgängen heutiger Zeit. Der<br />

Körper wird in einer gottfernen Zeit ein autarkes ökonomisch strukturiertes System,<br />

das permanent optimierungsbedürftig und –fähig ist. Dieser Dynamik haben<br />

sich auch die biologischen Teile unterzuordnen, die gesundheits- bzw. optimierungsirrelevant<br />

sind, z. B. menschliche Embryonen.<br />

2. Historizität, Fortschritt und relative Gültigkeit<br />

Ein Argument konnte bei der Diskussion der vergangenen Jahre immer besonders<br />

ins Grübeln versetzen. Es spielt mit der Vergänglichkeit von Maßstäben und der<br />

Historizität von Moral. Wenn heute die Medizin nach embryonaler Stammzellforschung<br />

verlange und die Kirche dagegen sei, dann sei dies im analogen Sinne<br />

vergleichbar z. B. mit der Renaissancezeit, wo Ärzte die Möglichkeit der Leichensezierung<br />

ins Auge faßten und dies von der Kirche strengstens untersagt wurde.<br />

Die Leichensezierung erscheint uns Heutigen moralisch völlig unproblematisch,<br />

die positiven Effekte des Tabubruchs aber liegen auf der Hand. Sollte es mit der<br />

Stammzellforschung nicht genauso sein? Wird eines Tages niemand mehr verstehen,<br />

weshalb heute so erbittert gestritten wird? Und niemand kann behaupten, wir<br />

lebten im Gegensatz zu damals in einer kategoriell schlechteren Welt!<br />

Die kategorischen Positionen von heute stehen somit immer schon im Zwielicht<br />

der weiteren Geschichte, der Mensch gewöhnt sich daran, alles historisch, vorläufig,<br />

„halb so wild“ zu nehmen. Slippery-slope-Argumente haben es dabei schwer.<br />

Aber halt: Wird wirklich alles „halb so wild“ genommen? Warum dann nicht auch<br />

die Ausrottung bestimmter Tierarten („unersetzlicher Verlust“), die Atomrüstung<br />

(„Weltuntergang“),die Unterdrückung von Minderheiten, die Frage der Gleichberechtigung<br />

von Mann und Frau. Offensichtlich sind die Menschen Historisten,<br />

wenn es ihnen in den Kram paßt und Dogmatiker, wenn ihnen etwas wichtig ist.<br />

Was allerdings nichts daran ändert, daß der historische Relativismus im hier behandelten<br />

Falle greift. Warum? Warum gehört der moralische Status des Embryos<br />

immer mehr in den Bereich der moralisch indifferenten Dinge?<br />

3. Die innerweltliche Entropie / Die Jetzt-Gesellschaft<br />

Man muß auch die alltägliche individuelle und kollektive Zeit-Vorstellung von<br />

heute in Rechnung stellen. Mit Wegfall der Ewigkeitsoption des Menschen verschwindet<br />

zum einen die Vorstellung, man müsse sich irgendwann für sein Leben<br />

verantworten. Das Wort „Sünde“ macht dann keinen Sinn mehr, wenn die „höhere“<br />

Instanz fehlt, die nach „Sünden“ am Ende des Lebens jedes Einzelnen fragt und<br />

damit etwas anderes als „Irrtümer“ oder „Fehler“ meint. Der heutige Mensch würde<br />

am Ende seines Lebens sicher zugeben, er habe dann und wann „Mist gebaut“,<br />

aber als „Sünde“ im Sinne eines Vergehens mit unendlicher Auswirkung auf die<br />

209


Existenz in der Ewigkeit, wird dies zumeist nicht mehr empfunden werden. Dies<br />

hat natürlich für sich schon Auswirkungen auf unsere Frage.<br />

Hier aber ist entscheidend, daß der Wegfall der Ewigkeit das spezifische Gewicht<br />

der diesseitigen Zeit ins Unermeßliche steigert. Hier liegt ein verborgener logischer<br />

Verbindungsgang zu der Frage nach der Hypertrophierung von Gesundheit. Gesundheit<br />

ist die innerweltliche Utopie, dem sich alles zu fügen hat. Sie ist die weltimmanente<br />

Heilsverheißung, das höchste Glück auf Erden. Gesundheit, also innerweltlicher<br />

Vollkommenheit fehlt das gelassen machende Korrektiv der „höheren“,<br />

jenseitigen Welt, sie wird dadurch ausschließlich und verdrängend. So verdrängend,<br />

daß der Tod von etwas in Kauf genommen wird, dem man offensichtlich<br />

eine niedrigere Dignität von Sein zuspricht.<br />

4. Vom christlichen Menschenbild zur antiken Seinshierarchie<br />

Hier ist man offensichtlich bei dem eigentlichen Punkt angekommen, der den Lebensschutz<br />

und den Einsatz für das ungeborene Leben von Anfang an so schwierig<br />

macht. Warum setzt sich die Kirche so vehement für die volle Schutzwürdigkeit<br />

des Lebens mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ein? Warum läßt sie<br />

dabei „nicht mit sich handeln“, auch nicht um ein paar (aus der Sicht der Gegner)<br />

unbedeutende Tage? Weil sie der Ansicht ist, daß jede andere Terminierung des<br />

Beginns des Lebens deshalb unstatthaft ist, weil sie Leben in ein „vor der Erlangung<br />

voller Würde“ und ein „nach der Erlangung voller Würde“ einteilt, also in<br />

vollwertiges und nicht vollwertiges Leben differenziert.<br />

Der Verschmelzungstermin ist nicht als Termin so sehr „richtig“, sondern aus<br />

seiner Funktion heraus, alles Leben als Lebens-wert erscheinen zu lassen. Der<br />

Verschmelzungstermin ist der am meisten inkludierende und der am wenigsten<br />

exkludierende Zeitpunkt für den Lebensbeginn. Mit ihm vollzieht die Kirche auf<br />

bioethischem Felde, was im christlichen Menschenbild als Gleichheit aller Geschöpfe<br />

vor Gott ausgedrückt ist. Aufmerksame Beobachter der Zeit wie z. B.<br />

Kardinal Ratzinger, den Sloterdijk in einer hellen Stunde einmal als den „Nietzsche<br />

des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat (insofern er als gänzlich Unzeitgemäßer seiner<br />

Zeit den Spiegel vorhält), haben bemerkt, daß dieses inkludierende Menschenbild<br />

heute auf dem Rückmarsch ist. Historisch gesehen entwickeln wir uns zurück<br />

zu einem antikisch gestuften Menschenbild, in dem es ein Oben und Unten, ein<br />

Wertes und Unwertes gibt.<br />

Das Christentum ist die Religion der Pluralität, des Zufalls, des Geltenlassens von<br />

Unterschieden, heidnisch ist das Einteilen, das Ausschließen, die Elimination von<br />

nebeneinander geltender Vielheit. (Und wenn sich das Christentum in der Vergangenheit<br />

zuweilen auch so verhalten hat, dann war es noch nicht zu sich selbst gekommen.)<br />

Es ist der Geist des Unterschieds, der herrscht, wenn Singer die Rationalität<br />

eines Wesens zum Kriterium für die Behandlung, die ihm zuteil wird, macht.<br />

Es ist der Geist des Unterschieds, der Hans-Olaf Henkel sagen läßt: „Ich vermag,<br />

mit Verlaub, in einem Zellklumpen im Reagenzglas noch keinen Menschen zu<br />

entdecken.“ Es ist dasselbe Motiv, das Reinhard Merkel den absurden intuitionistischen<br />

Beweisgang anhand des Krankenhausbrand-Beispiels machen ließ. (Merkel<br />

fragt rhetorisch: Was rette man eher bei einem Brand des Krankenhauses: einen<br />

210


schreienden Säugling oder die Kulturen im Kühlschrank? – Dabei liegt auf der<br />

Hand, daß – in einem anderen Bild gesprochen – keine Aussage über die Menschenwürde<br />

dadurch gemacht wird, daß man bei einem Unfall sein eigenes Kind<br />

oder seine Frau vor einer anderen Person rettet.)<br />

Nicht nur Rationalität, Selbsterfahrung, Artikulationsfähigkeit, auch Schönheit,<br />

Gesundheit und fehlende geistige und körperliche Behinderung gehören zu einem<br />

solchen antikisch-heidnischen Kriterienkatalog, den die heutige Zeit sich anschickt,<br />

an den Menschen zu legen. Es liegt auf der Hand, daß der Embryo da wenig Chancen<br />

hat. Aber auch das behinderte Leben, die Dementen und Sterbenskranken.<br />

Vielleicht liegt hier auch der Schlüssel zu einer Tatsache, die kaum zu verstehen<br />

ist: Wie ist es möglich, daß – wie Mediziner berichten – in einer Klinik Tür an Tür<br />

im einen Saal die sechs Monate alte 500g-Frühgeburt neonatologisch behandelt, im<br />

anderen aber ein acht Monate alter Fötus spätabgetrieben wird? Ist es deswegen,<br />

weil die Frühgeburt leibhaftig sichtbar wird, sich artikuliert, seinen Lebenswillen<br />

ausdrücken kann, während das Ungeborene in Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit<br />

verharrt?<br />

5. Artikulationsfähigkeit und das Dilemma der Diskursethik<br />

Die mangelnde Artikulationsfähigkeit ist auch in einer anderen Hinsicht von großer<br />

Bedeutung. Dies soll hier nur kurz angedeutet werden. Im allgemeinen rückt<br />

die heutige Ethik von naturrechtlichen oder Letztbegründungen des moralischen<br />

Handelns ab. Es ist schon beinahe ethischer Common Sense, daß über das Gute in<br />

einem Diskurs der Gleichberechtigten befunden werden muß; daß also, mit anderen<br />

Worten, das moralisch Gute nicht von Anfang an feststünde und nur „gefunden“<br />

werden müsse, sondern darüber erst im Dialog befunden werden muß. Was<br />

aber geschieht in einem solchen Diskurs mit all denen, die sich nicht artikulieren<br />

können? Sie brauchen Fürsprecher, die sich ihres Schicksals annehmen. Das ist<br />

noch relativ unproblematisch, gilt dies doch für Kinder, Tiere und Embryonen in<br />

gleichem Maße.<br />

Problematisch wird die Diskursethik aber erst in einer medialisierten und sensualistischen<br />

Zeit, also in einer Zeit, die nicht den abstrakten Gedanken über etwas,<br />

sondern den konkreten Sinneseindruck von etwas als Movens braucht. Erst die<br />

Bilder in Treibnetzen verendender Meeressäuger lassen Menschen zu Fürsprechern<br />

der Wale werden, die sie sonst vielleicht nicht wären. Erst das Weinen verhungernder<br />

Kinder in Afrika setzt weltweite Solidarität frei. Wer aber berichtet aus<br />

dem Mutterleib? Ohne Fürsprecher, pressure-groups etc. ist man kein Faktor der<br />

Diskursethik, man kommt nicht vor. Aber dies läßt sich natürlich bewerkstelligen.<br />

Im Gegensatz zu den problematischen Aspekten Gesundheitshypertrophie, Relativismus,<br />

Innerweltlichkeit und Ablösung des christlichen Menschenbildes ist diese<br />

Herausforderung von der Lebensschutzbewegung noch am leichtesten zu bewältigen.<br />

Dr. Johannes Christian Koecke ist Leiter des Teams Religion und Wertorientierung<br />

bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.<br />

211


212<br />

Klaus Friedrich Kempfler<br />

Rechtsbewußtsein und Rechtserziehung<br />

als Elemente politischer Bildung<br />

Gegenwärtig verbindet sich ein abnehmendes Interesse an Politik mit einem<br />

Verlust des Konsenses über die Grundwerte in Staat und Gesellschaft. Dies zeigt<br />

sich namentlich auch in einem schwindenden Rechtsbewußtsein. Demgegenüber<br />

muß es jedoch gelingen, dem Rechtsbewußtsein und damit der Rechtserziehung<br />

gerade auch in der politischen Bildungsarbeit 1 einen hinreichenden Stellenwert<br />

zu verschaffen. Die nachfolgende Darstellung unternimmt den Versuch, Rechtsbewußtsein<br />

und Rechtserziehung als spezifische und zugleich integrale Bestandteile<br />

politischer Bildung herauszustellen und einen Rahmen für ihre Vermittlung<br />

zu zeichnen.<br />

I. Recht<br />

Die Begriffe Rechtsbewußtsein und Rechtserziehung erfordern zunächst einen<br />

Aufenthalt bei der Frage, was Recht ist, an die sich die Fragen, was Rechtsbewußtsein<br />

und Rechtserziehung sind und in welchem Zusammenhang sie zueinander<br />

stehen, anschließen lassen.<br />

1. Recht im System gesellschaftlicher Normen<br />

1.1 Soziale Normen im Allgemeinen<br />

Das gesellschaftliche Zusammenleben ist in vielfacher Hinsicht normativ geprägt,<br />

was bedeutet, daß in gleichfalls vielfacher Hinsicht Sollensbedingungen<br />

aufgestellt sind, die das gesellschaftliche Zusammenleben strukturieren und<br />

konstituieren. Von ihrer Funktion her weisen all diese Sollensbedingungen Gemeinsamkeiten<br />

auf, allerdings gibt es zwischen ihnen auch Unterschiede etwa in<br />

der Genese, in der Verbindlichkeit, im Grade des Bewußtseins und letztlich in<br />

der Sanktionierbarkeit eventueller Verstöße gegen die entsprechenden Normen.<br />

Rechtlichen Normen sind nur eine von vielen Arten sozialer Normen, allerdings<br />

besonders ausgezeichnete. Als davon zu unterscheidende soziale Normenordnungen<br />

stehen Brauch und Mode, Sitten und Konvention, Anstand und ähnliches,<br />

aber auch Religion und Moral 2 daneben. Soweit es um den Grad des Bewußtseins<br />

geht, läßt sich folgende Abgrenzung treffen: Beim Brauch handelt es<br />

sich um ein automatisches Tun, das ohne nähere Begründung praktiziert wird.<br />

Das Handeln entsprechend dem Brauch erfolgt in ritualisierender bzw. ritualisierter<br />

Weise. Bräuche sind eingespielte Formen des Umganges miteinander, an<br />

die man sich hält. Die Sitten unterscheiden sich hiervon vor allem dadurch, daß<br />

sie bewußter praktiziert werden. Auch sie entwickeln sich im Umgang der Menschen<br />

miteinander und bestimmen ihr Verhalten. Anders als beim Brauch ist bei


den Sitten der Entstehungsgrund die Forderung nach sittlich gutem Handeln,<br />

nicht die bloße Üblichkeit oder Zweckmäßigkeit des äußeren Verhaltens. Das<br />

Recht ist diejenige konkrete Handlungsanweisung, die regelmäßig durch eine<br />

Kodifikation, das heißt durch ausdrückliche Niederlegung ausgezeichnet ist. Ein<br />

wesentlicher Unterschied des Ordnungsgefüges der Religion gegenüber Brauch,<br />

Sitte und Recht besteht darin, daß die glaubensmäßigen, also religiösen Pflichten<br />

nicht in erster Linie – vielmehr nur mittelbar – anderen Menschen, sondern regelmäßig<br />

Gott oder einem göttlichen Wesen geschuldet sind.<br />

2. Funktionen sozialer Normen<br />

Allen sozialen Normen sind vier Funktionen 3 gemein: Soziale Normen befreien<br />

von Entscheidungsdruck und bieten erprobte, bewährte Verhaltensmuster an,<br />

entlasten also von der Notwendigkeit eines Übermaßes an Entscheidungen. Sie<br />

ermöglichen eine Konzentration auf diejenigen Gegebenheiten, bei denen Entscheidungen<br />

tatsächlich unumgänglich sind. Die weitere Funktion von sozialen<br />

Normen besteht darin, daß sie Erwartungssicherheit herstellen. Soziale Normen<br />

bewirken, daß sich Menschen in einer Vielzahl von verschiedenen, aber wiederkehrenden<br />

Situationen auf dieselbe Weise verhalten und führen damit zu Verhaltensregelmäßigkeiten.<br />

Das Verhalten von Personen – gegebenenfalls auch von<br />

Institutionen – kann so ohne deren nähere Kenntnis in die Lebensplanung einbezogen<br />

werden, es wird vorhersehbar und berechenbar. Als dritte Funktion von<br />

sozialen Normen ist die Verhaltenskoordination zu nennen. Der Einzelne lebt<br />

nicht isoliert, sondern im gesellschaftlichen Kontext. Dieses Nebeneinander oder<br />

besser Miteinander macht es unumgänglich, daß Regelungen existieren, die Konfliktlösungsmuster<br />

bereithalten. Diese Muster sind notwendig zum einen, um die<br />

friedliche Koexistenz der Individuen zu ermöglichen – insoweit steht das Nebeneinander<br />

im Vordergrund –, um andererseits aber auch Fragen der Kooperation –<br />

insoweit ist das Miteinander angesprochen – verbindlich zu lösen. Schließlich<br />

kann als vierte Normfunktion die Integration identifiziert werden. Normen sind<br />

die konkrete Ausformung von Werten, Interessen und Leitbildern. Gemeinsame<br />

Normen bedeuten gemeinsame Werte, gemeinsame Werte bedingen den Zusammenhalt<br />

einer Gruppe. Dies gilt für kleinere Einheiten, zum Beispiel die<br />

Familie, Vereine oder andere gesellschaftliche Zusammenschlüsse, ebenso wie<br />

für den Staat im Großen.<br />

3. Akzeptanz und Durchsetzung sozialer Normen<br />

Zentrale Fragen sind, warum soziale Normen befolgt werden, warum Menschen<br />

geneigt sind, soziale Normen – also auch das Recht – zu akzeptieren und wie die<br />

Nichtbefolgung sozialer Normen sanktioniert wird.<br />

Die Beachtung sozialer Normen ist vornehmlich erlerntes Verhalten. Soziale<br />

Normen werden weitergegeben. Der Einzelne erlernt soziale Normen im Prozeß<br />

der Sozialisation, das heißt in jenem Prozeß, in dem er in seine jeweilige soziale<br />

Gemeinschaft oder in die Gesamtgesellschaft hineinwächst. Über die Einhaltung<br />

der sozialen Normen durch das Individuum wacht zunächst die soziale Kontrolle.<br />

Diese äußert sich hierbei insbesondere auch in der Verhängung von Sanktionen<br />

für den Fall der Nichtbeachtung einer sozialen Norm. Derjenige, der sich der<br />

213


Befolgung widersetzt, setzt sich der Gefahr gesellschaftlicher Ächtung aus, die<br />

im Einzelfall von der bloßen Mißbilligung bis hin zur Gewaltanwendung reichen<br />

kann. Im Sinne der jeweiligen Gesellschaftsordnung ist Sozialisation im Wesentlichen<br />

dann gelungen, wenn das Individuum die ihm zur Befolgung vorgestellten<br />

Normen nicht mehr als von außen auferlegt empfindet, sondern sie freiwillig, als<br />

selbstverständlich oder gar aus Überzeugung befolgt. Diese Vorstellung der<br />

Sozialisation stößt jedoch auf Schwierigkeiten, soweit man die Individualität des<br />

Einzelnen in den Vordergrund rückt. Sie stößt namentlich auch dann auf Schwierigkeiten,<br />

wenn man davon ausgeht, daß soziale Normen anpassungsfähig, in<br />

ihrer Entwicklung dynamisch und im Zeitablauf wandelbar sein müssen. 4 Es gilt<br />

damit, den Grat zwischen der Befolgung sozialer Normen und der Anpassungsfähigkeit<br />

des Gesamtsystems im Hinblick auf die Entfaltungsbedürfnisse des<br />

Einzelnen auszuloten. Die Herstellung dieser Balance ist von entscheidender<br />

Bedeutung für das Verhältnis des Individuums zu sozialen Normen, insbesondere<br />

zum Recht, und damit für das Normen- und Rechtsbewußtsein des Einzelnen.<br />

2. Besonderheiten des Rechts<br />

Eine Besonderheit des Rechts innerhalb und im Vergleich zu den übrigen sozialen<br />

Normen ist darin zu erblicken, daß für dessen Durchsetzung staatlicherseits<br />

spezifische Instrumente und Institutionen existieren. Die Befolgung des Rechts<br />

ist durch die Anwendung von Zwangsmöglichkeiten abgesichert, die aufgrund<br />

eigens geregelter Verfahren und durch eigens hierfür eingesetzte Organe erfolgt. 5<br />

Hinter dem Recht steht anders als den übrigen sozialen Normensystemen die<br />

Gewalt des Staates mit praktisch unwiderstehlichen Vollstreckungsmitteln: „iuris<br />

effectus in exe cutione consistit“, die Wirkung des Rechts liegt in seiner Vollstreckung.<br />

Darüber hinaus ist für das Recht kennzeichnend, daß es in besonderer<br />

Weise auf Verbindlichkeit gerichtet, oft schriftlich fixiert und regelmäßig auf<br />

einen spezifischen Prozeß der Rechtserzeugung zurückzuführen ist.<br />

3. Recht und Gerechtigkeit<br />

Während es der Religion um ein auf Gott ausgerichtetes Leben geht, die Bräuche<br />

bestimmte Formen des mitmenschlichen Umgangs bezwecken, die Moral bzw.<br />

Sittlichkeit auf das Gute abzielt, strebt das Recht nach Gerechtigkeit. Rechtliche<br />

Regelungen existieren nicht um ihrer selbst willen. Sie bedeuten nicht ein für<br />

sich abgeschlossenes und nur aus sich heraus erklärbares, verständliches und<br />

interpretierbares System. Vielmehr bedarf das Recht einer ständigen Rückkoppelung<br />

an die gesellschaftliche Realität. Das Recht wird durch die gesellschaftliche<br />

Realität determiniert, während andererseits auch die gesellschaftliche Realität<br />

durch das Recht determiniert werden kann. Nicht alles, was als Recht ausgegeben<br />

wird, ist „recht“ im Sinne von „rechtens“ oder von „gerecht“. Recht und<br />

Gerechtigkeit sind tatbestandlich verschieden. Das Recht kann Mittel zur Ve rwirklichung<br />

von Gerechtigkeit sein, das Recht kann auch das Ergebnis der<br />

Grundüberzeugungen davon sein, was als gerecht empfunden wird. Recht und<br />

Gerechtigkeit decken sich jedoch nicht notwendigerweise, jedenfalls nicht notwendigerweise<br />

vollständig. Rechtliche Normen, also Normen, die als allgemein<br />

verbindlich und somit als vom Einzelnen zu befolgend erlassen worden sind,<br />

können evident von dem, was als gerecht empfunden wird, abweichen. Recht<br />

214


kann zum Instrument der Herrschenden werden, gleichgültig ob damit der Gerechtigkeit<br />

als Prinzip Rechnung getragen wird oder nicht. Es kann also auch<br />

ungerecht sein oder als ungerecht empfunden werden, wenngleich man im allgemeinen<br />

Sprachgebrauch Schwierigkeiten haben wird, Recht, welches als ungerecht<br />

empfunden wird (oder ungerecht ist), als Recht und nicht als Unrecht zu<br />

bezeichnen. An das Recht ist in diesem Zusammenhang die Forderung zu stellen,<br />

daß es Gerechtigkeit zu verwirklichen hat. Es sollte der Gerechtigkeit dienen und<br />

nicht zum Selbstzweck werden.<br />

Damit kommt der Frage danach, was gerecht und was ungerecht ist, eine zentrale<br />

Bedeutung zu. Dies zu entscheiden ist jedoch zunächst kein rechtliches, sondern<br />

ein philosophisches bzw. politisches Problem. Auf die Frage, was Gerechtigkeit<br />

ist, gibt es als Antwort jedenfalls keine Definition. Der Begriff der Gerechtigkeit<br />

entzieht sich als Grund- oder Urbegriff der Möglichkeit einer Festlegung, es<br />

handelt sich um einen originären Begriff. 6 Dennoch haben sich mehrere Aspekte<br />

als Definitionselemente für den Gerechtigkeitsbegriff herausgebildet: Von alters<br />

her werden dem Gerechtigkeitsprinzip zwei Maximen zugeschrieben, nämlich<br />

jedem das Seine zu gewähren und vor allem wesentlich Gleiches gleich, wesentlich<br />

Ungleiches im Verhältnis der Ungleichheit ungleich zu behandeln. Allerdings<br />

– und damit ist die politisch-philosophische Dimension des Gerechtigkeitsbegriffs<br />

aktualisiert – gab und gibt es zu der Frage, was gleichartig und<br />

gleichwertig ist, in allen Rechtsordnungen und zu allen Zeiten divergierende<br />

Auffassungen. Die Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit ist in hohem<br />

Maße von den Anschauungen und Wertungen, die in einem geschichtlichen<br />

Zeitabschnitt und in einer bestimmten Gesellschaft herrschen, abhängig.<br />

Im freiheitlich-demokratischen Staat, namentlich in der Bundesrepublik<br />

Deutschland, wird inhaltlich – von der Tendenz her – dasjenige Recht als gerecht<br />

bezeichnet werden können, welches den normativen Grundüberzeugungen, die<br />

unsere christlich-abendländisch geprägte Kultur hervorgebracht hat und welche<br />

sich insbesondere in den Grundrechten des Grundgesetzes niedergeschlagen<br />

haben, Rechnung trägt. Die Rechtsetzung wie die Rechtsanwendung und Rechtsprechung<br />

sind kraft Art. 1 Abs. 3 GG an die Beobachtung der Grundrechte<br />

gebunden. Die Grundrechte sind unmittelbar geltendes Recht. Durch Art. 79<br />

Abs. 3 GG ist festgelegt, daß unter anderem Art. 1 Abs. 1 GG, der Grundsatz der<br />

Unantastbarkeit der Würde des Menschen, einem absoluten Unabänderlichkeitsgebot<br />

unterliegt. Dies bedeutet, daß zwar die Einzelgrundrechte prinzipiell nicht<br />

der Ewigkeitsgarantie unterliegen, aber jedenfalls der – wohl auch jedem Einzelgrundrecht<br />

innewohnende – Kerngehalt der Menschenwürde gewährleistet ist,<br />

dies allerdings auch soweit er sich in den Einzelgrundrechten niedergeschlagen<br />

hat. Unter dem Grundgesetz können die Grundrechte für sich beanspruchen, den<br />

Grundbestand an Gerechtigkeitsvorstellungen, der für das Funktionieren unseres<br />

Gemeinwesens unabdingbar ist, zu normieren. 7 Neben den Grundrechten ist die<br />

Statuierung der Rechtsstaatlichkeit wesentlich. In der Grundrechtsgebundenheit<br />

und der Verpflichtung auf den Rechtsstaat – auch und gerade in der Zusammenschau<br />

mit dem demokratischen und sozialstaatlichen Prinzip – spiegeln sich die<br />

aktuellen, unsere Gesellschaft prägenden Gerechtigkeitsvorstellungen wider.<br />

215


216<br />

II. Rechtsbewußtsein<br />

Bezogen sich die vorgehenden Überlegungen auf das Recht und die Gerechtigkeit,<br />

so sind nun Überlegungen über das Rechtsbewußtsein anzustellen. Unter<br />

Rechtsbewußtsein läßt sich als Forschungsgegenstand mehrerlei verstehen. Ganz<br />

allgemein geht es um die Einstellung der Bevölkerung zum Recht. 8 Dabei lassen<br />

sich als einzelne Untersuchungsgegenstände die folgenden Teilbereiche voneinander<br />

abgrenzen: 9 Die Einstellung der Bevölkerung zum Recht kann zunächst<br />

ganz allgemein als die Frage nach der allgemeinen – positiven oder negativen –<br />

Einstellung der Bevölkerung zum Recht insgesamt formuliert werden. Andererseits<br />

geht es bei der Frage nach der Einstellung der Bevölkerung zum Recht um<br />

die Kenntnisse über bestimmte rechtliche Verhaltensnormen und die diesbezüglichen<br />

Sanktionsdrohungen. Letztlich kann die Einstellung der Bevölkerung zum<br />

Recht danach bemessen werden, inwieweit Meinungen darüber vorherrschen,<br />

wie ein bestimmter Konflikt gelöst werden sollte oder ob die rechtlich vorgesehene<br />

Problemlösung gebilligt wird. 10<br />

Teilweise wird die Frage nach dem Rechtsbewußtsein bzw. dem Rechtsgefühl<br />

auch danach beantwortet, ob ein Verbindlichkeitsgefühl im Sinne einer Achtung<br />

vor der Rechtsordnung vorzufinden ist bzw. subjektive Rechtsideale existieren<br />

oder ob eine durch die juristische Ausbildung und Erfahrung entwickelte Fähigkeit<br />

von Juristen zu intuitiver Lösung von Rechtsfragen besteht. 11 Geht es hier<br />

nach dem ersten Maßstab vornehmlich um die Rechtskenntnisse des Publikums,<br />

so hat der zweite bereits den Berufsjuristen im Blick. Gemeinsam ist allen Ansätzen,<br />

daß Antworten auf die gestellten Fragen nur empirisch gefunden werden<br />

können. Das Vorhandensein eines Rechtsgefühls, das Vorhandensein von<br />

Rechtsbewußtsein ist sonach empirisch zu ermitteln. So lassen sich Untersuchungen<br />

darüber anstellen, ob in der Bevölkerung eine sogenannte legalistische<br />

Grundeinstellung existiert. Auf eine solche kann man schließen, wenn jemand<br />

die Frage, ob man Gesetze auch befolgen soll, wenn man sie nicht für gerecht<br />

hält, bejaht. Zu beachten gilt es jedoch, daß Untersuchungen der genannten Art<br />

nur punktuelle Befunde liefern, aus denen sich kein allgemeines Rechtsbewußtsein<br />

mit greifbarem Inhalt erkennen läßt. Aber gerade hierin wird die allgemeine<br />

Einstellung der Gegenwartsgesellschaft zum Recht gesehen, nämlich daß es ihr<br />

oftmals an einem spezifischen Rechtsbewußtsein fehlt. Generell läßt sich wohl<br />

die Aussage treffen, daß dasjenige, was Juristen oder Soziologen unter Recht<br />

verstehen, nicht unbedingt der Erlebniswelt des Publikums entspricht. Der Allgemeinheit<br />

begegnet das Recht nicht als Einheit, sondern in vielen Erscheinungsformen,<br />

deren Zusammenhang ihr oft nicht bewußt wird. 12<br />

Ein besonderes Kennzeichen moderner Grundeinstellung gegenüber dem Recht<br />

scheint ihre relative Unbestimmtheit zu sein. 13 Weder kann sich das Recht auf<br />

einen weitreichenden Konsens über Ziele und Verfahren stützen, noch fehlt es<br />

aber auf der anderen Seite an dezidierter Ablehnung, die über eine Ablehnung<br />

konkreter Einzelregelungen hinausreicht.<br />

Allgemein ergibt sich für das Rechtsgefühl oder für das Rechtsbewußtsein – in<br />

Abstraktion von exemplarischen empirischen Befunden –, daß es sich um das


persönliche „Für-richtig-Halten“ in Bezug auf Gerechtigkeitsfragen handelt.<br />

Wesentlich ist dabei, daß die Erkenntnisquelle, hinter die man nicht zurückgehen<br />

kann, im subjektiven Bewußtsein der Billigungs- oder Mißbilligungswürdigkeit<br />

liegt. 14 Unter diesem Blickwinkel ist Rechtsbewußtsein eine maßgebliche Quelle<br />

des Rechts. Es dirigiert den gesamten Vorgang der Rechtsbildung. Im Rechtsbewußtsein<br />

entstehen Vorstellungen über die Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen<br />

und über ihren Inhalt. Das Rechtsgefühl determiniert den Prozeß der Rechtsetzung,<br />

in welchem die tatsächlichen Gegebenheiten, die geltende Wertordnung<br />

und die Gemeinwohlziele miteingebunden, gewertet, miteinander abgewogen<br />

und in der für richtig gehaltenen Weise berücksichtigt werden.<br />

III. Rechtserziehung<br />

Die Problematik der Rechtserziehung wirft einerseits die Frage auf, wo institutionell<br />

Rechtserziehung stattfinden kann, das heißt, wo der Bürger in den Genuß<br />

einer Rechtserziehung kommt und kommen kann, auf der anderen Seite ist nach<br />

dem materiellen Gehalt der Rechtserziehung zu fragen, also danach, was inhaltlich<br />

Gegenstand von Rechtserziehung sein kann oder sein sollte.<br />

1. Institutionell<br />

Rechtserziehung kann in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen stattfinden.<br />

Sie wird bereits in der Familie ansetzen, etwa in der Erziehung der Kinder dahingehend,<br />

daß gesetzliche Regelungen zu beachten sind. In der Familie bzw. im<br />

familiären Umfeld wird Rechtserziehung in vielfältiger Weise auch mit einer<br />

Werteerziehung oder mit einer Erziehung zu bestimmten Moralvorstellungen<br />

verbunden sein. Rechtserziehung kann in den Schulen stattfinden, namentlich in<br />

wirtschafts-rechtlichen aber auch und vor allem, soweit die Rechtserziehung in<br />

Bezug zur politischen Bildung gebracht wird, in sozialkundlichen Fächern.<br />

Rechtserziehung kann auch durch Institutionen des Rechtslebens im engeren<br />

Sinne, wie die Gerichte, sowie durch staatlich-politische Institutionen, also beispielsweise<br />

Parlament, Regierung und Parteien erfolgen. Rechtserziehung kann<br />

Gegenstand universitärer Ausbildung sein, wobei jedoch das Studium der<br />

Rechtswissenschaft nicht mehr bzw. nicht nur als Rechtserziehung im hier gemeinten<br />

Sinne zu begreifen ist. Es ist festzuhalten, daß unter Rechtserziehung im<br />

hiesigen Sinne nicht ein Rechtsstudium im verkleinerten Abbild 15 verstanden<br />

werden darf.<br />

Rechtserziehung im hiesigen Sinne bedeutet vielmehr die Vermittlung von<br />

Grundkenntnissen und Grundstrukturen, die es dem einzelnen Bürger, der sich<br />

nicht einer Ausbildung zum Berufsjuristen unterzieht, ermöglichen sollen, sich<br />

innerhalb der Rechtsordnung, die ihn umgibt, zurechtzufinden und sie zu verstehen.<br />

Dabei ist es freilich notwendig, daß eine Erziehung dahingehend stattfindet,<br />

daß der Einzelne dazu befähigt wird, sich kritisch mit dem Recht und kritisch mit<br />

den rechtssetzenden und rechtsanwendenden Institutionen auseinanderzusetzen. 16<br />

Gerade der letztgenannte Aspekt erfordert es, daß die genannten Institutionen<br />

ihre Aufgaben transparent, bürgernah und verständlich ausüben. Unabdingbare<br />

Voraussetzungen hierfür ist es, daß die Öffentlichkeit Einblick in die Arbeit<br />

217


dieser Institutionen erhält. Diese Öffentlichkeit kann insbesondere durch die<br />

Medien vermittelt werden, sie soll aber auch die unmittelbare Informationsmö glichkeit<br />

durch den einzelnen Bürger beinhalten. So finden etwa in den Parlamenten<br />

die (Voll-)Sitzungen grundsätzlich öffentlich statt. Für die Gerichte ist im<br />

Gerichtsverfassungsgesetz bestimmt, daß im Regelfall öffentlich verhandelt<br />

wird. Die entsprechende Vorschrift bezweckt dabei zweierlei: Einerseits hat sie<br />

einen erzieherischen Aspekt, nämlich Verständnis für Tätigkeiten der Gerichte<br />

zu erwecken, auf der anderen Seite ist damit eine Kontrolle der Arbeit der Gerichte<br />

durch die Öffentlichkeit intendiert.<br />

Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, die Rechtsprechung finde hinter<br />

verschlossenen Türen statt, sie habe gegenüber den Bürgern etwas zu verbergen.<br />

Zur Absicherung der Öffentlichkeit ist normiert, daß ein Ausschluß der Öffentlichkeit<br />

regelmäßig einen schweren Verfahrensverstoß bedeutet, der wiederum<br />

regelmäßig zur Aufhebung etwa eines Urteils führt. Schließlich kann Öffentlichkeitsarbeit<br />

von den politischen Parteien geleistet werden, die darüber informieren,<br />

welche Vorstellungen das menschliche Gemeinwesen betreffend sie in geltendes<br />

Recht umsetzen wollen.<br />

2. Materiell<br />

Inhaltlich muß Rechtserziehung darauf gerichtet sein, beim Einzelnen ein Ve rständnis<br />

für das Recht sowie für rechtliche Zusammenhänge zu entwickeln.<br />

Rechtserziehung sollte inhaltlich darauf gerichtet sein, die Stellung des Einzelnen<br />

als einerseits Rechtsunterworfenen als andererseits aber auch mündigen<br />

Bürger innerhalb des rechtlichen Systems – im besonderen des politischen Systems<br />

– zu verdeutlichen. Rechtserziehung ist dabei auch Werteerziehung. Die<br />

rechtliche Ordnung fußt letztlich auf gemeinsamen Werteüberzeugungen der<br />

Individuen. Die rechtliche Ordnung im freiheitlich-demokratisch verfaßten Staat<br />

ist – oder besser sollte sein: – das Ergebnis eines gesellschaftlichen Konsenses.<br />

Dabei wird nicht behauptet, daß dieser Konsens jederzeit und zu jeder einzelnen<br />

Frage bei allen Individuen vorzuherrschen braucht, aber ein Element für das<br />

Funktionieren sozialer Normen, wozu auch das Recht zählt, ist deren regelmäßige<br />

Befolgung.<br />

Auf der anderen Seite muß eine Dynamik in der Entwicklung gewährleistet sein.<br />

Rechtserziehung muß auch eine Erziehung hin zu kritischer Distanz beinhalten.<br />

Das Ziel einer humanen Pädagogik in einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen<br />

hat sonach nicht nur auf eine kritiklose Übernahme aller Normen<br />

abzuzielen, sondern muß auch in einer Erziehung zur Kritikfähigkeit gegenüber<br />

vorhandenen Normen bestehen. Gleichwohl kann die Kritik nur auf der Grundlage<br />

einer Kenntnis des status quo erfolgen.<br />

3. Einige ausgewählte Problemfelder<br />

3.1 Zur Unterscheidung von Recht und Politik<br />

Für das Verständnis des Wesens des Rechts ist es unabdingbar, sich das Verhältnis<br />

von Recht und Politik vor Augen zu führen. Es ist in entscheidender Weise<br />

durch die Positivierung des Rechts, also durch dessen Setzung geprägt. Das<br />

Recht ist das Produkt eines politischen Prozesses. Dies bedeutet, daß die für das<br />

218


menschliche Miteinander wesentlichen Entscheidungen nicht nur auf rechtlicher<br />

Ebene, insbesondere nicht nur auf der der Rechtsanwendung erfolgen. Vielmehr<br />

wird dasjenige, was rechtlich gilt, politisch bestimmt. Im demokratischen Staat<br />

gilt Recht nicht aufgrund unvordenklicher Tradition oder göttlicher Stiftung.<br />

Das Recht ist, so wie es existiert, das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses.<br />

Dieser Entscheidungsprozeß selbst steht unter dem Einfluß von Gerechtigkeitsvorstellungen.<br />

Aus der Differenz verschiedener Vorstellungen von der Gerechtigkeit<br />

resultiert das dauerhafte Problem der Gerechtigkeit des Rechts. Eine Lösung<br />

dieses Problems wird im demokratischen Staat nicht in der Weise gefunden,<br />

daß die eine oder andere Gerechtigkeitsvorstellung verabsolutiert wird,<br />

sondern die Lösung ist darin zu finden, daß das Gesetzesrecht prinzipiell abänderbar<br />

ist. 17<br />

3.2 Rechtskenntnis und Normenflut<br />

Eine Schwierigkeit der Rechtserziehung wird in der Komplexität und Unüberschaubarkeit<br />

der Rechtsordnung liegen. Allenthalben wird beklagt, es bestehe in<br />

der Bevölkerung eine Rechtsunkenntnis, diese sei insbesondere auch durch eine<br />

erhebliche Normenflut bedingt. 18 Herkömmlicherweise wird als eine Bedingung<br />

der Rechtsstaatlichkeit formuliert, der Bürger müsse die ihn betreffenden<br />

Rechtsnormen kennen, um sich auf diese einstellen zu können. In der Tat ergibt<br />

eine Betrachtung des geltenden Rechts Aufschluß darüber, daß der Rechtsbestand<br />

gewaltig ist. Neueren Zählungen zufolge soll der Normenbestand des Bundesrechts<br />

auf mittlerweile etwa 85.000 Einzelvorschriften angewachsen sein, bei<br />

rund 1900 Gesetzen und knapp 3000 Rechtsverordnungen. 19 In diese Zählung<br />

sind die landesrechtlichen Bestimmungen nicht mit aufgenommen.<br />

Für das ständige Anwachsen des Normenbestandes gibt es indes zahlreiche Ursachen.<br />

Angefangen mit Normen, deren Erlaß durch die Einbettung in supranationale<br />

Organisationen bedingt ist, namentlich durch die Mitgliedschaft in der<br />

Europäischen Union, über Gesetzgebungsaufträge, die das Bundesverfassungsgericht<br />

an den Gesetzgeber heranträgt, und Forderungen, die an den Staat, der<br />

mittlerweile in umfassender Weise Vorsorge zu treffen und Verantwortung für<br />

eine Vielzahl von Situationen zu übernehmen hat, gestellt werden bis hin zu der<br />

Tatsache, daß die Entwicklung neuer Techniken einen Bedarf an neuen Regelungen<br />

nach sich zieht und zu der Feststellung, daß auf eine hochdifferenzierte Gesellschaft<br />

nur mit einer ausdifferenzierten rechtlichen Ordnung zu reagieren ist,<br />

läßt sich der Bogen bei der Ursachensuche spannen. 20 Auf der anderen Seite wird<br />

argumentiert, eine umfassende Normkenntnis der Bevölkerung sei auch schon in<br />

früheren Zeiten, zu denen weniger umfangreiche rechtliche Regelungen vorgelegen<br />

hätten, eine bloße Utopie gewesen. In der Tat kann die Behauptung, Rechtsunkenntnis,<br />

die zur Rechtsunsicherheit führen kann, sei für den Rechtsstaat<br />

schädlich, nicht von der Hand gewiesen werden.<br />

Es gilt jedoch zu bedenken, daß eine Vielzahl, wenn nicht gar die Mehrzahl<br />

rechtlicher Normen nur einen sehr begrenzten Anwendungsbereich aufweist. Mit<br />

anderen Worten hat die Normenflut nicht automatisch und notwendigerweise<br />

eine rechtsstaatlich bedenkliche Rechtsunsicherheit zur Folge. Für zahlreiche<br />

219


Normen, etwa aus dem technischen Sicherheitsrecht wird es vollkommen ausreichend<br />

sein, wenn die konkret von der speziellen Materie Betroffenen über die<br />

hierfür einschlägigen rechtlichen Regelungen in Kenntnis gesetzt sind. 21 Hier<br />

wird es also völlig genügen, wenn eine entsprechende Kenntnis dieses Teilbereichs<br />

des Rechts den entsprechenden Spezialisten vorbehalten bleibt.<br />

Nur einen verhältnismäßig kleinen Teil aus der Masse des Rechts braucht jeder<br />

Bürger wirklich zu kennen. 22 Zu diesen Normen sind vor allem die Verhaltensnormen<br />

zu zählen, etwa die Strafgesetze. Daneben gibt es Vorschriften, die zwar<br />

für viele Menschen von großer praktischer Bedeutung sind, über die man sich<br />

jedoch aktuell informieren kann, etwa das Mietrecht oder Baurecht. Diese unvollständige<br />

Kenntnis des Rechts muß sich hierbei allerdings auch mit einem<br />

Gefühl dafür verbinden, wann sachkundiger Rat zu bemühen ist, weil die eigene<br />

Rechtskenntnis nicht mehr ausreicht. Damit kann für die Rechtserziehung im<br />

hier interessierenden Sinne nicht ernsthaft die breite und umfassende Vermittlung<br />

von Wissen um die geltenden rechtlichen Regelungen gefordert werden.<br />

4. Konzentration der Rechtserziehung auf Grundlagen<br />

Mit der letzten Feststellung wird die These aufgestellt, daß Rechtserziehung<br />

unter Konzentration auf die wesentlichen Grundlagen erfolgen sollte. Rechtserziehung<br />

gerade im Kontext der politischen Bildung hat somit vornehmlich die<br />

Vermittlung von Basiswissen zu leisten, welches gegebenenfalls in verschiedene<br />

Richtungen hin weiter entfaltet werden kann. Zu diesem Basiswissen gehören<br />

Kenntnisse über die Verfaßtheit unseres Gemeinwesens, auch unter Berücksichtigung<br />

der wesentlichen historischen 23 und politisch-gesellschaftlichen Grundlagen.<br />

Es umfaßt die Kenntnis der die staatliche Gewalt repräsentierenden Organe<br />

und Institutionen, sowie deren Aufgaben und Befugnisse sowie Wissen über den<br />

politischen Prozeß der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik, insbesondere<br />

über die Meinungsbildung, die Herrschaftsbestellung, die Machtausübung,<br />

die Gesetzgebung, die Machtbegrenzung und die Machtkontrolle. 24 Zu<br />

den Grundkenntnissen gehört auch das Verständnis für die föderale Organisation<br />

unseres Gemeinwesens. 25 Damit wird eine aktive und für den Einzelnen gewinnbringende<br />

Teilnahme am politischen Tagesgeschehen möglich.<br />

Der mündige Bürger ist derjenige, der sich seiner rechtlichen Verpflichtungen<br />

innerhalb des Gemeinwesens bewußt ist. Der mündige Bürger ist aber auch derjenige,<br />

der um seine Rechte weiß und für die Durchsetzung seiner Rechte eintritt.<br />

Dazu gehört das Wissen darum, daß zur Konfliktregulierung, soweit es um Beeinträchtigungen<br />

durch die öffentliche Gewalt geht, der Rechtsweg zu den Gerichten<br />

offen steht und daß daneben, soweit es um die Konfliktregulierung unter<br />

Privaten geht, ebenfalls Hilfe von den staatlichen Gerichten eingefordert werden<br />

kann. Es sollte die Erkenntnis vermittelt werden, daß das Gewaltmonopol beim<br />

Staat verortet ist, Selbsthilfe oder Selbstjustiz mithin regelmäßig ausgeschlossen<br />

sind.<br />

Das Ziel einer Rechtserziehung im Kontext der politischen Bildung muß die<br />

Erziehung hin zu einem mündigen, kritikfähigen Bürger sein, der befähigt ist,<br />

aktiv am Willensbildungsprozeß teilzunehmen und der sich der die Gesellschaft<br />

konstituierenden Werte, seien sie rechtlich ausformuliert oder nicht, bewußt ist.<br />

220


Es sollte auch deutlich werden, daß das Engagement des Einzelnen und seine<br />

Teilhabe am politischen Prozeß, wertvoll, wichtig und letztlich auch entscheidend<br />

sein kann, haben doch viele Bürger den Eindruck, sie könnten mit ihrer<br />

Stimme ohnehin nichts ausrichten. Dieser Einstellung gilt es entgegenzuwirken.<br />

Als Besonderheit sei vor einem abschließenden Fazit die Bestimmung des Art.<br />

188 der Bayerischen Verfassung (BV) erwähnt, der lautet: „Jeder Schüler erhält<br />

vor Beendigung seiner Schulpflicht einen Abdruck dieser Verfassung“.<br />

Mit dieser Verfassungsbestimmung ist zwar keine allgemeine Aussage über das<br />

Rechtsbewußtsein, über die Rechtserziehung im Allgemeinen oder über deren<br />

Verhältnis zueinander getroffen und dennoch ist dieser Vorschrift ein Gehalt<br />

zueigen, der im hiesigen Zusammenhang fruchtbar gemacht werden kann. Die<br />

Vorschrift möchte erreichen, daß die Verfassung den Schülern nicht toter Buchstabe<br />

bleibt. Vielmehr soll und muß sie im Unterricht behandelt werden. Dabei<br />

ist der gedankliche Hintergrund wiederum der, daß der junge Bürger bzw. die<br />

junge Bürgerin mit den Grundwerten und Grundentscheidungen der Verfassung<br />

vertraut gemacht werden soll. 26<br />

Im Verfassungsausschuß für die Bayerische Verfassung wurde einhellig befürwortet,<br />

daß der an die Schüler zu übergebende Verfassungstext mit einem kurzen<br />

Abriß der bayerischen Geschichte und einer kurzen Inhaltsdarstellung versehen<br />

werden sollte, ohne dies in den Verfassungstext ausdrücklich aufzunehmen.<br />

Dabei sollte jedoch die Verbindung mit einem geschichtlichen Abriß nicht dazu<br />

führen, daß der Text der Verfassung nicht mehr der beherrschende Inhalt ist. Die<br />

Inhaltsdarstellung sollte objektiv und knapp sein, um den Verfassungstext hierdurch<br />

nicht zu mißdeuten und zu entwerten. Daneben wurde der Wunsch laut,<br />

daß im Unterricht auch über die Verfassung gesprochen und den Schülern ihr<br />

Inhalt gemeinverständlich dargelegt werden sollte. Daher normiert Art. 188 BV,<br />

daß die Verfassung vor Beendigung der Schulpflicht und nicht bei Beendigung<br />

der Schulpflicht auszuhändigen ist. 27<br />

Die oft scheinbare Divergenz von Rechtssystematik und Lebenswirklichkeit<br />

bringt ein didaktisches Dilemma für die Vermittlung von Recht und damit für die<br />

Rechtserziehung mit sich, bedeutet aber auch eine Herausforderung. So sollten<br />

sich weder Mittler politischer Bildung noch Bildungswillige entmutigen lassen,<br />

denn je mehr Elemente des Rechtssystems in ihrer Funktion verstanden sind, um<br />

so deutlicher wird auch das Zusammenspiel dieser Teile bei der Ordnung des<br />

einzelnen Lebenssachverhalts zu Tage treten. Aus diesem Verständnis resultiert<br />

und wächst die Fähigkeit zu kritischer und gewinnbringender Auseinandersetzung<br />

mit Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit.<br />

Anmerkungen<br />

1) Zur politischen Bildung im Allgemeinen vgl. W. Sander (Hrsg.), Handbuch politische<br />

Bildung (1997) und R. A. Roth, Grundfragen der politischen Bildung (1999).<br />

2) Zum Verhältnis des Rechts zu anderen sozialen Normenordnungen vgl. H. Henkel,<br />

Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. (1977), S. 52 ff.<br />

3) Vgl. E. Kausch, Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, in: D. Grimm (Hrsg.), Einführung<br />

in das Recht (1985), S. 4 ff.<br />

221


4) Vgl. auch H. Oberreuther, Rechtserziehung, in: W. Sander (Hrsg.), Handbuch politische<br />

Bildung (1997), S. 319.<br />

5) Vgl. E. Kausch (o. Fußn. 3), S. 13 ff.<br />

6) H. Henkel (o. Fußn. 2), S. 395 ff.<br />

7) Zum Erfordernis eines Wertekonsenses vgl. R. Scholz, Verfassungswerte und Wertewandel,<br />

in: A. Klein (Hrsg.), Grundwerte in der Demokratie (1995), S. 42 f.<br />

8) Vgl. hierzu insbesondere die Beiträge in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl,<br />

Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985).<br />

9) Vgl. K. Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 269 f.<br />

10) Vgl. hierzu auch M. Kriele, Rechtsgefühl und Legitimität der Rechtsordnung, in: E.-J.<br />

Lampe (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie<br />

10 (1985), S. 23 ff.<br />

11) So die Differenzierung von E. Riezler, Das Rechtsgefühl, Rechtspsychologische Betrachtungen,<br />

3. Aufl. (1969).<br />

12) So K. Röhl (o. Fußn. 9), S. 271.<br />

13) Vgl. hierzu F.-X. Kaufmann, Rechtsgefühl, Verrechtlichung und Wandel des Rechts,<br />

in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl, Jahrbuch für Rechtssoziologie und<br />

Rechtstheorie 10 (1985), S. 191.<br />

14) R. Zippelius, Rechtsgefühl und Rechtsgewissen, in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Das sogenannte<br />

Rechtsgefühl, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985), S. 13.<br />

15) So auch H. Oberreuther (o. Fußn. 4), S. 321.<br />

16) Zur Schulung des Rechtsgefühls am Rechtswissen vgl. M. Kriele (o. Fußn. 10), S. 28.<br />

17) Vgl. hierzu insbesondere D. Grimm, Politik und Recht, in: E. Klein u.a. (Hrsg.),<br />

Grundrechte, soziale Ordnung, Verfassungsgerichtsbarkeit – Festschrift für Ernst Benda<br />

(1995), 91 ff.<br />

18) Hierzu ausführlich R. Holtschneider, Normenflut und Rechtsversagen (1991).<br />

19) Vgl. H. Hofmann, Von der Deregulierung zur Rückführung der Staatsaufgaben, ZG<br />

1999, 45.<br />

20) Vgl. nur H. Wagner, Gesetzesfolgenabschätzung – Modeerscheinung oder Notwendigkeit?,<br />

ZRP 1999, 481.<br />

21) K. Röhl (o. Fußn. 9), S. 261.<br />

22) So auch K. Röhl (o. Fußn. 9), S. 262.<br />

23) Vgl. hierzu etwa R. A. Roth (o. Fußn. 1), S. 37 ff.<br />

24) Vgl. R. A. Roth (o. Fußn. 1), S. 139 ff.<br />

25) Vgl. R. A. Roth (o. Fußn. 1), S. 76 ff.<br />

26) Vgl. Th. Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern (Kommentar), 4. Aufl.<br />

(1992), Art. 188 Rz. 1 unter Bezugnahme auf die stenographischen Berichte über die Verhandlungen<br />

des Verfassungsausschusses der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung.<br />

27) G. M. Köhler, Art. 188 Rz. 1 ff., in: H. Nawiasky u.a., Die Verfassung des Freistaates<br />

Bayern (Kommentar), Loseblatt (Stand: Juli 2000).<br />

Assessor Klaus Friedrich Kempfler ist wissenschaftlicher Angestellter am Institut<br />

für Politik und öffentliches Recht der Universität München (Lehrstuhl Prof.<br />

Dr. Rupert Scholz).<br />

222


Bericht und Gespräch<br />

Lothar Roos<br />

Wahre und falsche „Laizität“<br />

Zur „politischen Note“ der päpstlichen Glaubenskongregation<br />

Verlautbarungen der päpstlichen „Kongregation für die Glaubenslehre“ werden in<br />

Deutschland heute in der Regel mit einem Vorschuß an Mißtrauen entgegengenommen.<br />

Zumal wenn das erste, von der römischen Tageszeitung „Il Tempo“ am<br />

2. Januar darüber veröffentlichte Gerücht unter der Schlagzeile „Vatikan plant<br />

offenbar Bioethik-Richtlinien für Parlamentarier“ (KNA – 261, 6/10. Januar 2003)<br />

verbreitet wurde. Wer solches liest, denkt sofort an politische Grenzüberschreitungen<br />

des kirchlichen Amtes und einen Angriff auf die Entscheidungsfreiheit demokratisch<br />

gewählter Mandatsträger, die nach Art. 38 unserer Verfassung „an Aufträge<br />

und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind.<br />

Was aber steht tatsächlich in der „Lehrmäßigen Note zu einigen Fragen über den<br />

Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“, die von der<br />

Glaubenskongregation „nach Anhören des Päpstlichen Rates für die Laien“ und<br />

nach ihrer Approbation durch Johannes Paul II. am 16. Januar veröffentlicht wurde?<br />

Und welche Motive bewegen die Verfasser?<br />

Wer den Text richtig verstehen will, der muß zunächst die Titulatur des in IV<br />

Hauptabschnitte und 9 durchlaufende Unterpunkte gegliederten Dokuments beachten:<br />

Es geht nicht um Handlungsanweisungen, um Aufträge oder Verbote, sondern<br />

um die „beständige Lehre“ der Kirche (I.) zum Verhältnis von Glaube und Politik.<br />

Diese Lehre soll im Kontext „der gegenwärtigen kulturellen und politischen Debatte“<br />

(II.) in Erinnerung gerufen werden. Dabei sollen insbesondere die „Prinzipien<br />

der katholischen Lehre über Laizität und Pluralismus“ (III.) beleuchtet werden.<br />

Das Dokument schließt mit einigen „Erwägungen über Teilaspekte“ (IV.) Die<br />

wichtigsten Aussagen der „Note“ lassen sich wie folgt skizzieren:<br />

1. Die aktive Teilnahme an der Politik gehört zum „Einsatz der Christen in der<br />

Welt“. Sie ist ein Dienst an den Menschen, bei dem „zahlreiche Männer und Frauen“<br />

in der 2000jährigen Geschichte der Kirche sogar zu „Heiligen“ geworden sind<br />

(1).<br />

2. Über die jeweils „richtige“ Politik zu entscheiden, ist nicht Sache des kirchlichen<br />

Lehr- oder Hirtenamtes, sondern der „gläubigen Laien“ gemäß ihrer „spezifischen<br />

Kompetenz“, „geführt vom christlichen Gewissen“ und „im Einklang mit<br />

den damit übereinstimmenden Werten“ (1).<br />

223


3. Der politische Pluralismus ist in der Demokratie eine Selbstverständlichkeit. Das<br />

bedeutet aber nicht, daß die jeweilige Mehrheit im Sinne eines ethischen Pluralismus<br />

beschließen kann, was sie will (2). Denn die Demokratie beruht auf ethischen<br />

Prinzipien, die „nicht verhandelbar“ sind (3). Andernfalls zerstört sie sich selbst.<br />

4. Grund und Mitte von Ethik und Ethos der Demokratie sind die Würde der Person<br />

und die damit verknüpften Rechte und Pflichten, wie sie die Soziallehre der<br />

Kirche in den Prinzipien des Gemeinwohls, der Solidarität und Subsidiarität entfaltet<br />

(3 und 7). Dabei handelt es sich nicht um „konfessionelle Werte“. Man muß<br />

sich nicht einmal „unbedingt zum christlichen Glauben bekennen“, um sie zu akzeptieren<br />

(5). Denn sie wurzeln „in der Natur des Menschseins selbst“ (2) und sind<br />

deshalb jedem Menschen über seine Vernunft zugänglich (6).<br />

5. Man muß deshalb zwischen wahrer und falscher „Laizität“ (ein Wort aus der<br />

französischen Geschichte der Trennung von Kirche und Staat) unterscheiden:<br />

„Laizität, verstanden als Autonomie der zivilen und politischen Sphäre gegenüber<br />

der religiösen und kirchlichen“ ist „ein von der Kirche akzeptierter und anerkannter<br />

Wert, der zu den Errungenschaften der Zivilisation gehört“. Wenn daher „eine<br />

spezifisch religiöse Norm Gesetz des Staates wird“ – hier spricht die Note offensichtlich<br />

in Richtung des aktuellen Islamismus –, dann kann dies die Religionsfreiheit<br />

und „andere unveräußerliche Menschenrechte einschränken oder beseitigen“<br />

(6). Falsch wäre „Laizität“ dann verstanden, wenn sie auf die „relativistische These“<br />

hinausliefe, daß es „keine moralische Norm gibt, die in der Natur des<br />

Menschseins selbst wurzelt“ und deshalb das Gemeinwohl jeden beliebigen Inhalt<br />

haben könne (2). Damit würde zugleich „jede politische und kulturelle Relevanz“<br />

des Religiösen geleugnet (6).<br />

6. Wie aber soll sich der katholische Politiker praktisch verhalten, wenn er mit<br />

seiner Auffassung etwa bei der Frage der „Unantastbarkeit des menschlichen Lebens“<br />

in eine Minderheitenposition gerät? Er muß jedem Gesetz widersprechen,<br />

„das ein Angriff auf das menschliche Leben“ wäre. Er darf jedoch, sofern sein<br />

„persönlicher absoluter Widerstand“ klar und eine Änderung der Rechtslage politisch<br />

nicht möglich ist, Gesetzesvorschläge unterstützen, welche „die Schadensbegrenzung<br />

eines solchen Gesetzes zum Ziel haben“. Das „gut gebildete christliche<br />

Gewissen“ gestattet es jedoch nicht, „mit der eigenen Stimme die Umsetzung eines<br />

politischen Programms zu unterstützen, in dem grundlegende Inhalte des Glaubens<br />

und der Moral ... umgestoßen werden“ (4).<br />

7. Das Dokument weist kritisch darauf hin, es sei „gelegentlich vorgekommen“,<br />

daß auch „innerhalb einiger Vereinigungen und Organisationen katholischer Prägung“<br />

politische Positionen vertreten worden seien, „die in grundlegenden ethischen<br />

Fragen von der Moral- und Soziallehre der Kirche abweichen“. Der Leser<br />

erfährt nicht, wer damit gemeint sein könnte. Wichtig ist jedoch, daß es nach Auffassung<br />

der Glaubenskongregation eine eindeutige „Soziallehre der Kirche“ gibt.<br />

Es sei angesichts der „Gefahr einer kulturellen Diaspora der Katholiken“ besonders<br />

wichtig, „den Reichtum der Werte und Inhalte der katholischen Tradition“ neu<br />

darzulegen. Der Glaube an Jesus Christus verlange einen „vermehrten Einsatz“ für<br />

den „Aufbau einer Kultur“, der sich nicht auf „bloße Strukturveränderungen“ beschränkt.<br />

Grundlage einer solchen Kultur sei „die onthologische Würde der<br />

224


menschlichen Person“, die „keineswegs auf eine Gleichheit der Religionen und<br />

kulturellen Systeme“ hinauslaufe, „die es nicht gibt“. Die Gewissens- und Religionsfreiheit<br />

bedeutet nicht, einen „Indifferentismus“ und „religiösen Relativismus“<br />

zu befürworten. Was könnte die Glaubenskongregation und ihren Präfekten Kardinal<br />

Ratzinger bewogen haben, gerade jetzt eine solche „Lehrmäßige Note“ zu<br />

veröffentlichen? Worauf sollten die „Bischöfe der katholischen Kirche und in<br />

besonderer Weise ... die katholischen Politiker sowie ... alle gläubigen Laien, die<br />

zur Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben in den demokratischen Gesellschaften<br />

berufen sind“ heute besonders achten?<br />

1. Zunächst möchte das Dokument auf die bleibende und von manchen vergessene<br />

Bedeutung der wohl wichtigsten sozialethischen Errungenschaft des Zweiten Vatikanischen<br />

Konzils, nämlich das Bekenntnis zur „rechten Autonomie“ der Kultur,<br />

hinweisen. 1 Für die politische Ethik bedeutet dies zweierlei: Zum einen gibt es<br />

keine „christliche Politik“. Damit verabschiedet sich die Kirche endgültig von der<br />

„integralistischen“ Vorstellung, religiöse Überzeugungen und ethische Prinzipien<br />

ließen sich „eins zu eins“ in politisches Handeln umsetzen. Solche Versuchungen<br />

gibt es als „rechter“ Integralismus, der für einen christlichen oder muslimischen<br />

„Gottesstaat“ kämpft. Oder als „linken“ Integralismus, der von einem irdischen<br />

„Sozialparadies“ träumt. Beide verkennen die Aufgabe und die Möglichkeiten der<br />

Politik. Der Glaube habe „nie beansprucht, die sozialpolitischen Inhalte in ein<br />

strenges Schema zu zwängen“. Aufgrund der Geschichtlichkeit und Unvollkommenheit<br />

des Menschen „müssen jene politischen Positionen und Verhaltensweisen<br />

zurückgewiesen werden, die einer utopischen Vision folgen, welche die Tradition<br />

des biblischen Glaubens in einer Art Prophetismus ohne Gott verdreht, die religiöse<br />

Botschaft instrumentalisiert und das Gewissen auf eine bloß irdische Hoffnung<br />

aufrichtet, welche die christliche Spannung auf das ewige Leben hin aufhebt und<br />

entstellt“.(7)<br />

2. Zugleich widerspricht die Note mit der Betonung der „richtigen Autonomie“ der<br />

Kultur einem falsch verstandenen „Laizismus“, wonach Politik von Moral und<br />

Religion vollständig zu trennen sei. Politik würde dann allein der „Moral“ des<br />

Machterhalts folgen, wie Machiavelli dies als erster formuliert hat. Daß dessen<br />

„Ragione di Stato“ nicht mit der Ethik des demokratischen Verfassungsstaates und<br />

dem von seinen Bürgern und Politikern zu fordernden Ethos vereinbar ist, kann<br />

man im Grundgesetz nachlesen. Der demokratische Verfassungsstaat ist zwar<br />

religiös-weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral. Die „unverletzlichen und<br />

unveräußerlichen Menschenrechte“, zu denen sich unsere Verfassung „bekennt“,<br />

müssen zugleich als universal gültig angesehen werden. Sie sind „Grundlage jeglicher<br />

Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (vgl. Art. 1<br />

GG). Die Note wendet sich also primär gegen den „gefährlichen Irrtum des ethischen<br />

Relativismus“, wie Robert Spaemann seinen Kommentar zu der Erklärung<br />

überschreibt. 2 Spaemann faßt diesen Irrtum in vier Thesen zusammen: „1. Die<br />

höchsten Werte einer freiheitlich demokratischen Ordnung sind Toleranz und<br />

Pluralismus. 2. Toleranz ist unvereinbar mit der Überzeugung, im Besitz einer<br />

absoluten und endgültigen Wahrheit zu sein. 3. Die Rechtsordnung eines freiheitlichen<br />

Staates gründet ausschließlich im Willen der Bürger. Sie darf deshalb keine<br />

225


ethischen Prinzipien voraussetzen, deren Universalität nur von einem Teil der<br />

Bürger anerkannt wird. 4. Es gibt nicht so etwas, wie das ‚von Natur Rechte‘. Das<br />

Recht darf nur Handlungen verbieten, die gegen den Willen derer verstoßen, die<br />

von den Folgen einer solchen Handlung betroffen sind.“<br />

3. Solche Einsichten waren in Deutschland nach den erschütternden Erfahrungen<br />

der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Folgen fast selbstverständlich.<br />

Das demokratische Mehrheitsprinizip läßt sich erst unter der Voraussetzung<br />

anwenden, daß man sich – so formulierte es der damalige „Kronjurist“ der SPD<br />

Adolf Arndt – vorher über das „Unabstimmbare“ geeinigt hat. Der freiheitliche<br />

demokratische Verfassungsstaat lebt demnach von Voraussetzungen, die er sich<br />

selbst nicht geben kann (Ernst Wolfgang Böckenförde). Was aber passiert, wenn<br />

diese Voraussetzungen in Vergessenheit geraten? Wenn das auf der Würde des<br />

Menschen oder den Rechten der Völker gegründete „Systeminteresse“ von einem<br />

heillosen Pluralismus ausgehöhlt wird, der nicht mehr weiß, was zur Menschenwürde<br />

gehört? Oder wenn man sogar den Menschen neu erschaffen will,<br />

wie dies bestimmte gentechnisch beflügelte Futuristen wie James Watson heute<br />

unverblümt fordern? 3 Bleibt da für den Bürger und Politiker, der sich dem chris tlichen<br />

Gewissen verpflichtet weiß, überhaupt noch politischer Handlungsspielraum?<br />

Soll er eine daraus folgende Politik „dem Teufel überlassen“? Oder läßt<br />

sich auch unter den Bedingungen eines solchen Pluralismus einerseits und einer<br />

fundamentalistischen Re-Ideologisierung andererseits politisches Handeln chris tlich<br />

verantworten und wie? – Das ist offensichtlich das Kernproblem, zu dessen<br />

Lösung die „Note“ Orientierung vermitteln möchte. Einige auffällige Akzentuierungen<br />

zeichnen die „Note“ aus:<br />

1. Zunächst fällt die Terminologie auf, mit der alle religiös motivierten „Übergriffe“<br />

in den Bereich des Politischen unter Hinweis auf die „richtige Autonomie“ der<br />

Kultur zurückgewiesen werden. Neu ist, daß diese von den Vätern des Zweiten<br />

Vatikanischen Konzils erarbeitete Grundaussage terminologisch mit dem (französischen)<br />

Begriff der „Laizität“ verbunden und dieser bisher von der Kirche nur<br />

negativ verwendete Begriff nun in kirchliches Sprechen zustimmend integriert<br />

wird. Offensichtlich will man damit französischen Animositäten begegnen, wie sie<br />

in jüngster Zeit anläßlich der Diskussion um eine mögliche „Invocatio-Dei-Formel“<br />

in der zukünftigen Europäischen Verfassung geäußert wurden. Bekanntlich<br />

hat Frankreich bei der Konferenz in Nizza zu verhindern versucht, daß darin irgendein<br />

religiöser Bezug erwähnt wird, der auf die christlichen Wurzeln des Ethos<br />

der Demokratie hinweist.<br />

2. Weiter sieht das Dokument die Gefahr, daß im heraufziehenden Zeitalter der<br />

Gentechnik die Würde des Menschen auf dem Altar der damit einhergehenden<br />

Heilungs- und Heilsvisionen geopfert werden könnte. Ohne das Festhalten an der<br />

„Wahrheit“ über den Menschen wird die Freiheit zum russischen Roulette. „Wahrheit<br />

und Freiheit verbinden sich entweder miteinander oder sie gehen gemeinsam<br />

elend zugrunde“ (Johannes Paul II., Fides et Ratio 90).<br />

3. Schließlich beschwört die Note mehrfach, daß es nicht ausreicht, die Würde und<br />

Rechte der Menschen lediglich auf – sicher unverzichtbare – vertragsrechtliche<br />

Vereinbarungen zu gründen. Denn ein lediglich diskursethisch legitimierter „Ge-<br />

226


sellschaftsvertrag“ bleibt vage, wenn hinter ihm nicht die Überzeugung steht, daß<br />

Würde und Rechte der Menschen „in der Natur des Menschseins selbst“ wurzeln<br />

(2). Es ist deshalb keinem Gläubigen gestattet, sich unter Berufung auf das Prinzip<br />

des Pluralismus und der Autonomie der Laien in der Politik für „Lösungen“ zu<br />

entscheiden, die dem „im menschlichen Wesen“ begründeten „natürlichen Sittengesetz“<br />

zuwiderlaufen (5). Das Dokument befaßt sich nur exemplarisch mit einzelnen<br />

Inhalten dieses Sittengesetzes. Es kommt ihm primär darauf an, das Bewußtsein<br />

von der Existenz einer jeder gesellschaftlichen Übereinkunft vorausliegenden<br />

„Natur des Menschseins“ zu schärfen. So sehr die entsprechenden sittlichen Konsequenzen<br />

zutiefst christlich begründet sind, können sie doch von allen Bürgern –<br />

„Christen wie Nichtchristen“ (1) – eingesehen werden.<br />

Die „Note“ ist ein Dokument für die Weltkirche. Sie setzt in ihrer Argumentation<br />

einen demokratischen Verfassungsstaat und die damit verbundene „Laizität“ ohne<br />

jede Einschränkung als „Errungenschaft der Zivilisation“ voraus und möchte auf<br />

dessen präpositive ethische Voraussetzungen und seine heutigen Gefährdungen<br />

aufmerksam machen. Diese gehen vor allem von einem technokratischlibertinistischen<br />

Verständnis menschlicher Kultur aus, wie es von einigen einflußreichen<br />

Vertretern heute insbesondere der „Lebenswissenschaften“ und ihrer biotechnischen<br />

Anwendung vertreten wird. Das Dokument appelliert „in besonderer<br />

Weise an die katholischen Politiker“, aber generell „an alle gläubigen Laien“, ihrer<br />

ethischen Verantwortung bei allen damit zusammenhängenden politischen Entscheidungen<br />

gerecht zu werden. Die Erklärung stützt sich auf die entsprechenden<br />

Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils, der kirchlichen Sozialenzykliken<br />

und einiger besonders wichtiger Verlautbarungen des gegenwärtigen Papstes. Sie<br />

ist motiviert von der Sorge, daß Wichtiges davon in Vergessenheit geraten könnte.<br />

Sie möchte zur Übernahme politischer Verantwortung motivieren und sowohl<br />

einer religiösen Re-Ideologisierung des Politischen wie einem absoluten Wert-<br />

Relativismus (falsche „Laizität“) vorbeugen. Sie befindet sich im Blick auf die<br />

anthropologischen und sozialethischen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates<br />

in Übereinstimmung mit der maßgeblichen Tradition der deutschen<br />

Verfassungsrechtslehre. Diese betont in gleicher Weise wie das römische Dokument<br />

jenes Verständnis des demokratischen Verfassungsstaates, das im unveräußerlichen,<br />

vorstaatlichen, also naturrechtlich gegebenen Menschenrechten die<br />

ethische Begründung, aber zugleich auch Begrenzung der politischen Willensbildung<br />

in der Demokratie sieht.<br />

Anmerkungen<br />

1) vgl. Anton Losinger, „Iusta autonomia“. Studien zu einem Schlüsselbegriff des II. Vatikanischen<br />

Konzils, Paderborn u.a. 1989.<br />

2) Robert Spaemann, Der gefährliche Irrtum des ethischen Relativismus, in: L´Osservatore<br />

Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 7. Februar 2003, Nr. 6, Seite 12.<br />

3) vgl. Franz Kamphaus, Der neue Mensch, in: FAZ vom 27. November 2002.<br />

Prof. Dr. Lothar Roos lehrt Christliche Gesellschaftslehre und Pastoralsoziologie<br />

an der Universität Bonn und an der Schlesischen Universität Kattowitz.<br />

227


228<br />

Hubert Hüppe<br />

„C“-Positionen in der CDU<br />

Nach der Bundestagswahl wurde darüber spekuliert, warum Stoiber nicht gewonnen<br />

hat. Die Union, so die Analysen, habe in den Großstädten, bei den Älteren und vor<br />

allem bei den Frauen verloren. Schon wird davon gesprochen, unser Familienbild sei<br />

nicht richtig gewesen, oder zumindest habe die Union es den Menschen nicht richtig<br />

vermittelt. Ich glaube, ein entscheidender Punkt war, daß die CDU – übrigens anders<br />

als die CSU – nicht als überzeugende Alternative zu Rot-Grün angesehen wurde und<br />

nicht erkennbar war, was wir denn tatsächlich anders machen würden. Und es ist nun<br />

mal so, daß eine Partei, deren Konturen nicht stark genug erkennbar sind, Gefahr läuft,<br />

ihre Wähler durch aktuelle Stimmungen zu verlieren.<br />

Der Irak-Konflikt und die Flutkatastrophe haben dann in den letzten vierzehn Tagen<br />

vor der Wahl die nötigen Stimmen für Rot-Grün gebracht. Gerade die Angst vor einem<br />

Krieg war bei Frauen ein entscheidender Faktor. Die Konsequenz aus der Niederlage<br />

für die Union muß daher sein, die Chancen in der Opposition zu nutzen, ihre Positionen<br />

zu schärfen und sich zu regenerieren. Das gilt nicht nur für das „C“, aber an erster<br />

Stelle. Wenn heute über das „C“ im Parteinamen gesprochen wird, darf ich nebenbei<br />

darauf hinweisen, daß die Partei Bibeltreuer Christen bei dieser Wahl gegenüber der<br />

von 1998 50.000 Stimmen hinzugewinnen konnte. Hätten wir diese Stimmen erhalten,<br />

wäre die CDU/CSU zumindest die stärkste Fraktion geworden, und wir würden den<br />

Bundestagspräsidenten stellen.<br />

Nun, wie sehen die Perspektiven für die Union aus? Ich werde mich dabei hauptsächlich<br />

auf die Fragen Lebensrecht und Bioethik konzentrieren. Beim Parteitag nach der<br />

Wahl ging die CDU-Vorsitzende und Fraktionsvorsitzende Dr. Angela Merkel besonders<br />

auf das „C“ im Parteinamen ein. Sie sprach von einem „christdemokratischen<br />

Zeitalter“, in dem wir lebten, und davon, daß die CDU entsprechend ein christdemokratisches<br />

Angebot machen würde. „Das C“, so Dr. Angela Merkel wörtlich, „macht uns<br />

zukunftsfähig“. Kurz vorher sagte sie: „Wie werden Bio- und Gentechnik das Verhältnis<br />

zu den Begriffen Schönheit, Natürlichkeit, Gesundheit und Schicksal verändern?<br />

Hier geht es um den Schutz der Menschenwürde. Hier geht es um die Vergewisserung<br />

des menschlichen Lebens. Das ist Christdemokratie pur.“<br />

Was allerdings dies konkret für die zukünftige Biopolitik der CDU heißt, bleibt im<br />

Dunkeln. Sieht man sich die in der Fraktion bisher getroffenen personellen Entscheidungen<br />

für die Schlüsselpositionen in diesem Bereich an, so muß man feststellen, daß,<br />

obwohl fast zwei Drittel der Fraktion gegen den Import embryonaler Stammzellen<br />

gestimmt haben, diese Positionen ausschließlich mit Importbefürwortern besetzt wurden.<br />

Dies gilt insbesondere für die forschungspolitische Sprecherin Katherina Reiche.<br />

Dies ist wohl die wichtigste Position. Frau Reiche ist bekanntlich eine der extremsten<br />

Befürworterinnen der tötenden Embryonenforschung. Der Antrag, den sie federführend<br />

mit vertreten hatte, sah nicht nur den Import von bestehenden Stammzell-Linien aus


ereits getöteten Embryonen vor, sondern behielt sich sogar vor, Embryonen in<br />

Deutschland für Forschungszwecke zu töten. Gleiches gilt für Peter Hintze, der zum<br />

europapolitischen Sprecher gewählt wurde. Diese Position ist deswegen so wichtig,<br />

weil in der EU milliardenschwere Forschungsprogramme laufen, die sich auch auf die<br />

Embryonenforschung beziehen. Schließlich ist auch der von Frau Dr. Merkel ernannte<br />

Beauftragte für Gentechnik und Biopolitik ein Befürworter des Stammzellimports.<br />

Die Enquete-Kommision des Deutschen Bundestags „Recht und Ethik der modernen<br />

Medizin“ ist schon allein deswegen notwendig, um dem sogenannten „Nationalen<br />

Ethikrat“ des Kanzlers, dessen Mitglieder er handverlesen ausgesucht hat, nicht das<br />

Feld zu überlassen. Ich sage deswegen „sogenannter“ Nationaler Ethikrat, weil ich den<br />

Namen schon als Unverschämtheit ansehe. Es kann nicht sein, daß ein nicht demokratisch<br />

legitimiertes Gremium, das von einer Person geschaffen wurde, von der Bezeichnung<br />

her selbst den Eindruck erwecken will, es könne die Ethik für die gesamte Nation<br />

formulieren. Man muß wissen, daß dieser Rat als Reaktion auf die erste Stellungnahme<br />

der Enquete ins Leben gerufen wurde. Diese Stellungnahme paßte dem Kanzler nicht,<br />

weil sie sehr kritisch gegenüber einem Regierungsentwurf zur Umsetzung der europäischen<br />

Patentierungsrichtlinie war. Vor der Gründung des „Nationalen Ethikrates“ hatte<br />

Gerhard Schröder wörtlich gesagt: „Ich bin dagegen, ethische Themen, die uns alle<br />

angehen, an ein Gremium von besonders klugen und moralischen Menschen zu delegieren.“<br />

Ich könnte jetzt zynisch fragen, welche Auswahlkriterien er anschließend für<br />

die Zusammenstellung des Rates zugrunde gelegt hat. Auf jeden Fall bleibt festzuhalten,<br />

daß Schröder bei seiner Auswahl sichergestellt hat, daß die Mehrheit seinen Kurs<br />

abnickt. Dies hat der „Nationale Ethikrat“ dann auch in seiner ersten Stellungnahme<br />

zum Import embryonaler Stammzellen gehorsam getan, und ich bin sicher, daß er sich<br />

mehrheitlich für die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID), also der genetischen<br />

Selektion von Embryonen im Reagenzglas, aussprechen wird.<br />

Ich frage mich, ob es von Seiten der beiden großen Kirchen eine richtige Entscheidung<br />

war, jeweils einen Bischof in den „Nationale Ethikrat“ zu entsenden, und so diesem Rat<br />

den Anschein zu geben, er würde ja auch Kritiker zu Wort kommen lassen. Zumindest<br />

hätte ich erwartet, daß die Kirchen darauf bestehen, daß wenigstens auch die Behindertenverbände<br />

vertreten sein müßten, wenn auf der anderen Seite jede Menge Forscher<br />

Mitglied sind und auch mehrere Vertreter – mal mehr mal weniger – mit Unternehmen<br />

verbunden sind, die mit der Biotechnologie Geschäfte machen wollen. Die CDU/CSU<br />

hat jetzt die große Chance, sich gegenüber der Regierung zu profilieren. Sie hätte dabei<br />

nicht nur die Kirchen, sondern zum Beispiel auch fast alle Behindertenverbände auf<br />

ihrer Seite. Dabei muß sich die Union bewußt sein, daß die Regierung – und dort vor<br />

allem die SPD – offensichtlich diese Legislaturperiode nutzen will, um den biopolitischen<br />

Durchmarsch zu starten. Ich weise darauf hin, daß mit Hertha Däubler-Gmelin<br />

die letzte sozialdemokratische Ministerin gegangen worden ist, die diesem Kurs innerhalb<br />

des Kabinetts Widerstand geleistet hat. An ihrer Stelle ist mit Wolfgang Clement<br />

ein vehementer Befürworter der Embryonenforschung in die Regierung gelangt, der es<br />

ja schon als Ministerpräsident nicht abwarten konnte, endlich Embryonenmaterial nach<br />

NRW zu importieren und deswegen extra – ausgerechnet – nach Israel geflogen ist, um<br />

dort einen Deal vorzubereiten.<br />

229


Die Grünen scheinen bei diesem Kurs kaum noch Widerstand zu leisten, zumindest<br />

läßt der Koalitionsvertrag dieses Thema fast völlig aus. Die Bundesregierung will eben<br />

nicht nur die Forschung mit embryonalen Stammzellen. Sie will offensichtlich die<br />

Qualitätskontrolle des Menschen, die damit verbundene Selektion, die Tötung und<br />

Vernutzung von Embryonen und schließlich auch das Klonen menschlicher Embryos,<br />

ohne dem die Stammzellforschung keinen Sinn macht. Propagandistisch wird sie dabei<br />

von Teilen der Pharmaindustrie und der Forschungslobby unterstützt. So erhielt im<br />

Oktober 2002 der Klonforscher Robert Jaenisch den Robert-Koch-Preis aus den Händen<br />

eines Mitgliedes der Bundesregierung. Anläßlich der Preisverleihung sprach Jaenisch<br />

sich für die Produktion geklonter Embryonen aus, um sie hinterher für Forschungszwecke<br />

zu verwenden. Im Kuratorium der Robert-Koch-Stiftung, die diesen<br />

Preis verleiht, sitzen Vertreter fast aller wichtigen Pharmaunternehmen. Die Laudatio<br />

auf Jaenisch hielt übrigens der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Professor Reinhard<br />

Kurth, der nicht vergaß, Jaenisch ausdrücklich für seine Position beim Klonen zu rühmen.<br />

Pikanterweise ist Professor Kurth der Präsident desjenigen Bundesinstituts, das<br />

für die Genehmigung von Stammzellimporten zuständig ist.<br />

Zufall ist es bestimmt auch nicht, daß im September 2002 der Vater des Klonschafes<br />

Dolly, Ian Wilmut, mit dem Ernst-Schering-Preis ausgezeichnet wurde. In ihrer Pressemitteilung<br />

zur Preisverleihung weist die Schering AG ausdrücklich auf die angeblich<br />

großen Möglichkeiten des Klonens menschlicher Embryonen für therapeutische Zwecke<br />

hin. Die Pressemitteilung trägt die Überschrift: „Organe aus erster Hand. Ernst-<br />

Schering-Preisträger Ian Wilmut setzt auf therapeutisches Klonen“. Hier macht sich die<br />

Regierung zum Erfüllungsgehilfen. Hauptindiz dafür ist das Verhalten der deutschen<br />

Delegation bei der UN, die den Antrag Spaniens, der USA und vieler anderer Länder<br />

auf ein Verbot jeglichen Klonens menschlicher Embryonen ablehnte, obwohl dieser<br />

Antrag dem geltenden deutschen Recht entsprechen würde. Statt dessen setzte sich die<br />

deutsche Delegation lediglich für ein Verbot des sogenannten reproduktiven Klonens<br />

ein. Mit anderen Worten, das Klonen eines Menschen ist erlaubt – oder zumindest nicht<br />

verboten – aber nur dann, wenn sichergestellt ist, daß dieser Mensch vor der Geburt<br />

getötet wird.<br />

Die CDU muß jetzt beweisen, daß sie bereit ist, hiergegen Widerstand zu leisten. An<br />

dem Verhalten meiner Partei in diesen Fragen wird sich zeigen, was das Grundsatzpapier,<br />

das unter Leitung von Christoph Böhr im Bundesvorstand erarbeitet wurde, wirklich<br />

wert ist. Darin steht, daß Nützlichkeitserwägungen nicht über den grundsätzlichen<br />

Schutz allen menschlichen Lebens gestellt werden dürfe. Der Beginn menschlichen<br />

Lebens wird mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle definiert. Diese Auffassung<br />

wird allerdings nicht mehr von allen CDU-Bundesvorstandsmitgliedern geteilt.<br />

Professor Dagmar Schipanski zum Beispiel spricht sich für das sogenannte therapeutische<br />

Klonen aus. Und Dr. Wolfgang Schäuble sagt, nur mit der Mutter sei der Embryo<br />

ein Mensch.<br />

Immer neue abstruse Definitionen sollen dazu dienen, bestimmten Gruppen Menschenwürde<br />

und Lebensrecht abzusprechen. Wer Embryonen Menschenwürde zuspricht,<br />

muß sich dann sogar von einem prominenten Mitglied der Union, dem ehemaligen<br />

Bundespräsidenten Roman Herzog, den Vorwurf gefallen lassen, man verweigere<br />

Kranken die gebotene Hilfe und lasse sie sogar sterben. Perfider geht es wohl nicht.<br />

230


Roman Herzog, der diesen Vorwurf mit dem Beispiel eines an Mukoviszidose erkrankten<br />

Jugendlichen untermauert hat, müßte eigentlich wissen, daß solchen Menschen mit<br />

Embryonenforschung nicht geholfen werden kann. Das einzig mögliche ist, daß solche<br />

Menschen über die PID selektiert und im Reagenzglas getötet werden könnten. Wer<br />

will das eigentlich den Betroffenen ins Gesicht sagen?<br />

Natürlich war es der Sündenfall der Union, daß sie 1995 in großen Teilen die Reform<br />

der §§ 218 ff StGB mitgetragen hat und jetzt mitverantworten muß, daß Abtreibungen<br />

nach Pränataldiagnostik de facto bis zur Geburt durchgeführt werden. Damals haben<br />

noch viele Abgeordnete der Union ihr Abstimmungsverhalten damit erklärt, man hätte<br />

alleine ja keine Mehrheit, und man wolle Schlimmeres verhindern. Andere argumentierten,<br />

es würde ja sowieso abgetrieben, man wolle dies nur aus der Illegalität heraushalten,<br />

um Beratung zu ermöglichen. Beide Argumente, die aus meiner Sicht von einigen<br />

auch nur zur Beruhigung des eigenen Gewissens, von anderen aber auch aus Überzeugung<br />

vorgetragen wurden, treffen beim Thema Embryonenschutz nicht zu. Hätte<br />

die Union geschlossen gegen den Import embryonaler Stammzellen gestimmt, wäre er<br />

nicht zugelassen worden. Denn es gab auch in anderen Parteien mit Ausnahme der<br />

FDP große Vorbehalte; und vor allem bei den Grünen, aber auch bei der SPD und der<br />

PDS stimmten viele gegen den Import. Gleiches wird gelten, wenn im Bundestag über<br />

die PID, das Klonen und ein neues Fortpflanzungsmedizingesetz abgestimmt wird. Es<br />

liegt in der Hand der Union, wie in diesen Fragen entschieden wird. Und es ist damit<br />

entscheidend, ob die CDU in diesem fundamentalen Bereich zur Partei der Beliebigkeit<br />

wird.<br />

Auch das zweite Argument – die Vermeidung der Illegalität – kann nicht zur Rechtfertigung<br />

der Embryonenforschung herangezogen werden. Anders als beim § 218 StGB<br />

gibt es in Deutschland keine illegale Embryonenforschung, zumindest ist bisher nichts<br />

darüber bekannt geworden. Es gibt so gut wie keine „überzähligen“ Embryonen, kein<br />

Klonen und keine PID. Wenn die CDU auch hier einknickt, legitimiert sie im Nachhinein<br />

die Aussage des Kölner Erzbischofs, Kardinal Meisner, nach dessen Auffassung<br />

die Union das „C“ zu Unrecht trägt. Die CDU beabsichtigt, den nächsten Bundesparteitag<br />

zum Programmparteitag zu machen. Dort wird sich zeigen, ob das Wertekommissionspapier<br />

von Christoph Böhr und anderen in der Partei mehrheitsfähig ist. Es wird<br />

sich zeigen, ob der dort enthaltene Satz „Für die CDU ist das chris tliche Menschenbild<br />

Grundlage ihrer Politik“ wirklich auch in konkreten politis chen Entscheidungen –<br />

sowohl in der Bio- als auch in der Familienpolitik – münden wird, oder ob er nur noch<br />

als Marketing-Gag herhalten muß.<br />

Anmerkung<br />

Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser beim Buß- und Bettagsgespräch des<br />

„Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“ am 20. November 2002 im Maternushaus<br />

in Köln gehalten hat.<br />

Hubert Hüppe ist Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und stellvertretender<br />

Vorsitzender der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“.<br />

231


232<br />

Paul Johannes Fietz<br />

Säkularisation und Säkularisierung<br />

Zum 38. Essener Gespräch zum Thema Staat und Kirche<br />

„Säkularisation und Säkularisierung“ – im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft<br />

werden beide Begriffe zu Recht getrennt behandelt und von verschiedenen Bearbeitern<br />

kommentiert. Dennoch gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen<br />

der Einziehung kirchlichen Besitzes durch den Staat und dem noch immer nicht<br />

abgeschlossenen Prozeß der „Verweltlichung“. Diesen Zusammenhang auszuloten<br />

hatte sich das 38. Essener Gespräch in der „Wolfsburg“ – die „Frühjahrsbörse<br />

des deutschen Staatskirchenrechts“ (Alexander Hollerbach) in der Akademie<br />

des Bistums Essen – zum Ziel gesetzt. Es traf sich, daß sich am 25. Februar 2003<br />

mit dem Reichsdeputationshauptschluß zum 200. Mal die Säkularisation des<br />

Kirchenguts jährte – Anlaß zum Innehalten und Nachdenken, auch über die Herausforderungen<br />

der Kirchen durch die Säkularisierung der heutigen Gesellschaft<br />

und, auch dies war zu hören, durch „Selbstsäkularisierung“.<br />

Der Reichsdeputationshauptschluß veränderte innerhalb weniger Jahre die seit<br />

dem Mittelalter gewachsenen territorialen Verhältnisse und leitete die Auflösung<br />

des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ein. 3,2 Millionen Einwohner,<br />

fast ein Siebtel der reichsdeutschen Bevölkerung, mußten den Landesherrn<br />

wechseln, zehntausend Quadratkilometer rechtsrheinischen Gebietes wurden<br />

umverteilt. Die Länderkarte Deutschlands veränderte sich. An die Stelle vieler<br />

Klein- und Kleinststaaten traten Mittelstaaten. Eine riesige Flurbereinigung setzte<br />

ein. Hauptopfer waren die geistlichen Länder im Alten Reich. Vor allem aus<br />

ihnen sollten die weltlichen Herren für ihre linksrheinischen Gebietsverluste<br />

nach der Eroberung durch die Armee der Französischen Revolution entschädigt<br />

werden. Heinrich de Wall, Staats- und Kirchenrechtler aus Erlangen-Nürnberg,<br />

fand in diesem Zusammenhang einen treffenden Bezugspunkt: „Daß für die<br />

Verluste mächtiger Akteure auf der politischen Bühne unbeteiligte Dritte aufkommen<br />

müssen, daß die Verhandlung von grundlegenden Verfassungsfragen in<br />

Kommissionen verlegt wird, daß die dabei in erster Linie Betroffenen soweit nur<br />

irgend möglich übergangen werden – all dies sind Unarten des politischen Geschäfts,<br />

die eine lange Tradition haben.“<br />

Dabei ging die Kompensation in den meisten Fällen über den territorialen Ersatz<br />

für das Verlorene weit hinaus. Aber, darauf wies in Mülheim der langjährige<br />

bayerische Kultusminister Hans Maier hin, es ging um mehr als um territoriale<br />

Entschädigungen. „Es ging um die Umgestaltung der politischen Strukturen im<br />

Geist einer revolutionären ‚neuen Zeit’. Weder der Staat noch die Kirche sollten<br />

so bleiben, wie sie waren.“ Und Maier, der bereits beim ersten Essener Gespräch<br />

1966 referiert hatte, differenzierte: Von der Säkularisation gelte, was man schon<br />

von der Aufklärung habe sagen müssen – „sie hat viel Gutes bewirkt, vor allem


im Rechtswesen, aber indem sie rücksichtslos Altes, Gewachsenes beseitigte,<br />

entfaltete sie nicht selten destruktive Wirkungen“. Wer die Segnungen der Säkularisation<br />

preise, der dürfe von ihren Vandalismen nicht schweigen. Immerhin<br />

wurde in Deutschland ein rundes Fünftel der Kirchen und Klostergebäude total<br />

und ein knappes weiteres Fünftel teilweise abgerissen. Die Orden wurden aufgelöst,<br />

die erhaltenen Bauten entweder an Privatleute verkauft oder in Fabriken,<br />

Kasernen, Lazarette, Irren- und Zuchthäuser, da und dort auch in Schulen umg ewandelt.<br />

Das katholische Bildungswesen jedenfalls gehörte zu den Hauptleidtragenden<br />

der Säkularisation und ihrer Nachwirkungen. So wurden in der Folge 18 katholische<br />

Universitäten aufgehoben, verlegt, umgewandelt, oder verloren ihren Charakter<br />

als katholische Universität. Der Begriff der „Nordlichter“ – auch damals<br />

durchaus nicht freundlich gemeint – hat hier, darauf wies Heinrich de Wall hin,<br />

seinen Ursprung: Im Verlauf der mit der Säkularisation zusammenhängenden<br />

Umgestaltung des Universitätswesens wurde etwa in Bayern eine Berufungspolitik<br />

betrieben, die auf Gelehrte aus den norddeutschen protestantischen Universitäten<br />

setzte.<br />

Die Klöster auf dem Lande fielen als Bildungseinrichtungen aus, was zu einer<br />

Konzentration der Schulen auf die Städte führte. Insofern waren, so Hans Maier,<br />

die Bildungschancen der Kinder im 18. Jahrhundert größer als ein Jahrhundert<br />

später.<br />

Auch die Wohlfahrtspflege mußte neu geregelt werden und ging zum Teil in die<br />

Sorge des Staates über. Der letzte Abt von St. Peter im Schwarzwald schrieb im<br />

April 1817: „Was unseren Zeitgeist besonders zeichnet, sind die sogenannten<br />

Wohltätigkeitsvereine. Von den großen Fürsten, besonders Fürstinnen angefangen<br />

und regiert, welche sammeln zum Besten der Armen. Eigentlich ists eine<br />

neue Besteuerung … Man hat die natürlichen, von unseren weisen Vorfahren<br />

gestifteten, Jahrhunderte hindurch gebrauchten Wohltätigkeitsvereine vertilgt,<br />

nämlich Stifte und Klöster, und jetzt weiß man sich nicht mehr zu helfen.“<br />

Die konkretesten Fortwirkungen der Säkularisation sind freilich vermögensrechtlicher<br />

Art. Unter diesen wiederum sind am bekanntesten die Staatsleistungen, die<br />

eine Entschädigung für den durch die Säkularisationen verursachten Vermögensverlust<br />

darstellen oder mit dem enteigneten Kirchengut auf den Staat übergegangene<br />

Lasten sind. Heinrich de Wall legte allerdings großen Wert auf die<br />

Feststellung, daß die Staatsleistungen keinesfalls ausschließlich auf Säkularisationen<br />

beruhten und der sie – in Verbindung mit Artikel 140 des Grundgesetzes –<br />

schützende Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung mitnichten<br />

allein als Säkularisationsentschädigungsnorm zu verstehen sei. Auch ein unmittelbarer<br />

Zusammenhang zwischen den Säkularisationen und der Kirchensteuer<br />

bestehe nicht. Diese sei kein Ersatz für säkularisiertes Kirchenvermögen und ihre<br />

Einführung keine Quasi-Ablösung von Staatsleistungen. Es wäre, so de Wall,<br />

„auch sachlich schlechthin nicht nachzuvollziehen, wenn der Staat auf der einen<br />

Seite Güter enteignen und auf der anderen Seite den Enteigneten statt einer Entschädigung<br />

darauf verweisen dürfte, daß er selbst die Lasten tragen könne. Man<br />

stelle sich nur vor, der Staat würde das Vermögen der Gewerkschaften einziehen<br />

233


und diese darauf hinweisen, sie dürften sich bei ihren Mitgliedern schadlos halten.“<br />

Mit den „gegenwärtigen Herausforderungen der Kirchen durch die Säkularisierung“<br />

befaßte sich der Bielefelder Religionssoziologe Franz-Xaver Kaufmann.<br />

Er betonte, daß sich das Christentum im Zuge des Säkularisierungsprozesses<br />

„sozusagen in den Kirchen konzentriert und gleichzeitig die übrigen gesellschaftlichen<br />

Bereiche kulturell freigegeben“ habe. Man könne dies als Verlust- wie<br />

auch als Erfolgsgeschichte lesen. Religiosität korreliere weiterhin stark mit Kirchenbindung.<br />

Die „Unkirchlichen“ wendeten sich also kaum alternativen religiösen<br />

Angeboten zu, lebten vielmehr „religionsabstinent“. Das Interesse für alternative<br />

Religiositätsmuster – von Esoterik bis zu anderen Weltreligionen – finde<br />

sich nicht so sehr bei den völlig Kirchenfernen oder Konfessionslosen, sondern<br />

vielmehr bei den Angehörigen der ehemaligen Volkskirchen, welche traditionelle<br />

und alternative Auffassungen kombinierten: „Das Phänomen der ‚Patchwork-<br />

Religiosität’ ist weitgehend auf Kirchenmitglieder beschränkt.“ In diesen Befund<br />

paßt, daß sich heute das, was an Religion relevant wird, nach persönlichen und<br />

kaum mehr nach kirchlichen Gesichtspunkten bestimmt. Kaufmann beschrieb<br />

diesen Sachverhalt als „Biografisierung von Religion“. Verstehe man unter Religion<br />

das, was den Menschen am wichtigsten sei, so verschiebe sich das Zentrum<br />

des religiösen Interesses in den Bereich der Selbstfindung; Religion werde damit<br />

zum Ort des Selbstverstehens und der Selbstdeutung. „Ich wünschte, ich wäre<br />

gläubig, glaub´ ich“, so heißt ein im vergangenen Jahr erschienenes Buch über<br />

„Zugänge zu Religion und Religiosität in der Lebensführung der späten Moderne“.<br />

Die Kirchen als organisierte Repräsentanten der christlichen Tradition können<br />

danach in Zukunft nur noch glaubensmäßige Unterstützung seitens einer Minderheit<br />

ihrer Mitglieder erwarten. Alle sozialwissenschaftlichen Untersuchungen<br />

zeigen für das 20. Jahrhundert – und insbesondere für die Zeit seit 1970 – einen<br />

langfristigen Rückgang nicht nur der kirchlichen Teilnahmepraxis, sondern auch<br />

der Kirchenbindung, des Glaubenswissens und der Frömmigkeit. Kaufmann<br />

nannte Entwicklungen, die gerade den Lesern dieser Zeitschrift bedrückend<br />

bekannt sein dürften: das offenkundige Schrumpfen traditionsbestimmter Volkskirchlichkeit<br />

in beiden Konfessionen sowie die deutliche Zunahme der Konfessionslosigkeit,<br />

vor allem in den Großstädten. Rekrutierten sich die Konfessionslosen<br />

in der Bundesrepublik zunächst im wesentlich aus ausgetretenen Kirchenmitgliedern,<br />

vor allem der evangelischen Konfession, so nimmt nun auch der<br />

Anteil der ungetauften Kinder zu. Durch die Wiedervereinigung hat sich der<br />

Anteil derjenigen Deutschen, denen jeglicher christlicher Sozialisationshintergrund<br />

fehlt, sprunghaft vergrößert. Aber auch unter den Kirchenmitgliedern<br />

mehren sich die Anzeichen einer Erosion kirchlich definierter religiöser Vorstellungen<br />

und fehlender Motive und Fähigkeiten, den ererbten Glauben an die<br />

nächste Generation weiterzugeben. Die Kirchenbindung nimmt bei den nachwachsenden<br />

Generationen rasant ab. Konnten die Katholiken zunächst noch<br />

glauben, ihre Konfession sei von diesen Entwicklungen weniger betroffen als die<br />

reformatorischen Kirchen, so zeigen die Befunde für die 80er und 90er Jahre hier<br />

234


im Unterschied zu den Evangelischen in Deutschland eine beschleunigte Erosion.<br />

Dies haben zuletzt die Ergebnisse der Allensbach-Umfrage im Auftrag der<br />

katholischen „Medien-Dienstleistung GmbH“ verdeutlicht: Nur 19% der 2728<br />

befragten Katholiken bezeichneten sich als gläubig und ihrer Kirche eng verbunden;<br />

weitere 35% sehen sich ihrer Kirche kritisch verbunden, den übrigen bedeutet<br />

ihre Kirche wenig oder gar nichts. Bei den unter Dreißigjährigen bezeichnen<br />

sich nur noch 7% als ihrer Kirche eng verbunden und 11% als kritisch verbunden,<br />

vier Fünftel der jungen Katholiken erscheinen somit als kirchenfern (vgl.<br />

Forschungsbericht „Religiöse Kommunikation 2003“, Medien-Dienstleistung<br />

GmbH, München 2003). Ein düsteres Bild, das zudem der Realität entspricht.<br />

Immerhin: Kleine Minderheiten religiös aktiver Laien treten auch nach Meinung<br />

des Soziologen deutlicher als früher hervor. Auch von der „dynamisierenden<br />

Kraft des biblischen Gottesglaubens“ war die Rede.<br />

Aber paßt es in diesen Kontext, wenn Kaufmann der Kirche ein „neues gesellschaftliches<br />

Selbstverständnis“ attestiert, „nämlich dasjenige von Akteuren der<br />

Zivilgesellschaft, welche für sich keine andere Autorität als den mobilisierten<br />

Sachverstand und die politische Unabhängigkeit in Anspruch nehmen“? Spricht<br />

in der Tat „vieles dafür, daß ein solches Selbstverständnis, das auch öffentliche<br />

Kritik von Politik und Wirtschaft nicht scheut, der Akzeptanz und Vertrauenswürdigkeit<br />

der Kirchen in Deutschland förderlich werden“ könnte? Hat sich die<br />

Kirche in Deutschland nicht schon zu sehr in Kommissionen und politischen<br />

Papieren verfangen, so daß zu wenig Raum bleibt für ihre genuin religiöse Sendung,<br />

die Evangelisierung? Liegt nicht hier ein wesentlicher Grund für das ohne<br />

Zweifel vorhandene Glaubwürdigkeitsdefizit der Kirche?<br />

Wie immer man die soziologischen Befunde werten und welche Folgerungen<br />

man aus ihnen ziehen mag: Die große Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />

hat die Kirche in Deutschland nicht zerstört. Sie hat die Christen – oft mit<br />

drastischen Mitteln – aus dem Schlaf der Sicherheit geweckt, hat sie daran erinnert,<br />

daß in den Klöstern, die man nun aufzuheben, umzuwidmen, zu verkaufen,<br />

teilweise zu zerstören begann, auch ein unentbehrlicher Teil ihrer ursprünglichen<br />

Sendung verwahrt lag. Heute ist die Kirche ohne Orden und geistliche Gemeinschaften,<br />

„ohne die sichtbare Präsenz des Lebens nach den ‚evangelischen Räten’“<br />

(Hans Maier) längst nicht mehr vorstellbar. Die Kirche hat in der Säkularisation<br />

viele Reichtümer, viele Machtpositionen, viel politischen und kulturellen<br />

Einfluß verloren. Was sie nicht verlor, war die Kraft zur Erneuerung. Diese Kraft<br />

hat der Reichsdeputationshauptschluß sogar unwillentlich gestärkt und gefestigt.<br />

Die Kirche konnte den Ballast der weltlich-staatlichen Herrschaft abwerfen und<br />

sich ihren geistlichen Aufgaben zuwenden. Vielleicht hilft ihr ja auch heute die<br />

Konzentration auf das Eigentliche, das Wesentliche ihres Auftrags – die Verkündigung.<br />

Paul Johannes Fietz ist Ministerialrat im Bundesministerium des Innern.<br />

235


Besprechungen<br />

Menschenrechte<br />

Die Universalität der Menschenrechte,<br />

die unabdingbar zu ihrer Daseinsberechtigung<br />

dazugehört, wird weltweit von<br />

nicht wenigen Staaten nicht akzeptiert.<br />

Der Vorwurf, hier werden Wertvorstellungen<br />

aus dem westlichen Kulturkreis<br />

in den Rang einer „Weltmoral“ erhoben,<br />

steht im Raum. Dieser Vorwurf erscheint<br />

zunächst insofern plausibel zu<br />

sein, da der Ruf nach menschenrechtlichen<br />

Forderungen immer dann besonders<br />

stark gewesen ist, wenn in eklatanter<br />

Weise gegen die Würde des Menschen<br />

verstoßen wird. Menschenrechte<br />

sind häufig als konkrete politische Forderungen<br />

im Kontext der Profangeschichte<br />

erwachsen.<br />

Da sich die Katholische Soziallehre<br />

gleichsam als theologisches Bindeglied<br />

zwischen der Kirche und der Welt versteht,<br />

ist es naheliegend, im Allgemeinen<br />

nicht nur ihre Auffassung zu den<br />

Menschenrechten vorzustellen und zu<br />

beurteilen, sondern im besonderen nach<br />

deren Begründung zu fragen. A. Saberschinsky<br />

geht es nicht um die Menschenrechte<br />

im umfassenden Sinne, sondern<br />

speziell um die Menschenrechte als Thema<br />

der Katholischen Soziallehre. Hierbei<br />

steht nicht eine Abschätzung des<br />

Verdienstes der katholischen Kirche für<br />

die Erstellung und Einhaltung menschenrechtlicher<br />

Forderungen im Ve rgleich<br />

zu außerkirchlichen Kräften im<br />

Vordergrund, sondern die Frage, welchen<br />

Beitrag die Katholische Soziallehre<br />

zur universellen Geltung der Menschenrechte<br />

beisteuern kann.<br />

Alexander Saberschinsky, Die Begründung<br />

universeller Menschenrechte.<br />

Zum Ansatz der Katholischen So-<br />

236<br />

ziallehre. Schöningh Verlag, Paderborn<br />

2002, 547 S.<br />

In einem ersten Teil greift Saberschinsky<br />

Texte der Katholischen Soziallehre<br />

seit dem Erscheinen der ersten<br />

Sozialenzyklika „Rerum novarum“ im<br />

Jahre 1891 durch Leo XIII. auf, um in<br />

einem zweiten Teil nach der Begründung<br />

der Menschenrechte in der Katholischen<br />

Soziallehre zu fragen. Indem<br />

Saberschinsky die Begründung nach<br />

dem Recht auf Eigentum in Rerum<br />

novarum nachzeichnet, stößt er auf das<br />

Naturrecht. Die Begründung in Rerum<br />

novarum geht dahin, daß die „Natur des<br />

Menschen“ bestimmt, was Inhalt des<br />

Naturgesetzes ist. Damit besteht in der<br />

Enzyklika die Tendenz, die „Natur“ zum<br />

Maßstab des Faktischen zu erheben.<br />

Vergleichbares haben aufgeklärte Philosophen<br />

vertreten, welche die Dinge der<br />

sinnlichen Erfahrung zum eigentlichen<br />

Sein erheben. Saberschinsky sieht somit<br />

deutliche Parallelen zu neuzeitlichen<br />

Philosophen, die den Menschen nicht<br />

mehr von einem Grund her denken,<br />

sondern von der Welt der Dinge. Im<br />

Gegensatz hierzu verweist Saberschinsky<br />

auf Thomas von Aquin, da der<br />

Kirchenlehrer die Rolle der Vernunft<br />

betont, die das Naturgesetz erst konstituiert.<br />

Nachfolgend begibt sich Saberschinsky<br />

– wenn auch nur am Rande – in<br />

das Gebiet der Moraltheologie, indem er<br />

Vertreter der Autonomen Moral zu Wort<br />

kommen läßt. Nach Alfons Auer hat Gott<br />

den Menschen derart erschaffen, daß er<br />

mit seiner Vernunft Normen selbst herstellen<br />

kann. Hier hätte Saberschinsky<br />

deutlich machen müssen, daß es eine<br />

Fehlinterpretation ist, wenn Thomas von<br />

Aquin im Sinne der Autonomen Moral<br />

ausgelegt wird. Die Alternative zur<br />

Autonomen Moral, die Normen als<br />

Kunstprodukte (Artefakte) der menschlichen<br />

Vernunft auffaßt (Honnefelder),<br />

ist nicht, daß ethische Normen einfach


vorgegeben seien, die der Mensch in der<br />

Natur erkennen und entnehmen kann,<br />

sondern die von Saberschinsky an anderer<br />

Stelle vorgenommenen Ausführungen<br />

zu den inclinationes naturales.<br />

Seine sozialethischen Ausführungen<br />

setzt Saberschinsky mit einer Rekonstruktion<br />

der Argumentationszusammenhänge<br />

in der Enzyklika „Quadragesimo<br />

anno“ von Pius XI. und der Sozialverkündigung<br />

Pius XII. fort. In<br />

„Quadragesimo anno“ wird in vorbildlicher<br />

Weise das Verhältnis von Liebe<br />

und Gerechtigkeit, von Tugendethik und<br />

Sozialethik vorgetragen. „Insofern ein<br />

Handeln in der Gesellschaft und im<br />

Staat immer auch Handeln der einzelnen<br />

ist, ist politische Ethik auch Individualethik<br />

und bedarf des tugendhaften Handelns<br />

der Gesellschaftsmitglieder. Ein<br />

Gemeinwesen kann nicht funktionieren<br />

ohne den moralischen Willen der Bürger<br />

zu einer gemeinsamen Ordnung, ohne<br />

ihr ethisch richtiges Verhalten und die<br />

rechte Einstellung.“ Ausgehend von der<br />

menschlichen Person führt Pius XII. aus,<br />

daß dem Menschen einzelne Rechte<br />

eingeboren sind.<br />

Gewisse Akzentverschiebungen zwischen<br />

Pius XII. und Thomas von Aquin<br />

macht Saberschinsky in der Verhältnisbestimmung<br />

von Individuum und Sozialem<br />

bezüglich der Begründung des Privateigentums<br />

aus. Während Thomas von<br />

Aquin beim Sozialen ansetzt, da für ihn<br />

der Besitz von Eigentum primär ein Ge -<br />

bot der sozialen Ordnung ist, geht Pius<br />

XII. (wie auch die Sozialethiker Gustav<br />

Gundlach und Oswald von Nell-Breuning)<br />

zunächst vom individuellen Nutzungsrecht<br />

der materiellen Güter aus,<br />

ohne die Sozialfunktion freilich auszublenden.<br />

Ausführlich schildert Saberschinsky<br />

die Differenzen in der Auslegung<br />

des Gemeinwohlbegriffs bei dem<br />

Sozialethiker Arthur F. Utz und Gustav<br />

Gundlach, wobei Saberschinsky die<br />

Auffassungen von Utz teilt: Indem<br />

Gundlach einen ontologisch-kausalen<br />

Gemeinwohlbegriff vertrete (so Utz),<br />

werde zur Begründung der sozialen<br />

Dimension auf den einzelnen zurückgegriffen.<br />

Wenn wir jedoch den Gemeinwohlbegriff<br />

vom Sozialen her entwickeln,<br />

so bringt dies die Konsequenz mit<br />

sich, daß die Begründung der Menschenrechte<br />

nicht bei den Rechten des<br />

Individuums ihren Ansatz haben kann.<br />

„So wie beim einseitigen Ansatz beim<br />

Individuum die soziale Dimension im<br />

Gemeinwohlbegriff verloren geht, so<br />

geht in gleicher Weise diese soziale<br />

Dimension in der Menschenrechtsfrage<br />

verloren, wenn Menschenrechte einseitig<br />

als Freiheitsrechte des einzelnen gedeutet<br />

werden.“ Mit Utz führt Saberschinsky<br />

aus: „Ohne ... Bezug zum Gemeinwohl<br />

gibt es keine Einzelrechte.“<br />

Eine weitere Akzentverlagerung zugunsten<br />

des Individuums hat Johannes Paul<br />

II. vorgenommen, der die Einmaligkeit<br />

der menschlichen Person und ihrer Entwicklung<br />

betont. In jeder Hinsicht umgeht<br />

der Papst jedoch einen Individualismus,<br />

da er bei der Einforderung der<br />

Menschenrechte „persönliche Menschenrechte“,<br />

die auf die liberalen Freiheitsrechte<br />

des Menschen verweisen,<br />

von „sozialen Teilhaberechten“, die auf<br />

die „gesells chaftlichen, wirtschaftlichen<br />

und politischen Menschenrechte“ ausgerichtet<br />

sind, unterscheidet. Wenngleich<br />

Johannes Paul II. die theologische Dimension<br />

der Personwürde und der Menschenrechte<br />

betont, vernachlässigt er<br />

keineswegs die naturrechtliche Argumentation.<br />

Im zweiten Teil seiner Arbeit geht Saberschinsky<br />

ausführlich auf die Differenzen<br />

zwischen dem scholastischen<br />

Naturrechtsverständnis und demjenigen<br />

Verständnis ein, wie es im 19. und teilweise<br />

im 20. Jahrhundert aufgefaßt<br />

wurde (Neuscholastik). Zu Recht weist<br />

237


Saberschinsky darauf hin, daß sich beide<br />

in einem gewissen dialektischen Ve rhältnis<br />

zueinander befinden. „Einerseits<br />

beruft sich die Neuscholastik auf die<br />

Scholastik und versteht sie als ihr Fundament.<br />

Andererseits ist die Neuscholastik<br />

eben nicht als zweite Scholastik im<br />

Sinne einer unveränderten Neuauflage<br />

zu verstehen, sondern sie weicht vielmehr<br />

in entscheidenden Punkten ab.“ In<br />

der Neuscholastik wird das Sein zumeist<br />

zu einem Zustand der faktischen Wirklichkeit.<br />

Entgegen dem Thomismus wird<br />

die Metaphysik hier nicht auf den „ersten<br />

Prinzipien“ aufgebaut, sondern auf<br />

den konkreten Dingen. Bei Thomas von<br />

Aquin kann jedoch dieser Sein-Sollen-<br />

Fehlschluß nicht vorliegen, weil das<br />

Sein des Menschen als vernünftig und<br />

darum werthaft ausgelegt wird.<br />

Saberschinsky führt einige Industriestaaten<br />

an und fragt nach deren Begründung<br />

bezüglich der Menschenrechte. Während<br />

in England die Menschenrechte vornehmlich<br />

als individuelle Freiheitsrechte<br />

aufgefaßt werden, wird in den Vereinigten<br />

Staaten von Amerika und in Frankreich<br />

ihre Universalität betont. Während<br />

in Frankreich die Menschenrechte von<br />

ihrer Funktion, der Vermeidung von Unrecht,<br />

her begründet werden, beruft sich<br />

die amerikanische Unabhängigkeitserklärung<br />

auf den „Schöpfer“.<br />

Gleichsam als Testfall geht Saberschinsky<br />

näher auf die Diskursethik ein,<br />

die er anhand des Philosophen Karl-Otto<br />

Apel schildert und kritisch hinterfragt.<br />

Saberschinsky nennt den grundlegenden<br />

Vorbehalt gegenüber der Diskursethik.<br />

Die Diskursethik stilisiert die Kommunikationsgemeinschaft<br />

zu einer metaphysischen<br />

Größe, wobei letztlich das<br />

Faktische zum Prinzip erhoben wird<br />

(Transzendentalpragmatik). Inwieweit<br />

der Mensch wahrheitsfähig ist, kommt<br />

Apel nicht in den Blick. Saberschinsky<br />

gibt deutlich zu erkennen, daß die Be-<br />

238<br />

gründung der Menschenrechte letztlich<br />

nicht möglich ist, ohne daß man sich<br />

auch den metaphysischen Implikationen<br />

stellt. Völlig zu Recht warnt Saberschinsky<br />

vor einer Überstrapazierung der<br />

Diskursethik: Die Absicht, das Naturrecht<br />

durch eine letztbegründete Diskursethik<br />

ablösen zu wollen, führt unweigerlich<br />

in eben jene Sackgasse, in<br />

die man sich durch das neuscholastische<br />

Naturrecht geführt sieht und aus der man<br />

eigentlich gelangen wollte.<br />

Das besondere Verdienst Saberschinskys<br />

liegt in der Herleitung der These, daß<br />

die Menschenrechtsfrage ursprünglich<br />

von der Sozialität des Menschen her<br />

gedacht werden muß. Wenngleich die<br />

Katholische Soziallehre darin kein<br />

„Dogma“ sieht, erscheint dieser Grundsatz<br />

für die Aufrechterhaltung des eigenen<br />

Ansatzes der Katholischen Soziallehre<br />

bedeutsam zu sein. Indem Saberschinsky<br />

bei der Begründung der Menschenrechte<br />

vom Gemeinwohl ausgeht,<br />

so vernachlässigt er keineswegs die<br />

personale Dimension, da die Person als<br />

Subjekt der Katholischen Soziallehre im<br />

Spannungsfeld von Theologie und Philosophie<br />

steht.<br />

Geld und Gerechtigkeit<br />

Clemens Breuer<br />

Fabian Wittreck legt hier seine rechtswissenschaftliche<br />

Dissertation vor, die<br />

2001 von der Juristischen Fakultät der<br />

Universität Würzburg angenommen<br />

wurde. Qualitativ wie auch quantitativ<br />

ist dieses Werk von hohem Rang:<br />

Fabian Wittreck: Geld als Instrument<br />

der Gerechtigkeit. Die Geldrechtslehre<br />

des Hl. Thomas von Aquin in ihrem<br />

interkulturellen Kontext. Rechts- und<br />

Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen<br />

der Görres-Gesellschaft N. F.<br />

Bd. 100. Paderborn, München, Wien,


Zürich (Ferdinand Schöningh), 2002,<br />

843 S.<br />

Nach der Einleitung zu Zielsetzung,<br />

Forschungsstand und Methode befaßt<br />

sich der Erste Teil (S. 43-164) mit Thomas<br />

und seiner Einbettung in die mittelalterliche<br />

Geldwirklichkeit des 13. Jahrhunderts.<br />

Diese wird (S. 37) als ein<br />

Konzept charakterisiert, in dem die<br />

ausführlich behandelten Autoren mit<br />

ihren philosophischen, theologischen,<br />

ethischen und rechtlichen Anschauungen<br />

vor dem Hintergrund des Geldwesens<br />

ihrer Zeit (kursierende Münzen,<br />

Umfang der Geld- und Kreditwirtschaft,<br />

Vorformen von Buchgeld) geschildert<br />

werden.<br />

Der Zweite Teil (S. 165-314) stellt die<br />

Grundlegung der Geldlehre durch Aristoteles<br />

dar und fügt diesem Teil die<br />

Vermittlung der aristotelischen Geldlehre<br />

durch Albertus Magnus, dem Lehrer<br />

von Thomas, ein.<br />

Der Dritte Teil (S. 315-503) ist dem<br />

Kernstück der Arbeit gewidmet, der Naturrechtsordnung<br />

des Geldes nach Thomas<br />

von Aquin. Die lexematische Auswertung<br />

seines Gesamtwerkes (nach der<br />

Ausgabe von R. Busa) auf der Suche,<br />

welche lateinischen Termini für „Geld“<br />

stehen, ergibt allein für das Wort „pecunia“<br />

1084 Nachweise (S. 349), dazu<br />

noch hunderte von Geldbezeichnungen,<br />

ein Vorgehen, das in dieser Form wohl<br />

erstmalig ist. Die Vielfalt der Benennungen<br />

wird aus dem jeweiligen Werk<br />

einer Deutung nähergeführt. An den von<br />

Aristoteles grundgelegten, über Albertus<br />

Magnus lateinisch und von Thomas‘<br />

Ordensbruder Moerbeke durch Direktübersetzungen<br />

aus dem Griechischen<br />

(nicht ganz fehlerfrei, vgl. S. 343), vermittelten<br />

aristotelischen Einsichten in<br />

die Funktionen des Geldes hält Thomas<br />

fest und präzisiert sie. Die drei aus seinen<br />

Aristoteleskommentaren bekannten:<br />

Geld als Wertmesser, Wertspeicher und<br />

(allgemeines) Tauschmittel tauchen im<br />

Gesamtwerk des Thomas verschieden<br />

akzentuiert auf, z. B. in De Malo 13.1.6<br />

„omnia per pecuniam“ als „Allmacht des<br />

Geldes“ (S. 375). Er betont die Zahlungsmittelfunktion<br />

des Geldes (S. 379<br />

ff.), darunter auch Geld als Zahlungsmittel<br />

bei Gott (Almosen, Ablaß). Man<br />

kann als vierte Funktion Geld (bes. in<br />

Form von Münzen) als Hoheitssymbol<br />

bei Thomas bezeichnen (S. 390 f.). Für<br />

ihn und seine Zeit besteht Geld aus<br />

Metall, besonders aus Silber (S. 391).<br />

Träger der Geldhoheit ist für Thomas in<br />

der Regel der König (S. 405 ff.).<br />

Ausgehend von der Steuerfrage, die an<br />

Jesus gestellt wird (MK 12, 13-17 par.),<br />

ist für ihn der Kaiser (hier) Urheber des<br />

Geldes (S. 407 ff.). Geldhoheit kommt<br />

ihm zu wegen der Sorge um das Gemeinwohl.<br />

Eine geistliche Oberhoheit<br />

über das Geldwesen ist Thomas fremd.<br />

Der weltliche Hoheitsträger kann den<br />

Geldwert festlegen und Änderungen an<br />

ihm vornehmen; Stabilität des Geldes<br />

gilt aber als Norm (S. 428), die eine<br />

Forderung der Gerechtigkeit ist. Deutlich<br />

ist ein Mit- und Ineinander von<br />

nominalistischen und metallistischen<br />

Elementen seiner Geldlehre, die später<br />

unter „valor impositus“ und „valor<br />

intrinsecus“ behandelt wird. Daß Geld<br />

„Instrument der Ungerechtigkeit“ sein<br />

kann (S. 442 ff.), wird an der Analyse<br />

des Zinsverbotes dargetan sowie an der<br />

Wucherdoktrin.<br />

Im Ergebnis leistet Thomas eine vertiefte<br />

rationale Durchdringung des Geldwesens,<br />

das auf rechtliche Strukturen angewiesen<br />

ist. „Als Instrument der Gerechtigkeit“<br />

(S. 497) gehört das Geld für<br />

ihn zum Naturrecht.<br />

Der Vierte Teil (S. 505-701) trägt die<br />

Überschrift: „Geld und Recht in der<br />

aristotelischen Tradition des Mittelmeerraums“<br />

und zeigt Thomas im Dialog mit<br />

Byzanz, Islam und Judentum, also die<br />

239


Aristotelesrezeption außerhalb der lateinisch-christlichen<br />

Welt. Michael von<br />

Ephesos ist Hauptzeuge für das byzantinische<br />

Geldwesen (S. 515-571), Averroes<br />

für die islamische Geldordnung (S.<br />

572-652) und Moses Maimonides für<br />

das jüdische Geldsystem (S. 653-701).<br />

Für die Teile 1 bis 4 werden die ausführlich<br />

behandelten Autoren mit Leben,<br />

Werk, Grundpositionen und jetzigem<br />

Forschungsstand erfreulich knapp und<br />

zutreffend dargestellt.<br />

Der Fünfte Teil (S. 703-727) stellt die<br />

scholastische Geldlehre nach Thomas<br />

vor. Sie beginnt mit der Darstellung der<br />

Geldlehre in De Regno II 13, die vom<br />

Thomas-Schüler Ptolomäus von Lucca<br />

verfaßt wurde und als „klassische Formulierung<br />

einer Lehre vom valor imp ositus“<br />

(S. 714) gilt.<br />

Die Weiterentwicklung im Überblick<br />

sieht in Johannes Buridanus den Vo llender<br />

der scholastischen Geldlehre,<br />

während Nicolaus Oresmius in der Meinung<br />

von W. in seiner Originalität überschätzt<br />

werde (S. 718).<br />

Der Nominalist Gabriel Biel und Nikolaus<br />

Kopernikus werden genannt, besonders<br />

Vertreter der iberischen Spätscholastik,<br />

die der scholastischen Geldtheorie<br />

neue Impulse gaben. Neben<br />

Francisco de Vitoria und den anderen<br />

genannten (S. 726) hätte man gerne<br />

auch Ludwig Molina angetroffen.<br />

Zum Schluß (S. 728-733) werden die<br />

Ergebnisse im Überblick zusammengefaßt.<br />

Textanhänge (von Aristoteles, Michael<br />

von Ephesos, Ibn Rushd (Averroes),<br />

Albertus Magnus, Thomas von<br />

Aquin, Ptolomäus von Lucca – teilweise<br />

in Übersetzung von W. – S. 734-759)<br />

leiten über zur Quellenübersicht 1: Werke<br />

des Hl. Thomas von Aquin und 2:<br />

Weitere Quellen-Autoren (S. 760-768).<br />

Das Literaturverzeichnis (S. 769-836)<br />

enthält auf 67 Seiten so viele Einzelangaben,<br />

die man mit 20 multiplizieren<br />

240<br />

könnte, um auf die realistische Anzahl<br />

der zu Rate gezogenen Literatur zu<br />

kommen. Ähnliches ist von den Anmerkungen<br />

(Fn = Fußnote) zu sagen. Weil<br />

bei den einzelnen Hauptabschnitten die<br />

Zählung immer wieder bei 1 begonnen<br />

wird, kommt man auf nahezu 4000<br />

Anmerkungen, die meistens mehrere<br />

Autoren – oft mit kurzen Bewertungen –<br />

enthalten, so daß ein Multiplikator 5 die<br />

wirkliche Zahl der Anmerkungen wohl<br />

noch unterschritte. Hingegen ist das<br />

Personen- und Sachregister von S. 837-<br />

843 mager ausgefallen, ein Abkürzungsverzeichnis<br />

fehlt ganz. Die meisten<br />

Kürzel lassen sich erraten. Man kann<br />

sich auch an „thomanisch“ gewöhnen,<br />

wenn es um originär thomasische Texte<br />

geht. Der Druck ist fehlerfrei. Kompliment<br />

an W. und den Verlag. (Eine Kleinigkeit:<br />

S. 438 würde man statt Origines<br />

lieber Origenes lesen). Stichproben bei<br />

Zitaten ergaben korrekte Wiedergabe.<br />

Auf diese Arbeit von Fabian Wittreck<br />

blicke ich mit großem Respekt. Für die<br />

mir vertrauteren Autoren und Zeitverhältnisse<br />

im westlichen Hochmittelalter<br />

glaube ich sagen zu dürfen: Eine bessere<br />

Darstellung mit diesen Über- und<br />

Durchblicken kenne ich nicht. Der Vierte<br />

Teil, der Thomas im Dialog mit Byzanz,<br />

Islam und Judentum aufzeigt, erscheint<br />

mir instruktiv und hilfreich; die<br />

fachliche Würdigung muß ich den für<br />

diese Bereiche mehr zuständigen Fachgelehrten<br />

überlassen.<br />

Meinen Respekt für diese Leistung fasse<br />

ich in den Schlußsatz: Wer sich künftig<br />

mit Thomas von Aquin und seinen Erkenntnissen<br />

für die Welt-Wirklichkeit<br />

des Geldes befaßt, kann an dieser Arbeit<br />

nicht vorbeigehen.<br />

Friedrich Beutter


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