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<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong><br />
<strong>ORDNUNG</strong><br />
begründet von Laurentius Siemer OP<br />
und Eberhard Welty OP<br />
Nr. 3/2003 Juni 57. Jahrgang<br />
Editorial<br />
Wolfgang Ockenfels, Die Entdeckung des<br />
Gemeinwohls<br />
Manfred Spieker, Der Krieg gegen Saddam<br />
Hussein. Zur Ethik des Irak-Konflikts<br />
Ursula Nothelle-Wildfeuer, „Frieden ist<br />
möglich“ – Ist Frieden möglich?<br />
Hans Thomas, Vom gentechnischen Segen<br />
zum Klonen des Menschen<br />
Johannes Christian Koecke, Zur bioethischen<br />
Debatte. Argumentationsstrategische<br />
Überlegungen<br />
Klaus Friedrich Kempfler, Rechtsbewußtsein<br />
und Rechtserziehung<br />
Bericht und Gespräch<br />
Lothar Roos, Wahre und falsche „Laizität“.<br />
Zur „politischen Note“ Roms<br />
Hubert Hüppe, „C“-Positionen in der CDU<br />
Paul Johannes Fietz, Säkularisation und<br />
Säkularisierung. Zum 38. Essener Gespräch<br />
Besprechungen<br />
162<br />
164<br />
181<br />
194<br />
204<br />
212<br />
223<br />
228<br />
232<br />
236<br />
Herausgeber:<br />
Institut für<br />
Gesellschaftswissenschaften<br />
Walberberg e.V.<br />
Redaktion:<br />
Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />
Heinrich Basilius Streithofen OP<br />
Bernd Kettern<br />
Redaktionsbeirat:<br />
Stefan Heid<br />
Martin Lohmann<br />
Edgar Nawroth OP<br />
Herbert B. Schmidt<br />
Günter Triesch<br />
Rüdiger von Voss<br />
Redaktionsassistenz:<br />
Andrea und Hildegard Schramm<br />
Druck und Vertrieb:<br />
Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />
53708 Siegburg<br />
Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />
Die Neue Ordnung erscheint alle<br />
2 Monate<br />
Bezug direkt vom Institut<br />
oder durch alle Buchhandlungen<br />
Jahresabonnement: 25,- €<br />
Einzelheft 5,- €<br />
zzgl. Versandkosten<br />
ISSN 09 32 – 76 65<br />
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Redaktion und des Instituts:<br />
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Unverlangt eingesandte Manuskripte und<br />
Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />
Verlag und Redaktion übernehmen keine<br />
Haftung<br />
Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />
geben nicht unbedingt<br />
die Meinung der Redaktion wieder.<br />
Nachdruck, elektronische oder photomechanische<br />
Vervielfältigung nur mit<br />
Genehmigung der Redaktion<br />
http://www.die-neue-ordnung.de<br />
161
Editorial<br />
162<br />
Die Entdeckung des Gemeinwohls<br />
Ein klassisches, scheinbar konservatives Ordnungsprinzip wird wiederentdeckt.<br />
Wenn alle Stricke reißen, an denen unser Sozialsystem und auch unser künftiger<br />
Wohlstand hängen, kommt man gerne wieder auf das gute alte Gemeinwohl zu<br />
sprechen: Um die Opfer zu rechtfertigen, die nun für das größere Ganze gebracht<br />
werden sollen. Um die widerstreitenden Interessen ein wenig zu disziplinieren<br />
und die hohen Ansprüche zu beschneiden. Kurzum, der Ordnungsrahmen des<br />
Staates soll eine straffere Façon erhalten, nach der seine Bürger zwar nicht selig,<br />
aber etwas ruhiger werden und sicherer leben.<br />
Nie hätten sich die Achtundsechziger damals auf das Gemeinwohl berufen, das<br />
bei ihnen unter Ideologieverdacht stand. Erst wer in vorgerücktem Alter zur<br />
politischen Herrschaft und zur Einsicht gelangt, daß die utopischen Blütenträume<br />
von Autonomie und Emanzipation, von Fortschritt und Wachstum auf Dauer<br />
nicht in Erfüllung gehen, wird bescheiden und konzentriert sich auf das Gemeinwohl.<br />
Dieses strenge Prinzip markiert den Ernst des politischen Lebens, den<br />
Abschied von Träumen und Visionen, für die das Geld nicht mehr reichte, den<br />
langsamen Abschied auch vom Leben auf Pump.<br />
Jetzt muß das Gemeinwohl für das ökonomisch Notwendige herhalten, als Bremse,<br />
die überzogene Forderungen drosselt. Besser hätte man es rechtzeitig als Maß<br />
für das sozialethisch Wünschenswerte ernstgenommen. Nämlich als prinzipielles<br />
Ziel einer Ordnung, die nicht allen mehr, noch mehr und immer mehr Wohlfahrt<br />
verheißt, sondern gerechte Teilhabe an den Rechten und Pflichten gewährt. Die<br />
sozialpolitischen Reformen ereignen sich einstweilen noch in Form der vielen<br />
kleinen Korrekturen, die euphemistisch als „Modernisierung“ ausgegeben, aber<br />
doch nur als Abstriche von mühsam erkämpften Errungenschaften wahrgenommen<br />
werden. Die schmerzhaften Einzeleingriffe der staatlichen Reparationsanstalt<br />
werden dann gerne mit dem Hinweis auf das Gemeinwohl gerechtfertigt,<br />
das gerade von den Modernisierern als Trostpflaster mißbraucht wird. Dabei<br />
wäre es nötig, mithilfe dieses Ganzheitsprinzips endlich einmal die Gesamtentwicklung<br />
unserer Gesellschaftsordnung in den kritischen Blick zu nehmen.<br />
Dies betrifft vor allem die prekäre Rolle des Staates, der als Rechtsstaat moralisch<br />
abgedankt und sich als Sozialstaat moralisch und finanziell übernommen<br />
hat. Er schwankt zwischen Dirigismus und Chaos, zwischen dem Machtwort<br />
„Basta!“ und den „Nachbesserungen“ aufgrund des gesellschaftlichen Drucks.<br />
Bei den Rückzugsgefechten des Sozialstaats verwickeln sich vor allem die Interessenverbände<br />
in immer neue und schärfere Verteilungskämpfe. Da stellt sich<br />
erneut die Frage nach einem übergeordneten Schiedsrichter, der nicht Partei oder<br />
Interessenvertreter ist. Und nach einem Integrationsfaktor, der nicht nur Freiheitsrechte<br />
gewährt, sondern auch in die soziale Pflicht zu nehmen weiß.
Beim Gemeinwohl geht es ums Ganze, d.h. um das gemeinsame Wohl aller in<br />
einer Gesells chaft. Wir brauchen eine staatliche Ordnung, die das Wohl der einzelnen,<br />
das vom Wohl aller abhängt, im Gemeinwohl integriert. Die „vaterlose“<br />
antiautoritäre Gesellschaft tut sich freilich schwer, einem Staat auch die nötige<br />
Autorität einzuräumen, damit er die konkurrierenden Interessen und Machtansprüche<br />
so koordinieren kann, daß sie dem Wohl aller zugute kommen. Gleichwohl<br />
ruft dieselbe Gesellschaft ständig nach dem „Vater Staat“, wenn es darum<br />
geht, eigene Rechte zu wahren und lästige Pflichten auf andere abzuwälzen.<br />
Nach christlicher Tradition bedeutet das gemeinsame Wohl von freien Personen<br />
für den Staat, daß er der Eigenverantwortung seiner Bürger zunächst den Vortritt<br />
läßt. Das Gemeinwohl ist also nicht zentralistisch, sondern nach dem Subsidiaritätsprinzip<br />
aufzubauen. Daran sind alle Interessenten, vor allem Gruppen und<br />
Verbände zu beteiligen. Wir benötigen diese zivilgesellschaftlichen Akteure und<br />
intermediären Instanzen, die zwischen Individuen und Staat vermitteln, für die<br />
staatliche Entscheidungsfindung. Weil der Staat nicht allwissend ist.<br />
Über das, was zum Gemeinwohl führt oder nicht, herrscht eine bunte Vielfalt<br />
von Vorstellungen, die sich widersprechen und miteinander konkurrieren. Während<br />
die Verbände nur für ihre Mitglieder sprechen, darf sich der Staat auf das<br />
Wohl und den Willen aller Bürger berufen. Er rundet die gesellschaftliche Willensbildung<br />
ab und erklärt einen politischen Gesamtwillen als verbindlich, der<br />
als gemeinwohldienlich anerkannt werden soll. Das macht den Staat keineswegs<br />
allmächtig. In der Demokratie ist politische Macht vielfältig geteilt und kontrolliert.<br />
Sie ist hierzulande völlig eingeschränkt, weil es zu gegenseitigen Blockaden<br />
der Gewalten kommt. Politikern bleibt oft nur noch die Rolle derer, die<br />
„Verantwortung tragen“, während die eigentlichen Entscheidungen in anonymen<br />
Gremien der Bürokratie, der Wissenschaft und der Interessenverbände gefällt<br />
werden. Hier werden ständig neue korporatistische Konsens-Kommissionen,<br />
Räte, Bündnisse und Ausschüsse gebildet, die die Probleme nicht lösen, sondern<br />
durch faule Kompromisse verdecken oder auf die lange Bank schieben.<br />
Dieser Umstand verdankt sich nicht zuletzt dem Einfluß, den mächtige Interessenverbände<br />
auf die politischen Verantwortungsträger ausüben. Es sind die<br />
„Staaten im Staat“, die das Regieren behindern. Das Druck- und Drohpotential<br />
von Leistungsverweigerung und Loyalitätsentzug bildet hier das Hauptproblem.<br />
Konfliktfähigen und kampfbereiten Interessenverbänden stehen sehr wirksame<br />
Waffen zur Verfügung, die sie gegen die staatlichen Instanzen richten können.<br />
Somit zeugt es schon fast von einer heroischen Gemeinwohlmoral, wenn sich<br />
Politiker gegen den Widerstand der Interessenverbände durchsetzen und sich<br />
zum Anwalt derer machen, die kaum organisierbar und damit schwach vertreten<br />
sind: Arbeitslose etwa, oder Hausfrauen und kinderreiche Familien, auch Ungeborene<br />
und Behinderte. Sie können ihre berechtigten Belange kaum öffentlich<br />
artikulieren und machtvoll zur politischen Geltung bringen. An ihrem Schicksal<br />
vor allem zeigt sich, ob ein entscheidungs- und handlungsfähiger Staat überhaupt<br />
noch existiert und seinen eigenen Gemeinwohlzweck erfüllt.<br />
Wolfgang Ockenfels<br />
163
164<br />
Manfred Spieker<br />
Der Krieg gegen Saddam Hussein<br />
Zur Ethik des Irak-Konflikts<br />
I. Die bellum-iustum-Lehre auf dem Prüfstand<br />
Im Pro und Contra einer militärischen Intervention im Irak steht die Lehre vom<br />
gerechten Krieg erneut auf dem Prüfstand. Läßt sich ein Krieg gegen Saddam<br />
Hussein sittlich rechtfertigen? Ist die Lehre vom bellum iustum überhaupt tauglich<br />
zur Beantwortung dieser Frage?<br />
Schon in den Reaktionen auf die Terroranschläge von New York, Washington<br />
und Pennsylvania am 11. September 2001 stand die bellum-iustum-Lehre zur<br />
Debatte. In ihrem Manifest „What we’re fighting for“ vom Februar 2002 erklärten<br />
59 amerikanische Politologen und Publizisten den Anti-Terror-Krieg zu einem<br />
„just war“. 1 Zu den Unterzeichnern des Manifests gehörten Samuel Huntington,<br />
Francis Fukuyama, Amitai Etzioni, Michael Walzer, aber auch zahlreiche<br />
prominente Katholiken wie Michael Novak, George Weigel, Mary Ann<br />
Glendon, Robert P. George und Robert Royal. Ihnen antworteten deutsche Intellektuelle,<br />
darunter Hans-Peter Dürr, Walter Jens, Dorothee Sölle und Friedrich<br />
Schorlemmer: „Der Krieg der so genannten Anti-Terror-Allianz in Afghanistan<br />
ist kein ‚gerechter Krieg‘ – ein unglückseliger historischer Begriff, den wir nicht<br />
akzeptieren“. Der Anti-Terror-Krieg sei vielmehr ein geostrategischer Krieg zur<br />
Festigung der amerikanischen Hegemonie. 2 Die Erklärung, ein bestimmter Begriff<br />
sei „historisch“ oder „unglückselig“ und man akzeptiere ihn nicht, ist zwar<br />
kein Argument, das den Anforderungen eines rationalen Diskurses entspricht,<br />
aber auch als Bekenntnis markiert sie die gegensätzlichen Standpunkte.<br />
In der Debatte um den Krieg gegen Saddam Hussein ist die Spaltung der Intellektuellen<br />
nicht weniger manifest. Während Richard Land, ein führender Vertreter<br />
der Südlichen Baptisten in den USA einen solchen Krieg für gerecht, ja für<br />
einen „Akt der christlichen Nächstenliebe“ hält, 3 nennt ein deutscher Philosoph<br />
einen solchen Begründungsversuch einen Rückfall ins Mittelalter. Die Renaissance<br />
der Lehre vom gerechten Krieg bedeute eine „moralische Aufrüstung gegen<br />
das geltende Völkerrecht“. 4 Auch der seit 1. Oktober 2002 amtierende Präsident<br />
des Päpstlichen Rates Justitia et Pax, Erzbischof Renato Martino, erklärte<br />
die bellum-iustum-Lehre für überholt. Er zog eine Parallele zur Todesstrafe, die<br />
im Katechismus der katholischen Kirche von 1993 zwar noch „in schwerwiegendsten<br />
Fällen“ akzeptiert worden sei, 5 von Papst Johannes Paul II. aber in<br />
seiner Enzyklika Evangelium Vitae 1995 für nicht mehr notwendig erklärt wurde.<br />
6 Dies gelte auch, so Martino, für den Fall des Krieges. Die moderne Gesell-
schaft verfüge über die Mittel, um den Krieg zu vermeiden. 7 Welche Mittel dies<br />
sind, darauf ging Martino nicht ein.<br />
Hans Küng dagegen kannte diese Mittel. Er empfahl auf einem Kongreß der<br />
Bundeszentrale für politische Bildung am 6. März 2003 sein „Weltethos“, das<br />
alle Religionen und Kulturen zum Dialog, zu Solidarität, Gewaltlosigkeit, Toleranz<br />
und Gleichberechtigung verpflichte. Er tadelte den „frommen Kriegstreiber<br />
Bush“, daß er dieses Weltethos noch nicht zur Kenntnis genommen habe. Im<br />
Gegensatz zu Erzbischof Martino hielt er die bellum-iustum-Lehre aber nicht für<br />
obsolet. Sie sei entwickelt worden, um ungerechtfertigte Kriege zu verhindern.<br />
An ihr müsse sich die Politik von Bush messen lassen. Als Ergebnis dieser Prüfung<br />
verkündet Küng: Bushs Irak-Politik erfülle kein einziges der Kriterien der<br />
bellum-iustum-Lehre. Deshalb sein ein Krieg gegen Saddam Hussein unmoralisch.<br />
8 Auch der Salzburger Weihbischof Andreas Laun, in moralischen und<br />
dogmatischen Fragen gewiß kein Gefolgsmann Küngs, kommt nach seiner Prüfung<br />
der Frage, ob ein Irak-Krieg ein gerechter Krieg sein könne, erstaunlich<br />
schnell zu dem eindeutigen Ergebnis: „Nein, dieser Krieg, ... ist kein ‚gerechter<br />
Krieg‘, sondern ein ebenso ungerechter wie schlecht überlegter Krieg“. 9 Differenzierende<br />
Anwendungen der bellum-iustum-Lehre auf den Krieg gegen den<br />
Terrorismus und auf den Irak-Konflikt sind in Deutschland selten. „Der ‚gerechte<br />
Krieg‘ hat einen schlechten Ruf in Deutschland“, so beginnt Karl Graf Ballestrem<br />
sein Plädoyer für die Erklärung amerikanischer Intellektueller „What<br />
we’re fighting for“, um sich dann hinter diese Erklärung zu stellen und zu zeigen,<br />
daß der Pazifis mus als Handlungsprinzip für Staaten abzulehnen ist, „weil<br />
er theoretisch unbefriedigend und im Ergebnis unmoralisch ist“. 10<br />
Was ist Gegenstand und Ziel der bellum-iustum-Lehre? Warum ist sie so umstritten<br />
und weshalb führt sie zu so unterschiedlichen Ergebnissen? Ist sie überhaupt<br />
geeignet zur Bewertung militärischer Konflikte, wenn sich die Befürworter<br />
militärischer Interventionen ebenso auf sie berufen wie deren Gegner? Die bellum-iustum-Lehre<br />
ist die Frucht einer seit Cicero, mithin seit 2000 Jahren anhaltenden<br />
ethischen Reflexion über die Frage, wann der Einsatz militärischer Mittel<br />
gerechtfertigt werden kann. Wie jede ethische Reflexion fragt sie nach den Bedingungen<br />
richtigen Handelns, mithin nach den Bedingungen, die erfüllt sein<br />
müssen, soll der Einsatz militärischer Mittel legitim sein. Sie ist nicht eine Strategie<br />
zur Rechtfertigung, sondern zur Verhinderung von Kriegen, sowie zu deren<br />
Begrenzung, wenn die Verhinderung mißlungen ist. Thomas von Aquin erörtert<br />
sie im 13. Jahrhundert in seiner Summa theologica im Kapitel über die Nächstenliebe,<br />
zu der um des Gemeinwohles willen die Fürsorgepflicht der Regierenden<br />
für die ihnen anvertrauten Menschen gehört. 11<br />
Daß sich in der Geschichte auch Kriege finden lassen, in denen diese Lehre zur<br />
Rechtfertigung eines Angriffs mißbraucht wurde, ist noch kein Argument gegen<br />
diese Lehre, wie ja auch niemand bis 1989 die Benutzung des Begriffs „Volksdemokratie“<br />
durch Staaten mit kommunistischer Einparteiherrschaft als Argument<br />
gegen die Demokratie gelten ließ. Eine Ethik der Friedenssicherung, die<br />
sich auf die bellum-iustum-Lehre stützt, schließt den Einsatz militärischer Mittel<br />
zur Sicherung des Friedens bzw. zur Verteidigung existentieller Güter nie aus.<br />
165
Aber sie sieht sich andererseits auch nicht in der Lage, jeden Waffeneinsatz des<br />
Angegriffenen oder Bedrohten zur Abwehr der Aggression bzw. der Bedrohung<br />
zu rechtfertigen. Es kann Situationen geben, in denen das Unrecht eines Angriffs<br />
oder einer Annexion oder eine Bedrohung hinzunehmen ist, wenn klar voraussehbar<br />
ist, daß die Abwehr der Bedrohung oder die Wiederherstellung des status<br />
quo einen unverhältnismäßig hohen Preis kosten würde.<br />
Das Recht, sich mit militärischen Mitteln zu verteidigen, hat der Angegriffene<br />
also nach der von Augustinus im 5. Jahrhundert systematisierten bellum-iustum-<br />
Lehre nur unter ganz bestimmten Bedingungen:<br />
Die Aggression bzw. die Bedrohung muß das Leben oder die existentiellen<br />
Rechte und Güter Unschuldiger gefährden. Der Einsatz militärischer Mittel muß<br />
durch die rechtmäßige politische Autorität angeordnet sein. Alle anderen Möglichkeiten,<br />
die Aggression bzw. die Bedrohung abzuwehren, müssen ausgeschöpft<br />
sein. Der Zweck des Einsatzes militärischer Mittel muß sich auf die<br />
Abwehr der Aggression bzw. die Beseitigung der Bedrohung beschränken, darf<br />
sich also nicht seinerseits in eine Aggression verwandeln. Mit der Möglichkeit<br />
eines Erfolgs muß gerechnet werden können. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit<br />
der Mittel muß beachtet werden, d. h. das Schadensrisiko des Einsatzes<br />
militärischer Mittel zur Abwehr der Aggression bzw. der Bedrohung ist abzuwägen<br />
gegen das Schadensrisiko einer hingenommenen Aggression bzw. einer<br />
fortdauernden Bedrohung. Schließlich muß das zur Hegung von Kriegen entwickelte<br />
Kriegsvölkerrecht, das ius in bello im Unterschied zum ius ad bellum,<br />
beachtet werden, d. h. a) die Wirkung der eingesetzten Waffen muß kontrollierbar,<br />
mithin auf militärische Zwecke begrenzbar bleiben, und b) die Immunität<br />
der Nichtkombattanten muß gewahrt werden können.<br />
Diese sieben Bedingungen lassen sich in drei Fragen zusammenfassen, die jeder<br />
bejahen können muß, der den Einsatz militärischer Mittel zur Sicherung oder<br />
Wiedergewinnung des Friedens in Erwägung zieht: Ist der Grund für den Waffeneinsatz<br />
gerecht? Wird ein Ziel verfolgt, das gerecht is t? Sind die Mittel, mit<br />
denen dieses Ziel verfolgt wird, angemessen? Nur wenn alle drei Fragen positiv<br />
beantwortet werden können, läßt sich der Einsatz militärischer Mittel rechtfertigen.<br />
Der Entwicklung der bellum-iustum-Lehre liegen zwei Voraussetzungen zugrunde,<br />
die auch eine Ethik des Irak-Krieges in Erinnerung rufen muß und die in<br />
Spannung zueinander stehen: erstens die Überzeugung, daß jeder Krieg, der Irak-<br />
Krieg ebenso wie der Golfkrieg 1991 oder die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts,<br />
ein Übel ist, ein unheilschwangerer Akt der Gewalt, der Zerstörungen,<br />
Elend und Tod mit sich bringt, der auf Grund der ihm innewohnenden Eigendynamik<br />
nicht nur militärische, sondern auch politische Risiken birgt und bei den<br />
Menschen – Soldaten wie Zivilisten – Ängste auslöst, der möglicherweise auch<br />
mehr neue Probleme schafft als alte löst. Zweitens die Überzeugung, daß die<br />
Alternative zum Einsatz militärischer Mittel oft nicht der Friede ist, sondern<br />
Unterdrückung, Erpressung und fortdauernde Bedrohung, die Überzeugung, daß<br />
auch der Pazifismus den Frieden nicht sichern kann, daß er gelegentlich das, was<br />
er verhindern will, gerade erst provozieren kann.<br />
166
II. Der Irak-Krieg<br />
Wer den Irak-Konflikt erst im Herbst 2002 mit der Resolution 1441 des Sicherheitsrates<br />
der Vereinten Nationen vom 8. November beginnen läßt, unterliegt<br />
einem folgenreichen Irrtum. Er rückt die bescheidenen, aber immerhin vorhandenen<br />
Fortschritte bei den Abrüstungsinspektionen der UNO in den Mittelpunkt<br />
seiner Betrachtung. Er hält die viermonatige Tätigkeit von UNMOVIC und IA-<br />
EA im Irak für ebenso unabgeschlossen wie erfolgversprechend und bewertet die<br />
am 20. März 2003 beginnende militärische Intervention der Vereinigten Staaten<br />
und ihrer Verbündeten als Angriffskrieg.<br />
Der Irak-Konflikt aber begann am 2. August 1990. Damals überfiel die Armee<br />
Saddam Husseins das kleine, aber reiche Nachbarland Kuwait. Am 28. August<br />
1990 erklärte der Irak Kuwait zur 19. Provinz seines eigenen Staatsgebietes. Der<br />
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stellte noch am 2. August 1990 in seiner<br />
Resolution 660 unter Bezugnahme auf Kapitel VII der UN-Charta („Maßnahmen<br />
bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“) fest, daß<br />
die irakische Invasion einen Bruch des internationalen Friedens und der Sicherheit<br />
darstellt. Er forderte den sofortigen und bedingungslosen Rückzug des Irak.<br />
Der Resolution 660 folgten im Laufe der nächsten vier Monate elf weitere, in<br />
denen unter anderem gegen die Geiselnahme der Ausländer sowie die Irakisierung<br />
Kuwaits protestiert und ein Wirtschaftsembargo verhängt wurde. Mit der<br />
Resolution 678 vom 29. November 1990 wurden schließlich die Kuwait unterstützenden<br />
Mitgliedsstaaten ermächtigt, „to use all necessary means to uphold<br />
and implement resolution 660 and all subsequent relevant resolutions and to<br />
restore international peace and security in the area“, wenn der Irak bis zum 15.<br />
Januar 1991 nicht aus Kuwait abzieht. Aller Welt war klar, daß die Ermächtigung<br />
„to use all necessary means“ eine Ermächtigung zum Einsatz militärischer<br />
Mittel bedeutete.<br />
Nachdem die Embargo-Politik ebenso erfolglos geblieben war wie zahlreiche<br />
diplomatische Bemühungen, kam es in der Nacht vom 16. auf den 17. Januar<br />
1991 zum Einsatz der alliierten Luftwaffe und am 24. Februar zur Landoffensive<br />
gegen die irakischen Truppen in Kuwait und ihre Nachschubbasen im südlichen<br />
Irak. Die militärische Intervention zwang den Irak innerhalb von vier Tagen zur<br />
Kapitulation und zur bedingungslosen Annahme aller Resolutionen des Sicherheitsrates.<br />
Die Truppen Saddam Husseins verließen plündernd, mordend und<br />
brandschatzend Kuwait. Am 28. Februar wurden die Kämpfe eingestellt. Am 3.<br />
März wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet und am 3. April beschloß der<br />
Sicherheitsrat in seiner Resolution 687 ein umfangreiches Programm zur Abrüstung<br />
und Kontrolle des Irak. Er forderte die Zerstörung bzw. Unschädlichmachung<br />
der chemischen und biologischen Waffen, der entsprechenden Produktionsanlagen,<br />
der Raketen mit einer Reichweite über 150 Kilometer, die Beendigung<br />
des Programms zur Entwicklung von Nuklearwaffen, die Einstellung jeglicher<br />
Unterstützung des internationalen Terrorismus, die Freilassung aller Gefangenen<br />
und die Rückgabe kuwaitischen Besitzes. Er bekräftigte seine Absicht,<br />
weitere Schritte zur Durchsetzung dieser Resolution und zur Ge währleistung von<br />
167
Frieden und Sicherheit in der Region zu beschließen, wenn solche notwendig<br />
werden sollten.<br />
Im Laufe der 90er Jahre geriet der durch den Krieg und das Embargo geschwächte<br />
Irak an den Rand des westlichen Interesses. Zweimal, 1993 und 1998,<br />
flogen die Alliierten Luftangriffe gegen den Irak, weil er die Bedingungen des<br />
Waffenstillstandes verletzt hatte. Niemand hielt damals eine eigene Ermächtigung<br />
durch den Sicherheitsrat für notwendig. Der Generalsekretär der UNO<br />
Boutros Ghali erklärte vielmehr am 14. Januar 1993, er könne bestätigen, daß<br />
diese Luftangriffe im Einklang mit der Resolution 687 des Sicherheitsrates und<br />
der Charta der Vereinten Nationen stehe. Aber das Regime Saddam Husseins,<br />
der sich wider alle westlichen Erwartungen auch nach dem verlorenen Krieg an<br />
der Macht halten konnte, stellte die Kooperation mit den Inspektoren der UNO<br />
ein. Der Irak betrachtete sie als Spione der USA. Im Dezember 1998 zwang<br />
Saddam Hussein sie, den Irak zu verlassen. Dabei erklärte der Leiter der UN-<br />
Sonderkommission für die Vernichtung der Massenvernichtungswaffen im Irak<br />
(UNSCOM), Richard Butler, die Zerstörung des Raketen- und Chemiewaffenprogramms<br />
habe kurz vor dem Abschluß gestanden, die Vernichtung der biologischen<br />
Waffen sei dagegen noch nicht erfolgt. Drei Jahre blieb der Rauswurf<br />
folgenlos.<br />
Daß sich das Interesse der USA und des Sicherheitsrates im Laufe des Jahres<br />
2002 wieder auf den Irak konzentrierte, ist nicht zuletzt auf die Terroranschläge<br />
des 11. September 2001 und auf den Regierungswechsel in den USA von Clinton<br />
zu Bush zurückzuführen. Nicht daß das Regime Saddam Husseins beschuldigt<br />
wurde, die Anschläge vom 11. September begangen oder initiiert zu haben, aber<br />
die Tatsache, daß er die in der Resolution 687 geforderte kontrollierte Abrüstung<br />
nicht durchgeführt und den Inspektoren der UNO den bedingungslosen, unbeschränkten<br />
Zutritt verweigert hat, entzog dem am 3. März 1991 unterzeichneten<br />
Waffenstillstand den Boden. Dies stellte der Sicherheitsrat denn auch in seiner<br />
Resolution 1441 am 8. Novemb er 2002 fest: Der Irak habe seine Verpflichtungen<br />
aus Resolution 687 sowie weiteren Resolutionen nicht erfüllt. Erfülle er sie<br />
nicht innerhalb einer bestimmten letzten Frist von wenigen Wochen, müsse er<br />
mit „serious consequences“ rechnen. Daß „serious consequences“ bedeutete,<br />
militärische Mittel einzusetzen, war allen Beteiligten ebenso klar wie bei jener<br />
Formulierung in der Resolution 678 am 29. November 1990, „to use all necessary<br />
means“.<br />
Der erneute Einsatz militärischer Mittel am 20. März 2003 kann deshalb weder<br />
als Angriffskrieg noch als Präventivkrieg bewertet werden. 12 Vor dem Hintergrund<br />
der 21 Resolutionen des Sicherheitsrates der UNO zwischen dem 2. August<br />
1990 und dem 8. November 2002 war er eine Suspendierung des Waffenstillstandes<br />
vom 3. März 1991, mithin eine Fortsetzung des damals unterbrochenen<br />
Krieges gegen Saddam Hussein.<br />
Dennoch bleiben kritische Fragen. Die Logik der Resolutionen des Sicherheitsrates<br />
kann eine Bewertung des Krieges anhand der sieben Kriterien der bellumiustum-Lehre<br />
nicht ersetzen. War der Grund für die Wiederaufnahme militäri-<br />
168
scher Handlungen sittlich zu rechtfertigen? Waren bzw. sind die Ziele des Krieges<br />
legitim und die Mittel angemessen?<br />
III. Der Grund, die Ziele und die Mittel des Krieges<br />
Um die Frage nach dem gerechten Grund für die Wiederaufnahme militärischer<br />
Handlungen zu beantworten, sind die ersten drei Kriterien der bellum-iustum-<br />
Lehre auf den Krieg gegen Saddam Hussein anzuwenden. Wie stand es um die<br />
Bedrohung Unschuldiger durch Saddam Hussein, um die Rechtmäßigkeit der<br />
Entscheidung zum Einsatz militärischer Mittel und um die Ausschöpfung aller<br />
friedlichen Mittel zur Abwehr der Bedrohung?<br />
1. Die Aggression bzw. die Bedrohung muß das Leben oder existentielle Rechte<br />
und Güter Unschuldiger gefährden.<br />
Die Frage, ob das Regime Saddam Husseins eine Gefahr für das Leben Unschuldiger<br />
darstellte, war Anfang 2003 schwieriger zu beantworten als 1991. Wie<br />
skrupellos dieses Regime damals mit dem Leben Unschuldiger umging, zeigten<br />
seine Kriege gegen den Iran, gegen Kuwait und Israel, sein Kampf gegen Kurden,<br />
Schiiten und christliche Assyrer im eigenen Staatsgebiet und nicht zuletzt<br />
sein wiederholter Einsatz chemischer Waffen, dem allein in Halabdscha im März<br />
1988 cirka 5000 Kurden zum Opfer fielen. Niemand hatte genaue Zahlen, aber es<br />
waren Hunderttausende, wenn nicht zwei Millionen, denen die Kriege und Gewalttaten<br />
Saddam Husseins das Leben gekostet haben. Seine Feindschaft gegen<br />
die USA, Israel und den Westen ist vielfach dokumentiert – nicht zuletzt am 11.<br />
September 2001. Aber welche Gefahr ging vom Regime Saddam Husseins im<br />
Jahr 2002 aus? Spricht Hans Küng nicht für viele, wenn er feststellt, daß „eine<br />
bloß vermutete und im Entstehen begriffene Bedrohung ... kein Kriegsgrund“<br />
ist? 13<br />
Wenn dem aus der Perspektive der USA entgegengehalten wird, die Terroranschläge<br />
vom 11. September 2001 hätten bewiesen, daß es sich beim Terrorismus<br />
nicht bloß um eine „vermutete“, sondern um eine sehr reale Bedrohung handle,<br />
der an jenem Tag über 3100 Unschuldige zum Opfer gefallen sind, werden die<br />
Kritiker der militärischen Intervention entgegnen, daß zwar der Terrorismus für<br />
die USA eine Bedrohung sein mag, aber nicht der Irak. Wie aber ist der Bedrohung<br />
des Terrorismus zu begegnen und hat der Irak nichts mit ihm zu tun? Der<br />
Terrorismus ist für die Politik, das Völkerrecht und die bellum-iustum-Lehre<br />
eine neue Herausforderung. Er ist nicht eine neue Form organisierter Kriminalität,<br />
sondern eine offensive politisch-militärische Strategie, die weniger auf die<br />
physischen Folgen der Gewaltanwendung als vielmehr auf die davon ausgehenden<br />
psychischen Effekte abzielt. 14 Er signalisiert dem Angegriffenen, daß er auch<br />
bei größter ökonomischer, technologischer und militärischer Überlegenheit jederzeit<br />
und an jedem Ort verwundbar ist.<br />
Terroristische Netzwerke operieren global und sie können dies nur, wenn sie<br />
Staaten bzw. Regierungen hinter sich wissen, die sie unterstützen oder wenigstens<br />
tolerieren. Die Unterstützung des Terror-Netzwerkes von Al Kaida durch<br />
das afghanische Taliban-Regime war offenkundig. Deshalb war der Krieg gegen<br />
169
dieses Regime legitim. Er war auch völkerrechtlich vertretbar. Der Sicherheitsrat<br />
der Vereinten Nationen hat die Terroranschläge in seiner Resolution vom 12.<br />
September 2001 ausdrücklich als eine Bedrohung des internationalen Friedens<br />
und der Sicherheit eingestuft. „Der Terrorismus“ ist insofern zu einer Gefahr<br />
geworden, die dem Angriff mit militärischen Streitkräften eines Staates „vergleichbar<br />
ist“. 15 Der Krieg gegen Saddam Hussein aber konnte sich nicht auf<br />
eine direkte Verbindung seines Regimes zum Terrornetzwerk Osama bin Ladens<br />
stützen. Dennoch war es keine bloße Behauptung der Regierung Bush, daß auch<br />
das Regime von Saddam Hussein Verbindungen zum Terrorismus – nicht zuletzt<br />
der Palästinenser – hat. So beklagte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen<br />
schon am 3. April 1991 in seiner Resolution 687, daß der Irak sich in seiner<br />
Kriegsführung terroristischer Mittel bedient hat. In seiner Resolution 1441 hat<br />
der Sicherheitsrat erneut festgestellt, daß der Irak seine Verpflichtung aus Resolution<br />
687, jegliche Verbindung zum Terrorismus einzustellen, nicht erfüllt hat.<br />
Als der amerikanische Außenminister Powell im Februar 2003 diese Verbindungen<br />
sowie die verbotenen Waffenprogramme nachzuweisen suchte und die anderen<br />
Mitgliedsstaaten, vor allem Frankreich, Deutschland und Rußland, Zweifel<br />
auf Zweifel häuften, schienen sie die Feststellungen des Sicherheitsrates in den<br />
Resolutionen 687 und 1441 völlig verdrängt zu haben.<br />
Worin besteht die Herausforderung des Terrorismus für die Politik, die Militärstrategie<br />
und die bellum-iustum-Lehre? Sie besteht in einer Veränderung der<br />
Kampfkonstellation. Der Angreifer versucht, sich unsichtbar und damit unangreifbar<br />
zu machen. Er bedarf aber der heimlichen Unterstützung bestimmter<br />
Staaten oder staatenähnlicher Gebilde wie des palästinensischen Autonomiegebietes,<br />
in denen seine Operationsbasen und Terrorzellen unangetastet bleiben.<br />
Der Krieg wandelt sich so von einem „symmetrischen“ zu einem „asymmetrischen<br />
Krieg“. 16 Im „symmetrischen“ Krieg stehen sich Staaten oder Koalitionen<br />
von Staaten gegenüber. Im „asymmetrischen“ Krieg steht dem Opfer terroristischer<br />
Attacken kein klar identifizierbarer Angreifer, der Uniform trägt, gegenüber,<br />
sondern ein global oder regional operierendes Netzwerk von Terroristen,<br />
die zivile Kleidung tragen, Unschuldige ermorden und Zivilflugzeuge in Massenvernichtungswaffen<br />
verwandeln. In dieser Situation muß der Verteidiger<br />
nicht nur sein Waffenarsenal und seine Militärstrategie überprüfen, er wird auch<br />
in jedem den Terrorismu s unterstützenden Staat selbst einen Angreifer sehen.<br />
Für die bellum-iustum-Lehre bedeutet dies, daß ein Grund für den legitimen<br />
Einsatz militärischer Mittel, der in den 50er Jahren aufgrund der Nuklearwaffen<br />
aus den Gründen für einen legitimen Waffeneinsatz herausgenommen worden<br />
war, nämlich die Sanktionierung von Regimen, die den Frieden bedrohen, wieder<br />
ins Blickfeld rückt und Legitimität beansprucht. 17 Wenn es „outlaw“- oder „rogue“-states,<br />
sog. Schurkenstaaten gibt, die durch ihre mehr oder weniger heimliche<br />
Unterstützung des Terrorismus einen unerklärten Krieg gegen die USA oder<br />
„den Westen“ führen, haben die Angegriffenen, und das heißt primär ihre Regierungen,<br />
nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, ihre Bürger gegen eine derartige<br />
tödliche Gefahr zu schützen. Die Frage nach einem gerechten Grund für einen<br />
legitimen Einsatz militärischer Mittel muß deshalb in Erwägung ziehen, den<br />
170
Begriff „Bestrafung des Bösen“ (punishment for evil) neu zu bedenken und in<br />
die legitimen Kriegsgründe einzubeziehen. Schon die humanitären Interventionen<br />
der 90er Jahre in Bosnien-Herzegowina, im Kosovo und in Somalia haben<br />
die gerechten Gründe für den Einsatz militärischer Mittel über die Verteidigung<br />
gegen einen unmittelbaren Angriff hinaus ausgeweitet. 18 Die Frage, ob das Regime<br />
Saddam Husseins eine unmittelbare Gefährdung für das Leben Unschuldiger<br />
außerhalb der Grenzen des Iraks darstellt, kann mithin bejaht werden, wenn<br />
sowohl der neue Charakter terroristischer Bedrohungen und asymmetrischer<br />
Kriege als auch die Geschichte der Resolutionen des Sicherheitsrates gewürdigt<br />
werden. Aber sofort stellt sich die Frage, ob die Regierung Bush allein befugt<br />
war, diese Bedrohung festzustellen, oder ob dies nicht in die Kompetenz des<br />
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen fällt.<br />
2. Der Einsatz militärischer Mittel muß durch die rechtmäßige politische Autorität<br />
angeordnet sein.<br />
Der Sicherheitsrat ist als völkerrechtliches Organ kollektiver Sicherheit nach<br />
Kapitel V bis VII der UNO-Charta ohne Zweifel die privilegierte Autorität zur<br />
Anordnung des Einsatzes militärischer Mittel in einem Konflikt. Seine Resolution<br />
678 vom 29. November 1990, die ausdrücklich auf Kapitel VII der Charta<br />
Bezug nahm, war eine solche Anordnung, bei deren Umsetzung er dann allerdings<br />
nicht auf eigene Streitkräfte zurückgreifen kann. Er bleibt auf die Armeen<br />
der Mitgliedsstaaten angewiesen, die zur Ausführung solcher Beschlüsse bereit<br />
sind. In der Regel sind dies die USA, die dann mehr oder weniger breite Koalitionen<br />
anführen. Die Ermächtigung zum Einsatz militärischer Mittel in Resolution<br />
678 galt allen „Mitgliedsstaaten, die mit der Regierung Kuwaits zusammenarbeiten“.<br />
Die Resolution 1441 enthielt zwar keine unmittelbare Anordnung zum<br />
Einsatz militärischer Mittel, aber sie drohte dem Irak mit „ernsthaften Konsequenzen“<br />
im Falle der fortgesetzten Weigerung, die Verpflichtungen aus Resolution<br />
687 zu erfüllen. Sie bestätigte darüber hinaus ausdrücklich das Mandat zum<br />
Waffeneinsatz in Resolution 678. Ob deshalb nach Ablauf der dem Irak gesetzten<br />
Fristen eine weitere Resolution des Sicherheitsrates überhaupt notwendig<br />
gewesen wäre, um den Einsatz militärischer Mittel anzuordnen, ist umstritten.<br />
China, Rußland und Frankreich hielten eine solche Resolution für notwendig,<br />
Großbritannien wünschte sie mehr aus politischen als aus völkerrechtlichen<br />
Gründen, obgleich der britische Generalstaatsanwalt Lord Goldsmith sie in seiner<br />
Antwort auf eine parlamentarische Anfrage nicht für notwendig hielt 19 , und<br />
die USA hielten sie ebenfalls nicht für notwendig. 20 Eine neue Resolution scheiterte<br />
schließlich an der Uneinigkeit des Sicherheitsrates. Daß mit den „serious<br />
consequences“ im Falle der Nichterfüllung der Verpflichtungen aus Resolution<br />
687 aber nicht eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Abrüstungsinspektionen,<br />
sondern nur eine militärische Intervention gemeint sein konnte, kann kaum<br />
bezweifelt werden.<br />
Bei der Wiederaufnahme der militärischen Intervention am 20. März 2003 war<br />
deshalb ein Rückgriff auf Art. 51 der UNO-Charta, der jedem Mitgliedsstaat<br />
„das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“<br />
zugesteht, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der<br />
171
internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“, gar nicht<br />
mehr notwendig. Daß einzelnen Staaten oder Staatenbündnissen ein solches<br />
Recht nicht genommen werden kann, wenn der Sicherheitsrat blockiert oder<br />
desinteressiert ist, wie er das die meiste Zeit seiner bald 60jährigen Geschichte<br />
war, findet zwar nicht ungeteilte Zustimmung. Vor allem die Evangelische Kirche<br />
in Deutschland reserviert die Entscheidungskompetenz immer wieder der<br />
UNO. 21 Auch die Deutsche Bischofskonferenz hat in ihrer Erklärung zum Irak-<br />
Konflikt vom 13. März 2003 jede „militärische Gewaltanwendung, die ohne<br />
Mandat des Sicherheitsrates... erfolgte“, als eine „Abkehr vom Völkerrecht“<br />
bezeichnet. 22 Dieses Mandat lag mit der in Resolution 1441 bestätigten Resolution<br />
678 vor.<br />
In vielen Konfliktfällen würde ein Monopol des Sicherheitsrates dazu zwingen,<br />
dem Unheil zuzusehen. Die katholische Kirche bringt deshalb zwar in vielen<br />
Dokumenten und päpstlichen Ansprachen ihre Wertschätzung für die Vereinten<br />
Nationen zum Ausdruck, reserviert die Kompetenz zur Entscheidung über den<br />
Einsatz militärischer Mittel aber nicht dem Sicherheitsrat. Die Kompetenz zu<br />
entscheiden, ob alle Kriterien der bellum-iustum-Lehre erfüllt sind, kommt vielmehr<br />
„dem klugen Ermessen derer zu, die mit der Wahrung des Gemeinwohls<br />
betraut sind“. 23 Die Wahrung des Gemeinwohls aber ist in erster Linie die Pflicht<br />
der Regierung. Im Falle humanitärer Interventionen, die meist ohne UNO-<br />
Beschlüsse realisiert werden, haben sie nicht nur das Recht, sondern die Pflicht,<br />
einzugreifen, wenn die Institutionen kollektiver Sicherheit blockiert sind. „Wenn<br />
einmal alle von diplomatischen Verhandlungen gebotenen Möglichkeiten, alle<br />
durch Übereinkünfte und internationale Organisationen vorgesehenen Prozesse<br />
erschöpft sind und trotzdem ganze Volksgruppen dabei sind, den Schlägen eines<br />
ungerechten Angreifers zu erliegen“, erklärte Kardinal Sodano in Vertretung des<br />
Papstes beim Neujahrsempfang für das beim Hl. Stuhl akkreditierte Diplomatische<br />
Korps 1993, „haben die Staaten kein ‚Recht mehr auf Gleichgültigkeit‘. Es<br />
scheint vielmehr, daß ihre Pflicht in der Entwaffnung dieses Angreifers besteht,<br />
nachdem alle übrigen Mittel sich als unwirksam erwiesen haben. Die Grundsätze<br />
der Souveränität der Staaten und der Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten<br />
– die ihren vollen Wert behalten – dürfen keine Schutzwand bilden,<br />
hinter der man foltern und morden darf“. 24<br />
3. Alle anderen Möglichkeiten, die Aggression bzw. die Bedrohung abzuwehren,<br />
müssen ausgeschöpft sein.<br />
Die Beantwortung der Frage, ob alles getan wurde, um die Bedrohung auf friedlichem<br />
Weg abzuwehren, wird immer strittig bleiben. Wer kann je sagen, er habe<br />
alles getan? Die Überzeugung, auf den friedlichen Ebenen der Diplomatie, der<br />
Inspektionen, der Embargo-Politik und der Abschreckung sei alles getan worden,<br />
um Frieden und Sicherheit am Golf wiederherzustellen, ist schwer zu belegen.<br />
Noch schwerer aber ist nachzuweisen, daß nicht alles getan wurde. Überzeugende<br />
Argumente, daß eine Verlängerung der Inspektionen um drei oder vier Monate<br />
das Problem gelöst hätte, sind nicht bekannt geworden. Schon vor der Militärintervention<br />
1991 war der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich<br />
Genscher der Meinung, nie zuvor seien einem Aggressor so viele Gelegenheiten<br />
172
zum Einlenken gegeben worden wie Saddam Hussein. Dies gilt erst recht 2003.<br />
Schließlich hatte er seit der Resolution 687 zwölf Jahre Zeit, seine Abrüstungsverpflichtungen<br />
zu erfüllen.<br />
Wer den Irak-Konflikt erst mit der Resolution 1441 beginnen läßt, wird die Frage,<br />
ob alle friedlichen Mittel ausgeschöpft wurden, verneinen. Er wird auf die<br />
vom UNMOVIC-Chef Blix mehrfach bestätigten Fortschritte in der Kooperationsbereitschaft<br />
des Irak verweisen und darauf, daß die Inspekteure selbst erklärten,<br />
sie benötigten noch einige Monate, um die Inspektionen abzuschließen. Das<br />
Plädoyer für verlängerte Inspektionen übersieht jedoch zum einen die 13-jährige<br />
Geschichte des Irak-Konflikts und zum anderen die Tatsache, daß Saddam Hussein<br />
die Inspektoren im November 2002 nur deshalb wieder ihre Arbeit aufnehmen<br />
ließ, weil die USA und Großbritannien bereits rund 100.000 Soldaten am<br />
Golf stationiert hatten. Saddam Husseins Kooperationsbereitschaft war nicht die<br />
Folge eines politischen Kurswechsels im Irak, sondern des Druckes, den die<br />
USA mit ihren Truppenverlegungen auf ihn ausübten. Da diese Truppenverlegungen<br />
auch während der Inspektionen fortgesetzt wurden, kam es mehrfach zu<br />
kleinen Fortschritten bei der Kooperation, die Hans Blix aber nicht davon abhalten<br />
konnten, vor dem Sicherheitsrat wiederholt über die mangelhafte Kooperationsbereitschaft<br />
des Iraks zu klagen. Inspektionen, die nur unter dem Druck einer<br />
Armee von mehreren 100.000 Soldaten durchgeführt werden können, sind gewiß<br />
nicht mehr jene Inspektionen, die der Sicherheitsrat in seiner Resolution 687<br />
dem Irak auferlegt hatte.<br />
Die Entwicklung des Irak-Konflikts seit dem Waffenstillstand 1991 ist eine fast<br />
unendliche Geschichte von diplomatischen Verhandlungen in der UNO, von<br />
Resolutionen im Sicherheitsrat, von Luftwaffeneinsätzen der Alliierten im Irak<br />
wegen Verletzung der Verpflichtungen aus dem Waffenstillstandsvertrag und<br />
von Inspektionen. Ein letztes Ultimatum von Präsident Bush zur Vermeidung<br />
eines Krieges verlangte am 17. März 2003 von Saddam Hussein, daß er mit seinen<br />
beiden übel beleumdeten Söhnen den Irak innerhalb von zwei Tagen zu<br />
verlassen habe. Das Ultimatum wurde zurückgewiesen. In Anbetracht dieser<br />
Fakten fällt es schwer, von einem voreiligen Krieg zu sprechen. Das Kriterium,<br />
daß ein Einsatz militärischer Waffen zwecks Abwehr einer Bedrohung nur ultima<br />
ratio sein dürfe, wurde nicht verletzt.<br />
Aber wie steht es mit den Zielen dieses Krieges? Entsprechen sie dem Kriterium<br />
der recta intentio, der rechten Absicht und gibt es Chancen, diese Ziele, wenn sie<br />
denn sittlich vertretbar sind, zu erreichen? Um diese Frage zu beantworten, sind<br />
die mit der militärischen Intervention verbundenen Ziele an den Kriterien vier<br />
und fünf der bellum-iustum-Lehre zu messen.<br />
4. Der Zweck des Einsatzes militärischer Mittel muß sich auf die Abwehr der<br />
Aggression bzw. die Beseitigung der Bedrohung beschränken, darf sich also<br />
nicht seinerseits in eine Aggression verwandeln.<br />
Im Golfkrieg 1991 galt die Befreiung Kuwaits als primäres Ziel. Die Alliierten<br />
vertrieben die Armee Saddam Husseins aus Kuwait und schlossen nach sechswöchigem<br />
Krieg am 3. März einen Waffenstillstand, der dem Irak mit den Ab-<br />
173
üstungsverpflichtungen, den Inspektionen und Flugverbotszonen zwar besondere<br />
Auflagen machte, das Regime von Saddam Hussein aber nicht antastete. Ein<br />
Regimewechsel galt damals als politisch erwünschtes, aber als völkerrechtlich<br />
nicht legitimes Kriegsziel. Die Verteidigung der Souveränität Kuwaits sollte sich<br />
nicht in eine Aggression gegen den Irak verwandeln. So unterließen es die alliierten<br />
Streitkräfte, Bagdad zu besetzen und ein Besatzungsregime zu errichten.<br />
Die Hoffnung, daß der Diktator seine Vertreibung aus Kuwait und die Zerstörung<br />
seines offensiven Rüstungspotentials nicht lange überleben würde, erfüllte<br />
sich nicht, und schon im Konflikt um die Inspektionen 1998, in dem sich Saddam<br />
Hussein durchsetzte, erwies sich die Zurückhaltung der Alliierten 1991 als<br />
Fehler. Die Beseitigung des irakischen Aggressionspotentials und der vom Regime<br />
Saddam Husseins ausgehenden Bedrohung ließ sich ohne Regimewechsel<br />
nicht erreichen.<br />
Im März 2003 erklärte der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld,<br />
die Kriegsziele der Vereinigten Staaten seien, „das amerikanische Volk zu<br />
verteidigen, die Massenvernichtungswaffen des Iraks zu vernichten und das<br />
irakische Volk zu befreien“. Die Militäroperationen seien deshalb auf mehrere<br />
Teilziele ausgerichtet, darunter zunächst darauf, „dem Regime von Saddam Hussein<br />
ein Ende zu setzen“. 25<br />
Gegen dieses Ziel erhob sich die Kritik. Es sei durch die Beschlüsse des Sicherheitsrates<br />
nicht gedeckt. Diese Beschlüsse zielten lediglich auf die Beseitigung<br />
der Massenvernichtungswaffen. Diese Kritik ist jedoch nicht begründet. Da die<br />
Massenvernichtungswaffen auch zwölf Jahre nach dem Waffenstillstand noch<br />
nicht beseitigt waren, kann die Feststellung, daß der Regimewechsel eine Vo raussetzung<br />
für deren Beseitigung ist, kaum als Verstoß gegen die Resolution 687<br />
bezeichnet werden, zumal der Sicherheitsrat selbst in dieser Resolution und auch<br />
schon in Resolution 678 erklärt hatte, daß es ihm nicht nur um Abrüstung, sondern<br />
auch um die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit in der Region<br />
gehe. Die Vereinten Nationen seien entschlossen, alles zu unternehmen, „to<br />
secure peace and security in the region“. 26 Das Ziel des Krieges gegen Saddam<br />
Hussein im Frühjahr 2003, die Befreiung des Irak durch einen Regimewechsel,<br />
kann deshalb als gerechtes Ziel bezeichnet werden, das in der Logik aller Resolutionen<br />
des Sicherheitsrates liegt.<br />
Ob dieses Ziel schon bedeutet, eine stabile demokratische Ordnung im Irak zu<br />
etablieren, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Wenn die Regierung Bush<br />
ihr Kriegsziel derart umschreibt oder gar auf eine demokratische Neuordnung<br />
des gesamten Nahen Ostens ausweitet, muß sie damit rechen, daß ihr im alten<br />
Europa bestenfalls Naivität, schlimmstenfalls Imperialismus vorgeworfen wird.<br />
Die politischen Systeme aller Staaten im Nahen Osten sind mit Ausnahme Israels<br />
so weit von demokratischen Ordnungen entfernt, daß eine Demokratisierung der<br />
Region wohl nur über eine amerikanische Militärherrschaft angestrebt werden<br />
könnte. Dies aber wäre ein Widerspruch in sich.<br />
Mit dem Ziel einer Demokratisierung der ganzen Region können sich die USA<br />
vermutlich nur übernehmen, mithin blamieren. Dieses Ziel würde nicht nur eine<br />
Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein im Irak, sondern auch eine Lö-<br />
174
sung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern sowie eine andere<br />
politische Kultur voraussetzen. Weder der militärische Sieg über Saddam Hussein<br />
noch eine längere amerikanische Militärverwaltung aber gewährleisten eine<br />
neue politische Kultur. Daß die Demokratisierung Deutschlands nach dem 2.<br />
Weltkrieg über eine Militärherrschaft der Alliierten gelang, ist noch kein Argument<br />
für eine Militärverwaltung im Irak. Deutschland hatte eine demokratische<br />
Tradition aus der Weimarer Republik, die 1945 noch nicht völlig abgerissen war,<br />
und eine politische Kultur, die wesentlich zum Erfolg des Besatzungsregimes<br />
beitrugen. Beides fehlt im Irak, so daß eine Militärverwaltung schnell zu einer<br />
Besatzungsherrschaft werden könnte. Sie würde die Demokratisierungschancen<br />
aber schnell weiter vermindern. Sollte sie gar zu einer Spaltung des Iraks in ein<br />
nördliches Kurdistan und in einen mit dem Iran verbündeten südlichen Schiitenstaat<br />
führen, wäre das Ende schlimmer als der Anfang. Ein Schiitenreich mit<br />
Massenvernichtungswaffen würde die Machtbalance am Golf zerstören, demokratische<br />
Entwicklungen im Nahen Osten weiter erschweren und die Operationsbasen<br />
für terroristische Netzwerke ausweiten.<br />
Wenn das Kriegsziel „Demokratisierung der Region“ mittels einer längeren<br />
amerikanischen Militärverwaltung somit als unrealistisch, ja kontraproduktiv<br />
kritisiert wird, so bedeutet dies jedoch nicht, daß der Krieg gegen Saddam Hussein<br />
als unverantwortlich abgelehnt werden muß. Die Befreiung des Irak blieb<br />
ein sittlich legitimes Ziel. Dieses Ziel wurde innerhalb von vier Wochen erreicht.<br />
Nun folgt die nicht weniger schwierige Aufgabe der Neuordnung des politischen<br />
Systems, die nicht nur eine Aufgabe der USA ist. Sie ist auch eine Aufgabe der<br />
Vereinten Nationen, die sich an ihr beteiligen müssen, nicht um die Rolle der<br />
USA zu relativieren, sondern um das Ziel der eigenen Resolutionen zu erreichen,<br />
Frieden und Sicherheit in der Region zu gewährleisten. Mit der Sicherheitsratsresolution<br />
vom 22. Mai 2003, mit der die Handelssanktionen gegen den Irak aufgehoben<br />
und die USA und Großbritannien als Besatzungsmächte anerkannt wurden,<br />
ist auch die Beteiligung der Vereinten Nationen am Wiederaufbau des Landes<br />
beschlossen worden.<br />
Gelegentlich war den USA vorgeworfen worden, es ginge ihnen in diesem Krieg<br />
vor allem um ökonomischen Interessen, mithin um die Sicherung der irakischen<br />
Ölquellen. Die Regierung Bush wurde mit dem Pathos der Entlarvung als Öl-<br />
Lobby präsentiert. Dieser Vorwurf war und ist unseriös. Zum einen sind ökonomische<br />
Interessen nicht eo ipso unsittlich. An der Freiheit des Ölhandels sind<br />
nicht nur die USA, sondern auch die Kriegsgegner, die OPEC-Staaten und die<br />
Entwicklungsländer interessiert. Zum anderen geht es im Krieg gegen Saddam<br />
Hussein wie schon im Golfkrieg 1991 nicht primär um Öl, sondern um die<br />
Durchsetzung der legitimen Kriegsziele des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen<br />
aus der Resolution 687. Im übrigen zeigen auch die amerikanischen Interventionen<br />
im Kosovo 1999, in Korea 1950 und in Deutschland 1941, daß der<br />
Vorwurf, es ginge den USA immer nur um ökonomische Interessen, falsch ist.<br />
5. Mit der Möglichkeit eines Erfolges muß gerechnet werden können.<br />
Diese Frage hatte bereits vier Wochen nach Kriegsbeginn nur noch historische<br />
Bedeutung, wenn denn unter Erfolg nur die Beseitigung des Regimes von Sad-<br />
175
dam Husseins verstanden wird. Aber der Erfolg besteht nicht nur in der Beseitigung<br />
des tyrannischen Regimes und der Vernichtung der Massenvernichtungswaffen,<br />
sondern in der Errichtung eines politischen Systems, das Frieden und<br />
Sicherheit in der Region gewährleistet. Dazu gehört ein Verhältnis der Kooperation,<br />
des Vertrauens und der gesicherten Grenzen, in das alle Staaten der Golfregion,<br />
Israel und die Palästinenser, die Türkei und die Kurden, einbezogen sind.<br />
Erst wenn sich kein Land und kein Volk im Nahen Osten einem institutionalisierten<br />
Friedensprozeß, einer Art Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />
im Nahen Osten verschließt, kann von einem Erfolg gesprochen werden. Ein<br />
derartiges Ziel liegt nicht außerhalb jeglicher Reichweite. Es liegt unterhalb des<br />
Zieles einer Demokratisierung des ganzen Nahen Ostens, dem keine realistische<br />
Chance eingeräumt werden kann. Aber es liegt über dem Ziel einer bloßen Beseitigung<br />
der Tyrannei Saddam Husseins. Um es zu erreichen, ist die Kooperation<br />
der irakischen Opposition und darüber hinaus der irakischen Bevölkerung<br />
notwendig.<br />
6. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel muß beachtet werden, d. h.<br />
das Schadensrisiko des Einsatzes militärischer Mittel zur Abwehr der Bedrohung<br />
ist abzuwägen gegen das Schadensrisiko einer fortdauernden Bedrohung.<br />
Die Verhältnismäßigkeit der Mittel im Laufe einer noch nicht abgeschlossenen<br />
militärischen Auseinandersetzung zu bestimmen, ist schwierig, aufgrund einer<br />
häufig wenig objektiven Nachrichtenlage geradezu unmöglich. Normativ ist der<br />
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht schwer zu bestimmen. Das, was gerettet<br />
bzw. befreit werden soll, darf im Laufe der militärischen Intervention nicht zerstört<br />
werden. Deshalb ist jede Kriegshandlung, die unterschiedslos auf die Ve rnichtung<br />
ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung abzielt, ungeachtet<br />
der eingesetzten Waffen, ein sittlich verwerflicher Verstoß gegen diesen<br />
Grundsatz. Ein gezieltes Bombardement auf die Zivilbevölkerung Bagdads, um<br />
sie zum Verlassen der Stadt zu bewegen, wäre nicht zu rechtfertigen.<br />
Aber sind 10.000 Luftangriffe noch verhältnismäßig, 100.000 dagegen nicht<br />
mehr? Sind vier Wochen Kriegsdauer verhältnismäßig, vier Monate dagegen<br />
nicht mehr? Eine ethische Erörterung des Irak-Krieges kann diese Fragen allein<br />
nicht beantworten. Sie bleibt, wenn sie am Recht auf eine militärische Durchsetzung<br />
der Resolution 687 und auf Beseitigung des terroristischen Bedrohungspotentials<br />
Saddam Husseins festhält, auf die Kompetenz einer möglichst objektiven<br />
militärischen Lagebeurteilung angewiesen. Im allgemeinen gilt: Je länger der<br />
Krieg dauert, je unkalkulierbarer sein Verlauf ist, desto zahlreicher sind die Opfer<br />
unter Zivilisten wie Soldaten, desto größer die Zerstörungen, desto tiefer die<br />
physischen und seelischen Wunden. Aber die Alternative zum Einsatz militärischer<br />
Mittel war und ist nicht der Frieden, sondern die Tyrannei des Regimes<br />
Saddam Husseins, sein Krieg gegen die Kurden und Schiiten und die terroristische<br />
Bedrohung der Nachbarn, Israels und der westlichen Welt. Die Beendigung<br />
dieser Übel unter Einhaltung der oben genannten Grenze und des ius in bello<br />
muß die Verhältnismäßigkeit der Mittel bestimmen. Wenige Wochen nach der<br />
Beendigung der militärischen Handlungen läßt sich, auch wenn noch nicht genau<br />
176
zu überblicken ist, welche Opfer und Schäden sie verursacht haben, wohl feststellen,<br />
daß offenkundige Verletzungen dieses Grundsatzes nicht vorliegen.<br />
7. Das zur Hegung des Krieges entwickelte ius in bello muß beachtet werden:<br />
a) Die Wirkung der eingesetzten Waffen muß kontrollierbar, mithin auf militärische<br />
Zwecke begrenzbar bleiben und<br />
b) die Immunität der Nichtkombattanten muß gewahrt werden können.<br />
Auch dieses Kriterium bereitete Schwierigkeiten. Einerseits war die Kontrollierbarkeit<br />
und d. h. die Zielgenauigkeit der eingesetzten Waffen seit dem Golfkrieg<br />
1991 noch beträchtlich weiterentwickelt worden. Die technischen Möglichkeiten,<br />
sie genau ins Ziel zu lenken, erleichterten die Einhaltung des Prinzips der Immunität<br />
der Nicht-Kombattanten ebenso wie die des Grundsatzes der Verhältnis -<br />
mäßigkeit. Andererseits bedeutete dies nicht, daß Zivilisten nicht zu Schaden<br />
kamen. Bilder von Opfern der Zivilbevölkerung, von verletzten oder getöteten<br />
Kindern und von Zerstörungen der Wohnviertel beunruhigen. Auch wenn sie<br />
häufig nicht eo ipso bewiesen, was sie beweisen sollten, mithin selbst als Waffe<br />
im Kriegsgeschehen eingesetzt wurden, bleibt die Beunruhigung. Die Opfer<br />
unter der Zivilbevölkerung, wenn sie denn wirklich von der kriegführenden Koalition<br />
verursacht wurden, können ungewollte Nebenwirkungen oder gar Fehlsteuerungen<br />
der eingesetzten Waffen sein. Auch bei Präzisionswaffen kann es<br />
ein Versagen der Technik geben.<br />
Entscheidend für die Einhaltung des ius in bello ist nicht nur die technische Kontrollierbarkeit<br />
der eingesetzten Waffen, sondern auch die nachweisbare Intention<br />
der kriegführenden Koalition, die Immunität der Zivilbevölkerung zu achten. Ein<br />
gezielter Einsatz der Waffen gegen die Zivilbevölkerung ist sittlich verwerflich.<br />
Die kriegführende Koalition hätte damit rechnen müssen, daß ein derartiger<br />
Verstoß gegen die bellum-iustum-Lehre ihrer militärischen Intervention die Legitimität<br />
entzieht und die öffentliche Meinung demokratischer Gesellschaften<br />
(noch mehr) gegen sie aufbringt. Es wäre für sie auch keine Entschuldigung<br />
gewesen, wenn das Regime Saddam Husseins fortgefahren wäre, in seiner Kriegführung<br />
gegen das Kriegsvölkerrecht zu verstoßen, die eigene Zivilbevölkerung<br />
als Geisel zu nehmen und zum Instrument einer zynischen Kriegführung zu machen,<br />
zivile und militärische Einrichtungen untrennbar zu vermischen, Soldaten<br />
in Zivilkleidung kämpfen zu lassen, Kriegsgefangene unmenschlich zu behandeln,<br />
Selbstmordattentäter als Waffe zu benutzen und chemische Waffen einzusetzen.<br />
Eine derartige Kriegsführung hätte für die Koalition nach den Erfahrungen<br />
mit Saddam Hussein im Golfkrieg 1991 und im Krieg gegen den Iran keine<br />
Überraschung sein können. Und selbst wenn sie es wäre, sie befreit die Koalition<br />
nicht von der Pflicht, alle Kriterien der bellum-iustum-Lehre einzuhalten.<br />
IV. Schlußfolgerungen<br />
Welche Schlußfolgerungen sind aus der Anwendung der Kriterien der bellumiustum-Lehre<br />
auf den Irak-Krieg zu ziehen?<br />
177
1. Die bellum-iustum-Lehre ist weiterhin nicht nur gültig, sondern auch geeignet,<br />
um die Frage nach der Legitimität einer militärischen Intervention zu beantworten.<br />
Wenn eine Entwicklung der Waffentechnologie, wie jener der Kernwaffen,<br />
oder der Kriegführungsstrategie, wie jener der humanitären Interventionen oder<br />
asymmetrischen Kriege im Zeitalter eines globalen Terrorismus, die Einhaltung<br />
des einen oder anderen Kriteriums auf den ersten Blick erschwert oder gar unmöglich<br />
macht, dann kann die Schlußfolgerung nur lauten, daß ein Krieg unter<br />
diesen Umständen nicht mehr zu legitimieren ist. Aber deshalb ist noch nicht die<br />
bellum-iustum-Lehre überholt. Im Gegenteil, sie wird gerade bestätigt und der,<br />
der sie ablehnt, beruft sich nichtsdestotrotz auf ihre Kriterien. 27<br />
Der Präsident des Päpstlichen Rates Justitia et Pax Erzbischof Renato Martino<br />
wird der Lehre der katholischen Kirche nicht gerecht, wenn er behauptet, die<br />
bellum-iustum-Lehre sei wie die Todesstrafe überholt, oder wenn er meint, ein<br />
gerechter Krieg sei absolut unmöglich. Er übersieht, daß Regierungen in ihrer<br />
Verantwortung für das Gemeinwohl nicht nur das Recht, sondern die Pflicht<br />
haben, ihre Bürger zu verteidigen – notfalls mit Waffen, wenn ihr Leben oder<br />
ihre existentiellen Rechte bedroht sind. Diese Pflicht zur Notwehr unterstreicht<br />
nicht nur der Katechismus der Katholischen Kirche 28 , von dem Martino meint, er<br />
sei durch die Enzyklika Evangelium Vitae von Johannes Paul II. überholt. Auch<br />
in Evangelium Vitae weist der Papst auf diese Pflicht hin 29 und in seiner Neujahrsansprache<br />
an das Diplomatische Korps beim Hl. Stuhl am 13. Januar 2003<br />
schloß er, trotz seines engagierten Einsatzes für den Frieden im Nahen Osten das<br />
Recht auf militärische Mittel als ultima ratio nicht aus: Der Krieg darf, wenn es<br />
um die Sicherung des Gemeinwohls geht, zwar „nur im äußersten Fall und unter<br />
sehr strengen Bedingungen gewählt werden“, aber er darf gewählt werden. 30<br />
2. Die Frage nach der Möglichkeit einer sittlichen Rechtfertigung der militärischen<br />
Intervention der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten im Irak läßt<br />
sich mit den ethischen Kriterien der bellum-iustum-Lehre allein nicht beantworten.<br />
Dazu bedarf es auch einer kompetenten Analyse der politischen, völkerrechtlichen<br />
und militärischen Entwicklungen im Irak und im Nahen Osten. Erst wenn<br />
eine solche Analyse und die sittliche Orientierung zusammenkommen, ist eine<br />
ethische Reflexion, mithin eine Rechtfertigung oder Mißbilligung der militärischen<br />
Intervention im Irak mö glich. Auch auf der Basis hoher Kompetenz aber<br />
werden die Analysen der politischen und militärischen Entwicklungen sowie die<br />
Interpretationen des Völkerrechts nicht immer zu identischen Ergebnissen führen.<br />
31 Es ist ein Gebot des inneren Friedens in einer demokratischen Gesellschaft,<br />
abweichende Meinungen dann nicht des Fundamentalismus, der Häresie,<br />
des Imperialismus oder gar der sittlichen Verderbtheit zu bezichtigen.<br />
3. Die Politik hat es in der Regel nicht mit der Entscheidung zwischen Licht und<br />
Finsternis, zwischen einem großen Gut, genannt Frieden, und einem großen<br />
Übel, genannt Krieg, sondern mit der Wahl zwischen zwei Übeln zu tun. Dies<br />
gilt für die Politik des amerikanischen Präsidenten und der Alliierten im Irak<br />
ebenso wie für die Politik Chiracs, Schröders oder Putins. Die Alternative zum<br />
Irak-Krieg war nicht der Frieden, sondern die Fortdauer der despotischen Herrschaft<br />
Saddam Husseins, seiner terroristischen Bedrohung und seiner Mißach-<br />
178
tung der 21 Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. In einem<br />
solchen Dilemma zwischen zwei Übeln das kleinere Übel zu wählen, ist die<br />
Kunst der Politik und eine sittliche Entscheidung dazu.<br />
Anmerkungen<br />
1) What we’re fighting for, in: Politisches Denken: Jahrbuch 2003, hrsg. von Karl Graf<br />
Ballestrem u. a., Stuttgart 2003, S. 223ff. Auszüge in: Blätter für deutsche und internationale<br />
Politik (2002), S. 756ff.<br />
2) „Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus“ – Eine Antwort auf<br />
das Manifest „Gerechter Krieg gegen den Terror“ vom 2.5.2002, in: Blätter für deutsche<br />
und internationale Politik, (2002), S. 763ff.<br />
3) Richard Land, Die Zeit ruft nach Gewalt, in: Rheinischer Merkur vom 13.2.2003.<br />
4) Thomas Kater, Moral zur Unzeit, in: Rheinischer Merkur vom 13.2.2003.<br />
5) KKK 2266.<br />
6) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 56.<br />
7) Renato Martino, Interview mit John L. Allen, in: National Catholic Reporter vom<br />
5.2.2003.<br />
8) Hans Küng, Weltpolitik und Weltethos. Zum neuen Pradigma internationaler Beziehungen,<br />
in: www.bpb.de, 15.3.2003. Vgl. auch sein Interview mit dem Spiegel „Rechtswidrig<br />
und unmoralisch“, in: Der Spiegel vom 17.3.2003, S. 61ff.<br />
9) Andreas Laun, Gott bewahre uns vor diesem Krieg!, in: Kirche heute 2/2003, S. 6;<br />
ders., Amerika gegen Irak: Ein gerechter Krieg?, in: Die Tagespost vom 11.1.2003.<br />
10) Karl Graf Ballestrem, Eine Theorie des gerechten Krieges ist unverzichtbar, in: Politisches<br />
Denken: Jahrbuch 2003, a. a. O., S. 249ff.<br />
11) Thomas von Aquin, Summa theologica, II-II qu 40 a 1. Vgl. auch Josef Rief, Die<br />
bellum-iustum-Theorie historisch, in: Norbert Glatzel / Ernst Josef Nagel, Hrsg., Frieden<br />
in Sicherheit, Freiburg 1981, S. 95ff.<br />
12) Die Deutsche Bischofskonferenz meinte in einer Erklärung vom 20.1.2003 den bevorstehenden<br />
Krieg gegen Saddam Hussein so bewerten zu müssen. Vgl. die Erklärung des<br />
Ständigen Rates „Im Widerspruch zum Völkerrecht“ in: Die Tagespost vom 23.1.2003.<br />
Vgl. auch Thomas Hoppe, Gewaltprävention statt Präventivkriege. Die Lehren des Irakkriegs<br />
und das Bischofswort zum „Gerechten Frieden“, in: Herder-Korrespondenz, 57. Jg.<br />
(2003), S. 227ff. Die amerikanischen Bischöfe neigen in ihrem Statement on Iraq vom<br />
13.11.2002 ebenfalls zu dieser Auffassung, in: www.nccbuscc.org/bishops/iraq. Daß es<br />
sich weder um einen Angriffs- noch um einen Präventivkrieg handelt, unterstreichen dagegen<br />
Lothar Roos, Völkerrecht durchsetzen, in: Rheinischer Merkur vom 13.2.2003 und<br />
G. Weigel, The Just War Case for the War, in: America, vol. 188, Nr. 11 vom 31.3.2003,<br />
S. 8.<br />
13) Hans Küng, Weltpolitik und Weltethos, a.a.O., S. 11; Spiegel-Interview, a.a.O., S. 61.<br />
14) Herfried Münkler, Über den Krieg, Weilerswist 2002, S. 257.<br />
15) Jochen A. Frowein, Terroristische Gewalttaten und Völkerrecht, in: FAZ vom<br />
15.9.2001.<br />
16) Michael Novak, „Asymmetrical Warfare“ and Just War, A moral obligation, in:<br />
www.nationalreview.com vom 10.2.2003. Vgl. auch H. Münkler, a. a. O., S. 252ff.<br />
17) George Weigel, Moral Clarity in a Time of War. The Second Annual William E. Simon<br />
Lecture, in: www.eppc.org<br />
179
18) Vgl. M. Spieker, Zur Aktualität der Lehre vom „gerechten Krieg“. Von nuklearer Abschreckung<br />
zur humanitären Intervention, in: Die Neue Ordnung, 54. Jg. (2000), S. 4ff.<br />
Vgl. auch die Botschaft Papst Johannes Pauls II. zum Weltfriedenstag am 1.1.2000, Ziffer<br />
11.<br />
19) Statement by the Attorney General Lord Goldsmith, in answer to a parlamentary question<br />
vom 18.3.2003, in: www.fco.gov.uk<br />
20) Für Bruno Simma, „Präventivschläge brechen das Völkerrecht“, Interview mit der<br />
Süddeutschen Zeitung vom 1./2.2.2003, war die Resolution 1441 ein „typischer Formelkompromiß“,<br />
der beide Schlußfolgerungen zuließ, die Frankreichs, Chinas und Rußlands,<br />
die ein eigenes „Mandat zum Krieg“ verlangten und die der USA, die dieses Mandat aus<br />
der Resolution 1441 ableiteten. Keinen Auslegungsspielraum sieht dagegen Dietrich<br />
Murswiek, Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, in: Neue<br />
Juristische Wochenschrift 2003, S. 1014ff. in der Resolution 1441. Sie enthalte in keinem<br />
Fall eine Ermächtigung zum Krieg.<br />
21) Vgl. Rat der EKD, „Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik“ vom<br />
6.1.1994, Hannover 1994, S. 28. Auch D. Murswiek, a. a. O., S. 1017 spricht vom „Monopol<br />
des Sicherheitsrates, Zwangsmaßnahmen ... zu treffen“.<br />
22) Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zum Irak-Konflikt vom 13.3.2003, in:<br />
www.dbk.de/presse.<br />
23) KKK 2309. Vgl. dazu auch G. Weigel, a. a. O., S. 4 und ders., The Just War Case for<br />
the War, a. a. O., S. 7ff.; M. Novak, a. a. O., S. 1; Rudolf Pesch, „Der Krieg ist nicht einfach<br />
Schicksal“, in: Heute in Kirche und Welt, 3. Jg. (2003), S. 1.<br />
24) Angelo Kardinal Sodano, Ansprache beim Neujahrsempfang für das Diplomatische<br />
Korps am 16.1.1993. Nr. 13, in: Osservatore Romano (deutschsprachige Wochenausgabe)<br />
vom 29.1.1993, S. 9. Vgl. auch Giuseppe Mattai/Bruno Marra, Dalla guerra all‘ ingerenza<br />
umanitaria, Turin 1994, S. 123ff.<br />
25) Dokumentation der Rede von D. Rumsfeld über die offiziellen Kriegsziele der USA,<br />
in: FAZ vom 24.3.2003.<br />
26) Resolution 687, Punkt 34; Resolution 678, Einleitung.<br />
27) Ein markantes Beispiel für einen solchen Widerspruch ist der Hirtenbrief der deutschen<br />
Bischöfe „Gerechter Friede“ vom 27.9.2000. In Ziffer 1 erklären die Bischöfe, die<br />
Lehre vom gerechten Krieg sei an ein Ende gekommen, in den Ziffern 150 bis 161 bestätigen<br />
sie sie wie selbstverständlich in ihrer Rechtfertigung humanitärer Interventionen.<br />
Vgl. dazu M. Spieker, „Gerechter Friede“. Kritische Anmerkungen zum Hirtenbrief der<br />
deutschen Bischöfe vom 27. September 2000, in: Die Neue Ordnung, 55. Jg. (2001), S.<br />
467ff.<br />
28) KKK 2265.<br />
29) Johannes Paul II., Evangelium Vitae 55.<br />
30) Johannes Paul II., Ansprache an das beim Hl. Stuhl akkreditierte Diplomatische Korps<br />
am 13.1.2003, in: Osservatore Romano (deutschsprachige Wochenausgabe) vom 24.1.<br />
2003, Ziffer 4.<br />
31) Darauf weisen auch die amerikanischen Bischöfe in ihrem Statement on Iraq vom<br />
13.11.2002 hin.<br />
Prof. Dr. Manfred Spieker lehrt Christliche Sozialwissenschaften an der Universität<br />
Osnabrück.<br />
180
Ursula Nothelle-Wildfeuer<br />
„Frieden ist möglich“ – Ist Frieden möglich?<br />
Würde heute noch irgendein ernstzunehmender Zeitgenosse zu sagen wagen, was<br />
vor knapp 20 Jahren Franz Alt mit dem Titel seines heftig umstrittenen Buches<br />
ausdrückte, nämlich: „Frieden ist möglich!“? (F. Alt 1983) Scheint sich nicht derzeit<br />
das Gegenteil eher zu bewahrheiten? Jedes Jahr feiern wir Weihnachten, das<br />
Geburtsfest des menschgewordenen Go ttessohnes. Engel auf dem Felde verkünden<br />
den Menschen den Frieden auf Erden – „Pacem in terris“. Was ist das aber für ein<br />
Frieden, auf den die Menschen seit 2000 Jahren warten und hoffen? Bleibt er reine<br />
Utopie – Utopia im Sinne des Thomas Morus, also ohne Ort, ohne tatsächliche<br />
Realisierungschance in dieser Welt? Oder ist das Gegenteil richtig: Kann der Frieden<br />
hier auf Erden vollständig realisiert werden, wenn die Menschen ihn nur ernsthaft<br />
wollen? Könnte also ein „ewiger Friede“ tatsächlich Wirklichkeit werden?<br />
Für beide Standpunkte scheint es Belege zu geben: Denken wir nur an den nach<br />
1989 sehr schnell wieder geplatzten Traum von einer neuen friedlichen Weltordnung<br />
oder an die Vielzahl der derzeit schwelenden oder ausgebrochenen kriegerischen<br />
Konflikte. All dies scheint Beleg genug dafür zu sein, daß der Friede –<br />
zumindest der vollkommene Friede – tatsächlich ohne Realisierungschance ist und<br />
bleibt. Auf der anderen Seite gibt es die zahlreichen Bemühungen um Lösungen<br />
auf politisch-diplomatischem Weg, die humanitären Interventionen der UNO-<br />
Schutztruppen, die Bemühungen um kleine Schritte auf dem Weg zu Friedensverträgen<br />
und - umfassender - zu mehr Gerechtigkeit und Solidarität weltweit. All dies<br />
signalisiert zumindest, daß Friede nicht gänzlich ortlos ist, daß Fortschritte auf den<br />
Frieden hin möglich sind und auch realisiert werden.<br />
Pointiert gefragt: Was ist also – gerade und speziell aus christlicher Perspektive –<br />
unter Frieden zu verstehen, wenn nicht, wie schon der differenziertere Blick in die<br />
Realität zeigt, die beiden Alternativen „ewiger Friede“ oder „ewige Kriegsgefahr“<br />
zur Bestimmung geeignet sind? Und ferner: Welche Chancen und Grenzen hat eine<br />
christliche Friedensethik heute? Kann sie überhaupt und wenn ja, welchen Beitrag<br />
kann sie zum weltweiten Friedensprozeß unter den komplexen gegenwärtigen<br />
Konditionen leisten, im Kontext einer säkularisierten und individualisierten Gesellschaft,<br />
in der einerseits das Bewußtsein einer christlich-abendländischen Einheit<br />
weitgehend geschwunden ist, in der es einen begrenzten und partikularen, aber<br />
zugleich immer wieder bedrohten und gefährdeten Abrüstungsprozeß gibt, in der<br />
das Vertrauen in die „selbstregulierende Kraft der Faktoren des technischen Zeitalters“<br />
(O. Kimminich 1972, 1118) geschwunden ist, in der andererseits große Hoffnungen<br />
auf kleinen Schritten ruhen, in der das Engagement für sozialethisch<br />
grundgelegte, strukturelle Maßnahmen zur Sicherung des Friedens groß ist und in<br />
der Stück für Stück unverzichtbare Bausteine für eine Kultur des Friedens entwickelt<br />
werden?<br />
181
182<br />
I. Elemente des biblisch-christlichen Friedensverständnisses<br />
Das Verhältnis von Krieg und Frieden war die gesamte Geistesgeschichte über<br />
immer wieder Gegenstand der Reflexion – wenn auch mit unterschiedlicher<br />
Schwerpunktsetzung. So geht die griechisch-römische Antike, etwa seit Homer,<br />
davon aus, daß der Krieg der Normalzustand ist und der Friede lediglich dessen<br />
von den Göttern verfügte Unterbrechung – also eine Art unproduktives „Pausenprogramm“<br />
der Weltgeschichte, das eigentlich gar nicht wünschenswert war, weil<br />
doch galt: „polemos pater hapanton“ – „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, wie<br />
der griechische Philosoph Heraklit im 5. Jahrhundert vor Christus meint. Erst im<br />
Laufe der weiteren Entwicklung wuchs dann langsam die Einsicht in das Unwesen<br />
des Krieges, so daß man allmählich zu einer positiveren Wertung des Friedens kam<br />
bis hin zu der Auffassung bei Hesiod, daß die „Eirene (die Göttin des Friedens),<br />
zusammen mit Eunomia (der Göttin des guten Auftrags, der guten Ordnung ...) und<br />
Dike (der Göttin der Gerechtigkeit) zu den das menschliche Tun umhegenden<br />
Mächten zählt“ (E. Biser 1972, 1115). Wichtig daran ist: Friede ist nicht das Produkt<br />
menschlicher Friedfertigkeit, sondern schicksalhaftes Geschenk.<br />
Im Alten Testament fungiert das Wort „shalom“ in ähnlicher Weise als Bezeichnung<br />
für die umfassende daseinssichernde Funktion des Friedens – dies sowohl als<br />
Gegenbegriff zu den äußeren Formen wie z. B. Krieg, Kampf und Streit als auch<br />
zu den inneren Übeln wie Angst, Schrecken und Sünde (vgl. ebd.). Frieden ist<br />
darum bereits hier – und das erweist sich als ein bleibendes Element der Bedeutungsgeschichte<br />
– mehr als bloß die Abwesenheit von Krieg. Frieden ist für die<br />
Menschen des alten Bundes Ausdruck für das Leben „in Freiheit, Gerechtigkeit<br />
und Sicherheit. Diesen Frieden sahen sie im Bund mit Gott gewährleistet“ (Die<br />
Deutschen Bischöfe 1983, Gerechtigkeit schafft Frieden, 12), und dessen Kommen<br />
erwarteten sie ausschließlich durch Gottes geschichtsmächtiges Wirken. Die neutestamentlichen<br />
Schriften lassen bei aller Unterschiedlichkeit in der Akzentuierung<br />
klar erkennen, daß die christliche Heilsbotschaft insgesamt als die Botschaft vom<br />
Frieden zu verstehen ist. „Jesus ist der Friedensbote Gottes, der in seinem Wirken,<br />
in Wort und Tat, Gottes befreiende Königsherrschaft nahe bringt und damit<br />
zugleich neue Beziehungen unter den Menschen ermöglicht.“ (Ebd., 14) Der Frieden<br />
mit Gott durch Jesus Christus ist ein Frieden, den die Welt nicht geben kann;<br />
er basiert auf Kreuz und Auferstehung Jesu Christi. Neutestamentlich wird dieser<br />
Frieden verstanden als endgültige Versöhnung mit Gott, durch die ein neues Ve rhältnis<br />
des Menschen zu Gott, zu den Mitmenschen und zu sich selbst begründet<br />
wird. „Wo die Menschen Gott zu seinem Recht kommen lassen, da sind die notwendigen<br />
Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben gegeben.“ (F.<br />
Böckle 1986, 751)<br />
Da Frieden gleichsam zum Synonym für das Heilswerk Jesu Christi geworden ist,<br />
folgt daraus für die Menschen in der Nachfolge Jesu, daß die Sorge um den Frieden<br />
und das dementsprechende Friedenshandeln, so unvollkommen es auch bleiben<br />
mag, deren vordringlichste Aufgabe ist. Diese christlich-theologischen Motive<br />
sind es, die die Entwicklung der Reflexion über den Frieden und die Entstehung<br />
verschiedener Theorien maßgeblich und vorrangig beeinflußt haben. Dabei gab es
ein dialektisches Fortschreiten, das sich bewegte zwischen einer stärker paulinisch<br />
begründeten Akzentuierung der Subjektivität des Friedens, seiner Verortung im<br />
Herzen des einzelnen und einer stärkeren Betonung der Vorstellung vom Frieden<br />
als einer universalen sozialen Friedensordnung der Welt, eine Friedensvorstellung,<br />
wie sie sich alttestamentlichen Wurzeln verdankt.<br />
Es gibt also einen tugendethischen und einen institutionell-strukturell-politischen<br />
Friedensbegriff. Aber es ist letztlich erst die Zusammenschau beider Dimensionen<br />
– der eher individuellen und der mehr sozialen –, die die Bedeutung der christlichen<br />
Botschaft für die Frage nach dem Frieden angemessen und umfassend in den<br />
Blick bringt. Ganz entsprechend dem christlichen Verständnis vom Menschen als<br />
Individual- und Sozialwesen sind sowohl das Friedensethos des einzelnen als auch<br />
das Bemühen um Strukturen zur Friedenssicherung, -erhaltung und -förderung im<br />
Sinne des umfassenden Friedensauftrages des Evangeliums unverzichtbar. Zudem<br />
weiß der christliche Glaube auch darum, daß der Mensch von Anbeginn an in einer<br />
durch seine Freiheit gegebenen Spannung lebt: „Die ganze Geschichte der<br />
Menschheit durchzieht ein harter Kampf gegen die Mächte der Finsternis, ein<br />
Kampf, der schon am Anfang der Welt begann und nach dem Wort des Herrn bis<br />
zum letzten Tag andauern wird“ (GS 37).<br />
Das bedeutet, daß der Mensch „mit dem Feuer … nicht nur (hat) wärmen und<br />
kochen, sondern auch verbrennen und brandschatzen können; mit dem Stein …<br />
Nahrung vorbereiten und schneiden …, aber auch den Mitmenschen verwunden<br />
und töten (hat) können. Menschwerden heißt immer Aufbrechenkönnen in sehr<br />
verschiedene, ja gegensätzliche Möglichkeiten. So kann der Mensch ‚dem Menschen<br />
zum Wolf’, aber auch zum Bruder werden.“ (Gerechtigkeit schafft Frieden,<br />
38 f). Die christliche Lehre vom Menschen weiß mithin um die Sündhaftigkeit des<br />
Menschen und zugleich um sein Erlöstsein in Christus. Dies bedeutet für unsere<br />
Frage nach dem Frieden, daß der endgültige Friede nicht vom Menschen herstellbar<br />
ist, sondern von Gott geschenkt wird, daß er sich auch nicht in irgendeiner von<br />
Menschen erdachten und konstruierten politischen Ordnung realisiert, denn auch<br />
jeder Ordnung haftet der Makel der Fehlbarkeit und Unvollkommenheit an.<br />
Um diese theologische Deutung der Friedensmöglichkeit besser verstehen zu können,<br />
die auf den ersten Blick nicht sehr euphorisch klingt, muß man auf das Element<br />
der eschatologischen Spannung verweisen, in das alles Handeln des Menschen<br />
eingebunden ist. Gott hat uns erlösungsbedürftigen Menschen den Frieden in<br />
und durch seinen Sohn endgültig verheißen, er ist zwar jetzt bereits angebrochen,<br />
aber noch nicht vollendet. Das bedeutet, daß Gott uns mit seiner Friedensbotschaft<br />
dazu auffordert, diesen Frieden in den konkreten irdischen Verhältnissen Wirklichkeit<br />
werden zu lassen, dies aber in dem vertrauensvollen und gläubigen Wissen<br />
darum, daß auch ein „Minimalprogramm“ in der Welt schon Achtung verdient, daß<br />
dann also auch „schon viel gewonnen (ist), wenn das Schlimmste verhindert wird,<br />
der Krieg nicht ausbricht, grobe Ungerechtigkeiten beseitigt werden, bestimmte<br />
Grundwerte anerkannt sind und die Menschen um die Verbesserung der Verhältnisse<br />
ringen“ (L. Roos 1984, 106). Gemildert wird dadurch zugleich auch der „moralische<br />
Hochleistungsdruck“, der in der christlich-theologisch voll und ganz zu<br />
unterstützenden Forderung nach Engagement für den Frieden entstehen kann – dies<br />
183
auch in der zutiefst christlichen und entlastenden Überzeugung, daß das Reich<br />
Gottes letztlich nicht vom Menschen abhängt und von Menschenhand zu produzieren<br />
ist, sondern umfassend von einem anderen her geschenkt und vollendet wird.<br />
Andererseits darf natürlich gerade der Christ angesichts der bleibenden Herausforderung<br />
durch den Frieden nicht die Hände in den Schoß legen und resignieren,<br />
sondern muß darauf vertrauen, daß sein Tun nicht sinnlos ist, sondern daß alles,<br />
was er zur Verbesserung irdischer Verhältnisse beiträgt, zumindest eine „adumbratio“<br />
(GS 39) ist, einen „Schimmer“ (LE 27) des neuen Himmels und der neuen<br />
Erde erfahrbar machen wird.<br />
184<br />
II. Grundelemente einer christlichen Friedensethik<br />
Diese skizzierten biblisch-theologischen Elemente, die Erkenntnis also, daß nicht<br />
„ewiger Frieden“ von uns machbar, sondern ein Geschenk ist, daß aber Schritte auf<br />
dem Weg zur Realisierung von Frieden grundsätzlich möglich und deswegen auch<br />
notwendig sind, bilden die Grundlage und Motivation für jedes christliche Friedensengagement.<br />
Weil der Friede grundsätzlich möglich ist, ist er, so Papst Paul<br />
VI. in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 1973, auch eine Pflicht. Es war aber<br />
bereits sein Vorgänger im Papstamt , Johannes XXIII., der 1963 in dem päpstlichen<br />
Rundschreiben „Pacem in terris“ die moderne theologisch-kirchliche wie sozialethische<br />
Antwort auf die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Krieg und<br />
Frieden geprägt hat. Die Veröffentlichung dieser sog. Friedensenzyklika jährt sich<br />
in diesem Jahr mithin zum vierzigsten Mal. Sie ist nach der Enzyklika „Mater et<br />
magistra“ von 1961, die von der Frage nach der gesellschaftlichen Ordnung – auch<br />
mit Bezug auf die internationale Ebene – handelt, die zweite Sozialenzyklika des<br />
Konzils -Papstes. Sie wurde kurze Zeit nach Beginn des II. Vatikanums und wenige<br />
Monate vor dem Tod Johannes XXIII. veröffentlicht und fällt – politisch betrachtet<br />
– in die Hochzeit des Kalten Krieges und in die Zeit des weltweiten Schocks, den<br />
die Kuba-Krise ausgelöst hatte. Die Enzyklika stellt im Konzert der sog. „Sozialenzykliken“<br />
der Päpste, deren erste im Jahr 1891 unter dem Titel „Rerum novarum“<br />
erschien, thematisch ein Novum dar: Ging es bis dahin – wenn auch in stets<br />
erweiterter Form – doch immer um die „klassischen“ sozialen Fragen etwa im<br />
Sinne der Frage nach den Arbeitern, nach der Gesellschaftsordnung und der gesellschaftlichen<br />
Entwicklung, so kommt nun mit dem Bereich der politischen Ethik<br />
und speziell des Friedens als Ziel der Politik ein ganz neuer, gerade damals hochaktueller<br />
Fragenkreis in den Blick der Sozialverkündigung der Kirche. Damit markiert<br />
sie einen Wendepunkt in der kirchlichen Lehre zum Thema Frieden. Man<br />
kann sie als die entscheidende neuzeitliche Antwort von Theologie und Kirche auf<br />
die Frage nach dem Frieden bezeichnen, in deren Tradition alle weiteren kirchlichen<br />
und theologischen Äußerungen zu dieser Thematik zu lesen sind. Was ist nun<br />
das Neue an dieser Enzyklika, das fortan als Bausteine einer christlichen Friedensethik<br />
der Gegenwart unverzichtbar geworden ist?<br />
1. Abwendung von der Dominanz der iustum-bellum-Lehre<br />
Ein erster Akzent läßt sich mit Blick auf die klassische Lehre vom „gerechten<br />
Krieg“ formulieren. Diese „iustum bellum“-Theorie, die im christlichen Kontext
erstmals von Augustinus formuliert und dann vor allen Dingen von Thomas von<br />
Aquin, aber auch von den Spätscholastikern in ihrer christlichen Gestalt weiter<br />
ausgearbeitet wurde, geht davon aus, daß „jeder Krieg ein Übel und deshalb zu<br />
vermeiden ist, es sei denn, es erweise sich zur Abwehr eines schweren Unrechts als<br />
unumgänglich.“ (M. Spieker 2000, 6) Damit aber auf keinen Fall leichtfertig dieser<br />
Fall konstruiert werde, wurden im Kontext dieser Lehre einige sehr klare Kriterien<br />
entwickelt, die erfüllt sein müssen, um überhaupt den Einsatz von Waffen zu erlauben,<br />
Kriterien wie z. B. Anordnung durch eine rechtmäßige staatliche Autorität,<br />
Abwehr einer lebens- oder rechtsbedrohlichen Aggression, der Krieg als ultima<br />
ratio, also als letzte Möglichkeit, nachdem alles andere versucht wurde, die Ve rhältnismäßigkeit<br />
der Mittel, die Erfolgswahrscheinlichkeit, die Kontrollierbarkeit<br />
des Waffeneinsatzes und die Immunität der Nichtkombattanten. An dieser Stelle<br />
soll und kann nun nicht behauptet werden, diese Lehre sei einfachhin abgeschafft 1 ,<br />
spielt sie doch bleibend eine Rolle im Fall eines Angriffs oder – und damit kommt<br />
eine neue Dimension hinzu – im Kontext der Debatte um die Abwehr schlimmster<br />
Menschheitsverbrechen, wie eines Völkermordes (vgl. Erklärung der Deutschen<br />
Bischofskonferenz zum Irak-Krieg 2003), also hinsichtlich der Begründung von<br />
humanitären Interventionen. In Anlehnung an und zugleich in bewußter und pointierter<br />
Unterscheidung von der klassischen Lehre vom „gerechten Krieg“ geben<br />
auch die deutschen Bischöfe im Jahr 2000 ein friedensethisches Schreiben mit dem<br />
Titel „Gerechter Frieden“ heraus. Aber die Enzyklika „Pacem in terris“ setzt andere,<br />
fundamentalere Akzente.<br />
2. Krieg im Atomzeitalter<br />
Erstmalig wird hier deutlich die Erkenntnis artikuliert, „daß Krieg im Atomzeitalter<br />
nicht als Instrument zur Lösung von Konflikten eingesetzt werden darf“ (G.<br />
Crepaldi 2003, 10). „Es darf nicht gestattet werden“, so schreibt Papst Johannes<br />
XXIII. mit Bezug auf seinen Vorgänger Pius XII., „daß das Grauen eines Weltkrieges<br />
mit seiner wirtschaftlichen Not, seinem sozialen Elend und seinen sittlichen<br />
Verirrungen zum dritten Mal über die Menschheit komme“ (PT 112).<br />
3. Die (An)Erkenntnis der Bedeutung der Menschenrechte für den inneren und<br />
äußeren Frieden als Novum christlicher Friedensethik<br />
Angesichts dieser qualitativ neuen Situation kann nun nicht länger – (neu)scholastischer<br />
Naturrechtslehre gemäß – gelten, daß der Krieg – wenn auch als ultima<br />
ratio – lediglich die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist bzw. – klassischem<br />
Völkerrecht gemäß – daß das Recht zum Krieg als Konsequenz der staatlichen<br />
Souveränität gesehen wurde. Will die Kirche nun ihrer umfassenden Ve rpflichtung<br />
zur Sorge um den Frieden nachkommen unter den Konditionen unserer<br />
zunehmend globalisierten und pluralistischen Gesellschaft, in der es kein einheitliches<br />
Verständnis von „Gerechtigkeit“ mehr gibt, gilt es folglich, einen anderen<br />
Ansatz für eine Friedensethik zu finden.<br />
Das Kernstück und absolute Novum der Enzyklika bildet dabei der umfassende<br />
und differenzierte Rekurs auf die Menschenrechte als entscheidender Schritt, um<br />
Frieden im Zusammenleben zwischen den Völkern zu begründen und zu sichern.<br />
Hier kristallisieren sich alle drei menschenrechtlichen Grundformen als relevant<br />
185
heraus: sowohl die individuellen Freiheitsrechte, die politischen Teilhaberechte als<br />
auch die sozialen Grundrechte. Die Sicherung dieser Menschenrechte ist nach<br />
„Pacem in terris“ die entscheidende Voraussetzung des inneren wie äußeren Friedens<br />
des politischen Gemeinwesens. Dabei werden die Menschenrechte von ihrer<br />
Grundstruktur als naturgegebene, zu respektierende, unteilbare und allgemeingültige,<br />
nicht nur auf die einzelnen Personen bezogen, sondern auch in analoger Weise<br />
auf Nationen und staatliche Gemeinschaften übertragen.<br />
Diese Aussage von der Bedeutung der Menschenrechte für den inneren und äußeren<br />
Frieden ist, wenn man so will, die These der Sozialenzyklika. Stellen die Menschenrechte<br />
nun – wie der Mainzer Sozialethiker Arno Anzenbacher formuliert –<br />
das Projekt der Moderne dar, so hat die Kirche damit endgültig ihren in der weltanschaulich<br />
theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzung bedingten<br />
Vorbehalt gegenüber dem Menschenrechtsdenken überwunden, die<br />
Menschenrechte in umfassender Weise rezipiert und folglich mit der Neuzeit ihren<br />
Frieden geschlossen. Dies ist noch einmal von besonderer Relevanz, wenn man<br />
sich daran erinnert, „wie bis weit in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts (sc.<br />
des 20. Jahrhunderts. Anm. d. Verf.) katholischerseits die Idee der Menschenrechte<br />
als Sache der ‚Aufklärung’ verdächtigt, die Pressefreiheit als Forderung ‚liberaler’<br />
Gesellschaftsauffassung, überhaupt die Vereinbarkeit der freiheitlichen Demokratie<br />
mit der katholischen Soziallehre bestritten wurde.“ (J. Messner 1963, 349)<br />
Mit dem Bemühen von „Pacem in terris“, die Menschenrechte in einen christlichen<br />
und damit von anderen Deklarationen unterscheidbaren Zusammenhang zu integrieren,<br />
wurde eine wesentliche Entwicklung im Sinne einer Annäherung an die<br />
bereits zweihundert Jahre existierende Menschenrechtsbewegung in Gang gesetzt:<br />
Nachdem die Einseitigkeit der Menschenrechte – in der französischen Revolution<br />
rationalistisch verengt gegen die Religion und politisch verengt dem Staat gegenüber<br />
– aufgehoben bzw. weitgehend gemildert worden war, hat die Kirche sich nun<br />
„die .. Menschenrechte ... zu eigen gemacht“. Theologisch korrekter muß man<br />
sagen, daß die Kirche auf diesem Wege „die wohlverstandenen Menschenrechte<br />
als echte, nur eine Zeitlang verschüttet gelegene Bestandteile ihres eigenen Menschenbildes<br />
wiedererkannt“ (Nell-Breuning 1983, 113) hat.<br />
4. Die Würdigung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948<br />
15 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 gibt die<br />
Kirche mit der Enzyklika „Pacem in terris“ mithin ihrerseits eine (kirchliche) Menschenrechtserklärung<br />
ab. Johannes XXIII. verweist dabei auf diese „Allgemeine<br />
Erklärung der Menschenrechte“ als „Akt von höchster Bedeutung. … In der Präambel<br />
dieser Erklärung wird eingeschärft, alle Völker und Nationen müßten in<br />
erster Linie danach trachten, daß alle Rechte und Formen der Freiheit, die in der<br />
Erklärung beschrieben sind, tatsächlich anerkannt und unverletzt gewahrt werden.“<br />
(PT 143) Zwar verweist der Text in der nächsten Nummer der Enzyklika darauf,<br />
„daß gegenüber einigen Kapiteln dieser Erklärung mit Recht von manchen Einwände<br />
geäußert worden sind.“ Ein entscheidendes Problem, das hier aber nicht<br />
näher angesprochen wird, betrifft wohl die Tatsache, daß in dieser Erklärung der<br />
Vereinten Nationen mit keinem Wort und an keiner Stelle Bezug auf Gott genommen<br />
wird. Dies war wohl der entscheidende Grund für das lange Schweigen der<br />
186
Päpste zu der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, wobei dies<br />
keine prinzipielle Ablehnung der Menschenrechtsidee prinzipiell (mehr) bedeutete,<br />
denn bereits Papst Pius XII. hatte während des Zweiten Weltkrieges mehrmals<br />
ausdrücklich die Einhaltung der Menschen- und Grundrechte gefordert. „Pacem in<br />
terris“ kommt nun aber zu einer ausdrücklichen Würdigung dieser Erklärung, die<br />
„gleichsam als Stufe und als Zugang zu der zu schaffenden rechtlichen und politischen<br />
Ordnung aller Völker auf der Welt“ (PT 144) betrachtet wird. „Denn durch<br />
sie wird die Würde der Person für alle Menschen feierlich anerkannt, und es werden<br />
jedem Menschen die Rechte zugesprochen, die Wahrheit frei zu suchen, den<br />
Normen der Sittlichkeit zu folgen, die Pflichten der Gerechtigkeit auszuüben, ein<br />
menschenwürdiges Dasein zu führen.“ (PT 144)<br />
5. Die Fundierung der Menschenrechte in der persona humana als Spezifikum<br />
christlicher Friedensethik<br />
Wenn auch die Liste der in der Enzyklika aufgezählten Rechte der Liste der einzelnen<br />
Menschenrechte, wie sie sich in der Erklärung der Vereinten Nationen<br />
findet, stark vergleichbar ist, so handelt es sich bei „Pacem in terris“ doch um<br />
wesentlich mehr als um eine bloße Abschrift dieser Erklärung. Die christlichlehramtliche<br />
Interpretation der Menschenrechte hat – wie die bereits zitierten Stellen<br />
aus der Enzyklika belegen – ihren Ansatzpunkt ausdrücklich bei dem Ve rständnis<br />
des Menschen als Person. Die Menschenrechte basieren darauf, „daß jeder<br />
Mensch seinem Wesen nach Person ist.“ Sie hat, so heißt es in der Enzyklika weiter,<br />
„eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist“ (PT 9). Damit<br />
bildet die persona humana, d. h. der Mensch als moralisches, zur Verantwortung<br />
fähiges Subjekt die konstitutive Kategorie christlichen Menschenrechtsdenkens<br />
und damit auch christlicher Friedensethik. Bei der Grundlegung des Personbegriffs<br />
geht Johannes XXIII. dann auch – nicht vorrangig, aber dennoch unüberhörbar<br />
– einen spezifisch theologischen Weg, indem er die Würde der menschlichen<br />
Person christologisch und soteriologisch herleitet, erst durch das Erlösungsgeheimnis<br />
wird dem Menschen – wie es später die Pastoralkonstitution des II.<br />
Vatikanums formulieren wird – seine Würde erst wieder geschenkt und voll bewußt<br />
gemacht. 2<br />
Daß als Konsequenz dieser Würde des Menschen die Menschenrechte überpositiv<br />
sind, d. h. sie als transzendenter Grund den einzelnen positiven Gesetzesnormen<br />
vorausliegen und von den Staaten nur anerkannt, nicht aber großzügig gewährt<br />
bzw. bei vorgeblicher politischer Notwendigkeit auch wieder abgeschafft werden<br />
können, ist ein zentraler Punkt in diesem Verständnis der Menschenrechte. Wenn<br />
auch die Allgemeine Erklärung aufgrund des Bemühens um Offenheit für plurale<br />
Deutungen keine Autoritäts- und Begründungsquelle angeben konnte, so ist dort<br />
dennoch in ganz ähnlicher Weise die Rede von der „Anerkennung“ der Würde und<br />
Rechte des Menschen als Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden.<br />
6. Die gleichursprüngliche Betonung der Rechte und Pflichten des Menschen als<br />
Spezifikum der christlichen Friedensethik<br />
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erklärt sich auch ein weiterer Gesichtspunkt<br />
zur spezifischen Konzeption in „Pacem in terris“: Waren die Menschenrech-<br />
187
te ursprünglich, zumindest in ihrer französischen und sich daran anschließenden<br />
deutschen Ausformung, konzipiert als Block, der die sie fordernden Menschen in<br />
eine Abwehrhaltung dem Staat und der Gesellschaft gegenüber brachte und ihnen<br />
zugleich Schutz vor diesen bieten sollte, so greift in dieser Enzyklika nun eine eher<br />
integrierende Vorstellung: Die im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende personale<br />
Realität des Menschen ergibt sich eben durch die gleichzeitige und das bedeutet<br />
gleichursprüngliche Beachtung der Rechte und Pflichten. Den Pflichten widmet<br />
der Text am Ende eines jeden Teils jeweils ein eigenes Kapitel. Zwischen beiden –<br />
den Rechten und den Pflichten – besteht eine Reziprozität sowohl bezüglich des<br />
Verhältnisses zwischen den eigenen Rechten und den entsprechenden Pflichten der<br />
anderen als auch des Verhältnisses zwischen den Rechten und Pflichten des jeweiligen<br />
Trägers selbst.<br />
Allerdings ist hier dennoch ein gravierender Unterschied zwischen den Rechten<br />
und Pflichten zu bedenken: Die Pflichten sind eher auf einer überpositiven Ebene<br />
anzusiedeln, denn entspräche dem jeweiligen Freiheitsrecht eine adäquate Pflicht,<br />
so wäre genau die Freiheit gefährdet, um deren Schutz es geht. Die Rede von den<br />
Pflichten vermittelt in differenzierter Form eine bedeutende Aufforderung an die<br />
einzelnen, ihre moralische Verantwortung für das Gemeinwohl wahrzunehmen. (K.<br />
Hilpert 1991, 162-167)<br />
Durch diese fundamentale soziale Einbindung ist der Gefahr gewehrt, daß die<br />
Kirche sich einem liberalistischen Individualismus, der überdies längst an Relevanz<br />
verloren hat, anpaßt. Diese spezielle, auf Integration von Individuum und<br />
Sozialgebilde ausgerichtete Akzentuierung der Konzeption erfährt noch einmal<br />
eine deutliche Bestätigung durch die Betonung eines Rechts, das sich in den anderen<br />
„profanen“ Erklärungen kaum findet, nämlich das „mit der Würde der menschlichen<br />
Person“ verknüpfte „Recht ..., am öffentlichen Leben aktiv teilzunehmen<br />
und zum Gemeinwohl beizutragen.“ (PT 26) Es handelt sich hierbei um ein soziales<br />
Grundrecht, neuere Dokumente der kirchlichen Soziaverkündigung sprechen in<br />
dem Bemühen, das damit ausgedrückte Verständnis von sozialer Gerechtigkeit<br />
adäquat wiederzugeben, von „partizipativer“ resp. von „kontributiver“ Gerechtigkeit.<br />
Damit wird zugleich der Bogen geschlagen zu der Definition des Thomas von<br />
Aquin, demzufolge Frieden das Werk der Gerechtigkeit ist.<br />
7. Der friedensethische Ansatz bei den Menschenrechten als spezifisch sozialethischer<br />
Ansatz<br />
Daß die Kirche in und mit „Pacem in terris“ ihren Frieden mit der Neuzeit gemacht<br />
hat, dokumentiert sich auch darin, daß mit dem Ansatz bei den Menschenrechten<br />
im Unterschied zum klassischen, eher individualethischen ein spezifisch sozialethischer<br />
Zugang zur Friedensproblematik gewählt worden ist: „(I)m Zuge der neuzeitlichen<br />
‚Wende der Vernunft nach außen’“ erkennt sich der Mensch „als Subjekt<br />
der ihm zur Erkenntnis und Gestaltung aufgegebenen Wirklichkeit.“ (W. Korff<br />
1999, 213). Nicht mehr nur rein tugendethisch orientiertes Handeln des Menschen<br />
in einer fest gefügten Gesellschaftsordnung „prästabilierter Harmonie“ ist die Aufgabe<br />
des Menschen, sondern die „gesellschaftliche Realität mit ihren mannigfaltigen<br />
handlungsbestimmenden Strukturen“ (W. Korff 1999, 213) selbst ist Gegenstand<br />
menschlichen Erkennens und Handelns. Genau diese sozialstrukturelle Seite<br />
188
der ethischen Frage ist Gegenstand der christlichen Sozialethik. Die Menschenrechte<br />
stellen nun die fundamentalen Strukturelemente dar, auf deren Basis eine<br />
gesellschaftliche Ordnung rekonstruiert werden kann, die sich an der regulativen<br />
Idee des Friedens orientiert. Dem voraus- und zugrunde liegt die Würde des Menschen,<br />
die den beständigen Bezugs- und Orientierungspunkt dieses Handelns konstituiert.<br />
Frieden läßt sich – und diese Erkenntnis ist das Fundament von „Pacem in terris“ –<br />
also in der Komplexität und Vernetzung, wie sie die Weltsituation seit dem 2.<br />
Weltkrieg und speziell die gegenwärtige kennzeichnen, nicht (mehr) allein durch<br />
Appelle an die Moralität und an das sittlich verantwortete Verhalten der einzelnen<br />
Bürger bewerkstelligen. So hatte etwa Thomas von Aquin – lange wegweisend –<br />
die Friedensthematik in der „Summa theologiae“ im Kapitel über die Tugenden<br />
abgehandelt.<br />
Wenngleich dieser Zugang durchaus von Bedeutung bleibt, so lenkt „Pacem in<br />
terris“ den Blick primär – der Struktur modernen Handelns gemäß – auf die Strukturen,<br />
auf die politische und rechtliche Dimension der Problematik, d. h. auf die<br />
Bedingungen, unter denen tugendhaftes friedvolles Verhalten der Bürger stattfinden<br />
kann. „Pacem in terris“ sucht also mit dieser spezifischen Akzentuierung, auf<br />
der Basis unverzichtbarer ethischer Standards politisch und rechtlich verantwortbare<br />
Lösungen zu finden für ein Problem, das die Menschheit von alters her belastet.<br />
Zugleich zeigt diese Betonung der Dimension der gerechten Strukturen sowie des<br />
Zusammenhangs von der Achtung der Menschenrechte und dem Frieden eine grosse<br />
Nähe zu jenem Friedenskonzept des Völkerrechts und besonders zur Charta der<br />
Vereinten Nationen an, das abzielt auf „eine an der Rechtsidee orientierten institutionellen<br />
Gestaltung internationaler und globaler Politik“. (K. Dicke 2000, 29 f)<br />
III. Implementation der christlichen Friedensethik<br />
Eine Friedensethik bleibt immer unvollständig, wenn nicht Überlegungen zur Implementierung<br />
der ethischen Aspekte und Forderungen im gesellschaftlichen Denken<br />
und Handeln angestellt werden. Abschließend sollen hier einige unverzichtbare<br />
Elemente einer Kultur des Friedens entwickelt werden.<br />
Dabei ist formal auszugehen von einer Ethik-Konzeption, die sowohl Elemente<br />
eines individuellen, auf den Habitus der einzelnen abzielenden Friedensethos enthält,<br />
als auch institutionelle, strukturelle und rechtliche Aspekte.<br />
1. Dialog<br />
„Ein Krieg beginnt nie erst, wenn geschossen wird; er endet nicht, wenn die Waffen<br />
schweigen. Wie er längst vor dem ersten Schuß in den Köpfen und Herzen von<br />
Menschen begonnen hat, so braucht es lange Zeit, bis der Friede in den Köpfen<br />
und Herzen einkehrt.“ (Gerechter Frieden, Nr. 108) Wenn die Waffen aber schweigen,<br />
bedarf es zunächst des Dialoges, damit der Frieden in die Herzen und Köpfe<br />
der Menschen einkehren kann. Nicht von ungefähr wendet sich „Pacem in terris“<br />
erstmalig in der Reihe der Adressaten auch an „alle Menschen guten Willens“, lädt<br />
also ein zum Dialog mit allen Menschen auf der Welt einzutreten, die mit den<br />
Christen die Sorge um das Leben der Menschen, die Gestaltung von gesellschaftli-<br />
189
cher und internationaler Ordnung und das Bemühen um Frieden auf der Erde teilen.<br />
Daß dies gerade nach den Ereignissen des 11. September 2001 höchste Priorität<br />
auf der Agenda hat, liegt auf der Hand. Zur Friedenssicherung und zum Friedenserhalt<br />
sind vor allem auch alle Formen des institutionalisierten Dialogs unverzichtbar.<br />
Die innerstaatliche Demokratie bedarf der öffentlichen Debatte und dokumentiert<br />
damit gleichzeitig die Korrekturfähigkeit im Blick auf wirtschaftliche,<br />
politische und gesellschaftliche Entscheidungen. Auf internationaler Ebene sind<br />
hier die Einrichtungen wie OSZE und UNO mit ihren institutionalisierten Formen<br />
der Konsultation und Kooperation zu nennen.<br />
2. Gemeinwohl und Menschenpflichten<br />
Die Menschenrechtskonventionen können – und hier klingt das hinreichend bekannte<br />
Böckenförde-Dilemma an – die sittlichen Voraussetzungen, von denen sie<br />
und damit auch der Frieden leben, nicht selber produzieren und garantieren. Es<br />
bedarf also notwendig der Moralität der Gesellschaftsmitglieder, des Gemeinsinns,<br />
eines Grundkonsenses bezüglich des Wertesystems. Dieser Grundkonsens darf in<br />
keiner utilitaristischen Weise einem möglichen Mehrheitsvotum der Gesellschaft<br />
geopfert werden, daß die Menschenwürde und Menschenrechten anderen Interessen<br />
unterzuordnen versucht.<br />
Die Etablierung einer Kultur des Friedens auf der Basis von Menschenrechten hat<br />
viel mit der Glaubwürdigkeit der Beteiligten zu tun (vgl. K. Dicke 2000). Ein kurzer<br />
Blick auf die Gesellschaft der Bundesrepublik zeigt, daß sich im Blick auf die<br />
Grundrechte zunehmend eine Haltung breit macht, die Grund- und Bürgerrechte<br />
nur noch als (Rechts-)Ansprüche interpretiert (vgl. K. Dicke 2000, 31). Das Bewußtsein<br />
für die Pflichten ist nahezu völlig geschwunden ist. Damit ist die moralische<br />
Basis der Menschenrechte von Erosion und Verfall bedroht.<br />
An dieser Stelle setzt zur Lösung dieses uralten und immer wiederkehrenden, jetzt<br />
aber neu und intensiv diskutierten Problems des Verhältnisses zwischen Rechten<br />
und Pflichten etwa der Versuch an, die Pflichten der Menschen zu dekretieren – so<br />
etwa die Menschenpflichtenerklärung von 1997. Deren Intention ist es, durch eine<br />
Besinnung auf die Menschenpflichten die Realisierung der Menschenrechte zu<br />
fördern. „Eine Menschenpflichten-Erklärung“, so heißt es dazu bei Hans Küng, der<br />
intensiv an der Entstehung dieser Erklärung beteiligt war, „unterstützt und untermauert<br />
die Menschenrechte-Erklärung vom Ethos her“. (H. Küng 1997, 97.)<br />
Zugleich zeigt aber ein Blick in die Geschichte, wie groß die Gefahr ist, daß autoritäre<br />
Regime auf der Basis eines verpflichtend gemachten Tugend- und Pflichteethos<br />
Terror ausüben. Aus der Perspektive der Ethik erwächst genau an dieser<br />
Stelle ebenfalls ein Problem, denn das Menschenrechtsethos ist ein Ethos der Freiheit<br />
und der Selbstbestimmung, mit dessen Intention es sich im Kern nicht vereinbaren<br />
läßt, Pflichten zu dekretieren.<br />
3. Die Kodifikation von Menschenrechtsstandards<br />
Zur Implementierung des geforderten Menschenrechtsbewußtseins bedarf es ferner<br />
– ganz im Sinne der oben genannten spezifisch sozialethischen, auf Strukturen<br />
angelegten Sichtweise – der Kodifikation von Menschenrechtsstandards in nationa-<br />
190
len und internationalen Abkommen, wie dies vielfach im Sinne einer Fortschreibung<br />
und Konkretisierung der Menschenrechte schon geschehen ist.<br />
4. Demokratie und Sozialstaat<br />
Thomas von Aquin bestimmt den Frieden als Werk der Gerechtigkeit. Versteht man<br />
nun Gerechtigkeit als Bemühen, dafür Sorge zu tragen, daß jeder Mensch ein Leben<br />
in Würde führen kann und sich in seiner Existenz angemessen entfalten kann,<br />
dann schließt sich der gedankliche Kreis zur Rolle der Menschenrechte. Wenn der<br />
Staat diese Aufgabe erfüllt, dann kommt die sozialstaatliche und demokratische<br />
Dimension des Gemeinwesens zum Tragen und es wird offenkundig, welche bedeutende<br />
Rolle diese Dimensionen für die Friedenssicherung spielen.<br />
5. Humanitäre Interventionen<br />
Zur Implementierung eines Menschenrechtsethos und -bewußtseins als Fundament<br />
des Friedens gehören notwendig auch strukturelle politische oder rechtliche Maßnahmen<br />
zur Durchsetzung der Menschenrechte. Daraus ergibt sich nun die Notwendigkeit,<br />
über das im Rahmen unserer Überlegungen zum Frieden fundamentale<br />
Problem der humanitären Interventionen nachzudenken:<br />
Aufgrund von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen stellt sich zunehmend<br />
die Frage, ob Menschenrechte zur Not auch mit Gewalt, mit militärischer<br />
Gewalt durchgesetzt werden können und wie sich dieser Eingriff mit dem Selbstbestimmungsrecht<br />
der Völker und dem Interventionsverbot – als Prinzipien der<br />
UN-Charta – vereinbaren läßt. Die heutige vorherrschende Meinung und Interpretation<br />
tendiert dahin, Menschenrechte vorrangig vor dem Gebot der Staatensouveränität<br />
zu behandeln. Begründet wird diese Tendenz mit dem Argument, daß infolge<br />
der Bestimmungen der UN-Charta und der Resolution 688 3 dort die Souveränität<br />
eines Staates an ihre Grenzen stößt, wo die Menschenrechtsverletzungen und -<br />
mißachtungen zu einer allgemeinen Friedensbedrohung werden oder sich die Souveränität<br />
durch Massen- oder Völkermord selbst negiert.<br />
Hier geht es – sozialethisch gesprochen – um eine globale Solidaritätsverpflichtung,<br />
die letztlich nur theologisch-anthropologisch auf der in „Pacem in terris“<br />
gelegten Basis zu begründen ist: „Wenn die Würde des Menschen und die sich aus<br />
ihr ergebenden angeborenen Rechte massiv verletzt werden, innerstaatliche Institutionen<br />
zu deren Schutz definitiv ausfallen und diplomatische Mittel versagen, dann<br />
ist die Gemeinschaft der Völker zu solidarischem Handeln verpflichtet“. (M. Spieker,<br />
2000, 11)<br />
Auch und gerade Papst Johannes Paul II., dem es so sehr um den Schutz des<br />
Rechts auf Leben geht und der sich genau aus dem Grund immer wieder gegen<br />
Krieg und in den vergangenen Monaten speziell sehr deutlich gegen einen Krieg<br />
gegen den Irak ausgesprochen hat, spricht von „humanitärem Eingreifen“ als einer<br />
Verpflichtung für die Völkergemeinschaft, wenn ein Volk, das angegriffen wird<br />
und dessen Recht auf Leben mit Füßen getreten werde, sich nicht selber verteidigen<br />
könne. In diesen Fällen gibt es kein ‚Recht auf Gleichgültigkeit’ mehr (vgl.<br />
Kardinalstaatssekretär Sodano 1993). Dieser Dienst an der Einhaltung, Sicherung<br />
und ggf. Wiederherstellung der Menschenrechte ist zutiefst ein unverzichtbarer<br />
191
Friedensdienst, eigentlich ein Dienst an den Fundamenten der Zivilität bedrohter<br />
Gesellschaften und damit der globalen Weltgesellschaft.<br />
192<br />
Utopie oder regulative Idee?<br />
Um zur anfangs gestellten Frage zurückzukehren: Ist der Frieden eine Utopie oder<br />
eine regulative Idee? In Anlehnung an Kant lautet die Antwort: Die Idee des Friedens<br />
ist – wie auch die etwa der sozialen Gerechtigkeit – eine moralisch-regulative<br />
Idee. Solche Ideen sind nicht in Vollkommenheit, sondern nur partiell, punktuell<br />
und im Fragment realisierbar. Das macht sie nicht utopisch oder gar funktionslos.<br />
Denn würden wir auf sie wegen dieser prinzipiell bloß fragmentierten Realisierbarkeit<br />
verzichten wollen, so wäre der Schaden immens. Denn solche Ideen sind<br />
motivierend und zielorientierend, indem sie in der Vielzahl kleiner Schritte größere<br />
Zweckzusammenhänge aufzeigen. Wir können mithin gar nicht ernsthaft wollen,<br />
auf moralisch-regulative Begriffe zu verzichten. Denn regulative Ideen sind normative<br />
Richtungsvorgaben sowohl für das eigene Handeln wie auch für die politische<br />
Auseinandersetzung. Sie dienen der Beurteilung von Handlungsoptionen und<br />
sind als solche unverzichtbar, auch wenn die konkreten, individuellen wie kollektiven<br />
Handlungsresultate, gemessen an der regulativen Idee, immer begrenzt und<br />
mangelhaft sind und damit revisionbedürftig bleiben. Sie haben mithin eine heuristische<br />
Funktion als Richtungsindikatoren für moralisch rechtfertigbare Entscheidungen<br />
unter hoch- und hyperkomplexen Realitätsbedingungen, die eine Eindeutigkeit<br />
der Beurteilung und der Lösungsfindung per se nicht zulassen.<br />
Wird Friede als eine regulative Idee verstanden, dann besteht die Aufgabe nicht<br />
darin, den archimedischen Punkt zu finden, an dem der Hebel anzusetzen wäre, um<br />
die Welt aus den Angeln zu heben und in einen friedvollen Zustand zu versetzen,<br />
sondern in einem offenen Such-, Lern- und Gestaltungsprozeß stückweise Frieden<br />
immer wirklicher zu machen, auch wenn die konkrete Praxis dem Ideal immer<br />
hinterherhinkt. Und – theologisch gesprochen: auch hinterherhinken darf.<br />
Die Verheißung des vollkommenen, ewigen Friedens, wie Gott ihn gibt, ist die<br />
regulative Idee, die uns als Ziel in ihrer endgültigen Gestalt vor Augen steht, deren<br />
Vollendung wir aber aufgrund menschlicher Fehlbarkeit und Endlichkeit nicht<br />
leisten können und auch nicht leisten müssen, sondern die uns von Gott her geschenkt<br />
wird. Die Verheißung des vollkommenen, ewigen Friedens ist es aber<br />
zugleich auch, was uns gerade nicht ruhen läßt, sondern motiviert, uns – in Gottes<br />
Namen – zu engagieren für Frieden, für Menschenrechte, für das menschenwürdige<br />
Leben aller Menschen und Völker, für „Pacem in terris“.<br />
Anmerkungen<br />
1) Vgl. dazu Gerechtigkeit schafft Frieden, 1983: „Da indessen Gewaltanwendung nicht<br />
auszuschließen ist und, anders als im binnenstaatlichen Herrschaftsbereich, ein internationales<br />
Gewaltmonopol mit Sanktionsvollmachten faktisch nicht existiert, kann einem Staat<br />
unter bestimmten Bedingungen das Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung nicht abgesprochen<br />
werden.“ Vgl. ferner Gerechter Frieden, 152-154.
2) PT 10: „Wenn wir die Würde der menschlichen Person nach den Offenbarungswahrheiten<br />
betrachten, müssen wir sie noch viel höher einschätzen: Denn die Menschen sind ja<br />
durch das Blut Jesu Christi erlöst, durch die himmlische Gnade Kinder und Freunde Gottes<br />
geworden und zu Erben der ewigen Herrlichkeit eingesetzt.“<br />
3) Die Resolution 688 des UN-Sicherheitsrates vom April 1991 wurde verabschiedet, als<br />
eben diesem Sicherheitsrat die Verfolgung der Kurden im Nordirak durch Saddam Hussein<br />
eine Bedrohung des internationalen Friedens zu sein schien und er sich damit in<br />
seiner Zuständigkeit herausgefordert sah.<br />
Literatur<br />
Alt, F. 1983: Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt, München.<br />
Biser, E. 1972: Art.: Friede, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie,<br />
Basel / Stuttgart, Bd. 2, 1114-1117.<br />
Böckle, F. 1986: Art.: Frieden III. Theologisch, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon,<br />
Freiburg, Bd. 2, 750-752.<br />
Crepaldi, G. 2003: Interview mit Seiner Exzellenz Monsignor Giampaolo Crepaldi, Sekretär<br />
des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden, in: Arbeitshilfen „Pacem in<br />
terris: Eine bleibende Aufgabe.“ Welttag des Friedens 2003 165, 9-14.<br />
Dicke, K. 2000: Die Frage nach dem Recht des Menschen im Schnittpunkt politischer,<br />
rechtlicher und ethischer Diskurse, in: T. Hoppe (Hrsg.), Friedensethik und internationale<br />
Politik. Problemanalysen - Lösungsansätze – Handlungsperpektiven, Mainz, 17-33.<br />
Die Deutschen Bischöfe, 1983: Gerechtigkeit schafft Frieden. Wort der Deutschen Bischofskonferenz<br />
zum Frieden, Nr. 34, Bonn.<br />
Die Deutschen Bischöfe, 2000: Gerechter Friede. Wort der Deutschen Bischofskonferenz<br />
zum Frieden, Nr. 66, Bonn.<br />
Hilpert, K. 1991: Die Menschenrechte. Geschichte – Theologie – Aktualität, Düsseldorf.<br />
Kimminich, O. 1972: Art.: Friede, ewiger, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch<br />
der Philosophie, Basel/Stuttgart, Bd. 2, 1117-1119.<br />
Korff, W. 1999: Der sozialethische Paradigmenwechsel: Voraussetzungen und Konsequenzen,<br />
in: W. Korff u.a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik. Verhältnisbestimmung<br />
von Wirtschaft und Ethik, Gütersoh, Bd. 1, 212-225.<br />
Küng, H. 1997: Keine Angst vor dem Ethos, in: H. Schmidt (Hrsg.), Allgemeine Erklärung<br />
der Menschenpflichten. Ein Vorschlag, München, 73-95.<br />
Messner, J. 1963: Der naturrechtliche Gehalt von Pacem in terris, in: Die Neue Ordnung<br />
17, 334-353.<br />
Nell-Breuning, O. v. 1983: Soziallehre der Kirche. Erläuterungen der lehramtlichen Dokumente,<br />
Wien.<br />
Roos, L. 1984: Dimensionen christlicher Weltverantwortung, in: Lebendige Seelsorge 35,<br />
97-106.<br />
Spieker, M. 2000: Zur Aktualität der Lehre vom „gerechten Krieg“. Von nuklearer Abschreckung<br />
zur humanitären Intervention, in: Die Neue Ordnung 54, 4-18.<br />
Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer ist Lehrstuhlvertreterin im Fach „Christliche<br />
Gesellschaftslehre und Pastoralsoziologie“ an der Universität Bonn.<br />
193
194<br />
Hans Thomas<br />
Vom gentechnischen Segen<br />
zum Klonen des Menschen<br />
Einige Stichwörter, die uns laufend die Tagespresse serviert: Genomsequenzierung,<br />
Gentechnik, Gentherapie, In-vitro-Fertilisation, Retortenbaby, überzählige<br />
oder „verwaiste“ Embryonen, Kryokonservierung, Embryonenforschung,<br />
Stammzellen (embryonale – ES/GS – und adulte), Gewebezüchtung aus Stammzellkulturen,<br />
„therapeutisches“ Klonen, reproduktives Klonen, Pränataldiagnostik,<br />
Präimplantationsdiagnostik. Wer nicht ständig damit befaßt ist, schaut nicht<br />
mehr durch. Das gilt auch für Parlamentarier.<br />
Es gilt in gewissem Sinne auch für Ärzte. Es sieht zwar vordergründig so aus, als<br />
handle es sich bei den genannten Stichwörtern um deren ureigenste Sache. Das<br />
ist aber nicht so. Nur eine verschwindende Minderheit der Ärzte hat praktisch<br />
Berührung mit dem einen oder anderen der genannten Sachverhalte. Die diskutierten<br />
Relativierungen des Tötungsverbots, ob an Ungeborenen, Sterbenden<br />
oder nunmehr Embryonen, nagen aber am beruflichen Selbstverständnis.<br />
I. Was wird gemacht? Was ist Zukunftsvision?<br />
Sehen wir uns die Stichwörter an: Genomsequenzierung und Stammzellenforschung<br />
sind Grundlagenforschung. Gentechnik ist ein Allgemeinbegriff. Embryonenforschung<br />
auch. Zukunftsvision sind Gentherapie und Ersatzgewebe aus<br />
Stammzellen. Und noch ist reproduktives Klonen des Menschen Science Fiction.<br />
Reproduktives Klonen beim Tier hat seit dem Schaf Dolly Konjunktur. Gegenwärtige<br />
Praxis beim Menschen sind: In-vitro-Fertilisation, Retortenbaby, überzählige<br />
Embryonen, Kryokonservierung, „therapeutisches Klonen“, Pränatal-<br />
und Präimplantationsdiagnostik. In Deutschland sind bislang verboten: jegliches<br />
Klonen beim Menschen sowie Gewinnung von Stammzellen aus Embryonen und<br />
Präimplantationsdiagnostik. Ich beschränke mich auf die umkämpften Komplexe<br />
Stammzellen, „therapeutisches“ Klonen und Präimplantationsdiagnostik. Vorab<br />
gehört aber die In-vitro-Fertilisation (Befruchtung im Labor) zu den Agenda.<br />
Denn sie ist einerseits in der Reproduktionsmedizin Routine, andererseits die<br />
Einstiegstechnik zu allem weiteren, weil sie ja überhaupt erst den Zugriff auf den<br />
frühen Embryo ermö glicht. Zu den Sachverhalten – in Kurzform:<br />
II. In-vitro-Fertilisation (IvF)<br />
Louise Brown, das erste Retortenbaby, wurde 1978 durch Kaiserschnitt geboren.<br />
Die Vorarbeiten von Robert Edwards und Patrick Streptoe seit 1960 sind eine<br />
unerquickliche Geschichte hemmungslosen „Verbrauchs“ von Embryonen. Mit
dem „Durchbruch“ von 1978 war sie historisiert und vergessen. Heute leben<br />
weltweit über 300.000 Kinder aus der Retorte, in Deutschland 8-10.000. Legitimiert<br />
und propagiert wurde die Methode mit dem Kinderwunsch unfruchtbarer<br />
Paare. Die IvF mit anschließendem Embryo-Transfer (ET) in die Gebärmutter ist<br />
aber keine Therapie. Weder die Unfruchtbarkeit der Frau noch die Impotenz des<br />
Mannes wird behandelt. Es handelt sich um eine Umwegtechnologie, oft bezeichnet<br />
als „Substitutionstherapie“. Nicht nur bei der Verfahrensentwicklung,<br />
auch beim Verfahren selbst werden zahlreiche Embryonen geopfert. Weil nur<br />
wenige übertragene Embryonen eine Schwangerschaft bewirken, werden eine<br />
ganze Anzahl Eizellen entnommen und befruchtet. Das Embryonenschutzgesetz<br />
verbietet, mehr als 3 Embryonen gleichzeitig zu implantieren. Statistisch bedarf<br />
es dann, um zu einer Geburt zu kommen, 5 bis 10 Implantationen. 14 bis 29<br />
Embryonen sterben. Hinzu kommen die sogenannten „überzähligen Embryonen“,<br />
die entweder wegen Krankheit oder Sinneswandel der Frau nicht eingepflanzt<br />
werden oder für einen erneuten Ve rsuch während des nächsten Zyklus<br />
der Frau kryokonserviert (eingefroren) wurden.<br />
Das Verfahren ist für die Frau belastend. Physisch aufgrund der nachhaltigen<br />
hormonellen Stimulationen. Psychisch wegen der oft frustrierenden Fixierung<br />
auf einen „Erfolg“: ein Kind. Die Vorstellung vom „Recht auf ein Kind“ breitet<br />
sich aus. Auch ist ein Wandel der Indikation Kinderwunsch zur Metaindikation<br />
Wunschkind unübersehbar. Wo erlaubt, werden einzeitig auch weit mehr als 3<br />
Embryonen implantiert. Infolge der starken Hormonstimulation kommt es dann<br />
auch häufiger zu Vierlings-, Fünflings- und Mehr-Schwangerschaften. Die resultierenden<br />
Gefahren für die Mutter werden abgewendet durch gezielten Fetozid:<br />
Einige Föten werden getötet – mittels Spritze ins Herz durch die Bauchdecke der<br />
Mutter – und dann abgetrieben. In der Fachsprache: „Reduzierung höhergradiger<br />
Mehrlingsschwangerschaft“.<br />
Zu den Begleitphänomenen der In-vitro-Fertilisation gehören Samenbanken (in<br />
den USA nach Katalogangeboten). Dort fragen auch gelegentlich Witwen den<br />
Samen des verstorbenen Ehemanns nach, weil sie noch ein Kind von ihm wünschen.<br />
Schon 1987 erwähnte eine Informationsbroschüre des Bonner Justizministers<br />
zu Fortpflanzungsmedizin und Recht den Fall eines weißen englischen Ehepaars:<br />
Die Befruchtung war aus Versehen mit dem Sperma eines schwarzen<br />
Spenders durchgeführt worden. Eine weitere Folge ist gespaltene Mutterschaft –<br />
genetische Mutter und Ersatz- oder Leihmutter. Schlagzeilenreife Fakten: Großmutter<br />
gebiert eigene Enkel; Lesbisches Paar mit gemeinsamem Kind – Spendersamen<br />
anonym. Erzbischof Johannes Dyba kommentierte: „Früher hatten viele<br />
Eltern vier Kinder. Heute haben viele Kinder vier Eltern.“<br />
Die Technik der In-vitro-Fertilisation war in Deutschland der Anlaß für das am<br />
13.12.1990 beschlossene Embryonenschutzgesetz. Es ist seit dem 1.1.1991 in<br />
Kraft. Schon seine Vorgeschichte hatte reichlich Beispiele regelrechter Vergewaltigung<br />
der Sprache geliefert. Bei Frauen, die sich der IvF unterzogen, war bis<br />
in Stellungnahmen der Ärzteschaft hinein von „Patientinnen“ die Rede, obwohl<br />
selbstverständlich nur gesunde Frauen zugelassen werden und eine Krankheit als<br />
Kontraindikation gilt. Der 56. Juristentag in Berlin 1986 wollte vor allem die<br />
195
Herstellung von Embryonen und die Verwendung von überzähligen Embryonen<br />
zu Forschungszwecken verhindern und formulierte in seinen Beschlüssen:<br />
„Verwaiste Embryonen dürfen nur zur Implantation bei einer anderen Frau verwendet<br />
werden. Fehlt eine Implantationsmöglichkeit, sind sie ihrem Schicksal zu<br />
überlassen.“ – „Verwaist“ sind demnach Embryonen, deren Eltern zwar noch<br />
leben, an ihrem Zustandekommen aber nicht unmittelbar beteiligt waren und für<br />
ihre Nachkommen keine Verwendung mehr haben. Und „Schicksal“? Wurde das<br />
Schicksal nicht mit dem Subjekt des Schicksals im Labor programmiert?<br />
An Stammzellen oder Implantationsdiagnostik dachte 1990 niemand. Aus heutiger<br />
Sicht ist es interessant, daß bei allen damaligen Meinungsverschiedenheiten<br />
kaum jemand den Beginn des menschlichen Lebens mit Verschmelzen von Ei-<br />
und Samenzelle bestritten hat. Heute tauchen plötzlich merkwürdigste Spekulationen<br />
zum Beginn des Menschseins auf – bis hin zu mittelalterlichen Vorstellungen<br />
von der Spätbeseelung. Zum Bemerkenswerten der damaligen Diskussion<br />
gehört auch, daß es abgesehen von der Instruktion „Donum Vitae“ der Glaubenskongregation<br />
der katholischen Kirche von 1987 wohl nur einen weiteren<br />
Text mit der bündigen Formulierung gegeben hat: „Die künstliche Befruchtung<br />
außerhalb des Mutterleibs ist unzulässig.“ Es handelt sich dabei um einen Antrag<br />
der SPD-Fraktion im Landtag von NRW (Drucksache 10/3683 v. 13.10.1988). In<br />
der Begründung ist von Entpersonalisierung der Zeugung die Rede.<br />
196<br />
III. Präimplantationsdiagnostik<br />
Befruchtung im Labor, Zellteilung. Ab 12-16-Zellenstadium (4. Tag) Entnahme<br />
einer nun nicht mehr totipotenten Zelle zur genetischen Untersuchung. Die Diagnose<br />
ergibt eine Erbanomalie. Was tun? Welche Indikation? Eine Therapie<br />
gibt es nicht. Anders gefragt: Wozu Diagnose, wenn es eine Therapie nicht gibt?<br />
Derzeit besteht der einzige Sinn der Präimplantationsdiagnostik darin, im Falle<br />
mutmaßlich erblicher Behinderung den Embryo auszusondern: Selektion (Auslese).<br />
Was die diagnostische Sicherheit anlangt, drei Feststellungen: a) Trotz richtiger<br />
Diagnose ist die Manifestation der Behinderung im späteren Leben nicht<br />
sicher vorhersagbar. b) Irrtümliche Diagnosen werden nie mehr überprüft. c)<br />
Überprüft werden vielmehr in der Regel unter der Schwangerschaft durch eine<br />
Pränataldiagnostik (an Fruchtwasserzellen oder Chorionzottenbiopsie) Diagnosen,<br />
nach denen kein Gendefekt vorliegt – und sei es, um Haftungsansprüchen zu<br />
entgehen. Sollte doch eine Behinderung zu erwarten sein, kann noch abgetrieben<br />
werden: Spätabtreibung rechtmäßig. Nach bisher vorherrschender Auslegung<br />
verbietet das Embryonenschutzgesetz die Präimplantationsdiagnostik. Die Diskussion<br />
um die Zulassung ist gespalten. Der Präsident der Deutschen Ärztekammer<br />
ist persönlich dagegen, hält aber ein Verbot für nicht haltbar. Nachdem die<br />
Pränataldiagnostik gesellschaftlich akzeptiert sei, handle es sich um eine vorgezogene<br />
Pränataldiagnostik, die selbstverständlich für die Frau weniger belastend<br />
sei.<br />
Die eigentliche Gegenposition bildet die Forderung nach einer erweiterten Indikation<br />
der In-vitro-Fertilisation. Nicht nur unfruchtbaren Paaren soll die IvF
zugänglich sein, sondern – eben wegen der Möglichkeit der Präimplantationsdiagnostik<br />
– auch fruchtbaren Paaren mit einem gravierenden Erbschaden-Risiko.<br />
Ganz im Sinne einer „Qualitätssicherung“ (womit das angebliche „Recht auf ein<br />
Kind“ sich erweitert zum „Recht auf ein gesundes Kind“).<br />
Stammzellen: Knochenmarkszellen, aus denen unterschiedlichste Blutzellen<br />
hervorgehen, sind seit langem bekannt. Das sind Stammzellen: Undifferenzierte<br />
Zellen, aus denen sich verschiedene Zelltypen entwickeln können. Leukämiekranke<br />
werden durch Übertragung gesunden Knochenmarks nach Vernichtung<br />
des eigenen durch Bestrahlung oder Chemotherapie oft geheilt.<br />
In den letzten Jahren hat man solch „pluripotente“ (Vielkönner-)Zellen in vielen<br />
Geweben und Organen entdeckt. So im Nabelschnurblut, sogar im Gehirn: Adulte<br />
Stammzellen (AS). Bekanntlich sind aber die befruchtete Eizelle und die Zellen<br />
der folgenden Teilungsstadien des frühen Embryos nicht nur Vielkönner,<br />
sondern Alleskönner: „totipotent“. Aus ihnen gehen ja sämtliche Zellen, Gewebe<br />
und Organe des erwachsenen menschlichen Organismus hervor (was doch eher<br />
dafür spricht, daß die befruchtete Eizelle schon der Mensch ist, als dafür, daß sie<br />
noch etwas anderes ist). Ab der vierten Zellteilung – 16-Zellen-Stadium – sind<br />
die embryonalen Zellen nicht mehr Alleskönner, aber Sehr-viel-Könner: Embryonale<br />
Stammzellen (ES). Ähnliche Sehr-viel-Könner-Zellen lassen sich aus den<br />
Keimzellen abgetriebener Föten gewinnen: embryonale Germ-Stammzellen<br />
(GS). Wegen ihrer Vielseitigkeit sind viele Forscher besonders auf diese Zellen<br />
aus – womöglich voreilig, wenn sie ihre Verheißungen, in Zukunft bislang unheilbare<br />
Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer, Multiple Sklerose u.a.m. heilen<br />
zu können, ganz an diese Zellen knüpfen.<br />
Die Adulten Stammzellen (AS), die Vielkönner-Zellen in den verschiedenen<br />
Körpergeweben, haben, wie gesagt wird, zwar den Nachteil, sich weniger leicht<br />
vermehren zu lassen, aber wiederum den gewaltigen Vo rteil, daß aus ihnen gezüchtete<br />
Gewebe keine Abstoßung in dem Organismus, dem sie entstammen,<br />
hervorrufen würden. Ihre Gewinnung ist unproblematisch, während für Embryonale<br />
Stammzellen Embryonen geopfert werden müssen. Das ist in Deutschland<br />
verboten. Entsprechend beschloß der Deutsche Bundestag am 30.01.2002 unter<br />
dem Titel eines Verbotes auch des Imports von Stammzellinien, eben deren<br />
Import zuzulassen – ausnahmsweise und unter Auflagen, versteht sich.<br />
IV. „Therapeutisches“ Klonen:<br />
1997 brachte das Schaf Dolly aus dem Edinburgher Roslin-Labor unerwartet<br />
Bewegung in die Szene: Erstens bedeutete ab sofort Klonen nicht mehr die Herstellung<br />
altersgleicher Zwillinge durch künstliche Teilung der Blastomere (frühestes<br />
Furchungs-/Teilungsstadium der befruchteten Eizelle). Die neugeborene<br />
Dolly war Zwilling eines erwachsenen Schafes. Denkbar war das zwar auch<br />
schon bei Zwillingsembryonen, wenn der eine implantiert und der andere eingefroren<br />
wird. Aber Dolly war entstanden durch Einfügung des Kerns einer Zelle<br />
eines erwachsenen Schafes in eine entkernte Eizelle. Das war völlig neu.<br />
197
Die bloße Vorstellung, daß – übertragen auf den Menschen – ein Erwachsener<br />
sich genetisch kopieren läßt, löste europaweit moralische Empörung aus. Ihre<br />
Emotionen waren so stark wie ihre Argumente schwach. Inzwischen wurden,<br />
nicht zuletzt von Dollys Laborvater Jan Wilmut, als Gegenargumente handfeste<br />
Mißbildungs- und Tumor-Risiken nachgeliefert. (Dolly war unter 237 Versuchen<br />
der einzig überlebende „Erfolg“). Den Klonankündigungen öffentlichkeitssüchtiger<br />
Außenseiter wie Antinori, Zavos und der Raelianer-Sekte werden nunmehr<br />
diese Risiken entgegengehalten. Ihre Pläne reproduktiven Klonens, das genetische<br />
Kopien von Menschen in die Welt setzt, stößt auf breite Ablehnung.<br />
Von diesem reproduktiven Klonen wurde – zweitens – bald ein Klonen menschlicher<br />
Embryonen nach dem Dolly-Verfahren unterschieden, bei dem die Embryonen<br />
gar nicht überleben sollen. Sie sollen der Forschung dienen – und dann<br />
auch der Herstellung von Stammzellkulturen, aus denen sich hoffentlich Ersatzgewebe<br />
für kranke Körperorgane züchten läßt. Die Anwendung des Dolly-<br />
Verfahrens zur Herstellung von Embryonen, die gar nicht überleben sollen, wird<br />
irreführend als therapeutisches Klonen bezeichnet. Grund für den Euphemismus<br />
ist allein die Zuversicht, daß der therapeutischen Einsatz solcher Ersatzgewebe<br />
einmal gelingt.<br />
Ersatzgewebe, die sich aus einem Körperzellkern (Dolly-Verfahren) des Patienten<br />
herleiten, haben, wie solche aus Adulten Stammzellen, gegenüber solchen<br />
aus Stammzellen fremder Embryonen den unschätzbaren Vorteil, nach Trans-<br />
oder Implantation beim Patienten keine Abstoßungsreaktionen hervorzurufen.<br />
Das heißt: Wer auf Embryonale Stammzellen setzt, setzt auch auf „therapeutisches“<br />
Klonen. Daß die Forschung am „therapeutischen Klonen“ und erst recht<br />
seine medizinische Anwendung zugleich die Techniken reproduktiven Klonens<br />
erkundet und diesem zum Wegbereiter wird, soll nur vermerkt werden.<br />
Drittens lenkte der Fall Dolly die Aufmerksamkeit auf die offenkundige Möglichkeit,<br />
daß differenzierte Körperzellen sich hier biologisch rückprogrammieren.<br />
Wie und unter welchen Bedingungen? Und: Läßt sich das steuern? Ein neues<br />
Forschungsgebiet, dessen Ergebnisse noch keineswegs absehbar sind. Es ist<br />
selbstverständlich von höchstem Interesse, zumal für zukünftige Erweiterungen<br />
des Leistungs- und Einsatzspektrums der Adulten Stammzellen zur Züchtung<br />
von Ersatzgeweben, die ebenfalls keine Immunsupression verlangen. Hinzu<br />
kommt, daß ihr Einsatz die aufwendige Klontechnik einspart.<br />
198<br />
V. Gentechnik: gut oder böse?<br />
Viele halten Gentechnik per se für Teufelszeug. Weil ich denen nicht zustimme,<br />
beginnt der Titel meines Beitrags mit „Vom gentechnischen Segen“. Als die<br />
Gentechnik noch grün war, begegneten sich der Optimismus der Macher und die<br />
Skepsis der Ängstlichen. Die einen kauften die lang haltbare transgene Tomate,<br />
die anderen nannten sie „Killertomate“. Mein Zutrauen zur grünen Ge ntechnik<br />
war lange Zeit für mich vor allem eine Stütze gegen die Weltbevölkerungsplaner,<br />
deren Ideologie aber inzwischen passé ist. Bestärkt hat mein Zutrauen dann die<br />
Bekanntschaft mit Professor Klaus Hahlbrock, Vizepräsident der Max-Planck-
Gesellschaft und Biochemiker am Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung<br />
in Köln. Tatsächlich sind gentechnische Verfahren Jahrtausende alt. Sie gehören<br />
zum Bestand menschlicher Kulturentwicklung seit den Zeiten der Sammler und<br />
Jäger und sind Voraussetzung unseres Lebensstandards. Der über lange Zeiträume<br />
zielgerichteten, planvollen Auslesezüchtung verdanken wir die genetische<br />
Eigenart sämtlicher uns bekannten Nutzpflanzen und Nutztiere. Auch sämtliche<br />
Hunderassen, die sich ausnahmslos aus der Wildform Wolf herleiten. Auch übrigens<br />
die Bakterien und Hefen zur Veredelung und Haltbarmachung unserer Nahrungsmittel,<br />
ob Brot, Käse, Wein oder Bier. Aus heutiger Sicht handelte es sich<br />
um eine gewissermaßen noch blinde Form der Gentechnik.<br />
Zweck der Riesenanstrengungen waren stets bessere Nahrungsqualität, größere<br />
Ernteerträge und dem Menschen dienlichere Nutz- und Haustiere. Der Preis war<br />
stets geringere Vitalität als die der Wildformen und entsprechender Bedarf an<br />
Schutz und Pflege seitens des Menschen. Ohne diese Vorgeschichte könnte die<br />
Menschheit heute gar nicht überleben. Und die Entwicklung von Heilmitteln für<br />
Krankheiten und die Schonung der Umwelt haben wir noch gar nicht erwähnt.<br />
Revolutionär ist der Übergang von zufallsabhängiger Auslesezüchtung zur gezielten<br />
Veränderung der molekular definierten Merkmale der Organismen. Ris ikolos<br />
ist das nicht. Wie bei jeder Technik muß Umsicht walten, müssen Gefahren<br />
frühzeitig erkannt und entsprechende Vorkehrungen getroffen werden. Hierzu<br />
gibt es durchaus Kriterienkataloge. Den Risiken gegenüber stehen segensreiche<br />
Ergebnisse wie Insekten-, Krankheits- und Herbizidresistenz von Kulturpflanzen,<br />
höhere Toleranz gegenüber Temperatur, Trockenheit oder Salzgehalt<br />
des Bodens. Nach den Vervielfachungen des Ertrags der Reispflanze seit dem II.<br />
Weltkrieg ist ihre jüngst vollendete Genomsequenzierung ein kaum zu überschätzender<br />
weiterer Meilenstein auf dem Weg nachhaltiger Welternährung.<br />
Ertragssteigerungen sparen Anbaufläche, Stickstoffixierung Kunstdünger, imp fstoffhaltige<br />
Früchte aufwendige Impfprogramme, veränderte Holzeigenschaften<br />
Umweltschäden bei der Papierherstellung. Medizinisch sei nur das Beispiel gentechnischer<br />
Herstellung von Insulin genannt.<br />
VI. Auslesezüchtung beim Menschen?<br />
Gibt es eigentlich – analog zur skizzierten Geschichte der „noch blinden“ Auslesezüchtung<br />
bei Pflanze und Tier – ähnliches beim Menschen? Natürlich abgesehen<br />
davon, daß Männer schon immer lieber schöne Frauen und Frauen schon<br />
immer lieber starke Männer geheiratet haben, und daß die Aristokratie stets sorgfältigste<br />
Heiratsplanung betrieb.<br />
In Deutschland sind zwar nahezu alle mit dieser Frage aufgerufenen Begriffe seit<br />
den Nationalsozialisten prekär belastet. Aber vielleicht ist es gerade deshalb<br />
wichtig, einmal jenseits der 12 unseligen Jahre nach der Tradition des Themas zu<br />
fragen. In Sachen systematischer Auslesezüchtung beim Menschen liefert die<br />
Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts reichlich Stoff. Dabei prägen, vor allem in<br />
England, zwei Stränge die Entwicklung: der Sozialdarwinismus und die Eugenik.<br />
199
Am Anfang des Sozialdarwinismus steht der Philosoph und Soziologe Herbert<br />
Spencer (1820-1903), der 1864 die Formulierung vom „survival of the fittest“<br />
prägt, geht von der Vererbung erworbener Eigenschaften aus. Anders als Darwin<br />
betrachtet Spencer das Selektionsprinzip weniger individuell als im Sinne einer<br />
evolutionären Besserung der Gesellschaft, wenn sie diejenigen zurückdrängt, die<br />
„unfit“ sind. Da hierzu beispielsweise die Armen gehören, sollten sie nicht unterstützt<br />
werden.<br />
Der Begriff „Eugenik“ stammt von dem angesehenen Biologen Sir Francis Galton<br />
(1822-1911), einem Halbschwager von Charles Darwin. Auch Galton ist<br />
überzeugt, daß geistige Fähigkeiten ererbt sind. Vor allem aber überträgt auch er<br />
die Kategorien von Qualität und Defizit des Erbguts von der individuellen auf<br />
eine kollektive, gesellschaftliche, gar nationale Ebene.<br />
Durch Galtons Ansehen findet die Eugenik schließlich Eingang in den Wissenschaftsbetrieb.<br />
1904 errichtet das London University College einen Lehrstuhl für<br />
Eugenik, 1907 entsteht das „Galton Research Institute for National Eugenics“<br />
und 1908 die „Eugenics Education Society“. Das Interesse ist bald international.<br />
1908 gibt es in den USA eine „Connecticut Society for Mental Health“, 1910 ein<br />
Archiv für Eugenik.<br />
Was Deutschland anlangt, interessiert mit Blick auf das spätere Reichsgesetz zur<br />
Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.07.1933 dessen intellektuelle Vo rgeschichte.<br />
Der hessische Landtagsabgeordnete Roland Rösler beschreibt detailliert,<br />
daß Prof. Dr. Ernst Rüdin, Psychiater und Direktor des Kaiser-Wilhelm-<br />
Institutes für Genealogie und Demographie der Deutschen Forschungsanstalt in<br />
München, einer der Bearbeiter des Gesetzes und dessen besonderen Förderer,<br />
sich durchaus internationaler Zustimmung sicher sein konnte, so seitens Margret<br />
Sanger, American Birth Control League. Im April 1933 erschien ein Aufsatz<br />
Rüdins unter dem Titel „Eugenische Sterilisation: eine dringende Notwendigkeit“<br />
in ihrer amerikanischen Birth Control Review. Rockefeller unterstützte<br />
Rüdin in den 20er Jahren. Rüdin war Schüler des Schweizer Psychiaters August<br />
Forel, der, seinen Zuchtwahl- und Auslesevorstellungen folgend, schon 1892<br />
Sterilisierungen vornehmen ließ. 1903 fordert Rüdin Sterilisierung bei Trinkern.<br />
1904 gründet, gemeinsam mit Rüdin, ein Dr. Alfred Ploetz die „Zeitschrift für<br />
Rassen- und Gesellschaftsbiologie“, 1905 Dr. Ploetz die „Gesellschaft für Rassenhygiene“<br />
– später mit dem Zusatz (Eugenik). Rassenhygiene und Eugenik<br />
galten als synonym.<br />
Wie stark schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Interesse am Thema war,<br />
mag aus einem Preis erhellen, den im Jahr 1900 Alfried Krupp auf Anregung<br />
Ernst Haeckels ausschrieb für die beste Arbeit zum Thema „Vererbung und<br />
Auslese“. Gewinner war ein Arzt Wilhelm Schallmayer: Durch „Vervollkommnung<br />
der organischen Erbwerte“ gelte es, einen „Menschentyp mit heiterem<br />
Temperament zu züchten und ihn mehr und mehr zu verallgemeinern“. 1920<br />
erschien dann bekanntlich das Buch von Karl Binding und Alfred Hoche: „Die<br />
Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form.“<br />
Seine Ausgangsfrage: Inwieweit soll der Staat die Pflege „nicht nur absolut wertloser,<br />
sondern negativ zu wertender Existenzen betreiben?“<br />
200
VII. Die Nationalsozialisten und danach ...<br />
Erfunden haben die Nazis demnach eigentlich nichts. Sie haben allerdings das<br />
Vorgedachte, das durchaus international Vorgedachte, rücksichtslos ausgeführt.<br />
Auf das Gesetz zur Ve rhütung erbkranken Nachwuchses folgte später die Euthanasie-Aktion<br />
T 4 und folgten demographische Kampfmaßnahmen (z. B. „Generalplan<br />
Ost“). Auch die Sprachregelung war bereits entwickelt. Geht es darum,<br />
das Tötungsverbot zu relativieren, wird das ganze Repertoire des Mitleids aufgeboten<br />
– vom „Recht auf ein würdiges Sterben“ bis zum „Gnadentod“ (z. B.<br />
Spielfilm „Ich klage an“). Kommt die Sache in politisch-administrative Bahnen,<br />
wird die Gesellschaft „von belastenden Pflegefällen befreit“. Selbst Vokabeln<br />
wie „Ballastexistenzen“ und „Menschenhülsen“ waren schon vor 1933 geläufig.<br />
Nach dem II. Weltkrieg war in Deutschland alles, was mit Demographie, Rasse,<br />
Genetik, etc. zu tun hatte, verpönt und verdächtig. Und international? Auf dem<br />
berühmten oder je nachdem berüchtigten CIBA-Symposium in London 1962 war<br />
von diesem Tabu wenig zu spüren. Um dort J.S. Huxley zu zitieren: „Theoretisch<br />
könnte der Pegel der allgemeinen Intelligenz durch eugenische Selektion angehoben<br />
werden; und selbst ein leichter Anstieg könnte einen merklichen Zuwachs<br />
an ...“ Sollte nun ausgerechnet nach der biologischen Revolution, die zunehmend<br />
gezielte Eingriffe in das Genom ermöglicht – und angesichts bereits unumkehrbarer<br />
Alterung der Bevölkerung und der damit verbundenen Krise der<br />
Sozialsysteme –, der verführerische Reiz von Selektion und Manipulation am<br />
Erbgut des Menschen verblassen?<br />
VIII. Permissive Strategien<br />
In der Bundesrepublik ist Auslesezüchtung beim Menschen mit Schwangerschaftsabbruch<br />
nach Pränataldiagnose wieder gesellschaftsfähig. Und Routine.<br />
Aber die politisch-gesellschaftlich akzeptierte Praxis des Schwangerschaftsabbruchs<br />
ist nicht unser Thema. Auch nicht die Euthanasie (Beispiel Niederlande).<br />
Beide beeinflussen allerdings nachhaltig unser Thema. Das muß bewußt bleiben.<br />
Beide höhlen die Achtung vor dem menschlichen Leben aus, genauer: die Achtung<br />
des Menschen. Im übrigen offenbaren beide Komplexe exemplarisch die<br />
semantischen Verschleierungen der Wirklichkeit, der die permissiven Strategien<br />
dienen (ob gewollt oder ungewollt). Hier wie dort werden schmerzvolle Realitäten<br />
schmerzlos geredet. Im Diskurs um die sogenannte Tötung auf Verlangen<br />
beginnen die Beispiele „schmerzloser Sprache“ mit dem Begriff Euthanasie und<br />
reichen über „Sterbehilfe“, „Recht auf den eigenen Tod“ und „es geschieht im<br />
Interesse des Patienten“ über die Rede von der „Selbstbestimmung des Patienten“<br />
bis zur aggressiveren Diktion, „den Patienten doch nicht zum Weiterleben<br />
zu zwingen“. Entsprechend nennen sich die professionellen Todesbringer gern<br />
„Gesellschaft für humanes Sterben“. Folgendes semantische Kunststück lieferte<br />
am 25.4.1991 die Abgeordnete van Hemeldonck im Europaparlament ab: „Was<br />
das Menschenleben ausmacht, ist die Würde, und wenn ein Mensch nach langer<br />
Krankheit, gegen die er mutig angekämpft hat, den Arzt bittet, sein Leben zu<br />
201
eenden, das für ihn jede Würde verloren hat, und wenn sich der Arzt dann nach<br />
bestem Wissen und Gewissen dafür entscheidet, ihm zu helfen und ihm seine<br />
letzten Augenblicke zu erleichtern, indem er es ihm ermöglicht, friedlich für<br />
immer einzuschlafen, so bedeutet diese ärztliche und menschliche Hilfe (die<br />
manche Euthanasie nennen) Achtung vor dem Leben.“<br />
Auch die Reden zur Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs, die uns noch<br />
geläufig sind, trieften geradezu von „Menschlichkeit“ und „Humanität“. Hieran<br />
schließen in der gegenwärtigen Debatte um Stammzellenforschung und Präimplantationsdiagnostik<br />
Peter Hintzes „Ethik des Heilens“ und Jürgen Rütgers’<br />
„Barmherzigkeit“ unmittelbar an (sie hindert ihn, „Frauen zu zwingen, einen<br />
erbkranken Embryo in den Mutterleib zu transferieren“). Gleichwohl fiel der<br />
Beschluß des Bundestages zum Import von Stammzellinien sehr restriktiv aus<br />
gemessen an dem, was in Nachbarländern längst Praxis ist. Das deutsche Embryonenschutzgesetz<br />
vom 13.12.1990 ist sogar restriktiver als zahlreiche Ethiker<br />
damals meinten empfehlen zu sollen. Denn schon im Vorfeld des Gesetzes stach<br />
ein offenkundiger Widerspruch ins Auge: Recht streng schützt das Gesetz frühe<br />
Embryonen in der Petrischale, die bald darauf im Mutterleib straflos getötet<br />
werden dürfen. Der besondere Konflikt der Frau, der diese Tötung legitimiere, so<br />
lautet die juristische Erklärung, sei im Labor eben nicht gegeben. Solch intellektuelle<br />
Glasperlenspiele bleiben allerdings schlichteren Gemütern unzugänglich.<br />
202<br />
IX. Ethik?<br />
Politiker pflegen in Reden über die ethischen Implikationen wissenschaftlichtechnischen<br />
Fortschritts gern mit gewichtiger Mine die Frage zu wiederholen, ob<br />
der Mensch alles darf, was er kann. Wenn es konkret wird, heißt es dann, hierüber<br />
müsse eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung erfolgen. Was ist<br />
davon zu erwarten? Kaum je zuvor dürfte – öffentlich wie in Kommissionen und<br />
Räten – soviel über Ethik geredet worden sein wie in den letzten Jahren. Diese<br />
Ethikdiskussionen haben nahezu alle moralischen Gewißheiten beseitigt. Mindestens<br />
haben sie sie relativiert. Selbst den Grundsatz von der Unverfügbarkeit<br />
des menschlichen Lebens. Die „Heiligkeit des menschlichen Lebens“ sei ein<br />
außerwissenschaftliches, vornehmlich religiöses Vorurteil, so belehren uns Ethiker,<br />
Philosophen, Juristen und Naturwissenschaftler wie Peter Singer, Norbert<br />
Hoerster, Hubert Markl. Wie sie heute verstanden und verhandelt wird, ist die<br />
Ethik zu dem Problem geworden, das sie lösen sollte. Das Thema kann hier nicht<br />
vertieft werden. Ich möchte aber drei Gründe hierfür nennen:<br />
Jeder Ethik liegt eine Ontologie zugrunde. Aus einem bestimmten Welt- und<br />
Menschenbild folgt – bewußt oder unbewußt – die jeweilige Ethik. Im Pluralismus<br />
der Wertvorstellungen gehört es aber zum Comment der Ethikdiskussion,<br />
das Welt- und Menschenbild des Gesprächspartners nicht zur Diskussion zu<br />
stellen. Der Ethikdiskurs soll voraussetzungslos sein. Als voraussetzungslos<br />
gelten nur der Positivismus und der Szientismus. Daß beide auch von – durchaus<br />
metaphysischen – Vorannahmen abhängen, also ihrerseits weltanschaulich geprägt<br />
sind, bleibt so verborgen. Als Prototyp von Naturwissenschaft gilt die Phy-
sik als exakte, wertfreie Wissenschaft. Diesen Ruf nehmen viele Wissenschaften<br />
gern für sich in Anspruch. Auch die Medizin, zumal die in der Forschung tätigen<br />
Mediziner und ihre Lobby. Die Medizin ist aber weder eine Naturwissenschaft<br />
noch ist sie wertfrei. Sie nutzt zwar die Naturwissenschaften, ist aber selbst eine<br />
auf Werten gegründete Disziplin. Schon Gesundheit und Krankheit sind Wertbegriffe.<br />
Zweck der Disziplin ist das Heilen von Krankheit, das Lindern des<br />
Leidens, also ein ethisch-moralischer: Hilfe, Fürsorge. Ohne diese ethische Bindung<br />
ist Medizin bloße Biotechnik.<br />
Im ärztlichen Berufsethos artikuliert sich dieser ethisch-moralische Charakter der<br />
Medizin. Das Arztethos verpflichtet den Arzt in erster Linie gegenüber der konkreten<br />
Person, die in seine Obhut gelangt. Erst in zweiter Linie, und soweit es die<br />
Erstverpflichtung nicht konterkariert, gegenüber Dritten oder der Allgemeinheit.<br />
Die Umkehrung der Reihenfolge korrumpiert das Arztethos. (Beispiel: Die Rede<br />
der Nationalsozialisten vom „gesunden Volkskörper“ war die verführerische<br />
Fangleine, mit der ansehnliche Teile der damaligen deutschen Ärzteschaft für<br />
arztfremde Kollektivzwecke gewonnen wurden). Mit der damaligen Ideologie ist<br />
der heutige Pragmatismus nicht vergleichbar. Jetzt steht das klassische ärztliche<br />
Berufsethos unter dem Druck des herrschenden Pluralismus der Wertvorstellungen<br />
und eines neuen Trends zur Vergesellschaftung der Gesundheit. Die liberale<br />
Botschaft, Moral sei Privatsache, „befreit“ zwar den Arzt von ethischen Außenbindungen.<br />
Er wird zum Anbieter gesellschaftlich nachgefragter biotechnologischer<br />
Dienstleistungen am Markt. Dieser Markt ist aber bei uns schon jetzt im<br />
höchsten Maße reguliert. Zudem bindet private Moral nicht den Staat. Also sagt<br />
er den Ärzten, was gilt und was zu tun ist – im Interesse der Gesellschaft. Abtreibung,<br />
Euthanasie, In-vitro-Fertilisation, selektierende Präimplantationsdiagnostik,<br />
„therapeutisches“ Klonen sind sämtlich nicht-ärztliche Dienstleistungen.<br />
Der Staat behält sie ausnahmslos den Ärzten vor. Verweigern sie sich nicht,<br />
werden sie zu Funktionären der Politik.<br />
Die Treue zum klassischen Arztethos hat der Ärzteschaft über die Jahrhunderte<br />
Vertrauen und Ansehen verschafft. Das hat ihnen den freien Berufsstand bewahrt.<br />
Lockerungen der Berufsethik unterwerfen die Ärzteschaft der Fremdbestimmung,<br />
sei es staatlichen Eingriffen in ihre Berufsausübung oder solchen der<br />
Krankenkassen, sei es den Forderungen des Marktes. Das moralische Subjekt<br />
Arzt wird in die Rolle des Erfüllungsgehilfen fremden Willens gedrängt.<br />
Ich glaube, die Ärzte beginnen das zu bemerken. Ihre Willfährigkeit in Sachen<br />
Schwangerschaftsabbruch hat sie in das häßliche Geschäft der Spätabtreibung<br />
manövriert. Jetzt macht sie ihnen die Verweigerung der Präimplantationsdiagnostik<br />
schwer. Die Akzeptanz der In-vitro-Fertilisation verwickelt die Ärzte in<br />
immer unabsehbarere Gewissensfragen. Im Sommer 2001 hat der Deutsche Ärztetag<br />
in Ludwigshafen den Import von Stammzellinien mit großer Mehrheit<br />
abgelehnt.<br />
Dr. med. Hans Thomas leitet das Lindenthal-Institut in Köln.<br />
203
204<br />
Johannes Christian Koecke<br />
Zur bioethischen Debatte<br />
Argumentationsstrategische Überlegungen<br />
I.<br />
Es gibt Sprachexperimente, die sind gefährlich, man bewegt sich mit ihnen auf<br />
dünnem Eis, und sie sind deswegen aufschlußreich. In einer Diskussion bemerkte<br />
einmal ein Moralist, also einer, der den Boden moralischer Sprache verläßt, um<br />
moralische Mißstände anzuprangern, eine eigentümliche konnotative Asymmetrie:<br />
Warum, so gab er zu bedenken, könne man gemeinhin problemlos von „verbrauchender<br />
Embryonenforschung“ sprechen, bekäme aber das Wort „verbrauchende<br />
Ausländerforschung“ seiner Ungeheuerlichkeit wegen (vor allen Dingen der Ungeheuerlichkeit<br />
der Zustände wegen, die man hinter dem Wort vermuten muß) nur<br />
schwer über die Lippen? Warum also sei das eine mit üblen Konnotationen verbunden,<br />
das andere aber schon in den Sprachgebrauch übergegangen? Handelt es<br />
sich doch in beiden Fällen um die Tötung von Leben, dem der volle Schutz der<br />
Menschenwürde zukommt.<br />
Weitere irritierende Fragen schließen sich an: Warum sind ca. 140.000 erfaßte (!)<br />
Abtreibungen im Jahr für die meisten kein Skandalon, obwohl dies, veranschaulicht,<br />
der Einwohnerzahl von Potsdam entspricht? Warum kann – eine Umdrehung<br />
weiter gedacht – eine Partei als einzige im Deutschen Bundestag geschlossen gegen<br />
den Import von Stammzellinien stimmen und gleichzeitig die Fristenlösung in<br />
der Abtreibung anstreben? Warum – noch schärfer gefragt – hat die katholische<br />
Kirche, genauer, die Deutsche Bischofskonferenz, jahrelang eine Debatte um den<br />
Beratungsschein geführt und konnte bei der Stammzellfrage sofort Übereinstimmung<br />
erzielen?<br />
Man könnte es sich einfach machen und tadelnd davon sprechen, es würde eben<br />
mit zweierlei Maß gemessen: das geborene Leben anders als das ungeborene; das<br />
Töten zu Forschungszwecken anders als das Töten in Konfliktsituationen. Hier soll<br />
es aber darum gehen, warum es zu unterschiedlichem Maß kommt, bzw. was der<br />
Maßstab dieses Maßes ist und wie er sich verändert hat. Ziel ist dabei nicht eine<br />
Ontologie oder Theologie des Embryos, also eine Feststellung seines Status – das<br />
ist aus berufenerem Munde und geübterer Feder schon viel besser geleistet worden.<br />
Das Anliegen dieses Beitrags ist praktisch, also moralisch: nämlich im ersten<br />
Schritt zu erkennen, was das oben erwähnte zweierlei Maß bewirkt, um im zweiten<br />
Schritt Empfehlungen zu geben, wie Bewegung in den festgefahrenen Diskurs zu<br />
bringen ist.<br />
Ich möchte also zunächst einmal den Blick abwenden von der Frage, was der Embryo<br />
„eigentlich“ sei – ontologisch, juristisch, theologisch, anthropologisch – und
hinwenden zu der Frage, welche Vorstellungen, Überzeugungen, Vorurteile, Obsessionen<br />
usw. die öffentliche Debatte bestimmen. Im näheren heißt das: Welche<br />
Vorstellungen verhindern bzw. erschweren, daß der Embryo mit Verschmelzung<br />
von Ei- und Samenzelle als voll der Menschenwürde teilhaftige Person anerkannt<br />
wird bzw. was führt dazu, daß der abgetriebene, getötete Embryo weniger Affekte<br />
auslöst als der in der Petrischale „verbrauchte“? Im Umkehrschluß entsteht natürlich<br />
dann auch eine Vorstellung vom Status des Embryos. Die folgenden Hinweise<br />
können darüber hinaus auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit bzw. Systematik<br />
erheben.<br />
II.<br />
Zunächst einmal sollen die eher politisch-ideologischen Aspekte zur Sprache<br />
kommen, also jene Aspekte, die in der Hierarchie logischer Bedeutsamkeit wegen<br />
ihrer Zeitgebundenheit und Vorläufigkeit nicht sehr hoch stehen, aber vielleicht<br />
gerade deshalb so wirkmächtig sind.<br />
1. Die Rolle der deutschen Geschichte<br />
Es ist auffällig, welche Diskrepanz in der öffentlichen Bewertung von Abtreibung/Stammzellforschung<br />
und Euthanasie besteht. Warum is t Abtreibung politisch<br />
und gesellschaftlich seit Jahrzehnten weitgehend akzeptiert und Euthanasie/aktive<br />
Sterbehilfe in Deutschland noch immer ein Tabu? Warum ist das letztere in Staaten,<br />
die sich frei von der Schuld am Nationalsozialismus wähnen dürfen, nicht<br />
mehr der Fall (Niederlande, Belgien, Großbritannien, Australien)? Der Verdacht<br />
liegt nahe, daß die Tabuisierung der Sterbehilfe ganz erheblich prädisponiert ist<br />
von dem Horrorbild des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms. Nur so läßt<br />
sich erklären, daß „Fortschrittliche“ und „Liberale“ in Deutschland in der Sterbehilfedebatte<br />
noch zum Status quo und zum Lebensschutz stehen und es nicht ausgemacht<br />
ist, daß die bisherige Regelung in dieser Legislaturperiode zur Disposition<br />
gestellt wird. Auch die Vermeidung des Begriffs „Euthanasie“ in Deutschland im<br />
Gegensatz zu dessen Gebräuchlichkeit in anderen Sprachen ist aufschlußreich.<br />
Aber der anti-nationalsozialistische Affekt hat eine offene Flanke. Solange Euthanasie<br />
als staatlich-diktatorische, menschenverachtende Vernichtung von Minderheiten<br />
erscheint, setzt der antinationalsozialistische Warnschmerz ein, und er ist so<br />
stark, daß er auf die heutige Sterbehilfediskussion, die ja nichts mit staatlich verordneter<br />
Euthanasie zu tun hat, ausstrahlt. Aber wie lange noch? Die heutige Sterbehilfedebatte<br />
ist nämlich anders gelagert: Da geht es um den Konflikt zwischen<br />
individueller Autonomie der Person, über ihr Leben verfügen zu können, und der<br />
christlich motivierten Haltung der Unverfügbarkeit von Leben. Haben die „Liberalen“<br />
erst mal das antifaschistische „Tiergartensyndrom“ abgeschüttelt und wittern<br />
einen Kampf von Autonomie gegen „Reaktion“, ist die Schlacht geschlagen. Es sei<br />
denn, man könnte nachweisen, daß auch ohne eine faschistische Diktatur Sterbehilfe<br />
zur Herrschaft von Menschen über Menschen entartet und damit die Autonomie<br />
nachgerade auf besondere Weise gefährdet ist. Denn in einer Gesellschaft, in der<br />
Euthanasie akzeptiert ist, verlieren Sterbenskranke genau dann ihre Handlungsautonomie<br />
wenn sie in ihre Tötung einwilligen, weil sie meinen, anderen nicht mehr<br />
205
„zur Last fallen“ zu sollen, wenn also der indirekte Druck der Umgebung auf dem<br />
Kranken lastet, wenn zwischen Angehörigen und Ärzten sich ein Konsens entwickelt,<br />
der (einwilligungsunfähige) Kranke könne doch gar nicht anders wollen als<br />
„einen schönen Tod“ zu haben.<br />
Warum ist aber die Abtreibung gesellschaftlich stärker akzeptiert? Warum ist sie<br />
zum Signal der Befreiung und der Selbstbestimmung geworden? Wovon hat man<br />
sich damit befreit? Auch darin gibt es nämlich eine Nazi-Dimension, dieselbe, die<br />
heutzutage das Thema „Bevölkerungspolitik“ und die gesamte Debatte um die<br />
Verformung der Alterspyramide belastet: Kinder Bekommen gerät im Lichte des<br />
nationalsozialistischen Mutterkultes zu etwas staatlich Verordnetem, zu einer<br />
Funktion innerhalb eines reaktionären Ganzen. Abtreibung, d. h. die bewußte Entscheidung<br />
über die Beendigung der Mutterschaft, ist in diesem Lichte also ein Akt,<br />
mit dem man sich scheinbar außerhalb dieses Funktionierens setzt und seine<br />
angebliche Rolle verweigert.<br />
Die strategische Chance der Abtreibungsgegner liegt nun darin nachzuweisen, daß<br />
die Entscheidung gegen die Mutterschaft, z. B. für das Berufsleben, unter den<br />
Bedingungen gegenwärtiger Lebensverhältnisse gerade nicht die Abwendung von<br />
Fremdbestimmung, sondern die Einordnung in einen Funktionszusammenhang<br />
bedeutet, der sich so verselbständigt hat, daß Frauen nicht mehr völlig frei sind,<br />
sich für oder gegen die Berufsausübung zu entscheiden. Kinder als Chance, zu sich<br />
selbst zu finden und sich außerhalb fremder Ansprüche zu stellen, das wäre – überzeugend<br />
durchdacht – eine ungeheure Verführung für die Frauenbewegung und<br />
hätte große Auswirkungen auf die Abtreibungsproblematik.<br />
2. Rolle der Frau<br />
Überhaupt nimmt die Frage nach der Rolle der Frau in der bioethischen Debatte<br />
eine Schlüsselstellung ein. Von Lebensschützern wird die Relevanz des Themas<br />
zuwenig beachtet, von den „Fortschrittlichen“ ideologisch übersteigert – beides zu<br />
Lasten des ungeborenen Lebens. Der Lebensschutz hat auf unabsehbare Zeit keine<br />
Chance, wenn er nicht die Gedankenwelt junger Frauen – sei sie prima vista noch<br />
so konträr – in sich aufnimmt und – das ist das Entscheidende – erkennt, welches<br />
Potential darin zur Verwirklichung der eigenen Ziele steckt.<br />
In der bioethischen Diskussion der letzten Zeit hat es dabei schon eigentümliche<br />
Allianzen gegeben: Der Deutsche Ärztinnenbund z. B. lehnt wie die katholische<br />
Kirche die PID und die Herstellung von Stammzellinien ab, während er noch bei<br />
der Abtreibungsfrage „für die Interessen der Frau“ plädiert. Dieser ablehnenden<br />
Haltung z. B. der PID gegenüber liegt der Verdacht zu Grunde, die gesamte Fortpflanzungsmedizin<br />
sei letztlich ein Instrument in der Hand von Männern zum<br />
Zwecke der Herabwürdigung der Frau: als medizinisches Experimentierfeld und<br />
als Produzentin von biologischem Material.<br />
Der teleologische Punkt ist also wieder die Autonomie und Selbstbestimmung der<br />
Frau, für die – befremdlich genug – die Abtreibung als Erweis gesehen wird. Dies<br />
führt zu einer Grunderkenntnis, die auch in einem pragmatisch-strategischen Sinne<br />
von höchster Wichtigkeit ist: Der bioethische Konflikt zwischen lebensschützerischen<br />
und „liberalen“ Positionen ist kein Gegensatz zwischen Moral/Werten und<br />
206
Unmoral/fehlenden Werten, sondern von Moral versus Moral, und das macht die<br />
Sache so schwierig. Selbst der hierzulande so verfemte Singer hat einen moralischen<br />
Impuls, er ist kein bloßer Zyniker. Vielleicht stürzt er die gesamte bisherige<br />
Ethik nur deswegen in den Abgrund, weil er der Meinung ist, sie schütze die Tiere<br />
nicht genug, weil er „ein Herz für Tiere“, insbesondere die höher entwickelten hat.<br />
Die praktische Bedeutung dieser Erkenntnis ist, daß es in dieser Konstellation<br />
überhaupt keinen Sinn macht, der anderen Seite Moral abzusprechen, sie wird sich<br />
dagegen erfolgreich wehren können. Es kommt statt dessen alles darauf an, in die<br />
eigene Argumentation die tieferen Motive der anderen Seite mit aufzu nehmen, um<br />
sie in der eigenen Position aufzuheben. Am Beispiel Abtreibung und Sterbehilfe<br />
läßt sich das demonstrieren: Man kann den Nachweis führen, daß weder das eine<br />
noch das andere letztlich (also erst in zweiter Hinsicht) das Selbstbestimmungsrecht<br />
stärken, sondern im Gegenteil in die Heteronomie führen. In die Abhängigkeit<br />
einer funktional geschmiert laufenden Gesellschaft, die keine Störungen ihrer<br />
Optimierung mehr dulden will, sei es in Form von Pflegefällen, sei es in Form von<br />
Kindern.<br />
3. Antikatholizismus<br />
Ein weiterer reflexionsstörender Affekt in der Debatte ist aber der Antikatholizismus<br />
bzw. der Antipapismus. Dies kennt jeder: Die typische Sitzung, in der angeblich<br />
Argumente ausgetauscht werden, in der aber letztlich Personen mit Personen<br />
ringen und in denen eine Position sich nicht durchsetzen kann, nur weil sie von<br />
einer bestimmten Person vorgetragen wird. Dem „Liebhaber der Wahrheit“ muß es<br />
nun befremdlich vorkommen, daß dies nicht nur für Geschäfts-Meetings, Bundestagssitzungen<br />
und Familiengespräche gilt, sondern auch für so übergreifende Jahrhundertdebatten<br />
wie die Bioethik. Für die lebensschützerische Position oder genauer<br />
formuliert: für die Position der strengen Schutzwürdigkeit des Embryos von<br />
Anbeginn an ist es meist nicht sehr hilfreich in der öffentlichen Debatte, daß sie in<br />
einem hohen Maße als „katholische“ Position wahrgenommen wird.<br />
Damit wird ein Ressentiment geweckt, daß die sachliche Argumentation überstrahlt<br />
und die strittige Frage aus minderen Beweggründen heraus in eine bestimmte<br />
Richtung hin zum Abschluß bringt. Nun ist niemandem damit gedient, wenn<br />
persönliche konfessionelle Hintergründe geleugnet werden. Auch sollte nicht verkannt<br />
werden, daß tatsächlich in der sachlichen ethischen Debatte konfessionelle<br />
Unterschiede z. B. in der Bewertung des Naturrechts eine Rolle spielen. Aber auf<br />
dieser Ebene ist die erwähnte Obsession ja auch nicht gelagert.<br />
Es ist daher um so wichtiger, daß katholische und evangelische Christen gemeinsam<br />
ihr Engagement für den Lebensschutz demonstrieren. Denn beide Konfessionen<br />
haben in der Tat einen erheblichen Bereich von Deckungsgleichheit, der nur<br />
besser herausgestellt werden müßte, und dessen Eindeutigkeit leider häufig an dem<br />
antipapistischen Ressentiment der evangelischen Seite krankt.<br />
4. „Nationale Froschperspektive“ vs. „Kosmopolitismus“<br />
Als letztes Beispiel für eine eher oberflächliche „Dis kursinterferenz“ ist das Vorurteil<br />
zu nennen, die Position der strikten Schutzwürdigkeit des Embryos sei eine aus<br />
207
der nationalen Froschperspektive gewonnene Haltung, was umgekehrt evoziert,<br />
daß der Kosmopolit eine solche Haltung ablegen müßte.<br />
Zwar ist richtig, daß ein Blick über unsere Grenzen hinweg und auf dortiges staatliches<br />
Handeln nicht gerade hoffnungsvoll stimmt. Aber genauso richtig ist, daß<br />
der notwendige internationale und interkulturelle Dialog über den Schutz des Lebens<br />
noch gar nicht richtig begonnen hat. Kennen wir hierzulande schon die Diskussion<br />
in den USA genau genug? Wissen wir, wie Juden, Muslime, Hindus und<br />
Buddhisten darüber denken? Mag sein, daß in einem solchen interkulturellen Dialog<br />
der Bioethik unterschiedliche Beweggründe für den Schutz des Lebens zusammentreffen.<br />
Aber im Sinne dieses Schutzes wäre auch die Unterstützung von<br />
Vertretern anderer Kulturen gerechtfertigt, selbst wenn diese dabei „nur“ ihre Kritik<br />
an der Globalisierung ausdrücken wollten.<br />
208<br />
III.<br />
Logisches Muster der bisher erwähnten Diskursfallen, die letztlich den moralischen<br />
Status des Embryos gefährden, ist, daß die Argumentation auf einen Nebenschauplatz<br />
(z. B. „historische Verantwortung“) gezogen und dort, nicht da, wo sie<br />
hingehört, zum Abschluß gebracht wird. Es ist wichtig, diesen Mechanismus zu<br />
kennen, um sich ihm möglichst entziehen zu können. Was nun im folgenden zur<br />
Sprache kommen soll, dem kann man sich nicht mehr so leicht entziehen. In einer<br />
kurzen erläuternden Aufzählung sollen Grundzüge des heutigen Denkens vorgestellt<br />
werden, die nach Einschätzung des Autors die bioethische Debatte hintergründig<br />
bestimmen. Sie sind so kategoriell, daß ihre Widerlegung eines langen<br />
philosophischen oder theologischen Atems bedarf, und es ist das Verdienst von<br />
Wissenschaftlern wie Robert Spaemann, Dietmar Mieth oder Eberhard Schockenhoff,<br />
dies zu einer ihrer zentralen Aufgaben gemacht zu haben.<br />
1. Die Hypertrophierung von Krankheitsbefund und Gesundheitsanspruch<br />
Wir erleben heute eine grundlegende Verschiebung der Begriffe von Krankheit<br />
und Gesundheit. Immer mehr Menschen sagen von sich selbst, sie seien nicht gesund,<br />
und diese immer größer werdende Zahl stellt immer höhere Ansprüche an<br />
die medizinische Versorgung. Schon im Bereich der klassischen Medizin sorgt<br />
dies dafür, daß die de facto existierende, aber bisher tabuisierte Kluft zwischen<br />
denen, die sich Gesundheit und Heilung leisten können und denen, die auf Transferleistungen<br />
angewiesen sind, offenkundig wird und durch eine grundlegende<br />
Umwandlung der Finanzierung medizinischer Ve rsorgung aufgefangen werden<br />
muß.<br />
Es ist unmittelbar einleuchtend, daß diese Situation durch neue medizinische Ve rfahren,<br />
so wie sie in der Biomedizin gefunden werden sollen, nur verschärft werden<br />
kann. Aber nicht daß es eine Welt geben könnte, in denen es sich einige leisten<br />
können, bisher unheilbare Krankheiten behandeln zu lassen und andere es sich<br />
nicht leisten können, ist hier die Frage. Für die Frage der Statusgefährdung des<br />
Embryos ist entscheidend, daß der ungeheure Erwartungsdruck an die umfängliche<br />
Gewährleistung von Gesundheit einen Sog auf bisherige moralische Restriktionen
erzeugt. In der Abwägung der Güter kommt es bei einer Schwerpunktverlagerung<br />
zum universalen Gesundheitsanspruch hin leichter dazu, daß bisher schwerwiegende<br />
Bedenken wie der Embryonenschutz als zu leicht befunden werden.<br />
Es ist stark zu bezweifeln, daß im Gegensatz zu den vorhin genannten Punkten in<br />
dieser Frage leicht Abhilfe zu schaffen ist, geht doch die Verschiebung des Gesundheitsbegriffs<br />
hin zu einer umfassenden leiblichen Perfektion einher mit dem<br />
Verlust des Bedürfnisses nach spirituell-geistlicher Wohlbehaltenheit und hat starke<br />
Strukturähnlichkeit mit anderen Optimierungsvorgängen heutiger Zeit. Der<br />
Körper wird in einer gottfernen Zeit ein autarkes ökonomisch strukturiertes System,<br />
das permanent optimierungsbedürftig und –fähig ist. Dieser Dynamik haben<br />
sich auch die biologischen Teile unterzuordnen, die gesundheits- bzw. optimierungsirrelevant<br />
sind, z. B. menschliche Embryonen.<br />
2. Historizität, Fortschritt und relative Gültigkeit<br />
Ein Argument konnte bei der Diskussion der vergangenen Jahre immer besonders<br />
ins Grübeln versetzen. Es spielt mit der Vergänglichkeit von Maßstäben und der<br />
Historizität von Moral. Wenn heute die Medizin nach embryonaler Stammzellforschung<br />
verlange und die Kirche dagegen sei, dann sei dies im analogen Sinne<br />
vergleichbar z. B. mit der Renaissancezeit, wo Ärzte die Möglichkeit der Leichensezierung<br />
ins Auge faßten und dies von der Kirche strengstens untersagt wurde.<br />
Die Leichensezierung erscheint uns Heutigen moralisch völlig unproblematisch,<br />
die positiven Effekte des Tabubruchs aber liegen auf der Hand. Sollte es mit der<br />
Stammzellforschung nicht genauso sein? Wird eines Tages niemand mehr verstehen,<br />
weshalb heute so erbittert gestritten wird? Und niemand kann behaupten, wir<br />
lebten im Gegensatz zu damals in einer kategoriell schlechteren Welt!<br />
Die kategorischen Positionen von heute stehen somit immer schon im Zwielicht<br />
der weiteren Geschichte, der Mensch gewöhnt sich daran, alles historisch, vorläufig,<br />
„halb so wild“ zu nehmen. Slippery-slope-Argumente haben es dabei schwer.<br />
Aber halt: Wird wirklich alles „halb so wild“ genommen? Warum dann nicht auch<br />
die Ausrottung bestimmter Tierarten („unersetzlicher Verlust“), die Atomrüstung<br />
(„Weltuntergang“),die Unterdrückung von Minderheiten, die Frage der Gleichberechtigung<br />
von Mann und Frau. Offensichtlich sind die Menschen Historisten,<br />
wenn es ihnen in den Kram paßt und Dogmatiker, wenn ihnen etwas wichtig ist.<br />
Was allerdings nichts daran ändert, daß der historische Relativismus im hier behandelten<br />
Falle greift. Warum? Warum gehört der moralische Status des Embryos<br />
immer mehr in den Bereich der moralisch indifferenten Dinge?<br />
3. Die innerweltliche Entropie / Die Jetzt-Gesellschaft<br />
Man muß auch die alltägliche individuelle und kollektive Zeit-Vorstellung von<br />
heute in Rechnung stellen. Mit Wegfall der Ewigkeitsoption des Menschen verschwindet<br />
zum einen die Vorstellung, man müsse sich irgendwann für sein Leben<br />
verantworten. Das Wort „Sünde“ macht dann keinen Sinn mehr, wenn die „höhere“<br />
Instanz fehlt, die nach „Sünden“ am Ende des Lebens jedes Einzelnen fragt und<br />
damit etwas anderes als „Irrtümer“ oder „Fehler“ meint. Der heutige Mensch würde<br />
am Ende seines Lebens sicher zugeben, er habe dann und wann „Mist gebaut“,<br />
aber als „Sünde“ im Sinne eines Vergehens mit unendlicher Auswirkung auf die<br />
209
Existenz in der Ewigkeit, wird dies zumeist nicht mehr empfunden werden. Dies<br />
hat natürlich für sich schon Auswirkungen auf unsere Frage.<br />
Hier aber ist entscheidend, daß der Wegfall der Ewigkeit das spezifische Gewicht<br />
der diesseitigen Zeit ins Unermeßliche steigert. Hier liegt ein verborgener logischer<br />
Verbindungsgang zu der Frage nach der Hypertrophierung von Gesundheit. Gesundheit<br />
ist die innerweltliche Utopie, dem sich alles zu fügen hat. Sie ist die weltimmanente<br />
Heilsverheißung, das höchste Glück auf Erden. Gesundheit, also innerweltlicher<br />
Vollkommenheit fehlt das gelassen machende Korrektiv der „höheren“,<br />
jenseitigen Welt, sie wird dadurch ausschließlich und verdrängend. So verdrängend,<br />
daß der Tod von etwas in Kauf genommen wird, dem man offensichtlich<br />
eine niedrigere Dignität von Sein zuspricht.<br />
4. Vom christlichen Menschenbild zur antiken Seinshierarchie<br />
Hier ist man offensichtlich bei dem eigentlichen Punkt angekommen, der den Lebensschutz<br />
und den Einsatz für das ungeborene Leben von Anfang an so schwierig<br />
macht. Warum setzt sich die Kirche so vehement für die volle Schutzwürdigkeit<br />
des Lebens mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ein? Warum läßt sie<br />
dabei „nicht mit sich handeln“, auch nicht um ein paar (aus der Sicht der Gegner)<br />
unbedeutende Tage? Weil sie der Ansicht ist, daß jede andere Terminierung des<br />
Beginns des Lebens deshalb unstatthaft ist, weil sie Leben in ein „vor der Erlangung<br />
voller Würde“ und ein „nach der Erlangung voller Würde“ einteilt, also in<br />
vollwertiges und nicht vollwertiges Leben differenziert.<br />
Der Verschmelzungstermin ist nicht als Termin so sehr „richtig“, sondern aus<br />
seiner Funktion heraus, alles Leben als Lebens-wert erscheinen zu lassen. Der<br />
Verschmelzungstermin ist der am meisten inkludierende und der am wenigsten<br />
exkludierende Zeitpunkt für den Lebensbeginn. Mit ihm vollzieht die Kirche auf<br />
bioethischem Felde, was im christlichen Menschenbild als Gleichheit aller Geschöpfe<br />
vor Gott ausgedrückt ist. Aufmerksame Beobachter der Zeit wie z. B.<br />
Kardinal Ratzinger, den Sloterdijk in einer hellen Stunde einmal als den „Nietzsche<br />
des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat (insofern er als gänzlich Unzeitgemäßer seiner<br />
Zeit den Spiegel vorhält), haben bemerkt, daß dieses inkludierende Menschenbild<br />
heute auf dem Rückmarsch ist. Historisch gesehen entwickeln wir uns zurück<br />
zu einem antikisch gestuften Menschenbild, in dem es ein Oben und Unten, ein<br />
Wertes und Unwertes gibt.<br />
Das Christentum ist die Religion der Pluralität, des Zufalls, des Geltenlassens von<br />
Unterschieden, heidnisch ist das Einteilen, das Ausschließen, die Elimination von<br />
nebeneinander geltender Vielheit. (Und wenn sich das Christentum in der Vergangenheit<br />
zuweilen auch so verhalten hat, dann war es noch nicht zu sich selbst gekommen.)<br />
Es ist der Geist des Unterschieds, der herrscht, wenn Singer die Rationalität<br />
eines Wesens zum Kriterium für die Behandlung, die ihm zuteil wird, macht.<br />
Es ist der Geist des Unterschieds, der Hans-Olaf Henkel sagen läßt: „Ich vermag,<br />
mit Verlaub, in einem Zellklumpen im Reagenzglas noch keinen Menschen zu<br />
entdecken.“ Es ist dasselbe Motiv, das Reinhard Merkel den absurden intuitionistischen<br />
Beweisgang anhand des Krankenhausbrand-Beispiels machen ließ. (Merkel<br />
fragt rhetorisch: Was rette man eher bei einem Brand des Krankenhauses: einen<br />
210
schreienden Säugling oder die Kulturen im Kühlschrank? – Dabei liegt auf der<br />
Hand, daß – in einem anderen Bild gesprochen – keine Aussage über die Menschenwürde<br />
dadurch gemacht wird, daß man bei einem Unfall sein eigenes Kind<br />
oder seine Frau vor einer anderen Person rettet.)<br />
Nicht nur Rationalität, Selbsterfahrung, Artikulationsfähigkeit, auch Schönheit,<br />
Gesundheit und fehlende geistige und körperliche Behinderung gehören zu einem<br />
solchen antikisch-heidnischen Kriterienkatalog, den die heutige Zeit sich anschickt,<br />
an den Menschen zu legen. Es liegt auf der Hand, daß der Embryo da wenig Chancen<br />
hat. Aber auch das behinderte Leben, die Dementen und Sterbenskranken.<br />
Vielleicht liegt hier auch der Schlüssel zu einer Tatsache, die kaum zu verstehen<br />
ist: Wie ist es möglich, daß – wie Mediziner berichten – in einer Klinik Tür an Tür<br />
im einen Saal die sechs Monate alte 500g-Frühgeburt neonatologisch behandelt, im<br />
anderen aber ein acht Monate alter Fötus spätabgetrieben wird? Ist es deswegen,<br />
weil die Frühgeburt leibhaftig sichtbar wird, sich artikuliert, seinen Lebenswillen<br />
ausdrücken kann, während das Ungeborene in Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit<br />
verharrt?<br />
5. Artikulationsfähigkeit und das Dilemma der Diskursethik<br />
Die mangelnde Artikulationsfähigkeit ist auch in einer anderen Hinsicht von großer<br />
Bedeutung. Dies soll hier nur kurz angedeutet werden. Im allgemeinen rückt<br />
die heutige Ethik von naturrechtlichen oder Letztbegründungen des moralischen<br />
Handelns ab. Es ist schon beinahe ethischer Common Sense, daß über das Gute in<br />
einem Diskurs der Gleichberechtigten befunden werden muß; daß also, mit anderen<br />
Worten, das moralisch Gute nicht von Anfang an feststünde und nur „gefunden“<br />
werden müsse, sondern darüber erst im Dialog befunden werden muß. Was<br />
aber geschieht in einem solchen Diskurs mit all denen, die sich nicht artikulieren<br />
können? Sie brauchen Fürsprecher, die sich ihres Schicksals annehmen. Das ist<br />
noch relativ unproblematisch, gilt dies doch für Kinder, Tiere und Embryonen in<br />
gleichem Maße.<br />
Problematisch wird die Diskursethik aber erst in einer medialisierten und sensualistischen<br />
Zeit, also in einer Zeit, die nicht den abstrakten Gedanken über etwas,<br />
sondern den konkreten Sinneseindruck von etwas als Movens braucht. Erst die<br />
Bilder in Treibnetzen verendender Meeressäuger lassen Menschen zu Fürsprechern<br />
der Wale werden, die sie sonst vielleicht nicht wären. Erst das Weinen verhungernder<br />
Kinder in Afrika setzt weltweite Solidarität frei. Wer aber berichtet aus<br />
dem Mutterleib? Ohne Fürsprecher, pressure-groups etc. ist man kein Faktor der<br />
Diskursethik, man kommt nicht vor. Aber dies läßt sich natürlich bewerkstelligen.<br />
Im Gegensatz zu den problematischen Aspekten Gesundheitshypertrophie, Relativismus,<br />
Innerweltlichkeit und Ablösung des christlichen Menschenbildes ist diese<br />
Herausforderung von der Lebensschutzbewegung noch am leichtesten zu bewältigen.<br />
Dr. Johannes Christian Koecke ist Leiter des Teams Religion und Wertorientierung<br />
bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.<br />
211
212<br />
Klaus Friedrich Kempfler<br />
Rechtsbewußtsein und Rechtserziehung<br />
als Elemente politischer Bildung<br />
Gegenwärtig verbindet sich ein abnehmendes Interesse an Politik mit einem<br />
Verlust des Konsenses über die Grundwerte in Staat und Gesellschaft. Dies zeigt<br />
sich namentlich auch in einem schwindenden Rechtsbewußtsein. Demgegenüber<br />
muß es jedoch gelingen, dem Rechtsbewußtsein und damit der Rechtserziehung<br />
gerade auch in der politischen Bildungsarbeit 1 einen hinreichenden Stellenwert<br />
zu verschaffen. Die nachfolgende Darstellung unternimmt den Versuch, Rechtsbewußtsein<br />
und Rechtserziehung als spezifische und zugleich integrale Bestandteile<br />
politischer Bildung herauszustellen und einen Rahmen für ihre Vermittlung<br />
zu zeichnen.<br />
I. Recht<br />
Die Begriffe Rechtsbewußtsein und Rechtserziehung erfordern zunächst einen<br />
Aufenthalt bei der Frage, was Recht ist, an die sich die Fragen, was Rechtsbewußtsein<br />
und Rechtserziehung sind und in welchem Zusammenhang sie zueinander<br />
stehen, anschließen lassen.<br />
1. Recht im System gesellschaftlicher Normen<br />
1.1 Soziale Normen im Allgemeinen<br />
Das gesellschaftliche Zusammenleben ist in vielfacher Hinsicht normativ geprägt,<br />
was bedeutet, daß in gleichfalls vielfacher Hinsicht Sollensbedingungen<br />
aufgestellt sind, die das gesellschaftliche Zusammenleben strukturieren und<br />
konstituieren. Von ihrer Funktion her weisen all diese Sollensbedingungen Gemeinsamkeiten<br />
auf, allerdings gibt es zwischen ihnen auch Unterschiede etwa in<br />
der Genese, in der Verbindlichkeit, im Grade des Bewußtseins und letztlich in<br />
der Sanktionierbarkeit eventueller Verstöße gegen die entsprechenden Normen.<br />
Rechtlichen Normen sind nur eine von vielen Arten sozialer Normen, allerdings<br />
besonders ausgezeichnete. Als davon zu unterscheidende soziale Normenordnungen<br />
stehen Brauch und Mode, Sitten und Konvention, Anstand und ähnliches,<br />
aber auch Religion und Moral 2 daneben. Soweit es um den Grad des Bewußtseins<br />
geht, läßt sich folgende Abgrenzung treffen: Beim Brauch handelt es<br />
sich um ein automatisches Tun, das ohne nähere Begründung praktiziert wird.<br />
Das Handeln entsprechend dem Brauch erfolgt in ritualisierender bzw. ritualisierter<br />
Weise. Bräuche sind eingespielte Formen des Umganges miteinander, an<br />
die man sich hält. Die Sitten unterscheiden sich hiervon vor allem dadurch, daß<br />
sie bewußter praktiziert werden. Auch sie entwickeln sich im Umgang der Menschen<br />
miteinander und bestimmen ihr Verhalten. Anders als beim Brauch ist bei
den Sitten der Entstehungsgrund die Forderung nach sittlich gutem Handeln,<br />
nicht die bloße Üblichkeit oder Zweckmäßigkeit des äußeren Verhaltens. Das<br />
Recht ist diejenige konkrete Handlungsanweisung, die regelmäßig durch eine<br />
Kodifikation, das heißt durch ausdrückliche Niederlegung ausgezeichnet ist. Ein<br />
wesentlicher Unterschied des Ordnungsgefüges der Religion gegenüber Brauch,<br />
Sitte und Recht besteht darin, daß die glaubensmäßigen, also religiösen Pflichten<br />
nicht in erster Linie – vielmehr nur mittelbar – anderen Menschen, sondern regelmäßig<br />
Gott oder einem göttlichen Wesen geschuldet sind.<br />
2. Funktionen sozialer Normen<br />
Allen sozialen Normen sind vier Funktionen 3 gemein: Soziale Normen befreien<br />
von Entscheidungsdruck und bieten erprobte, bewährte Verhaltensmuster an,<br />
entlasten also von der Notwendigkeit eines Übermaßes an Entscheidungen. Sie<br />
ermöglichen eine Konzentration auf diejenigen Gegebenheiten, bei denen Entscheidungen<br />
tatsächlich unumgänglich sind. Die weitere Funktion von sozialen<br />
Normen besteht darin, daß sie Erwartungssicherheit herstellen. Soziale Normen<br />
bewirken, daß sich Menschen in einer Vielzahl von verschiedenen, aber wiederkehrenden<br />
Situationen auf dieselbe Weise verhalten und führen damit zu Verhaltensregelmäßigkeiten.<br />
Das Verhalten von Personen – gegebenenfalls auch von<br />
Institutionen – kann so ohne deren nähere Kenntnis in die Lebensplanung einbezogen<br />
werden, es wird vorhersehbar und berechenbar. Als dritte Funktion von<br />
sozialen Normen ist die Verhaltenskoordination zu nennen. Der Einzelne lebt<br />
nicht isoliert, sondern im gesellschaftlichen Kontext. Dieses Nebeneinander oder<br />
besser Miteinander macht es unumgänglich, daß Regelungen existieren, die Konfliktlösungsmuster<br />
bereithalten. Diese Muster sind notwendig zum einen, um die<br />
friedliche Koexistenz der Individuen zu ermöglichen – insoweit steht das Nebeneinander<br />
im Vordergrund –, um andererseits aber auch Fragen der Kooperation –<br />
insoweit ist das Miteinander angesprochen – verbindlich zu lösen. Schließlich<br />
kann als vierte Normfunktion die Integration identifiziert werden. Normen sind<br />
die konkrete Ausformung von Werten, Interessen und Leitbildern. Gemeinsame<br />
Normen bedeuten gemeinsame Werte, gemeinsame Werte bedingen den Zusammenhalt<br />
einer Gruppe. Dies gilt für kleinere Einheiten, zum Beispiel die<br />
Familie, Vereine oder andere gesellschaftliche Zusammenschlüsse, ebenso wie<br />
für den Staat im Großen.<br />
3. Akzeptanz und Durchsetzung sozialer Normen<br />
Zentrale Fragen sind, warum soziale Normen befolgt werden, warum Menschen<br />
geneigt sind, soziale Normen – also auch das Recht – zu akzeptieren und wie die<br />
Nichtbefolgung sozialer Normen sanktioniert wird.<br />
Die Beachtung sozialer Normen ist vornehmlich erlerntes Verhalten. Soziale<br />
Normen werden weitergegeben. Der Einzelne erlernt soziale Normen im Prozeß<br />
der Sozialisation, das heißt in jenem Prozeß, in dem er in seine jeweilige soziale<br />
Gemeinschaft oder in die Gesamtgesellschaft hineinwächst. Über die Einhaltung<br />
der sozialen Normen durch das Individuum wacht zunächst die soziale Kontrolle.<br />
Diese äußert sich hierbei insbesondere auch in der Verhängung von Sanktionen<br />
für den Fall der Nichtbeachtung einer sozialen Norm. Derjenige, der sich der<br />
213
Befolgung widersetzt, setzt sich der Gefahr gesellschaftlicher Ächtung aus, die<br />
im Einzelfall von der bloßen Mißbilligung bis hin zur Gewaltanwendung reichen<br />
kann. Im Sinne der jeweiligen Gesellschaftsordnung ist Sozialisation im Wesentlichen<br />
dann gelungen, wenn das Individuum die ihm zur Befolgung vorgestellten<br />
Normen nicht mehr als von außen auferlegt empfindet, sondern sie freiwillig, als<br />
selbstverständlich oder gar aus Überzeugung befolgt. Diese Vorstellung der<br />
Sozialisation stößt jedoch auf Schwierigkeiten, soweit man die Individualität des<br />
Einzelnen in den Vordergrund rückt. Sie stößt namentlich auch dann auf Schwierigkeiten,<br />
wenn man davon ausgeht, daß soziale Normen anpassungsfähig, in<br />
ihrer Entwicklung dynamisch und im Zeitablauf wandelbar sein müssen. 4 Es gilt<br />
damit, den Grat zwischen der Befolgung sozialer Normen und der Anpassungsfähigkeit<br />
des Gesamtsystems im Hinblick auf die Entfaltungsbedürfnisse des<br />
Einzelnen auszuloten. Die Herstellung dieser Balance ist von entscheidender<br />
Bedeutung für das Verhältnis des Individuums zu sozialen Normen, insbesondere<br />
zum Recht, und damit für das Normen- und Rechtsbewußtsein des Einzelnen.<br />
2. Besonderheiten des Rechts<br />
Eine Besonderheit des Rechts innerhalb und im Vergleich zu den übrigen sozialen<br />
Normen ist darin zu erblicken, daß für dessen Durchsetzung staatlicherseits<br />
spezifische Instrumente und Institutionen existieren. Die Befolgung des Rechts<br />
ist durch die Anwendung von Zwangsmöglichkeiten abgesichert, die aufgrund<br />
eigens geregelter Verfahren und durch eigens hierfür eingesetzte Organe erfolgt. 5<br />
Hinter dem Recht steht anders als den übrigen sozialen Normensystemen die<br />
Gewalt des Staates mit praktisch unwiderstehlichen Vollstreckungsmitteln: „iuris<br />
effectus in exe cutione consistit“, die Wirkung des Rechts liegt in seiner Vollstreckung.<br />
Darüber hinaus ist für das Recht kennzeichnend, daß es in besonderer<br />
Weise auf Verbindlichkeit gerichtet, oft schriftlich fixiert und regelmäßig auf<br />
einen spezifischen Prozeß der Rechtserzeugung zurückzuführen ist.<br />
3. Recht und Gerechtigkeit<br />
Während es der Religion um ein auf Gott ausgerichtetes Leben geht, die Bräuche<br />
bestimmte Formen des mitmenschlichen Umgangs bezwecken, die Moral bzw.<br />
Sittlichkeit auf das Gute abzielt, strebt das Recht nach Gerechtigkeit. Rechtliche<br />
Regelungen existieren nicht um ihrer selbst willen. Sie bedeuten nicht ein für<br />
sich abgeschlossenes und nur aus sich heraus erklärbares, verständliches und<br />
interpretierbares System. Vielmehr bedarf das Recht einer ständigen Rückkoppelung<br />
an die gesellschaftliche Realität. Das Recht wird durch die gesellschaftliche<br />
Realität determiniert, während andererseits auch die gesellschaftliche Realität<br />
durch das Recht determiniert werden kann. Nicht alles, was als Recht ausgegeben<br />
wird, ist „recht“ im Sinne von „rechtens“ oder von „gerecht“. Recht und<br />
Gerechtigkeit sind tatbestandlich verschieden. Das Recht kann Mittel zur Ve rwirklichung<br />
von Gerechtigkeit sein, das Recht kann auch das Ergebnis der<br />
Grundüberzeugungen davon sein, was als gerecht empfunden wird. Recht und<br />
Gerechtigkeit decken sich jedoch nicht notwendigerweise, jedenfalls nicht notwendigerweise<br />
vollständig. Rechtliche Normen, also Normen, die als allgemein<br />
verbindlich und somit als vom Einzelnen zu befolgend erlassen worden sind,<br />
können evident von dem, was als gerecht empfunden wird, abweichen. Recht<br />
214
kann zum Instrument der Herrschenden werden, gleichgültig ob damit der Gerechtigkeit<br />
als Prinzip Rechnung getragen wird oder nicht. Es kann also auch<br />
ungerecht sein oder als ungerecht empfunden werden, wenngleich man im allgemeinen<br />
Sprachgebrauch Schwierigkeiten haben wird, Recht, welches als ungerecht<br />
empfunden wird (oder ungerecht ist), als Recht und nicht als Unrecht zu<br />
bezeichnen. An das Recht ist in diesem Zusammenhang die Forderung zu stellen,<br />
daß es Gerechtigkeit zu verwirklichen hat. Es sollte der Gerechtigkeit dienen und<br />
nicht zum Selbstzweck werden.<br />
Damit kommt der Frage danach, was gerecht und was ungerecht ist, eine zentrale<br />
Bedeutung zu. Dies zu entscheiden ist jedoch zunächst kein rechtliches, sondern<br />
ein philosophisches bzw. politisches Problem. Auf die Frage, was Gerechtigkeit<br />
ist, gibt es als Antwort jedenfalls keine Definition. Der Begriff der Gerechtigkeit<br />
entzieht sich als Grund- oder Urbegriff der Möglichkeit einer Festlegung, es<br />
handelt sich um einen originären Begriff. 6 Dennoch haben sich mehrere Aspekte<br />
als Definitionselemente für den Gerechtigkeitsbegriff herausgebildet: Von alters<br />
her werden dem Gerechtigkeitsprinzip zwei Maximen zugeschrieben, nämlich<br />
jedem das Seine zu gewähren und vor allem wesentlich Gleiches gleich, wesentlich<br />
Ungleiches im Verhältnis der Ungleichheit ungleich zu behandeln. Allerdings<br />
– und damit ist die politisch-philosophische Dimension des Gerechtigkeitsbegriffs<br />
aktualisiert – gab und gibt es zu der Frage, was gleichartig und<br />
gleichwertig ist, in allen Rechtsordnungen und zu allen Zeiten divergierende<br />
Auffassungen. Die Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit ist in hohem<br />
Maße von den Anschauungen und Wertungen, die in einem geschichtlichen<br />
Zeitabschnitt und in einer bestimmten Gesellschaft herrschen, abhängig.<br />
Im freiheitlich-demokratischen Staat, namentlich in der Bundesrepublik<br />
Deutschland, wird inhaltlich – von der Tendenz her – dasjenige Recht als gerecht<br />
bezeichnet werden können, welches den normativen Grundüberzeugungen, die<br />
unsere christlich-abendländisch geprägte Kultur hervorgebracht hat und welche<br />
sich insbesondere in den Grundrechten des Grundgesetzes niedergeschlagen<br />
haben, Rechnung trägt. Die Rechtsetzung wie die Rechtsanwendung und Rechtsprechung<br />
sind kraft Art. 1 Abs. 3 GG an die Beobachtung der Grundrechte<br />
gebunden. Die Grundrechte sind unmittelbar geltendes Recht. Durch Art. 79<br />
Abs. 3 GG ist festgelegt, daß unter anderem Art. 1 Abs. 1 GG, der Grundsatz der<br />
Unantastbarkeit der Würde des Menschen, einem absoluten Unabänderlichkeitsgebot<br />
unterliegt. Dies bedeutet, daß zwar die Einzelgrundrechte prinzipiell nicht<br />
der Ewigkeitsgarantie unterliegen, aber jedenfalls der – wohl auch jedem Einzelgrundrecht<br />
innewohnende – Kerngehalt der Menschenwürde gewährleistet ist,<br />
dies allerdings auch soweit er sich in den Einzelgrundrechten niedergeschlagen<br />
hat. Unter dem Grundgesetz können die Grundrechte für sich beanspruchen, den<br />
Grundbestand an Gerechtigkeitsvorstellungen, der für das Funktionieren unseres<br />
Gemeinwesens unabdingbar ist, zu normieren. 7 Neben den Grundrechten ist die<br />
Statuierung der Rechtsstaatlichkeit wesentlich. In der Grundrechtsgebundenheit<br />
und der Verpflichtung auf den Rechtsstaat – auch und gerade in der Zusammenschau<br />
mit dem demokratischen und sozialstaatlichen Prinzip – spiegeln sich die<br />
aktuellen, unsere Gesellschaft prägenden Gerechtigkeitsvorstellungen wider.<br />
215
216<br />
II. Rechtsbewußtsein<br />
Bezogen sich die vorgehenden Überlegungen auf das Recht und die Gerechtigkeit,<br />
so sind nun Überlegungen über das Rechtsbewußtsein anzustellen. Unter<br />
Rechtsbewußtsein läßt sich als Forschungsgegenstand mehrerlei verstehen. Ganz<br />
allgemein geht es um die Einstellung der Bevölkerung zum Recht. 8 Dabei lassen<br />
sich als einzelne Untersuchungsgegenstände die folgenden Teilbereiche voneinander<br />
abgrenzen: 9 Die Einstellung der Bevölkerung zum Recht kann zunächst<br />
ganz allgemein als die Frage nach der allgemeinen – positiven oder negativen –<br />
Einstellung der Bevölkerung zum Recht insgesamt formuliert werden. Andererseits<br />
geht es bei der Frage nach der Einstellung der Bevölkerung zum Recht um<br />
die Kenntnisse über bestimmte rechtliche Verhaltensnormen und die diesbezüglichen<br />
Sanktionsdrohungen. Letztlich kann die Einstellung der Bevölkerung zum<br />
Recht danach bemessen werden, inwieweit Meinungen darüber vorherrschen,<br />
wie ein bestimmter Konflikt gelöst werden sollte oder ob die rechtlich vorgesehene<br />
Problemlösung gebilligt wird. 10<br />
Teilweise wird die Frage nach dem Rechtsbewußtsein bzw. dem Rechtsgefühl<br />
auch danach beantwortet, ob ein Verbindlichkeitsgefühl im Sinne einer Achtung<br />
vor der Rechtsordnung vorzufinden ist bzw. subjektive Rechtsideale existieren<br />
oder ob eine durch die juristische Ausbildung und Erfahrung entwickelte Fähigkeit<br />
von Juristen zu intuitiver Lösung von Rechtsfragen besteht. 11 Geht es hier<br />
nach dem ersten Maßstab vornehmlich um die Rechtskenntnisse des Publikums,<br />
so hat der zweite bereits den Berufsjuristen im Blick. Gemeinsam ist allen Ansätzen,<br />
daß Antworten auf die gestellten Fragen nur empirisch gefunden werden<br />
können. Das Vorhandensein eines Rechtsgefühls, das Vorhandensein von<br />
Rechtsbewußtsein ist sonach empirisch zu ermitteln. So lassen sich Untersuchungen<br />
darüber anstellen, ob in der Bevölkerung eine sogenannte legalistische<br />
Grundeinstellung existiert. Auf eine solche kann man schließen, wenn jemand<br />
die Frage, ob man Gesetze auch befolgen soll, wenn man sie nicht für gerecht<br />
hält, bejaht. Zu beachten gilt es jedoch, daß Untersuchungen der genannten Art<br />
nur punktuelle Befunde liefern, aus denen sich kein allgemeines Rechtsbewußtsein<br />
mit greifbarem Inhalt erkennen läßt. Aber gerade hierin wird die allgemeine<br />
Einstellung der Gegenwartsgesellschaft zum Recht gesehen, nämlich daß es ihr<br />
oftmals an einem spezifischen Rechtsbewußtsein fehlt. Generell läßt sich wohl<br />
die Aussage treffen, daß dasjenige, was Juristen oder Soziologen unter Recht<br />
verstehen, nicht unbedingt der Erlebniswelt des Publikums entspricht. Der Allgemeinheit<br />
begegnet das Recht nicht als Einheit, sondern in vielen Erscheinungsformen,<br />
deren Zusammenhang ihr oft nicht bewußt wird. 12<br />
Ein besonderes Kennzeichen moderner Grundeinstellung gegenüber dem Recht<br />
scheint ihre relative Unbestimmtheit zu sein. 13 Weder kann sich das Recht auf<br />
einen weitreichenden Konsens über Ziele und Verfahren stützen, noch fehlt es<br />
aber auf der anderen Seite an dezidierter Ablehnung, die über eine Ablehnung<br />
konkreter Einzelregelungen hinausreicht.<br />
Allgemein ergibt sich für das Rechtsgefühl oder für das Rechtsbewußtsein – in<br />
Abstraktion von exemplarischen empirischen Befunden –, daß es sich um das
persönliche „Für-richtig-Halten“ in Bezug auf Gerechtigkeitsfragen handelt.<br />
Wesentlich ist dabei, daß die Erkenntnisquelle, hinter die man nicht zurückgehen<br />
kann, im subjektiven Bewußtsein der Billigungs- oder Mißbilligungswürdigkeit<br />
liegt. 14 Unter diesem Blickwinkel ist Rechtsbewußtsein eine maßgebliche Quelle<br />
des Rechts. Es dirigiert den gesamten Vorgang der Rechtsbildung. Im Rechtsbewußtsein<br />
entstehen Vorstellungen über die Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen<br />
und über ihren Inhalt. Das Rechtsgefühl determiniert den Prozeß der Rechtsetzung,<br />
in welchem die tatsächlichen Gegebenheiten, die geltende Wertordnung<br />
und die Gemeinwohlziele miteingebunden, gewertet, miteinander abgewogen<br />
und in der für richtig gehaltenen Weise berücksichtigt werden.<br />
III. Rechtserziehung<br />
Die Problematik der Rechtserziehung wirft einerseits die Frage auf, wo institutionell<br />
Rechtserziehung stattfinden kann, das heißt, wo der Bürger in den Genuß<br />
einer Rechtserziehung kommt und kommen kann, auf der anderen Seite ist nach<br />
dem materiellen Gehalt der Rechtserziehung zu fragen, also danach, was inhaltlich<br />
Gegenstand von Rechtserziehung sein kann oder sein sollte.<br />
1. Institutionell<br />
Rechtserziehung kann in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen stattfinden.<br />
Sie wird bereits in der Familie ansetzen, etwa in der Erziehung der Kinder dahingehend,<br />
daß gesetzliche Regelungen zu beachten sind. In der Familie bzw. im<br />
familiären Umfeld wird Rechtserziehung in vielfältiger Weise auch mit einer<br />
Werteerziehung oder mit einer Erziehung zu bestimmten Moralvorstellungen<br />
verbunden sein. Rechtserziehung kann in den Schulen stattfinden, namentlich in<br />
wirtschafts-rechtlichen aber auch und vor allem, soweit die Rechtserziehung in<br />
Bezug zur politischen Bildung gebracht wird, in sozialkundlichen Fächern.<br />
Rechtserziehung kann auch durch Institutionen des Rechtslebens im engeren<br />
Sinne, wie die Gerichte, sowie durch staatlich-politische Institutionen, also beispielsweise<br />
Parlament, Regierung und Parteien erfolgen. Rechtserziehung kann<br />
Gegenstand universitärer Ausbildung sein, wobei jedoch das Studium der<br />
Rechtswissenschaft nicht mehr bzw. nicht nur als Rechtserziehung im hier gemeinten<br />
Sinne zu begreifen ist. Es ist festzuhalten, daß unter Rechtserziehung im<br />
hiesigen Sinne nicht ein Rechtsstudium im verkleinerten Abbild 15 verstanden<br />
werden darf.<br />
Rechtserziehung im hiesigen Sinne bedeutet vielmehr die Vermittlung von<br />
Grundkenntnissen und Grundstrukturen, die es dem einzelnen Bürger, der sich<br />
nicht einer Ausbildung zum Berufsjuristen unterzieht, ermöglichen sollen, sich<br />
innerhalb der Rechtsordnung, die ihn umgibt, zurechtzufinden und sie zu verstehen.<br />
Dabei ist es freilich notwendig, daß eine Erziehung dahingehend stattfindet,<br />
daß der Einzelne dazu befähigt wird, sich kritisch mit dem Recht und kritisch mit<br />
den rechtssetzenden und rechtsanwendenden Institutionen auseinanderzusetzen. 16<br />
Gerade der letztgenannte Aspekt erfordert es, daß die genannten Institutionen<br />
ihre Aufgaben transparent, bürgernah und verständlich ausüben. Unabdingbare<br />
Voraussetzungen hierfür ist es, daß die Öffentlichkeit Einblick in die Arbeit<br />
217
dieser Institutionen erhält. Diese Öffentlichkeit kann insbesondere durch die<br />
Medien vermittelt werden, sie soll aber auch die unmittelbare Informationsmö glichkeit<br />
durch den einzelnen Bürger beinhalten. So finden etwa in den Parlamenten<br />
die (Voll-)Sitzungen grundsätzlich öffentlich statt. Für die Gerichte ist im<br />
Gerichtsverfassungsgesetz bestimmt, daß im Regelfall öffentlich verhandelt<br />
wird. Die entsprechende Vorschrift bezweckt dabei zweierlei: Einerseits hat sie<br />
einen erzieherischen Aspekt, nämlich Verständnis für Tätigkeiten der Gerichte<br />
zu erwecken, auf der anderen Seite ist damit eine Kontrolle der Arbeit der Gerichte<br />
durch die Öffentlichkeit intendiert.<br />
Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, die Rechtsprechung finde hinter<br />
verschlossenen Türen statt, sie habe gegenüber den Bürgern etwas zu verbergen.<br />
Zur Absicherung der Öffentlichkeit ist normiert, daß ein Ausschluß der Öffentlichkeit<br />
regelmäßig einen schweren Verfahrensverstoß bedeutet, der wiederum<br />
regelmäßig zur Aufhebung etwa eines Urteils führt. Schließlich kann Öffentlichkeitsarbeit<br />
von den politischen Parteien geleistet werden, die darüber informieren,<br />
welche Vorstellungen das menschliche Gemeinwesen betreffend sie in geltendes<br />
Recht umsetzen wollen.<br />
2. Materiell<br />
Inhaltlich muß Rechtserziehung darauf gerichtet sein, beim Einzelnen ein Ve rständnis<br />
für das Recht sowie für rechtliche Zusammenhänge zu entwickeln.<br />
Rechtserziehung sollte inhaltlich darauf gerichtet sein, die Stellung des Einzelnen<br />
als einerseits Rechtsunterworfenen als andererseits aber auch mündigen<br />
Bürger innerhalb des rechtlichen Systems – im besonderen des politischen Systems<br />
– zu verdeutlichen. Rechtserziehung ist dabei auch Werteerziehung. Die<br />
rechtliche Ordnung fußt letztlich auf gemeinsamen Werteüberzeugungen der<br />
Individuen. Die rechtliche Ordnung im freiheitlich-demokratisch verfaßten Staat<br />
ist – oder besser sollte sein: – das Ergebnis eines gesellschaftlichen Konsenses.<br />
Dabei wird nicht behauptet, daß dieser Konsens jederzeit und zu jeder einzelnen<br />
Frage bei allen Individuen vorzuherrschen braucht, aber ein Element für das<br />
Funktionieren sozialer Normen, wozu auch das Recht zählt, ist deren regelmäßige<br />
Befolgung.<br />
Auf der anderen Seite muß eine Dynamik in der Entwicklung gewährleistet sein.<br />
Rechtserziehung muß auch eine Erziehung hin zu kritischer Distanz beinhalten.<br />
Das Ziel einer humanen Pädagogik in einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen<br />
hat sonach nicht nur auf eine kritiklose Übernahme aller Normen<br />
abzuzielen, sondern muß auch in einer Erziehung zur Kritikfähigkeit gegenüber<br />
vorhandenen Normen bestehen. Gleichwohl kann die Kritik nur auf der Grundlage<br />
einer Kenntnis des status quo erfolgen.<br />
3. Einige ausgewählte Problemfelder<br />
3.1 Zur Unterscheidung von Recht und Politik<br />
Für das Verständnis des Wesens des Rechts ist es unabdingbar, sich das Verhältnis<br />
von Recht und Politik vor Augen zu führen. Es ist in entscheidender Weise<br />
durch die Positivierung des Rechts, also durch dessen Setzung geprägt. Das<br />
Recht ist das Produkt eines politischen Prozesses. Dies bedeutet, daß die für das<br />
218
menschliche Miteinander wesentlichen Entscheidungen nicht nur auf rechtlicher<br />
Ebene, insbesondere nicht nur auf der der Rechtsanwendung erfolgen. Vielmehr<br />
wird dasjenige, was rechtlich gilt, politisch bestimmt. Im demokratischen Staat<br />
gilt Recht nicht aufgrund unvordenklicher Tradition oder göttlicher Stiftung.<br />
Das Recht ist, so wie es existiert, das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses.<br />
Dieser Entscheidungsprozeß selbst steht unter dem Einfluß von Gerechtigkeitsvorstellungen.<br />
Aus der Differenz verschiedener Vorstellungen von der Gerechtigkeit<br />
resultiert das dauerhafte Problem der Gerechtigkeit des Rechts. Eine Lösung<br />
dieses Problems wird im demokratischen Staat nicht in der Weise gefunden,<br />
daß die eine oder andere Gerechtigkeitsvorstellung verabsolutiert wird,<br />
sondern die Lösung ist darin zu finden, daß das Gesetzesrecht prinzipiell abänderbar<br />
ist. 17<br />
3.2 Rechtskenntnis und Normenflut<br />
Eine Schwierigkeit der Rechtserziehung wird in der Komplexität und Unüberschaubarkeit<br />
der Rechtsordnung liegen. Allenthalben wird beklagt, es bestehe in<br />
der Bevölkerung eine Rechtsunkenntnis, diese sei insbesondere auch durch eine<br />
erhebliche Normenflut bedingt. 18 Herkömmlicherweise wird als eine Bedingung<br />
der Rechtsstaatlichkeit formuliert, der Bürger müsse die ihn betreffenden<br />
Rechtsnormen kennen, um sich auf diese einstellen zu können. In der Tat ergibt<br />
eine Betrachtung des geltenden Rechts Aufschluß darüber, daß der Rechtsbestand<br />
gewaltig ist. Neueren Zählungen zufolge soll der Normenbestand des Bundesrechts<br />
auf mittlerweile etwa 85.000 Einzelvorschriften angewachsen sein, bei<br />
rund 1900 Gesetzen und knapp 3000 Rechtsverordnungen. 19 In diese Zählung<br />
sind die landesrechtlichen Bestimmungen nicht mit aufgenommen.<br />
Für das ständige Anwachsen des Normenbestandes gibt es indes zahlreiche Ursachen.<br />
Angefangen mit Normen, deren Erlaß durch die Einbettung in supranationale<br />
Organisationen bedingt ist, namentlich durch die Mitgliedschaft in der<br />
Europäischen Union, über Gesetzgebungsaufträge, die das Bundesverfassungsgericht<br />
an den Gesetzgeber heranträgt, und Forderungen, die an den Staat, der<br />
mittlerweile in umfassender Weise Vorsorge zu treffen und Verantwortung für<br />
eine Vielzahl von Situationen zu übernehmen hat, gestellt werden bis hin zu der<br />
Tatsache, daß die Entwicklung neuer Techniken einen Bedarf an neuen Regelungen<br />
nach sich zieht und zu der Feststellung, daß auf eine hochdifferenzierte Gesellschaft<br />
nur mit einer ausdifferenzierten rechtlichen Ordnung zu reagieren ist,<br />
läßt sich der Bogen bei der Ursachensuche spannen. 20 Auf der anderen Seite wird<br />
argumentiert, eine umfassende Normkenntnis der Bevölkerung sei auch schon in<br />
früheren Zeiten, zu denen weniger umfangreiche rechtliche Regelungen vorgelegen<br />
hätten, eine bloße Utopie gewesen. In der Tat kann die Behauptung, Rechtsunkenntnis,<br />
die zur Rechtsunsicherheit führen kann, sei für den Rechtsstaat<br />
schädlich, nicht von der Hand gewiesen werden.<br />
Es gilt jedoch zu bedenken, daß eine Vielzahl, wenn nicht gar die Mehrzahl<br />
rechtlicher Normen nur einen sehr begrenzten Anwendungsbereich aufweist. Mit<br />
anderen Worten hat die Normenflut nicht automatisch und notwendigerweise<br />
eine rechtsstaatlich bedenkliche Rechtsunsicherheit zur Folge. Für zahlreiche<br />
219
Normen, etwa aus dem technischen Sicherheitsrecht wird es vollkommen ausreichend<br />
sein, wenn die konkret von der speziellen Materie Betroffenen über die<br />
hierfür einschlägigen rechtlichen Regelungen in Kenntnis gesetzt sind. 21 Hier<br />
wird es also völlig genügen, wenn eine entsprechende Kenntnis dieses Teilbereichs<br />
des Rechts den entsprechenden Spezialisten vorbehalten bleibt.<br />
Nur einen verhältnismäßig kleinen Teil aus der Masse des Rechts braucht jeder<br />
Bürger wirklich zu kennen. 22 Zu diesen Normen sind vor allem die Verhaltensnormen<br />
zu zählen, etwa die Strafgesetze. Daneben gibt es Vorschriften, die zwar<br />
für viele Menschen von großer praktischer Bedeutung sind, über die man sich<br />
jedoch aktuell informieren kann, etwa das Mietrecht oder Baurecht. Diese unvollständige<br />
Kenntnis des Rechts muß sich hierbei allerdings auch mit einem<br />
Gefühl dafür verbinden, wann sachkundiger Rat zu bemühen ist, weil die eigene<br />
Rechtskenntnis nicht mehr ausreicht. Damit kann für die Rechtserziehung im<br />
hier interessierenden Sinne nicht ernsthaft die breite und umfassende Vermittlung<br />
von Wissen um die geltenden rechtlichen Regelungen gefordert werden.<br />
4. Konzentration der Rechtserziehung auf Grundlagen<br />
Mit der letzten Feststellung wird die These aufgestellt, daß Rechtserziehung<br />
unter Konzentration auf die wesentlichen Grundlagen erfolgen sollte. Rechtserziehung<br />
gerade im Kontext der politischen Bildung hat somit vornehmlich die<br />
Vermittlung von Basiswissen zu leisten, welches gegebenenfalls in verschiedene<br />
Richtungen hin weiter entfaltet werden kann. Zu diesem Basiswissen gehören<br />
Kenntnisse über die Verfaßtheit unseres Gemeinwesens, auch unter Berücksichtigung<br />
der wesentlichen historischen 23 und politisch-gesellschaftlichen Grundlagen.<br />
Es umfaßt die Kenntnis der die staatliche Gewalt repräsentierenden Organe<br />
und Institutionen, sowie deren Aufgaben und Befugnisse sowie Wissen über den<br />
politischen Prozeß der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik, insbesondere<br />
über die Meinungsbildung, die Herrschaftsbestellung, die Machtausübung,<br />
die Gesetzgebung, die Machtbegrenzung und die Machtkontrolle. 24 Zu<br />
den Grundkenntnissen gehört auch das Verständnis für die föderale Organisation<br />
unseres Gemeinwesens. 25 Damit wird eine aktive und für den Einzelnen gewinnbringende<br />
Teilnahme am politischen Tagesgeschehen möglich.<br />
Der mündige Bürger ist derjenige, der sich seiner rechtlichen Verpflichtungen<br />
innerhalb des Gemeinwesens bewußt ist. Der mündige Bürger ist aber auch derjenige,<br />
der um seine Rechte weiß und für die Durchsetzung seiner Rechte eintritt.<br />
Dazu gehört das Wissen darum, daß zur Konfliktregulierung, soweit es um Beeinträchtigungen<br />
durch die öffentliche Gewalt geht, der Rechtsweg zu den Gerichten<br />
offen steht und daß daneben, soweit es um die Konfliktregulierung unter<br />
Privaten geht, ebenfalls Hilfe von den staatlichen Gerichten eingefordert werden<br />
kann. Es sollte die Erkenntnis vermittelt werden, daß das Gewaltmonopol beim<br />
Staat verortet ist, Selbsthilfe oder Selbstjustiz mithin regelmäßig ausgeschlossen<br />
sind.<br />
Das Ziel einer Rechtserziehung im Kontext der politischen Bildung muß die<br />
Erziehung hin zu einem mündigen, kritikfähigen Bürger sein, der befähigt ist,<br />
aktiv am Willensbildungsprozeß teilzunehmen und der sich der die Gesellschaft<br />
konstituierenden Werte, seien sie rechtlich ausformuliert oder nicht, bewußt ist.<br />
220
Es sollte auch deutlich werden, daß das Engagement des Einzelnen und seine<br />
Teilhabe am politischen Prozeß, wertvoll, wichtig und letztlich auch entscheidend<br />
sein kann, haben doch viele Bürger den Eindruck, sie könnten mit ihrer<br />
Stimme ohnehin nichts ausrichten. Dieser Einstellung gilt es entgegenzuwirken.<br />
Als Besonderheit sei vor einem abschließenden Fazit die Bestimmung des Art.<br />
188 der Bayerischen Verfassung (BV) erwähnt, der lautet: „Jeder Schüler erhält<br />
vor Beendigung seiner Schulpflicht einen Abdruck dieser Verfassung“.<br />
Mit dieser Verfassungsbestimmung ist zwar keine allgemeine Aussage über das<br />
Rechtsbewußtsein, über die Rechtserziehung im Allgemeinen oder über deren<br />
Verhältnis zueinander getroffen und dennoch ist dieser Vorschrift ein Gehalt<br />
zueigen, der im hiesigen Zusammenhang fruchtbar gemacht werden kann. Die<br />
Vorschrift möchte erreichen, daß die Verfassung den Schülern nicht toter Buchstabe<br />
bleibt. Vielmehr soll und muß sie im Unterricht behandelt werden. Dabei<br />
ist der gedankliche Hintergrund wiederum der, daß der junge Bürger bzw. die<br />
junge Bürgerin mit den Grundwerten und Grundentscheidungen der Verfassung<br />
vertraut gemacht werden soll. 26<br />
Im Verfassungsausschuß für die Bayerische Verfassung wurde einhellig befürwortet,<br />
daß der an die Schüler zu übergebende Verfassungstext mit einem kurzen<br />
Abriß der bayerischen Geschichte und einer kurzen Inhaltsdarstellung versehen<br />
werden sollte, ohne dies in den Verfassungstext ausdrücklich aufzunehmen.<br />
Dabei sollte jedoch die Verbindung mit einem geschichtlichen Abriß nicht dazu<br />
führen, daß der Text der Verfassung nicht mehr der beherrschende Inhalt ist. Die<br />
Inhaltsdarstellung sollte objektiv und knapp sein, um den Verfassungstext hierdurch<br />
nicht zu mißdeuten und zu entwerten. Daneben wurde der Wunsch laut,<br />
daß im Unterricht auch über die Verfassung gesprochen und den Schülern ihr<br />
Inhalt gemeinverständlich dargelegt werden sollte. Daher normiert Art. 188 BV,<br />
daß die Verfassung vor Beendigung der Schulpflicht und nicht bei Beendigung<br />
der Schulpflicht auszuhändigen ist. 27<br />
Die oft scheinbare Divergenz von Rechtssystematik und Lebenswirklichkeit<br />
bringt ein didaktisches Dilemma für die Vermittlung von Recht und damit für die<br />
Rechtserziehung mit sich, bedeutet aber auch eine Herausforderung. So sollten<br />
sich weder Mittler politischer Bildung noch Bildungswillige entmutigen lassen,<br />
denn je mehr Elemente des Rechtssystems in ihrer Funktion verstanden sind, um<br />
so deutlicher wird auch das Zusammenspiel dieser Teile bei der Ordnung des<br />
einzelnen Lebenssachverhalts zu Tage treten. Aus diesem Verständnis resultiert<br />
und wächst die Fähigkeit zu kritischer und gewinnbringender Auseinandersetzung<br />
mit Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit.<br />
Anmerkungen<br />
1) Zur politischen Bildung im Allgemeinen vgl. W. Sander (Hrsg.), Handbuch politische<br />
Bildung (1997) und R. A. Roth, Grundfragen der politischen Bildung (1999).<br />
2) Zum Verhältnis des Rechts zu anderen sozialen Normenordnungen vgl. H. Henkel,<br />
Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. (1977), S. 52 ff.<br />
3) Vgl. E. Kausch, Die gesellschaftliche Funktion des Rechts, in: D. Grimm (Hrsg.), Einführung<br />
in das Recht (1985), S. 4 ff.<br />
221
4) Vgl. auch H. Oberreuther, Rechtserziehung, in: W. Sander (Hrsg.), Handbuch politische<br />
Bildung (1997), S. 319.<br />
5) Vgl. E. Kausch (o. Fußn. 3), S. 13 ff.<br />
6) H. Henkel (o. Fußn. 2), S. 395 ff.<br />
7) Zum Erfordernis eines Wertekonsenses vgl. R. Scholz, Verfassungswerte und Wertewandel,<br />
in: A. Klein (Hrsg.), Grundwerte in der Demokratie (1995), S. 42 f.<br />
8) Vgl. hierzu insbesondere die Beiträge in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl,<br />
Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985).<br />
9) Vgl. K. Röhl, Rechtssoziologie (1987), S. 269 f.<br />
10) Vgl. hierzu auch M. Kriele, Rechtsgefühl und Legitimität der Rechtsordnung, in: E.-J.<br />
Lampe (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie<br />
10 (1985), S. 23 ff.<br />
11) So die Differenzierung von E. Riezler, Das Rechtsgefühl, Rechtspsychologische Betrachtungen,<br />
3. Aufl. (1969).<br />
12) So K. Röhl (o. Fußn. 9), S. 271.<br />
13) Vgl. hierzu F.-X. Kaufmann, Rechtsgefühl, Verrechtlichung und Wandel des Rechts,<br />
in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Das sogenannte Rechtsgefühl, Jahrbuch für Rechtssoziologie und<br />
Rechtstheorie 10 (1985), S. 191.<br />
14) R. Zippelius, Rechtsgefühl und Rechtsgewissen, in: E.-J. Lampe (Hrsg.), Das sogenannte<br />
Rechtsgefühl, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 10 (1985), S. 13.<br />
15) So auch H. Oberreuther (o. Fußn. 4), S. 321.<br />
16) Zur Schulung des Rechtsgefühls am Rechtswissen vgl. M. Kriele (o. Fußn. 10), S. 28.<br />
17) Vgl. hierzu insbesondere D. Grimm, Politik und Recht, in: E. Klein u.a. (Hrsg.),<br />
Grundrechte, soziale Ordnung, Verfassungsgerichtsbarkeit – Festschrift für Ernst Benda<br />
(1995), 91 ff.<br />
18) Hierzu ausführlich R. Holtschneider, Normenflut und Rechtsversagen (1991).<br />
19) Vgl. H. Hofmann, Von der Deregulierung zur Rückführung der Staatsaufgaben, ZG<br />
1999, 45.<br />
20) Vgl. nur H. Wagner, Gesetzesfolgenabschätzung – Modeerscheinung oder Notwendigkeit?,<br />
ZRP 1999, 481.<br />
21) K. Röhl (o. Fußn. 9), S. 261.<br />
22) So auch K. Röhl (o. Fußn. 9), S. 262.<br />
23) Vgl. hierzu etwa R. A. Roth (o. Fußn. 1), S. 37 ff.<br />
24) Vgl. R. A. Roth (o. Fußn. 1), S. 139 ff.<br />
25) Vgl. R. A. Roth (o. Fußn. 1), S. 76 ff.<br />
26) Vgl. Th. Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern (Kommentar), 4. Aufl.<br />
(1992), Art. 188 Rz. 1 unter Bezugnahme auf die stenographischen Berichte über die Verhandlungen<br />
des Verfassungsausschusses der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung.<br />
27) G. M. Köhler, Art. 188 Rz. 1 ff., in: H. Nawiasky u.a., Die Verfassung des Freistaates<br />
Bayern (Kommentar), Loseblatt (Stand: Juli 2000).<br />
Assessor Klaus Friedrich Kempfler ist wissenschaftlicher Angestellter am Institut<br />
für Politik und öffentliches Recht der Universität München (Lehrstuhl Prof.<br />
Dr. Rupert Scholz).<br />
222
Bericht und Gespräch<br />
Lothar Roos<br />
Wahre und falsche „Laizität“<br />
Zur „politischen Note“ der päpstlichen Glaubenskongregation<br />
Verlautbarungen der päpstlichen „Kongregation für die Glaubenslehre“ werden in<br />
Deutschland heute in der Regel mit einem Vorschuß an Mißtrauen entgegengenommen.<br />
Zumal wenn das erste, von der römischen Tageszeitung „Il Tempo“ am<br />
2. Januar darüber veröffentlichte Gerücht unter der Schlagzeile „Vatikan plant<br />
offenbar Bioethik-Richtlinien für Parlamentarier“ (KNA – 261, 6/10. Januar 2003)<br />
verbreitet wurde. Wer solches liest, denkt sofort an politische Grenzüberschreitungen<br />
des kirchlichen Amtes und einen Angriff auf die Entscheidungsfreiheit demokratisch<br />
gewählter Mandatsträger, die nach Art. 38 unserer Verfassung „an Aufträge<br />
und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind.<br />
Was aber steht tatsächlich in der „Lehrmäßigen Note zu einigen Fragen über den<br />
Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“, die von der<br />
Glaubenskongregation „nach Anhören des Päpstlichen Rates für die Laien“ und<br />
nach ihrer Approbation durch Johannes Paul II. am 16. Januar veröffentlicht wurde?<br />
Und welche Motive bewegen die Verfasser?<br />
Wer den Text richtig verstehen will, der muß zunächst die Titulatur des in IV<br />
Hauptabschnitte und 9 durchlaufende Unterpunkte gegliederten Dokuments beachten:<br />
Es geht nicht um Handlungsanweisungen, um Aufträge oder Verbote, sondern<br />
um die „beständige Lehre“ der Kirche (I.) zum Verhältnis von Glaube und Politik.<br />
Diese Lehre soll im Kontext „der gegenwärtigen kulturellen und politischen Debatte“<br />
(II.) in Erinnerung gerufen werden. Dabei sollen insbesondere die „Prinzipien<br />
der katholischen Lehre über Laizität und Pluralismus“ (III.) beleuchtet werden.<br />
Das Dokument schließt mit einigen „Erwägungen über Teilaspekte“ (IV.) Die<br />
wichtigsten Aussagen der „Note“ lassen sich wie folgt skizzieren:<br />
1. Die aktive Teilnahme an der Politik gehört zum „Einsatz der Christen in der<br />
Welt“. Sie ist ein Dienst an den Menschen, bei dem „zahlreiche Männer und Frauen“<br />
in der 2000jährigen Geschichte der Kirche sogar zu „Heiligen“ geworden sind<br />
(1).<br />
2. Über die jeweils „richtige“ Politik zu entscheiden, ist nicht Sache des kirchlichen<br />
Lehr- oder Hirtenamtes, sondern der „gläubigen Laien“ gemäß ihrer „spezifischen<br />
Kompetenz“, „geführt vom christlichen Gewissen“ und „im Einklang mit<br />
den damit übereinstimmenden Werten“ (1).<br />
223
3. Der politische Pluralismus ist in der Demokratie eine Selbstverständlichkeit. Das<br />
bedeutet aber nicht, daß die jeweilige Mehrheit im Sinne eines ethischen Pluralismus<br />
beschließen kann, was sie will (2). Denn die Demokratie beruht auf ethischen<br />
Prinzipien, die „nicht verhandelbar“ sind (3). Andernfalls zerstört sie sich selbst.<br />
4. Grund und Mitte von Ethik und Ethos der Demokratie sind die Würde der Person<br />
und die damit verknüpften Rechte und Pflichten, wie sie die Soziallehre der<br />
Kirche in den Prinzipien des Gemeinwohls, der Solidarität und Subsidiarität entfaltet<br />
(3 und 7). Dabei handelt es sich nicht um „konfessionelle Werte“. Man muß<br />
sich nicht einmal „unbedingt zum christlichen Glauben bekennen“, um sie zu akzeptieren<br />
(5). Denn sie wurzeln „in der Natur des Menschseins selbst“ (2) und sind<br />
deshalb jedem Menschen über seine Vernunft zugänglich (6).<br />
5. Man muß deshalb zwischen wahrer und falscher „Laizität“ (ein Wort aus der<br />
französischen Geschichte der Trennung von Kirche und Staat) unterscheiden:<br />
„Laizität, verstanden als Autonomie der zivilen und politischen Sphäre gegenüber<br />
der religiösen und kirchlichen“ ist „ein von der Kirche akzeptierter und anerkannter<br />
Wert, der zu den Errungenschaften der Zivilisation gehört“. Wenn daher „eine<br />
spezifisch religiöse Norm Gesetz des Staates wird“ – hier spricht die Note offensichtlich<br />
in Richtung des aktuellen Islamismus –, dann kann dies die Religionsfreiheit<br />
und „andere unveräußerliche Menschenrechte einschränken oder beseitigen“<br />
(6). Falsch wäre „Laizität“ dann verstanden, wenn sie auf die „relativistische These“<br />
hinausliefe, daß es „keine moralische Norm gibt, die in der Natur des<br />
Menschseins selbst wurzelt“ und deshalb das Gemeinwohl jeden beliebigen Inhalt<br />
haben könne (2). Damit würde zugleich „jede politische und kulturelle Relevanz“<br />
des Religiösen geleugnet (6).<br />
6. Wie aber soll sich der katholische Politiker praktisch verhalten, wenn er mit<br />
seiner Auffassung etwa bei der Frage der „Unantastbarkeit des menschlichen Lebens“<br />
in eine Minderheitenposition gerät? Er muß jedem Gesetz widersprechen,<br />
„das ein Angriff auf das menschliche Leben“ wäre. Er darf jedoch, sofern sein<br />
„persönlicher absoluter Widerstand“ klar und eine Änderung der Rechtslage politisch<br />
nicht möglich ist, Gesetzesvorschläge unterstützen, welche „die Schadensbegrenzung<br />
eines solchen Gesetzes zum Ziel haben“. Das „gut gebildete christliche<br />
Gewissen“ gestattet es jedoch nicht, „mit der eigenen Stimme die Umsetzung eines<br />
politischen Programms zu unterstützen, in dem grundlegende Inhalte des Glaubens<br />
und der Moral ... umgestoßen werden“ (4).<br />
7. Das Dokument weist kritisch darauf hin, es sei „gelegentlich vorgekommen“,<br />
daß auch „innerhalb einiger Vereinigungen und Organisationen katholischer Prägung“<br />
politische Positionen vertreten worden seien, „die in grundlegenden ethischen<br />
Fragen von der Moral- und Soziallehre der Kirche abweichen“. Der Leser<br />
erfährt nicht, wer damit gemeint sein könnte. Wichtig ist jedoch, daß es nach Auffassung<br />
der Glaubenskongregation eine eindeutige „Soziallehre der Kirche“ gibt.<br />
Es sei angesichts der „Gefahr einer kulturellen Diaspora der Katholiken“ besonders<br />
wichtig, „den Reichtum der Werte und Inhalte der katholischen Tradition“ neu<br />
darzulegen. Der Glaube an Jesus Christus verlange einen „vermehrten Einsatz“ für<br />
den „Aufbau einer Kultur“, der sich nicht auf „bloße Strukturveränderungen“ beschränkt.<br />
Grundlage einer solchen Kultur sei „die onthologische Würde der<br />
224
menschlichen Person“, die „keineswegs auf eine Gleichheit der Religionen und<br />
kulturellen Systeme“ hinauslaufe, „die es nicht gibt“. Die Gewissens- und Religionsfreiheit<br />
bedeutet nicht, einen „Indifferentismus“ und „religiösen Relativismus“<br />
zu befürworten. Was könnte die Glaubenskongregation und ihren Präfekten Kardinal<br />
Ratzinger bewogen haben, gerade jetzt eine solche „Lehrmäßige Note“ zu<br />
veröffentlichen? Worauf sollten die „Bischöfe der katholischen Kirche und in<br />
besonderer Weise ... die katholischen Politiker sowie ... alle gläubigen Laien, die<br />
zur Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben in den demokratischen Gesellschaften<br />
berufen sind“ heute besonders achten?<br />
1. Zunächst möchte das Dokument auf die bleibende und von manchen vergessene<br />
Bedeutung der wohl wichtigsten sozialethischen Errungenschaft des Zweiten Vatikanischen<br />
Konzils, nämlich das Bekenntnis zur „rechten Autonomie“ der Kultur,<br />
hinweisen. 1 Für die politische Ethik bedeutet dies zweierlei: Zum einen gibt es<br />
keine „christliche Politik“. Damit verabschiedet sich die Kirche endgültig von der<br />
„integralistischen“ Vorstellung, religiöse Überzeugungen und ethische Prinzipien<br />
ließen sich „eins zu eins“ in politisches Handeln umsetzen. Solche Versuchungen<br />
gibt es als „rechter“ Integralismus, der für einen christlichen oder muslimischen<br />
„Gottesstaat“ kämpft. Oder als „linken“ Integralismus, der von einem irdischen<br />
„Sozialparadies“ träumt. Beide verkennen die Aufgabe und die Möglichkeiten der<br />
Politik. Der Glaube habe „nie beansprucht, die sozialpolitischen Inhalte in ein<br />
strenges Schema zu zwängen“. Aufgrund der Geschichtlichkeit und Unvollkommenheit<br />
des Menschen „müssen jene politischen Positionen und Verhaltensweisen<br />
zurückgewiesen werden, die einer utopischen Vision folgen, welche die Tradition<br />
des biblischen Glaubens in einer Art Prophetismus ohne Gott verdreht, die religiöse<br />
Botschaft instrumentalisiert und das Gewissen auf eine bloß irdische Hoffnung<br />
aufrichtet, welche die christliche Spannung auf das ewige Leben hin aufhebt und<br />
entstellt“.(7)<br />
2. Zugleich widerspricht die Note mit der Betonung der „richtigen Autonomie“ der<br />
Kultur einem falsch verstandenen „Laizismus“, wonach Politik von Moral und<br />
Religion vollständig zu trennen sei. Politik würde dann allein der „Moral“ des<br />
Machterhalts folgen, wie Machiavelli dies als erster formuliert hat. Daß dessen<br />
„Ragione di Stato“ nicht mit der Ethik des demokratischen Verfassungsstaates und<br />
dem von seinen Bürgern und Politikern zu fordernden Ethos vereinbar ist, kann<br />
man im Grundgesetz nachlesen. Der demokratische Verfassungsstaat ist zwar<br />
religiös-weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral. Die „unverletzlichen und<br />
unveräußerlichen Menschenrechte“, zu denen sich unsere Verfassung „bekennt“,<br />
müssen zugleich als universal gültig angesehen werden. Sie sind „Grundlage jeglicher<br />
Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (vgl. Art. 1<br />
GG). Die Note wendet sich also primär gegen den „gefährlichen Irrtum des ethischen<br />
Relativismus“, wie Robert Spaemann seinen Kommentar zu der Erklärung<br />
überschreibt. 2 Spaemann faßt diesen Irrtum in vier Thesen zusammen: „1. Die<br />
höchsten Werte einer freiheitlich demokratischen Ordnung sind Toleranz und<br />
Pluralismus. 2. Toleranz ist unvereinbar mit der Überzeugung, im Besitz einer<br />
absoluten und endgültigen Wahrheit zu sein. 3. Die Rechtsordnung eines freiheitlichen<br />
Staates gründet ausschließlich im Willen der Bürger. Sie darf deshalb keine<br />
225
ethischen Prinzipien voraussetzen, deren Universalität nur von einem Teil der<br />
Bürger anerkannt wird. 4. Es gibt nicht so etwas, wie das ‚von Natur Rechte‘. Das<br />
Recht darf nur Handlungen verbieten, die gegen den Willen derer verstoßen, die<br />
von den Folgen einer solchen Handlung betroffen sind.“<br />
3. Solche Einsichten waren in Deutschland nach den erschütternden Erfahrungen<br />
der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Folgen fast selbstverständlich.<br />
Das demokratische Mehrheitsprinizip läßt sich erst unter der Voraussetzung<br />
anwenden, daß man sich – so formulierte es der damalige „Kronjurist“ der SPD<br />
Adolf Arndt – vorher über das „Unabstimmbare“ geeinigt hat. Der freiheitliche<br />
demokratische Verfassungsstaat lebt demnach von Voraussetzungen, die er sich<br />
selbst nicht geben kann (Ernst Wolfgang Böckenförde). Was aber passiert, wenn<br />
diese Voraussetzungen in Vergessenheit geraten? Wenn das auf der Würde des<br />
Menschen oder den Rechten der Völker gegründete „Systeminteresse“ von einem<br />
heillosen Pluralismus ausgehöhlt wird, der nicht mehr weiß, was zur Menschenwürde<br />
gehört? Oder wenn man sogar den Menschen neu erschaffen will,<br />
wie dies bestimmte gentechnisch beflügelte Futuristen wie James Watson heute<br />
unverblümt fordern? 3 Bleibt da für den Bürger und Politiker, der sich dem chris tlichen<br />
Gewissen verpflichtet weiß, überhaupt noch politischer Handlungsspielraum?<br />
Soll er eine daraus folgende Politik „dem Teufel überlassen“? Oder läßt<br />
sich auch unter den Bedingungen eines solchen Pluralismus einerseits und einer<br />
fundamentalistischen Re-Ideologisierung andererseits politisches Handeln chris tlich<br />
verantworten und wie? – Das ist offensichtlich das Kernproblem, zu dessen<br />
Lösung die „Note“ Orientierung vermitteln möchte. Einige auffällige Akzentuierungen<br />
zeichnen die „Note“ aus:<br />
1. Zunächst fällt die Terminologie auf, mit der alle religiös motivierten „Übergriffe“<br />
in den Bereich des Politischen unter Hinweis auf die „richtige Autonomie“ der<br />
Kultur zurückgewiesen werden. Neu ist, daß diese von den Vätern des Zweiten<br />
Vatikanischen Konzils erarbeitete Grundaussage terminologisch mit dem (französischen)<br />
Begriff der „Laizität“ verbunden und dieser bisher von der Kirche nur<br />
negativ verwendete Begriff nun in kirchliches Sprechen zustimmend integriert<br />
wird. Offensichtlich will man damit französischen Animositäten begegnen, wie sie<br />
in jüngster Zeit anläßlich der Diskussion um eine mögliche „Invocatio-Dei-Formel“<br />
in der zukünftigen Europäischen Verfassung geäußert wurden. Bekanntlich<br />
hat Frankreich bei der Konferenz in Nizza zu verhindern versucht, daß darin irgendein<br />
religiöser Bezug erwähnt wird, der auf die christlichen Wurzeln des Ethos<br />
der Demokratie hinweist.<br />
2. Weiter sieht das Dokument die Gefahr, daß im heraufziehenden Zeitalter der<br />
Gentechnik die Würde des Menschen auf dem Altar der damit einhergehenden<br />
Heilungs- und Heilsvisionen geopfert werden könnte. Ohne das Festhalten an der<br />
„Wahrheit“ über den Menschen wird die Freiheit zum russischen Roulette. „Wahrheit<br />
und Freiheit verbinden sich entweder miteinander oder sie gehen gemeinsam<br />
elend zugrunde“ (Johannes Paul II., Fides et Ratio 90).<br />
3. Schließlich beschwört die Note mehrfach, daß es nicht ausreicht, die Würde und<br />
Rechte der Menschen lediglich auf – sicher unverzichtbare – vertragsrechtliche<br />
Vereinbarungen zu gründen. Denn ein lediglich diskursethisch legitimierter „Ge-<br />
226
sellschaftsvertrag“ bleibt vage, wenn hinter ihm nicht die Überzeugung steht, daß<br />
Würde und Rechte der Menschen „in der Natur des Menschseins selbst“ wurzeln<br />
(2). Es ist deshalb keinem Gläubigen gestattet, sich unter Berufung auf das Prinzip<br />
des Pluralismus und der Autonomie der Laien in der Politik für „Lösungen“ zu<br />
entscheiden, die dem „im menschlichen Wesen“ begründeten „natürlichen Sittengesetz“<br />
zuwiderlaufen (5). Das Dokument befaßt sich nur exemplarisch mit einzelnen<br />
Inhalten dieses Sittengesetzes. Es kommt ihm primär darauf an, das Bewußtsein<br />
von der Existenz einer jeder gesellschaftlichen Übereinkunft vorausliegenden<br />
„Natur des Menschseins“ zu schärfen. So sehr die entsprechenden sittlichen Konsequenzen<br />
zutiefst christlich begründet sind, können sie doch von allen Bürgern –<br />
„Christen wie Nichtchristen“ (1) – eingesehen werden.<br />
Die „Note“ ist ein Dokument für die Weltkirche. Sie setzt in ihrer Argumentation<br />
einen demokratischen Verfassungsstaat und die damit verbundene „Laizität“ ohne<br />
jede Einschränkung als „Errungenschaft der Zivilisation“ voraus und möchte auf<br />
dessen präpositive ethische Voraussetzungen und seine heutigen Gefährdungen<br />
aufmerksam machen. Diese gehen vor allem von einem technokratischlibertinistischen<br />
Verständnis menschlicher Kultur aus, wie es von einigen einflußreichen<br />
Vertretern heute insbesondere der „Lebenswissenschaften“ und ihrer biotechnischen<br />
Anwendung vertreten wird. Das Dokument appelliert „in besonderer<br />
Weise an die katholischen Politiker“, aber generell „an alle gläubigen Laien“, ihrer<br />
ethischen Verantwortung bei allen damit zusammenhängenden politischen Entscheidungen<br />
gerecht zu werden. Die Erklärung stützt sich auf die entsprechenden<br />
Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils, der kirchlichen Sozialenzykliken<br />
und einiger besonders wichtiger Verlautbarungen des gegenwärtigen Papstes. Sie<br />
ist motiviert von der Sorge, daß Wichtiges davon in Vergessenheit geraten könnte.<br />
Sie möchte zur Übernahme politischer Verantwortung motivieren und sowohl<br />
einer religiösen Re-Ideologisierung des Politischen wie einem absoluten Wert-<br />
Relativismus (falsche „Laizität“) vorbeugen. Sie befindet sich im Blick auf die<br />
anthropologischen und sozialethischen Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates<br />
in Übereinstimmung mit der maßgeblichen Tradition der deutschen<br />
Verfassungsrechtslehre. Diese betont in gleicher Weise wie das römische Dokument<br />
jenes Verständnis des demokratischen Verfassungsstaates, das im unveräußerlichen,<br />
vorstaatlichen, also naturrechtlich gegebenen Menschenrechten die<br />
ethische Begründung, aber zugleich auch Begrenzung der politischen Willensbildung<br />
in der Demokratie sieht.<br />
Anmerkungen<br />
1) vgl. Anton Losinger, „Iusta autonomia“. Studien zu einem Schlüsselbegriff des II. Vatikanischen<br />
Konzils, Paderborn u.a. 1989.<br />
2) Robert Spaemann, Der gefährliche Irrtum des ethischen Relativismus, in: L´Osservatore<br />
Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 7. Februar 2003, Nr. 6, Seite 12.<br />
3) vgl. Franz Kamphaus, Der neue Mensch, in: FAZ vom 27. November 2002.<br />
Prof. Dr. Lothar Roos lehrt Christliche Gesellschaftslehre und Pastoralsoziologie<br />
an der Universität Bonn und an der Schlesischen Universität Kattowitz.<br />
227
228<br />
Hubert Hüppe<br />
„C“-Positionen in der CDU<br />
Nach der Bundestagswahl wurde darüber spekuliert, warum Stoiber nicht gewonnen<br />
hat. Die Union, so die Analysen, habe in den Großstädten, bei den Älteren und vor<br />
allem bei den Frauen verloren. Schon wird davon gesprochen, unser Familienbild sei<br />
nicht richtig gewesen, oder zumindest habe die Union es den Menschen nicht richtig<br />
vermittelt. Ich glaube, ein entscheidender Punkt war, daß die CDU – übrigens anders<br />
als die CSU – nicht als überzeugende Alternative zu Rot-Grün angesehen wurde und<br />
nicht erkennbar war, was wir denn tatsächlich anders machen würden. Und es ist nun<br />
mal so, daß eine Partei, deren Konturen nicht stark genug erkennbar sind, Gefahr läuft,<br />
ihre Wähler durch aktuelle Stimmungen zu verlieren.<br />
Der Irak-Konflikt und die Flutkatastrophe haben dann in den letzten vierzehn Tagen<br />
vor der Wahl die nötigen Stimmen für Rot-Grün gebracht. Gerade die Angst vor einem<br />
Krieg war bei Frauen ein entscheidender Faktor. Die Konsequenz aus der Niederlage<br />
für die Union muß daher sein, die Chancen in der Opposition zu nutzen, ihre Positionen<br />
zu schärfen und sich zu regenerieren. Das gilt nicht nur für das „C“, aber an erster<br />
Stelle. Wenn heute über das „C“ im Parteinamen gesprochen wird, darf ich nebenbei<br />
darauf hinweisen, daß die Partei Bibeltreuer Christen bei dieser Wahl gegenüber der<br />
von 1998 50.000 Stimmen hinzugewinnen konnte. Hätten wir diese Stimmen erhalten,<br />
wäre die CDU/CSU zumindest die stärkste Fraktion geworden, und wir würden den<br />
Bundestagspräsidenten stellen.<br />
Nun, wie sehen die Perspektiven für die Union aus? Ich werde mich dabei hauptsächlich<br />
auf die Fragen Lebensrecht und Bioethik konzentrieren. Beim Parteitag nach der<br />
Wahl ging die CDU-Vorsitzende und Fraktionsvorsitzende Dr. Angela Merkel besonders<br />
auf das „C“ im Parteinamen ein. Sie sprach von einem „christdemokratischen<br />
Zeitalter“, in dem wir lebten, und davon, daß die CDU entsprechend ein christdemokratisches<br />
Angebot machen würde. „Das C“, so Dr. Angela Merkel wörtlich, „macht uns<br />
zukunftsfähig“. Kurz vorher sagte sie: „Wie werden Bio- und Gentechnik das Verhältnis<br />
zu den Begriffen Schönheit, Natürlichkeit, Gesundheit und Schicksal verändern?<br />
Hier geht es um den Schutz der Menschenwürde. Hier geht es um die Vergewisserung<br />
des menschlichen Lebens. Das ist Christdemokratie pur.“<br />
Was allerdings dies konkret für die zukünftige Biopolitik der CDU heißt, bleibt im<br />
Dunkeln. Sieht man sich die in der Fraktion bisher getroffenen personellen Entscheidungen<br />
für die Schlüsselpositionen in diesem Bereich an, so muß man feststellen, daß,<br />
obwohl fast zwei Drittel der Fraktion gegen den Import embryonaler Stammzellen<br />
gestimmt haben, diese Positionen ausschließlich mit Importbefürwortern besetzt wurden.<br />
Dies gilt insbesondere für die forschungspolitische Sprecherin Katherina Reiche.<br />
Dies ist wohl die wichtigste Position. Frau Reiche ist bekanntlich eine der extremsten<br />
Befürworterinnen der tötenden Embryonenforschung. Der Antrag, den sie federführend<br />
mit vertreten hatte, sah nicht nur den Import von bestehenden Stammzell-Linien aus
ereits getöteten Embryonen vor, sondern behielt sich sogar vor, Embryonen in<br />
Deutschland für Forschungszwecke zu töten. Gleiches gilt für Peter Hintze, der zum<br />
europapolitischen Sprecher gewählt wurde. Diese Position ist deswegen so wichtig,<br />
weil in der EU milliardenschwere Forschungsprogramme laufen, die sich auch auf die<br />
Embryonenforschung beziehen. Schließlich ist auch der von Frau Dr. Merkel ernannte<br />
Beauftragte für Gentechnik und Biopolitik ein Befürworter des Stammzellimports.<br />
Die Enquete-Kommision des Deutschen Bundestags „Recht und Ethik der modernen<br />
Medizin“ ist schon allein deswegen notwendig, um dem sogenannten „Nationalen<br />
Ethikrat“ des Kanzlers, dessen Mitglieder er handverlesen ausgesucht hat, nicht das<br />
Feld zu überlassen. Ich sage deswegen „sogenannter“ Nationaler Ethikrat, weil ich den<br />
Namen schon als Unverschämtheit ansehe. Es kann nicht sein, daß ein nicht demokratisch<br />
legitimiertes Gremium, das von einer Person geschaffen wurde, von der Bezeichnung<br />
her selbst den Eindruck erwecken will, es könne die Ethik für die gesamte Nation<br />
formulieren. Man muß wissen, daß dieser Rat als Reaktion auf die erste Stellungnahme<br />
der Enquete ins Leben gerufen wurde. Diese Stellungnahme paßte dem Kanzler nicht,<br />
weil sie sehr kritisch gegenüber einem Regierungsentwurf zur Umsetzung der europäischen<br />
Patentierungsrichtlinie war. Vor der Gründung des „Nationalen Ethikrates“ hatte<br />
Gerhard Schröder wörtlich gesagt: „Ich bin dagegen, ethische Themen, die uns alle<br />
angehen, an ein Gremium von besonders klugen und moralischen Menschen zu delegieren.“<br />
Ich könnte jetzt zynisch fragen, welche Auswahlkriterien er anschließend für<br />
die Zusammenstellung des Rates zugrunde gelegt hat. Auf jeden Fall bleibt festzuhalten,<br />
daß Schröder bei seiner Auswahl sichergestellt hat, daß die Mehrheit seinen Kurs<br />
abnickt. Dies hat der „Nationale Ethikrat“ dann auch in seiner ersten Stellungnahme<br />
zum Import embryonaler Stammzellen gehorsam getan, und ich bin sicher, daß er sich<br />
mehrheitlich für die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID), also der genetischen<br />
Selektion von Embryonen im Reagenzglas, aussprechen wird.<br />
Ich frage mich, ob es von Seiten der beiden großen Kirchen eine richtige Entscheidung<br />
war, jeweils einen Bischof in den „Nationale Ethikrat“ zu entsenden, und so diesem Rat<br />
den Anschein zu geben, er würde ja auch Kritiker zu Wort kommen lassen. Zumindest<br />
hätte ich erwartet, daß die Kirchen darauf bestehen, daß wenigstens auch die Behindertenverbände<br />
vertreten sein müßten, wenn auf der anderen Seite jede Menge Forscher<br />
Mitglied sind und auch mehrere Vertreter – mal mehr mal weniger – mit Unternehmen<br />
verbunden sind, die mit der Biotechnologie Geschäfte machen wollen. Die CDU/CSU<br />
hat jetzt die große Chance, sich gegenüber der Regierung zu profilieren. Sie hätte dabei<br />
nicht nur die Kirchen, sondern zum Beispiel auch fast alle Behindertenverbände auf<br />
ihrer Seite. Dabei muß sich die Union bewußt sein, daß die Regierung – und dort vor<br />
allem die SPD – offensichtlich diese Legislaturperiode nutzen will, um den biopolitischen<br />
Durchmarsch zu starten. Ich weise darauf hin, daß mit Hertha Däubler-Gmelin<br />
die letzte sozialdemokratische Ministerin gegangen worden ist, die diesem Kurs innerhalb<br />
des Kabinetts Widerstand geleistet hat. An ihrer Stelle ist mit Wolfgang Clement<br />
ein vehementer Befürworter der Embryonenforschung in die Regierung gelangt, der es<br />
ja schon als Ministerpräsident nicht abwarten konnte, endlich Embryonenmaterial nach<br />
NRW zu importieren und deswegen extra – ausgerechnet – nach Israel geflogen ist, um<br />
dort einen Deal vorzubereiten.<br />
229
Die Grünen scheinen bei diesem Kurs kaum noch Widerstand zu leisten, zumindest<br />
läßt der Koalitionsvertrag dieses Thema fast völlig aus. Die Bundesregierung will eben<br />
nicht nur die Forschung mit embryonalen Stammzellen. Sie will offensichtlich die<br />
Qualitätskontrolle des Menschen, die damit verbundene Selektion, die Tötung und<br />
Vernutzung von Embryonen und schließlich auch das Klonen menschlicher Embryos,<br />
ohne dem die Stammzellforschung keinen Sinn macht. Propagandistisch wird sie dabei<br />
von Teilen der Pharmaindustrie und der Forschungslobby unterstützt. So erhielt im<br />
Oktober 2002 der Klonforscher Robert Jaenisch den Robert-Koch-Preis aus den Händen<br />
eines Mitgliedes der Bundesregierung. Anläßlich der Preisverleihung sprach Jaenisch<br />
sich für die Produktion geklonter Embryonen aus, um sie hinterher für Forschungszwecke<br />
zu verwenden. Im Kuratorium der Robert-Koch-Stiftung, die diesen<br />
Preis verleiht, sitzen Vertreter fast aller wichtigen Pharmaunternehmen. Die Laudatio<br />
auf Jaenisch hielt übrigens der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Professor Reinhard<br />
Kurth, der nicht vergaß, Jaenisch ausdrücklich für seine Position beim Klonen zu rühmen.<br />
Pikanterweise ist Professor Kurth der Präsident desjenigen Bundesinstituts, das<br />
für die Genehmigung von Stammzellimporten zuständig ist.<br />
Zufall ist es bestimmt auch nicht, daß im September 2002 der Vater des Klonschafes<br />
Dolly, Ian Wilmut, mit dem Ernst-Schering-Preis ausgezeichnet wurde. In ihrer Pressemitteilung<br />
zur Preisverleihung weist die Schering AG ausdrücklich auf die angeblich<br />
großen Möglichkeiten des Klonens menschlicher Embryonen für therapeutische Zwecke<br />
hin. Die Pressemitteilung trägt die Überschrift: „Organe aus erster Hand. Ernst-<br />
Schering-Preisträger Ian Wilmut setzt auf therapeutisches Klonen“. Hier macht sich die<br />
Regierung zum Erfüllungsgehilfen. Hauptindiz dafür ist das Verhalten der deutschen<br />
Delegation bei der UN, die den Antrag Spaniens, der USA und vieler anderer Länder<br />
auf ein Verbot jeglichen Klonens menschlicher Embryonen ablehnte, obwohl dieser<br />
Antrag dem geltenden deutschen Recht entsprechen würde. Statt dessen setzte sich die<br />
deutsche Delegation lediglich für ein Verbot des sogenannten reproduktiven Klonens<br />
ein. Mit anderen Worten, das Klonen eines Menschen ist erlaubt – oder zumindest nicht<br />
verboten – aber nur dann, wenn sichergestellt ist, daß dieser Mensch vor der Geburt<br />
getötet wird.<br />
Die CDU muß jetzt beweisen, daß sie bereit ist, hiergegen Widerstand zu leisten. An<br />
dem Verhalten meiner Partei in diesen Fragen wird sich zeigen, was das Grundsatzpapier,<br />
das unter Leitung von Christoph Böhr im Bundesvorstand erarbeitet wurde, wirklich<br />
wert ist. Darin steht, daß Nützlichkeitserwägungen nicht über den grundsätzlichen<br />
Schutz allen menschlichen Lebens gestellt werden dürfe. Der Beginn menschlichen<br />
Lebens wird mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle definiert. Diese Auffassung<br />
wird allerdings nicht mehr von allen CDU-Bundesvorstandsmitgliedern geteilt.<br />
Professor Dagmar Schipanski zum Beispiel spricht sich für das sogenannte therapeutische<br />
Klonen aus. Und Dr. Wolfgang Schäuble sagt, nur mit der Mutter sei der Embryo<br />
ein Mensch.<br />
Immer neue abstruse Definitionen sollen dazu dienen, bestimmten Gruppen Menschenwürde<br />
und Lebensrecht abzusprechen. Wer Embryonen Menschenwürde zuspricht,<br />
muß sich dann sogar von einem prominenten Mitglied der Union, dem ehemaligen<br />
Bundespräsidenten Roman Herzog, den Vorwurf gefallen lassen, man verweigere<br />
Kranken die gebotene Hilfe und lasse sie sogar sterben. Perfider geht es wohl nicht.<br />
230
Roman Herzog, der diesen Vorwurf mit dem Beispiel eines an Mukoviszidose erkrankten<br />
Jugendlichen untermauert hat, müßte eigentlich wissen, daß solchen Menschen mit<br />
Embryonenforschung nicht geholfen werden kann. Das einzig mögliche ist, daß solche<br />
Menschen über die PID selektiert und im Reagenzglas getötet werden könnten. Wer<br />
will das eigentlich den Betroffenen ins Gesicht sagen?<br />
Natürlich war es der Sündenfall der Union, daß sie 1995 in großen Teilen die Reform<br />
der §§ 218 ff StGB mitgetragen hat und jetzt mitverantworten muß, daß Abtreibungen<br />
nach Pränataldiagnostik de facto bis zur Geburt durchgeführt werden. Damals haben<br />
noch viele Abgeordnete der Union ihr Abstimmungsverhalten damit erklärt, man hätte<br />
alleine ja keine Mehrheit, und man wolle Schlimmeres verhindern. Andere argumentierten,<br />
es würde ja sowieso abgetrieben, man wolle dies nur aus der Illegalität heraushalten,<br />
um Beratung zu ermöglichen. Beide Argumente, die aus meiner Sicht von einigen<br />
auch nur zur Beruhigung des eigenen Gewissens, von anderen aber auch aus Überzeugung<br />
vorgetragen wurden, treffen beim Thema Embryonenschutz nicht zu. Hätte<br />
die Union geschlossen gegen den Import embryonaler Stammzellen gestimmt, wäre er<br />
nicht zugelassen worden. Denn es gab auch in anderen Parteien mit Ausnahme der<br />
FDP große Vorbehalte; und vor allem bei den Grünen, aber auch bei der SPD und der<br />
PDS stimmten viele gegen den Import. Gleiches wird gelten, wenn im Bundestag über<br />
die PID, das Klonen und ein neues Fortpflanzungsmedizingesetz abgestimmt wird. Es<br />
liegt in der Hand der Union, wie in diesen Fragen entschieden wird. Und es ist damit<br />
entscheidend, ob die CDU in diesem fundamentalen Bereich zur Partei der Beliebigkeit<br />
wird.<br />
Auch das zweite Argument – die Vermeidung der Illegalität – kann nicht zur Rechtfertigung<br />
der Embryonenforschung herangezogen werden. Anders als beim § 218 StGB<br />
gibt es in Deutschland keine illegale Embryonenforschung, zumindest ist bisher nichts<br />
darüber bekannt geworden. Es gibt so gut wie keine „überzähligen“ Embryonen, kein<br />
Klonen und keine PID. Wenn die CDU auch hier einknickt, legitimiert sie im Nachhinein<br />
die Aussage des Kölner Erzbischofs, Kardinal Meisner, nach dessen Auffassung<br />
die Union das „C“ zu Unrecht trägt. Die CDU beabsichtigt, den nächsten Bundesparteitag<br />
zum Programmparteitag zu machen. Dort wird sich zeigen, ob das Wertekommissionspapier<br />
von Christoph Böhr und anderen in der Partei mehrheitsfähig ist. Es wird<br />
sich zeigen, ob der dort enthaltene Satz „Für die CDU ist das chris tliche Menschenbild<br />
Grundlage ihrer Politik“ wirklich auch in konkreten politis chen Entscheidungen –<br />
sowohl in der Bio- als auch in der Familienpolitik – münden wird, oder ob er nur noch<br />
als Marketing-Gag herhalten muß.<br />
Anmerkung<br />
Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser beim Buß- und Bettagsgespräch des<br />
„Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“ am 20. November 2002 im Maternushaus<br />
in Köln gehalten hat.<br />
Hubert Hüppe ist Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und stellvertretender<br />
Vorsitzender der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“.<br />
231
232<br />
Paul Johannes Fietz<br />
Säkularisation und Säkularisierung<br />
Zum 38. Essener Gespräch zum Thema Staat und Kirche<br />
„Säkularisation und Säkularisierung“ – im Staatslexikon der Görres-Gesellschaft<br />
werden beide Begriffe zu Recht getrennt behandelt und von verschiedenen Bearbeitern<br />
kommentiert. Dennoch gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen<br />
der Einziehung kirchlichen Besitzes durch den Staat und dem noch immer nicht<br />
abgeschlossenen Prozeß der „Verweltlichung“. Diesen Zusammenhang auszuloten<br />
hatte sich das 38. Essener Gespräch in der „Wolfsburg“ – die „Frühjahrsbörse<br />
des deutschen Staatskirchenrechts“ (Alexander Hollerbach) in der Akademie<br />
des Bistums Essen – zum Ziel gesetzt. Es traf sich, daß sich am 25. Februar 2003<br />
mit dem Reichsdeputationshauptschluß zum 200. Mal die Säkularisation des<br />
Kirchenguts jährte – Anlaß zum Innehalten und Nachdenken, auch über die Herausforderungen<br />
der Kirchen durch die Säkularisierung der heutigen Gesellschaft<br />
und, auch dies war zu hören, durch „Selbstsäkularisierung“.<br />
Der Reichsdeputationshauptschluß veränderte innerhalb weniger Jahre die seit<br />
dem Mittelalter gewachsenen territorialen Verhältnisse und leitete die Auflösung<br />
des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ein. 3,2 Millionen Einwohner,<br />
fast ein Siebtel der reichsdeutschen Bevölkerung, mußten den Landesherrn<br />
wechseln, zehntausend Quadratkilometer rechtsrheinischen Gebietes wurden<br />
umverteilt. Die Länderkarte Deutschlands veränderte sich. An die Stelle vieler<br />
Klein- und Kleinststaaten traten Mittelstaaten. Eine riesige Flurbereinigung setzte<br />
ein. Hauptopfer waren die geistlichen Länder im Alten Reich. Vor allem aus<br />
ihnen sollten die weltlichen Herren für ihre linksrheinischen Gebietsverluste<br />
nach der Eroberung durch die Armee der Französischen Revolution entschädigt<br />
werden. Heinrich de Wall, Staats- und Kirchenrechtler aus Erlangen-Nürnberg,<br />
fand in diesem Zusammenhang einen treffenden Bezugspunkt: „Daß für die<br />
Verluste mächtiger Akteure auf der politischen Bühne unbeteiligte Dritte aufkommen<br />
müssen, daß die Verhandlung von grundlegenden Verfassungsfragen in<br />
Kommissionen verlegt wird, daß die dabei in erster Linie Betroffenen soweit nur<br />
irgend möglich übergangen werden – all dies sind Unarten des politischen Geschäfts,<br />
die eine lange Tradition haben.“<br />
Dabei ging die Kompensation in den meisten Fällen über den territorialen Ersatz<br />
für das Verlorene weit hinaus. Aber, darauf wies in Mülheim der langjährige<br />
bayerische Kultusminister Hans Maier hin, es ging um mehr als um territoriale<br />
Entschädigungen. „Es ging um die Umgestaltung der politischen Strukturen im<br />
Geist einer revolutionären ‚neuen Zeit’. Weder der Staat noch die Kirche sollten<br />
so bleiben, wie sie waren.“ Und Maier, der bereits beim ersten Essener Gespräch<br />
1966 referiert hatte, differenzierte: Von der Säkularisation gelte, was man schon<br />
von der Aufklärung habe sagen müssen – „sie hat viel Gutes bewirkt, vor allem
im Rechtswesen, aber indem sie rücksichtslos Altes, Gewachsenes beseitigte,<br />
entfaltete sie nicht selten destruktive Wirkungen“. Wer die Segnungen der Säkularisation<br />
preise, der dürfe von ihren Vandalismen nicht schweigen. Immerhin<br />
wurde in Deutschland ein rundes Fünftel der Kirchen und Klostergebäude total<br />
und ein knappes weiteres Fünftel teilweise abgerissen. Die Orden wurden aufgelöst,<br />
die erhaltenen Bauten entweder an Privatleute verkauft oder in Fabriken,<br />
Kasernen, Lazarette, Irren- und Zuchthäuser, da und dort auch in Schulen umg ewandelt.<br />
Das katholische Bildungswesen jedenfalls gehörte zu den Hauptleidtragenden<br />
der Säkularisation und ihrer Nachwirkungen. So wurden in der Folge 18 katholische<br />
Universitäten aufgehoben, verlegt, umgewandelt, oder verloren ihren Charakter<br />
als katholische Universität. Der Begriff der „Nordlichter“ – auch damals<br />
durchaus nicht freundlich gemeint – hat hier, darauf wies Heinrich de Wall hin,<br />
seinen Ursprung: Im Verlauf der mit der Säkularisation zusammenhängenden<br />
Umgestaltung des Universitätswesens wurde etwa in Bayern eine Berufungspolitik<br />
betrieben, die auf Gelehrte aus den norddeutschen protestantischen Universitäten<br />
setzte.<br />
Die Klöster auf dem Lande fielen als Bildungseinrichtungen aus, was zu einer<br />
Konzentration der Schulen auf die Städte führte. Insofern waren, so Hans Maier,<br />
die Bildungschancen der Kinder im 18. Jahrhundert größer als ein Jahrhundert<br />
später.<br />
Auch die Wohlfahrtspflege mußte neu geregelt werden und ging zum Teil in die<br />
Sorge des Staates über. Der letzte Abt von St. Peter im Schwarzwald schrieb im<br />
April 1817: „Was unseren Zeitgeist besonders zeichnet, sind die sogenannten<br />
Wohltätigkeitsvereine. Von den großen Fürsten, besonders Fürstinnen angefangen<br />
und regiert, welche sammeln zum Besten der Armen. Eigentlich ists eine<br />
neue Besteuerung … Man hat die natürlichen, von unseren weisen Vorfahren<br />
gestifteten, Jahrhunderte hindurch gebrauchten Wohltätigkeitsvereine vertilgt,<br />
nämlich Stifte und Klöster, und jetzt weiß man sich nicht mehr zu helfen.“<br />
Die konkretesten Fortwirkungen der Säkularisation sind freilich vermögensrechtlicher<br />
Art. Unter diesen wiederum sind am bekanntesten die Staatsleistungen, die<br />
eine Entschädigung für den durch die Säkularisationen verursachten Vermögensverlust<br />
darstellen oder mit dem enteigneten Kirchengut auf den Staat übergegangene<br />
Lasten sind. Heinrich de Wall legte allerdings großen Wert auf die<br />
Feststellung, daß die Staatsleistungen keinesfalls ausschließlich auf Säkularisationen<br />
beruhten und der sie – in Verbindung mit Artikel 140 des Grundgesetzes –<br />
schützende Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung mitnichten<br />
allein als Säkularisationsentschädigungsnorm zu verstehen sei. Auch ein unmittelbarer<br />
Zusammenhang zwischen den Säkularisationen und der Kirchensteuer<br />
bestehe nicht. Diese sei kein Ersatz für säkularisiertes Kirchenvermögen und ihre<br />
Einführung keine Quasi-Ablösung von Staatsleistungen. Es wäre, so de Wall,<br />
„auch sachlich schlechthin nicht nachzuvollziehen, wenn der Staat auf der einen<br />
Seite Güter enteignen und auf der anderen Seite den Enteigneten statt einer Entschädigung<br />
darauf verweisen dürfte, daß er selbst die Lasten tragen könne. Man<br />
stelle sich nur vor, der Staat würde das Vermögen der Gewerkschaften einziehen<br />
233
und diese darauf hinweisen, sie dürften sich bei ihren Mitgliedern schadlos halten.“<br />
Mit den „gegenwärtigen Herausforderungen der Kirchen durch die Säkularisierung“<br />
befaßte sich der Bielefelder Religionssoziologe Franz-Xaver Kaufmann.<br />
Er betonte, daß sich das Christentum im Zuge des Säkularisierungsprozesses<br />
„sozusagen in den Kirchen konzentriert und gleichzeitig die übrigen gesellschaftlichen<br />
Bereiche kulturell freigegeben“ habe. Man könne dies als Verlust- wie<br />
auch als Erfolgsgeschichte lesen. Religiosität korreliere weiterhin stark mit Kirchenbindung.<br />
Die „Unkirchlichen“ wendeten sich also kaum alternativen religiösen<br />
Angeboten zu, lebten vielmehr „religionsabstinent“. Das Interesse für alternative<br />
Religiositätsmuster – von Esoterik bis zu anderen Weltreligionen – finde<br />
sich nicht so sehr bei den völlig Kirchenfernen oder Konfessionslosen, sondern<br />
vielmehr bei den Angehörigen der ehemaligen Volkskirchen, welche traditionelle<br />
und alternative Auffassungen kombinierten: „Das Phänomen der ‚Patchwork-<br />
Religiosität’ ist weitgehend auf Kirchenmitglieder beschränkt.“ In diesen Befund<br />
paßt, daß sich heute das, was an Religion relevant wird, nach persönlichen und<br />
kaum mehr nach kirchlichen Gesichtspunkten bestimmt. Kaufmann beschrieb<br />
diesen Sachverhalt als „Biografisierung von Religion“. Verstehe man unter Religion<br />
das, was den Menschen am wichtigsten sei, so verschiebe sich das Zentrum<br />
des religiösen Interesses in den Bereich der Selbstfindung; Religion werde damit<br />
zum Ort des Selbstverstehens und der Selbstdeutung. „Ich wünschte, ich wäre<br />
gläubig, glaub´ ich“, so heißt ein im vergangenen Jahr erschienenes Buch über<br />
„Zugänge zu Religion und Religiosität in der Lebensführung der späten Moderne“.<br />
Die Kirchen als organisierte Repräsentanten der christlichen Tradition können<br />
danach in Zukunft nur noch glaubensmäßige Unterstützung seitens einer Minderheit<br />
ihrer Mitglieder erwarten. Alle sozialwissenschaftlichen Untersuchungen<br />
zeigen für das 20. Jahrhundert – und insbesondere für die Zeit seit 1970 – einen<br />
langfristigen Rückgang nicht nur der kirchlichen Teilnahmepraxis, sondern auch<br />
der Kirchenbindung, des Glaubenswissens und der Frömmigkeit. Kaufmann<br />
nannte Entwicklungen, die gerade den Lesern dieser Zeitschrift bedrückend<br />
bekannt sein dürften: das offenkundige Schrumpfen traditionsbestimmter Volkskirchlichkeit<br />
in beiden Konfessionen sowie die deutliche Zunahme der Konfessionslosigkeit,<br />
vor allem in den Großstädten. Rekrutierten sich die Konfessionslosen<br />
in der Bundesrepublik zunächst im wesentlich aus ausgetretenen Kirchenmitgliedern,<br />
vor allem der evangelischen Konfession, so nimmt nun auch der<br />
Anteil der ungetauften Kinder zu. Durch die Wiedervereinigung hat sich der<br />
Anteil derjenigen Deutschen, denen jeglicher christlicher Sozialisationshintergrund<br />
fehlt, sprunghaft vergrößert. Aber auch unter den Kirchenmitgliedern<br />
mehren sich die Anzeichen einer Erosion kirchlich definierter religiöser Vorstellungen<br />
und fehlender Motive und Fähigkeiten, den ererbten Glauben an die<br />
nächste Generation weiterzugeben. Die Kirchenbindung nimmt bei den nachwachsenden<br />
Generationen rasant ab. Konnten die Katholiken zunächst noch<br />
glauben, ihre Konfession sei von diesen Entwicklungen weniger betroffen als die<br />
reformatorischen Kirchen, so zeigen die Befunde für die 80er und 90er Jahre hier<br />
234
im Unterschied zu den Evangelischen in Deutschland eine beschleunigte Erosion.<br />
Dies haben zuletzt die Ergebnisse der Allensbach-Umfrage im Auftrag der<br />
katholischen „Medien-Dienstleistung GmbH“ verdeutlicht: Nur 19% der 2728<br />
befragten Katholiken bezeichneten sich als gläubig und ihrer Kirche eng verbunden;<br />
weitere 35% sehen sich ihrer Kirche kritisch verbunden, den übrigen bedeutet<br />
ihre Kirche wenig oder gar nichts. Bei den unter Dreißigjährigen bezeichnen<br />
sich nur noch 7% als ihrer Kirche eng verbunden und 11% als kritisch verbunden,<br />
vier Fünftel der jungen Katholiken erscheinen somit als kirchenfern (vgl.<br />
Forschungsbericht „Religiöse Kommunikation 2003“, Medien-Dienstleistung<br />
GmbH, München 2003). Ein düsteres Bild, das zudem der Realität entspricht.<br />
Immerhin: Kleine Minderheiten religiös aktiver Laien treten auch nach Meinung<br />
des Soziologen deutlicher als früher hervor. Auch von der „dynamisierenden<br />
Kraft des biblischen Gottesglaubens“ war die Rede.<br />
Aber paßt es in diesen Kontext, wenn Kaufmann der Kirche ein „neues gesellschaftliches<br />
Selbstverständnis“ attestiert, „nämlich dasjenige von Akteuren der<br />
Zivilgesellschaft, welche für sich keine andere Autorität als den mobilisierten<br />
Sachverstand und die politische Unabhängigkeit in Anspruch nehmen“? Spricht<br />
in der Tat „vieles dafür, daß ein solches Selbstverständnis, das auch öffentliche<br />
Kritik von Politik und Wirtschaft nicht scheut, der Akzeptanz und Vertrauenswürdigkeit<br />
der Kirchen in Deutschland förderlich werden“ könnte? Hat sich die<br />
Kirche in Deutschland nicht schon zu sehr in Kommissionen und politischen<br />
Papieren verfangen, so daß zu wenig Raum bleibt für ihre genuin religiöse Sendung,<br />
die Evangelisierung? Liegt nicht hier ein wesentlicher Grund für das ohne<br />
Zweifel vorhandene Glaubwürdigkeitsdefizit der Kirche?<br />
Wie immer man die soziologischen Befunde werten und welche Folgerungen<br />
man aus ihnen ziehen mag: Die große Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />
hat die Kirche in Deutschland nicht zerstört. Sie hat die Christen – oft mit<br />
drastischen Mitteln – aus dem Schlaf der Sicherheit geweckt, hat sie daran erinnert,<br />
daß in den Klöstern, die man nun aufzuheben, umzuwidmen, zu verkaufen,<br />
teilweise zu zerstören begann, auch ein unentbehrlicher Teil ihrer ursprünglichen<br />
Sendung verwahrt lag. Heute ist die Kirche ohne Orden und geistliche Gemeinschaften,<br />
„ohne die sichtbare Präsenz des Lebens nach den ‚evangelischen Räten’“<br />
(Hans Maier) längst nicht mehr vorstellbar. Die Kirche hat in der Säkularisation<br />
viele Reichtümer, viele Machtpositionen, viel politischen und kulturellen<br />
Einfluß verloren. Was sie nicht verlor, war die Kraft zur Erneuerung. Diese Kraft<br />
hat der Reichsdeputationshauptschluß sogar unwillentlich gestärkt und gefestigt.<br />
Die Kirche konnte den Ballast der weltlich-staatlichen Herrschaft abwerfen und<br />
sich ihren geistlichen Aufgaben zuwenden. Vielleicht hilft ihr ja auch heute die<br />
Konzentration auf das Eigentliche, das Wesentliche ihres Auftrags – die Verkündigung.<br />
Paul Johannes Fietz ist Ministerialrat im Bundesministerium des Innern.<br />
235
Besprechungen<br />
Menschenrechte<br />
Die Universalität der Menschenrechte,<br />
die unabdingbar zu ihrer Daseinsberechtigung<br />
dazugehört, wird weltweit von<br />
nicht wenigen Staaten nicht akzeptiert.<br />
Der Vorwurf, hier werden Wertvorstellungen<br />
aus dem westlichen Kulturkreis<br />
in den Rang einer „Weltmoral“ erhoben,<br />
steht im Raum. Dieser Vorwurf erscheint<br />
zunächst insofern plausibel zu<br />
sein, da der Ruf nach menschenrechtlichen<br />
Forderungen immer dann besonders<br />
stark gewesen ist, wenn in eklatanter<br />
Weise gegen die Würde des Menschen<br />
verstoßen wird. Menschenrechte<br />
sind häufig als konkrete politische Forderungen<br />
im Kontext der Profangeschichte<br />
erwachsen.<br />
Da sich die Katholische Soziallehre<br />
gleichsam als theologisches Bindeglied<br />
zwischen der Kirche und der Welt versteht,<br />
ist es naheliegend, im Allgemeinen<br />
nicht nur ihre Auffassung zu den<br />
Menschenrechten vorzustellen und zu<br />
beurteilen, sondern im besonderen nach<br />
deren Begründung zu fragen. A. Saberschinsky<br />
geht es nicht um die Menschenrechte<br />
im umfassenden Sinne, sondern<br />
speziell um die Menschenrechte als Thema<br />
der Katholischen Soziallehre. Hierbei<br />
steht nicht eine Abschätzung des<br />
Verdienstes der katholischen Kirche für<br />
die Erstellung und Einhaltung menschenrechtlicher<br />
Forderungen im Ve rgleich<br />
zu außerkirchlichen Kräften im<br />
Vordergrund, sondern die Frage, welchen<br />
Beitrag die Katholische Soziallehre<br />
zur universellen Geltung der Menschenrechte<br />
beisteuern kann.<br />
Alexander Saberschinsky, Die Begründung<br />
universeller Menschenrechte.<br />
Zum Ansatz der Katholischen So-<br />
236<br />
ziallehre. Schöningh Verlag, Paderborn<br />
2002, 547 S.<br />
In einem ersten Teil greift Saberschinsky<br />
Texte der Katholischen Soziallehre<br />
seit dem Erscheinen der ersten<br />
Sozialenzyklika „Rerum novarum“ im<br />
Jahre 1891 durch Leo XIII. auf, um in<br />
einem zweiten Teil nach der Begründung<br />
der Menschenrechte in der Katholischen<br />
Soziallehre zu fragen. Indem<br />
Saberschinsky die Begründung nach<br />
dem Recht auf Eigentum in Rerum<br />
novarum nachzeichnet, stößt er auf das<br />
Naturrecht. Die Begründung in Rerum<br />
novarum geht dahin, daß die „Natur des<br />
Menschen“ bestimmt, was Inhalt des<br />
Naturgesetzes ist. Damit besteht in der<br />
Enzyklika die Tendenz, die „Natur“ zum<br />
Maßstab des Faktischen zu erheben.<br />
Vergleichbares haben aufgeklärte Philosophen<br />
vertreten, welche die Dinge der<br />
sinnlichen Erfahrung zum eigentlichen<br />
Sein erheben. Saberschinsky sieht somit<br />
deutliche Parallelen zu neuzeitlichen<br />
Philosophen, die den Menschen nicht<br />
mehr von einem Grund her denken,<br />
sondern von der Welt der Dinge. Im<br />
Gegensatz hierzu verweist Saberschinsky<br />
auf Thomas von Aquin, da der<br />
Kirchenlehrer die Rolle der Vernunft<br />
betont, die das Naturgesetz erst konstituiert.<br />
Nachfolgend begibt sich Saberschinsky<br />
– wenn auch nur am Rande – in<br />
das Gebiet der Moraltheologie, indem er<br />
Vertreter der Autonomen Moral zu Wort<br />
kommen läßt. Nach Alfons Auer hat Gott<br />
den Menschen derart erschaffen, daß er<br />
mit seiner Vernunft Normen selbst herstellen<br />
kann. Hier hätte Saberschinsky<br />
deutlich machen müssen, daß es eine<br />
Fehlinterpretation ist, wenn Thomas von<br />
Aquin im Sinne der Autonomen Moral<br />
ausgelegt wird. Die Alternative zur<br />
Autonomen Moral, die Normen als<br />
Kunstprodukte (Artefakte) der menschlichen<br />
Vernunft auffaßt (Honnefelder),<br />
ist nicht, daß ethische Normen einfach
vorgegeben seien, die der Mensch in der<br />
Natur erkennen und entnehmen kann,<br />
sondern die von Saberschinsky an anderer<br />
Stelle vorgenommenen Ausführungen<br />
zu den inclinationes naturales.<br />
Seine sozialethischen Ausführungen<br />
setzt Saberschinsky mit einer Rekonstruktion<br />
der Argumentationszusammenhänge<br />
in der Enzyklika „Quadragesimo<br />
anno“ von Pius XI. und der Sozialverkündigung<br />
Pius XII. fort. In<br />
„Quadragesimo anno“ wird in vorbildlicher<br />
Weise das Verhältnis von Liebe<br />
und Gerechtigkeit, von Tugendethik und<br />
Sozialethik vorgetragen. „Insofern ein<br />
Handeln in der Gesellschaft und im<br />
Staat immer auch Handeln der einzelnen<br />
ist, ist politische Ethik auch Individualethik<br />
und bedarf des tugendhaften Handelns<br />
der Gesellschaftsmitglieder. Ein<br />
Gemeinwesen kann nicht funktionieren<br />
ohne den moralischen Willen der Bürger<br />
zu einer gemeinsamen Ordnung, ohne<br />
ihr ethisch richtiges Verhalten und die<br />
rechte Einstellung.“ Ausgehend von der<br />
menschlichen Person führt Pius XII. aus,<br />
daß dem Menschen einzelne Rechte<br />
eingeboren sind.<br />
Gewisse Akzentverschiebungen zwischen<br />
Pius XII. und Thomas von Aquin<br />
macht Saberschinsky in der Verhältnisbestimmung<br />
von Individuum und Sozialem<br />
bezüglich der Begründung des Privateigentums<br />
aus. Während Thomas von<br />
Aquin beim Sozialen ansetzt, da für ihn<br />
der Besitz von Eigentum primär ein Ge -<br />
bot der sozialen Ordnung ist, geht Pius<br />
XII. (wie auch die Sozialethiker Gustav<br />
Gundlach und Oswald von Nell-Breuning)<br />
zunächst vom individuellen Nutzungsrecht<br />
der materiellen Güter aus,<br />
ohne die Sozialfunktion freilich auszublenden.<br />
Ausführlich schildert Saberschinsky<br />
die Differenzen in der Auslegung<br />
des Gemeinwohlbegriffs bei dem<br />
Sozialethiker Arthur F. Utz und Gustav<br />
Gundlach, wobei Saberschinsky die<br />
Auffassungen von Utz teilt: Indem<br />
Gundlach einen ontologisch-kausalen<br />
Gemeinwohlbegriff vertrete (so Utz),<br />
werde zur Begründung der sozialen<br />
Dimension auf den einzelnen zurückgegriffen.<br />
Wenn wir jedoch den Gemeinwohlbegriff<br />
vom Sozialen her entwickeln,<br />
so bringt dies die Konsequenz mit<br />
sich, daß die Begründung der Menschenrechte<br />
nicht bei den Rechten des<br />
Individuums ihren Ansatz haben kann.<br />
„So wie beim einseitigen Ansatz beim<br />
Individuum die soziale Dimension im<br />
Gemeinwohlbegriff verloren geht, so<br />
geht in gleicher Weise diese soziale<br />
Dimension in der Menschenrechtsfrage<br />
verloren, wenn Menschenrechte einseitig<br />
als Freiheitsrechte des einzelnen gedeutet<br />
werden.“ Mit Utz führt Saberschinsky<br />
aus: „Ohne ... Bezug zum Gemeinwohl<br />
gibt es keine Einzelrechte.“<br />
Eine weitere Akzentverlagerung zugunsten<br />
des Individuums hat Johannes Paul<br />
II. vorgenommen, der die Einmaligkeit<br />
der menschlichen Person und ihrer Entwicklung<br />
betont. In jeder Hinsicht umgeht<br />
der Papst jedoch einen Individualismus,<br />
da er bei der Einforderung der<br />
Menschenrechte „persönliche Menschenrechte“,<br />
die auf die liberalen Freiheitsrechte<br />
des Menschen verweisen,<br />
von „sozialen Teilhaberechten“, die auf<br />
die „gesells chaftlichen, wirtschaftlichen<br />
und politischen Menschenrechte“ ausgerichtet<br />
sind, unterscheidet. Wenngleich<br />
Johannes Paul II. die theologische Dimension<br />
der Personwürde und der Menschenrechte<br />
betont, vernachlässigt er<br />
keineswegs die naturrechtliche Argumentation.<br />
Im zweiten Teil seiner Arbeit geht Saberschinsky<br />
ausführlich auf die Differenzen<br />
zwischen dem scholastischen<br />
Naturrechtsverständnis und demjenigen<br />
Verständnis ein, wie es im 19. und teilweise<br />
im 20. Jahrhundert aufgefaßt<br />
wurde (Neuscholastik). Zu Recht weist<br />
237
Saberschinsky darauf hin, daß sich beide<br />
in einem gewissen dialektischen Ve rhältnis<br />
zueinander befinden. „Einerseits<br />
beruft sich die Neuscholastik auf die<br />
Scholastik und versteht sie als ihr Fundament.<br />
Andererseits ist die Neuscholastik<br />
eben nicht als zweite Scholastik im<br />
Sinne einer unveränderten Neuauflage<br />
zu verstehen, sondern sie weicht vielmehr<br />
in entscheidenden Punkten ab.“ In<br />
der Neuscholastik wird das Sein zumeist<br />
zu einem Zustand der faktischen Wirklichkeit.<br />
Entgegen dem Thomismus wird<br />
die Metaphysik hier nicht auf den „ersten<br />
Prinzipien“ aufgebaut, sondern auf<br />
den konkreten Dingen. Bei Thomas von<br />
Aquin kann jedoch dieser Sein-Sollen-<br />
Fehlschluß nicht vorliegen, weil das<br />
Sein des Menschen als vernünftig und<br />
darum werthaft ausgelegt wird.<br />
Saberschinsky führt einige Industriestaaten<br />
an und fragt nach deren Begründung<br />
bezüglich der Menschenrechte. Während<br />
in England die Menschenrechte vornehmlich<br />
als individuelle Freiheitsrechte<br />
aufgefaßt werden, wird in den Vereinigten<br />
Staaten von Amerika und in Frankreich<br />
ihre Universalität betont. Während<br />
in Frankreich die Menschenrechte von<br />
ihrer Funktion, der Vermeidung von Unrecht,<br />
her begründet werden, beruft sich<br />
die amerikanische Unabhängigkeitserklärung<br />
auf den „Schöpfer“.<br />
Gleichsam als Testfall geht Saberschinsky<br />
näher auf die Diskursethik ein,<br />
die er anhand des Philosophen Karl-Otto<br />
Apel schildert und kritisch hinterfragt.<br />
Saberschinsky nennt den grundlegenden<br />
Vorbehalt gegenüber der Diskursethik.<br />
Die Diskursethik stilisiert die Kommunikationsgemeinschaft<br />
zu einer metaphysischen<br />
Größe, wobei letztlich das<br />
Faktische zum Prinzip erhoben wird<br />
(Transzendentalpragmatik). Inwieweit<br />
der Mensch wahrheitsfähig ist, kommt<br />
Apel nicht in den Blick. Saberschinsky<br />
gibt deutlich zu erkennen, daß die Be-<br />
238<br />
gründung der Menschenrechte letztlich<br />
nicht möglich ist, ohne daß man sich<br />
auch den metaphysischen Implikationen<br />
stellt. Völlig zu Recht warnt Saberschinsky<br />
vor einer Überstrapazierung der<br />
Diskursethik: Die Absicht, das Naturrecht<br />
durch eine letztbegründete Diskursethik<br />
ablösen zu wollen, führt unweigerlich<br />
in eben jene Sackgasse, in<br />
die man sich durch das neuscholastische<br />
Naturrecht geführt sieht und aus der man<br />
eigentlich gelangen wollte.<br />
Das besondere Verdienst Saberschinskys<br />
liegt in der Herleitung der These, daß<br />
die Menschenrechtsfrage ursprünglich<br />
von der Sozialität des Menschen her<br />
gedacht werden muß. Wenngleich die<br />
Katholische Soziallehre darin kein<br />
„Dogma“ sieht, erscheint dieser Grundsatz<br />
für die Aufrechterhaltung des eigenen<br />
Ansatzes der Katholischen Soziallehre<br />
bedeutsam zu sein. Indem Saberschinsky<br />
bei der Begründung der Menschenrechte<br />
vom Gemeinwohl ausgeht,<br />
so vernachlässigt er keineswegs die<br />
personale Dimension, da die Person als<br />
Subjekt der Katholischen Soziallehre im<br />
Spannungsfeld von Theologie und Philosophie<br />
steht.<br />
Geld und Gerechtigkeit<br />
Clemens Breuer<br />
Fabian Wittreck legt hier seine rechtswissenschaftliche<br />
Dissertation vor, die<br />
2001 von der Juristischen Fakultät der<br />
Universität Würzburg angenommen<br />
wurde. Qualitativ wie auch quantitativ<br />
ist dieses Werk von hohem Rang:<br />
Fabian Wittreck: Geld als Instrument<br />
der Gerechtigkeit. Die Geldrechtslehre<br />
des Hl. Thomas von Aquin in ihrem<br />
interkulturellen Kontext. Rechts- und<br />
Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen<br />
der Görres-Gesellschaft N. F.<br />
Bd. 100. Paderborn, München, Wien,
Zürich (Ferdinand Schöningh), 2002,<br />
843 S.<br />
Nach der Einleitung zu Zielsetzung,<br />
Forschungsstand und Methode befaßt<br />
sich der Erste Teil (S. 43-164) mit Thomas<br />
und seiner Einbettung in die mittelalterliche<br />
Geldwirklichkeit des 13. Jahrhunderts.<br />
Diese wird (S. 37) als ein<br />
Konzept charakterisiert, in dem die<br />
ausführlich behandelten Autoren mit<br />
ihren philosophischen, theologischen,<br />
ethischen und rechtlichen Anschauungen<br />
vor dem Hintergrund des Geldwesens<br />
ihrer Zeit (kursierende Münzen,<br />
Umfang der Geld- und Kreditwirtschaft,<br />
Vorformen von Buchgeld) geschildert<br />
werden.<br />
Der Zweite Teil (S. 165-314) stellt die<br />
Grundlegung der Geldlehre durch Aristoteles<br />
dar und fügt diesem Teil die<br />
Vermittlung der aristotelischen Geldlehre<br />
durch Albertus Magnus, dem Lehrer<br />
von Thomas, ein.<br />
Der Dritte Teil (S. 315-503) ist dem<br />
Kernstück der Arbeit gewidmet, der Naturrechtsordnung<br />
des Geldes nach Thomas<br />
von Aquin. Die lexematische Auswertung<br />
seines Gesamtwerkes (nach der<br />
Ausgabe von R. Busa) auf der Suche,<br />
welche lateinischen Termini für „Geld“<br />
stehen, ergibt allein für das Wort „pecunia“<br />
1084 Nachweise (S. 349), dazu<br />
noch hunderte von Geldbezeichnungen,<br />
ein Vorgehen, das in dieser Form wohl<br />
erstmalig ist. Die Vielfalt der Benennungen<br />
wird aus dem jeweiligen Werk<br />
einer Deutung nähergeführt. An den von<br />
Aristoteles grundgelegten, über Albertus<br />
Magnus lateinisch und von Thomas‘<br />
Ordensbruder Moerbeke durch Direktübersetzungen<br />
aus dem Griechischen<br />
(nicht ganz fehlerfrei, vgl. S. 343), vermittelten<br />
aristotelischen Einsichten in<br />
die Funktionen des Geldes hält Thomas<br />
fest und präzisiert sie. Die drei aus seinen<br />
Aristoteleskommentaren bekannten:<br />
Geld als Wertmesser, Wertspeicher und<br />
(allgemeines) Tauschmittel tauchen im<br />
Gesamtwerk des Thomas verschieden<br />
akzentuiert auf, z. B. in De Malo 13.1.6<br />
„omnia per pecuniam“ als „Allmacht des<br />
Geldes“ (S. 375). Er betont die Zahlungsmittelfunktion<br />
des Geldes (S. 379<br />
ff.), darunter auch Geld als Zahlungsmittel<br />
bei Gott (Almosen, Ablaß). Man<br />
kann als vierte Funktion Geld (bes. in<br />
Form von Münzen) als Hoheitssymbol<br />
bei Thomas bezeichnen (S. 390 f.). Für<br />
ihn und seine Zeit besteht Geld aus<br />
Metall, besonders aus Silber (S. 391).<br />
Träger der Geldhoheit ist für Thomas in<br />
der Regel der König (S. 405 ff.).<br />
Ausgehend von der Steuerfrage, die an<br />
Jesus gestellt wird (MK 12, 13-17 par.),<br />
ist für ihn der Kaiser (hier) Urheber des<br />
Geldes (S. 407 ff.). Geldhoheit kommt<br />
ihm zu wegen der Sorge um das Gemeinwohl.<br />
Eine geistliche Oberhoheit<br />
über das Geldwesen ist Thomas fremd.<br />
Der weltliche Hoheitsträger kann den<br />
Geldwert festlegen und Änderungen an<br />
ihm vornehmen; Stabilität des Geldes<br />
gilt aber als Norm (S. 428), die eine<br />
Forderung der Gerechtigkeit ist. Deutlich<br />
ist ein Mit- und Ineinander von<br />
nominalistischen und metallistischen<br />
Elementen seiner Geldlehre, die später<br />
unter „valor impositus“ und „valor<br />
intrinsecus“ behandelt wird. Daß Geld<br />
„Instrument der Ungerechtigkeit“ sein<br />
kann (S. 442 ff.), wird an der Analyse<br />
des Zinsverbotes dargetan sowie an der<br />
Wucherdoktrin.<br />
Im Ergebnis leistet Thomas eine vertiefte<br />
rationale Durchdringung des Geldwesens,<br />
das auf rechtliche Strukturen angewiesen<br />
ist. „Als Instrument der Gerechtigkeit“<br />
(S. 497) gehört das Geld für<br />
ihn zum Naturrecht.<br />
Der Vierte Teil (S. 505-701) trägt die<br />
Überschrift: „Geld und Recht in der<br />
aristotelischen Tradition des Mittelmeerraums“<br />
und zeigt Thomas im Dialog mit<br />
Byzanz, Islam und Judentum, also die<br />
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Aristotelesrezeption außerhalb der lateinisch-christlichen<br />
Welt. Michael von<br />
Ephesos ist Hauptzeuge für das byzantinische<br />
Geldwesen (S. 515-571), Averroes<br />
für die islamische Geldordnung (S.<br />
572-652) und Moses Maimonides für<br />
das jüdische Geldsystem (S. 653-701).<br />
Für die Teile 1 bis 4 werden die ausführlich<br />
behandelten Autoren mit Leben,<br />
Werk, Grundpositionen und jetzigem<br />
Forschungsstand erfreulich knapp und<br />
zutreffend dargestellt.<br />
Der Fünfte Teil (S. 703-727) stellt die<br />
scholastische Geldlehre nach Thomas<br />
vor. Sie beginnt mit der Darstellung der<br />
Geldlehre in De Regno II 13, die vom<br />
Thomas-Schüler Ptolomäus von Lucca<br />
verfaßt wurde und als „klassische Formulierung<br />
einer Lehre vom valor imp ositus“<br />
(S. 714) gilt.<br />
Die Weiterentwicklung im Überblick<br />
sieht in Johannes Buridanus den Vo llender<br />
der scholastischen Geldlehre,<br />
während Nicolaus Oresmius in der Meinung<br />
von W. in seiner Originalität überschätzt<br />
werde (S. 718).<br />
Der Nominalist Gabriel Biel und Nikolaus<br />
Kopernikus werden genannt, besonders<br />
Vertreter der iberischen Spätscholastik,<br />
die der scholastischen Geldtheorie<br />
neue Impulse gaben. Neben<br />
Francisco de Vitoria und den anderen<br />
genannten (S. 726) hätte man gerne<br />
auch Ludwig Molina angetroffen.<br />
Zum Schluß (S. 728-733) werden die<br />
Ergebnisse im Überblick zusammengefaßt.<br />
Textanhänge (von Aristoteles, Michael<br />
von Ephesos, Ibn Rushd (Averroes),<br />
Albertus Magnus, Thomas von<br />
Aquin, Ptolomäus von Lucca – teilweise<br />
in Übersetzung von W. – S. 734-759)<br />
leiten über zur Quellenübersicht 1: Werke<br />
des Hl. Thomas von Aquin und 2:<br />
Weitere Quellen-Autoren (S. 760-768).<br />
Das Literaturverzeichnis (S. 769-836)<br />
enthält auf 67 Seiten so viele Einzelangaben,<br />
die man mit 20 multiplizieren<br />
240<br />
könnte, um auf die realistische Anzahl<br />
der zu Rate gezogenen Literatur zu<br />
kommen. Ähnliches ist von den Anmerkungen<br />
(Fn = Fußnote) zu sagen. Weil<br />
bei den einzelnen Hauptabschnitten die<br />
Zählung immer wieder bei 1 begonnen<br />
wird, kommt man auf nahezu 4000<br />
Anmerkungen, die meistens mehrere<br />
Autoren – oft mit kurzen Bewertungen –<br />
enthalten, so daß ein Multiplikator 5 die<br />
wirkliche Zahl der Anmerkungen wohl<br />
noch unterschritte. Hingegen ist das<br />
Personen- und Sachregister von S. 837-<br />
843 mager ausgefallen, ein Abkürzungsverzeichnis<br />
fehlt ganz. Die meisten<br />
Kürzel lassen sich erraten. Man kann<br />
sich auch an „thomanisch“ gewöhnen,<br />
wenn es um originär thomasische Texte<br />
geht. Der Druck ist fehlerfrei. Kompliment<br />
an W. und den Verlag. (Eine Kleinigkeit:<br />
S. 438 würde man statt Origines<br />
lieber Origenes lesen). Stichproben bei<br />
Zitaten ergaben korrekte Wiedergabe.<br />
Auf diese Arbeit von Fabian Wittreck<br />
blicke ich mit großem Respekt. Für die<br />
mir vertrauteren Autoren und Zeitverhältnisse<br />
im westlichen Hochmittelalter<br />
glaube ich sagen zu dürfen: Eine bessere<br />
Darstellung mit diesen Über- und<br />
Durchblicken kenne ich nicht. Der Vierte<br />
Teil, der Thomas im Dialog mit Byzanz,<br />
Islam und Judentum aufzeigt, erscheint<br />
mir instruktiv und hilfreich; die<br />
fachliche Würdigung muß ich den für<br />
diese Bereiche mehr zuständigen Fachgelehrten<br />
überlassen.<br />
Meinen Respekt für diese Leistung fasse<br />
ich in den Schlußsatz: Wer sich künftig<br />
mit Thomas von Aquin und seinen Erkenntnissen<br />
für die Welt-Wirklichkeit<br />
des Geldes befaßt, kann an dieser Arbeit<br />
nicht vorbeigehen.<br />
Friedrich Beutter
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